Vom Deutschen ins Hebräische: Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882-1948 9783666569388, 9783525569382, 9786473569383


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Vom Deutschen ins Hebräische: Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882-1948
 9783666569388, 9783525569382, 9786473569383

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Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher

Band 14

Vandenhoeck & Ruprecht

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Na’ama Sheffi

Vom Deutschen ins Hebräische Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882–1948

Übersetzt von Liliane Meilinger

Mit einem Vorwort von Shulamit Volkov

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56938-2 ISBN 978-647-3-56938-3 (E-Book)

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung: Die Juden und die deutsche Kultur – Zwischen Bewunderung und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur – Wechselseitige Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur . . . . . . . .

41

Die deutsche Präsenz im Jischuw: Der kulturelle Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

2. Kapitel: Korpus und Rezeption – Erste Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Einleitung: Die Haskala und die Anfänge der Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Der Korpus der bis 1881 übersetzten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Anfänge der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit – Der Weg nach Palästina 1882–1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Ein neues Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Ideologisierung und Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Erweiterung der Übersetzungskorpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vom Deutschen ins Hebräische: Der Weg über Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . 108 Rezeption: Zwischen Bewunderung und Misstrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Im Schatten der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Eine neue Einstellung zur deutschen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

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Inhalt

1928–1948: Politisierung des literarischen Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Übersetzungstätigkeit im jüdischen Palästina: Professionalisierung und Weiterbestehen der osteuropäischen Achse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Rezeption neuer Art: Kultur als politischer Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Auf dem Prüfstand der Zeit: Historisches Bewusstsein und künstlerische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Der »Eiszeit« entgegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Vorwort Die kulturellen Aspekte des deutschen nation-building an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bedürfen für das deutsche Lesepublikum wohl keiner näheren Erläuterung. Sprache und Literatur hatten in der deutschen Geschichte der Neuzeit stets einen besonderen Stellenwert. In der Tat stellte Georg Gottfried Grevinius’ fünfbändige, zwischen 1835 und 1842 erschienene Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen den ersten Versuch dar, eine Art Nationalgeschichte Deutschlands zu schreiben. Und von Anfang an hob die nationalliberale Bewegung Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche als wesentlichen Schritt in der Ausbildung einer deutschen Nation hervor. Auch der moderne jüdische Nationalismus ging Hand in Hand mit der Erneuerung der hebräischen Sprache und Literatur einher. Die Mutation dieser altneuen Sprache zur Alltagssprache wirkte als mächtiges Bindeglied zwischen den Juden der Gegenwart und jenen der Vergangenheit sowie zwischen den jüdischen Zeitgenossen, wo immer sie auch lebten. Für die deutsche wie auch die jüdische Nationalkultur war die Übersetzung ein wesentlicher Faktor in der Bereicherung und Modernisierung der jeweils neuen Sprache und letztlich in der Schaffung eines, für die Herausbildung eines gemeinsamen Nationalbewusstseins unerlässlichen, nationalen Literaturkanons. In beiden Fällen stützte sich dieser neue Kanon zunächst auf die Bibel. Gleichzeitig war man intensiv bestrebt, über die alten Quellen hinaus moderne, zeitgenössische Literatur mit einzubeziehen. Ein großes Übersetzungsprojekt war die aussagekräftigste Antwort auf diese Herausforderung. Während im Fall Deutschlands noch heute von gewissen Forschungslücken zu sprechen ist, herrschte bislang, was die jüdischhebräische Sphäre betrifft, ein regelrechtes Defizit. Die nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegende Arbeit Na’ama Sheffis liefert einen bedeutenden Beitrag zu den historiographischen Bemühungen, dies richtigzustellen. Sheffi befasst sich nicht mit dem Gesamtspektrum jener Übersetzungen, die aus der Fülle der europäischen Literaturen ins Hebräische erfolgten. Vielmehr geht sie auf jenes Segment dieses Projekts ein, das sich im Besonderen bemühte, dem hebräischen Lesepublikum die deutsche Literatur zugänglich zu machen. Angefangen von der Haskala, der jüdischen Aufklärung, waren deutsche Quellen für jene wenigen jüdischen Gelehrten, die den Juden die modernen Geistesund Naturwissenschaften des aufgeklärten Europas eröffnen wollten, von besonderer Bedeutung. Zwar spielte die hebräische Sprache als Instrument der Allgemeinbildung für die deutschen Juden nur über einen kurzen Zeitraum eine wichtige Rolle, doch für die Juden Osteuropas erlangte sie mehr als ein Jahrhundert lang äußerste Bedeutung. Die Haskala, und mit ihr das Hebräische, mag in der Geschichte der deutschen Judenheit eine Episode gewesen sein; für die Juden im Osten Europas wurde sie zu einer wesentlichen Quelle der Veränderung und

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Vorwort

Entwicklung. Wie Na’ama Sheffi ausführlich darlegt, waren diese osteuropäischen Juden die Träger des Übersetzungsprojekts. Nachhaltig und mit wachsender Expertise widmeten sie sich der Übertragung aus dem Deutschen ins Hebräische und machten deutsche Quellen zu den Grundpfeilern einer modernen, meist säkularen, jüdischen Kultur, die letztendlich der neuen jüdischen Nationalbewegung, dem Zionismus, dienen konnte. Der vorliegende Band gibt einen Überblick über das Übersetzungswesen vom Deutschen ins Hebräische von der Haskala bis heute. Im Fokus steht indes vor allem die sogenannte Jischuw-Periode – die Jahre vom Beginn der organisierten jüdischen Ansiedlung in Palästina um 1882 bis zur Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Dank Sheffi können wir die Ausbildung eines jüdischen Leserkreises in Erez Israel und die wachsende Nachfrage nach literarischem Material vonseiten der hebräischsprachigen Öffentlichkeit verfolgen. Diese erfreute sich zwar eines sehr dynamischen Kulturlebens, jedoch war sie stets, zumindest teilweise, auf Übersetzungen angewiesen. Eines der faszinierendsten Themen in diesem Zusammenhang ist die Auswahl der zu übersetzenden Werke, die als Ausdruck kultureller Präferenzen oft mit aktuellen ideologischen Fragen in Beziehung gesetzt wurde. Die Rezeptionsgeschichte der ausgewählten Werke liefert eine zusätzliche interessante Sicht auf die zeitgenössische Kulturpolitik. Schließlich berücksichtigt Sheffi auch praktische, vor allem ökonomische Erwägungen, sodass sie eine kulturelle wie soziale Geschichte der Periode vorlegt. Sie bietet damit einen breiten Blick auf das Spektrum der Kulturgüter, die auf dem Wege der Übersetzung den Leserinnen und Lesern zur Verfügung gestellt wurden. Dabei nahmen jüdische deutschsprachige Autoren einen zentralen Platz ein. Klassiker von Weltrenommee waren alsbald auf den Bücherregalen der jüdischen Leser zu finden. Danach scheinen didaktisch-pädagogische Materialien in deutscher Sprache auch in Palästina, weit weg von den Zentren der europäischen Kultur, als vorrangig für den Aufbau einer neuen nationalen Gemeinschaft gegolten zu haben. Faszinierend ist die Entwicklung des hebräischen Buchmarkts in den Jahren des NS-Regimes. Sheffi weist auf das wachsende Interesse an der deutschsprachigen literarischen Produktion gerade in jener Periode hin. Während Nazideutschland als düstere Bedrohung und größter Feind galt, genossen deutsche Kulturgüter weiterhin Interesse und Aufmerksamkeit. Nicht nur deutsch-jüdische Autoren wurden damals ins Hebräische übersetzt, sondern auch Regimegegner und ebenso weiterhin die älteren deutschen Klassiker. Sogar in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg sank die Nachfrage nach deutscher Literatur nicht. Die vollständige Liste aller Übersetzungen aus dem Deutschen, die Sheffi für die gesamte hier untersuchte Periode zusammengestellt hat, bildet einen Teil der hebräischen Originalversion dieses Bandes. Sie liefert ein umfassendes und präzises Bild und zeigt auch, dass innerhalb der europäischen Kulturen insgesamt der deutsche Einfluss in Palästina über den ganzen Zeitraum hinweg markant war. Wenn dieser Einfluss später etwas nachließ, so nicht nur, weil bislang vernachlässigte Kulturkreise, wie etwa der spanischsprachige, endlich ins Blickfeld

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Vorwort

traten, sondern namentlich, weil heute die originäre hebräische Literaturproduktion den literarischen Übersetzungen eindeutig den Rang abgelaufen hat. Na’ama Sheffi liefert uns hier eine luzide Schilderung der wechselvollen Beziehungen zwischen der deutschen Kultursphäre und dem jüdischen, hebräischsprachigen Publikum. Sie bietet eine originelle und spannende Perspektive der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen in der Moderne – eine willkommene Bereicherung ihrer schmerzlich-tragischen Geschichte. Tel Aviv

Shulamit Volkov

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Prolog In welchem Ausmaß die deutsche Kultur das Leben in Israel beeinflusst hat, beschäftigt mich seit meinem Studienbeginn. Vielleicht hatte das mit dem intensiven Anhören deutscher Musik zu tun, vielleicht mit der Fülle der Literaturübersetzungen aus dem Deutschen, die in meiner Jugend in Israel erschienen – Werke, die die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit vehement kritisierten. Möglicherweise entsprang mein Interesse eher familiären Umständen, stammte doch die Familie meines Vaters, die Anfang der 1920er Jahre nach Palästina eingewandert war, aus Frankfurt. Es schien, als wäre dieses Interesse an Deutschland und seiner Kultur ganz losgelöst von dem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen Israelis und Deutschen, wie wir es in Israel aus dem Schulunterricht, den Geschichtsbüchern und den Gedenkfeiern kannten. Es war ein aufrichtiges Interesse an jenen Werken, die in deutscher Sprache entstanden waren. Ich muss indes zugeben, dass ein besonderer Ansporn für mich in der Komplexität der deutschen Kultur, wie sie sich den Deutschen selbst bietet, und gleichzeitig auch in ihrer, aus israelischer Perspektive, negativ konnotierten Komplexität lag. Das Gefühl, dass die Beschäftigung mit der deutschen Kultur auch an ein Tabu rührte, übte einen besonderen Reiz auf mich aus. Zwar gab es seit den 1950er Jahren Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Israel und seit Mitte der 60er Jahre volle diplomatische Beziehungen. Doch boykottierten viele Israelis, als Zeichen persönlicher Missbilligung und öffentlichen Protests gegen die offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen, die deutsche Sprache und Kultur. Heute, wo zwischen Israel und dem wiedervereinten Deutschland ein ausgesprochen herzliches Verhältnis besteht, die Flüge zwischen den beiden Ländern ausgebucht sind und viele junge Israelis in Deutschland leben, ist die frühere Scheu eine Sache der Vergangenheit. Als ich im Herbst 2010 Berlin besuchte, war fast an jeder Straßenecke Hebräisch zu hören; kurz danach fand ich mich in Tel Aviv in einem mit Hunderten Zuhörern vollgepackten Saal bei der Präsentation eines hebräischen Sammelbandes mit Essays von Heinrich Böll aus Anlass seines 25-jährigen Todestages.1 Noch vor ein, zwei Jahrzehnten wunderten sich viele in meiner Freunde und Kollegen, warum ich mich ausgerechnet mit der Kultur eines Landes auseinandersetzte, dem man in Israel so schweren Herzens gegenüberstand. Heute ist die Beschäftigung mit dieser reichen, lebendigen Kultur absolut natürlich.

1 Heinrich Böll, Der Ausverkauf des Schmerzes. Ausgewählte Schriften 1940–1985, hg. v. H. Elstein und A. Stern (hebr.), Tel Aviv 2010.

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Prolog

Der Versuch, diese Kultur in ihrer ganzen Vielfalt unmittelbar zu erfassen, wie es denen gegönnt ist, die von Haus aus der deutschen Sprache mächtig sind, erwies sich für mich als frustrierend. Ich hatte immer das Gefühl, dass das späte Erlernen der Sprache und das Fehlen einer unmittelbaren Lebenserfahrung in Deutschland mich daran hinderten, die deutsche Kultur in ihrer vollen Tiefe zu erfassen und mich auf den Platz des von außen wirkenden Forschers verwiesen. Die Entscheidung, das jüdische Verhältnis zur dieser Kultur zu untersuchen, stellte mithin einen Versuch dar, mich Letzterer aus einer mir vertrauteren Perspektive zu nähern, indem ich ihre Wirkung auf das Leben in Israel zu erforschen suchte. In der Tat erschloss sich mir in den Jahren, in denen ich diese Verflechtung in Augenschein nahm, die deutschsprachige Kultur- und Geisteswelt. Die vorliegende Arbeit und spätere Studien – zur israelischen Einstellung gegenüber deutschen Komponisten, die mit dem Nationalsozialismus identifiziert wurden, sowie einer Reihe von deutschsprachigen Dramen, die das aus Anerkennung und Abneigung gemischte Verhältnis zwischen Deutschen und Juden zu entziffern suchten2 –, öffneten mir einen Spalt breit die Tür zu dieser einzigartigen Welt. Dies war die Welt, die meine Großeltern verehrt hatten und deren Kultur sie ihren israelischen Enkeln zu vermitteln suchten. Ich verstand, warum mein Vater nicht wollte, dass bei uns zu Hause auch Deutsch gesprochen wurde. Er, der die deutsche Kultur und Sprache so liebte, empfang diese Geisteswelt als allzu verschieden von jenem, damals noch in den Kinderschuhen steckenden, Israeli-Sein, das er seinen Töchtern vermitteln wollte. Dieses Buch beruht auf meiner 1995 an der Universität Tel Aviv vorgelegten Dissertation. Zahlreiche Personen waren mir bei meinen Forschungsarbeiten in vielfältiger Weise hilfreich. Professor Shulamit Volkov und Professor Dan Laor betreuten die Arbeit; den ersten Anreiz, mich mit Deutschland zu befassen, lieferten Professor Volkovs faszinierende Vorlesungen. Professor Dan Diner half mir bei der Ausarbeitung des Grundgedankens zu dieser Studie und initiierte später die Übertragung ins Deutsche. Dania Amichay-Michlin stellte mir Materialien zur Person des Verlegers Josef Stybel, dessen Biografie sie verfasst hat, zur Verfügung. Die Mitarbeiter der Nationalbibliothek an der Hebräischen Universität in Givat Ram, des Zionistischen Zentralarchivs in Jerusalem und des Israelischen Dokumentationszentrums für Darstellende Kunst an der Universität Tel Aviv standen mir bei meinen Recherchen nicht nur mit fachlichem Rat, sondern auch immer wieder ermutigend zur Seite. Adina Stern gebührt Dank für ihre Lektüre und Korrektur des deutschen Manuskripts. Die Übertragung des Buches wurde im Rahmen und mit der finanziellen Unterstützung des Minerva Instituts für deutsche Geschichte an der Universität 2 N. Sheffi, Der Ring der Mythen. Die Wagner-Kontroverse in Israel, Göttingen 2002; dies., The Jewish Expulsion from Spain and the Rise of National Socialism on the Hebrew Stage, in: Journal for Jewish Social Studies 5/3 (1999), 82–103; dies., Jews, Germans and the Representation of Jud Süss in Literature and Film, in: Jewish Culture and History 6/2 (2003), 25–42; dies., »And Suddenly the Wheel of History Turned«: Professor Mannheim [Mamlock] in Habima, 1934 (hebr.) in: Israel 9 (2006), 25–47.

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Prolog

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Tel Aviv vor allem in der Amtszeit von Professor Moshe Zuckermann durchgeführt. Der derzeitige Direktor des Instituts, José Brunner, stellte die Übersetzung für die vorliegende Veröffentlichung zur Verfügung. Der Leitung des Sapir College, meines akademischen Zuhauses, bin ich zu Dank für Unterstützung und Ermutigung verpflichtet. Besonderen Dank möchte ich Professor Michael Brenner aussprechen, der die Veröffentlichung in Deutschland ermöglichte und aus seinem reichen Wissen wertvolle Kommentare und Korrekturen beitrug. Der Übersetzerin, Liliane Meilinger, gebührt für ihren geduldigen Einsatz mein großer Dank. Über die Umsetzung meines Textes ins Deutsche hinaus trug sie durch ihre kritischen Bemerkungen und das Aufzeigen problematischer Stellen wesentlich zum Gesamtergebnis bei. Nicht zuletzt ist es ihrem freundschaftlichen und beharrlichen Beistand zu verdanken, dass dieses Publikationsprojekt realisiert werden konnte. Gewidmet ist dieser Band meinen Großeltern Roma und Gad Sheffi (Shapiro) s.A. Bei ihnen zu Hause hörte ich erstmals den Klang der deutschen Sprache und wurde der durch sie vermittelten kulturellen Erfahrung teilhaftig. Tel Aviv, November 2010

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Einleitung: Die Juden und die deutsche Kultur – Zwischen Bewunderung und Distanz Hunderte Werke der verschiedensten Genres – Romane, Dramen, Sachliteratur, Kinder- und Jugendliteratur, und daneben weitere hunderte in Zeitschriften erschienene Gedichte, Prosastücke und philosophische Essays – wurden vor der Gründung des Staates Israels aus der deutschen in die hebräische Sprache übertragen. Der Beginn der deutsch-hebräischen Übersetzungstätigkeit ist bereits mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert anzusetzen. Im Laufe der darauffolgenden hundert Jahre, noch vor Beginn der ideologisch motivierten Einwanderung nach Palästina1 und dem Heranreifen der zionistischen Idee, weitete sie sich stetig aus, und dies ungeachtet der limitierten Leserschaft, des relativ kleinen Personenkreises, der sich mit Übersetzung und Verlegung befasste, sowie objektiver Hindernisse in der Herstellung und im Vertrieb. Dabei lassen sich für dieses literarische Feld zwei typische Phänomene aufzeigen: Zum einen die herausragende, ja dominierende Rolle der aus Osteuropa stammenden Übersetzer, die auch anhielt, als sich das Zentrum des literarischen Schaffens in hebräischer Sprache nach Mitteleuropa, in die Vereinigten Staaten und letztlich nach Palästina verlagerte – dies, obwohl anzunehmen gewesen wäre, die aus dem Zentrum Europas kommenden Träger der deutschen Kultur wären für diese Übersetzungstätigkeit prädestiniert gewesen. Zum anderen das enorme Anschwellen der deutsch-hebräischen Übersetzungen in den zwölf Jahren des »Dritten Reichs«. Diese Tendenz war in den drei Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der israelischen Staatsgründung noch ausgeprägter. Ungeachtet dieser intensiven Ausweitung der Übersetzungstätigkeit blieb sie zumeist in den Händen osteuropäischer Einwanderer, fast ohne Mitwirkung von aus Mitteleuropa stammenden Einwanderern deutscher Muttersprache. Bemerkenswert ist auch, dass die aus dem Deutschen übersetzten Werke ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Staatsgründung einen großen Teil aller Übersetzungen ins Hebräische darstellten. Die Übersetzungstätigkeit als solche, die wesentliche Rolle, die osteuropäische Einwanderer bei der Einbringung der deutschen Literatur in die sich erneuernde hebräische Kultur spielten, und die Rezeption der Werke sind zentrale Achsen der vorliegenden Forschungsarbeit. Den Schwerpunkt bildet dabei die Zeitspanne vom Beginn der organisierten Einwanderung nach Palästina im Jahre 1882 1 In der vorliegenden Forschungsarbeit werden die Begriffe Palästina, Erez Israel und Jischuw für die Bezeichnung der jüdischen Gemeinschaft in rein kulturhistorischem Sinne, ohne Bezug auf die politische Problematik der Ansiedlung und ihrer territorialer Grenzen, angewandt.

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Die Juden und die deutsche Kultur

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bis zur Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Vordergründig betrachtet beleuchtet die Analyse der Charakteristika der deutsch-hebräischen Übersetzungstätigkeit lediglich einen bestimmten Aspekt der Renaissance der hebräischen Kultur; doch hilft sie, den Prozess der kulturellen Wiederbelebung in seiner Gesamtheit sowie die weltanschaulichen Hintergründe einzusehen, die bei der Schaffung einer Basis für eine neuhebräische Kultur, die säkulare jüdische Kultur der Moderne, bestimmend waren. Darüber hinaus lässt sich aus der eingehenden Untersuchung der Übersetzungstätigkeit auch der Bedeutungsgrad ablesen, der im Rahmen der nationalen Erneuerung dem Aufbau einer kulturellen Infrastruktur beigemessen wurde; ebenso die für die verschiedenen Generationen geltenden Ideologien, die sich in den unterschiedlichen Gestaltungsmodi der kulturellen Basis widerspiegeln; sowie das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb des Zionismus, aus denen in späterer Zeit die gesellschaftlichen Komponenten des Jischuw (der jüdischen Ansiedlung im vorstaatlichen Palästina) hervorgingen. Daneben ergibt sich aus der Untersuchung der deutsch-hebräischen Übersetzungstätigkeit auch ein Bild, das die Einstellung der jeweiligen Judenheiten – in Osteuropa und Mitteleuropa sowie später in Palästina – zum deutschsprachigen Sprach- und Kulturkreis zeigt.2 Das Vorhaben, die Veränderungen in der Einstellung der Juden zur deutschen Kultur anhand der Übertragungen aus dem Deutschen zu untersuchen, beruht auf mehreren Gründen. Literatur ist essenziell Ausdruck von Bildern und Vorstellungen – etwa die in einem Roman dargestellte Lebenswelt oder die in einem Sachbuch zum Ausdruck kommenden ideologischen Aussagen. In anderen Kunstgattungen hingegen, wie der Bildenden oder Darstellenden Kunst, gelangen oftmals abstrakte Ideen zum Ausdruck, die Gegenstand vielfältiger, oft sogar widersprüchlicher Interpretationen sein können. Des Weiteren sind im Gegensatz zu diesen Kunstsparten Bücher – ihre Lesbarkeit in einer dem Konsumenten geläufigen Sprache vorausgesetzt – ein Produkt des täglichen Gebrauchs. Ihre Anschaffung ist im Allgemeinen billiger als etwa ein Theaterbillet oder – zu jener Zeit, die Gegenstand dieser Arbeit ist – einer Schallplatte; man kann sie sich zu Hause zu Gemüte führen, ohne in ein Museum, ein Kino oder einen Konzertsaal gehen zu müssen. Obwohl Bücher also zum täglichen Leben gehören, ist ihr Status höher als der anderer Formen der Alltagskultur, wie etwa Wohnstandard, Bekleidung, Essen etc.3 Mit anderen Worten gelten Bücher, Ori2 Der Begriff »deutsche Kultur« bezeichnet in dieser Arbeit die Kultur des deutschsprachigen Raumes. In den ersten Jahrzehnten des untersuchten Zeitraums existierte ja noch kein einheitliches deutsches Gemeinwesen. Weiters sind in späteren Jahren auch Werke, die in Österreich, Böhmen und Mähren entstanden, für diese Studie relevant. 3 Bei der Definition des Begriffs der Kultur sowie der Differenzierung ihrer verschiedenen Niveaus und Konsummodi stütze ich mich in der Formulierung ohne spezifische Quellenverweise auf eine Reihe von Arbeiten. Zur Kultur als spirituelle Fortsetzung der biologischen Entwicklung des Menschen siehe C. Geertz, The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York 1973. Zum allgemeinen Begriff und der Definition von Kultur siehe M. Thomson u. a., Cultural Theory, San Francisco/Oxford 1990; L.A. White, The Concept of Culture, in: M.F. Ashley Montagu (Hg.), Culture and the Evolution of Man, New York/Oxford 1962, 34–64. Über Kultur und Kulturkonsum in ver-

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Einleitung

ginal wie Übersetzung, als – wenn auch leicht zugänglicher – Teil der Hochkultur, wobei sie Weltanschauliches durchblicken lassen. Anhand der für eine Übertragung in eine andere Sprache vorgenommenen Auswahl von Werken lassen sich daher verhältnismäßig leicht Aussagen über die Kulturideologie einer bestimmten sozialen Gruppe ableiten. Die Analyse der Übertragung und Rezeption von Literatur ermöglicht auch Rückschlüsse auf einige typische Merkmale des hebräischen Verlagswesens. Zum ersten zeigt sie, wie die Übersetzung ganz allgemein als kurzfristige Lösung zur Schaffung eines modernen hebräischen Literaturkanons für die neuerstehende Nation eingesetzt wurde. In dieser Aufbauphase der säkularen neuhebräischen Kultur und Sprache kam der Übertragungstätigkeit eine zweifache Bedeutung zu: Einerseits handelte es sich um die Übernahme von Stoffen, die passend erschienen, in das neue Kulturrepertoire Eingang zu finden. Daher ist aus der Wahl der Stoffe auch einiges über die Vorstellungen der Übersetzer, Herausgeber und Verleger hinsichtlich der optimalen Methode der Repertoirebildung zu ersehen. Wenn die Entscheidung auch vom jeweiligen persönlichen Geschmack mit motiviert wurde, so war sie auf jeden Fall insofern kritisch, als jedem einzelnen Werk angesichts des damals geringen Korpus an hebräischer Literatur beträchtliches Gewicht beikam. Zum anderen schuf die sprachliche Umsetzung auch ein Versuchsfeld für neue Anwendungsmöglichkeiten der hebräischen Sprache in einer ganz anderen als der bis dahin vorherrschenden Weise, die der Auslegung religiöser Schriften gewidmet gewesen war. Zum zweiten war der hebräische Buchdruck technisch besonders mühselig: In den Anfangsphasen, als die Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen hauptsächlich in Osteuropa beheimatet war, gab es einen ständigen Mangel an hebräischen Bleilettern ohne Punktation, wie sie für säkulare Schriftwerke benötigt wurden. Dies verschärfte sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach antijüdischen Ausschreitungen in Osteuropa, in deren Verlauf als besondere Repressalie Letternbestände verbrannt wurden. Als sich das Zentrum des literarischen Schaffens in hebräischer Sprache nach Palästina verlagerte, waren die Verlage auf einige wenige Produzenten des für die Druckplatten benötigten Zinks, die es damals im Lande gab, angewiesen. Während der beiden Weltkriege – besonders aber im Zweiten – war Druckpapier große Mangelware, und jede Rolle Papier musste mühselig erkämpft werden. Für die Untersuchung der deutsch-hebräischen Übertragungstätigkeit und der Wertung ihrer Stellung und Bedeutung galt es zunächst, den Bestand an Übersetzungen zu recherchieren. In früheren Forschungsarbeiten wurden zwar gewisse Aspekte der deutschen Literatur im hebräischen Kontext beleuchtet; so wurden der deutsche Einfluss auf das hebräische Schrifttum, die Übernahme schiedenen Gesellschaftsschichten vgl. T.S. Eliot, Notes Towards the Definition of Culture, in: ders., Christianity and Culture, Harcourt 1949, 75–202. Zum Wesen der Kultur siehe A.L. Kroeber, The Nature of Culture, Chicago 1952. Über die Klassifizierung der Kultur nach Konsumentengruppen siehe F.K. Lehman, Typology and the Classification of the Sociocultural Systems, in: R.A. Manners (Hg.), Process and Pattern in Culture, Chicago 1964, 376–396.

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Die Juden und die deutsche Kultur

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deutschen Gedankenguts durch israelische Schriftsteller und Publizisten, die Übersetzung deutscher Werke ins Hebräische in spezifischen Zeitabschnitten und die die Übersetzer leitenden Bildwelten bereits von anderen Forschern behandelt. Zudem liegen auch Arbeiten über die Eingliederung der Einwanderer aus Mitteleuropa in Palästina und ihren Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche des Staates Israel vor.4 Doch fehlte bislang in der Forschung ein umfassendes Quellenverzeichnis, das eine volle Ausleuchtung des jüdischen bzw. hebräischen Verhältnisses zum deutschen Schrifttum ermöglicht hätte. Die Zusammenstellung des Übersetzungskorpus war mit Schwierigkeiten verbunden, da bislang keine vollständige Bibliografie der deutsch-hebräischen Übersetzungen bis 1948, dem Jahr der Gründung des Staates Israel, publiziert wurde. Die bisher vollständigste Aufstellung veröffentlichte 1934 in New York Israel Shapira als Bibliography of Hebrew Translations of German Works. Es fehlten daher die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und jene wenigen Jahre kurz vor der Staatsgründung, die sich durch eine besondere Vielzahl von deutsch-hebräischen Übersetzungen auszeichnen. Hingegen umfasst Shapiras Bibliografie Werke zum Studium der jüdischen Religion, die in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt wurden. Richtungsweisend war dabei die Annahme, dass sie ihres Gegenstandes wegen, jedoch ohne Zusammenhang mit der deutschen Originalsprache des Werkes erfolgten.5 Weitere partielle Bibliografien finden sich in früheren, sich mit in Zeitschriften publizierten Übersetzungen oder bestimmten literarischen Genres befassenden Arbeiten.6 4 Hinsichtlich der Übersetzungen ins Hebräische stützte ich mich vor allem auf die Arbeiten Gideon Tourys, wobei ich, im Gegensatz zu ihm, von der Frage der Mittlersprache und der Metaphernwelt, die dem Übersetzer vor Augen stand, absah. Vgl. hierzu G. Toury, Normen der literarischen Übersetzung ins Hebräische 1930–1945 (hebr.), Dissertation, Universität Tel Aviv, 1976; ders., Descriptive Translation Studies and Beyond, Amsterdam/Philadelphia 1995, bes. 147–165. Zur Wirkung des deutschen Schrifftums auf die originäre hebräische Literatur siehe z. B. S. Sandbank, Zwei Teiche im Wald: Zusammenhänge und Parallelen zwischen der hebräischen und der europäischen Dichtkunst (hebr.), Tel Aviv 1976. Über die sich zur Zeit des Jischuw in Palästina herausbildende Kultur siehe u. a.: N. Gertz (Hg.), Perspektiven: Kultur und Gesellschaft in Erez Israel (hebr.), Tel Aviv 1988; dies., Literatur und Ideologie im Palästina der dreißiger Jahre (hebr.), Tel Aviv 1987. Bezüglich der Rolle und Eingliederung der mitteleuropäischen Immigranten im Leben des Jischuw stützte ich mich vor allem auf die Arbeit von Y. Gelber, Neue Heimat: Die Alija der Juden Mitteleuropas und ihre Eingliederung 1933–1948 (hebr.), Jerusalem 1990; M. Zimmermann (Hg.), Germany and the Land of Israel: A Cultural Encounter (hebr.), Jerusalem 2004. 5 In Ausnahme dazu wurde Moses Mendelssohn, dessen Werke sich unter anderem mit dem religiösen Schrifttum und dessen Auslegung auseinandersetzen, mit seinen allgemeiner gehaltenen Schriften in den hier behandelten Korpus aufgenommen. Die Berücksichtigung Mendelssohns erfolgte aufgrund seiner großen Bedeutung im Allgemeinen und im Besonderen aufgrund der Wirkung, die seine Beziehung zu den deutschen Aufklärern auf die Einstellung der gebildeten jüdischen Elite Osteuropas der deutschen Kultur gegenüber ausübte. 6 Als ausgezeichnete Beispiele bibliografischer Aufstellungen für bestimmte Kategorien und Perioden seien angeführt: I. Shedletzky, Literaturdiskussion und Belletristik in den jüdischen Zeitschriften in Deutschland 1837–1918, Dissertation, The Hebrew University of Jerusalem, 1986; N. Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit: Der deutsch-jüdische historische Roman ab dem 19. Jahrhundert und die Schaffung einer nationalen Literatur (hebr.), Tel Aviv 1997 (dt. erschienen: Romanze mit der Vergangenheit. Der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung

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Zusätzlich stützte sich die Zusammenstellung des Korpus übersetzter Literatur auf einige Bibliografien, unter denen vor allem zu nennen wären: Beit Eked Sefarim (Herausgeber: Chaim Dov Friedberg), die bibliografische Quartalszeitschrift Jad lakore, Leksikon Ofek lesifrut jeladim (Ofeks Lexikon zur Kinderliteratur) sowie eine Reihe weiterer Aufsätze und Nachschlagewerke, denen wichtige Ergänzungen entnommen wurden. Des Weiteren stützte ich mich auf die Sammlung der Jewish National University Library in Jerusalem. Aus all diesen Quellen entstand ein Verzeichnis von 784 aus dem Deutschen ins Hebräische übertragenen Werken, die den Großteil der Übersetzungen zwischen diesen Sprachen in der Zeit vor 1948 darstellen. Zur Vervollständigung des Bildes wurde die Bibliografie durch die in Zeitschriften, Wochenzeitschriften und literarischen Sammelbänden publizierten Übersetzungen ergänzt. Diese Aufstellung ist trotz sehr selektiven Vorgehens mit über 500 Titeln äußerst umfangreich. Zum Teil handelt es sich dabei um Gedichtsammlungen sowie Übersetzungen von in Fortsetzungen erschienenen Kurzgeschichten und Dramen. Die Übersetzungen stammen vorwiegend aus einer relativ kleinen Zahl von Zeitschriften, in denen umfangreiches, aus dem Deutschen übersetztes Material veröffentlicht wurde, wie Mosnajim, die JefetSammlungen, Ha-adama, Ha-dor, Hedim, Luach Achiassaf und Ha-tekufa. Weitere Angaben zur Übersetzung kurzer Auszüge literarischer Werke wurden bibliografischen Aufsätzen entnommen, deren bedeutendste vom Bibliografen Shmuel Lachower stammen. Diese Quellen bilden einen zusätzlichen Maßstab für das Interesse von Herausgebern und Übersetzern an deutschsprachigen Werken. Zwar sagt die dabei getroffene Auswahl oft nichts über den Publikumsgeschmack aus, wie auch die Entscheidung, etwas in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, nicht mit der Publikationsentscheidung eines Verlages vergleichbar ist; überhaupt spekuliert ein Verlag nicht selten auf gut Glück auf den Erfolg eines Titels am Buchmarkt. Der bloße Umstand, dass aus dem Deutschen übertragene Prosastücke, Dramen, Gedichte und philosophische Schriften in so intensiver Form in Zeitschriften publiziert wurden, weist jedenfalls auf ein breites Interesse an der deutschen Kultur hin. Das über die übersetzte Literatur erschlossene Material wurde nach einer Reihe von Kriterien dermaßen quantifiziert, dass seine Auswertung in historischem Kontext erfolgen konnte. Quantifizierung und Analyse gingen von der Grundthese aus, dass sich dabei verschiedene Charakteristika bezüglich der von Verlegern, Herausgebern und Übersetzern – in Europa und in späterem Stadium im jüdischen Palästina – verfolgten Politik und ihrer Einstellung zur deutschen Kultur herauskristallisieren würden. Die dabei gewählten Kriterien umfassen vier Hauptbereiche: die Person und Herkunft des Autors, den allgemeinen Gegenstand und das Genre des Werkes, die Person des Übersetzers und den Erscheinungsort der Übersetzung sowie das Erscheinungsjahr der hebräischen Überset-

für die Entstehung einer jüdischen Nationalliteratur [= Conditio judaica 58], üb. v. Dafna Mach, Tübingen 2006.)

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zung im Vergleich zum Publikationsdatum des Originals. Die Auswertung des Übersetzungskorpus nach diesen Kriterien ermöglichte teilweise Rückschlüsse über die Beweggründe der Verleger bei der Wahl der Werke und ihre Erwartungen bezüglich der Leserpräferenzen. Zwar gibt dieser Ansatz Aufschluss über die vorherrschenden kulturellen Auffassungen im historischen Kontext der Konstruktion einer neuen nationalen Kultur, doch vermag er es nicht, eine rein literaturwissenschaftliche Analyse des übersetzten Materials zu liefern; diese sei anderen Forschern im Bereich der Semiotik und Semantik vorbehalten. Die Quantifizierung der Daten nach Erscheinungsjahr der Übersetzungen ermöglichte auch eine spezifische Periodisierung, wobei drei Zeitabschnitte umrissen werden konnten. Die erste Periode endet mit dem Jahre 1881 und ist nur indirekt Gegenstand dieser Arbeit, die sich vornehmlich mit der Zeit des Jischuw zwischen 1882 und 1948 beschäftigt. Zwar ist die Zahl der Übertragungen in diesen ersten Jahren und das vorhandene Material über Verleger, Übersetzer und Leserschaft relativ gering, doch schafft die Auswertung der Befunde einen Hintergrund für das Verständnis der Übertragungstätigkeit in späterer Folge. Die zweite Periode umfasst die Jahre 1882–1927, die dritte die Jahre 1928– 1948. Diese Zweiteilung der Zeit des Jischuw soll den maßgeblichen Unterschied in der Zahl der Übertragungen in den beiden Zeitabschnitten hervorheben. In der ersten Periode ist ein stetiges Anwachsen der Übersetzungen zu verzeichnen, wobei im Durchschnitt sieben Werke im Jahr publiziert wurden. Ab 1928 steigt die Zahl sprunghaft auf durchschnittlich 18 Titel jährlich an. Dementsprechend sind auch die Kapitel dieser Arbeit angelegt – dies, obwohl diese Periodisierung historiografisch unüblich ist und auch in der hebräischen Literaturgeschichte gemeinhin das Jahr 1924 bzw. 1925 als Übergang des literarischen Zentrums von Europa nach Palästina und als Wendepunkt in der Entwicklung der neuhebräischen Literatur angesehen wird. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich bei dem Versuch, die Politik der Verleger und Übersetzer bei der Auswahl der zu übertragenden Bücher nachzuvollziehen. Der dazu führende Entscheidungsprozess ist zum Großteil nicht belegt bzw. eventuell früher vorhandenes Material nicht mehr auffindbar. In den ersten Jahrzehnten der übersetzerischen Tätigkeit waren zahlreiche Verleger involviert, die jeweils nur ein oder zwei Bücher in hebräischer Übertragung herausbrachten. Diese Streuung, die Verlagerung des literarischen Zentrums innerhalb Europas und dann nach Palästina, die zwei Weltkriege und die systematische Vernichtung der osteuropäischen Juden und ihrer Kultur hinterließen im Wissen um die Herausbildung der neuhebräischen Kultur eine enorme Lücke. Das hierzu vorhandene Material besteht im Wesentlichen aus der Korrespondenz zwischen Verlegern in Palästina und der Leitung des »Mossad Bialik«, das ideell und organisatorisch koordinierend zwischen den verschiedenen Verlagen wirkte und sie bei der Aufnahme der zur Finanzierung ihrer Tätigkeit notwendigen Mittel unterstützte. Die genaueren Umstände der Entstehung verschiedener Übertragungen lassen sich daher bis zu einem relativ späten Zeitpunkt – 1935, dem Gründungsjahr des »Mossad Bialik« – nur sehr begrenzt feststellen. Die versuchte Auslegung

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der Verlagspolitik stützt sich daher auf die Auswertung des übersetzten Korpus selbst sowie auf die sich mit der neuhebräischen Kultur auseinandersetzende Publizistik. Unter Berücksichtigung der verschiedenen oben erwähnten Kriterien lassen sich aus dieser Analyse die zentralen ideologischen Motive der Verleger, der Übersetzer und der Herausgeber ableiten. Indes war es nur in den wenigsten Fällen möglich, diese Erkenntnisse durch Zeugnisse der Beteiligten selbst abzusichern. Die Auswertung des Korpus ergab, dass die zur Übersetzung gewählten Werke sich in drei Hauptkategorien gliedern: Klassiker, Werke jüdischer Autoren und Werke pädagogischer Ausrichtung, die sich für die junge, bereits mit dem Hebräischen als Alltagssprache aufgewachsene Generation eigneten. Eine Untersuchung der Themen der übertragenen Werke zeigt, dass bis zu Beginn der organisierten Einwanderungsbewegungen nach Palästina vor allem dem Geist der Haskala verpflichtete Werke oder Lehrbücher publiziert wurden, die für die, des Hebräischen mächtige, gebildete jüdische Elite bestimmt waren. In den ersten Jahrzehnten des Jischuw handelt es sich bei einem Drittel der Bücher um Kinder- und Jugendliteratur. In den zwanzig Jahren vor der Staatsgründung waren es hauptsächlich Werke jüdischer Autoren. In dieser Periode wurden mit besonderer Vorliebe auch wissenschaftliche Werke herausragender jüdischer Denker wie Sigmund Freud oder Karl Marx ins Hebräische übertragen. Die Wahl der zu übersetzenden Schriften war also durchgehend von nationalen Ideologien bestimmt: Anfangs dienten die Übertragungen weltanschaulich der Haskala, danach der Erneuerung der hebräischen Nation und Sprache, schließlich der Bewahrung jener Literatur, die in den unter nationalsozialistischer Herrschaft stehenden Gebieten verboten war – Werke vor allem jüdischer Autoren. In allen drei hier untersuchten Zeitabschnitten betrug der Anteil der jüdischen Autoren etwa vierzig Prozent, weit mehr als ihr proportioneller Anteil an der Bevölkerung des deutschsprachigen Raumes bzw. der in deutscher Sprache schreibenden Autoren. Zweifellos spiegelt dies nicht nur die bedeutsame Rolle jüdischer Schriftsteller und Denker in der deutschen Kultur wider, sondern war – vor allem zur Zeit des »Dritten Reichs« – auch Teil einer bewusst gepflegten Politik. Die ideologischen Beweggründe für die Wahl der übersetzten Werke wurden, wie bereits erwähnt, vor allem von Juden osteuropäischer Herkunft bestimmt, die den harten Kern der in diesem Bereich agierenden Übersetzer und Verleger darstellten. Ihre Dominanz mutet befremdlich an, weil zu erwarten gewesen wäre, dass, wie in allen Einwanderungsländern, jede Volksgruppe bestrebt gewesen wäre, einen Teil ihrer kulturellen Tradition in die neue gemeinsame Kultur einzubringen. Es gibt mehrere Erklärungen für dieses Phänomen. Die meisten osteuropäischen Immigranten beherrschten das dem Deutschen nahestehende Jiddisch und in den gebildeten Schichten auch die deutsche Sprache selbst – manchmal besser als ihre jeweilige Landessprache – und waren mit der deutschsprachigen Kultur bestens vertraut. Für die jüdischen Intellektuellen Osteuropas war die deutsche Kultur integraler Teil des Geisteslebens. Die Maskilim Ostund Mitteleuropas waren mit der deutschen Aufklärung in enge Berührung ge-

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kommen. Dies ergab sich zum Teil durch das Studium osteuropäischer Juden im deutschen Raum, die dann die deutsche Kultur in ihre Heimatländer mitbrachten. Insofern mag es durchaus gerechtfertigt sein, die deutsche Kultur in Osteuropa – in kaum geringerem Ausmaß als in Zentraleuropa – als integralen Teil der ostjüdischen Kulturtradition anzusehen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die Bindung der osteuropäischen Juden zu Deutschland und der deutschen Kultur. Die in Osteuropa, besonders in Russland, den Juden gegenüber von den Behörden verfolgte feindselige und repressive Politik einerseits und die in Deutschland seit der bürgerlichen Emanzipation relativ liberale Einstellung andererseits veranlasste Juden aller sozialen Schichten zur Auswanderung in den Westen. In diesem Stadium lassen sich zwei Entwicklungen im Keim erkennen, die später das jüdische Verhältnis zur deutschen Kultur in entgegengesetzte Richtung prägen sollten: Einerseits wurden deutsche Kultur und Lebensart in Osteuropa von den jüdischen Intellektuellen, die im deutschsprachigen Raum studiert hatten, verbreitet. Andererseits stießen die aus den schwächeren sozialen Schichten Osteuropas stammenden Juden auf gesellschaftliche und kulturelle Ablehnung seitens der deutschen Juden, von denen sich ein wachsender Teil um eine volle Eingliederung in die deutsche Gesellschaft bemühte. Diese Kreise sahen in den osteuropäischen Glaubensgenossen Vertreter einer im Verschwinden begriffenen Tradition, die in der modernen deutsch-jüdischen Gesellschaft keinen Platz hatte. Hinter der Ablehnung ostjüdischer Zuwanderer stand die Befürchtung, dieser Migrantenstrom könnte zu einer Welle des Antisemitismus oder zur Einschränkung der Rechte der Juden führen. Die übersetzerische Tätigkeit aus dem Deutschen ins Hebräische dauerte nach Beginn der Einwanderungsbewegung, nach Erez Israel und fast während der gesamten Periode des Jischuw an – dies vorerst in den Ursprungsländern der Einwanderer, vor allem in Polen, später in Palästina. Es waren während dieses gesamten Zeitraumes vor allem aus Osteuropa stammende Literaten und Verleger, die sich um die Herausgabe deutscher Werke in hebräischer Sprache bemühten, die in ihren Augen als Klassiker galten. Daneben wurde auch eine Vielfalt von aus der Feder jüdischer Autoren stammender Werke ins Hebräische übertragen. In dieser Auswahl zeigte sich bereits die Rolle der Übersetzer, Herausgeber und Verleger bei der Schaffung einer modern-hebräischen Kultur, obgleich ihr Wirken zuweilen mehr einer losen Kette von Experimenten glich als der durchdachten und geordneten Konstruktion einer kulturellen Basis. Sogar als die ersten Träger der deutschen Kultur, Einwanderer aus Mitteleuropa, nach Palästina kamen, blieb das Übersetzen fast ausnahmslos in Händen der osteuropäischen Immigranten. Paradoxerweise galten die deutschen Einwanderer – Vertreter ebenjener von den Ostjuden als Leitbild so bewunderten, nunmehr als verloren betrauerten Kultur – im Jischuw gesellschaftlich als eine problematische Gruppe. Aufgrund der großen Schwierigkeiten, die sie beim Erlernen der hebräischen Sprache hatten – vielleicht ein Ausdruck mangelnder Motivation der in diese Emigration Gezwungenen – wurden sie zur Zielscheibe des Gespötts der Alteingesessenen.

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Der gesellschaftliche Druck auf die deutschen Einwanderer, von denen sich nicht wenige sprachlich und kulturell absonderten und sich damit in Widerspruch zur allgemein im Jischuw geltenden, auf Homogenisierung der verschiedenen Immigrantengruppen bedachten Einstellung setzten, mag verständlich sein. In nicht geringem Maße mag er auch auf der Ablehnung der von den Einwanderern mitgebrachten zeitgenössischen deutschen Kultur beruht haben, die sich von der überkommenen Vorstellungswelt – dem Produkt der aus dem deutschsprachigen Raum übernommenen Elemente – der bereits im Jischuw Ansässigen abhob. Vorstellbar ist auch, dass die ablehnende Haltung des Jischuw ein zeitverschobener Reflex auf jene Geringschätzung war, die die deutschen Juden um die Jahrhundertwende den Ostjuden gegenüber gezeigt hatten. Trotz der Irritation, die die deutschsprachigen Einwanderer auslösten, nahmen sie auf ihre Art durchaus am Leben des Jischuw Anteil. Zwar fassten die deutschen Immigranten bekanntlich im von den alteingesessenen Olim Osteuropas, vor allem aus Russland und Polen, dominierten politischen Leben nicht Fuß. Hingegen waren die mitteleuropäischen Einwanderer maßgeblich und wegweisend an der Gründung von Institutionen beteiligt, die jene Art der Bildung und Denkweise erforderten, die sie aus ihren Ursprungsländern mitgebracht hatten. Sie prägten so unterschiedliche Bereiche wie Medizin, Recht, Bankwesen, Sozialfürsorge, Architektur, höhere Bildung, Musik und die moderne Landwirtschaft.7 Darin setzten sie eine Entwicklung fort, die noch vor ihnen andere, im damaligen jüdischen Palästina nicht so gern gesehene Elemente deutscher Herkunft begründet hatten – zum einen die Templer, zum anderen die Vertreter des »Hilfsvereins der deutschen Juden«. Den Templern war es in gewissem Maße gelungen, eine Synthese zwischen arabischer und westlicher Wohnkultur und landwirtschaftlichen Methoden unter Einbindung relativ fortschrittlicher Technologie herzustellen. Die Vertreter des »Hilfsvereins« versuchten beharrlich, jedoch ohne Erfolg, sich Enklaven deutscher Kultur zu schaffen; ihnen ist vor allem die erste Hochschule im Land, das »Technion« in Haifa, zu verdanken. Die Präsenz der deutschsprachigen Einwanderer in Palästina änderte nichts an der bestehenden osteuropäischen Dominanz im Bereich der deutsch-hebräischen Übersetzungen. Ebenso wenig beeinträchtigte der Aufstieg der Nationalsozialisten – der Grund für den Zustrom ebenjener Immigranten – nicht, wie man vielleicht hätte annehmen können, die Motivation, aus dem Deutschen zu übersetzen. Ganz im Gegenteil: Werke von jüdischen Autoren, von Gegnern des NS-Regimes und sonst wie von den Nationalsozialisten verfemten Schriftstellern wurden zum Gegenstand der damaligen übersetzerischen Tätigkeit im Jischuw. In der Tat waren die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft die Blütezeit der deutsch-hebräischen Übersetzung. In den Jahren 1945 bis 1948, zwischen Kriegsende und der Staatsgründung Israels, erschienen weiter Übersetzungen aus dem Deutschen, wobei der Schwerpunkt noch stärker auf jüdische

7 M. Zimmermann/Y. Hotam (Hg.), Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost, Frankfurt a. M. 2005.

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Autoren gelegt wurde. Das deutet darauf hin, dass die Übersetzer, Herausgeber und Verleger zu diesem Zeitpunkt ihre Rolle in der Gestaltung der modern-hebräischen Kultur bereits in selbstverständlicher Weise wahrnahmen. Jedenfalls bestand nicht immer Übereinstimmung zwischen der allgemeinen Haltung des Jischuw gegenüber Deutschland und der deutschen Sprache einerseits und der Einstellung zu verschiedenen Bereichen deutscher Kultur andererseits. Zwar entrüstete man sich über die deutschsprachigen Einwanderer, die auch in Palästina weiter an ihrer Muttersprache festhielten, nichtsdestoweniger gingen die Bemühungen um die Übertragungen aus dem Deutschen ins Hebräische unvermindert weiter; auf den hebräischen Bühnen wurden weiterhin deutsche Dramen und deutsche Musik gespielt. Im Gegensatz dazu widersetzte man sich – gelegentlich sogar mit physischer Gewalt – der Aufführung deutschsprachiger Filme, auch solcher, die noch vor der NS-Zeit entstanden waren. Die Fülle der deutsch-hebräischen Übersetzungen während des Zweiten Weltkriegs und danach verzerrt in gewissem Ausmaße die veränderte Einstellung zu den übertragenen Werken. Über ihre Rezeption bei der Leserschaft lässt sich also nur mit Einschränkung eine Aussage treffen, dies deshalb, weil es zu jener Zeit allgemein unüblich war, Auflagen- und Verkaufsziffern zu veröffentlichen, schon gar nicht für den kleinen hebräischsprachigen Markt. Ebensowenig gab es Meinungsumfragen, die Aufschluss über die Popularität dieses oder jenes Titels hätten geben können. Daher stützt sich die Beurteilung der Rezeption im Rahmen dieser Arbeit auf die sich direkt auf die Übersetzungen beziehenden Besprechungen sowie auf zu politischen und kulturellen Ereignissen im deutschsprachigen Raum Stellung nehmende Artikel und Beiträge in Zeitschriften, die in Europa und Palästina erschienen. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass diese Publikationen jeweils nur die persönliche Ansicht ihres Verfassers widerspiegeln, Analogien zur Meinung der breiten Öffentlichkeiten mögen dabei inexakt ausfallen. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Ansichten der Verfasser im Allgemeinen die im hebräischlesenden Publikum herrschende Stimmung reflektierten und umgekehrt die Rezeption seitens der Leserschaft beeinflussten. Darüber hinaus waren die Zeitschriften selbst ein Forum, in dem das Wesen der neuhebräischen Kultur und die zu ihrer Stärkung erforderlichen Elemente debattiert wurden.8 Zum Zwecke dieser Arbeit konnte die Rezeptionsgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts an verfolgt werden, weil erst ab dieser Zeit Buchrezensionen und andere Kommentare zur deutschen Kultur vorliegen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich nach und nach zahlreichere Quellen; insbesondere aus

8 In diesem Zusammenhang sei auf die von Itta Shedletzky in ihrer Arbeit vorgebrachte Auffassung verwiesen. Ihren Ergebnissen zufolge drehte sich die literarische Debatte in den jüdischen Zeitschriften im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts unter anderem um die Frage, was in den Augen der jüdischen Intellektuellen als »jüdisch« galt. Darüber hinaus verfolgten die Zeitschriften selbst klare politische Linien; ihre Bedeutung im deutschsprachigen Raum war seit den 1830er Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges sehr wesentlich. Siehe Shedletzky, Jüdische Zeitschriften in Deutschland (Anm. 6).

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den 30er und 40er Jahren existieren hunderte Besprechungen übersetzter Werke bzw. Theaterproduktionen, neben allgemeineren, zu Fragen der deutschen Kultur Stellung nehmenden Artikeln. Die systematische Analyse dieser Quellen zeigt einen allmählichen Wandel in der Einstellung, der nicht unbedingt mit einer entsprechenden Änderung der Verlagspolitik einherging. In den Frühstadien wurde der bloße Umstand der erfolgten Übersetzung und ihres Beitrags zur Schaffung eines hebräischsprachigen Literaturrepertoires meist freudig begrüßt. Eventuelle Berührungspunkte zum Judentum wurden hervorgehoben; war der Autor Jude, wurde dieser Umstand, über die allgemeine stolze Würdigung des jüdischen Beitrags zur deutschen Kultur hinaus, noch besonders betont. Dies ist auch für Essays charakteristisch, die später, im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, publiziert wurden. Im Gegensatz zu früher bot der jüdische Bezug seit Beginn des Jahrhunderts und insbesondere ab den 30er Jahren keinen ausreichenden Schutz vor harter Kritik. Die Rezensenten gingen in steigendem Maße auf Inhalt und Qualität der Übersetzung ein – vor allem aber auf ihren Beitrag zur Schaffung eines literarischen Korpus in hebräischer Sprache. Zu diesem Zeitpunkt war man sich schon ganz der Größe und Bedeutung der Aufgabe bewußt, eine nicht mehr auf religiösen Schriften und Auslegungen beruhende kulturelle Basis zu legen. Bei der Übertragung dieser, auf hebräischen Quellen beruhenden, Studie ins Deutsche waren einige technische Hürden zu bewältigen. Hier und da entsprach der hebräische Titel nicht wortgetreu dem des Originalwerks, sodass Letzteres nicht eindeutig recherchiert werden konnte. Das betrifft im Besonderen Kinderbücher, vor allem Kurzgeschichten und Märchen. In diesen Fällen ist, mit einem diesbezüglichen Hinweis, die deutsche Übersetzung des hebräischen Titels angegeben. Bei manchen Übersetzern und Publizisten, die nur sporadisch tätig waren, konnte die genaue lateinische Transkription des Namens nicht eruiert werden, die gewählte Schreibweise entspricht dann jener phonetischen Transkription, die dem Deutschen am ehesten gerecht wird. Manche Publizisten erscheinen unter dem von ihnen verwendeten Pseudonym oder Akronym, gegebenenfalls (sofern bekannt) unter Nennung des Autorennamens bzw. mit einer Erklärung der hebräischen Bedeutung des Pseudonyms. Bis es jedoch soweit war, dass das Niveau der Übersetzungen aus dem Deutschen ins Hebräische reif für eine kritische Auseinandersetzung war, vergingen Jahrzehnte, in denen die Einstellung der Juden zur deutschen Kultur von großer Wertschätzung, ja Bewunderung geprägt war. Den Hintergrund dafür bildeten vor allem die wachsende politische Bedeutung des deutschsprachigen Raumes, das steigende Ansehen der deutschen Kultur innerhalb Europas, vor allem im Osten des Kontinents, und das besondere Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Denkern und Schriftstellern deutscher Sprache.

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1. Kapitel Europäische Juden und deutsche Kultur – Wechselseitige Einflüsse Die im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum erfolgten politischen Umwälzungen gingen mit der Entwicklung eines eigenständigen Kulturschaffens einher, das innerhalb und außerhalb des deutschen Raumes Anerkennung fand. Diesem wurde in ganz Europa wachsender Einfluss zuteil, parallel zur steigenden politischen Bedeutung des Deutschen Reiches und der österreichisch-ungarischen Monarchie. Im Deutschen Reich waren zu Beginn des Jahrhunderts nur wenige Fürstenstaaten politisch bedeutsam gewesen. Dieser politisch-kulturelle Wandel hatte seine Wurzeln noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Deutschland stand damals von außen her seitens der napoleonischen Heere unter großem politischem Druck. Andererseits schaffte das politisch und militärisch starke Preußen, das zum Hauptfaktor in der Vereinigung Deutschlands werden sollte, nicht unbeträchtlichen politischen Druck von innen. Mit diesen politischen Veränderungen gingen bedeutende kulturelle Entwicklungen einher, etwa wie in Frankreich die Formulierung neuer philosophischer Ideen zum Begriff der Freiheit und der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Daneben wurden auch alte Volkssagen wieder aufgegriffen, die unter anderem ein für die meisten der später zum Reich zusammengeschlossenen Fürstentümer ein breites und einigendes kulturelles Band darstellten. Diese politischen Veränderungen ebenso wie ihre kulturellen Auswirkungen waren zentrale Elemente in der Ausbildung des deutschen Nationalbewusstseins.1 Dabei ging das kulturelle Schaffen im deutschen Raum der politischen und verfassungsmäßigen Konstituierung von Deutschland und Österreich voran. Zwar galt zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die deutsche Kultur gegenüber der französischen als Kultur minderen Ranges. Doch mit dem Wirken deutscher Denker wie Ephraim Gotthold Lessing, Moses Mendelssohn und Johann Gottlieb Fichte setzte eine Aufwärtsentwicklung der deutschen Kultur ein, die nun auch bei anderen Völkern in Ost und West steigendes Ansehen genoss. Es kam zu einer Blüte der deutschen Literatur, mit dem Sturm und Drang als herausragendster Bewegung jener Epoche; ihre Vertreter waren unter anderem auch von der französischen und deutschen Aufklärung sowie deutschen Volkssagen beeinflusst worden, die über die Sprachforschung neu entdeckt wor1 Zu den Ansichten deutscher Intellektueller hinsichtlich der politischen Lage im deutschen Raum und dem von ihnen zwischen politischen und kulturellen Umwälzungen hergestellten Zusammenhang siehe G.G. Iggers, The German Conception of History: The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown, CT 1968.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

den waren. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Novalis, die Brüder Friedrich und August Wilhelm von Schlegel sowie E.T.A. Hoffmann waren die eminentesten Repräsentanten dieser Epoche. Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm waren die bedeutendsten Sammler deutscher Volkssagen, die nunmehr in den deutschen Fürstentümern Teil der Volksbildung wurden. Diese Sagen trugen zumindest indirekt zur Ausbildung einer neuen historisch-kulturell begründeten gesamtdeutschen Identität bei.2 Der Aufstieg Deutschlands als politische und kulturelle Macht wirkte sich natürlich auch auf das europäische Judentum aus, vor allem auf die großen jüdischen Gemeinden Osteuropas. Die deutsche Kultur fand in die jüdische Bildungsschicht dieser Region Eingang, dies aus einer Reihe von Gründen: angefangen von der seitens der jeweiligen Landesbehörden eingeführten Verwendung der deutschen Sprache in Teilen Osteuropas und in der öffentlichen Verwaltung in einem Teil des baltischen Raumes, in Böhmen und innerhalb Russlands3 über die Verbreitung der der deutschen Sprache nahestehenden jiddischen Sprache bis hin zur Entwicklung der Bibelforschung in deutscher Sprache seitens Juden und Nichtjuden. Die Annäherung des osteuropäischen Judentums an die deutsche Kultur ergab sich bereits im Kontext des kulturellen Dialogs mit den Juden des deutschsprachigen Raumes seit Beginn der Aufklärung. Viele namhafte Gelehrte gelangten aus dem Osten nach Deutschland, von wo aus ihre Werke wiederum starken Einfluss auf die jüdischen Zentren in Galizien und Litauen ausübten, wo sie intensiv studiert wurden. Auch die Vertreter der Haskala in Russland fanden im Westen Quellen der Inspiration, vor allem bei den deutschen Maskilim, die Russland bereisten und sich zum Teil in Russland als Rabbiner und Lehrer niederließen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich in Deutschland ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit entwickelt, dessen Ausläufer sich bis nach Polen, Russland und auch in die Vereinigten Staaten erstreckten.4 Der intellektuelle Diskurs schloß zumindest indirekt auch deutsche Philosophen ein. Die unter Juden wie Nichtjuden bekannte Lehre des Moses Mendelssohn als einem der führenden Vertreter der deutschen Aufklärung war von den Ideen nichtjüdischer 2 Zur allgemeinen kulturellen Entwicklung im deutschen Raum in dieser Periode vgl. R. Pascal, The German Sturm und Drang, London 1953. L. Vaughan, The Historial Constellation of the Sturm und Drang, New York/Bern/Frankfurt a. M. 1985 gibt Aufschluss über die Popularität der Sturm und Drang-Bewegung. Zur Popularität der Volkssagen siehe L. Roehrich, Sage und Märchen: Erzählforschung heute, Freiburg/Basel/Wien 1976, 21–30, 44–58. 3 In den drei baltischen Provinzen etwa – Litauen, Lettland und Estland –, die ein Tor zum Westen darstellten und bereits zu byzantinischer Zeit unter westlichem Einfluss gestanden hatten, wurden auch in neuerer Zeit Impulse aus Ost und West gleichermaßen aufgenommen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren in den lettischen und estländischen Schulen Deutsch, Französisch und Russisch Hauptfächer. Zum Einfluss auf das Unterrichtswesen in Russland und anderen slawischen Gebieten siehe E. Amburger, Die deutschen Schulen in Rußland mit besonderer Berücksichtigung St. Petersburgs, in: Studium zum Deutschtum im Osten XVIII: Deutscher Einfluß auf Bildung und Wissenschaft im Östlichen Europa, Köln/Wien 1984, 4. 4 Einblick in die Bedeutung Deutschlands als Zentrum der Aufklärung gibt I. Einstein-Barzilay, The Enlightenment and the Jews: A Study in Haskala and Nationalism, Dissertation, Columbia University, 1955, 238–266.

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deutscher Philosophen wie Lessing, Gottfried Wilhem Leibnitz, Friedrich August Wolf und Alexander Gottlieb Baumgarten durchdrungen.5 Die Beziehungen zwischen dem osteuropäischen Judentum und der deutschen Aufklärung waren nicht die einzige Verbindung zwischen den Intellektuellen dieser beiden Räume. Gleichzeitig gab es in Deutschland eine wachsende Zahl von aus Osteuropa gebürtigen jüdischen Studenten. Bereits im 18. Jahrhundert, im Zeitraum bis etwa 1775, dem Beginn der Aufklärung, erlernten in Deutschland etwa hundert Juden den Arztberuf; die Medizin war zu jener Zeit die einzige Juden zugängliche akademische Ausbildung. Die Hälfte dieser Ärzte waren deutsche Juden, etwa ein Viertel stammte aus Litauen und Polen. Diese jüdischen Studenten, wie auch andere Studenten aus Osteuropa, wurden zu Vermittlern deutscher Kultur, deren Wirkung besonders in Regionen wie Galizien und Bukowina, in geringerem Maße auch in der jüdischen Bildungsschicht in Russland zum Tragen kam.6 Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs der Strom der Studenten westwärts an, nachdem in Russland für Juden der Numerus clausus verfügt worden war. Die kulturelle Beziehung zwischen dem Ostjudentum und der jüdischen Bildungsschicht in Deutschland war ein weiteres Glied in der Kette des über die Grenzen des Deutschen Bundes und später des Reiches hinaus wirkenden deutschen Einflusses. De facto entstand kulturell gesehen ein aus Österreich, Mähren und Böhmen umfassendes »Großdeutschland«, obwohl sich rein politisch-konstitutionell die »kleindeutsche« Lösung durchgesetzt hatte. Vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden auch die intellektuellen Kreise Russlands von der deutschen Kultur beeinflusst. Die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Völkern hatten noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter Peter dem Großen begonnen, als russische Studenten in Auflehnung gegen die französische Kulturhegemonie zum Studium an deutsche Universitäten gingen. Jenseits der rein akademischen Bildung nahmen die Studenten auch die in den gebildeten Kreisen Deutschlands vorherrschenden philosophischen, literarischen und politischen Ideen auf und in den Osten mit. Besonderen Einfluss übten die Schriften Lessings, Schillers, Goethe und Hoffmanns aus, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts jene Hegels, Feuerbachs und Schopenhauers.7 Die Wirkung ging so weit,

5 Laut Azriel Shohat wollte Mendelssohn mit seiner Lehre »den Nichtjuden beweisen, dass sie die Weisheit nicht gepachtet hatten und auch Juden imstande sind, intellektuelle Leistungen zu vollbringen«. A. Shohat, Epochenwenden: Der Beginn der Haskala im deutschen Judentum (hebr.), Jerusalem 1960, 248. Zu Mendelssohns Auffassung siehe unter anderen A. Altmann, Moses Mendelssohn: A Biographical Study, Alabama 1973; Einstein-Barzilay, The Enlightenment and the Jews (Anm. 4), 268–276. 6 Über Juden und Medizin vgl. J. Toury, Ansätze zur Erforschung der bürgerlichen Emanzipation in Deutschland (hebr.), Tel Aviv 1972, 60; M. Eliav, Die jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Haskala und der Emanzipation (hebr.), Jerusalem 1970, 19 f; Einstein-Barzilay, The Enlightenment and the Jews (Anm. 4), 250–253. Zur Akkulturation junger deutsch-jüdischer Intellektueller siehe Y. Doron, Zionismus in Mitteleuropa und deutsche Ideologien 1885–1914: Analogien und Wechselwirkungen (hebr.), Dissertation, Tel Aviv University 1977, 9–11. 7 Isaiah Berlin zufolge haben diese Philosophen Osteuropa einschließlich Russland im zweiten

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

dass die Helden russischer Romane bisweilen mehr deutsch als russisch waren. Wohl das typischste und bekannteste Beispiel ist die Figur des Lenski aus Alexander Puschkins zwischen 1823 und 1830 entstandenem Versepos Eugen Onegin – Onegin hat in Deutschland studiert, bewundert Kant und dichtet im Stil Goethes und Schillers.8 Doch nicht nur die Russen nahmen die deutsche Kultur freudig an, auch die Deutschen waren begierig, ihre Ideen in andere Länder zu tragen. Deutsche Gelehrte legten am Ende des 18. Jahrhunderts den Grundstein für die russischen Universitäten und errichteten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in den wichtigsten Städten wie Moskau, Odessa und Kiew eine Reihe von Schulen bis zum Realschulniveau. Viele Deutsche, vor allem aus adeligen Kreisen, standen im russischen Staatsdienst, der den russischen Aristokraten als minderwertig galt und darum Ausländern, vor allem Deutschen, überlassen wurde. Diese dienten den russischen Zaren seit den Tagen Peters des Großen und bildeten die Offizierskader der Armee sowie die hohe Beamtenschaft in Diplomatie und Staatsdienst. So gelangten deutsche Sprache und Lebensformen in verschiedene Regionen Russlands. Diese Russlanddeutschen errichteten eigene Kirchen, Theater und Clubs und gaben Zeitungen in deutscher Sprache heraus. Trotz des Status, den sie für sich in Verwaltung und Kultur errangen, blieben die Deutschen in Russland und der Ukraine zahlenmäßig eine kleine Minderheit. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten in Petersburg circa 50.000 Russlanddeutsche, in Moskau und Saratow je 20.000, in Odessa 10.000.9 Im deutschen Teilungsgebiet Polens war die Lage noch extremer. Ein Jahr nach der deutschen Reichsgründung wurde dort Deutsch zur offiziellen Unterrichtssprache in den polnischen Schulen erklärt. Dies entsprach einer pangermanischen Weltanschauung, der zufolge Deutsch nicht nur als internationale Verkehrssprache dienen sollte, sondern allgemein für geistige Überlegenheit stand. Gleichzeitig wurde der Gebrauch der polnischen Sprache in den öffentlichen Einrichtungen innerhalb des russischen Herrschaftsgebietes untersagt, und Anwärter auf den Staatsdienst mussten auf die polnische Staatsbürgerschaft verzichten.10 Viertel des 19. Jahrhunderts zu einem »geistigen Vasallen Deutschlands« gemacht, zumindest aber zu einer Wandlung des politischen Denkens in Russland geführt. I. Berlin, Russian Thinkers, London 1978, 136–138. Vgl. auch Th. G. Masaryk, The Spirit of Russia, Bd. I, London/New York 1967 [1919] 122f; W. Laqueur, Russia and Germany: A Century of Conflict, London 1965, 18 f. 8 A.S. Puschkin, Eugen Onegin [1833], Frankfurt a. M./Leipzig 1999. Über den Fragenkomplex der deutschen nationalen Identität in den Augen der Deutschen siehe H.D. Schultz, Deutschlands »natürliche« Grenzen: »Mittellage« und »Mitteleuropa« in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 15/2 (1989), 248–281. 9 Zur Errichtung der Schulen vgl. Amburger, Die deutschen Schulen in Rußland (Anm. 3), 10–12. Bezüglich des deutschen Einflusses auf die Eliten und die Zahl der deutschstämmigen Bevölkerung in Russland siehe Laqueur, Russia and Germany (Anm. 7), 16–18. 10 Zu den Ähnlichkeiten zwischen pangermanischem und slawophilem Separatismus siehe H. Kohn, The Mind of Germany: Education of a Nation, London 1965, 263 f. Über das deutsche Eindringen in polnische Gebiete siehe M. Z. Jedlicki, Germany and Poland Through The Ages, Cambridge 1942, 20. Zum deutschen Einfluss auf »großdeutschem« Boden siehe u. a. S. Beller, Vienna and the Jews, 1867–1938: Cultural History, Cambridge 1990, 144 f. Ein interessantes Beispiel für die

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Ein weiterer Umstand kam den Juden in ihrer Akkulturierung im deutschen Raum zugute: Abgesehen von der Kenntnis der deutschen Sprache seitens der Maskilim war das Jiddische die weit verbreitete Verkehrssprache der Juden Osteuropas. Die Nähe und Ähnlichkeit der beiden Sprachen erleichterte den Übergang und wirkte als Brücke zum Deutschen. In manchen Fällen fungierte das Jiddische als Basis für das Erlernen der deutschen Sprache, in anderen wurden Werke der deutschen Volksliteratur in hebräische Buchstaben transkribiert, sodass sie jiddischsprechenden Lesern zugänglich wurden. So gab es Mitte des 18. Jahrhunderts eine in Hochdeutsch, wenn auch nicht frei von Jiddischismen gehaltene, geografische Zeitschrift. Zuweilen wirkte sich die Verwandtschaft der beiden Sprachen aber negativ aus, so etwa zur Zeit der großen jüdischen Migration aus Polen in den deutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. Viele dieser Zuwanderer waren in Lehrberufen tätig, und ihre vom Jiddischen gefärbte Sprache bzw. ihr jiddischer Akzent wurden von den Einheimischen nicht selten als eine »Kontamination« der deutschen Sprache empfunden.11 Jedenfalls war Deutsch auch außerhalb der deutschen Kleinstaaten die bevorzugte Fremdsprache der jüdischen Bildungselite, deren Muttersprache das Jiddische war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts schlug die deutsche Sprache derart starke Wurzeln unter den Juden, dass zum Beispiel in Russland von der Obrigkeit Deutsch zur Unterrichtssprache in den jüdischen Schulen bestimmt wurde. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war das Deutsche zumindest für einen Teil der osteuropäischen Juden die vorrangige Verkehrssprache mit der nichtjüdischen Umwelt, denn »welcher Jude spricht nicht Deutsch?«12 Die Verwendung des Deutschen war weit mehr als eine linguistische Präferenz. Es war die Entscheidung für eine ganze Kultur, die die jüdische Bildungsschicht in ganz Ostmitteleuropa betraf.13 Ein bekanntes Beispiel dafür ist der kulturelle Einflussnahme Richtung Osten stellt Bulgarien dar. Seit der Gründung Bulgariens als selbständiger Staat im Jahre 1878 bis zum Balkankrieg von 1911 wurden 223 Bücher vom Deutschen ins Bulgarische übersetzt, hauptsächlich Werke Heines, Goethes und Schillers. Siehe dazu C. Todorowa, Zur Frage der bulgarisch-deutschen kulturellen Beziehungen nach 1878 in: Bulgarian Historical Review 11/3 (1983), 85 f. 11 Über das Verhältnis zwischen Jiddisch und Deutsch vgl. D. Weinrib, Sozio-ökonomische Faktoren der jüdischen Aufklärung in Deutschland (hebr.) in: Knesset 3 (1938), 431; S. Levin, Aus meinem Leben (hebr.), 1, 2. Buch, in der Übertragung von Z. Woyslawski, Tel Aviv 1961, 38. Zum Unterricht in jiddischer Sprache siehe R. Elboim-Dror, Das hebräische Unterrichtswesen in Erez Israel (hebr.), 1, Jerusalem 1990, 56; S. Aschheim, Brothers and Strangers, Madison/London 1982, 12. Über den Druck deutschen Schrifttums in hebräischen Lettern siehe J. Toury, Die Sprache als Problem der jüdischen Einordnung im deutschen Kulturraum in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Beiheft 4 (1982), 77. 12 S. Finkel, Bühne und Kulissen: Leben eines Schauspielers und sein Kampf um Unabhängigkeit (hebr.), Tel Aviv 1968, 23. Mit diesem Titel bezieht sich der in Grodno im Jahr 1905 geborene Finkel auf die Zeit der deutschen Besatzung während des Ersten Weltkriegs. Zur Einstellung der Juden zur deutschen Sprache als Sprache einer Hochkultur zwischen dem Zeitalter der Emanzipation und dem Ersten Weltkrieg siehe u. a. C. D. Wormann, German Jews in Israel – Their Cultural Situation since 1993, in: Leo Baeck Institute Yearbook 15 (1970), 88. 13 Aufschlussreich dazu ist die Reaktion der mährischen Juden auf Anschuldigungen der Kollaboration mit den Deutschen bei den Unruhen von 1899: Sie hätten ihre deutsche Kultur nicht frei ge-

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

1859 in einem Städtchen in der Nähe von Lodz geborene Schriftsteller und Übersetzer David Frischmann, der von Kindheit an Deutsch und Französisch lernte. Von den europäischen Kulturen beeindruckte ihn vor allem die deutsche, und hier besonders die Werke Heines. Frischmann sah sich als Anhänger der deutschen Dichtung, und wie es seine Beschäftigung mit der Welt des Märchens zeigt, war er besonders für die deutsche Romantik empfänglich, in der Philosophie war er von Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer beeinflusst, in seinen literarischen Werken zeigt sich der Einfluss der Gebrüder Grimm und Maurice Maeterlincks. Ein anderer Literat seiner Generation, Nahum Sokolow, sah in Frischmann einen Adepten der deutschen Aufklärung, wie sie in der Bewegung »Junges Deutschland« zum Ausdruck kam; Frischmann sei namentlich von den Ideen Schillers beeinflusst gewesen.14 Der Einfluss der deutschen Kultur war also vielfältig, wenn auch nur in wenigen Fällen so tiefreichend wie bei Frischmann. Der 1848 in Galizien geborene Schriftsteller Karl-Emil Franzos erzählte, sein Vater hätte ihn gelehrt, sich nicht als Pole, Ruthene oder Jude zu fühlen, sondern als Deutscher. Der in 1869 in Lemberg geborene Publizist und zionistische Aktivist Mordechai Ehrenpreis erinnerte sich, seine Mutter habe sich selbst Deutsch beigebracht und deutsche Zeitungen gelesen. Seine eigenen Deutschkenntnisse ermöglichten es ihm, ab seinem 24. Lebensjahr in Deutschland publizistisch tätig zu sein – er schrieb für die Zeitschrift Die Zukunft und die Literaturbeilage des Berliner Tageblattes. Die 1895 in Kischinew geborene Schauspielerin Miriam Bernstein-Cohen erzählte, sie hätte bereits mit vier Jahren aus den Märchen der Gebrüder Grimm gelesen. Als ihre Familie später nach Charkow übersiedelte, besuchte sie das deutsche Gymasium, desgleichen, nachdem sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war. Die Juden Ostmitteleuropas waren so sehr der deutschen Kultur verbunden, dass die Bezeichnung »Ausland« für sie gleichbedeutend war mit dem deutschen und österreichisch-ungarischen Gebiet, das für sie einem »Paradies auf Erden« gleichkam.15 Angesichts des massiven Vordringens der deutschen Kultur nach Osten und der Verwendung der deutschen Sprache als Lingua Franca wird oftmals die Ansicht vertreten, es hätte sich eher um französisches Gedankengut gehandelt, das

wählt, sondern seien in sie hineingeboren worden. Vgl. hierzu Beller, Vienna and the Jews (Anm. 10), 146. 14 M. Gilboa, Zwischen Realismus und Romantik: Über den Weg David Frischmanns als Kritiker (hebr.), Tel Aviv 1975. 15 Das Zitat stammt aus Levin, Aus meinem Leben (Anm. 11), 161. Zu Karl-Emil D. Franzos vgl. S.L. Gilman, Rediscovery of the Eastern Jews: German Jews in the East, 1890–1914, in: D. Bronsen (Hg.), Jews and Germans from 1860 to 1933: The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, 340. Zu Ehrenpreis und Bernstein-Cohen siehe ihre Autobiografien: M. Ehrenpreis, Zwischen Ost und West (hebr.), Tel Aviv 1953, 20–22; M. Bernstein-Cohen, Wie ein Tropfen im Ozean: Memoiren (hebr.), Ramat Gan 1971, 16–43. Bernstein-Cohen berichtet über ihre Rückkehr ins heimische Lettland in den frühen dreißiger Jahren, die Juden »hatten sich vor allem an die seit langen Jahren in Lettland ansässige deutsche Bevölkerung assimiliert. Sie hatten ihre Gebräuche und ihren Geschmack angenommen«.

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über die Vermittlung des Deutschen in diesen Raum gelangte.16 Das mag zum Teil seine Berechtigung haben – man denke etwa an die Ähnlichkeit in der Auffassung von der »Rückkehr zu Natur« in Frankreich und Deutschland, doch liegt die Annahme nahe, dass sich diese Ideen zeitgleich entwickelten. Zudem war dies die Blütezeit der deutschen Kultur, die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine untergeordnete Bedeutung gespielt hatte. Sogar die Briten und die Franzosen, die bisher das Kulturgeschehen in Deutschland ignoriert hatten, begannen sich für die im 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelten Ideen zu interessieren. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts galt die deutsche Sprache selbst in den Augen der deutschen Bildungsschicht als kulturell niedereren Ranges, und man bediente sich in diesen Kreisen häufig des Lateinischen und des Französischen. Französisch galt auch jenseits des Kanals als die Bildungssprache; die französische Literatur war in England im 17. und bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts äußerst beliebt. Doch obwohl Deutsch im Alltagsgebrauch wie auch zu Übersetzungszwecken als schwierige Sprache galt, wurden die Parabeln Christian Martin Wielands und Lessings schon recht frühzeitig ins Englische übertragen. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts lag auf Englisch bereits ein Korpus deutscher Werke vor. Größte Verbreitung fanden jene, die schon in ihrer Heimat Anklang gefunden hatten. Dass die deutsche Literatur gegenüber der französischen vorgezogen wurde, war Ausdruck des Protestes gegen die revolutionären Ereignisse in Frankreich. Die deutsche Literatur, die den Engländern anfangs zu komplex schien, symbolisierte nunmehr die Idee der Geistesfreiheit und bot eine Alternative zur enttäuschenden französischen Variante. Zusätzliches Interesse an den Deutschen und ihrer Kultur erweckte das ins Englische übertragene Werk der Madame de Staël, De l’Allemagne.17 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand in England auch die pädagogische Lehre des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi Zuspruch. Einen weitreichenden Einfluss auf die zu dieser Zeit einsetzende Reformierung der englischen Internate hatten jedoch die preußischen Erziehungsmethoden, die für die englischen Pädagogen wegweisend waren. Zu jener Zeit studierten auch immer mehr junge Engländer in Deutschland, wo sie von dem Gedanken der »Rückkehr zur Natur« beeinflusst wurden, der unter anderem von den Vertretern des »Sturm und Drang« entwickelt wurde. Über sie fanden diese Ideen auch in das kulturelle Leben Englands Eingang.18 Sogar in Frankreich war das Interesse am Geschehen in Deutschland augenfällig. Die Franzosen, die sich mit Stolz – und mit Recht – ihres Beitrags zu den Ideen der Philosophie und Politik bewusst waren, übernahmen auch ihrerseits

16 Diese Grundthese vertritt u. a. M.G. Clyne, Language and Society in the German Speaking Countries, London 1984. 17 V. Stockely, German Literature as Known in England, London 1929, 2–13. 18 Zum deutschen Einfluss auf das intellektuelle Leben in England siehe G. Haines, German Influence Upon English Education and Science, 1800–1866, New London 1957, 10–12, 29; zur direkten Wirkung auf deutsche Schriftsteller vgl. E. Saggarra, Tradition and Revolution: German Literature and Society, 1830–1890, New York 1971, 69.

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manches von den Deutschen; das wachsende Interesse der Franzosen an Deutschland wuchs vor allem nach der deutschen Reichsgründung, obgleich – oder vielleicht gerade weil – diese mit einer Demütigung Frankreichs einherging. Frankreich ging es vor allem um eine Annäherung an Deutschland. Darüber hinaus war die in Deutschland angewandte Wohlfahrtspolitik jener ähnlich, welche die Französische Revolution zu verwirklichen gesucht hatte. Nunmehr waren manche Kreise in Frankreich wie auch in England bestrebt, das erfolgreiche deutsche Modell auch zum Wohle der Bürger ihres Landes zu übernehmen.19 Es wird des Öfteren argumentiert, mit dem Eindringen der deutschen Kultur nach Osteuropa seien auch Elemente der französischen Kultur übernommen worden, weil die Deutschen selbst – und in großem Maße die jüdische Bildungsschicht in Deutschland – ganz unter französischem Einfluss standen.20 Dies gilt sowohl für den gesamteuropäischen wie auch den jüdischen Kontext. Unter anderem habe sich dieser französische Einfluss auf die hebräische Kultur ausgewirkt, und dies auch zur Zeit der Aufklärung selbst, wie Avraham Schaanan feststellte: »Oftmalig ist der hebräische Schriftsteller französischer (zumeist sozialer) Ideen kundig, die seine deutschen Kollegen bewusst ablehnen. Daraus ist zu ersehen, dass die herrschende Meinung, die Literatur der hebräischen Haskala sei das legitime Kind der deutschen Literatur, übertrieben und von der Wahrheit weit entfernt ist.«21 Die Juden übernahmen auch Ideen anderer Länder: So waren die Wiener Juden, die die deutsche Kultur sehr verehrten, auch nichtdeutschen Ideen aus Westeuropa gegenüber aufgeschlossen, zum Beispiel dem englischen Parlamentarismus und dem französischen Liberalismus.22 Wenn es auch stimmen mag, dass die osteuropäischen Juden in gewissem Maße bei ihrer Migration in den Westen französische Kulturelemente übernahmen, so scheint es doch, dass sie diese als integrale Bestandteile der deutschen Kultur begriffen. Diese jungen Juden zog es nach Mitteleuropa, in den deutschsprachigen Raum, wo sie sich ihren Bildungshorizont zu erweitern hofften.23 Eine dermaßen motivierte, stetig anwachsende Zuwanderung aus dem Osten ist im gesamten Verlauf des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Der 1867 in Russland geborene zionistische Aktivist und Intellektuelle Schmarjahu Levin, der Ende des 19. Jahrhunderts nach Mitteleuropa gelangte, lieferte eine vorzügliche Schilderung dessen, was ihm in Deutschland widerfuhr:

19 Vgl. A. Mitchell, The Divided Path, The German Influence on Social Reform in France After 1870, London 1991, 300–315. 20 I. Bartal, »Das zweite Modell« – Frankreich als Einflußfaktor im Modernisierungsprozess der osteuropäischen Juden (1772–1863) in: Y. Cohen (Hg.), Historiographie der Französischen Revolution (hebr.), Jerusalem 1991, 271 f. 21 A. Schaanan, Betrachtungen über die »Haskala« (zu ihrer Wirkungsgeschichte auf die französische Literatur) (hebr.), Merhavia 1952, 9. 22 Beller, Vienna and the Jews (Anm. 10), 149. 23 Unter anderem dazu: Ehrenpreis, Zwischen Ost und West (Anm. 15), 41–43.

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In den fünf Jahren, die ich in Deutschland verbrachte, wuchs und vertiefte sich meine Verbundenheit mit der deutschen Umgebung [. . .]. Ich war voller Bewunderung für den Bildungs- und Wissensdrang dieses Volkes. Über allem verehrte ich die deutsche Sprache und Literatur, aus der ich mehr schöpfte als aus der russischen Sprache und Literatur [. . .]. Aus dem Munde deutscher Professoren lernte ich meinen Tanach und erkannte, mit wieviel Liebe und geistiger Tiefe sie sich der uralten Lehre Israels widmeten.24

Der Schauspieler Schimon Finkel, der erst in den 1920er Jahren nach Deutschland kam, bereitete sich durch die Lektüre der Schriften deutscher Klassiker wie Goethe, Schiller und Kleist auf seine Studien in Berlin und eine leichtere Eingewöhnung in den neuen Kulturkreis vor. Seine Einstellung war typisch für die gebildeten Einwanderer vor ihm, von denen manche »›echte‹ Deutsche werden wollten, diesen aber nie auch nur nahe kamen. Gesellschaftlichen Kontakt gab es nur mit den eingedeutschten Juden, die ihnen als leuchtendes Vorbild in ihrer Lebensweise und Habitus dienten«.25 Doch die Zuwanderer aus Osteuropa unterschieden sich weiter von den Deutschen und den deutschen Juden; die Deutschen erkannten sie als Juden, und die deutschen Juden sahen in ihnen mindere Ostjuden, wenn auch doch Brüder und nicht ganz Fremde.26 Außerdem gab es eine weitere, ziemlich große und weniger gebildete Gruppe jüdischer Migranten, die auf dem Weg in andere Länder nach Deutschland gelangten. Diese Migrationsbewegung begann im 19. Jahrhundert, verstärkte sich gegen die Jahrhundertwende und erreichte schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt: In den Jahren 1905 bis 1914 war Deutschland für an die 700.000 Juden aus dem Osten Zwischenstation auf dem Wege in die Vereinigten Staaten. Auch die Zahl derer, die für immer nach Deutschland kamen, stieg beträchtlich an: Zwischen 1880 und 1910 wuchs die Zahl der zugewanderten Juden, die sich permanent in Deutschland niedergelassen hatten, von etwa 17.000 auf über 79.000, das waren circa 13 Prozent der Juden in Deutschland; von diesen 79.000 waren 70.000, also 88 Prozent, aus Osteuropa eingewandert. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren 52 Prozent aller jüdischen Zuwanderer galizischer Herkunft, weitere sieben Prozent ungarischer Provenienz, zwei Drittel davon hatten bereits vor ihrer Einwanderung dem deutschen Kulturkreis angehört und waren mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen.27 Obgleich die osteuropäischen als »authentische« Juden bei den deutschen Juden Interesse erweckten, führte diese massive Migrationsströmung durch und nach Deutschland unter ihnen zu heftigen Reaktionen. Zeitlich fiel der Beginn der Zuwanderung in eine Periode grundlegender Umwälzungen: zunächst das 24

Levin, Aus meinem Leben (Anm. 11), 2, 3. Buch, 15. Ebd., 1, 2. Buch, 215. Zu Finkels Vorbereitung auf die Auswanderung nach Deutschland vgl. Finkel, Bühne und Kulissen (Anm. 12), 56. 26 Doron, Zionismus in Mitteleuropa (Anm. 6), 59; S. Volkov, The Dynamics of Dissimilation: Ostjuden and German Jews in: J. Reinharz/W. Schatzberg (Hg.), The Jewish Response to German Culture, Hannover/London 1985, 204. 27 Die statistischen Angaben sind entnommen aus: J.L. Wertheimer, Unwelcome Strangers: East European Jews in Imperial Germany, New York/Oxford 1987, 185. Siehe auch Volkov, The Dynamics of Dissimilation (Anm. 26), 203; Aschheim, Brothers and Strangers (Anm. 11), 37–42. 25

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

Erwachen der deutschen Haskala und das Übergreifen des von Deutschland ausgehenden kulturellen Einflusses auf ganz Osteuropa – ein Prozess, der Deutschland zu einem Anziehungspunkt für jüdische Intellektuelle machte; sodann die Emanzipation der deutschen Juden, später die deutsche Reichsgründung. Das Zusammenfallen dieser Entwicklungen erweckte bei den deutschen Juden Befürchtungen, man könne das Rad wieder zurückdrehen und sie ihres neuen emanzipierten Status entheben wollen. In Reaktion darauf stellten sich die einheimischen Juden gegen ihre Brüder aus dem Osten und spotteten nicht selten ihrem Benehmen und ihrer traditionellen Bekleidung. Um die Jahrhundertwende wurden unter den deutschen Juden Forderungen an die jüdischen Einwanderer aus dem Osten laut, sie sollten sich von ihrer Tradition lösen und in die bürgerliche europäische Gesellschaft eingliedern.28 In extremen Fällen distanzierten sich die deutschen Juden regelrecht von den Einwanderern, dies aus der Einstellung heraus, die Integration in die westliche Gesellschaft sei mit der Aufrechterhaltung jüdischer Tradition nach osteuropäischem Muster unvereinbar. Ausdruck finden diese Spannungen zwischen den beiden Gruppen des Judentums in den Schriften der 1898 in Königsberg geborenen Publizistin Gerda Luft, der späteren Frau des zionistischen Politikers Chaim Arlosoroff. Sie berichtet, wie ihre Mutter ihr verbot, mit ostjüdischen Kindern zu verkehren, bei denen zu Hause Jiddisch gesprochen wurde. Der Widerstand gegen die Ostjuden rührte, zum Teil wenigstens, anscheinend weniger von der Befürchtung her, sie würden die Emanzipationsbemühungen der Juden behindern, sondern weil sie an jene jüdischen Wurzeln erinnerten, derer sich ein Teil der deutschen Juden zu entledigen suchte. So erzählt Luft auch, wie sehr ihre Familie die kulturelle Integration förderte. Bereits mit 12 Jahren bekam sie von ihrem Vater ein Exemplar von Schillers Jungfrau von Orléans, und »dieses Werk wirkte sich entscheidend auf mein Denken, meinen Geschmack und mein Verhalten aus«29. In der Tat war sich Lufts Generation einer tiefen Kluft zwischen Judentum und Deutschtum bewusst, besonders nach dem Ersten Weltkrieg, der sie in gewissem Sinne vor die Wahl zwischen einem allgemein-jüdischen und einem deutschen Selbstverständnis stellte.30 28 Über das zeitliche Zusammenfallen von Emanzipation, Reichsgründung, Einwanderung aus dem Osten und verstärkte pangermanische Bestrebungen siehe A.D. Low, Jews in the Eyes of the Germans: From the Enlightenment to Imperial Germany, Philadelphia 1979, 304; G.L. Mosse, German Jews Beyond Judaism, Cincinnati 1985, 2; M. Zimmermann, Zionismus als Ablenkungsmanöver? – Die deutschen Juden und die jüdischen Einwanderer aus dem Osten (hebr.) in: Hazionut 12 (1982), 83. Die ablehnende Haltung der deutschen Juden den Ostjuden gegenüber beschäftigte auch Jahre später die Juden im Jischuw – dazu unter anderem E. Shmueli, Die deutschen Juden im Zeitalter der Emanzipation: Ein soziologischer Abriss, in: A. Barasz (Hg.), Erez-Israelisches Jahrbuch des Jahres 1934/5 (hebr.), Tel Aviv 1935, 235. 29 G. Luft, Achtzig Jahre und mehr … (hebr.), Tel Aviv 1987, 21 f. (dt. erschienen: Chronik eines Lebens für Israel, Stuttgart 1983). Ähnliches berichtet die 1898 in Berlin geborene Zessi Rosenblüth, deren Mutter sie von einer Beschäftigung mit ihren jüdischen Wurzeln abhalten wollte mit dem Hinweis, dies käme einer Rückkehr ins Ghetto gleich; Z. Rosenblüth, Von Berlin nach Genigar – Geschichte eines Lebens (hebr.), Tel Aviv 1978, 28. 30 Eine detaillierte Analyse dazu findet sich in S. E. Aschheim, Der Erste Weltkrieg, die Weimarer

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Eine solche Integration in die deutsche Gesellschaft strebten die meisten Juden in Deutschland an. Grundvoraussetzung dafür war eine ausgezeichnete, ja vollkommene Kenntnis der deutschen Sprache. Die meisten Juden wählten Deutsch als ihre Bildungssprache, suchten sich darin zu perfektionieren und beherrschten die deutsche Sprache manchmal in präziserer und reinerer Form als mancher gebildeter Deutsche. Nach 1815 formierte sich in Deutschland eine jüdische Elite, die sich die deutsche Sprache aneignete, und dies mit einem solchen Niveau, dass sie sich publizistisch betätigen konnte. Bei vielen dieser gebildeten Juden blieb die Sprache jedoch im deutsch-jüdischen Sprachgebrauch verhaftet.31 Neben der Sprache hatten die Juden in Deutschland eine andere, schwierigere Hürde zu überwinden: die Übernahme eines westeuropäischen kulturellen Codes, der den Schlüssel zur höheren Gesellschaft bildete. Seit dem Beginn der Aufklärung war dieser kulturelle Code eng mit dem Prozess der Urbanisierung und des Aufstiegs in den Mittelstand verknüpft. In Deutschland war diese Verbürgerlichung mit dem Konzept der Bildung verbunden, in der die Deutschen eine Grundvoraussetzung für den sozialen Aufstieg sahen. Die Juden, die unter Berufung auf die ihnen gewährte Emanzipation bestrebt waren, gleichberechtigt in die deutsche Gesellschaft aufgenommen zu werden, mussten einen Prozess kultureller Assimilation durchmachen. Dies galt auch für die Juden der Habsburgermonarchie, die in der deutschen Kultur ihr Ideal fanden. Der Akkulturationseifer der Juden führte nach einiger Zeit zu einer paradoxen Situation: Die Grenzen zwischen dem deutsch-bürgerlichem Modell und seinem jüdischen Abbild verwischten sich, und es war nicht mehr klar, was Original und was Kopie war.32 In der Regel ging der Assimilationsprozess ohne kulturelle »Selbstaufgabe«, sprich: einer gänzlichen Loslösung von den Wurzeln jüdischer Kultur vonstatten. Die deutsch-jüdische Bildungsschicht glaubte, am Judentum festhalten zu können, ohne darum weniger deutsch zu sein; wie auch niemand das Deutschtum der Bewohner der verschiedenen Teile Deutschlands anzweifelte, trotz lokalen Akzents und Landestracht, die die regionale Herkunft verrieten. Im GegenKultur und die religiösen Riten der osteuropäischen Juden in: O. Heilbronner (Hg.), Die Juden zur Weimarer Zeit: Gesellschaft in der Krise der Moderne, 1918–1933 (hebr.), Jerusalem 1994, 54–89. 31 Zur sprachlichen Anpassung der Juden siehe A. Shohat, Die geistige und religiöse Krise der deutschen Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihr politischer und sozialer Hintergrund (hebr.), Dissertation, Hebrew University of Jerusalem, 1955, 53–59; Toury, Die Sprache als Problem (Anm. 11), 80–84; S. Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 116–118. 32 Zur Verbürgerlichung und seiner kulturellen Merkmale sei verwiesen auf R. Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, 15; zur Akkulturierung und Verbürgerlichung der Juden siehe Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus (Anm. 3), 116; G.L. Mosse, Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum in: R. Kosellek (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, 175 f. Wie schwierig zu beurteilen war, wer wen nachahmt, beschreibt F.V. Grunfeld, Prophets Without Honor, New York 1979, 52–53; zu den Juden Österreichs siehe Beller, Vienna and the Jews (Anm. 10), 144–148.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

satz dazu betrachteten sich die Angehörigen des jüdischen Bürgertums in erster Linie als deutsche Bürger und erst dann – wenn überhaupt – als Juden, eine Reihenfolge, die der zionistischen Bewegung sehr zu schaffen machte.33 Die Angehörigen des jüdischen Bürgertums, vor allem die bereits in das Zeitalter der Emanzipation Hineingeborenen, wurden im Sinne der Assimilation erzogen. Dies kommt in ihren Autobiografien zum Ausdruck. Der 1875 geborene Anwalt und Dramatiker Sammy Gronemann erzählte, er habe in seiner Jugend »eine Fülle deutscher Balladen« verfasst sowie eine Vorliebe für Dramen gehabt, in denen »die Staufer- und Sachsenkönige ihrem Schicksal nicht entrinnen konnten, hingegen kann ich mich aber nicht entsinnen, mich irgendeinem jüdischen Thema gewidmet zu haben«34. Der Umstand, dass die jüdische Frage die Angehörigen dieser Generation unberührt ließ, zeigt sich auch in der Autobiografie des 1884 in Ostpreußen geborenen Zionististen Kurt Blumenfeld. In seinem Elternhaus gab es kaum ein jüdisches Bewusststein, hingegen unterhielt seine Familie einen Salon, in dem sich Intellektuelle und Musiker trafen.35 Gershom Scholem erzählte, in seiner Familie sei es der Großvater gewesen, der die »Eindeutschung« vorangetrieben hätte, Vater und Bruder seien in Turnerschaften aktiv gewesen, die in hohem Maße Sinnbilder des neuen deutschen Bürgertums und des deutschen Nationalbewusstseins waren, ihn selbst hätte seine Mutter ins (deutsche) Theater geschickt.36 Im Berliner Elternhaus Felix Rosenblüths, der später als Pinchas Rosen Justizminister des Staates Israel wurde, herrschte überschwengliche Liebe zur klassischen deutschen Literatur, und im Bücherschrank standen die Werke Lessings, Uhlands, Schillers, Kleists und auch manches von Heine.37 Die Eingliederung der einheimischen wie auch der osteuropäischen Juden in die deutsche Gesellschaft erfolgte vor allem in der geistig-kulturellen Sphäre mittels ihrer Rolle als Kulturkonsumenten und -produzenten. Das Eindringen der Juden in die deutsche Kultursphäre setzte in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts ein, als sich jüdische Kreise mehr und mehr für das Theater zu interessieren begannen, insbesondere in Berlin, wo sie zum regelmäßigen Theaterpublikum gehörten. Gleichzeitig begannen Juden auch, sich in verschiedenen wissenschaftlichen,

33 Zur Ablehnung des kulturellen »Selbstmordes« siehe Low, Jews in the Eyes of the Germans (Anm. 28), 14. Über das Selbstverständnis der Juden als Deutsche siehe P. Gay, Freud, Jews and Other Germans: Masters and Victims in Modernist Culture, New York 1978, 99. Über die Ausbildung des Selbstbildes der deutschen Juden siehe R. Lichtheim, Geschichte des Zionismus in Deutschland (hebr.), Jerusalem 1951, 146; D. Sorkin, The Transformation of German Jewry 1780–1840, New York/Oxford 1987, 107–123, 140–155. 34 S. Gronemann, Erinnerungen eines »Jeckes« – vom Manuskript des Autors ins Hebräische übertragen von D. Stock, Tel Aviv 1946, 37 (dt. erschienen: Erinnerungen, Berlin 2002; Erinnerungen an meine Jahre in Berlin, Berlin 2004). 35 K. Blumenfeld, Die Judenfrage als Erfahrung: Fünfundzwanzig Jahre Zionismus in Deutschland (hebr.), Jerusalem 1963, 11. 36 G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem: Jugenderinnerungen, Frankfurt a. M. 1977, 9–32. 37 R. Bondy, Felix: Pinchas Rosen und seine Zeit (hebr.), Tel Aviv 1990, 20.

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Die Juden und die deutsche Kultur

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literarischen und künstlerischen Kreisen zu betätigen. Von der Bildenden Kunst hielten sie sich in der Regel eher fern, ihre Neigung galt vielmehr dem gedruckten Wort. Vielleicht bezeugte dies erneut den Drang, sich im Gebrauch der deutschen Sprache zu perfektionieren, oder ist in generellerer Weise als Teil der jüdischen Schriftkultur zu sehen.38 Die jüdische Beteiligung am Kunstleben etablierte sich im Rahmen der ihr von der Umwelt gesetzten Grenzen. Diese zeigte sich den Juden als schaffende Künstler gegenüber offen, unter anderem vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, der einer wesentlichen Ausweitung der Kulturlebens Vorschub leistete.39 Zahlreiche Juden etablierten sich in der Wilhelminischen Ära im engeren und weiteren Bereich der Kultur – als Theater- und Kunstkritiker, Buch- und Kunsthändler sowie Theaterdirektoren und -produzenten. Um die Jahrhundertwende waren sich die Juden bereits ihrer maßgeblichen Rolle im kulturellen Schaffen bewusst. 1912 erregte der jüdische Schriftsteller Moritz Goldstein mit der Aussage Aufsehen, »aus jüdischer wie auch aus deutscher Sicht [sei] es nicht wünschenswert, daß die Kulturschätze des deutschen Volkes aufgrund der weitgehenden Dominanz der Juden in der Presse und ihre literarische Aktivitäten in jüdischen Händen [lägen]«40. Stefan Zweig bemerkte zur selben Zeit, in Wien machten die Juden etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, jedoch etwa 90 Prozent des kulturellen Schaffens. In der Tat war der Anteil der Juden am Anfang des 20. Jahrhunderts im Kulturbetrieb derart herausragend, dass es fast schien, als ob jeder Jude Künstler und jeder Künstler Jude sei.41 Den regen Anteil der Juden am Kulturschaffen in Deutschland kann man zumindest teilweise durch die Einschränkungen erklären, die ihnen hinsichtlich einer politischen Betätigung im Zuge der nach 1815 erfolgenden Restauration auferlegt waren. Die Ausgrenzung der Juden aus der Politik führte soweit, dass von 600 jüdischen Männern, die in den Jahren 1880 bis 1932 in Deutschland öffentlich tätig waren, nur etwa ein Dutzend unmittelbar mit Politik zu tun hatten.42

38 Zur geistigen Akkulturierung der Juden, einschließlich der Nachahmung künstlerischer Schaffensformen, siehe Shohat, Die geistige und religiöse Krise (Anm. 31), 28–35; ebenso Toury, Ansätze zur Erforschung der bürgerlichen Emanzipation (Anm. 6), 72; Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus (Anm. 31), 133; P. Gay, Encounter with Modernism: German Jews in German Culture, 1888–1914 in: Midstream 21/2 (1975), 30. Über die besondere Bedeutung des geschriebenen Wortes siehe ders., Freud, Jews, and Other Germans (Anm. 33), 108. 39 Zur Eingliederung der Juden siehe R. Lichtheim, Shear Yishuv: Erinnerungen eines deutschen Zionisten (hebr.), Tel Aviv 1954, 45. Die kulturelle Blüte behandelt Gay, Freud, Jews, and Other Germans (Anm. 33), 109. 40 Zitiert aus Lichtheim, Geschichte des Zionismus (Anm. 33), 109. 41 Zweigs Bemerkung ist zitiert aus Grunfeld, Prophets Without Honor (Anm. 32), 54 f. Verwiesen sei auch auf die Aufstellung der im deutschen Kulturleben aktiven Juden, Grunfeld, ebd., 25 f, sowie auch H. Zohn, German Jewry as Spirit and as Legacy in: American Jewish Archives 40/2 (1988), 227. 42 Die den Juden aufgelegten Einschränkungen beschreibt Toury, Bürgerliche Emanzipation (Anm. 6), 65. Die Beteiligung der Juden am politischen Leben Deutschlands behandelt ders., Zur Problematik der jüdischen Führungsschichten im deutschsprachigen Raum 1880–1933, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XVI (1987), 255.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

Doch die Betätigung der Juden in Deutschland war weit gefächert, wie es bei Nahum Goldmann heißt: »Ein halbes Jahrhundert lang [seit der Emanzipation] wurden den Juden in Deutschland volle Rechte zuteil, und als Gegenleistung bereicherten sie das Land in allen Sphären: Literatur, Philosophie, Musik, Politik, Finanzen.«43 Der intensive Anteil der Juden am Kulturleben hat zu verschiedenen Interpretationen angeregt. Eine der gängigen ist jene, derzufolge die Juden die Erringung eines Platzes im Kulturleben als Gipfel des Erfolges betrachteten; dies sowohl wegen des der jüdischen Bildungsschicht anerzogenen Leistungs- und Perfektionsstrebens als auch als Ausdruck ihrer Fähigkeit, sich völlig in das deutsche Kulturleben zu integrieren.44 Auf diesem Wege konnten die Juden in den Augen sowohl der jüdischen wie auch der von ihnen angestrebten deutschen Gesellschaft ihren Bildungsstatus unter Beweis stellen. Doch wie gesagt, war das erfolgreiche Eindringen der Juden in die gebildeten Kreise der Gesellschaft nicht immer gern gesehen. Nach der ersten Begeisterung in jener Phase, für die Moses Mendelssohn das herausragende Beispiel darstellt, kam es rasch zur Entrüstung über die »Invasion« fremder Elemente. Mendelssohn stand ja auch für den Beginn literarischer Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden – mit Lessing gemeinsam gab er die Briefe die neueste Literatur betreffend heraus. Doch bereits Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Abkühlung und Entfremdung zwischen Christen und Juden. Die mit der Restauration einhergehenden standesgemäßen Spannungen verdrängten die Juden aus den deutschen Salons. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als rein jüdische Salons zu etablieren, wollten sie die Verbindung mit dem heimischen Kulturleben aufrechterhalten.45 Die Ambivalenz der deutschen Elite gegenüber dem Eintritt der Juden in das Kulturleben hielt auch nach der Wende zum 20. Jahrhundert an. Einerseits setzte sich die Kooperation fort – man denke an das von Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky gemeinsam herausgegebene Theatermagazin Weltbühne.46 Andererseits war auch aus liberalen Kreisen Ablehnung gegenüber des massiven Eindringens der Juden in die deutsche Kultur zu spüren. Ein Beispiel für derlei Ressentiments deutscher Intellektueller schildert Sammy Gronemann in seiner Au-

43 N. Goldmann, Das jüdische Paradox: Gespräche mit Leon Abramowitz (hebr.), Ramat-Gan 1978, 103. 44 Gay, Encounter with Modernism (Anm. 38), 51. 45 Über die Ablehnung der Juden und ihre Verdrängung aus den literarischen Salons siehe Toury, Ansätze zur Erforschung der bürgerlichen Emanzipation (Anm. 6), 66, 127. Die literarische Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden in Deutschland behandelt G. Stern, German-Jewish and German Christian Writers: Cooperation in Exile, in: Reinharz/Schatzberg, The Jewish Response (Anm. 26), 152. 46 Stern, ebd., 150–163. Es sei jedoch auf Tucholskys Behauptung verwiesen, er habe sich nie für die jüdische Frage interessiert, was daran zweifeln lässt, dass er und Ossietzky ihre Arbeit als deutsch-jüdische Zusammenarbeit begriffen. Siehe Grunfeld, Prophets Without Honor (Anm. 32), 213 f. Die Zeitschrift wurde 1918 gegründet. Ossietzkys und Tucholskys gemeinsame Herausgeberschaft dauerte von 1927 bis zum Verbot der Zeitschrift durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933.

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tobiografie. Er zitiert dort einen vom deutschen Schriftsteller Börries von Münchhausen zu Beginn der NS-Zeit an ihn gerichteten Brief: »Du bist ein Mann des Davidsterns, ich bin sicher kein Mann des Hakenkreuzes. Nichtsdestoweniger wirst Du verstehen, daß es für mich als deutschen Schriftsteller schwer ist mitanzusehen, daß die Juden sich einen hegemonialen Platz in der deutschen Literatur erobern. Doch ist das noch irgendwie erträglich; unerträglich ist es jedoch, daß sie diesen Platz auch verdienen.«47 Dass Münchhausen den Ausdruck »erobern« verwendet, zeigt, welch erstrangige Stellung Juden bereits in der deutschen Kulturwelt einnahmen. Gleichzeitig beweist es, dass sie nicht nur als Künstler eingestuft wurden, sondern auch als Juden, und nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Diese »Eroberung« befriedigte offenbar auch das Bedürfnis der Juden nach Integration in die deutsche Gesellschaft, auch wenn sie sich teils nach wie vor mit ihren Ursprüngen identifizierten. Dieses Gefühl einer national-jüdischen Identität war selbst ein Ausdruck des Aufgehens in die europäische bzw. mitteleuropäische Kultur: Elemente der Romantik und der nationalen Bestrebungen, die zu den Revolutionen von 1830 und 1848 führten, fanden ihren Weg auch in die gebildete jüdische Gesellschaft, die zur Erneuerung der hebräischen Nation und Sprache aufrief. Es war nur natürlich, dass die Idee der Revitalisierung des Judentums als Nation gerade in Mitteleuropa und in deutscher Sprache zu keimen begann. Zwar waren die Väter des zionistischen Gedankens nicht direkt in deutschsprachigen Ländern ansässig, sondern in jener östlicheren Region, die zur Einflusssphäre der deutschen Kultur gehörte, vornehmlich in Russland. Die – sich der deutschen Sprache bedienenden – gebildeten jüdischen Schichten in Galizien, der Bukowina und Litauen repräsentierten auf vorbildliche Weise den deutschen Bildungsbegriff und den deutschen Kulturkreis als transterritoriales Phänomen. Aus dieser Konstellation lässt sich auch die Wahl des Tagungsortes für den Ersten Zionistischen Kongress verstehen; nachdem vorerst von München die Rede war, fiel die Wahl letztendlich auf Basel. Obwohl ein Viertel der Teilnehmer aus dem Russischen Reich und etwa die Hälfte aus anderen Regionen Osteuropas kamen, dokumentierte der Umstand, dass der Kongress in einem deutschsprachigen Land und in deutscher Sprache abgehalten wurde, dass Deutsch in der gebildeten jüdischen Elite, der die Zionisten angehörten, die geläufige Verkehrssprache war.48 Auch das Aufkommen des einigenden nationalen Gedankens änderte nichts an der Kluft zwischen den jüdischen Eliten Ost- und Mitteleuropas. Die Juden in Deutschland, deren Selbstverständnis ein »deutsches« war, standen dem zionistischen Gedanken und den Vertretern der zionistischen Bewegung mit Ambivalenz gegenüber. In ihrer Gymnasialzeit war es zum Beispiel Gerda Luft unter47

Gronemann, Erinnerungen eines »Jeckes« (Anm. 34), 53. Die Aufschlüsselung der Teilnehmer nach Herkunftsländern ist zu entnehmen aus D. Vital, Die zionistische Revolution (hebr.), Tel Aviv 1978, 272. Zur Sphäre des deutschen Einflusses siehe Doron, Zionismus in Mitteleuropa (Anm. 6), 11 f. 48

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

sagt, abends auszugehen. Ihre um die soziale und kulturelle Assimilation der Familie bemühten Eltern wollten so den Kontakt des jungen Mädchens mit den zionistischen Aktivisten in Königsberg unterbinden.49 Auch ausgesprochen zionistische Kreise, wie die jüdischen Studentenverbindungen und Organisationen wie Blau-Weiß, hielten neben ihrer zionistischen Ideologie durchaus an rein deutschen kulturellen Gepflogenheiten fest.50 Den in Deutschland ansässigen Ostjuden fiel es mit dem Reifen der zionistischen Idee und ihrem Eintritt in ein aktives Stadium nicht leicht, ihre neuerworbene Identität wieder abzustreifen. Der aus Litauen stammende Nahum Goldmann, der seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, dem Jahre 1910, in der Frankfurter Zeitung publizierte, stand in Kontakt mit deutschen Gelehrten. »So entstand auf natürliche Weise eine Synthese zwischen meiner als klar und fest empfundenen jüdischen Identität und der kulturellen Umwelt [. . .]. Ich hatte kein Problem, mein Selbstverständnis als Jude und meine innere Verpflichtung, mit ganzer Kraft für das Wohl des jüdischen Volkes zu wirken, mit der Annahme der deutschen Kultur in Einklang zu bringen«, erzählte er Jahre später.51 Die rasche Anpassung an die deutsche Kultur charakterisierte auch den Lebensweg des aus Russland stammenden Schauspielers Schimon Finkel, der seine Auswanderung nach Palästina so beschrieb: »Der Abschied von Europa [im Jahre 1924], und besonders von Berlin, das mir sehr ans Herz gewachsen war, fiel mir schwer. Berlin war die Stadt meiner Träume, und damals war es trotz allem mein größter Wunsch, in ihr als deutscher Schauspieler zu leben.«52 Die »Eindeutschungs«tendenzen der Zionisten wurden möglicherweise auch durch die Schriften Theodor Herzls, des Vordenkers des Staates Israels, befördert. Der in der jüdischen Bildungselite als pointierter Feuilletonist bekannte Herzl sah in seiner Vision des künftigen Judenstaates ein auf der europäischen Kultur basierendes Land. In seinen Beschreibungen finden sich Theater und ein Opernhaus für die Israelita, vor der Klagemauer beten europäisch gekleidete Menschen, die reinstes Deutsch sprechen, und überhaupt sollte die europäische Lebensweise voll und ganz erhalten bleiben: »In jeder Ortsgruppe kann und wird jeder seine kleinen Gewohnenheiten wiederfinden, nur besser, schöner, angenehmer.«53 Die Naivität der ersten Zionisten verstieg sich sogar bis zur Annahme, dass auch die arabische Bevölkerung Palästinas mit Freude die politische Kultur Europas annehmen würde.54 Diese Ansicht teilten jedoch nicht alle Gruppen der 49

Luft, Achtzig Jahre (Anm. 29), 21. B. Ben-Avram, »Ha-poel Ha-zair« in Deutschland – Geschichte einer Gruppe Intellektueller 1917–1920 (hebr.), in: Hazionut 6 (1976), 58. 51 Goldmann, Das jüdische Paradox (Anm. 43), 21 f. 52 Finkel, Bühne und Kulissen (Anm. 12), 86. 53 Zitiert aus Theodor Herzl, Der Judenstaat.Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, in: ders., Zionistische Schriften, Berlin 1920, 72. Seine Vorstellungen zum Wesen der jüdischen Ansiedlung in Palästina beschreibt Herzl in Altneuland, Leipzig 1902. Herzls großen Bekanntheitsgrad als Feuilletonist behandelt Ehrenpreis, Zwischen Ost und West (Anm. 15), 49. 54 Ben-Avram, »Ha-poel Ha-zair« in Deutschland (Anm. 50), 89. 50

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Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur

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zionistischen Bewegung; in manchen Kreisen wurde die Nachahmung der europäischen Kultur und die Übernahme einer europäischen Sprache im Allgemeinen oder der deutschen im Besonderen auf das Allerheftigste abgelehnt. Diese setzten sich mit größtem Nachdruck für die Erneuerung der hebräischen Sprache und ihre Anwendung durch die junge Generation der jüdischen Nation ein.

Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur Das Erwachen der zionistischen Idee brachte bei den Juden Europas auch eine Tendenz gegen die Akkulturation und Assimilation hervor. Zwar gab es unter den Zionistenführern – unter anderem, wie gesagt, Herzl selbst – Befürworter einer auf einer europäischen Lebensweise basierenden jüdischen Gesellschaft. Dem widersetzte sich vor allem die junge, bereits im Zeitalter des Zionismus in assimilierte Familien hineingeborene Generation, die sich mittels des Zionismus gegen die von den Eltern angestrebte Annahme der deutschen Kultur – für jene Sinnbild von Bildung und gesellschaftlichem Erfolg – auflehnte. Dieses Bestreben vor allem der jungen Generation, sich von den europäischen Wurzeln zu lösen, verstärkte sich, je deutlicher die Verknüpfung zwischen dem Zionismus und der Erneuerung der jüdischen Ansiedlung in Palästina wurde. Da aber die Assimilation inzwischen zu einem gesellschaftlichen Ideal geworden war, dessen Realisierung großer Anstrengung bedurfte, gestaltete sich auch die Lossagung davon als krisenhafter Prozess. Die Umstellung war auch deshalb schwierig, weil für das europäische Kulturmodell noch kein äquivalentes, dynamisches und zeitgemäßes Substitut existierte. Die Frage, ob es möglich sei, eine zeitgemäße jüdisch-hebräische Kultur zu pflegen, rief bei den ost- und mitteleuropäischen Juden eine lange und komplexe Debatte hervor. Kernpunkt des – auf die Ära der Aufklärung zurückgehenden – Disputes war, ob die Bewahrung einer solchen spezifischen Kultur überhaupt wünschenswert sei, und wenn ja, wie diese auszusehen hätte. Dabei ging es vor allem um die Sprache dieser Kultur, wobei zwei aus Moses Mendelssohns Lehre und Wirken stammende Prinzipien wesentlich waren: Mendelssohn hatte die Meinung vertreten, die Übertragung der Heiligen Schriften ins Deutsche sei unabdingbar, zum einen, um den Juden ihre eigene Kultur näherzubringen, zum anderen, um ihr deutsches Sprachniveau anzuheben. Auch hatte er die Eliminierung aller Elemente des jiddischen »Jargons« aus der jüdischen Umgangssprache, sei sie nun Deutsch oder Hebräisch, gefordert.55 Diese Grundsätze waren 55 Zu Mendelssohns Erläuterungen zur Bibelübertragung siehe Altmann, Moses Mendelssohn (Anm. 5), 369, sowie Eliav, Die jüdische Erziehung (Anm. 6), 32–37; A. Schweid, Jüdische Geistesgeschichte der Neuzeit: Das 19. Jahrhundert (hebr.), Jerusalem 1977, 127. Über die Rezeption der Mendelssohnschen Übersetzung bei den Ostjuden siehe Ehrenpreis, Zwischen Ost und West (Anm. 15), 14. Zu Mendelssohns Forderung nach einer Trennung des Deutschen und Hebräischen und seiner Ablehnung der jiddischen Sprache vgl. Toury, Die Sprache als Problem (Anm. 11), 77. Zu den Um-

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

lange Zeit für die jüdische Bildungsschicht in Europa richtungsweisend und blieben es auch nach der Etablierung des Jischuw, der jüdischen Ansiedlung in Palästina. Doch war Jiddisch unter den europäischen Juden als Alltagssprache so verbreitet, dass Mendelssohns Forderung nach einer von allen jiddischen Elementen gereinigten einzigen Sprache – Deutsch oder Hebräisch – keine effektive Alternative darstellte. Zwar nahm der hebräische Sprachgebrauch in Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unter den gebildeten Juden ab, wohingegen das Deutsche an Bedeutung gewann,56 doch auch ihr Hochdeutsch war nicht ganz frei von jüdischen Sprachresten. In weiten Kreisen, vor allem innerhalb der weniger gebildeten Schichten Osteuropas, blieb Jiddisch neben den Lokalsprachen die Hauptumgangssprache. Jiddisch und Deutsch standen also unter den Juden an erster Stelle, während ihr kultureller Austausch mit der Umwelt vielsprachig blieb.57 Die Sprachenfrage war lediglich ein Teilaspekt der Kernfrage nach dem Wesen der jüdischen nationalen Identität. Diese kam immer wieder auf, zumeist infolge von Diskriminierung und physischen Ausschreitungen gegen die Juden in den verschiedenen Ländern. Beginnend mit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts beschäftigte diese Frage die Juden in steigendem Maße und verbreiterte die ohnehin zwischen dem ost- und dem mitteleuropäischen Judentum bestehende Kluft. In Osteuropa wurde deutlich, dass nicht mehr von gelegentlichen Übergriffen antisemitischen Ursprungs die Rede sein konnte, sondern von einer echten Bedrohung der jüdischen Existenz, der die Behörden passiv gegenüberstanden. In Westeuropa gab es zwar erste Ansätze von politischen Parteien antisemitischer Ausrichtung, doch war ihre Bedeutung nur gering. Viele Juden glaubten fest an die Möglichkeit der Akkulturation in die sie umgebende Gesellschaft. Doch sowohl im Westen wie im Osten Europas wurden neue Stimmen laut, die zur national-hebräischen Erneuerung als einer zumindest geistigen Alternative für die europäischen Juden aufriefen. Im Osten des Kontinents war dieser Gedanke vor allem Folge des schweren politischen und sozialen Druckes, dem die Juden ausgesetzt waren, während das nationale Erwachen im Westen eher ständen, die Mendelssohn zur Aufforderung zum Verzicht auf das Jiddische veranlassten, vgl. Shohat, Die geistige und religiöse Krise (Anm. 31), 260. Eine interessante Bemerkung zur Verwendung von deutsch-hebräischen Übersetzungen zum deutschen Spracherwerb findet sich im Vorwort des Übersetzers David Rodner zu Schillers Don Carlos (Wilna 1879): »Doppelter Nutzen wird dem hebräischen Leser zuteil. Zunächst möge der junge Leser die Übertragung im Vergleich zum Original in deutscher Sprache lesen und daraus letztere lernen […].« Zitiert nach M.I. Zweik, Heine in der hebräischen Literatur (hebr.), in: Orlogin 11 (1955), 179. 56 Schweid, ebd., 33. 57 Aus einer Umfrage der Lehrergewerkschaft in Erez-Israel im Jahre 1927/8 ging das Jiddische als Muttersprache von etwa 64 Prozent der Mitglieder hervor; man ersieht daraus die weite Verbreitung der jiddischen Sprache im jüdischen Mittelstand. Indes beziehen sich die Daten auf eine Periode, in der die meisten Einwanderer aus Osteuropa kamen, sodass sich daraus nicht unbedingt eine proportionale Verteilung in der jüdischen Bevölkerung Europas ableiten läßt. A. A-N [Abronin], Der Lehrer in Zahlen, in: D. Kimchi (Hg.), 25 Jahre Lehrergewerkschaft 1903–1928 (hebr.), Jerusalem 1929, 303 f.

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Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur

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im Kontext eines allgemeinen, romantisch angehauchten Nationalismus zu sehen war.58 Die neuen Ideen spalteten das Judentum in Pro- und Antizionisten, dies jedoch quer durch die bisher übliche Unterscheidung zwischen Ost- und Westjuden hindurch. Im Prinzip hatte sich die intellektuelle jüdische Elite in Europa bis zum Aufkommen des Zionismus in zwei distinkte Hauptgruppen geteilt: in die deutschen Juden, die die Zeit für eine volle Assimilation an die deutsche bzw. europäische Kultur reif sahen, und in die aus dem Osten gekommenen Einwanderer, die sich trotz einiger Anpassung an die deutsche Kultur nicht mit dem deutschen Nationalismus identifizierten. Der Zionismus verwischte diese Dichotomie, indem er die bisher bestehende, eindeutige Korrelation zwischen Herkunft und Weltanschauung aufhob. Die osteuropäischen Juden bewahrten zwar weiterhin ihre traditionellere Einstellung und beharrten auf der Ablehnung der vollen Assimilation, doch wurden die Unterscheidungen zwischen den Gruppierungen innerhalb der Juden mit dem Fortschreiten der zionistischen Idee weitaus nuancierter. Die deutschen Juden standen dem Zionismus ambivalent gegenüber. Ein Teil der Intellektuellen lehnte nicht nur den Zionismus als Idee ab, sondern auch jeden Kontakt mit seinen Vertretern, die sozial ebenso ausgegrenzt waren wie die bärtigen orthodoxen Juden aus Osteuropa in ihrer traditionellen, unzeitgemäßen Tracht. Über den Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts erzählte der zionistische Aktivist Kurt Blumenfeld, »jüdische Intellektuelle kamen nicht zu den zionistischen Versammlungen, vor allem deswegen, weil ihnen die Zionisten gesellschaftlich nicht paßten«59. Zwar hatten die Zionisten mit den assimilierten Juden die distanzierte Einstellung zur jüdisch-religiösen Tradition gemein, sie wurden jedoch im gesellschaftlichen Sinn als Störfaktor im Assimilationsprozess und als Außenseiter empfunden. Anderseits bedeutete der Zionismus für einen Teil der deutsch-jüdischen Studenten eine Auflehnung gegen die ihnen von der Elterngeneration aufgezwungene Assimilation. Im Gegensatz zur vorhergehenden Generation, die die äußeren, sie »als Juden« preisgebenden Merkmale abgelegt hatten, in der Meinung, so zu »echten Deutschen« werden zu können, war die Jugend desillusioniert und glaubte nicht mehr, dass es möglich sein könnte, sich vollkommen zu assimilieren und sich des Etiketts »Jude« zu entledigen.60 Zu dieser Ernüchterung trugen auch zeitgenössische antisemitische Schriften bei, die der jüdischen Jugend deutlich machten, dass den Juden ihre nationalen Zugehörigkeit nolens volens weiter anhaften würde.61 Der Zionismus stellte sich ihnen demnach als Alternative dar,

58 Lichtheim, Geschichte des Zionismus (Anm. 33), 63. Siehe auch A. Shapira, Das Schwert der Taube: Zionismus und Macht 1880–1948 (hebr.), Tel Aviv 1993, 20–26. 59 Blumenfeld, Die Judenfrage als Erfahrung (Anm. 35), 39. 60 Zur Etikettierung als »Jude« vgl. H. Lavsky, Vor der Katastrophe: Weg und Partikularität der deutschen Zionisten, 1918–1932 (hebr.), Jerusalem 1990, 16. Die zionistische Betätigung der Jugend beschreibt Wertheimer, Unwelcome Strangers (Anm. 27), 135–142. 61 Richard Lichtheim wurde dies bei der Lektüre des Buches Rembrandt als Erzieher, von einem Deutschen von Julius Langbehn bewusst; der Autor ruft darin die Deutschen zu einer Rückkehr zu

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

sich von der Interpretation der Eltern, derzufolge die bürgerliche Gleichstellung alle Hindernisse für eine »Eindeutschung« aus dem Weg geräumt habe, zu distanzieren. Andere Kreise innerhalb der deutschen Judenheit unterstützten den Zionismus bis zu einem gewissen Grad, wohlgemerkt nicht als persönliches Lebensziel, sondern lediglich hinsichtlich der als minderwertig empfundenen Ostjuden. Damit folgten sie der sich in den 1890er Jahren entwickelnden These, wem in Deutschland die Assimilation nicht gelungen sei, könne in Palästina seine Identität aufrechten Hauptes pflegen.62 Die assimilierten Juden in Deutschland hätten sie gerne allein ziehen lassen und das Feld den »Schwachen« überlassen, vielleicht als Geste des guten Willens, vor allem aber, weil sie selbst imstande waren, in Deutschland als gleichberechtigte soziokulturelle Gruppe zu existieren. Das zeugt nicht nur von einer gewissen Arroganz vonseiten der etablierten jüdischen Schichten in Deutschland gegenüber den Ostjuden, sondern mehr noch vom Bestreben, sich von ihrer Präsenz zu befreien und es den gebildeten Schichten zu ermöglichen, sich von anderen jüdischen Gruppen abzuschotten. Sogar auf jenen Gebieten, in denen den aus dem Osten Zugewanderten die Akkulturation in beachtlichem Ausmaß gelang, wie im akademischen Bereich, blieb die kulturelle Kluft zwischen ihnen und der Umwelt bestehen. Trotz der erklärten Absicht, sich kulturell zu integrieren, konnten sie in Deutschland nicht ihr Vaterland sehen. Dieses Dilemma zeigte sich besonders deutlich an den Universitäten, wo die deutsch-nationalen Studentenvereinigungen aktiv waren. Die jüdischen Studenten spalteten sich dort in zwei Lager: zum einen die nach wie vor die Assimilation anstrebenden, in Deutschland Geborenen, die sich mit den deutschen Heimatliedern wie die »Wacht am Rhein« identifizieren konnten, zum anderen Studenten aus Osteuropa, denen solches kulturell fernstand.63 Mit der Ablehnung des deutschen Nationalismus ging nicht nur eine freiwillige Distanzierung seitens der Juden einher, sondern auch die Suche nach einer jüdisch-hebräischen Alternative für verschiedene Elemente der kulturellen Umwelt. Zwar existierten im auslaufenden 19. Jahrhundert bereits recht ausgeprägte Strömungen einer ideologischen Ausrichtung hin zu Zionimus und Erez Israel, doch war kaum ein entsprechendes Kulturrepertoire vorhanden, und es bedurfte der Schaffung von Kulturgütern, um dieses Vakuum zu füllen.64 Versuche, das

ihren Quellen auf und schmäht den Juden als verrottetes, der gesellschaftlichen Integration unfähiges Individuum. Lichtheim, Shear Yishuv (Anm. 39), 34. 62 M. Eliav, Zionsliebe und die Leute aus HOD [Holland und Deutschland]: Die deutschen Juden und de r Jischuw in Erez Israel im 19. Jahrhundert (hebr.), Tel Aviv 1970, 363 f. 63 Ehrenpreis, Zwischen Ost und West (Anm. 15), 46. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die jüdische Haltung zu diesem Umstand findet sich im Drama Der Jude aus München von Schimon Welikovsky (Tel Aviv 1934). Um den Unterschied zwischen Ostjuden und den mitteleuropäischen Glaubensbrüdern zu illustrieren, beschreibt er den Ekel des jungen Juden aus dem Osten angesichts der enormen Begeisterung des deutschen Juden für die deutsche Kultur und insbesondere für die deutschen Heimatlieder. 64 I. Even-Zohar, Entstehung und Konsolidierung der lokal-autochtonen Kultur in Erez Israel, 1882–1948 (hebr.), in: Katedra 16 (1980), 171.

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Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur

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kulturelle Schaffen in hebräischer Sprache innerhalb der breiten säkular-jüdischen Gesellschaft voranzutreiben, stießen auf ein objektives Hindernis: die fast vollständige Stagnation der säkularen hebräischen Literatur infolge des Übergangs der jüdischen Intellektuellen vom Gebrauch des Hebräischen hin zu Jiddisch, Deutsch und anderen europäischen Sprachen. So war es an den Führern der zionistischen Bewegung, nicht nur ein nationalideologisches Programm zu formulieren. Sie sahen sich zudem auch mit dem Problem konfrontiert, dass Hebräisch, zumindest als alltägliche Umgangssprache, eine tote Sprache war. Die Bestrebungen zur Wiederbelebung des Hebräischen entsprangen vor allem dem Wunsche, der jungen – gegen die Assimilierung eingestellten – Generation eine attraktive Kombination eines nationalen und kulturellen Lebensgefühls zu bieten. Die sprachliche Erneuerungsbewegung leitete eine Periode heftiger Kämpfe ein, in denen es um das Wesen der Sprache ging, ihre Tauglichkeit, den geistigen Bedürfnissen des Volkes voll gerecht zu werden, sowie das Judentum sowohl als Religion als auch als Nation zu repräsentieren. Gleichzeitig ging es um die Widerlegung der Behauptung, die europäischen Sprachen, unter ihnen das Deutsche, seien allein würdig, kulturellen und intellektuellen Zwecken zu dienen. Der Sprachenstreit riss die innerhalb der verschiedenen Gruppen in der jüdischen Welt bestehenden Unterschiede noch weiter auf. Auch die Anhänger der zionistischen Idee und ihrer Realisierung in Palästina befürworteten nicht ausnahmslos die Aufgabe der europäischen Sprachen, namentlich des Deutschen.65 Die einen vertraten die Ansicht, man dürfe nicht so einfach auf den Gebrauch des Deutschen als der Kultursprache schlechthin verzichten, um zu vermeiden, dass die Jugend von der europäischen Kultur abgeschnitten würde. Dahinter stand die Annahme, eine mit Hebräisch aufwachsende junge Generation würde ohne Kenntnis anderer Sprachen des Zugangs zur universalen Kultur beraubt und in Ignoranz aufwachsen.66 Auf der anderen Seite drang man darauf, in aller Eile für die zionistische Jugend ein Repertoire hebräischer Literatur zu schaffen, um ihr die eigene Kultur näherzubringen. Zu diesem Zwecke war alles verfügbare Material, Original oder Übersetzung, willkommen und notwendig. Auf diese Weise wurden althergebrachte Traditionen in der jüdischen Gesellschaft Europas über den Haufen geworfen. Das Hebräische wurde zur Säkularsprache, welche kulturelle Elemente aus der Umwelt aufnehmen und andererseits aus sich eine säkulare Kultur hervorbringen konnte. Anfang des 20. Jahrhunderts, als ein Großteil der Zionisten noch in Europa lebte, schwebte die Kombination zwi-

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Lichtheim, Geschichte des Zionismus (Anm. 33), 107. Jahre später bestätigte sich, dass die bereits zum ausgehenden 19. Jahrhundert geäußerte Befürchtung ihre Berechtigung hatte. Wie es Yehuda Arie Klausner im Jahre 1944 ausdrückte: »Seite an Seite mit der dreitausend Jahre alten hebräischen Literatur in ihrer besonderen Gestalt und ihren spezifischen Problemen bedarf es auch des Studiums einer Auswahl der allgemeinen Literatur. So wird sich ihr [der Jugend] Horizont erweitern und erleuchten, ihre Engstirnigkeit damit ein Ende finden.«, Y.A. Klausner, Allgemeine Literatur – ihr Wesen und ihre Bedeutung für uns (hebr.), Geschichte der allgemeinen Literatur, Bd. 1, Tel Aviv 1944, 12 f. 66

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

schen dem Universalen und dem Partikular-Jüdischen als Ideal vor. So sah das laut A. Zioni (Itzhak Elasari-Volkani) in den Augen der Proponenten der neuhebräischen Sprache aus: Wenn wir alle eine Sprache haben werden, sei es vorläufig auch nur eine Schriftsprache, so hätten wir damit eine gemeinsame Kultur [. . .], universell-menschlich und jüdisch zugleich: universell-menschlich, weil von der allgemeinen Kultur gespeist, und jüdisch, weil vom Geist der hebräischen Sprache beflügelt.67

Die Übernahme allgemeinen Kulturgutes in die im Werden begriffene hebräische Kultur wurde somit für die Vertreter der Arbeiterbewegung in Erez Israel zur freudig selbst auferlegten Pflicht. Das Bestreben, das Gefälle zwischen dem Neuhebräischen als jüdischer Sprache und anderen Sprachen als »Kultur«sprachen zu beseitigen, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts noch prägnanter formuliert: Wenn wir die Wiederbelebung der hebräische Sprache und Literatur als unabdingbares Erfordernis, ohne dem es kein nationales Wiedererwachen geben kann, sehen, dann muss die hebräische Literatur alles in sich bergen, was ein kultivierter Mensch der Gegenwart benötigt; oder aber das hebräische Schrifttum beinhaltet auch hier wiederum nur »jüdische Weisheit«, und für alles andere müssen wir aus Fremdsprachen schöpfen; so bliebe die »Kluft« weiterhin bestehen, und Erez Israel und die Länder der Diaspora hätten nichts gemein.68

Einer anderen Auffassung zufolge waren Kultur und nationale Bestrebungen getrennte Phänomene, die nicht verschmelzen könnten, denn Kultur sei an und für sich international. Ein Verfechter dieser These war Simon Bernfeld, was in Anbetracht seines Metiers als jüdischer Kulturforscher besonders bemerkenswert war. Seine Worte entsprachen eher den Anschauungen seiner europäischen Zeitgenossen, die ein »Weltbürgertum« für möglich und wünschenswert hielten: »In allen Kulturvölkern gibt es ein Nationalgefühl, doch keine Nationalkultur. Die zeitgenössische Kultur ist allen Völkern der Aufklärung gemein, wenn auch in jedem Volk gewisse Partikularitäten zu finden sind.«69 Die Entrüstung, die diese, indirekt auch den Status der Juden als auserwähltes Volk bestreitende These hervorrief, veranlasste Bernfeld, seine Intentionen in einem weiteren Aufsatz zu erläutern. In diesem widerrief er seine These nicht, führte indes seine ursprüngliche Auffassung näher aus: Das Schaffen aller Kulturvölker diene den Kulturvölkern in ihrer Gesamtheit; wenn es ein Kulturgefälle gebe, dann zwischen der europäischen und der asiatischen Kultur in ihrer Gesamtheit. Selbstredend gehörten seiner Meinung nach die Juden der europäischen Kultur an.70 67 A. Zioni [Itzhak Elasari-Volcani], Fragen der Kultur und der Sprache (hebr.), in: Ha-schiloach Juli–Dezember 1907, 102. 68 Y. A., Das Pantheon der hebräischen Kultur (Dritter Teil) (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 4. Juni 1909, 9. 69 S. Bernfeld, Was ist die hebräische Kultur? (hebr.), in: Ha-dor, 24. Januar 1901, 1. 70 S. Bernfeld, Was ist die hebräische Kultur? (hebr.), in: Ha-dor, 25. April und 2. Mai 1901.

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Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur

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Jedenfalls wurde ein Verschmelzen mit ausländischen Kulturen mithilfe der Übertragung entsprechender Werke ins Hebräische nicht von allen gutgeheißen. Um die Jahrhundertwende wurde vielfach die Auffassung vertreten, das Hebräische wäre nach so vielen Jahren als tote Sprache kaum imstande, fremde Kulturelemente zu absorbieren. Manche Widersacher der hebräischen Renaissance setzten Kultur überhaupt mit einer von den modernen europäischen Sprachen vertretenen Lebenswelt gleich, einer Lebenswelt jedenfalls, der die versteinerte hebräische Sprache nicht gerecht werden könne. Ihre Befürworter hingegen glaubten daran, dass sich jede Sprache für Kultur eigne, sofern sie lebendig und geschmeidig genug sei, auch fremde Elemente und Ideen aufnehmen zu können. Das Vermögen, aus anderen Sprachen Übersetztes zu absorbieren, erhöhe die Flexibilität der Sprache und fördere originäres kulturelles Schaffen.71 Die Debatte, ob eine Reaktivierung des Hebräischen auf verschiedenen Sprachniveaus, als Alltags- und Hochsprache gleichermaßen, möglich sei, warf die Frage nach der Umgangssprache der Juden wieder auf. In der russisch-jüdischen Presse wurde diskutiert, inwieweit die Verwendung der deutschen Sprache aufrechtzuerhalten sei, damit die Öffentlichkeit weiterhin Zugang zu den Mendelssohnschen Schriften habe. Alternativ fragte man sich, ob die in Russland lebenden Juden die deutsche Kultur nicht besser völlig zugunsten der russischen aufgeben sollten.72 Auf deutscher Seite stellte sich die Problematik in analoger Weise. Hier ging es darum, ob die Förderung der Verwendung der hebräischen Sprache und Kultur nicht mit dem Verzicht auf die Existenz in Deutschland gleichzusetzen sei.73 Als hervorragender Kenner der jüdischen Gesellschaft Mitteleuropas, deren Akkulturationsfähigkeit in seinen Augen beispielhaft war,74 sprach sich der marxistisch orientierte Zionistenführer Ber Borochov, der auch einer der ersten jiddischen Sprachforscher war, gegen den Verzicht auf die deutsche Sprache bei gleichzeitiger Beibehaltung der jüdischen Partikularität aus:

71 J. Fichman, Über das Übersetzen, in: Gesammelte Schriften (hebr.), Tel Aviv 1960, 416. Vgl. auch Toury, Die Sprache als Problem (Anm. 11), 80. Zur Bedeutung der Übersetzung für die rezipierende Kultur sei beispielhaft auf folgende Standpunkte hingewiesen: Walter Benjamin sah in der Übersetzung einen Prüfstein für das Überleben des Originals (W. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzer, Vorwort zur Charles Baudelaire, Tableaux Parisiens, Heidelberg 1923); dem Literatur- und Übersetzungswissenschaftler José Lambert zufolgte gibt es fast keine Übersetzung, die nicht von der Berücksichtigung der Adressaten der hiermit umgesetzten Kultur beeinflusst wäre (J. Lambert, Literarische Kontakte und Übersetzung, in: Ha-sifrut 25 [Oktober 1977], 28–32. Siehe auch: D. Delabatists u. a., Functional Approaches to Culture and Translation: Selected Papers by José Lambert, Philadelphia 2006). Die israelische Literaturübersetzerin Nili Mirski befürwortet die Einflechtung von Elementen, die dem Leser kulturell und semantisch fremd sind, in die Übersetzung, damit er auf diese Weise fremde Inhalte kennenlernen und aufnehmen kann. (N. Mirski, Das dritte Territorium: Unakademische Reflexionen zu Problemen der literarischen Übersetzung (hebr.), in: Siman Kria 8 [1978], 306–311). 72 Y. Slutsky, Die russisch-jüdische Presse im 19. Jahrhundert (hebr.), Jerusalem 1970, 50. 73 Lichtheim, Geschichte des Zionismus (Anm. 33), 107. 74 Beer Borochov, Schriften (hebr.), 3, hg. v. L. Lewita u. S. Rechaw, Tel Aviv 1966. Diese Auffassung Borochovs spiegelt sich in den in diesem Band zusammengefassten Schriften in verschiedenen Zusammenhängen wider.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

Die literarische Tätigkeit in deutscher Sprache ist auch aus nationaler Sicht dem Schreiben auf Russisch vorzuziehen. Ein deutschsprachiges Buch ist nicht nur Teil der deutschen Kultur, sondern hat universalkulturellen Charakter. Doch ist es mein Herzenswunsch, Juden mögen in der jüdischen Öffentlichkeit Jiddisch sprechen können, nicht nur über all das, was sie als Juden, sondern auch über alles, was sie als Menschen ganz allgemein betrifft.75

Borochov verwarf also nicht nur die Anpassung an die russische Kultur, anstelle einer universellen, nach damaliger Auffassung also der deutschen Kultur, sondern befürwortete, was Mendelssohn ein Jahrhundert zuvor so vehement verworfen hatte: den Gebrauch der Mischsprache Jiddisch. Borochovs Standpunkt war in Anbetracht der Zeitgeschehnisse befremdend. Im Jahre 1913, als er diese Worte zu Papier brachte, hatte die Debatte über die Verwendung der hebräischen Sprache in Palästina ihren Höhepunkt erreicht. In manchen Kreisen beherrschte man die hebräische Sprache soweit, dass sie auf der von Borochov angeführten »universell-menschlichen« Ebene angewandt werden konnte. Zu diesen Kreisen gehörte auch Schmarjahu Levin, der Erfahrung mit der Herausgabe von ins Hebräische übersetzter Literatur hatte. Die damals bereits vorhandene hebräische Literatur unterstützte die Argumentation der Befürworter der hebräischen Alltagssprache. Chaim Nachman Bialik, wie Levin nicht nur selbst Dichter, sondern auch als Verleger tätig, vertrat die Ansicht, der vorhandene Korpus an originärer – wenn auch nicht moderner –, hebräischer Literatur sei als Entwicklungsbasis für das hebräische Kulturschaffen ausreichend.76 Levin hingegen war sich bewusst, wie schwierig der hebräische Buchmarkt kommerziell gesehen war. Er schätzte richtig ein, wie gering dessen Wachstumsmöglichkeiten seien und wie begrenzt die Kapazität, den Marktakteuren eine wirtschaftliche Lebensgrundlage zu bieten. Auch die Situation der hebräischen Sprache beurteilte er richtig: »Das Hebräische hat sich noch nicht den neuen Verwendungs- und Sprecherfordernissen angepaßt, [daher] ist es in ein übermäßiges Extrem verfallen, das weder besonders schön, noch ausreichend anpassungsfähig ist.«77 Die Worte Levins fanden aus verschiedenen Richtungen und zu verschiedenen Zeiten Bestätigung. In seiner Stellungnahme zur Lage der hebräischen Literatur zu Anfang des 20. Jahrhunderts machte Ch.J. Katzenelson die parallele Verwendung verschiedener Sprachen unter den Juden für die schwache Position des Hebräischen verantwortlich: Jede Literatur beruht darauf, daß es eine Sprache und wenige Worte gibt, während unsere Literatur dadurch benachteiligt ist, daß wir nicht eine lebendige und gesprochene Sprache haben, sondern viele Sprachen […]. Wäre sie an einen Ort, an eine Sprache gebunden, 75 M. Minz (Hg.), Beer Borochovs Briefe 1897–1917 (hebr.), Tel Aviv 1989, 499. Hervorhebung im Original. 76 Ch.N. Bialik, Das hebräische Buch (hebr.), in: Ch.N. Bialiks Gesammelte Schriften 2, Tel Aviv 1935, 230–238. 77 Zitiert aus Levin, Aus meinem Leben (Anm. 11), 1, 1, 176. Über die Möglichkeit, vom Schreiben in hebräischer Sprache zu leben, siehe Levin, Aus meinem Leben (Anm. 11), 2, Zweites Buch, 158, Tel Aviv 1961.

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Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur

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welche immer dies auch wäre [Hebräisch, Russisch, Jiddisch und Polnisch], könnte sie reichhaltig und vielseitig sein […].78

Die Kargheit der Sprache beschäftigte die Juden auch nach der Etablierung des Jischuw in Palästina. Die Notwendigkeit, die sprachliche Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken, war ein Problem, das immer wieder die Befürworter der hebräischen Spracherneuerung beschäftigte, so etwa Itzhak Lufban: Die Tragödie bei uns liegt nicht daran, dass unsere Sprache arm ist, sondern dass wir uns ihres Reichtums nicht mehr bewusst sind; nicht darin, dass wir sie nicht gut beherrschen und nicht in ihr über Regungen des Herzens und des Geistes schön konversieren können, sondern darin, dass wir nicht mit ihr aufgewachsen sind. Darin, dass wir erst nach sehr langer Trennung wieder auf sie gestoßen sind […].79

Der britisch-jüdische Philosoph und Übersetzer Chaim Jehuda Roth, der spätere Rektor der Hebräischen Universität und Mitglied von »Brit Schalom«, setzte sich im Zusammenhang mit dem Gymnasialunterricht im Jischuw mit dieser Frage auseinander. Er vertrat die Meinung, die Problematik liege in der mündlichen Verwendung des Hebräischen ohne die erforderliche Kenntnis der Regeln. Nichtsdestoweniger förderte er, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den Fremdsprachenunterricht. Vielleicht stand er dabei unter dem Einfluss der Kritik, die am Unterrichts- und Bildungsniveau im Jischuw mit der Behauptung, man widme sich zu sehr der hebräischen Spracherneuerung, laut zu werden begann; wahrscheinlicher ist jedoch, dass es ihm um die Einbindung in die unmittelbare, arabische Umwelt und in die internationale Kultur ging.80 Einen Lichtblick stellte die in Europa aufwachsende Jugend dar, die sich bereits vor der Auswanderung nach Palästina bemühte, einen Zugang zur hebräischen Kultur zu finden. Ein Beispiel dafür war eine Gruppe von Gymnasiasten in Berlin, die Anfang der 20er Jahre eine selbständige Vereinigung unter dem Namen »Jung Juda« gründete. Ihre Mitglieder waren zionistisch tätig, übten sich in der hebräischen Sprache und strebten die Auswanderung nach Palästina an. Ihr bekanntestes Mitglied war Gershom Scholem, der bei seinem Beitritt bereits Hebräisch konnte, nachdem er die Sprache schon mit 14 Jahren zu lernen begonnen hatte.81 Als jedoch diese von der universellen und hebräischen Kultur gleichermaßen geprägten Jugendlichen tatsächlich nach Palästina gelangten, fanden sie dort eine nicht unbeträchtliche Präsenz deutscher Kultur vor, die der jüdischen Ein78 Ch.J. Katzenelson, Die hebräische Literatur im Jahre 1902, in: Jahrbuch 1903 (hebr.), Warschau 1903, 243. 79 I. Lufban, Kulturelle Probleme (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 24. April 1929, 20. 80 Ch.Y. Roth, Über das Studium der Sprachen (hebr.), in: ders., Über den jüdischen Gymnasialunterricht in Erez-Israel (hebr.), Jerusalem 1939, 180–186. Die Argumente hinsichtlich der Einschränkungen der Erziehung in Palästina sind erläutert in A. Shapira, Eine Generation im Land (hebr.), in: Alpaim 2 (1990), 183–185. 81 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (Anm. 36), 52; H. Weiner, Die Jugendgruppe »Zeirei Jehudah« in Berlin und Gershom Scholems Disput mit der Jugendbewegung, 1913–1918 (hebr.), in: Hazionut 9 (1979), 158 f.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

wanderungsbewegung bereits vorausgegangen war. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde diese Präsenz vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen einer partikulär-jüdischen Kulturauffassung einerseits und dem Bestreben nach Aufgehen in die unmittelbare und universelle kulturelle Umwelt zu einem außerordentlich brisanten Thema.

Die deutsche Präsenz im Jischuw: Der kulturelle Aspekt

Der Beginn der deutschen Präsenz in Palästina kündigte verschiedene Aspekte der Beziehung zwischen Juden und Deutschen an, die sich in den darauffolgenden Jahren stärker entwickeln sollten. Den ersten Schritt stellte die Errichtung des preußischen Konsulats in Jerusalem im Jahre 1842 dar82 – ein Ereignis von damals eher zweitrangiger Bedeutung: Zwar war Preußen zu jener Zeit einer der mächtigsten deutschen Staaten, doch lag die deutsche Einigung noch in weiter Ferne. Preußen, wie auch später das Deutsche Reich, suchte in Palästina Fuß zu fassen, um die Beziehungen mit dem Osmanischen Reich zu festigen. Zu einem wirklichen Kontakt mit der lokalen jüdischen Gemeinde kam es in diesem Stadium noch nicht. Jedoch rechtfertigte die Zahl der deutschsprachigen Reisenden in der Region die Betreibung des Konsulats. Dessen Aktivitäten waren zumindest mehr kulturell als politisch orientiert. Am Ende der 1840er Jahre wurde nach mehrmaligem Aufschub im Konsulat eine wissenschaftliche Bibliothek gegründet, die den Erforschern des Heiligen Landes zur Verfügung stehen sollte. Auch die evangelische deutsche Kirche war seit 1902 mit einem in Jerusalem gegründeten Institut zur Erforschung des jüdischen Lebens in der Antike vertreten.83 Eine für die jüdische Siedlungsgemeinschaft relevantere Präsenz entstand ab 1869 mit der Errichtung der ersten Templersiedlungen in Haifa und Jaffa, später in Jerusalem und Sarona. Die Templer ließen sich aus religiösen und spirituellen Motiven im Heiligen Land nieder, doch wirkte sich ihre Anwesenheit bald auch in verschiedenen anderen Bereichen aus. Zum einen dienten ihre Besiedlungsmethoden den Anfängen der jüdischen ländlichen Siedlungstätigkeit als Vorbild. Zum anderen nutzten die deutschen Behörden, die zu diesem Zeitpunkt mittels des Konsulats verstärkt politisch tätig waren, die Anwesenheit der Templer zu ihren Zwecken.84 82 Ein Jahr davor wurde ein gemeinsamer englisch-preußischer Bischofssitz errichtet. Das preußische Konsulat wurde 1871 mit der deutschen Reichsgründung zum deutschen Konsulat. M. Eliav, Das deutsche Konsulat in Jerusalem und der Jischuw im 19. Jahrhundert (hebr.), in: Hazionut 1 (1970), 57. 83 N. Thalmann, Deutsche Einrichtungen und Forschungsgesellschaften des 19. Jahrhunderts zur Erforschung und zum Studium von Erez Israel (hebr.), in: Katedra 19 (1981), 172–177. 84 A. Carmel, Die deutsche Ansiedlung in Erez Israel in der Endphase des Osmanischen Reiches: ihre lokalen und internationalen politischen Probleme (hebr.), Haifa 1990. Siehe auch H. Goren,

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Deutsche Präsenz im Jischuw: der kulturelle Aspekt

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Die Templer wussten die von ihnen aus Europa mitgebrachten Besiedlungstechniken den neuen geografischen Gegebenheiten anzupassen. Entsprechend der im deutschen Wirtschaftsraum im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Tendenzen entwickelten sie eine diversifizierte unternehmerische Tätigkeit. Auf dem Dienstleistungssektor errichteten sie – erstmals im Jahre 1870 – Herbergen nach mitteleuropäischem Muster. Im Produktionsbereich wussten sie den lokalen Bedarf und die gegebenen Rohstoffe zu analysieren und gründeten dementsprechend Fabriken zur Erzeugung von Olivenöl, Möbeln und Fenstern, Zement, Mehl sowie Eisen- und Gusswaren; Letzteres war die Grundlage für die Entwicklung der Bauindustrie im Jischuw.85 In den Anfangsjahren suchten die Templer aus ökonomischen Erwägungen eine übermäßige Abhängigkeit von der Landwirtschaft zu vermeiden. In der Tat war ihr erster Versuch eines gemischten landwirtschaftlichen Betriebs in Sarona zum Scheitern verurteilt. In den nächsten drei Siedlungen, die sie zwischen 1899 und 1914 errichteten – Wilhelmina, Waldheim und Bet-Lechem HaGlilit –, bauten sie Obst und Wein an. In einer 1910 in Wilhelma errichteten Versuchsfarm wurde das aus Europa mitgebrachte Know-how dem Boden und Klima des Mittelmeerraumes angepasst; diese Farm diente auch den Siedlern des Jischuw als Beratungsstelle.86 Bei der Planung ihrer Siedlungen legten die Templer, wie sie es von zuhause gewohnt waren, großes Augenmerk auf die sozialen Bedürfnisse der Gemeinde. Sie errichteten ihre Siedlungen systematisch um ein öffentliches Gebäude herum. In den zumeist nach diesem Modell ausgerichteten jüdischen landwirtschaftlichen Siedlungen war dies das Gemeindehaus oder die Synagoge. In den jüdischen Siedlungen investierte man jedoch in den Privathäusern weniger Mühe in architektonisches Schmuckwerk oder den Komfort der Bewohner.87 Während sich also in Palästina Elemente der deutschen Alltagskultur durchsetzten, verstärkte sich das politische Interesse des Kaiserreiches am Osmanischen Reich. Im Laufe des kolonialen Wettstreites investierte das wilhelminische Deutschland viel Aufmerksamkeit und Ressourcen in seinen internationalen Einfluss. Den Deutschen galt Palästina als ein wichtiger Stützpunkt innerhalb des Osmanischen Reiches, der mittels der bereits vorhandenen deutschen Einrichtungen als wichtiger wirtschaftlicher und politischer Kreuzpunkt dienen konnte. Die dem Osmanischen Reich beigemessene Bedeutung war anfangs schon daran abzulesen, dass Kaiser Wilhelm II. persönlich im Jahre 1889 Konstantinopel und 1898 das Heilige Land besuchte.88 Zieht hin und erforscht das Land. Die deutsche Palästinaforschung im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993. 85 Y. Ben-Artzi, Die jüdische Siedlung in der erez-israelischen Landschaft, 1882–1914 (hebr.), Jerusalem 1988, 83–86. 86 Zur landwirtschaftlichen Betätigung der Templer siehe Ben-Artzi, ebd., 90 f; Carmel, Die deutsche Ansiedlung (Anm. 84), 51; Thalmann, Deutsche Einrichtungen (Anm. 83), 180. 87 Ben-Artzi, ebd. 88 D. Israeli, Das deutsche Reich und Palästina: Das Palästinaproblem in der deutschen Politik 1889–1945 (hebr.), Ramat Gan 1974, 19–21, 67.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

Die zionistische Bewegung bemühte sich, diese Annäherung zwischen Deutschland und dem Osmanischem Reich zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mit Herzls Einverständnis wurde 1902 dem Auswärtigen Amt ein Memorandum übersandt. Darin wurden die Vorteile ausgeführt, die Deutschland aus der Überführung der osteuropäischen Juden nach Palästina und Syrien erwachsen würden. Es wurde darauf hingewiesen, dass diese Juden mit ihrer dem Deutschen nahestehenden Sprache dem Reich bei der Errichtung eines Kultur- und Handelsstützpunktes in der Region nützlich sein könnten. Diese Petition zeitigte zwar nicht die gewünschte Wirkung, doch festigte sich die deutsche Präsenz in Palästina. Auf dem Wirtschaftssektor gelang es Deutschland, Teile des bis dahin den Engländern und Franzosen vorbehaltenen Exportmarktes abzuringen. Im kulturellen Bereich stützte sich das deutsche Konsulat auf die Templergemeinden, die unter anderem auch im lokalen Unterrichtswesen die ersten Vermittler der deutschen Kultur waren.89 Die Grundlage für das deutsche Bildungswesen in Palästina wurde 1855 mit der Errichtung der Lämelschule in Jerusalem durch eine Wiener Jüdin namens Alisa Lift-Herz gelegt, in der den Kindern Liebe zum (österreichischen) Vaterland vermittelt werden sollte. Die Gründung der Schule ging nicht ohne Proteste vor sich; man befürchtete, die deutsche Kultur, auf der das Unterrichtssystem basieren sollte, würde den jüdischen Geist verdrängen. In der Tat hingen in den Klassenräumen Bilder des Kaisers Franz-Joseph, und im Gesangsunterricht wurden deutsche Heimatlieder gesungen (dass es überhaupt einen solchen gab, war im Übrigen im Jischuw eine völlige Innovation).90 Obwohl sie keinerlei Verantwortung für die Lämelschule trugen, bemühten sich die Templer, im lokalen Unterrichtswesen Fuß zu fassen, um zur Propagierung der deutschen Kultur beizutragen. Den jüdischen Siedlern waren die Erziehungsmethoden der Templer zu hart, was die kritische Einstellung der Templer dem Jischuw gegenüber noch verstärkte. Von dessen Vertretern fühlten sie sich ohnehin aus religiösen und gesellschaftlichen Gründen abgelehnt. Das deutsche Konsulat hingegen war gerne zur Kooperation mit den Templern bereit, dies vor allem zur Zeit des ihnen besonders wohlgesinnten Reichskanzlers Bernhard von Bülow.91 Von der Wende zum 20. Jahrhundert an kam diese Politik des Konsulats einer

89 Ebd., 26, 62. Vgl. auch M. Rinot, Die Tätigkeit des Hilfsvereins der deutschen Juden im Erziehungswesen in Erez Israel (1901–1918) (hebr.), Dissertation, Hebrew University of Jerusalem 1969, 24. 90 Die Initiative zur Errichtung der Schule wird unter anderem dargestellt in N. Vielmentti, Der Wiener jüdische Publizist Ludwig August Fränkel und die Begründung der Lämelschule in Jerusalem 1856, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte IV (1975). Weiteres Material über die Gründung der Schule und die Aufhebung von Deutsch als Unterrichtssprache Anfang der 1880er Jahre, weil man annahm, sie würde den Schülern sephardischer Herkunft mehr Schwierigkeiten bereiten als zum Vorteil gereichen, findet sich in J. Peres, Geschichte der Lämelschule in Jerusalem (hebr.), Jerusalem 1936; sowie Y. Ben-Yosef, Der Sprachenstreit: Der Kampf um die hebräische Sprache, 1914 (hebr.), Tel Aviv 1984, 41 f. 91 Zur Tätigkeit der Templer im Erziehungswesen siehe Rinot, Die Tätigkeit des Hilfsvereins

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Deutsche Präsenz im Jischuw: der kulturelle Aspekt

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anderen, 1901 von Juden gegründeten Organisation zugute: dem Hilfsverein der deutschen Juden. Dieser hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Juden Osteuropas wirtschaftlich zu unterstützen, ihnen bei der Auswanderung zu helfen sowie in Palästina Unterrichtsstätten zu errichten. Vor allem mit der Absicht der Errichtung eines Netzes von Lehrstätten stieß der Hilfsverein auf deutscher Seite auf Unterstützung. Die Zionisten hingegen, vor allem jene, die sich bereits in Palästina angesiedelt hatten, lehnten den Verein und seine Ideen heftig ab. Der Umstand, dass dieser das zionistische Programm nicht anerkannte, und der Versuch, in den von ihm betriebenen Unterrichtsstätten die deutsche Sprache einzuführen, erregten ihre Entrüstung.92 Ein Teil der Zionisten vertrat die Meinung, dass die Motive des Vereins, »vielleicht sogar unbewußt, die psychologische Einflußnahme auf die Spitzen der Gesellschaft [war], was der damaligen politischen Orientierung der deutschen Regierung im Nahen Osten entsprach«93. Bis die Zionisten sich vollends mit Ausbruch des »Sprachenkampfes« mit den Vertretern des Hilfsvereins überwarfen, gelang es dem Verein, zu einem nicht unwesentlichen Teil das Unterrichtswesen im jüdischen Palästina zu kontrollieren. Im ersten Jahrzehnt seines Bestehens gründete der Verein zehn Kindergärten – einen davon in Beirut –, fünf Volksschulen, ein Lehrerseminar, ein Handelsgymnasium, eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen sowie einen Rabbinatskurs. In den Kindergärten wurden hauptsächlich in Deutschland praktizierte Methoden angewandt. Jedoch war die Unterrichtssprache fast ausschließlich Hebräisch, weil die Zöglinge selbst die verschiedensten Muttersprachen hatten. In den anderen Institutionen gab es keine einheitliche Sprachregelung, abgesehen davon, dass im Religionsunterricht nur Hebräisch verwendet wurde.94 In der achtjährigen Knabenschule in Jaffa war Deutsch das zweitwichtigste Fach. Während der gesamten Schulzeit wurden 60 Stunden im Jahr Deutsch gelehrt, was fast einem Viertel aller Unterrichtsstunden entsprach. In der siebenjährigen Mädchenschule waren 43 Stunden im Jahr – etwa ein Fünftel aller Stunden – dem Deutschunterricht gewidmet.95 Im vierjährigen Gymnasium entfielen sechs Wochenstunden auf das Fach Deutsch, was 13 Prozent des Gesamtunterrichts entsprach, auf Hebräisch hingegen nur vier Wochenstunden. In den »Allgemeinen Lehrrichtlinien« der Schule stand, dass der Unterricht auf Heb-

(Anm. 89), 16, 31; Carmel, Die deutsche Ansiedlung (Anm. 84), 175; Israeli, Das deutsches Reich (Anm. 88), 76. 92 Zum Widerstand des Jischuw gegen den Hilfsverein siehe insbesondere Rinot, Die Tätigkeit des Hilfsvereins (Anm. 89). Zur kritischen Einstellung der deutschen Juden dem Hilfsverein gegenüber vgl. Y. Eloni, Die deutschen Zionisten und der »Sprachenkrieg« (hebr.), in: Hazionut 10 (1980), 53 f. 93 J. Azaryahu, Die hebräische Erziehung in Erez Israel (Geschichte und Würdigung) (hebr.), in: Kimchi, 25 Jahre Lehrergewerkschaft (Anm. 57), 89. 94 Rinot, Die Tätigkeit des Hilfsvereins (Anm. 89), 45–63. Siehe auch Eloni, Deutschen Zionisten (Anm. 92), 55. 95 Rinot, ebd., 84.

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

räisch stattfinde, daneben hätten »die Schüler eine angemessene Fähigkeit des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks im Deutschen zu erwerben sowie die wichtigsten Werke deutscher Literatur zu beherrschen«96. Im Lehrerseminar, in dem das Studium fünf Jahre dauerte, waren zwar mehr Unterrichtsstunden dem Hebräischen als dem Deutschen gewidmet – 36 Jahresstunden Hebräisch (15,6 Prozent) gegenüber 27 Jahresstunden Deutsch (11,6 Prozent) –, doch wurden deutsche Unterrichtsmethoden angewandt: Die Studenten der Lehrerbildungsanstalt haben eine der in einer gleichartigen deutschen Anstalt vermittelten entsprechende, theoretische und praktische Ausbildung zu erwerben; daneben haben sie auch umfassende Kenntnisse des Hebräischen zu erwerben, die sie für den Unterricht in allen in der Volksschule gelehrten Fächern in hebräischer Sprache befähigen.97

In der Tat bemühte man sich im Lehrerseminar, eine Synthese zwischen den lokalen Bedürfnissen und deutschen Sitten und Gebräuchen herzustellen: Zum einen wurden landwirtschaftliche Fächer unterrichtet, zum andern war das Tragen von Hüten vorgeschrieben und es wurden Ausflüge in die freie Natur unternommen.98 Für die an den Schulen des Hilfsvereins Lernenden war der Umfang des Lehrstoffs eine große Belastung. Infolge einer Beschwerde der Seminarstunden im Jahre 1907/8 über das Ausmaß des Deutschunterrichts beschloss die Leitung, dass nur der erste Jahrgang in deutscher Sprache unterrichtet zu werden habe, die vier darauffolgenden Jahrgänge sollten nach und nach auf Hebräisch als Unterrrichtssprache übergehen. Doch im Wintersemester 1912/13 wurden Klagen seitens des Lehrpersonals über neuerliche Kürzungen des Hebräischunterrichts laut. Aus den Archiven des Hilfsvereins geht hervor, dass um diese Zeit die deutschen Behörden vermehrten Druck zur stärkeren Verbreitung der deutschen Sprache im Osmanischen Reich ausübten.99 Die Verwendung der deutschen Sprache und deutscher Unterrichtsmethoden in den Lehrstätten des Hilfsvereins brachte die Arbeiterbewegung in Erez Israel gegen diesen auf. Besonders heftiger Protest kam vonseiten des Ha-poel Ha-zair, der sich voll und ganz für die alleinige Verwendung des Hebräischen einsetzte. Der Widerstand richtete sich prinzipiell gegen alle Fremdsprachen, auch gegen 96 Überblick über die Unterrichtsstunden der Fachbereiche und Einzelfächer im Gymnasium; der Lehrplan im Gymnasium (Real- und Handelsschule) des Hilfsvereins der deutschen Juden in Jerusalem, o.D., Central Zionist Archives (nachstehend CZA), S2/311. 97 Überblick über die Unterrichtsstunden der Fachbereiche und Einzelfächer im Lehrerseminar; der Lehrplan im Lehrerseminar des Hilfsvereins der deutschen Juden in Jerusalem, o.D., CZA, S2/ 311. 98 Rinot, Die Tätigkeit des Hilfsvereins (Anm. 89), 120–131. 99 Gleichzeitig vermeldete der Kommandant der deutschen Flotte im Mittelmeer, dass »Deutschland in der jüdischen Bevölkerung Palästinas ein effizientes Instrument zur Förderung seiner Interessen finden könnte, bis Frankreichs Ansprüche auf dieses blühende und vielversprechende Land ganz vom Verhandlungstisch weggefegt sein werden«. I. Friedman, Deutschland und der Zionismus 1897–1918 (hebr.), in: Katedra 16 (1980), 27. Eine Beschreibung des Aufstandes der Schüler des Seminars findet sich in: Rinot, ebd., 6, 45, 146; Eloni, Die deutschen Zionisten (Anm. 92), 84 f.

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Französisch, der Unterrichtssprache in den von der »Chewrat Kol Israel Chawerim« betriebenen Schulen der Alliance Israélite universelle. De facto aber rief Deutsch die stärkste Ablehnung hervor. Das mag vielleicht als Fortsetzung des Kampfes gegen die Assimilation im deutschen Kulturraum interpretiert werden, kann möglicherweise aber auch einen gewissen Niedergang des Deutschen als internationale Verkehrssprache widerspiegeln.100 1909 veröffentlichte die Wochenzeitschrift Ha-poel Ha-zair einen Artikel, der dem Französischen gegenüber etwas versöhnlicher war, die Verwendung der deutschen Sprache aber auf das Heftigste angriff: Irgendwie kann man die »Kol Israel Chawerim« mit ihrem Französisch noch verstehen; schließlich spielt diese Sprache sowohl im Handel als auch innerhalb der hiesigen intellektuellen Elite eine sehr bedeutende Rolle. Doch jene Sprache, die man außerhalb der deutschen Kolonie nicht vernimmt, sei es im Handel oder sonstwo, zu welchem Zwecke wird sie in einer hebräischen Schule gelehrt? Als reine Fremdsprache?101

Der hartnäckige, wenn auch stille Kampf zwischen den Zionisten und dem Hilfsverein erreichte 1913 mit Beginn der praktischen Vorbereitungen für die vom Hilfsverein initiierte Errichtung einer Technischen Hochschule in Haifa seinen Höhepunkt. Der Hilfsverein forderte mit Nachdruck, dass im sogenannten Technion Deutsch Unterrichtssprache sein sollte, mit der Argumentation, es gebe ohnehin auf diesem Gebiet keine Fachlektüre in hebräischer Sprache.102 Diesmal reagierten die Zionisten rasch und heftig. Die Presse war voll zorniger Artikel gegen die Idee des deutschsprachigen Unterrichts, wobei sie sich der Argumente der Antiassimilationsbewegung bediente. Die Führung des Hilfsvereins musste beißende Kritik einstecken, darunter ein Vergleich mit androgenen Wesen: Und so bleibt der deutsche Jude auf halbem Wege stecken, genau auf halbem Wege. Deutsche und Juden ringen miteinander mit gleichen Kräften, und keine Seite kann die Oberhand gewinnen. Daher mußte es zu einem Kompromiß und einem Ausgleich kommen. Dieser sieht folgendermaßen aus: auf der einen Seite deutsche Kultur und Patriotismus, auf der anderen der jüdische Glaube (mit Prise »jüdischer Weisheit«) und jüdische Wohltätigkeit (für die armen »Glaubensbrüder« aus dem Osten).103

Sehr bald zeitigte die militante Ablehnung der deutschen Sprache vonseiten der Zionisten Folgen: In Deutschland, wo man in ihnen Agenten der russischen Kultur sah, wurde ihr Kampf gegen die Verwendung des Deutschen dahinge100 Zum Widerstand gegen Fremdsprachen im Jischuw siehe Eloni, ebd., 56; Rinot, ebd., 250 f. Einer These zufolge soll die Einstellung im Jischuw gegenüber der deutschen Sprache ambivalent gewesen sein: einerseits war man gegen ihre Verwendung, andererseits wurde das Vorhandensein einer deutschsprachigen kulturellen Elite indirekt gefördert; vgl. dazu D. Hadar, Palästina in der deutschen Politik (hebr.), in: Molad 23/201f (Juli–August 1965), 145. 101 [Jod-Aleph], Das Pantheon der hebräischen Kultur (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 21. Mai 1909, 5. 102 Eloni, Die deutschen Zionisten (Anm. 92). 103 Katriel, Die deutschen Juden und ihr Kampf gegen den Zionismus (hebr.), in: Ha-achdut, 23. Mai 1913, 7.

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hend ausgelegt, man wolle Deutschland aus der Region verdrängen. Die deutsche Presse reagierte mit Kritik, wobei starke antisemitische Untertöne zum Tragen kamen.104 Das Auswärtige Amt manifestierte Feindseligkeit gegenüber der Zionistischen Weltorganisation, wie es auch Reichskanzler von Bülow im Jahre 1912 getan hatte, als er durch die Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur den Einfluss seines Landes im Osmanischen Reich zu stärken gesucht hatte. Mitte 1914 schlug das Kuratorium des Technion vor, Deutsch als offizielle Sprache einzusetzen, doch erst innerhalb von sieben Jahren im Unterricht zu verwenden, von Fällen abgesehen, in denen es an hebräischer Fachlektüre mangelte. Der Hilfsverein lehnte diesen Vorschlag kategorisch ab. Letztendlich wurde beschlossen, dass original deutscher Lehrstoff in den technischen Disziplinen auf Deutsch vermittelt werden sollte, die anderen Fächer auf Hebräisch.105 Auch innerhalb der zionistischen Bewegung stand man dem »Sprachenstreit«, der sich zu einem politischen Kampf ausgeweitet hatte, nicht einhellig gegenüber. Richard Lichtheim, der damalige Delegierte des Zionistischen Exekutivausschusses in Konstantinopel, warnte vor einem Abbruch der Beziehungen mit deutschen Institutionen, beharrte aber auf der Meinung, man dürfe in Sachen des Bildungswesens den Deutschen gegenüber nicht klein beigeben. Damit spiegelte er die generelle Haltung der Zionistenführung wider, die langfristig gesehen die Unterstützung des Deutschen Reiches für den Ausbau der jüdischen Ansiedlung in Palästina unter türkischer Oberhoheit anstrebte.106 Der Erste Weltkrieg setzte den Bemühungen Deutschlands, Palästina mit deutscher Kultur zu prägen, ein Ende. In den Kriegsjahren gab es kaum Versuche, den Status Deutschlands an den Heiligen Stätten zu festigen. Zur Zeit der Weimarer Republik verringerten sich die direkten Berührungspunkte mit Palästina. Die während des Ersten Weltkrieges eingestellte Tätigkeit des Hilfsvereins im Erziehungswesen wurde nach Kriegsende nicht wieder aufgenommen. Im »Sprachenstreit« jener Jahre sahen die Zeitgenossen eine entscheidende Phase in der Geschichte des Jischuw. Für viele symbolisierte er den Sieg der hebräischen Spracherneuerung.107 Innerhalb des Jischuw waren noch zwei Gruppen verblieben, die den deutschen Kulturraum repräsentierten. Zum einen waren dies osteuropäische Immigranten, die ihre Ausbildung in Deutschland genossen oder längere Zeit im deutschen Kulturraum gelebt hatten. Zum anderen waren es die Einwanderer 104

Lichtheim, Geschichte des Zionismus (Anm. 33), 270. Eloni, Die deutschen Zionisten (Anm. 92), 60–75. Vgl. Auch S. Erel, Die »Jeckes«: Fünfzig Jahre deutschsprachige Alija (hebr.), Jerusalem 1985, 67; A. Bein, Geschichte der zionistischen Besiedlung: Von Herzl bis heute (hebr.), Tel Aviv 1954, 112. Zum Ergebnis des Sprachenstreits um das Technion siehe I. Cohen, The German Attack on the Hebrew Schools in Palestine, London 1918, 12. 106 Zu Lichtheims Auffassung wird Stellung genommen in Eloni, ebd., 76. Zum Streben nach einer solchen Verpflichtung Deutschlands siehe Israeli, Das deutsche Reich (Anm. 88), 35. 107 Die Aktivitäten Deutschlands in Palästina während des Ersten Weltkriegs werden beschrieben in: Carmel, Die deutsche Ansiedlung (Anm. 84), 160. Über den verringerten Aktionsradius Deutschlands siehe Israeli, Das deutsche Reich (Anm. 88), 65. Zur Einstellung des Hilfsvereins vgl. Rinot, Die Tätigkeit des Hilfsvereins (Anm. 89), 335. 105

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aus deutschsprachigen Ländern, die zwar zahlenmäßig eine Minorität darstellten, jedoch im Wirtschafts- und Kulturleben des Jischuw Schlüsselpositionen einnahmen.108 Dessen ungeachtet blieb die Feindseligkeit der deutschen Sprache gegenüber bestehen. Arthur Ruppin, für den Deutsch die Arbeitssprache war, klagte 1925, der Widerstand gegen seine Sprache habe zu einer regelrechten Verfemung geführt, und er, Ruppin, fühle sich »sprachlos«109. Doch trotz der Anfeindung der Sprache bestand im Jischuw Interesse für die deutsche Kultur, vor allem, was Musik und Architektur betraf, ebenso auch für die deutschen Filme der Weimarer Zeit.110 Deutschland selbst übte nach wie vor auf eine Reihe dort lebender hebräischer Schriftsteller sowie auf Schauspieler, die zur Ausbildung und zu Auftritten nach Deutschland kamen, große Anziehungskraft aus. So gelangten die Mitglieder des Erez-Israel-Theaters zur Ausbildung bei Max Reinhardt nach Berlin, wo sie danach auch spielten. Die bekanntere und ältere Habima-Gruppe hatte bei ihrer Tournee Mitte der 20er Jahre in Mitteleuropa großen Erfolg. In Wien wurden ihre Aufführungen von zentralen Persönlichkeiten der dortigen Theaterszene, wie Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Max Reinhardt aufs Höchste gelobt. Die Aufführung des Dibbuk in Berlin, damals der Mittelpunkt des europäischen Theaterlebens, hatte großen Erfolg und rief allgemeine Begeisterung hervor.111 In Palästina selbst war der Einfluss der deutschen Architektur besonders be-

108 Israeli, ebd., 77. In seiner Kategorisierung der Eliten im Jischuw zwischen den Jahren 1918– 1948 fand Moshe Lisk, dass etwa 75 Prozent osteuropäischer Herkunft waren und nur 10 Prozent aus Mittel- bzw. Westeuropa stammten. M. Lisk, Die Eliten des Jischuw im Palästina der Mandatszeit (hebr.), Tel Aviv 1981, 36. Den Anteil der mitteleuropäischen Einwanderer in der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes behandelt Y. Gelber, Neue Heimat (Anm. 4, Einleitung), 385–475. Nach Gelbers Auffassung, die sich mit den Zeugnissen der Einwanderer deckt, war ihr Gewicht in der Entfaltung des Lebens im Jischuw ungleich höher als ihr proportioneller demographischer Anteil. Die Aufschlüsselung der zentraleuropäischen Olim nach Berufssparten ist zu ersehen aus: Palestine and the Jewish Emigration from Germany, Jerusalem 1939, 15 (o. A. v. Verf. bzw. Hg.). Die Bedeutung der mitteleuropäischen Einwanderer wird in den folgenden Kapiteln im Zusammenhang mit der deutsch-hebräischen Übersetzungstätigkeit und ihrer Rezeption in größerer Ausführlichkeit behandelt. 109 A. Ruppin, Aus meinem Leben: Aufbau des Landes und des Volkes 1920–1942 (hebr.), Tel Aviv 1968, 94 (dt.: Erinnerungen, Tel Aviv 1945). Das Zitat entstammt einer Eintragung vom 12. Februar 1925. In der Tat gelang es Ruppin, unter anderem auch wegen seiner Schwerhörigkeit, nie, die gesprochene Sprache richtig zu lernen. 110 Zur deutschen Filmindustrie vgl. J. Pateley, Capital and Culture: German Cinema 1933–45, London 1979, 29–40; S Kracauer, From Caligari to Hitler: A Psychological History of German Film, Princeton 1969 (1946), 18–77. 111 S. Leshem, Das Theater im jüdischen Palästina (hebr.), Magisterarbeit, Tel Aviv University, 1990, 8–18; M. Kochanski, Das hebräische Theater, Jerusalem 1974, 72–79. Unter anderem schildert Kochanski auch das Berliner Zusammentreffen zwischen den Schauspielern des Habima-Theaters und dem damals in Deutschland lebenden Chaim Nachman Bialik. Über Deutschland als damaliges Zentrum der hebräischen Literatur siehe D. Laor, Agnon in Germany, 1912–1924: A Chapter of a Biography, in: The Journal of the Association for Jewish Studies 18 (1992), 75–93.

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merkenswert. Dieser begann mit dem Bau der ersten jüdischen Viertel außerhalb der Mauern der Jerusalemer Altstadt. Zu der Zeit, als Tel Aviv gegründet wurde, war im Städtebau die mitteleuropäische Architektur tonangebend, und so wandten sich die Vertreter der »Achusat Bait«-Vereinigung an den Wiener Architekten Wilhelm Stiassny, der den Bau einer Gartenstadt nach europäischem Vorbild vorschlug. Auch der aus Deutschland stammende Haifaer Ingenieur Joseph Treidel wurde um die Einreichung von Vorschlägen gebeten. Schließlich wurde die Planung Tel Avivs zwei deutschen Architekten und Ingenieuren anvertraut, die sich im Auftrag des Deutschen Reiches in Palästina aufhielten. Die Planung nach Vorbildern deutscher Architektur von der Gründung Tel Avivs bis zum Jahre 1920 verlieh Tel Aviv den Charakter einer württembergischen Kleinstadt zu Ende des 19. Jahrhunderts. Im südlichen Teil entstand in den 20er Jahren nach Plänen des Berliner Architekten Alexander David eine regelrechte Jugendstil-Enklave mit dem typischen verschnörkelten Stil. Auch Nahalal, der erste Moschaw (genossenschaftliche landwirtschaftliche Siedlung), wurde 1926 vom deutsch-jüdischen Architekten Richard Kaufmann, der auch für die Planung das ursprünglichen Gebäudes des Habima-Theaters in Tel Aviv verantwortlich zeichnete, errichtet.112 Im Musikleben war der deutsche Einfluss noch signifikanter. So galt etwa in den 20er Jahren das Frühlingslied von Felix Mendelssohn-Bartholdy, des bereits als Christ geborenen Enkels des Philosophen Moses Mendelssohn, als hebräisches Lied. Der deutsch-jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer erfreute sich unter den heimischen Musikliebhabern größter Beliebtheit, und anlässlich seines fünfzigsten Todestages fand im Mai 1914 in Tel Aviv im von Schulamit Ruppin gegründeten Schulamit-Konservatorium ein Festkonzert statt. Sein Werk Die Hugenotten wurde in den 20er Jahren von der Erez-Israel-Oper aufgeführt.113 Diese wiederum war eines der deutlichsten Sinnbilder der Übernahme mitteleuropäischer Kultureinflüsse ins jüdische Palästina. Ihr Gründer, der 1875 im Kreise Cherson in Russland geborene Mordechai Gulinkin sagte über sich selbst aus, Herzls Ideen sowie das revolutionäre Denken Richard Wagners hätten ihn 112 A. Erlik, Der Beginn der Architektur in Tel Aviv (hebr.), in: A.B. Jaffe (Hg.), Die ersten zwanzig Jahre: Literatur und Kunst in Alt-Tel Aviv, 1909–1929, Tel Aviv 1980, 214–234. Es ist nicht klar, welche beiden Architekten Erlik meint. Der Deutsche Konrad Schick arbeitete für deutsche Auftraggeber in Palästina und entwarf das Jerusalemer Mea Shearim-Viertel. Die ersten Gebäude, die den Kern des späteren Tel Avivs bilden sollten, wurden vom österreichischen Architekten Wilhelm Stiassny geplant. Ein weiterer deutscher Architekt, Theodor Sandel, baute öffentliche Gebäude in Jerusalem. Ich danke Edina Meyer-Maril und Inbal Ben-Asher Gitler für diese Informationen. Zur Errichtung Nahalals vgl. Ruppin, Aus meinem Leben (Anm. 109), 31. 113 In dieser Zeit gelangten auch andere Opernwerke jüdischer Komponisten aus Europa zur Aufführung: Die Jüdin des Franzosen Jacques Fromental Halévy und der Dämon des Russen Anton Rubinstein. Diese Opern, wie auch die Hugenotten, wurden damals in Europa selten aufgeführt. Zur Begegnung mit dem Frühlingslied siehe Y. Hirschberg, Die Musik im Tel Aviv der Anfangszeit (hebr.), in: Jaffe, Die ersten zwanzig Jahre (Anm. 112), 104. Zu den Opernproduktionen vgl. Hirschberg, Die Entwicklung der Musikeinrichtungen und des Musikpublikums im Jischuw der zwanziger und dreißiger Jahre: Ideologie, ökonomische Bedingungen und Übernahme von Modellen, in: N. Gertz (Hg.), Perspektiven: Kultur und Gesellschaft in Erez Israel (hebr.), Tel Aviv 1987, 198.

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am meisten beeinflusst.114 In der Tat galt das von ihm geleitete Opernhaus als Realisierung der Herzlschen Vision von europäischer, des Mäzenatentums würdigen Kultur in der Levante.115 Die fünfte, die »deutsche« Alija, bewirkte eine noch weitreichendere Identifizierung des Musiklebens im Jischuw mit der deutschen Kultur. 1935, zehn Jahre nach der Gründung der Oper, reiste Gulinkin nach Deutschland, um dort jüdische Musiker nach Palästina zu engagieren. Im Jahr darauf wurde das mehrheitlich aus deutschen Musikern zusammengesetzte Palestine Symphony Orchestra – heute das Israel Philharmonic Orchestra – gegründet: Dreißig Musiker stammten aus Deutschland, zwölf aus Polen, vier aus Österreich, vier aus Ungarn und drei aus Holland.116 Auf akademischem Gebiet war der deutsche Einfluss im Jischuw ebenfalls besonders ausgeprägt. Die Idee, eine jüdischen Universität zu errichten, kam zum ersten Mal zur Zeit der Chibbat Zion-Bewegung auf, wurde damals in der jüdischen Presse immer wieder diskutiert, jedoch nicht realisiert. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Idee von Chaim Weizmann, Berthold Feiwel und Martin Buber neu aufgebracht. Damit sollte für das sich innerhalb des Judentums entwickelnden geistes- und naturwissenschaftlichen Gedankengut ein entsprechender Rahmen geschaffen werden. Auch sollte der Jugend in Palästina die Möglichkeit einer akademischen Bildung jenseits aller Einschränkungen, wie des in Russland geltenden Numerus clausus, gegeben werden. Nach verschiedenen Verzögerungen wurde der Plan schließlich 1925 mit der Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem verwirklicht.117 Die meisten Vorlesungen fanden auf Hebräisch statt, und in späterer Folge wurde mit Rücksicht auf jene Studenten, die europäische Sprachen nicht ausreichend beherrschten, mit der Übersetzung von Fachliteratur ins Hebräische begonnen.118 Wissenschaftliche Literatur in deutscher Sprache gelangte mithilfe der Zionistischen Weltorganisation, die 114

Hirschberg, ebd., 113. A. Samir, Die hebräische Oper und ihre Bedeutung, Broschüre der Erez-Israel-Oper (hebr.), Tel Aviv 1935, 29. 116 Zur »Rekrutierung« Gulinkins vgl. ebd., 29. Die Herkunft der Orchestermitglieder ist zu entnehmen M. Ohad, Die Philharmoniker. Das Israelische Philharmonische Orchester (hebr.), Jerusalem 1986, 24. Zum »deutschen« Charakter des Orchesters kann in Uri Toeplitz umfassendem Werk, Die Geschichte des Israelischen Philharmonischen Orchesters. Forschung und Erinnerung, Tel Aviv 1992, Üb. aus d. Engl. v. Hed Sella, nachgelesen werden. 117 Zu den einzelnen Phasen und den Umständen der Gründung der Hebräischen Universität sei verwiesen auf Ch. Weizman, Über die Hebräische Universität, Jerusalem 1945. Vgl. Auch Y.A. Klausner, in: Ch. Toren (Hg.), Hebräische Universität in Jerusalem 25 Jahre, 1925–1950 (hebr.), Jerusalem 1950, 41–47. Zur Rolle der mitteleuropäischen Einwanderer bei der Errichtung der Hebräischen Universität siehe u. a. Wormann, German Jews in Israel (Anm. 12), 86. Siehe auch U. Cohen, University vs. Society in a Period of Nation Building: The Hebrew University in Pre-independence Days, in: Historical Studies in Education 19/1 (2007), 81–110. 118 Etwa ein Jahr nach Gründung der Universität stellte Hans Kohn fest, »die jüdische Literatur [sei] in jeder Beziehung und insbesondere in den naturwissenschaftlichen Bereichen sehr arm; in letzteren findet sich der Student ganz auf sich allein gestellt, nicht nur, weil es an Originalliteratur fehlt, sondern auch, weil es keine umfassenden Übersetzungen gibt«. Kohn schließt mit der Forderung, in den Schulen des Jischuw sollten Fremdsprachen unterrichtet werden. H. Kohn, Fremdsprachen in den hebräischen Schulen in Palästina, in: Ha-poel Ha-zair, 22. September 1926, 13. 115

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1. Kapitel: Europäische Juden und deutsche Kultur

Sammlungen innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland durchführte, in die Bibliothek der Universität.119 An der Universität herrschte eine fast völlig mitteleuropäische Atmosphäre. Im ersten Vierteljahrzehnt ihres Bestehens beschäftigte die Hebräische Universität 87 Dozenten, von denen mehr als zwei Drittel im deutschsprachigen Raum studiert hatten. Die anderen hatten zumindest einen Teil ihres Studiums an deutschsprachigen Universitäten absolviert. 36 waren im deutschen Raum geboren; 18 kamen aus dem osteuropäischen Raum; acht weitere stammten aus anderen Ländern und hatten im deutschsprachigen Raum studiert. Vier Dozenten fielen in keine der genannten Kategorien.120 Die deutsche Dominanz an der Universität, die sich nur durch den deutschen Einfluss auf das osteuropäische Judentum erklären lässt, stieß auf eisige Kritik und der Forderung nach Gleichstellung, dies vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden Kluft zwischen den mittel- und osteuropäischen Juden. So etwa vertrat Berl Katznelson die Ansicht, die »Schaffung eines wissenschaftlichen Arbeitsrahmes [ist] nicht nur Sache der aus Deutschland Stammenden. Die Universität darf nicht zum Refugium nur einer Gemeinde werden. Sie darf keinesfalls einen einseitigen Stammescharakter annehmen.«121 Auch in anderen Bereichen zogen die Einwanderer aus Mitteleuropa Kritik auf sich. Trotz ihrer relativ breiten Bildung fiel ihnen das Erlernen der hebräischen Sprache schwer, und ihre Gebräuche blieben der Lebenswelt in Palästina fremd.122 Indirekt riefen diese sprachlichen Schwierigkeiten auch eine ablehnende Haltung gegenüber deutschen Filmen hervor. Die Dinge gediehen soweit, dass Mitte der dreißiger Jahre Vertreter des »Vereins zur Durchsetzung der hebräischen Sprache« den Eingang zu einem Privathaus versperrten, in dem ein deutschsprachiger Film aufgeführt wurde.123 In manchen Fällen entschieden sich die mitteleuropäischen Einwanderer, nachdem sie die Verachtung und Ablehnung der Alteingesessenen zu spüren bekommen hatten, bewusst dafür, innerhalb der deutschen Enklave zu leben, die es bereits vor ihrer Zeit in Palästina gegeben hatte, und die ihnen nun gut zustattenkam, wie Gerda Luft berichtet: »Es gab auch angenehme Orte bei den deutschen Siedlern. Dies waren ›Temp119 Mitteilungen der Nationalbibliothek (hebr.), in: Kirjat Sefer 12/1 (September–Oktober 1924), 269; 4 (Dezember 1934), 405f; 7 (März–April 1925), 1. 120 Die Auswertung der Daten stammt von Toren, Hebräische Universität (Anm. 117); Die Hebräische Universität in Jerusalem: Ihre Entstehung und Lage, Jerusalem 1939; Erel, Die »Jeckes« (Anm. 105), 56. Laut Erel gehörten von den im Jahre 1937/38 an der Hebräischen Universität angestellten 84 Lehrkräften 44 dem deutschen Kulturkreis an. 121 B. Katznelson, »Über die Hebräische Universität«. Berl Katznelson zur Hebräischen Universität (hebr.), hg. von Ch. Toren, Jerusalem 1945, 7. 122 Zur Ablehnung der mitteleuropäischen Einwanderer siehe Erel, Die »Jeckes« (Anm. 105), 11– 18; Gelber, Neue Heimat (Anm. 4, Einleitung), 225–233; C.D. Wormann, Kulturelle Probleme und Aufgaben der Juden aus Deutschland in Israel seit 1933, in: H. Tramer (Hg.), In zwei Welten: Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, Tel Aviv 1962, 285. Dieser Punkt wird auch in den Autobiografien verschiedener Einwanderer mitteleuropäischer Herkunft hervorgehoben. 123 M. Getter, Die deutsche Alija in den Jahren 1933–1939: Sozioökonomische vs. soziokulturelle Integration, in: Katedra 12 (1979), 146.

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ler‹, die sich eine Siedlung namens Sarona erbaut hatten [. . .]. Wir pflegten Samstag nachmittags Ausflüge dorthin zu machen, kegelten und aßen Schinkenbrötchen.«124 Trotz der Ressentiments gegenüber den Deutschen, ihrer Sprache sowie Kultur bildete die deutsche Literatur einen wesentlichen Grundpfeiler im Aufbau des hebräischen literarischen Lebens in der Diaspora wie auch in Palästina. Bis es soweit war, dass sie sich auf das eigentliche hebräische Literaturschaffen auswirken konnte,125 lieferte die deutsche Literatur den Ausgangsstoff für Übersetzungen. Ihre Aufgabe war es dabei, das große Vakuum in der säkularen hebräischen Literatur zu füllen und jenen breiten Literaturkorpus zu schaffen, der für die Erneuerung der hebräischen Sprache und eine hebräische Erziehung der jungen Generation vonnöten war. Überhaupt verflüchtigte sich die feindselige Einstellung gegenüber Deutschland und der deutschen Kultur weitgehend, sobald von Literatur die Rede war, wie der aus Prag gebürtige Historiker Hans Kohn berichtete: Über ihren eigenen Reichtum hinaus zählt die deutsche Literatur, ungleich der französischen und englischen, eine Vielzahl hervorragender Übersetzungen aus anderen Sprachen. Die Kenntnis der deutschen Sprache ermöglicht den Zugang zur französischen, russischen und skandinavischen Literatur [. . .]. Die deutschsprachige Literatur umfaßt auch die bedeutenden Werke des hebräischen Geisteslebens des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Auch Forschungen auf dem Gebiet der Wissenschaft des Judentums und die Grundwerke der zionistischen Ideologie und der Auseinandersetzung mit dem Wesen der jüdischen Identität wurden in deutscher Sprache verfaßt.126

Wie signifikant die deutsche Literatur für das internationale Kulturleben war, lässt sich am, mit dem 19. Jahrhundert einsetzenden, Repertoireaufbau von ins Hebräische übersetzter Literatur ablesen. Anfangs wurden vor allem die Schriften der von den osteuropäischen Juden verehrten Autoren, allen voran Moses Mendelssohns, übertragen. Später übersetzte man die Werke der bekanntesten deutschen Dichter, wie Goethe, Schiller und Heine. Als es, ab Mitte der 20er Jahre, im Jischuw bereits ein originäres Kulturleben gab, wurde der hebräische Buchmarkt von Übersetzungen aus dem Deutschen überschwemmt. Dies erfolgte parallel zum Aufstieg des Nazionalsozialismus in Deutschland und in einer Periode, in der der Gebrauch der deutschen Sprache seitens der zentraleuropäischen Einwanderer auf heftige Ablehnung stieß. Zwar war dies auch eine Zeit, in der die deutsche Literatur weltweit größtes Ansehen genoss, doch ist hervorzuheben, dass die meisten übersetzten Werke aus der Feder von Juden bzw. Gegnern des NS-Regimes stammten. Davon abgesehen gab es auch im Jischuw umstrittene Buchübersetzungen: Romane über den Ersten Weltkrieg, Dokumentationen des Aufstiegs Hitlers sowie Werke von Autoren, die sich nur halbherzig vom Nationalsozialismus distanzierten. 124 125 126

Luft, Achtzig Jahre (Anm. 29), 86. S. Sandbank, Zwei Teiche im Wald (Anm. 4, Einleitung). Kohn, Fremdsprachen in den hebräischen Schulen (Anm. 118), 14.

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze Einleitung: Die Haskala und die Anfänge der Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen Die Übersetzungsstätigkeit aus dem Deutschen ins Hebräische begann lange vor der organisierten Auswanderung nach Palästina und der Entwicklung der zionistischen Idee. Die ersten Übersetzungen, die sich nicht unmittelbar auf die religiösen Schriften und ihre Auslegung bezogen, stammen aus jener Periode, in der es zu einer kulturellen Annäherung zwischen den gebildeten jüdischen Kreisen Ost- und Mitteleuropas kam. Insgesamt wurden zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts 90 Bücher sowie einige Dutzend kleinere Schriftwerke ins Deutsche übertragen. Daraus ist die Bedeutung zu ersehen, die der Übernahme von Impulsen aus der deutschen Schriftkultur in die hebräische Sprache und Kultur beigemessen wurde. Dass dies keine vorübergehende Erscheinung war, bestätigt, dass es sich nicht lediglich um die reine Übersetzung von einer Sprache in die andere, sondern um eine weitgehendere Übernahme kultureller Codes handelte. Die genauere Durchsicht der übersetzten Werke zeigt, dass man zumindest in der übersetzten Belletristik Ansätze national-jüdischer Elemente zu finden glaubte bzw. eine Auslegung in diese Richtung angebracht schien.1 Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die deutsche Literatur in dem in diesem Abschnitt behandelten Zeitraum in Europa noch nicht als führend galt und demnach die Auswahl der Werke nicht aufgrund von generell in Europa gültigen Popularitätsmerkmalen, sondern ganz offensichtlich aus spezifisch jüdischer Sicht getroffen wurde. Die Zeit vor dem Beginn der organisierten Auswanderung nach Palästina im Jahr 1882 ist kaum durch Originalquellen dokumentiert. Zwar ist einiges über die zur Übertragung bestimmten Texte bekannt, und frühere Forschungsarbeiten haben Annahmen über die Kriterien für ihre Auswahl formuliert. Doch existieren nur in den wenigsten Fällen Aufzeichnungen vonseiten der an den Übersetzungen Beteiligten selbst, die ihre Beweggründe und Präferenzen bei der Auslese der Werke beleuchtet hätten. Es gilt also, die Tätigkeit der Übersetzer, Lektoren und Verleger als solche vor allem hinsichtlich ihrer eventuellen Systematik zu analysieren. Obwohl die Übertragungen nur für einen begrenzten Kreis von Lesern gedacht waren, waren Dutzende, meist in Osteuropa ansässige Personen an ihnen beteiligt. Die meisten, die in den kulturellen Belangen ihrer jeweiligen Gemeinden aktiv waren, übersetzten Zeit ihres Lebens jeweils nur ein 1 Zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit diesem Thema in der besagten Periode vgl.: Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit (Anm. 6, Einleitung).

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Einleitung: Die Haskala und die Anfänge der Übersetzungstätigkeit

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Werk aus dem Deutschen ins Hebräische, wenngleich sie in anderer Weise im hebräischen Verlagswesen involviert waren. Der Umstand, dass sich also die Übertragung und Herausgabe auf einen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Titel so weiten Personenkreis verteilte, wirft einige grundsätzliche Fragen auf: Was waren die Auswahlkriterien für die herausgebrachten Werke – gab es eine vorweg definierte Politik, war es eher eine Sache persönlicher Präferenz bzw. Geschmacks der Beteiligten? Waren die Beweggründe ideologischer oder wirtschaftlicher Natur (soweit letzteres bei einem so kleinen Leserkreis überhaupt in Betracht gezogen werden kann), Gründe des Prestiges, oder eine Kombination all dieser Elemente? Welche Wechselwirkung bestand zwischen den Lesern und ihren Ansprüchen und der von den Herausgebern bestimmten Auswahl der Werke? Vor allem, was die Periode bis 1881 betrifft, muss die Beantwortung dieser Fragen mit äußerster Vorsicht angegangen werden. Über die vielen Fragezeichen hinaus, die sich notgedrungen durch das Fehlen von Originalquellen ergeben, ist dieser Zeitabschnitt besonders problematisch, weil die an der Herausgabe Beteiligten im Herstellungsprozess der Publikationen eine Reihe unterschiedlicher Rollen spielten. In der Regel vereinigte der Verleger im 19. Jahrhundert verschiedene Aufgaben in sich: Er suchte die zu veröffentlichenden Werke aus und sorgte sowohl für den Druck als auch den Vertrieb. Der Verleger musste also die Zielgruppe bestimmen, die Erfolgschancen eines Buches einschätzen, die ästhetische Gestaltung des Satzes, der Paginierung und des Einbandes mit Hinblick auf den Geschmack der Leser vornehmen sowie die Auflage festsetzen. Zweifellos war für den nichtjüdischen Verleger, der sich mit so vielen verschiedenen Fragen auseinandersetzen musste, die Rentabilität eines der ausschlaggebenden Kriterien.2 Die vorliegende Untersuchung geht von der Annahme aus, dass die von den hebräischen Verlegern eingeschlagene Politik, trotz des enormen Unterschiedes in der Zahl der Leser, sich etwa so verhielt wie bei Verlegern von Büchern in europäischen Sprachen. Dies gilt in erster Linie für die Bandbreite der ihnen obliegenden Aufgaben: Auswahl, Herstellung und Vermarktung – und, im Falle der hebräischen Bücher, auch Übersetzung. In Bezug auf die hebräischen Bücher geschah es nämlich nicht selten, dass der Verleger auch übersetzte, der Übersetzer im Verlagshaus fest angestellt war, oder die Drucklegung von den Übersetzern persönlich finanziert wurde. Obgleich es aus dieser Zeit nur wenig ausgespro-

2 Zum Verlagswesens im 19. Jahrhundert und im Kapitalismus siehe: R. Escarpit, The Act of Publication: Publication and Creation, in: M. Albrecht u. a. (Hg.), The Sociology of Art and Literature, New York/Washington 1970, 399–402. Zu den ökonomischen Gesichtspunkten als Antriebsfaktor in der Hoch- und Massenkultur siehe: H.J. Gans, Popular Culture and High Culture: An Analysis and Evaluation of Taste, New York 1974, 21. Dov Schidorsky differenziert zwischen der Tätigkeit des Verlegers in Westeuropa verglichen mit Osteuropa im 19. Jahrhundert. Im Westen habe es eine klare Trennung zwischen Druck, Herausgabe und Verkauf gegeben, während im Osten alle Funktionen in einer Hand vereint gewesen seien. D. Schidorsky, Das Buchwesen in Erez Israel zum Ausgang der osmanischen Ära (hebr.), Jerusalem 1990, 203.

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze

chene Buchrezensionen gibt, ist auch zu bedenken, dass es über die erwähnte Rollenvielfalt hinaus auch üblich war, dass Übersetzer und Lektoren bzw. Herausgeber Kritiken über Werke ihrer Kollegen veröffentlichten.3 Der wesentliche Unterschied zwischen dem hebräischen Verleger und seinen Kollegen lag indes zu dieser Zeit, wie erwähnt, vor allem in der a priori geringen Zahl der Leser des säkularen hebräischen Schrifttums. Der Leserkreis erweiterte sich allmählich vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts sowohl unter den Zionisten in Europa wie auch im zu damaliger Zeit in seinen Anfängen befindlichen Jischuw in Palästina. In der Zeit vor Beginn der Ansiedlung in Palästina hätte man eigentlich mit einer geringen Zahl von Buchübersetzungen ins Hebräische rechnen können, weil die meisten potenziellen Leser – von Kindern und Jugendlichen abgesehen – zumindest eine europäische Sprache beherrschten. In diesem Stadium bestand demnach kein wirklicher Grund für die Übersetzung etwa von für höhere Bildungszwecke verfassten Lehrbüchern, die es ohnehin in den jeweiligen Landessprachen gab. Allenfalls waren Lehrbücher für jüngere Altersstufen relevant. Die Übersetzung deutscher Belletristik, mit der die gebildeteren Kreise ohnehin vertraut waren, erfolgte offensichtlich in der Absicht, sie einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Die geringe Zahl der Leser sollte es eigentlich den Herausgebern erleichtert haben, deren Geschmack zu treffen und ihren Vorstellungen präzise zu entsprechen. Auch wenn sie in verschiedenen Ländern lebten, kann angenommen werden, dass sie mehr oder weniger derselben Gesellschaftsschicht angehörten, sodass eine gewisse Geschmackshomogenität zu erwarten war. In der Tat betrafen die meisten übersetzten Werke dieser Periode jüdische Themen bzw. fügten sie sich in die von den Maskilim verfolgten pädagogischen Zielrichtungen ein.4 Um die Tendenzen der späteren Übersetzungstätigkeit im Jischuw, die im nächsten Kapitel erörtert wird, besser nachvollziehen zu können, soll vorerst im vorliegenden Kapitel die Periode bis einschließlich 1881 auf die Relevanz des Repertoires übersetzter Literatur und seiner Rezeption hin untersucht werden. Dabei stützte sich die Analyse möglichst weitgehend auf zeitgenössische Quellen; sofern notwendig wurde, sie durch Schlussfolgerungen ergänzt, die sich aus einer minutiösen Durchsicht des Korpus der übersetzten Werken ergeben. Darüber hinaus wurden Daten herangezogen, die in anderen Forschungsstudien mit verschiedenen Zielsetzungen erarbeitet wurden. Die Untersuchung bezieht sich, sowohl was diese als auch spätere Perioden betrifft, auf den Korpus der über-

3 In der angelsächsischen Literaturwelt war das Verfassen von Rezensionen parallel zu eigenständiger intellektueller Tätigkeit gebräuchlich. So waren englische Buchkritiker im 18. Jahrhundert auch in anderen kulturellen Bereichen tätig. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in England und Amerika im Zuge einer Revidierung des Urheberrechts das Schreiben von Buchkritiken zu einer als eigenständig anerkannten Sparte und zu einem Erwerbsberuf. Siehe: J. Kramer, The Social Role of the Literary Critic, in: Albrecht u. a., The Sociology of Art (Anm. 2), 441. 4 Zum Verhältnis zwischen den jüdischen Pädagogen der Haskala und den deutschen Pädagogen siehe: Eliav, Die jüdische Erziehung (Anm. 6, 1. Kap.).

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Der Korpus der bis 1881 übersetzten Werke

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setzten Werke selbst, unter Berücksichtigung der verschiedenen Kategorien. Die in Zeitschriften publizierten Übersetzungen von Werkauszügen wurden lediglich in breiter Streuung exemplarisch erfasst und spiegeln allgemeine Tendenzen wider, die nicht unbedingt mit der Investitionspolitik der Verleger übereinstimmen. Insofern dienen sie als Hintergrund für die Bestätigung der Befunde oder deren zusätzliche Überprüfung. Dabei ist zu erwähnen, dass eine frühere Arbeit über jüdische Zeitschriften in Deutschland, in der die dort stattfindende Diskussion in Bezug auf die jüdische und jüdisch-nationale Identität erörtert wurde, die Annahme bekräftigt, dass diese Veröffentlichungen die Dilemmata, die die jüdischen Intellektuellen und Verleger beschäftigten, damals in repräsentativer Weise widerspiegeln.5

Der Korpus der bis 1881 übersetzten Werke Die Anfänge der Übertragung ganzer Bücher aus dem Deutschen ins Hebräische waren bescheiden: Die ersten zwei beschäftigen sich zumindest indirekt mit der jüdischen Lebenswelt. Es handelt sich um Werke Moses Mendelssohns, dem 1787 – zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des deutschen Originals – in Berlin in hebräischer Sprache veröffentlichten Phaedon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, der 1789 nachgedruckt wurde. 1794 erschien in Wien Mendelssohns Korrespondenz nebst Anmerkungen. In dem hier untersuchten Zeitraum wurde Phaedon im Jahre 1860 nochmals aufgelegt, zudem erschienen zwei verschiedene Übersetzungen von Jerusalem. In Buchform erschien auch eine Übersetzung von Die Sache Gottes, während in der in Warschau herausgegebenen Zeitschrift Ha-meassef die Abhandlung Über die Evidenz in methaphysischen Wissenschaften abgedruckt wurde. Dass es sich bei den ersten Übertragungen ins Hebräische um Schriften Mendelssohns handelte, ist nicht verwunderlich: Er war der führende jüdische Denker jener Zeit, stand an der Spitze der deutsch-jüdischen Haskala und befand sich in einem regen philosophischen Dialog mit den deutschen Aufklärern, allen voran Lessing. Noch zu Lebzeiten begründete sich sein Ruf maßgeblich auf seine (teils im Original auf Hebräisch verfassten) Abhandlungen, in denen er die Ziele der jüdischen Religion, zuweilen auch ihren Einfluss auf das Christentum, erläuterte und auslegte. Doch die Bekanntheit Mendelssohns in jüdischen Kreisen des 18. und 19. Jahrhunderts beruhte auf seiner Übersetzung des Pentateuchs, 5 Obgleich meiner Einschätzung nach die meisten Übersetzungen aus dem Deutschen und ihre Veröffentlichung durch osteuropäische Juden erfolgte, waren sich diese zweifellos der intellektuellen Entwicklungen in Deutschland bewusst; sie waren mit dem dortigen jüdischen Diskurs vertraut und wurden in ihren Entscheidungen davon beeinflusst. Ich stütze mich hierbei auf eine umfassende Forschungsarbeit über jüdische Zeitschriften in Deutschland, die darin erfolgten Veröffentlichungen von Prosa und Dichtung, und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Debatten über jüdische Themen. Siehe Shedletzky, Literaturdiskussion und Belletristik (Anm. 6, Einleitung).

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze

dies auch bei weniger Gebildeten, denen die Lektüre seiner Schriften schwer fiel.6 Auch einige Werke Gotthold Ephraim Lessings wurden ins Hebräische übersetzt. Obschon mit den Lessing-Übertragungen mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen von Mendelssohns Schriften in Hebräisch begonnen wurde, wurden bis 1881 acht seiner Werke (die auf fünf deutschen Büchern beruhten) in hebräischer Sprache veröffentlicht. Davon beschäftigen sich fünf mit verschiedenen Wegen zum Judentum. Das zur religiösen Toleranz aufrufende Drama Nathan der Weise wurde dreimal übertragen: 1856 von Abraham Berliner unter dem Titel Die Religionen und die ineinander verschlungenen Ringe, ein Jahrzehnt später neuerlich durch Simon Bacharach, und schließlich 1874 von Abraham Dov Gottlober. Auszüge aus den drei Fabelbänden Lessings erschienen in drei verschiedenen hebräischen Fassungen. Sein Werk Die Juden wurde zweimal übertragen; zumindest zwei weitere Exzerpte aus Lessings Schriften wurden in hebräischen Sammelbänden veröffentlicht. Die Wahl Lessings ist unschwer zu erklären: Zum einen war er einer der bedeutendsten Dialogpartner Mendelssohns innerhalb der deutschen Aufklärung, wobei er die von den Maskilim am meisten bewunderte intellektuelle Strömung vertrat, zum anderen stellte er die jüdische Lebensart in einer für die jüdische Bildungsschicht schmeichelhaften Weise dar. Darüber hinaus wurde sein Aufruf zu religiöser Toleranz von den Juden als mögliche Grundlage der bürgerlichen Gleichstellung und der Integrierung in die europäische Gesellschaft freudig begrüßt. Neben den philosophischen Schriften ist innerhalb des Korpus der ins Hebräische übertragenen Werke der hohe Anteil historischer Romane für Kinder und Erwachsene auffallend. Die Romane allgemeinen, also nicht jüdisch-historischen, Inhalts vermittelten breites Wissen, das die Grundlage für die Übernahme der westeuropäischen Weltauffassung bilden konnte. Hingegen trugen natürlich die Romane jüdischer Thematik zur Ausformung eines nationalen Selbstverständnisses und einer gemeinsamen historischen Basis bei, mit denen sich die jüdischen Leser identifizieren konnten. Zudem erleichterte die Thematisierung historischer Ereignisse in Romanform die Anpassung an die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, die bereits im Sinne der neuen – allgemeinwestlichen und jüdischen – Aufklärungskultur erzogen wurden.7 Ein typisches Beispiel dafür sind die Werke Joachim Heinrich Campes, des ersten nichtjüdischen deutschen Autors, der ins Hebräische übersetzt wurde. Die Thesen Campes waren denen der Maskilim sehr ähnlich; als Pädagoge und Verleger gilt er als der erste Schriftsteller, der sich auf Jugendliteratur spezialisierte. Seine Abenteuergeschichten und Fabeln waren bewusst für Jugendliche 6 Zur Bekanntheit von Mendelssohns Werken innerhalb der Judenheit und den Vertretern der deutschen Aufklärung siehe J. Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (hebr.), Bd. 1, Allgemeine Einleitung; Die Generation der Meassfim (1820–1871) (hebr.), Jerusalem 1930, 34–87; Einstein-Barzilay, Enlightenment and the Jews (Anm. 4, Kap. 1) 268–274. 7 Zur vollständigen Analyse dieses Phänomens siehe Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit (Anm. 6, Einleitung)

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Der Korpus der bis 1881 übersetzten Werke

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konzipiert und erfreuten sich bei seinen Zeitgenossen großer Beliebtheit. Campe, der unter anderem Hauslehrer der Familie Humboldt war, begründete 1778 die Buchreihe »Kleine Kinderbibliothek« und erwarb 1787 den Verlag »Braunschweigische Schulbuchhandlung«. In seinen pädagogischen Schriften plädierte er für eine Betonung nationaler Werte in der Erziehung, für den Unterricht in der (deutschen) Muttersprache sowie die Förderung einer erstklassigen Kinderund Jugendliteratur. Zwischen 1807 und 1881 wurden 17 Bücher Campes auf Hebräisch veröffentlicht. Sie entsprachen freilich nur fünf seiner, ausnahmlos historischen oder pädagogischen, Werke. Sein Buch Die Entdeckung von Amerika wurde in mindestens vier Fassungen ins Hebräische übersetzt; Zohar Shavit erwähnt eine weitere Version von Hirsch Beer Horwitz (1810), doch konnte diese im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht andernorts belegt werden.8 Die Vielzahl der Fassungen ist insofern erstaunlich, als der erste Übersetzer, Moshe Mendelssohn-Frankfurt, der den ersten Teil 1807 herausbrachte, die Veröffentlichung weiterer Teile von dessen Rezeption abhängig machte; die Fortsetzung kam, höchstwahrscheinlich wegen mangelnden Erfolgs beim Verkauf dieses ersten Teils, nie heraus. Die Merkwürdigen Reisebeschreibungen für die Jugend Campes wurden in dieser Periode zweimal übersetzt, offensichtlich mit erheblichem Erfolg, da jede Fassung in vier Auflagen erschien. Auch Campes Jugendbearbeitung von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) wurde ins Hebräische übersetzt und war zur damaligen Zeit die einzige dem hebräischen Leser zur Verfügung stehende Version. Es ist anzunehmen, dass dieses Werk übertragen wurde, weil es in einigem den Idealen der jüdischen Aufklärer entsprach: produktive Lebensführung, Aufgeschlossenheit der Welt gegenüber, Empathie und Humanismus.9 Die Übersetzungen, die sich mit der Entdeckung der Neuen Welt und der Auseinandersetzung mit ihr befassten, dienten wohl den Maskilim zur Vermittlung jener ökonomischen Thesen und geistigen Werte, die der Eroberung der Überseegebiete zugrunde lagen. Auszüge eines anderen Werks Campes, Theophron, eines »Erfahrenen Ratgebers für die unerfahrene Jugend«, wurden in drei verschiedenen Fassungen ins Hebräische übertragen, eine davon von David Zamosch in zwei Auflagen. Davon abgesehen, dass Campe einer der wenigen und jedenfalls der bekannteste Jugendschriftsteller deutscher Sprache war, waren vor allem Campes pädagogische Thesen bei den Maskilim äußerst anerkannt. So forderte der Schriftsteller und Reformpädagoge David Caro, unter anderem unter Berufung auf Campe, in einem 1811 in Ha-meassef erschienenen Artikel, bei der Erziehung der Jugend strenge Disziplin zu üben. Darüber hinaus verwirklichten die Maskilim in ihrer praktischen erzieherischen Tätigkeit Campes Ideen in großem Maße. Die Berliner Gruppe der Maskilim zum Beispiel – die mit der Übertragung von

8 Z. Shavit, Literary Interference between German and Jewish-Hebrew Children’s Literature during the Enlightenment: The Case of Campe, in: Poetics Today 13/1 (Frühling 1992), 52–55. 9 Dies., Poetics of Children’s Literature, Athen/London 1986, 154 f.

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze

Campes Werken nichts zu tun hatte – errichtete die »Chinuch Nearim«-Schule mit dem Ziel, die Grenzen der jüdischen Haskala zu erweitern. Über die traditionelle Erziehung sollte den Jugendlichen auch die Kenntnis der deutschen Sprache und sogar des Lateinischen vermittelt werden.10 Es galt, die Neugierde der Schüler zu wecken, ihren Horizont zu erweitern und ihnen zu ermöglichen, fremde Welten kennenzulernen – alles im Sinne Campes. Darüber hinaus wurde großer Wert darauf gelegt, eine das Gedankengut der jüdischen Aufklärung widerspiegelnde Kinderliteratur auf Hebräisch zur Verfügung zu stellen. Die wenigen am Ende des 18. Jahrhunderts existierenden Lehrbücher in hebräischer Sprache entsprachen nicht den Ideen der Maskilim, und es mussten demnach andere Materialien – jüdischen oder nichtjüdischen Ursprungs – ausfindig gemacht und übernommen werden. Durch die Nähe zwischen der jüdischen und der deutschen Aufklärung bot die deutsche Kinderliteratur den idealen Stoff für eine solche Nachahmung.11 Ihrer Übertragung erfüllte eine zweifache Aufgabe: der Jugend ihre nationale Sprache nahezubringen und sie gleichzeitig mit der deutschen Kultur vertraut zu machen. Große Bedeutung kam auch den ins Hebräische übersetzten jüdischen Geschichtsromanen bei, und dies nicht nur als Basis eines Grundkorpus an hebräischem Lesestoff, sondern vielmehr als geistige Grundlage jüdischer Geschichte. Viele der übersetzten Werke zweier jüdischer Schriftsteller dieser Epoche, Markus Lehmanns und Ludwig Philippsons, waren für die Jugend bestimmt. Lehmann, Rabbiner und einer der führenden Persönlichkeiten des neoorthodoxen Judentums in Deutschland, galt als einer der bedeutendsten Verfasser jüdischhistorischer Jugendliteratur. Seine ursprünglich auf Deutsch verfassten Geschichten wurden zum Großteil erstmals in der von ihm gegründeten und herausgegebenen Wochenschrift Der Israelit abgedruckt und erschienen später in Buchform. Bis 1881 erschienen acht, auf fünf deutschen Büchern beruhende Werke Lehmanns in hebräischer Übertragung. Dazu kamen in diesem Zeitraum neun seiner Schriften in Sammelbände, die alle jüdischen Themen gewidmet waren. Teile der Schriften des liberalen jüdischen Herausgebers und Schriftstellers deutscher Sprache, Ludwig Philippson, wurden aus ähnlichen Gründen übersetzt. Bis 1881 wurden sieben seiner Bücher in Hebräisch aufgelegt (das entspricht der Zahl der Mendelssohn-Übersetzungen in diesem Zeitabschnitt) sowie fünf Werkauszüge in den, im Folgenden noch zu erörternden Sammelbänden. Philippson, Doktor der Philologie und Theologie, Rabbiner und Prediger, war innerhalb des Reformjudentums bestens bekannt. 1834 errichtete er in Magdeburg die erste jüdische Religionsschule. Drei Jahre später begründete er die Wochenzeitschrift Allgemeine Zeitung des Judentums, deren Herausgeber er bis zu seinem Tode war. Sie brachte Aktuelles aus den jüdischen Gemeinden in

10 R. Michael, Die jüdische Geschichtsschreibung von der Renaissance bis in die Neuzeit (hebr.), Jerusalem 1993, 97. 11 Shavit, Literary Interference (Anm. 8), 42–44, 48–50.

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Der Korpus der bis 1881 übersetzten Werke

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Deutschland sowie Berichte jüdischer Reisenden von ihren Fahrten nach Palästina.12 Philippson genoss als einer der Verfasser historischer Erzählungen für die jüdische Jugend hohes Ansehen und hatte eine große hebräische Leserschaft. Seine Bedeutung als Autor historischer Romane geht über den jüdischen Bezug hinaus. Er akzeptierte den Roman als literarisches Genre lediglich in der Form des historischen Romans. Er war, was den Widerstreit zwischen der »deutschen«, sich mit der nichtjüdischen Gesellschaft auseinandersetzenden Literatur, und der, das Leben im Dorf und Ghetto schildernden »jüdischen« Literatur, betrifft, seiner Zeit voraus. Dass seine Erzählungen ins Hebräische übertragen wurden, beruht kaum auf seinen literaturwissenschaftlichen Auffassungen. Vielmehr war sein hohes Renommee in den nichtorthodoxen Kreisen der Haskala ausschlaggebend; zum anderen füllten, wie auch im Falle von Campe und Lehmann, seine Werke das große Vakuum, das in der hebräischen Jugendliteratur bestand, und vermochten der jüdischen Jugend die Lektüre säkularer Literatur in hebräischer Sprache näherzubringen. National-jüdische Beweggründe standen hinter der Übertragung der Schriften von zwei weiteren in der jüdischen Gesellschaft bekannten Persönlichkeiten, die keine Schriftsteller, sondern Historiker waren: Die Marranen von Phoebus Philippson, der Bruder von Ludwig Philippson, der auch zu den Bibelübersetzern ins Deutsche zählte, befasste sich mit der Vertreibung der Juden aus Spanien, dem bis zum Holocaust traumatischsten Ereignis in der jüdischen Geschichte. Dieses Buch wurde zweimal übersetzt. Des Weiteren Die Geschichte der Juden des bekannten Historikers und Bibelforschers Heinrich Graetz, Herausgeber der Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Es ist anzunehmen, dass es leichter war, solche Werke ins Hebräische zu übersetzen als Belletristik, weil der hebräische Wortschatz auf dem Gebiet der Geschichte umfangreicher war. Freilich klingen die Übersetzungen nach heutigem Geschmack geschwollen. Graetz’ Werk verdient besonderes Augenmerk. Aufgrund seiner Tätigkeit war Graetz in gebildeten jüdischen Kreisen sehr bekannt, seine Auffassungen deckten sich mit den Ideen der Haskala. So zum Beispiel lehnte er, wie seinerzeit Moses Mendelssohn, den jiddischen »Jargon« ab und war dagegen, die jüdische Geschichte als bloße chronologische Abfolge zu schildern. In ihr sah er vielmehr eine Ereigniskette, in der der Widerstreit zwischen Geist und Materie die ideelle Achse bildet, eine bereits bei den Israeliten der biblischen Epoche zentrale Auffassung. In den Juden sah Graetz grundsätzlich eine Nation und er widersetzte sich der Ansicht, sie seien in den Jahrhunderten der Diaspora zu einer durch die

12 Zu den Ansichten Philippsons in Sachen Erziehung – seine bis zur Mitte des Jahrhunderts aufrechtgehaltene Befürwortung eines, mit Ausnahme der Religionsstunden, gemeinsamen Unterrichts von Juden und Christen und die Bedeutung, die er nach 1852 der separaten jüdischen Schule beimaß – vgl. Shedletzky, Literaturdiskussion und Belletristik (Anm. 6, Einleitung), 102–120; Eliav, Die jüdische Erziehung (Anm. 6, 1. Kap.), 253, 317. Zur Untersuchung der mit Palästina zusammenhängenden Aspekte der Zeitschrift siehe ders., Philippsons Allgemeine Zeitung des Judentums und Erez Israel, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 12 (1969), 155–281.

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze

gemeinsame Religion verbundenen Volksgruppe geworden. Dieser Gedanke wurde unterem anderem auch von Moses Hess in seiner Studie Rom und Jerusalem aufgegriffen.13 Dass Graetz ins Hebräische übersetzt wurde, beruhte insofern sicherlich auf der Anerkennung seines Denkens und nicht nur auf dem bloßen Bestreben, zusätzliches Lesematerial zu schaffen. Innerhalb der übersetzten Sachliteratur sind die Naturwissenschaften stark vertreten, unter Berücksichtigung der von der Haskala nachdrücklich geforderten Auseinandersetzung mit diesem Gebiet. Bereits im Mittelalter hatten vor allem Mediziner als ein Bindeglied zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Gesellschaft fungiert. Die Förderung der Naturwissenschaften wurde unter dem Einfluss ihrer deutschen Kollegen auch von russisch-jüdischen Intellektuellen unterstützt.14 Das erste in der hier untersuchten Periode, nämlich 1824 übersetzte naturwissenschaftliche Werk war die Abhandlung über die Krankheiten der Kinder von Christoph Girtanner.15 Von Christoph Wilhelm Hufeland erschien 1831 Makrobiotik sowie 1869 Enchridion medicum. Da den jüdischen Medizinstudenten (denen ja das Studium an den deutschen Universitäten offenstand) und Ärzten die Fachliteratur naturgemäß auf Deutsch geläufig sein musste, waren diese Bücher für Laien gedacht, möglicherwiese für medizinisch interessierte Jugendliche. Für die ansonsten im Allgemeinen nicht in deutscher Sprache studierenden Jugendlichen wurden auch naturkundliche Werke übersetzt. Das erste war die dreibändige Gemeinnützige Naturgeschichte des deutschen Naturkundlers Harald Othmar Lenz, die von Schalom Jakob Abramowitsch, besser bekannt unter seinem späteren Namen Mendele Mojcher Sforim, übersetzt wurde. Jeder der drei Bände erschien in einer anderen Stadt: in Leipzig, Schytomyr und Wilna. In diesem Fall ist belegt, dass Lenz nicht nur wegen seines hohen Bekanntheitsgrads in den gebildeten Kreisen Mitteleuropas und teils auch Osteuropas übersetzt wurde. Der wichtigere Beweggrund war die Bereicherung des bis dahin dürftigen hebräischen Vokabulars auf dem Gebiet der Zoologie, ein Ziel, dessen Verwirklichung Abramowitsch große Genugtuung bereitete.16 Hervorzuheben ist auch, dass Übertragung und Druck sich über ein Jahrzehnt hin erstreckten,

13 Vgl. F. Lachower in: Divrej Jemej Israel (1937), Einleitung. Zu der Beziehung Graetz – Hess siehe S. Avineri, Moses Hess: Zwischen Sozialismus und Zionismus (hebr.), Tel Aviv 1986, 144–150. 14 Zum Einstieg der Juden in das Gebiet der Medizin siehe Eliav, Die jüdische Erziehung (Anm. 6, 1. Kap.), 19 f; Einstein-Barzilay, The Enlightenment and the Jews (Anm. 4, 1. Kap.), 250– 253. Zur ähnlichen Auffassung der russischen Intellektuellen siehe J. Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 6), Bd. 4, Die realistische hebräische Literatur (1860–1881), Jerusalem 1938, 123–125. 15 Bereits 1780 begann Mendel Lapin das Buch des Schweizer Arztes Samuel Auguste André David Tissot Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit aus dem Deutschen und nicht dem französischen Original zu übersetzen. 16 Vgl. B. Fischler, Geschichte dort: Die Anfänge der zoologischen Terminologie im Hebräischen (1788–1866) (hebr.), in: Laschon ve-Iwrit 7 (März 1991), 19–33.

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was darauf schließen lässt, dass das Werk sich zufriedenstellend verkaufte und demnach die Verleger zur Herausgabe der Fortsetzungsbände bereit waren. Ein weiteres Naturkundewerk dieser Periode waren die Naturwissenschaftlichen Volksbücher von Aaron Bernstein, Onkel des Sozialtheoretikers Eduard Bernstein. Er war ein deutsch-jüdischer Erzähler, der sich besonders Naturbüchern widmete. Das erwähnte Werk wurde von David Frischmann übertragen und erschien 1881. Die Autobiografie Sammy Gronemanns gibt Aufschluss über die Zielgruppe und die Wirkung der Übersetzung. Wörtlich übersetzt heißt es bei Bernstein: »Und dank dieses kleinen Organs (der Lunge) vermag Luca ihre herrlichen Arien zu singen«, während Frischmanns Übertragung folgendermaßen lautet: »Und dank dieses Organs vermag der Vorbeter (in der Synagoge) beim Lesen des Buches Esther alle zehn Söhne Hamans in einem Atem zu nennen.« Bernstein war mit der Änderung nicht nur einverstanden, sondern sprach Frischmann dafür auch seinen persönlichen Dank aus. Auch ihm war es wohl klar, dass den jüdischen Lesern in Osteuropa das Beispiel des Vorbeters und seiner ausdauernden Atmung besser einleuchten würde als jenes der ihnen fremden Opernsängerin.17 In gebildeten jüdischen Kreisen waren die deutschen Klassiker wohl bekannt. Am meisten verehrt wurde Friedrich Schiller, von dem etwa ein Dutzend Werke (jeweils in einer Auflage) bis 1881 auf Hebräisch veröffentlicht wurde. Als erste erschienen 1851 seine Philosophischen Briefe. Bei den meisten anderen Werken handelte es sich um Dramen: Die Braut von Messina, Die Räuber, Wilhelm Tell, Don Carlos, Infant von Spanien und Maria Stuart, deren Übertragungen zur Lektüre und nicht zur Aufführung gedacht waren, weil es kein ausreichend großes, des Hebräischen mächtigen Publikum gab.18 In den für dieses Kapitel ausgewerteten Sammelbänden fanden sich 45 Werkauszüge Schillers, namentlich in den in Wien herausgegebenen Zeitschriften Bikurej Ha-itim und Kochwej Jizchak bzw. in, die Arbeiten verschiedener Übersetzer umfassenden, Anthologien. Dass so viele von Schillers Werken über einen langen Zeitraum hinweg auf Hebräisch erschienen, weist zum einen auf Schillers außerordentlichen Bekannt- und Beliebtheitsgrad hin. Einschränkend ist jedoch zu erwähnen, dass – im Gegensatz zu anderen Dichtern –, eine lückenlose Bibliografie der Schiller-Übersetzungen vorliegt und es daher nicht auszuschließen ist, dass der markante Unterschied in der Anzahl der Veröffentlichungen in Sammelbänden zumindest teilweise auf diesem Unterschied in der Vollständigkeit beruht. Der Eindruck der von Schiller genossenen Popularität wird durch die große Anzahl der Übersetzer – elf bei insgesamt zwölf Werken – und der acht Verleger noch verstärkt. Auch aus dem langen Zeitraum, über den sich die Übertragungstätigkeit erstreckt, ersieht man, wie anhaltend Schillers Beliebtheit war und wie sie die Verleger hinsichtlich der kommerziellen Erfolgsaussichten 17 Gronemann, Erinnerungen eines »Jeckes« (Anm. 34, 1. Kap.), 61. Das deutsche Original wird in Gronemanns Paraphrase zitiert. 18 A. Yaari, Das neuhebräische Drama vom Anbeginn bis heute – Original und Übertragung. Bibliographie (hebr.), Jerusalem 1956, 8.

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ermutigte. Wie dem auch sei – Schiller war der am meisten ins Hebräische übertragene Dichter dieser Periode und seine Beliebtheit beim jüdischen Publikum sprichwörtlich.19 Von einem anderen Klassiker, Johann Wolfgang von Goethe, wurden im untersuchten Zeitraum nur zwei Werke vollständig übersetzt – Hermann und Dorothea und Faust –, wofür es kaum eine fundierte Erklärung gibt. Auch in Sammelbänden finden sich nur zehn Werkauszüge Goethes. Eine mögliche Annahme wäre, dass im Gegensatz zu Schiller, dessen Moral- und Humanitätsdenken im Sinne der Maskilim war, Goethes Ideen kein geeignetes Vorbild darzustellen schienen.20 Angesichts der großen Bewunderung, die die deutsche Kultur bei den Juden genoss, ist es auch verwunderlich, wie wenig von Heinrich Heines Werken in dieser Periode übertragen wurde. Damals galt Heine in den Augen der Juden als Repräsentant der von ihnen angestrebten deutschen Kultur und nicht als jüdischer Dichter, wie dies später der Fall war und vor allem nachdem er in der NSZeit zu einem solchen gestempelt wurde. Nur vereinzelte Gedichte Heines – ausnahmslos rationalistisch-philosophischer Ausrichtung – wurden ins Hebräische übersetzt. Zu seinen Lebzeiten wurde – nämlich im Jahre 1853 – nur ein Gedicht übersetzt, Frau Sorge, in den darauffolgenden 35 Jahren weitere 20 Gedichte.21 Gelegentlich wird der Grund für dieses Phänomen der Schwierigkeit zugeschrieben, Heines Sprache und Stil im Hebräischen entsprechend wiederzugeben. Dem wird entgegengesetzt, was bei Schiller und Goethe möglich sei, wäre auch bei Heine machbar gewesen.22 Das inhaltliche Argument, dass nämlich die Maskilim die humanistischen Ideen Schillers Heines Auffassungen vorzogen, scheint daher plausibler. In der Tat verkehrte sich mit wachsendem zeitlichem Abstand von der Haskala das Verhältnis. Es erschien auf Hebräisch immer weniger von Schiller und immer mehr von Heine, und dies noch lange, bevor Heine von den Nationalsozialisten bzw. in anderem Sinne von den Juden in Palästina als jüdischer Dichter verstanden wurde. Neben einem Buch eines anderen beliebten Dichters dieser Epoche, des Schweizers Salomon Gessner,23 erfolgte auch die Übertragung einzelner Werke zweier zentraler Figuren des geistigen Lebens, des Philosophen Immanuel Kant

19 Vgl. dazu vor allem die Studie von B. Saphra, Schiller in hebräischem Gewande, in: Ost und West 5 (1905), 299–310. 20 Vgl. J. Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 6), II: Die Generation der Romantik und der Wissenschaft des Judentums, Jerusalem 1937, 12 f. 21 S. Lachower, Heinrich Heine auf Hebräisch: 100jähriger Todestag des Dichters 1856–1956. Bibliographie (1856–1956) (hebr.), in: Jad la-kore 4/3–4 (September 1956–März 1957), 142–193; H. Bar-Yossef, Die Heine-Rezeption in der hebräischen Literatur in den neunziger Jahre in ihrem russischen Kontext, in: Dapim le-mechkar be-sifrut 8 (1991–1992), 322. 22 Zur Schwierigkeit der Übersetzung vgl. Zweik, Heine in der hebräischen Literatur (Anm. 55, 1. Kap.), 180. Zur Schwierigkeit, Heine zu übersetzen, siehe Bar-Yossef, ebd., 320. 23 Zudem erschienen in der Zeitschrift Ha-meassef (November 1783, Januar 1785, April 1785, Juli 1786) vier Gedichte Gessners. Mein Dank gilt Itta Shedletzky, die mich auf diese Werke aufmerksam gemacht hat.

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und des Dramatikers und Theaterdirektors August von Kotzebue. Die Beschäftigung mit Kant ist mit einiger Gewissheit auch darauf zurückzuführen, dass er auf den bedeutenden jüdischen Denker Salomon Maimon prägende Wirkung ausübte.24 Kotzebue wiederum verfasste nicht weniger als 230 Werke, ein Fünftel etwa des deutschen Theaterrepertoires, von denen 90 seinem Zeitgenossen Goethe als Vorbild für seinen eigenen dramatischen Stil dienten. Zweifellos war der ungeheure Bühnenerfolg von Kotzebues dramatischen Schaffens ausschlaggebend für die Übersetzung seiner Werke.25 Von insgesamt 30 Autoren, die bis 1881 ins Hebräische übersetzt wurden, finden sich in den gesichteten Sammlungen Texte von neun. Kurze Abschnitte aus Werken fünf weiterer Schriftsteller erschienen lediglich in Sammlungen, ohne dass eines ihrer Werke vollständig übertragen worden ist. Was waren die Gründe für die Auswahl dieser 35 Autoren, oder anders ausgedrückt, lassen sich für sie deutliche Charakteristiken definieren? Die religiöse Abstammung scheint kein ausschlaggebendes Kriterium gewesen zu sein: lediglich dreizehn waren Juden – sicherlich ein hoher Prozentsatz, ohne dass jedoch damit die Herkunft ausschlaggebend würde. Eine detaillierte Überprüfung der Personen und der Art der übersetzten Werke zeigt, dass es sich im Wesentlichen um Vertreter des »Mainstream« im mittel- und osteuropäischen Kulturraum handelte: Alle genossen einen hohen Bekanntheitsgrad, sei es als Dichter, Wissenschaftler oder als in sonstiger Weise in jüdischen und auch nichtjüdischen Kreisen hervorragende Persönlichkeiten. Insofern ist es klar, dass die Verleger davon ausgingen, dass die gebildete – und vielleicht auch die weniger gebildete – jüdische Leserschaft mit den Namen der Autoren bereits vertraut war. Es ist zu vermuten, dass die vorherige Bekanntheit und damit die Erwartung auf eine gelungene Rezeption seitens der hebräischen Leser ein Kriterium für die Wahl der übersetzten Autoren darstellte. Zudem war anzunehmen, dass Leser, die Schwierigkeiten mit der Lektüre in Hebräisch hatten, sich mit dem deutschen Original behelfen konnten und umgekehrt, das heißt ihre Sprachkenntnisse in die eine oder andere Richtung vertiefen konnten. Es mag auch sein, dass die Maskilim das Publikum auf die übersetzte Literatur verwiesen und bei ihrer Verbreitung mithalfen. Überraschend bei der Auswahl durch die Verleger – insofern von einer bewussten Politik und nicht nur von punktuellen Entscheidungen die Rede sein kann – ist die große Themenvielfalt der übersetzten Werke. In dieser Periode, als der Kreis des hebräischlesenden Publikums relativ klein war, wäre eine stärkere Begrenzung der übersetzten Titel denkbar gewesen. Zudem ist es höchst wahrscheinlich, dass ein Teil der hebräischen Leserschaft auch Deutsch konnte

24

H. Bergmann, Das Denken des Salomon Maimon (hebr.), Jerusalem 1932, siehe insbesondere

7–72. 25 Z. B. vermerkte 1790 ein Theaterkritiker, nur wenige Berliner hätten den sechs Aufführungen der Sonnenjungfrau beigewohnt. Vgl. dazu M. Patterson, The First German Theatre: Schiller, Goethe, Kleist, and Büchner in Performance, London/New York 1990, 114. Zur allgemeinen Rezeption Kotzebues bei seinen Zeitgenossen siehe F.L. Lampert, German Classical Drama: Theatre, Humanity and Nation, 1750–1870, New York/Melbourne 1990.

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und diesem also die Bücher ebenso im Original zugänglich waren. Und doch gibt es plausible Erklärungen für die differenzierten Themenbereiche: Zum einen behandelten die übersetzten Sachbücher von den Maskilim vorrangig betriebene Themen; darüber hinaus bereicherte die Übertragungstätigkeit die hebräische Sprache und förderte ihre Bereinigung von fremdsprachigen und jiddischen Ausdrücken. Schließlich ermöglichten die Übersetzungen, jene hebräischen Leser, die kein Deutsch konnten, an die verschiedenen Bereiche der bei den gebildeten osteuropäischen Juden so verehrten deutschen Kultur heranzuführen. Man muss sich jedenfalls vor Augen halten, dass die Herausgabe wissenschaftlicher Werke oder anderer nicht mit der jüdischen Lebenswelt in Zusammenhang stehender Bücher ein nicht geringes finanzielles Risiko darstellte. Der Verleger hatte keine Gewähr dafür, dass ihm der Verkauf der übersetzten Bücher eine Existenzgrundlage bieten, zumindest aber sich seine Investition amortisieren würde, oder ob er überhaupt die gedruckte Auflage würde absetzen können. Bei Belletristikübersetzungen war das Risiko wohl geringer, obgleich die Lektüre in hebräischer Sprache für die meisten Juden keine leichte Sache war. Die Veröffentlichung jener Werke, die sich in der einen oder anderen Weise mit dem jüdischen Leben auseinandersetzten, erfolgte wohl jedenfalls ohne wesentliches finanzielles Risiko, weil sie der Vermittlung jüdischer Geschichte und Tradition an die junge Generation dienten und daher leichter abgesetzt werden konnten. Es kann auch sein, dass außer den prinzipiellen Erwägungen – pädagogischer und kultureller Natur – die Entscheidung zur Herausgabe eines Buches gelegentlich gefällt wurde, da dieses oder jenes Werk dem Verleger bereits in Übersetzung angeboten wurde. Die Durchsicht der Namen der in dieser Periode tätigen Übersetzer scheint für diese These zu sprechen: In der Regel galten mehrere Übersetzungsversuche einer limitierten Anzahl von Werken, und bis 1881 scheinen insgesamt 63 Übersetzer auf.26 Manche mögen sich auch auf eigene Faust aus verschiedenen persönlichen Motiven – etwa ihre eigenen Sprachkenntnisse zu perfektionieren – ans Werk gemacht und den Verleger erst nach vollendeter Arbeit angesprochen haben. Der aktivste Übersetzer dieser Periode war der Publizist und Pädagoge Samuel Josef Fünn, der viele Jahre der jüdischen Gemeinde Wilna vorstand. Sein bedeutender Beitrag zur hebräischen Kultur liegt in zwei Pionierleistungen: der Gründung der ersten hebräischen Zeitschrift in Russland und Litauen, Pirchej Zafon, in Zusammenarbeit mit Eliezer Lifa Hurwitz, und der Gründung der Zeitung Hacarmel.27 Als Übersetzer ins Hebräische spezialisierte sich Fünn auf historische Erzählungen, wobei er aus dem Deutschen zwei Werke Lehmanns sowie je eines von Mendelssohn und von Ludwig Philippson übertrug. Auch der aus Wilna stammende, in Warschau wirkende Pädagoge und Publizist David 26 Bezüglich der Korrespondenz Mendelssohns ist nur der Herausgeber – Avigdor Ben-Simcha – bekannt. 27 J. Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 6), Bd. 4, 115–120; G. Kressel, Lexikon der hebräischen Literatur in den letzten Generationen (hebr.), Bd. 2, Merhavia 1965, 610–612.

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Rodner war als Übersetzer tätig.28 Zu den von ihm übertragenen Werken – wobei sich in seinem Fall erstmals eine gewisse Spezialisierung auf das dramatische Genre abzeichnet – zählen Schillers Wilhelm Tell und Don Carlos, Infant von Spaniens sowie Deborah vom jüdischen Dramatiker Salomon Hermann Mosenthal. Auch Salomon Rubin spezialisierte sich auf Dramenübersetzung, und zwar Die Philosophischen Briefe von Schiller und Uriel Acosta von Karl Gutzkow. Rubin weigerte sich, den ihm von den Eltern vorbestimmten Rabbinerberuf zu ergreifen, und widmete sich der Erforschung des Volksglaubens und der Förderung der Geistesfreiheit. Die Wahl von Uriel Acosta war eine Reaktion auf die Anfeindungen, denen er wegen seiner Beschäftigung mit säkularen Themen ausgesetzt war.29 Mendel Lefin, unter anderem der Verfasser von Kommentaren zur Bibel und zu Maimonides’ Führer der Unschlüssigen, übersetzte aus dem Deutschen und Jiddischen ins Hebräische. Dabei schuf er im Hebräischen neue Worte, unter anderem solche, die er für die Übertragung des ursprünglich auf Französisch verfassten Werkes des Schweizer Arztes Tissot Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit benötigte, wie zum Beispiel bechila (Übelkeit), schiul (Husten) und choken (Einlauf). Trotz des linguistischen Reichtums seiner Übersetzungen warf man ihm vor, es klingen in ihnen die Sprachmuster der Ausgangssprachen durch.30 In späten Jahren übersetzte Lefin zwei Erzählsammlungen Campes, die auf Hebräisch als Wundersame Reiseerzählungen für die Jugend – Sturmboot bzw. Seeabenteuer erschienen. Auch David Zamosch, der sowohl eine religiöse als auch säkulare Erziehung genossen hatte und als Erzieher, Kaufmann und Literat tätig war,31 übersetzte zwei Bücher Campes, Theopron und Die Entdeckung von Amerika. Weitere sechs Übersetzer zeichneten jeweils für zwei Titel verantwortlich. Der hebräische Dichter Schimon Bechar (Bacharach) übertrug Jojachin von Ludwig Philippson. Von ihm stammte auch eine der hebräischen Fassungen von Lessings Nathan der Weise. Seine dreibändige Gedicht- und Übersetzungssammlung Schaar Schimon enthielt unter anderem zahlreiche Übertragungen deutscher Lyrik.32 Auch Abraham Dov Gottlober trug eine weitere Fassung von Nathan der Weise sowie von Mendelssohns Jerusalem bei. Gottlober, der sich vornehmlich Gedichten von Schiller und Goethe sowie den Briefen Lessings widmete, veröffentlichte seine Gedichtübertragungen unter dem Titel Kol Schirej Mehalel El (wörtlich: Gottlobers [sic] Gesammelte Gedichte). Er war auch einer der ersten Übersetzer russischer Poesie ins Hebräische.33 Die Briefe Goethes

28

Kressel, Lexikon der hebräischen Literatur (Anm. 28), Bd. 2, 833. Kressel, ebd., Bd. 2, 834 f. 30 Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 7), Bd. 1, 199–225. 31 Kressel, Lexikon der hebräischen Literatur (Anm. 29), Bd. 1, 754. 32 Kressel, ebd., 240. 33 Vgl. J. Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 6), Bd. 5, zu Smolenskin und der Ha-schachar-Generation (1868–1885), Jerusalem 1949, 384 f. 29

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und Schillers übersetzte auch Meir Halevi Latris, der Sohn eines Druckereibesit. zers aus Zółkiew, der wegen seiner autodidaktischen Beschäftigung mit der westlichen Kultur den Zorn seines Vaters auf sich zog. Er übersetzte vor allem Gleichnisse der Maskilim, wobei das erste Werk von dem Mendelssohn-Schüler David Friedländer stammte.34 Abraham Kaplan, der sich vor allem durch sein Wirken um die Herausgabe der Werke Abraham Mapus’ auszeichnete, übersetzte zwei jüdische Geschichtsbücher, Die Geheimnisse der Juden von Hermann Reckendorf sowie Graetz’ Geschichte der Juden, ins Hebräische. Gemeinsam war all jenen Übersetzern, die mehr als ein Werk aus dem Deutschen ins Hebräische übertrugen, die osteuropäische Herkunft, was in Anbetracht des geringen Umfanges der Übersetzungstätigkeit jener Periode auf einem Zufall beruhen mag. Jedenfalls weist dieser Umstand auf das große Interesse der osteuropäischen Juden an der deutschsprachigen Kultur hin, zu der – im Gegensatz dazu – die Juden in der Mitte des Kontinents einen unmittelbaren Zugang in der Originalsprache hatten. Dass eine derart große Zahl von Übersetzern, dabei nur wenige mit mehr als einem Werk, involviert war, zeugt davon, dass es noch keine berufsmäßig (und sicherlich nicht auf eine Sprache) spezialisierten Übersetzer gab. Diese Hypothese scheint sich dadurch zu bestätigen, dass lediglich elf der im Untersuchungszeitraum wirkenden Übersetzer auch übersetzte Werkauszüge in den im Rahmen dieser Forschungsarbeit gesichteten Sammelbänden veröffentlichten.35 Eine weiterer Beleg ist die Vielzahl der Tätigkeiten, die die Verlagsarbeit umfasste: Von zwei Übersetzern – Fünn und Dan Ehrmann ist bekannt, dass sie auch Verleger waren. Weil in vielen Fällen der Name des Verlegers und des Verlages identisch waren, sind das vielleicht die einzigen Beispiele einer solchen Doppelfunktion. Da jedoch über die Verlagstätigkeit im untersuchten Zeitraum nur lückenhafte Daten vorliegen, sind die Annahmen über die parallele Betätigung als Verleger und Übersetzer unter Umständen unzuverlässig. Bei 24 Werken liegen überhaupt keine Informationen über den Verlag vor. Die übrigen 67 Bücher erschienen in 46 Verlagen. Die aktivsten Verlage waren – im einzelnen oder in Kooperation miteinander – Fünn, Rosenkranz und Schriftsetzer, sodann der Verlag der Witwe und der Gebrüder Rom36 und die Verlagshäuser Lebenson, Schadow, Tuschija, Sulzbach, Brag und Smolenskin, Kletter und Gebrüder Winter. Weitere 35 Verlage brachten je eine Übersetzung aus dem Deutschen heraus. Zweifellos wirkten in dieser Periode im Verhältnis zur Gesamtzahl der hebräischen Publikationen zahlreiche und nur zum Teil professionelle Verleger. Gelegentlich mögen es auch einfache Drucker bzw. mit vollkommen anderen Materien als hebräischer Säkularliteratur befasste Verleger gewesen sein. 34

Ebd., 366–385. Es handelt sich um Bacharach, Bendtson, Gottlober, Y.L. Gordon, Zamosch, Latris, Dan Ehrmann, David Frischmann, Simcha Rabener, Schulbaum und Kalman Schulman. 36 Unter diesem Namen erschienen vier Bücher. Ein weiteres Buch erschien im Rom-Verlag, möglicherweise eine Hebräisierung des jiddischen Namens Rom. 35

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Die Verteilung der Erscheinungsorte ist eindeutiger und gibt Aufschluss über die Verbreitung hebräischer Druckwerke außerhalb Palästinas: 59 Bücher wurden in Osteuropa gedruckt, 29 im deutschsprachigen Raum, in drei Fällen ist der Erscheinungsort unbekannt.37 Es zeigt sich also deutlich die Vorrangstellung des osteuropäischen Raumes bei der Herausgabe aller Arten der Publikationen – Prosa, Dichtung oder Kinderliteratur, in hebräischen Lettern mit und ohne Punktierung. Dieser quantitative Unterschied mag auch auf dem großen Interesse der ostjüdischen Leser an der deutschsprachigen Literatur, die der Leserschaft in Mitteleuropa in der Originalsprache zugänglich war, beruhen. Betrachtet man die ersten hundert Jahre der Übertragungstätigkeit aus dem Deutschen ins Hebräische, so zeigt sich deutlich die Tendenz einer anhaltenden Steigerung. Bis zu Beginn der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts erschienen in jedem Jahrzehnt zwischen einem und acht Werke. In den Jahren 1860–1869 wuchs die Zahl der Übersetzungen deutlich auf insgesamt 21 an. In den darauffolgenden zwölf Jahren erschienen weitere 38 Übersetzungen. Ähnlich ist die Tendenz auch bei den in Sammelbänden erschienenen Werksauszügen. Unter der Annahme, dass der quantitative Anstieg nicht nur eine Folge technologischer Verbesserungen war, ist der Grund wohl im damaligen politischen und sozialen Wandel in Mittel- und Osteuropa zu suchen. Der nationalistische Geist der Revolutionen von 1848 und die Berufung auf die kollektive nationale Identität der Völker erweckte auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung das Bestreben, nationale Gemeinsamkeiten zu definieren; dem kam die Verwendung der hebräischen Sprache, die den in ganz Europa verstreut lebenden Juden gemeinsam war, entgegen. Die Übertragung säkularer Texte in das – bis dahin vornehmlich religiösen Studien vorbehaltene – Hebräische war ein einfacher und wirksamer Weg zu dessen Erneuerung. Es ist daher anzunehmen, dass die steigende Zahl der Übersetzungen als kulturelle Reaktion auf die nationalen Bestrebungen zu werten ist. Aus der Auflistung der in der Periode bis 1881 übersetzten Literatur ist zu ersehen, dass es sich hier um erste tastende Schritte handelte, was unter anderem die Auswahl der Werke, die Prägung sprachlicher Wendungen und die Überwindung der technischen Schwierigkeiten bei Druck und Vertrieb betrifft. Die Vielzahl der Akteure zeugt von drei wesentlichen Erscheinungen: dem Ausmaß der hebräischen Sprachkenntnisse in gebildeten jüdischen Kreisen und ihr Interesse an der Übertragungstätigkeit, der wachsenden Zahl der Druckereien, die hebräische Texte herstellen konnten, selbst unter der Annahme, dass sie zum Teil mit mehr als einem Verlag arbeiteten, und der fehlenden professionellen Spezialisierung.

37 Die geografische Aufschlüsselung hierzu: Polen (22), Litauen (20), Österreich (13), Deutschland (13), Russland (6), Galizien (4), Ukraine (4), Böhmen (3), Rumänien (2), Slowakei (1).

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze

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Anfänge der Rezeption Die Ausweitung der Übersetzungstätigkeit im Laufe der Jahre – sowohl bezüglich der Zahl der Bücher als auch der damit Befassten – zeugt vom Interesse an der Lektüre übersetzter Werke. Zwar stehen keine Daten über die Verkaufszahlen bzw. die Lesehäufigkeit zur Verfügung, doch ist davon auszugehen, dass die Verleger, auch wenn es sich für manche um einen Nebenverdienst handelte, keine allzu großen finanziellen Risiken eingingen und zumindest einen Teil der gedruckten Exemplare absetzen konnten. Der deutlichste Beweis dafür, dass ökonomische Kriterien und gar kommerzielle Erfolge im Spiel waren, sind die häufig festgestellten Neuauflagen und verschiedenen hebräischen Fassungen ein und desselben deutschen Originals. Über die Rezeption kann indes wenig ausgesagt werden, da zu dieser Zeit in den hebräischen Zeitschriften kaum Rezensionen in dem seit Beginn des 20. Jahrhunderts gebräuchlichen Sinn erschienen. In den deutschsprachigen jüdischen Zeitschriften, wie Der Jude, Allgemeine Zeitung des Judentums, Jeschurun und Der Israelit gab es hingegen einen regen literarischen Diskurs. Einige der vereinzelten, auf Hebräisch erschienenen Besprechungen – die offensichtlich für das allgemeine hebräische Lesepublikum und nicht nur jenes im deutschsprachigen Raum bestimmt waren – sind erwähnenswert. Zu diesen gehört die Rezension einer der hebräischen Fassungen von Campes Die Entdeckung von Amerika durch Moses Mendelssohn-Frankfurt. Die Bedeutung der Übersetzung liege in ihrer Nützlichkeit für die hebräischen Leser, insbesondere »die lieben polnischen Landsleute, die kein Buch universellen Charakters lesen würden«38. Jedoch wird auch erwähnt, dass sich der erste Teil nicht gut verkaufe. In der Tat gelangten die beiden folgenden Teile nicht in den Druck, zumindest nicht in der Übertragung durch Mendelssohn-Frankfurt.39 Zum besseren Verständnis dieser Bemerkung im Ha-meassef ist hinzuzufügen, dass im Erscheinungsjahr besagter Besprechung, 1810, die Zeitschrift in Altona und Dessau gedruckt wurde. Auch die Campe-Übersetzung wurde in Altona gedruckt, und zwar in der Druckerei der Gebrüder Bon, die vielleicht in einem engen Verhältnis zu den Herausgebern des Ha-meassef standen oder direkt an dem Druck der Zeitschrift beteiligt waren. Wenn dem so war, dann ist es klar, warum die Herausgeber des Ha-meassef den Verkauf des Buches ohne Zusammenhang mit seinem literarischen oder pädagogischen Wert propagierten. Darüber hinaus sahen die am Ha-meassef beteiligten Maskilim in der Übersetzung ein Instrument der Propagierung ihrer Ideen in der breiten jüdischen Öffentlichkeit. Die explizite Erwähnung polnischer Juden als bevorzugte Zielgruppe zeugt davon, dass der Ha-meassef auch außerhalb des deutschsprachigen 38

Ha-meassef, Erste Periode, 1809/10, 101. Vgl. dazu Ts. Tsamriyon, Ha-meassef: Die erste moderne hebräische Zeitschrift (hebr.), Tel Aviv 1988, 83; Shavit, Literary Interference (Anm. 8), 52. 39

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Raumes Verbreitung fand, wobei implizit der Hinweis auf den mangelnden Zugang zur Universalliteratur auch die arrogante Einstellung der deutschen Maskilim ihren Glaubensgenossen in Osteuropa gegenüber zeigt. Hierin wäre auch eine generelle Erklärung in Bezug auf die Zielgruppe der Übersetzungen zu finden. Eine – noch überheblichere – Unterscheidung zwischen der polnischen und der deutschen Judenheit wird auch in einem, 1885 in der Zeitschrift Ha-assif erschienenen Artikel anlässlich einer Zweitauflage (1884, Erstaufl. 1881) von Aaron Bernsteins Naturwissenschaftlichen Volksbüchern getroffen. Es gibt viele berühmte Gelehrte, allen voran Bernstein, obschon ihn nicht die Schule zur Literatur führte und an seiner Wiege keine deutschen Lieder gesungen wurden, obschon er in einer kleinen Gemeinde polnischer Juden gezeugt, geboren und erzogen wurde, deren Juden- und Polentum von der »Berliner Haskala« noch unberührt war und deren Gebräuche von jeher die der Juden Polens (zu dem auch der Kreis Posen gehört) waren. Wie jeder Sohn Israels bekam auch er die Rute des Melamed zu spüren und drückte die Schulbank im Beit Hamidrasch, wurde zur Tora aufgerufen und zur Chuppa und zu guten Taten, und der Geist der so genannten Haskala, der uns erweckte, berührte auch ihn, brachte ihn aus der Enge heraus, stellte ihn auf eigene Füße und regte ihn an, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu lernen, und so wurde er bald zum Schriftsteller, der über die Mißstände schreibt, die er in seiner Welt sah.40

Der Erfolg Bernsteins wurde mithin an seiner Fähigkeit gemessen, sich das Gedankengut der Haskala anzueignen, die deutsche Sprache zu lernen und sich der deutschen Kultur anzupassen. Interessantes ist auch über die Rezeption eines anderen Naturkundebuches bekannt, der Gemeinnützigen Naturgeschichte von Harald Othmar Lenz in der Übertragung von Schalom Jakob Abramowitsch (Mendele Mojcher Sforim). Der Verleger des ersten, 1862 gedruckten Bandes hätte Mordechai Yelin sein sollen. Wie damals üblich beabsichtigte Yelin, den Druck des Buches in einer christlichen Druckerei in Leipzig persönlich zu beaufsichtigen. Als ihm jedoch bewusst wurde, dass er dabei sein gesamtes Kapital zu verlieren drohte, stieg er aus dem Projekt aus, und Abramowitsch sah sich gezwungen, die Bücher selbst aus der Drukkerei auszulösen. Angesichts seiner finanziellen Notlage fand sich die Obrigkeit bereit, einige hundert Bücher abzukaufen und an die staatlichen hebräischen Schulen zu verteilen.41 Das Buch wurde zum Verkaufserfolg und als Übersetzung für gut befunden; dessen ungeachtet bemängelte der Schriftsteller und Übersetzer Abraham Kovner darin einen Fehler, nämlich die irrtümliche Übersetzung von »Binnenwürmer« (tolaej beten) als »Bienenwürmer« (tolaej dvorim).42 40 Anonym, Naturwissenschaftliche Volksbücher (hebr.), in: Ha-assif 1 (1881), 227. Aufschlussreich ist die Bemerkung des Übersetzers Lapin in der Einleitung des Buches des Schweizers Tissot, der habe das Werk »zum Wohle der [jüdischen] Volksmassen Polens« übersetzt. Vgl. dazu J. Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 6), Bd. 1, 200. 41 Die Aufzeichnungen hierüber sind nicht eindeutig; es handelte sich um 335 oder sogar um 500 Exemplare. 42 Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur (Anm. 6), Bd. 6, Konservative und Sozialis-

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2. Kapitel: Korpus und Rezeption – erste Ansätze

Die zeitgenössischen hebräischen Zeitschriften brachten, wie bereits erwähnt, übersetzte Texte, jedoch kaum Rezensionen. Die schon hervorgehobene Beliebtheit Schillers zeigt sich daran, dass 45 Auszüge aus seinen Werken veröffentlicht wurden, insbesondere in Kochwej Jizchak und in Bikurej Ha-itim. Die Beliebtheit Schillers ist auch schriftlich dokumentiert. Der 1869 in Lemberg (Lwow) geborene Mordechai Ehrenpreis erwähnt in seiner Autobiografie – die viele Bezüge zu der Kultur enthält, in der er aufgewachsen war –, Schiller sei im jüdischen Ghetto der am meisten bewunderte Autor gewesen.43 Zwar erwähnt Ehrenpreis nicht, in welcher Sprache Schiller im Ghetto gelesen wurde, doch erklärt dieser Umstand, dass sich Übersetzer und Verleger veranlasst sahen, sich mit seinen Werken zu befassen. Der hebräische Leser war mit seinen sich mit ethischen Fragen auseinandersetzenden Schriften vertraut; sie entsprachen den aufklärerischen Gedanken, die sich die Juden anzueignen suchten. In der Tat galt Schiller bei den osteuropäischen Juden als eine Art geistiges Vorbild, und seine Anziehungskraft war sinnbildlich für jene, die die deutsche Kultur schlechthin auf sie ausübte.44 Die Vielzahl der Schiller-Übersetzungen beeindruckte auch die Übersetzer im 20. Jahrhundert. Die dabei zutage tretenden Meinungsverschiedenheiten lassen möglicherweise auch Rückschlüsse auf die Rezeption der Übertragungen im 19. Jahrhundert zu. So äußerte sich Jakob Fichman zu den früheren Schiller-Übertragungen ins Hebräische sehr kühl: Im Zeitalter der Haskala war die Zahl der Übersetzungen weitaus größer, als es sich der zeitgenössische Leser vorstellen kann. Einer der am häufigsten übersetzten Autoren war Schiller. Einige seiner Werke wurden mehrmals ins Hebräische übertragen, unter anderem Die Räuber, Don Carlos, Die Verschwörung des Fiesco sowie Maria Stuart. Jedoch ist keine der Übersetzungen von Wert. Sie wirkten sich keineswegs, und sicherlich nicht zum Guten, auf die originäre Literatur aus. Diese Ära bildete nur den Nährboden für eine wenig interessante romantische Literatur dürftigen Inhalts. Jeder starke, wahrhaftige Seelenausdruck ging im Sumpf poetischen Geschwätzes unter […] doch Faust in der Bearbeitung von M. Latris war nur ein müder Abklatsch der großen deutschen Dichtkunst.45

Samuel Lachower hingegen war entgegengesetzter Meinung: Er bezeichnete die Übertragung Mosche Schulbaums der Räuber als »Innovation« und erläuterte sogar den Einfluss, den das Stück noch im deutschen Original auf die hebräische Literatur gehabt habe. Dabei stellte er implizite Annahmen bezüglich der Rezeption beim jüdischen Publikum an, das Teile des Originals über in die hebräische Literatur eingegangene Plagiate kannte: Dieses Drama übte großen Einfluss auf das originäre hebräische Drama aus; ein Beispiel dafür sind Owed und Thürza von Isahar Ber Bing (Berlin 1810), und Gerechter und Böser ten im Zeitalter der Haskala: Mendele Mojcher Sforim (1860–1917) (hebr.), Jerusalem 1950, 379– 381. 43 Ehrenpreis, Zwischen Ost und West (Anm. 15, 1. Kap.), 20. 44 Zohn, German Jewry (Anm. 41, 1. Kap.), 228. 45 J. Fichman, Zu den Übersetzungen (hebr.) (Teil 2), in: Ha-tekufa 19 (März–Mai 1923), 413.

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Anfänge der Rezeption

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von Menachem Mendel Silberstein (Krakau 1822), der in seinem Werk ganze Teile der Räuber ohne jeden Hinweis auf die Quelle plagiierte.46

Schulbaums Übertragung liest sich auch heute noch klar und flüssig. Doch wurde diese hebräische Fassung der Räuber nie auf einer kommerziellen hebräischen Bühne aufgeführt und diente Schulbaum vor allem zu einem Zweck: der Vervollkommnung seiner eigenen hebräischen Sprachkenntnisse. Er widmete sich religiösen und säkularen Studien, namentlich der Sprachwissenschaft. Er verfasste den Ozar Hamilim Haklali (Thesaurus der hebräischen Sprache) und andere hebräische Lexika sowie ein deutsch-hebräisches Wörterbuch.47 Dass Schulbaum sich nicht direkt mit dem Verlagswesen befasste und nicht zu jenen gehörte, die Einfluss auf den Publikumsgeschmack nehmen konnten, mag sich Jahre später, als die Qualität seiner Arbeit angefochten wurde, zu seinem Nachteil ausgewirkt haben. Auch in seinem hauptsächlichen Wirkungsbereich, der Sprachwissenschaft, wurde ihm keine Anerkennung zuteil. Weitere Schlüsse über die Einstellung der hebräischen Leser zur deutschen Literatur lassen sich – wenn auch weniger in Bezug auf die hebräische Übersetzung – aus der Rezeption von Nathan der Weise ableiten. Spätestens als die deutschen Juden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich Aufnahme in das Bildungsbürgertum fanden, galt dieses Werk in ihren Augen als utopisches Sinnbild des friedlichen Nebeneinanders der Religionen.48 Es ist anzunehmen, dass die gebildeten Juden Osteuropas den Nathan, sei es im Original oder in Übersetzung, ähnlich verstanden; in ihrer großen Bewunderung für die deutsche Kultur und ihrem Wunsche, sich dieser anzupassen, sahen sie wohl in dem von Lessing vorgezeichneten Weg, ohne den Zwang auf Aufgabe des eigenen Selbstverständnisses, den bestmöglichen. Dem hebräischen Leser stand Nathan der Weise bis 1881 in drei verschiedenen Fassungen zur Verfügung. Über die Rezeption anderer in dieser Periode gedruckten Bücher liegt kein Material vor, mit Ausnahme der bereits angeführten Mutmaßungen hinsichtlich der Motivation bei der Auswahl bestimmter Werke für die Übersetzung ins Hebräische.

46 S. Lachower, Friedrich von Schiller auf Hebräisch. Bibliographie 1817–1955. Anlässlich seines 150. Todestages (1805–1955) (hebr.) in: Jad la-kore 4/1–2 (Januar–Juli 1956), 59. Eine moderne Übertragung des Dramas wurde 1984 von Elyakim Yaron für die Beit Zwi-Schauspielschule angefertigt, gelangte jedoch nie auf die Bühne. Die Rechte wurden vom Habima-Theater erworben, welches das Stück im Spielplan 1994/95 ankündigte, jedoch nicht spielte. Im November–Dezember 1996 wurde das Stück in einer Neuübersetzung von Nitsa Ben-Ari zu Übungszwecken von Ben Zwi-Schülern des zweiten Studienjahrs aufgeführt. 47 M. Schulbaum, Thesaurus der hebräischen Sprache, Lemberg 1880; ders., Deutsch-hebräisches Wörterbuch, o. O. 1881; ders., Namenswörterbuch, o. O. 1881. 48 Zohn, German Jewry (Anm. 41, 1. Kap.), 229.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit – Der Weg nach Palästina 1882–1927 Ein neues Zeitalter Das Jahr 1882 markiert mit der ersten zionistisch motivierten Einwanderung nach Palästina den Beginn eines neuen Zeitalters in der Geschichte der Juden. Danach dauerte es zwar noch einige Jahre, bis sich die Einwanderer zu einer Siedlungsgemeinschaft, dem Jischuw formierten. Doch war es bereits zu Anfang deutlich, dass es sich um eine ideologische Wende handelte, die in späterer Folge zu einem Wandel des jüdischen Selbstverständnisses schlechthin führte. Diese Transformation war auch für die Übersetzungen ins Hebräische von großer Signifikanz: Die nationalen Erneuerungsbestrebungen, die verbreitete Anwendung des Hebräischen und seine Rolle als gemeinsame Sprache der Juden verschiedener Ursprungsländer erforderte eine Erweiterung des kulturellen Repertoires auf Hebräisch. Die bis dahin übertragenen Werke erwiesen sich zu diesem Zeitpunkt sowohl quantitativ wie auch thematisch als zu begrenzt. Bis 1927 – dem Ende des in diesem Kapitel behandelten Zeitrahmens –, wurden 315 Bücher aus dem Deutschen ins Hebräische übertragenen, mehr als das Dreifache als bis 1881. Diese sprunghafte Steigerung lässt sich unter anderem auf die damaligen technologischen Verbesserungen im Verlagswesen in Europa – wo ja noch das Gros der hebräischen Bücher herausgegeben wurde – zurückführen. Ein weiterer signifikanter Faktor war die Blüte der deutschen Literatur zu Anfang des 20. Jahrhunderts und ihre Popularität in ganz Europa. Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert fanden im Leben der Juden in Ost- und Mitteleuropa gewaltige Veränderungen statt: Ein vorerst schmaler Strom von Einwanderern gelangte aus Osteuropa nach Palästina, motiviert vom Wunsch nach praktischer Realisierung der nationalen Erneuerung. Der erste Zionistenkongress in Basel im Jahre 1897 demonstrierte das neue jüdische Selbstverständnis. Die dort gefassten Beschlüsse und der herrschende pragmatische Geist beflügelten den Wunsch nach Schaffung einer breit angelegten kulturellen Basis in hebräischer Sprache. Die Wahl des Ausgangsmaterials hierzu wurde wesentlich davon bestimmt, dass die Zionistenkongresse in der, der überwiegenden Anzahl der Delegierten geläufigen, deutschen Sprache abgehalten wurden, sowie, dass die meisten hebräischen Übersetzer Deutsch verstanden und direkt oder indirekt unter dem Einfluss der deutschen Kultur standen. Das Hauptaugenmerk richtete sich in diesem Stadium auf die Schaffung eines breiten Korpus von Kinder- und Jugendliteratur, die für die neue hebräischsprachige Generation gedacht war. In den Jahren 1882–1927 stellte diese Sparte mit 105 Werken ein Drittel aller Übersetzungen dar, wenn auch viele nur schmale Bänd-

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Ein neues Zeitalter

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chen waren, wie etwa einzelne Märchen oder Sagen aus der Sammlung der Brüder Grimm oder Wilhelm Hauffs. Ein weiteres Drittel – etwa 123 Werke – entfiel auf die Belletristik.1 Die anderen Übersetzungen gehörten einer Vielzahl von teilweise völlig oder auch nur im hebräischen Kontext neuen Themenbereichen an. Bereits in deutscher Sprache erschienene Werke, die sich mit Pädagogik, Kunst und Sozialismus auseinandersetzten, wurden nun erstmals ins Hebräische übertragen. Dazu kam noch eine Anzahl Dramenübersetzungen, die auf verschiedenen Bühnen aufgeführt wurden, wenn auch die meisten – in Anbetracht des geringen Publikums, das in den Genuss einer hebräischsprachigen Theateraufführung hätte gelangen können – noch ausschließlich zur Lektüre bestimmt waren. Daneben wurden vor allem bereits auf Deutsch erschienene wissenschaftliche Werke ins Hebräische übersetzt, die zu neuen, im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in ihren Anfängen stehenden Gebieten, wie der Soziologie und Psychologie, gehörten. Zudem Werke aus zu jener Zeit in sprunghafter Entwicklung befindlichen Wissenschaftsbereichen, wie der Chemie und Physik. Diese Art von Übersetzungstätigkeit, vornehmlich also die Übertragung schöner Literatur unter selektiver Hinzufügung anderer Genres, ist charakteristisch für das damalige Entwicklungsstadium der hebräischen Literatur als einer »jungen« Literatur. Aus der Übersetzung wurde, nicht zuletzt als Basis für späteres eigenständiges literarisches Schaffen, Material für die Erlernung und Erweiterung des Vokabulars der neuhebräischen Sprache bezogen. Ein typisches Beispiel dafür stellt die bereits erwähnte Übersetzung von Werken der Naturkunde, die den hebräischen Wortschatz bereicherte und die Sprache auf das für originäres Schreiben in diesem Fach notwendige Niveau brachte. Vorerst aber konnten hebräische Schriftsteller – in ihren jeweiligen Stilrichtungen – in diesem frühen Stadium der literarischen Entwicklung den Lesebedarf nicht befriedigen. Insofern diente das Instrument der Übersetzung dazu, die Lücken innerhalb auf Hebräisch bereits existierender Genres aufzufüllen und vollkommen neue Sparten in dieser Sprache zu eröffnen.2 Die steigende Anzahl der deutsch-hebräischen Übersetzungen und ihre thematische Erweiterung gingen Hand in Hand mit dem stetig wachsenden Kreis der übersetzten Autoren. Dabei veränderte sich das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schriftstellern kaum: Etwa die Hälfte waren Christen, rund vierzig Prozent Juden. Vier Autoren waren Konvertiten, über die religiöse Zugehörigkeit vierzehn weiterer Autoren liegen keine Angaben vor. Auch in der Auswahl der Themensparten ist keine wesentliche Veränderung zu vermerken: Fast zwei Drittel der in dieser Periode übertragenen Werke haben universellen Charakter, circa ein Drittel befasst sich direkt mit jüdischen Belangen, vier Prozent beschäftigen sich mit Religion, jedoch nicht unbedingt mit dem Judentum.

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Davon 87 Prosawerke, 9 Lyrikbände, 23 Dramen und 4 Theateraufführungen. Vgl. dazu I. Even-Zohar, Der Stellenwert der Übersetzungen im Gesamtspektrum der Literatur (hebr.), in: Hasifrut 25 (Oktober 1977), 42. 2

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Während des in diesem Kapitel behandelten Zeitraums war das deutsch-hebräische Übersetzungswesen in Folge des »Sprachenkampfes« zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts auch Rückschlägen ausgesetzt. Die meist aus Osteuropa stammende Bevölkerung des Jischuw widersetzte sich mit Nachdruck der Idee, in den jüdischen Bildungsstätten Deutsch als Unterrichtssprache einzusetzen. Stein des Anstoßes war vor allem das Technion, dessen Errichtung sich noch in Planung befand; es kam zu Wellen empörter Reaktionen, die sich nachdrücklich gegen die deutsche Sprache und ihre Verwendung in Palästina richteten.3 Der Kampf gegen die Hegemonie des Deutschen endete mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges und wurde vor allem infolge der Einstellung der Tätigkeit des »Hilfsvereins der deutschen Juden« nicht wieder aufgenommen. Doch scheint sich der Widerstand gegen die deutsche Sprache in Palästina auch auf die übersetzerische Tätigkeit niedergeschlagen zu haben, wie anhand des kurzfristigen Rückgang in der Zahl der Übersetzungen aus dem Deutschen in den Kriegsjahren – in denen auch weniger Berührungspunkte des Jischuw mit dem kulturellen Geschehen in Europa bestanden – bemerkbar ist. Der Buchmarkt im jüdischen Palästina sah sich erstmals der mit der geografischen Distanz zu Europa einhergehenden Problematik ausgesetzt, die ihn auch in späterer Folge beeinträchtigen sollte: Aufgrund der Kriegsereignisse waren die postalischen Kontakte mit den jüdischen Autoren im Ausland und die Buchsendungen in beide Richtungen erschwert; die Expansion der Verlage im Jischuw, die von importiertem Druckpapier und für sie im Ausland hergestellten Klischees abhängig waren, wurde gebremst.4 Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges setzte für das deutsch-hebräische Übersetzen eine äußerst produktive Periode ein. In jenen Jahren reduzierte sich das literarische Schaffen in hebräischer Sprache in Osteuropa zugunsten neuer Zentren der hebräischen Literatur in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Palästina.5 In Deutschland wirkten aus Osteuropa stammende Künstler, die noch in ihren Ursprungsländern von der deutschen Kultur beeinflusst worden waren, wie Achad Ha‘am, Chaim Nachman Bialik, Samuel Josef Agnon, der Gründer des »Ohel«-Theaters Mosche Halevy sowie eine Reihe von in Wien und Berlin in Ausbildung befindlichen Schauspielern. Doch trotz des regen literarischen Schaffens in hebräischer Sprache in Deutschland und der dort vorhandenen drucktechnischen Möglichkeiten wurden die meisten Übersetzungen nach wie vor in Osteuropa gedruckt.6 Das lässt sich wohl damit erklären, dass es in die-

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Siehe 1. Kap.: Die zionistische Elite und ihre Einstellung zur hebräischen Kultur. Um 1910 gab es in Palästina keine Zinkplattenerzeugung. Die Klischees wurden in Europa, vornehmlich in Wien, hergestellt. Vgl. dazu Z. Shavit, Der Beginn des hebräischen Verlagswesens in Erez Israel (hebr.), in: Sekira Hodschit, 28/10 (Juli 1981), 38. 5 G. Shaked, Die hebräische Prosa, 1880–1980 (hebr.), I. In der Diaspora, Tel Aviv 1978, 37. (dt. erschienen: Geschichte der modernen hebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980, Frankfurt a. M.1996). 6 Die Rolle Bad Homburgs als Zentrum hebräischen literarischen Schaffens beschreibt Gershom 4

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sem Raum ein entsprechend großes Publikum gab, während die Juden in Deutschland die deutsche Literatur in der Regel im Original und nicht in hebräischer Übersetzung lasen. Der – letztlich misslungene – Versuch, Deutschland zum Zentrum hebräischen literarischen Schaffens zu machen, stellte lediglich eine Zwischenstation auf dem Wege nach Palästina dar, wenngleich die totale Ablösung von Osteuropa erst Anfang der 30er Jahre erfolgte. In dieser sich über die Zwischenkriegszeit erstreckenden Übergangsphase stand die russische Literatur an der Spitze der hebräischen Übersetzungen, gefolgt von der deutschen, polnischen und englischen Literatur. Dabei dienten den Übersetzern aus dem Russischen abgeleitete sprachliche Konstruktionen als Modell.7 Diese Präferenz geht sicherlich in jener Blütezeit der deutschen Literatur nicht auf einen Mangel an deutschsprachigem Ausgangsmaterial zurück, was auch die zahlreichen damals erfolgten Anträge auf Überlassung von Urheberrechten bestätigen.8 Vielmehr lässt sich dieser Umstand durch den kulturellen Hintergrund vieler aus Osteuropa stammender Übersetzer erklären. Die Ausweitung des Übersetzungswesens im Allgemeinen und der Übertragungen deutscher Werke im Besonderen – als nur ein Teilgebiet der florierenden literarischen Produktion in hebräischer Sprache – ermöglichte es einer größeren Zahl von Intellektuellen, meist osteuropäischer Abstammung, sich intensiv in dem Übersetzen nahestehenden Bereichen zu betätigen. David Frischmann etwa, dessen erste Übertragung aus dem Deutschen bereits 1881 gedruckt wurde, war Leiter des »Stybel«-Verlages und Herausgeber einiger Zeitschriften, unter anderen Ha-dor, Reschafim, und Ha-tekufa, in denen er als Rezensent eine Schlüsselposition einnahm; der Dichter Chaim Nachman Bialik schrieb auf Hebräisch, war Übersetzer, aktiver Teilhaber des 1921 in Berlin ins Leben gerufenen »Dvir«-Verlags und agierte in nicht offizieller Form im Rahmen der Zeitschrift Mosnajim; ebenso vielfältig waren während seines kurzen Lebens die Tätigkeitsbereiche von Josef Chaim Brenner, der an einigen Zeitschriften mitwirkte, darunter Ha-meorer, Ha-poel Ha-zair, Ha-adama, und HaScholem, Von Berlin nach Jerusalem (Anm. 36, 1. Kap.). Vgl. außerdem Laor, Agnon in Germany (Anm. 111, 1. Kap.). Bemerkenswert ist, dass sich Ravnitzky im Oktober 1921 bei Bialik beklagte, wie schwierig es sei, in Berlin entsprechende hebräische Drucklettern zu finden, und ganz und gar unmöglich, Lettern mit Punktation aufzutreiben. Siehe dazu Z. Shuali, Die Entstehung des hebräischen Verlagswesens: Geschichte des »Dvir«-Verlages, 1921–1924 (hebr.), M.A. These, Universität Tel Aviv, 1990, 42. 7 Über den Stellenwert der russischen Literatur siehe Even-Zohar, Der Stellenwert der Übersetzungen (Anm. 2), 43. Die auch noch heute bekannteste dem Russischen entnommene Sprachform ist das freundschaftlich-liebevolle diminutive Suffix in Ausdrücken wie bachurtschik (Bürschchen), kibbuznik (Mitglied eines Kibbuz). Vgl. dazu Even-Zohar, Entstehung und Konsolidierung (Anm. 64, 1. Kap.), 136 f. 8 Während der Weimarer Zeit begannen ausländische Verlage, sich um die Urheberrechte deutscher Werke zu bemühen, und in London und New York wurden erstmals deutsche Theaterstücke aufgeführt. Vgl. hierzu G.A. Craig, The Germans, Middlesex 1984, 213. Die literarischen Erfolge der Weimarer Zeit bespricht K. Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik, 1925–1930, Herzberg 1987.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

achdut; Jacob Fichman war vor allem Essayist, auch ein bekannter Dichter sowie Lektor der Verlage »Tuschija« und »Stybel« und aktiver Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften wie Moledet, Maabarot, und Ha-olam. Die bereits zuvor in der zeitgenössischen Presse als Rezensenten in Erscheinung tretenden Übersetzer und Verleger widmeten sich nunmehr in steigendem Maße der Buchkritik. Dieser Umstand war unter anderen eine Folge der Erweiterung der Literaturkolumnen. Buchrezensionen, Ankündigungen von Neuerscheinungen im In- und Ausland und einzelnen Schriftstellern gewidmete Beiträge nahmen in den hebräischen Zeitungen immer größeren Raum ein. Die Entwicklung der Buchkritik ermöglicht für unsere Zwecke, vornehmlich ab Anfang des 20. Jahrhunderts, eine präzisere Untersuchung der Rezeption übersetzter Werke. Die in den Zeitschriften erschienenen Artikel vermitteln ein deutliches Bild vom Interesse der einheimischen Literaturszene an den literarischen Entwicklungen in Deutschland und dem ihnen beigemessenen Stellenwert. Auch geben sie Aufschluss über die Art und Weise, in der man dem gebildeten Publikum das Lesen sowie besondere Schwerpunkte in der Lektüre nahezulegen suchte. Überhaupt bereichert die in den meisten Bereichen des hebräischen Buchmarktes erfolgende Entwicklung auch das Instrumentarium für die vorliegende Forschungsarbeit. Ab Beginn der in diesem Abschnitt beschriebenen Periode liegt eine immer größere Fülle an Detailinformationen zu den Buchübersetzungen vor, sodass nuanciertere Aussagen möglich werden. So wie nun über manches, das für die Periode vor 1881 im Dunkeln blieb, Aufschluss gewonnen werden kann, werden sich in dem darauffolgenden Zeitabschnitt weitere Detailaspekte klären, die in diesem, bis zum Jahr 1927 reichenden Kapitel, noch recht unpräzise ausgeleuchtet werden können.

Ideologisierung und Professionalisierung

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sahen sich die Juden in Europa mit einer neuen Realität konfrontiert, die die Herausbildung der national-jüdischen Bewegung beförderte. Zwei Entwicklungen sind dabei besonders hervorzuheben, die die beiden größten jüdischen Gemeindezentren Europas, Deutschland und Russland, betrafen. Die den Juden in Deutschland gewährte bürgerliche Gleichstellung erleichterte es ihnen, sich gesellschaftlich zu integrieren, brachte jedoch gleichzeitig für sie auch die Konfrontation mit den Alltagsproblemen der deutschen Gesellschaft und den für den sozialen Erfolg relevanten Codes mit. Des Weiteren mussten sie sich mit politischen Gruppen antisemitischer Ausrichtung auseinandersetzen, die sich zu jener Zeit in Parteiform zu organisieren begannen und den Judenhass für ihre Zwecke instrumentalisierten. In Russland waren die Juden Anfeindungen seitens der nichtjüdischen Umwelt ausgesetzt, die sich bis zu schweren Pogromen steigerten. Die Aktualität zwang die Juden vor allem im Osten Europas immer wieder zur Auseinandersetzung

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mit ihrem Selbstverständnis. In Russland wandelte sich schließlich die nationaljüdische Idee – nicht ohne Debatten und innerer Zweifel – von einem rein theoretischen Gedanken zu einem zentralen Prinzip praktischen Handelns. Um das Jahr 1882 herum formierten sich in Russland einige Gruppen als erster Kern einer die Auswanderung nach Erez Israel anstrebenden Bewegung.9 Im deutschsprachigen Raum blieb die Idee nationaler Renaissance eher Gegenstand von Gedankenspielerei oder ansatzweiser Realisierungsversuche, ohne dass sich eine wie für Osteuropa typische Alija-Bewegung entwickelte. Mit der Bildung der ersten zionistischen Gruppierungen einhergehenden ideologischen Debatten wirkten sich natürlich auch auf das hebräische Geistesleben aus. Sowohl die tradierte hebräische als auch die im Werden befindliche neuhebräische Kultur nahmen von nun an einen signifikanten Platz im neuen nationalen Diskurs ein. Erste Ansätze zur Umformung des Hebräischen zur säkularen Sprache gab es wohl schon im Zeitalter der Haskala, doch rückte die Sprache mit dem Anbruch der praktischen Phase der jüdischen Nationalbewegung weit mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die sprachlich-kulturelle Erneuerung wurde zum unabdingbaren Bestandteil der nationalen Renaissance. Verleger, Übersetzer, Schriftsteller und Publizisten setzten sich für die Anwendung des Hebräischen und die Produktion literarischer Werke in dieser Sprache ein. Die Bestrebungen zur sprachlichen Neubelebung und zur Übernahme von als wertvoll erachteten literarischen Stoffen ins Hebräische wurden nunmehr des Öfteren ideologisch begründet. Bereits 1886 wies die Zeitschrift Ha-assif auf die enorme Bedeutung des literarischen Lebens im Selbstverständnis jedes Volkes und im Spezifischen der Schaffung eines literarischen Repertoires in hebräischer Sprache hin: »Die Literatur ist eindeutiger Ausdruck von Geist und Exzellenz jeden Volkes […]. Die unsere ist mit zwei großen Mängeln behaftet: Zum ersten gibt es keine allgemeinen Literatur; zum zweiten fehlt eine in einer einzigen Sprache gehaltene Literatur. Jedes Volk verfügt über ein ihm eigenes Schrifttum, das alle für dieses, in seiner Sprache verfassten Werke umfasst.«10 Da bislang säkulares Schrifttum auf Hebräisch nur in begrenztem Ausmaß existierte, bot die Übersetzung den einfachsten Weg, um beide in Ha-assif aufgeworfene Probleme in akzeptabler Form zu lösen. Doch hatten parallel hierzu eintretende Entwicklungen zur Folge, dass sich der in Literatenkreisen geführte kulturelle Diskurs zu einer Debatte in der breiteren, gebildeten Öffentlichkeit ausweitete. Dem Beobachter vom Rande will es scheinen, dass die der kulturellen Sphäre entnommene Argumentation der politischen Argumentation nicht nur diente, sondern gelegentlich zum Kernpunkt der Diskussion um die Realisierung der modern-hebräischen Nation wurde. Die zu diesem Zeitpunkt im Entstehen begriffenen, praktischen Zionismus propagierenden Gruppierungen, wie auch die zionistischen Kongresse selbst bildeten 9 Zur Entwicklung der Alija-Bewegung vgl. Vital, Die zionistische Revolution (Anm. 48, 1. Kap.), 61–91. Zur selben Zeit bildeten sich auch unter den Juden Rumäniens und des Jemens ähnliche Bewegungen, die ebenfalls in die Emigration nach Palästina mündeten. 10 (Anonym), Die jüdische Literatur im abgelaufenen Jahr (hebr.), in: Ha-assif 2 (1886), 35.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

den Rahmen für heftige Debatten über die Zukunft der Juden; dabei setzten Persönlichkeiten des gesamten ideologischen Spektrums – Befürworter wie Gegner einer Rückkehr zur Tradition der Vorväter – eine kulturell untermauerte Argumentation ein. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die heftige Auseinandersetzung zwischen zwei der führenden Köpfe in der Debatte um die Zukunft des jüdischen Volkes, Achad Ha‘am und Micha Josef Berdyczewski, in der dem Kulturbereich entnommene Argumente den Zündstoff boten. Beide gingen in der Darstellung ihres jeweiligen Standpunktes von einer, freilich diametral entgegengesetzten Analyse der kulturellen jüdischen Lebenswelt aus. Achad Ha‘am behauptete, die Aufgabe der bekannten kulturellen Umgebung des Ghettos gefährde die Partikularität der Juden und würde zu ihrer Auflösung unter ihren Wirtsvölkern führen: »Zu unserer Zeit trägt die Kultur allerortens das nationale Gewand des jeweiligen Volkes, und jeder mit ihr in Berührung kommende Außenstehende wird angehalten, seine Eigenständigkeit aufzugeben und sich dem herrschenden Geist anzugleichen. So wird das Judentum in der Diaspora seine Eigenständigkeit nicht weiter entwickeln können, ja droht diese – oder zumindest seine nationale Einheit zu verlieren, sobald es die Ghettomauern verlässt.«11 Berdyczewski hingegen vertrat die Auffassung, das jüdische Volk sei zu sehr in seiner nationalen Vergangenheit verhaftet: »Seit zweitausend Jahren studieren wir die Bibel. Dieses Beharren war unnatürlich, unsere Begabungen waren nicht gering, groß war die Zahl der Bibelgelehrten im Verhältnis zur Zahl des Volkes […]. Zweitausend Jahre lang hatten wir keine Gegenwart. Um uns ist eine lange Vergangenheit, eine Vergangenheit ohne Gegenwart und ohne Zukunft.«12 Diese Dispute vermochten jedoch die positive Einstellung eines Teiles der jüdischen Literaten zur hebräischen Sprache nicht zu schmälern. Ganz im Gegenteil lieferten diese von da an den ideellen Grundstoff für das, was auf kulturellem Gebiet realisiert werden sollte. Noch bevor die nationale Idee zur politischen Anwendung reifte, war den Intellektuellen bereits bewusst, dass die Schaffung eines modernen Kulturrepertoires zwingend erforderlich sei, um den Aufbau der Nation in der Praxis zu gewähren. An der Wende des 20. Jahrhunderts sah ein Teil der intellektuellen Elite, ungeachtet der ideologischen Zugehörigkeit zu einem der rivalisierenden Lager – zum einen die Proponenten einer Rückkehr ins Land der Väter, zum anderen die des Verbleibens in der Diaspora – die Aktionsrichtung bereits deutlich vorgezeichnet: Es galt, durch eigenständiges Schaffen wie auch durch die Übertragung fremdsprachiger Werke Fundamente einer neuhebräischen Kultur zu legen. Die Wiedererweckung der Sprache als integraler Bestandteil einer gesamtkulturellen Renaissance wurde als ein um jeden Preis zu realisierender Gedanke aufgegriffen. Dieser Preis war mitunter ein Kompro11 Achad Ha‘am, Der Judenstaat und die »jüdische Frage«, Auf dem Scheideweg (hebr.), Bd. 2, Berlin 1930, 28. 12 M.J. Berdyczewski, Gedanken, Gesammelten Schriften Berdyczewskis (hebr.), Tel Aviv 1960, 47. Über die Auseinandersetzung zwischen Achad Ha‘am und Berdyczewski vgl. Shapira, Das Schwert der Taube (Anm. 58, 1. Kap.), 41–53.

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miss in Bezug auf Gehalt und literarisches bzw. kulturelles Niveau der ins Hebräische übernommenen Werke. So nahmen sich bereits 1910 manche die Freiheit, von der ideologischen Argumentation sekundären Nutzen zu ziehen. Nachum Sokolow, zu jener Zeit Chefredakteur des Tagesblattes Ha-zefira, nutzte die ideologische Plattform für Zwecke der Verkaufsförderung. Um den mangelnden Berührungspunkten der Jugend mit der hebräischen Sprache entgegenzuwirken, empfahl er regelmäßige Zeitungslektüre – natürlich seines Blattes, das ohnehin den wichtigsten Lesestoff für das breite jüdische Publikum darstellte und keinen Wert auf schöngeistige Literatur legte.13 Doch der von Sokolow – möglicherweise auf nicht dokumentierten Lesestatistiken beruhende – lamentierte Zustand der Lektüre hebräischen Schrifttums scheint sich in der damaligen literarischen Aktivität nicht niederzuschlagen. Gerade zu jener Zeit kam es zu einem sehr nennenswerten Zuwachs an hebräischen Verlagshäusern. Diese pflegten ihre ideologischen Grundsätze in der Presse zu veröffentlichen, was sich gut in die Debatte um die nationale Identitätsfindung einfügte. Diese Grundsatzerklärungen der Verleger liefern über ideelle und ökonomische Bulletins hinaus auch persönliche Zeugnisse. Das Wirken einer herausragenden Gestalt aus der Pionierzeit des hebräischen Verlagswesens, BenAvigdor (Abraham Löb Schalkowitz), des Begründers der Buchverlage »Achiassaf« und »Tuschija«, ist durch eigene Zeugnisse und die anderer dokumentiert. Seine Ideologie war nach Auffassung von Schmarjahu Lewin, der an seiner Seite bei »Achiassaf« tätig war, wie folgt: […] die »jüdische Gasse« mit neuen hebräischen Büchern zu überschwemmen. Er pflegte zu sagen: Jedes jüdische Heim ist randvoll mit neuhebräischen Büchern zu füllen, und letztlich wird sich von alleine guter Geschmack entwickeln, das Publikum wird das Gute wählen und das Schlechte, Minderwertige, von sich weisen. […] Nicht lange danach verließ Ben-Avigdor »Achiassaf« und gründete sein eigenes Verlagshaus, »Tuschija« […]. Mit seiner großen Tatkraft trug Ben-Avigdor mehr dazu bei, die Grenzen der hebräischen Literatur zu auszudehnen, als sie in ihrer Qualität zu bereichern.14

An erster Stelle stand also das Vorhandensein eines Korpus hebräischen Lesematerials als solchen. In Bezug auf den Inhalt war der Verleger zu Kompromissen bereit. Ben-Avigdor verließ »Achiassaf« in Folge eines Streites mit einem der Teilhaber und machte sich sofort an die Errichtung eines eigenen Verlages, wobei er Unterstützung seitens Schriftsteller und anderer Intellektueller suchte.15 So sicherte er sich der Hilfe des Verlegers und Publizisten Jehoschua Chana Ravnitzky. Der Übersetzer Schlomo Bermann sah in seiner Tätigkeit einen Versuch, »unsere Kinder daran zu gewöhnen, in der Sprache ihres Volkes zu lesen«. Doch stieß Ben-Avigdor auch auf heftige Ablehnung. In einem 1897 in Ha-meliz erschienen Artikel stellte der (anonyme) Verfasser fest, die geistige Gesundheit der 13 14 15

N. Sokolow, »Wort des Herausgebers« (hebr.), in: Ha-zefira, 1910, CZA, A18/5(1). Levin, Aus meinem Leben (Anm. 11, 1. Kap.), 2, 3. Buch, 59. Ben-Avigdor an Jehuda Löb Lewin (Jehalel), 14. und 26. Dezember 1895, CZA, A9/89(10).

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Kinder Israels sei durch die Lektüre von Übersetzungen wie etwa Ali Baba und die vierzig Räuber gefährdet.16 Den Versuch, vorerst eine Basis zu schaffen und erst in späterem Stadium das Augenmerk auf qualitative Inhalte zu legen, hieß man in kulturellen Kreisen nicht immer gut. Aus dem im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit untersuchten Korpus lässt sich schließen, dass die überwiegende Mehrheit der Literaten – auch wenn sie von den literarischen Ereignissen ihrer Epoche sehr beeinflusst und mit den jeweiligen Modeerscheinungen bestens vertraut waren – qualitativ hochstehende Übersetzungen befürworteten und jeden Versuch, sich mittels der Übersetzung von Trivialliteratur anderen Völkern anzugleichen, von der Hand wiesen. Die Zielstrebigkeit, die Ben-Avigdor in der Herausgabe hebräischer Literatur unter Wahrung klar definierter Ziele an den Tag legte, lässt sich auch in den von anderen Verlagen propagierten Konzepten durchgehend ablesen. Die vorhandenen Quellen beziehen sich vornehmlich auf von vornherein in Palästina tätige oder dorthin übersiedelte Verlagshäuser. So heißt es etwa in den Statuten der Gesellschaft für die Herausgabe populärwissenschaftlicher Broschüren: »Ziel der Gesellschaft ist es, populärwissenschaftliche Broschüren in hebräischer Sprache herauszugeben und zu volkstümlichen Preisen zu vertreiben.« Der eigentliche Kernpunkt war aber Folgendes: »Die hebräische Sprache wird in Erez Israel allmählich zur einzigen Sprache des gebildeten Publikums und der jungen Generation – und der Bedarf an bildungsförderndem hebräischen Lesematerial wird immer ausgeprägter.«17 Wenn in den ersten Phasen der hebräischen Übersetzungstätigkeit das Bestreben, im Hinblick auf die Erneuerung der Sprache, die großen Lücken am Buchmarkt zu füllen, im Vordergrund stand, so kamen nunmehr weitere Gründe dazu: Übersetzungen wurden angesichts der beschränkten Fremdsprachenkenntnisse der in Palästina lebenden Jugendlichen zu einem Muss. Der »Jefet«-Verlag veröffentlichte seine Statuten im Mai 1910, etwa ein halbes Jahr nach der Gesellschaft für die Herausgabe populärwissenschaftlicher Broschüren. Mit dem ersten Absatz war die Linie »Jefets« schon klar: »Ziel des ›Jefet‹Verlages ist die Herausgabe der großen Werke der Weltliteratur in hebräischer Übersetzung.«18 Keine umschweifigen Überlegungen rund um die Frage, ob und warum man übersetzen solle, sondern eine eindeutige Aussage, die keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte: Übersetzungen sind erwünscht und publikationswürdig. In der Folge wurde ausgeführt, dass an die Herausgabe einer Sammelreihe, einschließlich einer eindrucksvollen Auswahl deutscher Literatur, gedacht sei. De facto erschienen lediglich drei Jahresbände. Eine ähnliche Ideologie stand auch bei der Gründung des »Turgeman«-Verlages Pate: »Gründungsziel des ›Turgeman‹-Verlages ist es, mittels hervorragender 16 U. Ofek, »Tuschija« für die Kinder Israels: Hebräische Verleger als Förderer von Kinderliteratur (hebr.), in: Mosnajim 45 (Oktober–November), 427. 17 Statuten der Gesellschaft für die Herausgabe populärwissenschaftlicher Zeitschriften (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 27. Dezember 1909, 6 f. 18 Statuten des »Jefet«-Verlages (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 26. Mai 1910, 15.

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hebräischer Übersetzungen all jene fremdsprachigen Werke, die bei anderen zivilisierten Völkern als ausgewählte Klassiker für die Jugend Rang und Geltung haben, in den Bereich unserer Bildungsliteratur einzubringen.« Anders ausgedrückt, wer der Völkerfamilie angehören wolle – wobei der Wunsch, ein Volk wie alle Völker zu sein, dem Bestrebens der Juden nach Errichtung einer nationalen Heimstätte inhärent war –, habe sich ein universelles Kulturrepertoire zu schaffen, das der Erziehung der Jugend dienen könne. Dabei schwebte dem »Turgeman«-Verlag ein sofortiges Aktionsprogramm vor: »Im Monat Nissan ist das Erscheinen des ersten Bandes, Die Abenteuer des Tom Sawyer von Mark Twain in der Übertragung von Israel Chaim Tawiow vorgesehen.«19 Die Frage der bildungsmäßigen Bereicherung der Jugend beschäftigte auch jene Verlagsleute, für die Übersetzungen nicht ein zentrales Anliegen waren. So erklärte zum Beispiel der »Kohelet«-Verlag »die Herausgabe von Lehr- und Lesebüchern für Jugendliche« zu seinem Ziel. In gewissen Zeitabständen wurden Aktionärsversammlungen abgehalten, bei denen über die jeweiligen Erfolge Bericht erstattet wurde; bis Oktober 1912, nach zweijährigem Bestehen des Verlages, waren bereits drei Jugendsachbücher erschienen.20 Die hebräische Übertragung von Werken der Weltliteratur war einem weiteren Verleger, Schlomo Salman Schocken, ein besonderes Anliegen, über das Kurt Blumenfeld folgendermaßen berichtete: Als ich ihn einmal [Anfang der zwanziger Jahre] nach dem Inhalt ihrer [Schockens und Jitzchak Shenhars] Gespräche fragte, sagte er mir: »Ich würde gerne die Übersetzung einer neuen Auswahl großer Prosawerke der Weltliteratur veranlassen.« Zu meiner Überraschung zählte er mir eine äußerst interessante Auswahl von nur Kennern vertrauten Werken der deutschen Klassik auf, die aber gerade zu unserer Zeit neue Wirkung zeitigen können.21

In manchen Fällen waren Autoren und Verleger bestrebt, der originären hebräischsprachigen Literatur bzw. der Publikation von Werken mit Bezug auf Juden und Judentum breiten Raum zu geben. Chaim Nachman Bialik etwa, der Anfang der 20er Jahre in Berlin lebte und wohl trotz seines divergenten kulturellen Hintergrundes mit jener Literatur vertraut war, die Schocken in das hebräische Repertoire einführen wollte, gab, ganz im Sinne der traditionellen Verlage, der Publikation von mit dem Judentum zusammenhängenden Werken den Vorzug. Bialik unterschied drei Kategorien hebräischer Literatur: das umfangreiche traditionelle Schrifttum, zahlreiche fremdsprachige Werke zum Thema Judentum sowie eine geringe Anzahl neuhebräischer literarischer Werke. Bialik plä19 Gründungsprospekt des neuen Buchverlages »Turgeman« (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 9. Mai 1911, 16. 20 Eine diesbezügliche Meldung über »Kohelet« ist im allgemeinen Nachrichtenteil enthalten, Hapoel Ha-zair, 25. September 1912, 17. Es handelt sich um drei Geografiebücher: A. Sapir, Erez Israel (hebr.), Jaffa 1911; P. Auerbach (hg. aus verschiedenen Quellen), Geographie der europäischen und asiatischen Türkei (hebr.), Jaffa 1912; J. Oserkovski (Azaryahu)/M. Krischevski (Ezrachi)/I. Jechieli, Observation und Landeskunde (hebr.), Jaffa 1912. 21 Blumenfeld, Die Judenfrage als Erfahrung (Anm. 35, 1. Kap.), 82.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

dierte dafür, dass dem hebräischen Leser ermöglicht werden sollte, eine nach rein qualitativen Merkmalen etablierte Auswahl der Literatur aller Epochen kennenzulernen; dabei seien allerdings nur solche ursprünglich in anderen Sprachen erschienene Bücher zu berücksichtigen, die einen direkten Bezug zum jüdischen Leben hätten.22 Die Relevanz von Bialiks Ansichten rührt nicht nur von seinem Rang als einer der bedeutendsten hebräischen Dichter und seiner Tätigkeit als Übersetzer, sondern auch aus seiner Rolle als Verlagsleiter des »Dvir«-Verlages und der Verlagskooperation »Moria-Dvir«. In der Tat findet seine Einstellung auch in dem Programm des »Dvir«-Verlages ihren Niederschlag, wie etwa aus einem Brief des Verlages an Nachum Sokolow hervorgeht: Wenn die hebräische Literatur Bestand haben soll, hat sie ihre einzige natürliche Gestalt – die der hebräischen Sprache – wiedereinzunehmen, diesem einzigartigen goldenen Band, das die Nation von Anbeginn an durch alle Generationen hinweg verbindet […]. Die Sprache soll kein Hindernis sein: in anderen Sprachen verfaßte Werke sollen getreu und fachkundig ins Hebräische übertragen werden.23

Bei »Dvir« setzte man sich daher in Verfolgung dieser klaren verlagspolitischen Linie nur die Publikation von Werken mit jüdischem Bezug zum Ziel. Das offensichtliche Bedürfnis der Verleger und Lektoren, eine Programmatik festzulegen und bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit auch zu propagieren, zeugt von wachsender Professionalität. Diese neue Epoche im hebräischen Verlagswesen zeichnete sich somit durch eine geregeltere, fachmännischere Tätigkeit und die Einhaltung neuer ethischer Grundsätze aus. Bereits 1904 berichtete die Zeitschrift Ha-dor ihrer Leserschaft über das Inkrafttreten eines neuen Urheberrechts in Deutschland – dem kulturellen Vorbild schlechthin: Einen großen Namen haben sich die Deutschen vor etwa hundert Jahren als »Volk der Dichter und Denker« gemacht […]. Auch wurden in Deutschland in den letzten Jahren verschiedene Gesetze zum Schutz des »materiellen Wertes geistiger Güter« erlassen […]. Wesentlich daran ist, dass es ohne Zustimmung des Verfassers von Gesetz her verboten ist, Werke oder Noten zu seinen Lebzeiten und bis zu dreißig Jahre nach seinem Ableben abzudrucken. Erst nach Ablauf dieser Frist werden diese Werke frei verfügbares Allgemeingut.24

In der Tat wurde es auch den hebräischen Verlagen langsam klar, dass die Herstellung von Büchern nicht nur eine geistig-ideologische Angelegenheit sei. Aus ihren Praktiken ersieht man, dass sie ihr Gewerbe von einem durchaus kommer22 Zudem schlug Bialik die separate Herausgabe von nach ihrem wissenschaftlichen Wert zu bestimmenden Sachbüchern vor, die aber genügend populärwissenschaftlich sein sollten, um sich für die allgemeine Leserschaft zu eignen. Zudem wollte er alte jüdische Literatur für den jüdischen Leser mit Erläuterungen versehen herausgeben, wie auch für eine bestimmte Epoche oder Strömung repräsentative literarische Anthologien. Vgl. Bialik, Das Hebräische Buch (Anm. 76, 1. Kap.), 241–243. 23 Zu ersehen in einem undatierten, etwa von 1924 stammenden Schreiben des »Dvir«-Verlages an Sokolow, CZA, A18/8, in dem es um die Überführung der Verlagstätigkeit nach Palästina geht. 24 Burgani, Briefe aus Deutschland (hebr.), in: Ha-dor, 2/3–4 (1924), 13 f.

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ziellen Standpunkt beurteilten. So nutzten sie vornehmlich während des Zweiten Weltkrieges, jedoch auch zu anderen, weniger schweren Zeiten, die harte wirtschaftliche Lage im Jischuw recht rücksichtslos aus, indem sie den Übersetzern die Honorare mit großer Verspätung auszahlten. Zu Beginn des Jahrhunderts jedoch, als die Verleger von mitteleuropäischer Denkart geprägt waren, legten sie den Autoren die Kalkulation der Honorare offen. So etwa schrieb Ben-Avigdor an Jehuda Löb Lewin (Jehalel), als er ihm die Veröffentlichung eines Buches in der »Großen Bibliothek« des »Moria«-Verlages vorschlug: »Dem Autor stehen zehn Prozent des Verkaufspreises an die Subskribenten zu, die Beteiligung an den an Nicht-Subskribenten verkauften Exemplare wird halbjährlich abgerechnet.«25 Kostenfragen beschäftigten auch potenzielle Verleger. So erwähnt S. Perlman. von der Vereinigung (Histadrut) für die hebräische Sprache und Kultur Sokolow gegenüber, dass für die damals in Planung befindlichen Errichtung des »Techija«-Verlages ein Grundkapital von 200.000 Reichsmark vonnöten sei,26 das 1.700-fache eines durchschnittlichen Monatseinkommens. Um diese Kosten tragen zu können, wurden Vertriebsmethoden angewandt, die aus heutiger Sicht nicht so hart erscheinen mögen, wie in den Augen der damaligen Zeitgenossen. Seitens des »Kohelet«-Verlags, der den Vorteil genoss, seine Anliegen in Ha-poel Ha-zair publik machen zu können, erging 1920 folgender Aufruf – halb Bitte, halb Weisung – an die Lehrerschaft: »Wir fordern daher alle Filialen der Lehrergewerkschaft und der mit Angelegenheiten der hebräischen Kultur befassten Gruppen auf, aus ihrer Mitte Vertreter zu bestimmen, die den Vertrieb von Anteilen an unserem Verlag und die Anwerbung von Lesern für unsere Bücher auf sich nehmen können.«27 Der kommerzielle Druck, unter dem die Verleger in Palästina standen, wurde zumindest psychologisch noch durch die Schwierigkeiten verstärkt, mit denen die Verlagsbranche in Europa zu kämpfen hatte. Die politischen Umwälzungen in Russland waren nur das erste Anzeichen einiger harten Jahre für die europäischen Verlage. Im November 1919 ließ Bialik Fichman folgende Nachricht zukommen: »›Moria‹ und ihre Eigentümer laufen auf dem nächsten Schiff nach Erez Israel aus […]. Der bolschewikische Sturm, der wenige Tage nach Deiner Abreise über unsere Köpfe hinwegfegt ist, hat auch ›Moria‹ einen nicht geringen Schaden zugefügt. Unser gesamter Papiervorrat wurde in Beschlag genommen, wir besitzen buchstäblich keine einzige Rolle Druckpapier mehr.«28 Vorläufig blieb Europa Mittelpunkt der hebräischen literarischen Tätigkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden dort einige hebräische Verlage, wie zum Beispiel »Omanut« und »Stybel« in Moskau (1917) sowie in Berlin »Dvir« (1921), »Aja25

Schreiben Ben-Avigdors an Jehuda Löb Lewin (Jehalel), 27. August 1909, CZA, A9–89(10). Vgl. Brief von Perlman an Sokolow, 13. März 1913, CZA, A18/12(4). Der durchschnittliche Wochenlohn im Deutschen Reich betrug im Jahre 1913 26,14 Reichsmark brutto, also 117,63 Reichsmark im Monat. Vgl. G. Bry, Wages in Germany, 1871–1945, Princeton 1960, 58. 27 Wochenspiegel (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 17. Dezember 1920, 24. 28 Bialik an Fichman, Odessa, 19. November 1919, »Gnasim«-Archiv, 4718/1. 26

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not« und »Rimon« (1922). Die Präferenz für Europa leitete sich in diesen Tagen hauptsächlich von folgenden drei Faktoren ab: die geografische Nähe zu den Konsumenten hebräischer Lektüre, von denen sich die Mehrzahl in Europa befand, das Vorhandensein von für jene Zeit fortschrittlichen Druckpressen sowie deren günstigeren Anschaffungskosten. In den Jahren 1923–24 begannen die Preise in Europa und Palästina etwa gleichzuziehen, sodass in Europa kein Kostenvorteil mehr gegeben war. Auch die galoppierende Inflation machte die Lage nicht besser und fügte zum Beispiel »Dvir« Anfang der 20er Jahre schweren finanziellen Schaden zu.29 Anderseits hatten die Verlage in Palästina mit einer Reihe technischer Probleme zu kämpfen. Neben dem kritischen Mangel an Drucklettern30 und der totalen Abhängigkeit von importiertem Papier und der Erzeugung von Klischees in Europa – zumindest bis knapp vor dem Ersten Weltkrieg – litten die Verlage in Palästina noch an anderen »Kinderkrankheiten«. Im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts waren lediglich drei Druckereien in Jaffa und eine weitere in Jerusalem in Betrieb. Jene deckten die geringen Bedürfnisse des Lesepublikums und besorgten darüber hinaus auch den Druck hebräischer Bücher, die für den Export in die Vereinigten Staaten und Europa bestimmt waren. Die Rentabilitätsschwelle befand sich bei 1.000 Exemplaren, welche somit die Berechnungsgrundlage für die Druckkosten darstellten. Diese Verkaufsziffer konnte jedoch in den seltensten Fällen erzielt werden.31 Dessen ungeachtet scheint es, dass die in Palästina herrschende Knappheit einer Fortsetzung der in Europa durch die wirtschaftliche Unsicherheit hervorgerufenen Verluste vorzuziehen war. 1924 stellte mit der Übersiedlung der großen hebräischen Verlage aus Europa nach Palästina einen Wendepunkt in der Geschichte dieser Branche dar. Wer in Europa blieb, bereute es alsbald. So erging es dem Verleger Abraham Josef Stybel, der später eingestand: »Hätte ich vor eineinhalb Jahren auf Herrn Lachower gehört, in den Anfangstagen der Krise in Polen, knapp vor der Emittierung der neuen Geldscheine, als er mir riet, weniger neue Bücher zu herzustellen oder die Produktion vorläufig bis zur Besserung der Lage ganz einzustellen, wären wir nicht in eine so schwere Situation geraten.«32 Tatsächlich gab es 1926 in Palästina schon dreiundzwanzig Verlagshäuser.33

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Shuali, Die Entstehung des hebräischen Verlagswesens (Anm. 6), 32–72. Über den Mangel an Lettern gibt ein – vermutlich 1923 verfasstes – Schreiben Jehuda Leib Appels, des Leiters der Druckerei von Jizhak Leib Goldberg, an Bialik Aufschluß: »Von unserem Freund, Herrn Goldberg, erfahre ich, daß Sie und Herr Rosenstein eine Fabrik zur Herstellung von Lettern hier im Lande zu errichten beabsichtigen. Das gerreicht mir zu großer Freude, da ich mir des herrschenden Mangels an solchen wohl bewußt bin […].« Es folgt eine Aufzählung der bei Goldberg vorhandenen und der fehlenden Lettern. Der Brief ist nur zum Teil erhalten und befindet sich im »Gnasim«-Archiv. 31 Shuali, Die Entstehung des hebräischen Verlagswesens (Anm. 6), 16. 32 A.J. Stybel, Die allgemeine Krise und die Krise des Buchmarktes im Lande, in: Davar, 26. Februar 1926. Zu den Angaben über Stybels Wirken und dessen Beurteilung siehe: D. Amichay-Michlin, Die Liebe A.J. Stybels (hebr.), Jerusalem 2000. 33 Z. Shavit, Das literarische Leben in Erez Israel 1910–1933 (hebr.), Tel Aviv 1983, 211. 30

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Bis und auch nach der Übersiedlung der hebräischsprachigen Verlags- und Übersetzungstätigkeit nach Palästina übten die kulturellen Ereignisse in Europa, vornehmlich die in Deutschland, weiterhin starken Einfluss auf die hebräischen Publizisten aus, ähnlich der Ausstrahlung der Haskala im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ein 1886 erschienener Artikel führt Vergleichsziffern für die allgemeine Literatur in verschiedenen europäischen Ländern an. Der (anonyme) Autor weiß zu berichten, dass in England die Publikation von Zeitschriften quantitativ am größten sei, in Deutschland jedoch die Zahl der Buchveröffentlichungen. Er spricht auch von einer in Deutschland zu beobachtenden Wandlung des Geschmacks, eine Verlagerung des Schwerpunkts von der reinen Philosophie zur angewandten Philosophie, Ethik und Soziologie.34 Ebensolche Aufmerksamkeit für die literarischen Entwicklungen in Deutschland seitens der hebräischen Intellektuellen bleibt auch in den nachfolgenden Jahren charakteristisch; Lakunen in der hebräischen Literatur füllten sich zu einem wesentlichen Teil mittels Werkübertragungen aus dem Deutschen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass das starke Bewusstsein für das Kulturleben im deutschen Sprachraum nicht nur eine Folge des langjährigen Interesses an den von dort ausgegangenen geistigen Strömungen war, sondern vor allem eine Folge der Blüte der deutschsprachigen Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts.

Erweiterung der Übersetzungskorpora

Das Geschehen am hebräischen Buchmarkt im Allgemeinen und in der übersetzerischen Tätigkeit im Besonderen läuft weitgehend parallel zur raschen Entwicklung des jüdischen Nationalismus ab dem späten 19. Jahrhundert. Der erstmals in kleinen Gruppen mittels Alija praktisch realisierte Zionismus wirkte sich unmittelbar auf den Buchmarkt aus. Von der Jahrhundertwende an entstanden eine Reihe neuer, größerer und stabilerer Verlagshäuser mit reichlicherem Programmangebot, darunter auch eine steigende Zahl Übersetzungen. Trotz dieser quantitativen Ausweitung des Buchmarktes und der Übersetzungen aus dem Deutschen sowie der Konsolidierung der Verlagsbranche ist die Verteilung der Neuerscheinungen über die Jahre recht uneinheitlich. In der ersten Phase erfolgte die Auswahl der Titel ähnlich wie in der früheren Periode vor 1881, das heißt, dem Bezug zu Juden und Judentum wurde als Element nationaler Eini34 Anonym, Allgemeine Literatur und neue Tendenzen (hebr.), in: Ha-assif 2 (1886), 33–35. Zudem führt der Artikel aus: »Überhaupt wurde die Weltliteratur im vergangenen Jahr um 18.000 Titel reicher, davon 3.000 Bücher über Religion, 2.500 über Geschichte (von denen die bedeutendsten in deutscher Sprache erschienen), 6.000 Erzählungen, Gedichte und Schauspiele (davon die hervorragendsten in französischer Sprache), 4.000 wissenschaftliche, vor allem naturwissenschaftliche Werke (die besten davon auf Englisch), der Rest auf verschiedenen Gebieten. In der in schönem Stil verfassten Literatur, der Poesie und im Drama zeichneten sich vor allem die romanischen und slawischen Völker aus, in der Wissenschafts- und Forschungsliteratur die Deutschen und Anglosachsen.«

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gung und Identitätsstiftung Vorrang eingeräumt. So legte dies der »Achiassaf«Verlag in einem redaktionellen Vorwort zur 1893 erschienenen Übersetzung des von der den Juden gegenüber positiv eingestellten englischen Schriftstellerin George Eliot verfassten Buches Daniel Deronda dar: Zwar hat das vorliegende Buch des Öfteren in der hebräischen Publizistik Erwähnung gefunden. Man hat sich bemüht, den hebräischen Lesern seine wesentlichen Inhalte nahezubringen und das Werk zu preisen, doch kann jemand, der es als solches nicht gelesen hat, es unmöglich erfassen. Es muss als Ganzes gelesen werden, hervorragend und wunderbar wie es ist, und von wesentlicher Bedeutung für das Volke Israel und seine Geschicke. Ein solcher Gehalt lässt sich nicht in wenigen Worten und kurzen Darstellungen zum Ausdruck bringen. Wer wird dem nicht beipflichten, dass ein solches Werk würdig ist, zum Wohle des hebräischen Lesers übertragen zu werden, ja übertragen werden muss?35

Doch nicht nur die Beziehung zum Judentum faszinierte die Verleger und Übersetzer. Von insgesamt 315 Übersetzungen aus dem Deutschen in den Jahren 1882 bis 1927 befassen sich 186 (etwa 59 Prozent) mit universell gültigen Themen; 114 (36 Prozent) betreffen jüdische Themen; 13 (vier Prozent) religiöse Themen, nicht unbedingt jüdischer Natur; zudem gibt es zwei Sammelwerke (0,6 Prozent), die jüdische und nichtjüdische Bereiche umfassen. Die Auswahl der Verlage und Übersetzer fiel insofern vornehmlich auf Werke universellen Charakters, jedoch räumten sie jenen mit jüdischem Bezug überproportional breiten Raum ein. Nur neun Titel waren Neuauflagen von Übersetzungen aus der Periode bis 1882. In den Jahren 1882 bis 1927 wurden 28 Bücher neu übersetzt und im Allgemeinen in zweiter Auflage, der keine weiteren folgten, neu auf den Markt gebracht; eine Ausnahme bildet Heinrich Graetz’ Geschichte der Juden in Übertragung durch Saul Pinchas Rabinowitz, die viermal neu gedruckt wurde. Ein Teil der in diesem Zeitraum erfolgten Übertragungen wurden später neu aufgelegt, während weitere 164 übersetzt wurden, ohne in dieser oder der nachfolgenden Periode bis zur Staatsgründung neu herausgegeben bzw. übertragen zu werden. Innerhalb der jeweiligen Kategorien der Bücher universellen bzw. jüdischen Charakters ergibt sich eine unterschiedliche Unterteilung. Die Mehrzahl der Werke allgemeinen Inhalts, nämlich 87 Bücher (47 Prozent), sind Kinder- und Jugendliteratur, weitere 41 (22 Prozent) gehören der Belletristik an. In der Gruppe der Werke jüdischen Charakters fallen 58 Bände (51 Prozent) in den Bereich der schönen Literatur, weitere 26 (23 Prozent) sind Geschichtsbücher (zwei davon speziell für Kinder bearbeitet). Diese Unterteilung in Themengruppen ist für die allgemeine Tendenz der Verlagsbranche in dieser Periode bezeichnend, die auf eine Erweiterung des Lesepublikums ausgerichtet zu sein scheint. In seinen Anfängen und vom Konzept her war das Verlagswesen in Anbetracht des limitierten Leserkreises ein weitge35 »An die Leser« (hebr.), G. Eliot, Daniel Deronda, 1. Teil, Übertragung von D. Frischmann, Warschau 1893, 1.

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hend ideologisches Anliegen; doch war es klar, dass sich mit der Rückkehr ins Land der Väter und der Wiedererweckung der hebräischen Sprache Möglichkeiten für eine Vergrößerung der Leserschaft eröffneten. Dies äußerte sich in einer größeren Anzahl von Neuerscheinungen, wobei verschiedenen Adressatenkreisen verstärktes Augenmerk gewidmet wurde. Sofern man aus den Übersetzungen aus dem Deutschen auf die allgemeine Markttendenz schließen kann, waren Kinder und Jugendliche, für die ein Drittel der in dieser Periode publizierten Bücher gedacht waren, die wichtigste Leserkategorie. Hier zahlte sich die Investition in der Annahme, dass die Schaffung entsprechender Lesegewohnheiten in hebräischer Sprache die Grundlage für den Konsum solcher Bücher auch in späteren Jahren bilden würde, in größerem Maße aus. Auch aus dem ideologischen Bestreben zur Vereinheitlichung der Verkehrssprache im Jischuw waren die jungen Leser das bevorzugte Zielpublikum. In der Tat beschäftigte die Frage der Jugendlektüre die Zeitgenossen, wie sich aus folgendem Zitat ersehen lässt: Die neuen Verlage, der große »Tuschija«-Verlag und der kleinere – für die breite Masse und die Jugend gedachte – »Moria«-Verlag, erfüllen ihre Aufgabe: Beide haben schon Dutzende Werke hervorgebracht […]. Auch »Moria«, der sich an Volk und Jugend wendet, und dessen Zielsetzungen so wichtig und notwendig sind, bedenkt man, dass es kaum anständiges und gesundes Lesematerial für unsere jungen Leser gibt, bringt – statt unseren üblichen Lesestoff mit großen Werken zu erweitern, wie Erter, Smolenskin, Broides, und anderen, die zwar eine umfangreiche Bearbeitung und Erweiterung erfordern – einfach noch und noch Exemplare auf dem Buchmarkt heraus […]. Wie es scheint, sind Innovation und künstlerisches Schaffen, auf welchem Gebiet auch immer, in einer Zeit der Arbeitslosigkeit und der nationalen Krise kein einfaches Unterfangen. Das mag erklären, warum sich der, noch vor den beiden eingangs erwähnten Verlagen, errichtete »Sifrut«Verlag, der sich neuen Werken widmet, so schwerfällig verhält.36

Die Herausgabe von »anständigem« und »gesundem« Material für junge Leser war in der Tat für die Verlags- und Übersetzungsbranche dieser Zeit ein vorrangiges Anliegen. Geschmacklich unterschieden sie sich von ihren Vorgängern; der Anteil des in der Vorperiode so populären Jugendschriftstellers Heinrich Joachim Campe wurde nun geringer. Von 1882 bis 1927 kamen nur weitere vier seiner Bücher in hebräischer Sprache heraus, die zum Teil dem hebräischen Leser bereits bekannt waren: Theophron (1882), Die Entdeckung von Amerika (1883) sowie Robinson der Jüngere in zwei Fassungen (1912 und 1920). Die neuen Stars der Kinderliteratur waren hingegen die Gebrüder Grimm, deren Sammlungen lange vor 1882 erschienen waren.37 Die Gründe dafür lagen ähnlich wie eine Generation davor im Falle Campes, dessen Idee von der Erziehung zu nationalen Werten unter Verwendung der Muttersprache den Auffassungen der jüdischen Aufklärer entsprach. Nunmehr, im Zeitalter der nationa36

Ben Shlomo, Bibliographie (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 12. April 1910, 15. Bekanntlich gilt die zweibändige Märchensammlung der Gebrüder Grimm als die erste systematische: Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, I-II, Berlin 1812–1815. 37

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len und damit auch sprachlichen Renaissance dienten die Gebrüder Grimm als Imitationsmodell, da auch sie zur Erneuerung einer tradierten Kultur wirkten, die letztendlich zur gemeinsamen Nationalkultur wurde. Zwischen 1894, dem Erscheinungsjahr des Märchens Der gläserne Sarg in der Übertragung Schlomo Bermanns und 1926, als bei »Dvir« zwei schmale, von David Frischmann übersetzte Märchenbände herauskamen, erschienen insgesamt 33 auf ihren Sammlungen beruhende Bücher und Hefte. Aufgrund der großen Zahl der Märchen und der Freiheit, die sich die Übersetzer bei ihrer Benennung im Hebräischen nahmen, ist die genaue Einteilung der erschienenen Einzeltitel in Neuübertragungen und Neuausgaben bereits vorher publizierter Werke schwer möglich. Ein anderer, in diesen Jahren häufig übersetzter Jugendautor war Wilhelm Hauff; bis 1927 erschienen – im Allgemeinen in der Übersetzung von Mosche Elijahu Žack – 15 seiner Werke, die auf sieben Originaltiteln, davon eine Märchensammlung, beruhen. Sieben Märchen in der Übersetzung Žacks kamen 1923–1924 in Berlin im Verlag »Et Liwnot « heraus. Das Märchen Die Geschichte von Kalif Storch, das 1923 von Žack übersetzt wurde, wurde schon einmal 1896 von Israel Benjamin Lebner übertragen und wurde in dieser Version noch weitere zwei Mal bei »Tuschija« herausgebracht. Auch das Märchen Die Geschichte von dem Gespensterschiff, das in anonymer Übersetzung in zwei Auflagen im »Omanut«-Verlag erschienen war, wurde zweimal – von Israel Elijahu Handelsaltz (Großvater des bekannten Theaterkritikers Michael Handelsaltz) sowie von Žack – neu übertragen. Einen besonderen Grund scheint diese Wahl nicht zu haben, sieht man von der Popularität Hauffs in deutscher Sprache einerseits und dem persönlichen beruflichen Fortkommens eines bestimmten hebräischen Übersetzers von Hauffs Werken andererseits ab. Eine zu jener Zeit sehr beliebte Jugendautorin pädagogischer Ausrichtung war Sarah Hirsch-Guggenheim, die ihre Werke unter dem Männernamen Friedrich Rott veröffentlichte. Ihre persönliche Lebensgeschichte ist faszinierend: Sie war die Tochter des Rabbiners und Schriftstellers Samson Raphael Hirsch, des Führers der neo-orthodoxen jüdischen Gemeinde in Deutschland und Herausgebers der Zeitschrift Jeschurun. Nach ihrer Heirat übersiedelte sie nach Ungarn, von dort nach Tschechien, und starb schließlich während eines Aufenthaltes in England. Die Beliebtheit ihrer Werke bei Verlegern und Übersetzern liegt auf der Hand; sie handelten zumeist vom Leben jüdischer Jugendlicher ihrer Generation und von ihrer Auseinandersetzung mit der Bewahrung ihrer Religion in einer nichtjüdischen Gesellschaft. Das Interesse an ihrem Werk war zunächst auf den in diesem Kapitel untersuchten Zeitraum begrenzt: sämtliche sechs Übersetzungen ihrer Werke ins Hebräische erschienen. Die Übersetzer waren Bluma Beinschowitz (Ruchamas Tochter, auch als Jakobina bekannt) sowie Israel Frumkin in Bezug auf die Erzählungen – Elsa, Heinrich Beer und Der Enkel.38 Die intensive Veröffentlichung zu ihren Lebzeiten und die völlige Einstel-

38 Obwohl in einigen Fällen Gad Frumkin als Übersetzer angeführt, scheint es sich jeweils um den Herausgeber von Chawazelet, Israel Dov Frumkin, zu handeln.

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lung nach ihrem Tode lässt auf besondere Beweggründe schließen, etwa die persönliche Bekanntschaft mit dem Übersetzer oder dem Verleger. Die anderen ins Hebräische übertragenen Werke der Kinder- und Jugendschriftsteller waren bei weitem nicht so populär. In der Regel wurden jeweils nur eines oder zwei ihrer Werke publiziert. Zu dieser Gruppe gehören Meir Marcus Lehmann, Ludwig Bechstein, Paula Dehmel, Irma Singer, Wilhelm Busch und Max Nordau. Jedenfalls war die Anzahl der in dieser Periode herausgebrachten Jugendbücher mit 105 sehr beachtlich, wobei sie sich auf eine relativ große Zahl von Autoren verteilen. Die übrigen zwei Drittel der bis 1927 übersetzten Werke betreffen eine Vielfalt an Themen: Belletristik (96 Bücher, etwa 30 Prozent aller Übertragungen dieser Periode),39 Geschichte und Dokumentation (38 Bücher, etwa 12 Prozent),40 Dramen (27 Bücher, fast 9 Prozent),41 Philosophie (13 Bücher, etwa vier Prozent), Sozialwissenschaften (12 Bücher, etwa vier Prozent),42 Tagesthemen (11 Bücher, 3,5 Prozent),43 Naturwissenschaften (8 Bücher, 2,5 Prozent)44 sowie weitere fünf Bücher sonstiger Kategorien.45 In Zeitschriften erschienen zur selben Zeit 230 auszugsweise Veröffentlichungen oder kurze Prosastücke, meist Belletristik. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass zentrale Werke der deutschen Kultur in Sammelbänden, vor allem des »Jefet«-Verlages, erschienen. In dieser Form wurden etwa Goethes Die Leiden des jungen Werthers und Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit herausgebracht. Ein wiederentdeckter Bereich in der Literaturübersetzung aus dem Deutschen war das Drama. Auch vor 1882 wurden Theaterstücke ins Hebräische übertragen, jedoch mangels Publikums ohne das Ziel, sie auf die Bühne zu bringen. Nunmehr wurden vier Stücke im Hinblick auf ihre tatsächliche Aufführung übertragen: Uriel Acosta von Karl Gutzkow, das 1905 in der Mädchenschule von Jaffa aufgeführt wurde;46 Der Ewige Jude des in Deutsch schreibenden holländi-

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Davon 87 Prosabände. 26 Bücher zur jüdischen Geschichte, sieben zur allgemeinen Geschichte, drei zur Geografie, eine Autobiografie und eine Dokumentation eines Briefwechsels. 41 Davon wurden nur vier aufgeführt. 42 Sechs Bücher im Bereich der Betriebswirtschaft, jeweils zwei Werke der Soziologie, der Psychologie und der Pädagogik. 43 Davon drei zum Thema Sozialismus. 44 Zwei Medizinbücher, je zwei auf dem Gebiet der Landwirtschaft und Naturkunde, je ein Buch im Bereich Physik bzw. Chemie. 45 Je ein Werk zum Thema Religion und Kunst, eine Aphorismensammlung und zwei Bände unklarer Zuordnung. Aus einer ähnlichen Untersuchung von Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische (beruhend auf einer alle fünf Jahre erfolgten Stichprobe aufgrund der Daten aus Bookseller in den Jahren 1890–1960) geht hervor, dass in etwa derselben Periode, nämlich 1905–1925, etwa 29 Prozent aller aus dem Deutschen vorgenommenen Übertragungen Werke der schönen Literatur, Dramen eingeschlossen, betrafen. Auf Biografien, Geschichte, Bibliografien und Kritiken entfielen etwa 18 Prozent. Siehe: A. Halkin, The Enemy Reviewed: German Literature through British Eyes, Dissertation, Tel Aviv University 1992, 68. 46 Das Drama wurde auch von Lehrern dieser Schule übertragen, die alle russischer Abstammung waren und es noch aus der alten Heimat kannten. Vgl. hierzu: M. Gnessin, Mein Weg mit dem he40

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schen Juden Hermann Heyermans, das 1917 auf Laienbühnen in Lodz und Zegrze aufgeführt wurde; Jaákobs Traum von Richard Beer-Hofmann, das 1925 im »Habima«-Theater in Moskau zur Aufführung gelangte sowie Fischer von Hermann Heyermans im »Ohel«-Theater 1925. Schillers Wilhelm Tell, wurde von Chaim Nachman Bialik übertragen und in einer Werksammlung 1926 veröffentlicht. Zu einer Aufführung kam es jedoch erst zehn Jahre später in der »Habima« in Tel Aviv. Auf den ersten Blick mag der Umstand, dass deutsche Dramen ins Hebräische übertragen wurden, erstaunlich scheinen, da das hebräische Theater als aus der russischen Theatertradition entsprungen gilt. Dessen ungeachtet übte das deutsche Theater auf das hebräische großen Einfluss aus, dies noch bevor deutsche Dramen das Theaterrepertoire im Jischuw zu dominieren begannen, wie es in den zwei Jahrzehnten vor der Staatsgründung der Fall war. Das Gründungskonzept der »Habima«, des ersten hebräischen Repertoiretheaters, war Ausdruck der nationalen Erneuerungsbestrebungen. Von seinen ersten Schauspielern forderte der Regisseur Konstantin Stanislawski statt künstlicher Bühnensprache den Gebrauch einer lebendigen Sprache.47 Schon zur Moskauer Zeit fanden über den in seinen Arbeitsmethoden dem bekannten Wiener Regisseur Max Reinhardt nahestehenden Regisseur I.B. Wachtangov Einflüsse aus dem deutschen Raum in die »Habima« Eingang. Später, in den 20er Jahren, als die Theaterleute der »Habima« mit deutschen Regisseuren in Berührung kamen und mit Leopold Jessner und Leopold Lindtberg zusammenarbeiteten, standen sie unter noch stärkerer Einwirkung des deutschen Bühnenrealismus, blieben jedoch im Wesentlichen der russischen Schule verhaftet.48 Auch die Gastspiele der beiden großen hebräischen Theater dieser Zeit, der »Habima« und des »Erez-IsraelTheaters«, in Berlin und Wien Mitte der 20er Jahre brachten zentraleuropäische Einflüsse zur Geltung.49 Nach wenigen Jahren wurde sich der Begründer des »Ohel«-Theaters, Mosche Halevy, dieses Naheverhältnisses zur deutschen Bühne, seiner anhaltenden Bedeutung und seiner Differenzierung vom russischen Theater bewusst, unter Anerkennung »noch anderer Propheten neben Wachtengov und Stanislawski an der Spitze des Theaterolymps«.50 Die Repertoirewahl drückte die Nähe des hebräischen Theaters zur deutschen Kultur am deutlichsten aus. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der »Habima«-Aufführungen beruhte auf ursprünglich deutschsprachigen Dramen. Hierbei vertraten die Theaterleute einen noch extremeren Standpunkt als die Verlegerbranche, bräischen Theater, 1905–1926 (hebr.), Tel Aviv 1946, 15. Dieses Stück wurde auch vor den Teilnehmern des 11. Zionistischen Kongresses (1913) von Julius Adler und seinem Ensemble aufgeführt. Siehe J. Kamin, Dinge, wie ihr sie erlebt habt, in: I. Norman (Hg.), Der Beginn der »Habima«: Nachum Zemach, Begründer der »Habima« in Vision und Tat (hebr.), Jerusalem 1966, 230. 47 N. Fulton-Dan, Stanislawskis Ruhm: Unterschiedliche Einstellungen zur Stanislawskischen Tradition im hebräischen Theater (hebr.), Magisterarbeit, Tel Aviv University 1984, 43 f. 48 G. Hanoch, 25 Jahre »Habima«: Kapitel ihrer Geschichte (hebr.), Tel Aviv 1946, 30–32. 49 Leshem, Theater im jüdischen Palästina (Anm. 111, 1. Kap.), 8–18; E. Levy, Geschichte des »Habima«-Nationaltheaters 1917–1979 (hebr.), Tel Aviv 1981, 99 f. 50 M. Halevy, Mein Weg auf der Bühne (hebr.), Tel Aviv 1955, 80 f.

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die übersetztem Schrifttum jüdischen Charakters einen wesentlichen Platz einräumte; in der »Habima« wurden ausschließlich Dramen nationalen oder biblischen Inhalts aufgeführt. 1924 wurden die Rechte für zwei Dramen österreichisch-jüdischer Autoren erworben: Jakobs Traum von Richard Beer-Hofmann sowie Jeremias von Stefan Zweig; letzteres wurde allerdings erst im Jahre 1929 im »Ohel«-Theater auf die Bühne gebracht.51 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass die Orientierung auf jüdische Themen gerade in der Verwendung assimilierter jüdischer Autoren zum Ausdruck kam, deren Motive keineswegs den von den hebräischen Theaterleuten vertretenen nationalen Ideen entsprachen. Ähnliche Ankäufe waren auch für das hebräische Theaterrepertoire der beiden nachfolgenden Jahrzehnte bis zur Gründung des Staates Israel charakteristisch, wenngleich die jeweiligen Autoren in den 30er und 40er Jahren eher zu jenen gehörten, die zum Judentum zurückgekehrt waren. Die beträchtliche Vergrößerung des Angebots an übersetzter Lektüre aller Genres geht mit einem enormen Anwachsen in der Zahl der deutschsprachigen Autoren einher. Bis 1927 wurden Werke von 119 deutschsprachigen Schriftstellem übertragen,52 davon nur 18, die bereits vor 1881 ins Hebräische übersetzt worden waren; kurze Texte dreier weiterer deutscher Autoren erschienen in Zeitschriften. Insgesamt also erweiterte sich zwischen 1882 bis 1927 die Zahl der ins Hebräische übertragenen Autoren um 98. Die Überprüfung ihrer Religionszugehörigkeit zeigt ähnlich wie in der Vorperiode, dass etwas mehr als die Hälfte Christen waren. Der Anteil der jüdischen Schriftsteller war somit weiterhin unproportional hoch. Auf die Gesamttitel bezogen waren 56 Autoren Nichtjuden, davon zehn, die bereits vor 1881 übersetzt worden waren; 45 Juden, von denen sieben bereits in der Vorperiode im Hebräischen erschienen waren; vier waren Konvertiten, weitere 14 von unbestimmter Religionszugehörigkeit, davon ein Autor, der auch vor 1881 übersetzt worden war. Neu an der Art der Autorenwahl war nicht nur die größere Experimentierfreudigkeit, die sich darin äußerte, dass von 71 Schriftstellern, einem Großteil also, jeweils nur ein Werk übertragen wurde.53 Innovativ war auch die auszugsweise Publizierung von Texten weiterer 30 Schriftsteller in Zeitschriften, ohne, dass ihre Werke in voller Länge auf Hebräisch erschienen. Diese nur auf Zeitschriften beschränkte Form der Veröffentlichung setzte mit großer Deutlichkeit gegen 1920 ein. Die Texte von 14 Autoren erschienen jedoch in der darauffolgenden Periode, den zwei der Staatsgründung vorausgehenden Jahrzehnten, in Buchform. Zeitschriften dienten somit als Experimentierfeld: Die Leserschaft lernte durch dieses Medium neue Autoren und bislang nicht vertraute Stilrichtungen kennen, Übersetzer übten sich an der Bearbeitung von für sie neuen Autoren, die Verleger hatten einen Maßstab für die Bemessung ihrer Popularität 51 Vgl. zum Ankauf der Aufführungsrechte ebd., 82. Zur Präferenz für biblische Themen siehe Levy, Geschichte des »Habima« (Anm. 49), 51–53. 52 Kurze Texte von 26 Autoren aus dieser Gruppe wurden auch in Zeitschriften publiziert. Weitere 30 Autoren wurden nur in Zeitschriften abgedruckt. 53 Davon wurden sechs Autoren bereits in der Vorperiode ins Hebräische übertragen.

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beim Publikum – dies über die Rolle hinaus, die die Zeitschriften als Rahmen für die Diskussion aktueller Fragen innerhalb des Jischuw und der Diasporagemeinden spielten.54 Von allen aus dem Deutschen übertragenen Büchern, seien es jüdische oder nichtjüdische Autoren – von den bereits erwähnten Kinderbuchautoren abgesehen –, waren die Werke Meir Marcus Lehmanns die populärsten. Obgleich sich diese mehrheitlich mit der jüdischen Geschichte befassen, können sie doch der Belletristik zugeordnet werden, da sie eher literarischen als wissenschaftlichen Charakter haben. Lehmanns Publikum bestand aus Erwachsenen und Jugendlichen, zudem erschienen von den zwei Erzählungen Bustenai und Das Licht der Diaspora spezielle Bearbeitungen für Kinder. Lehmann, von dem im Hebräischen in der Periode vor 1881 sieben Bücher erschienen waren, erfreute sich sowohl zu Lebzeiten als auch nach seinem Tode großer Beliebtheit. Zwischen 1882 und 1927 wurden von seinen Werken 25, auf 13 deutschsprachigen Originaltiteln beruhende, auf Hebräisch gedruckt. Manche, wie Bustenai und Rabbi Elchanan, waren noch vor 1882 erstmals übersetzt worden. Von Bustenai erschienen in der Jugendfassung zwei Auflagen: Der Fürst Coucy erschien zweimal in verschiedenen Übertragungen, Der königliche Resident wurde sechsmal aufgelegt, allesamt in der Übertragung von Abraham Zuckermann, der auch selbst der Verleger von fünf Auflagen war, Das Licht der Diaspora, erschien zweimal, davon einmal in einer Bearbeitung für Kinder, Des Königs Eidam wurde zweimal übersetzt, eine der Fassungen wurde dreimal aufgelegt. Auch die Werke Ludwig Philippsons, die noch vor 1882 auf Hebräisch herauskamen, standen immer wieder im Blickpunkt von Übersetzern und Verlagen. Elf, auf zehn Originaltiteln beruhende Bücher gelangten in diesem Zeitraum in den Druck. Zwei davon – Ezra der Schriftgelehrte und Jacob Tirado – waren schon früher auf Hebräisch bekannt. Das Kinderbuch Der Mann mit dem steinernen Herz, in einer Übertragung von Pessach Kaplan, wurde zweimal aufgelegt. In Zeitschriften erschienen darüber hinaus in dieser Periode sieben Auszüge aus Philippsons Werken. Wie auch in der Vorperiode ist seine Wahl wohl durch seinen hohen Bekanntheitsgrad unter der jüdischen Leserschaft und seiner Anerkennung als einer der ersten Autoren, die der jüdischen Jugend säkulares Schrifttum in hebräischer Sprache nahebrachten, zu erklären. Ein weiterer deutsch-jüdischer Autor, der in dieser Periode ins Hebräische übertragen wurde, war Berthold (Moses-Baruch) Auerbach, der Verfasser von teilweise für Kinder und Jugendliche gedachten Dorfgeschichten aus der Schwarzwaldregion. Auerbach war es nicht vergönnt, das Erscheinen dieser Übersetzungen zu erleben; alle sechs Bände, die vor der Staatsgründung in hebräischer Übertragung gedruckt wurden, erschienen zwischen 1898 und 1925. Zwischen dem Erscheinen des Originals und der jeweiligen Übersetzung lag ein großer zeitliche Abstand: Der 1837 auf Deutsch erschienene Roman Spinoza

54 Vgl. hierzu relevante Kommentare von Shedletzky, Literaturdiskussion und Belletristik (Anm. 6, Einleitung).

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wurde von Tuvia Pessach Shapira übertragen und erschien zweimal auf Hebräisch, 1898 und 1917; die Erzählung Dichter und Händler wurde im Jahre 1894 in hebräischer Sprache gedruckt, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Erstpublikation des Originals im Jahre 1840; Barfüßele: Eine Schwarzwälder Dorfgeschichte erschien 1856 auf Deutsch, 1922 in hebräischer Übertragung; Drei einzige Töchter, 1846 in Deutschland erstmals verlegt, wurde zweimal ins Hebräische übertragen, 1899 durch Aharon Liboschitzky sowie 1925 durch Daniel Persky. Warum es zu einer Konzentration der Veröffentlichung von Auerbachs Werken innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums kam, ist nicht eindeutig feststellbar. Sein Lebenslauf als Sohn einer Händlerfamilie aus Nordstetten, der an den Universitäten von Tübingen und Heidelberg Theologie und Philosophie studierte, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Biografie anderer deutsch-jüdischer Autoren. Es verwundert nicht, dass er aufgrund seines Judentums, vielleicht aber auch wegen seines Renommees als einer der ersten Autoren, die sich der literarischen Schilderung des dörflichen Lebens in Deutschland widmeten, übersetzt wurde. Unklar ist jedoch, warum die Verleger und Übersetzer ihn erst verhältnismäßig spät entdeckten, und weshalb das Interesse an seinem Werk wieder abbrach. In Zeitschriften erschienen von ihm (in Ha-assif, 1886) eine Ghettogeschichte und (in Moledet, 1920) eine Erzählung für Kinder. Große Popularität genossen in dieser Periode die Schriften Theodor Herzls, des »Visionärs des Judenstaates«. Dass seine Werke einer Übertragung ins Hebräische bedurften, liegt auf der Hand, war er es doch, der die Notwendigkeit, den Juden eine Heimstätte zu begründen, klar postulierte. Naturgemäß befassen sich viele der übersetzten Schriften mit dieser Frage. Gleichzeitig war Herzl als Journalist und Feuilletonist der Neuen Freien Presse den Juden Mitteleuropas nicht nur als Vater des Zionismus, sondern auch als pointierter Publizist bekannt. 15 seiner Werke erschienen in den Jahren 1896 bis 1927 auf Hebräisch. Drei davon – das Schauspiel Das neue Ghetto, Feuilletons (in einer Bearbeitung für Kinder) und Der Judenstaat, der 1896 parallel zu seinem Erscheinen in deutscher Sprache ins Hebräische übertragen wurde – wurden mehrmals, insgesamt in sieben Bänden, aufgelegt. Zudem erschienen auf Hebräisch einige Aufsatzsammlungen unter den folgenden Titeln: Gesammelte zionistische Werke des Dr. Theodor Herzl, Herzls gesammelte Schriften, Der Baseler Congreß, Kongreßreden, sowie Gesammelte Aussprüche. Weitere in diesen Jahren erschienene Werke umfassten (nachstehend die hebräischen Titel in Rückübersetzung) Tel Aviv (entspricht Altneuland)55 sowie Herzls Reise nach Erez Israel (beruhend auf einem

55 Weiteres Material zu den Urheberrechten dieser Übersetzung enthält ein Schreiben des »Achiassaf«-Verlages an Nachum Sokolow: »Vor einigen Tagen hat sich unser Freund, Herr Jizhak Grünbaum, mit dem Vorschlag an Sie gewandt, uns die Rechte zum Abdruck des Buches Tel Aviv (Altneuland) von Herzl in Ihrer Übertragung als Teil von Herzls Gesammelten Schriften zu übertragen; in der Herausgabe letzterer sind wir derzeit begriffen, wobei zwei Bände schon erschienen sind und ein weiterer in Kürze publiziert wird [. . .]. Mit dem genannten Vorschlage haben wir uns an Sie gewandt, auf daß im Rahmen der Veröffentlichung der gesammelten Herzlschen Schriften, der zionistischen wie auch der allgemeinen, in hebräischer Sprache, auch Ihre Übersetzungsarbeit nicht verlo-

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Reise ins Heilige Land betitelten Brief Herzls an die »Chowewej Zion«). Naturgemäß wurden diese und andere Schriften Herzls auch in späteren Perioden übersetzt. Bis 1927 erschien von ihm in hebräischen Zeitschriften ein weiteres Drama, Solon in Lydien, erstmals im Jahre 1900 in der von Sokolow herausgegebenen Ha-zefira, in Sokolows eigener Übersetzung, sodann 1923 in Ha-kochaw in einer Übertragung von A. Metropolitansky. Wie zu ersehen ist, handelte es sich bei den in hebräischer Sprache erschienenen Werken Herzls fast ausnahmslos um solche, die sich mit Judentum und Zionismus auseinandersetzten, während der hebräische Leser mit seinem Talent als Feuilletonist allgemeiner Sujets praktisch kaum in Berührung kam. Ein weiterer führender Zionist, der nicht nur seiner politischen Auffassungen, sondern auch aufgrund seines schriftstellerischen Werkes der hebräischen Leserschaft bekannt war, war Max Nordau. Wie auch Herzl wurde er in Budapest geboren und im Geiste der deutschen Kultur erzogen;56 auch er lebte in Paris, bevor er sich dem Zionismus zuwandte. Das erste seiner ins Hebräische übersetzten Werke, Paradoxe (1900), war im deutschen Original gut angekommen und den jüdischen Lesern in deutscher Sprache bekannt.57 Später erschienen einzeln mehrere Märchen, zumeist aus seinen für seine Tochter verfassen Märchen an Maxa, unter anderem Die Nacht des Grauens, Der Rosenstrauch, Die goldene Nuss, Bruder und Schwester (so die hebräischen Titel). Bei den jüdischen Geschichtsbüchern Heinrich Graetz’, die bereits vor 1882 übersetzt wurden, und Martin Philippsons, dem Sohn des Schriftsteller Ludwig Philippson, war das offensichtliche Auswahlkriterium die jüdische Abstammung der Verfasser und die hebräisch-nationale Ausrichtung ihres Werkes. Von jedem dieser beiden Autoren wurde jeweils ein Werk übertragen, dies jedoch in mehreren Fassungen und Auflagen. Von Graetz’ Werk über die Geschichte der Juden liegen drei Übersetzungen vor, die von Saul Pinchas Rabinowitz, Nachum Sokolow und Joseph Elijahu Triwusch stammen. Philippsons Werk wurde in dieser Periode sechsmal aufgelegt: viermal unter dem Titel Neueste Geschichte

rengehen möge, so daß wir auch das Buch Altneuland nochmals übertragen müßten. Jedoch sind wir auch jetzt selbstredend bereit und willig, Sie entsprechend zu entlohnen.« »Achiassaf«, Warschau, an Sokolow, Karlsbad, 28. September 1922, CZA, A18/8. Sokolows Antwort befindet sich nicht im Archiv, doch ist bekannt, dass eine weitere Übertragung von Altneuland durch Dov Kimchi 1938 im »Nioman«-Verlag erschien. 56 So etwa maß Nordau der körperlichen Ertüchtigung durch Kraftsport großen Wert bei, wie sie damals in Deutschland in den Sportvereinigungen gepflegt wurde, wobei physische Betätigung mit nationalistischem Geiste einherging. Diese, nicht in geringem Maße aus der im deutschsprachigen Raum propagierten Kraftkultur entsprungene Auffassung findet in seinem Aufsatz »Muskeljudentum« deutlichen Ausdruck: »Unsere neuen Muskeljuden haben noch nicht die Heldenhaftigkeit der Vorfahren wiedergelernt, die sich massenhaft in die Arena drängten, den Kampfspielen teilzunehmen und sich mit den geschulten hellenischen Athleten und den kraftvollen nordischen Barbaren zu messen.« Vgl. M. Nordau, Zionistische Schriften, Berlin 1923, 425–426. 57 Auch sein Buch Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (Leipzig 1883), das im Rahmen seiner gesammelten Schriften auf Hebräisch erschien, war den gebildeten jüdischen Jugendlichen in Deutschland gut bekannt. Vgl. Gronemann, Erinnerungen eines »Jeckes« (Anm. 34, 1. Kap.), 124.

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des jüdischen Volkes in Warschau, zweimal unter einem ähnlichen Titel in Wilna; das Buch erschien in späterer Folge ein weiteres Mal im Jahre 1944 in der Übertragung von Menachem Salman Wolfovsky. Die vielfachen Auflagen und Fassungen der Geschichtswerke Graetz’ und Philippsons bezeugen den lebhaften Wunsch, sich als Teil des nationalen Erneuerungsprozesses nicht nur auf eine biblische Vergangenheit und eine Vision der Zukunft, sondern auch auf historische Ereignisse berufen zu können. Darüber suchten die Verleger und Übersetzer zweifellos auch das Fehlen einer jüdischen Historiografie auszufüllen. Auch die Übersetzung literarischer und philosophischer Texte, die das jüdische Volk zum Gegenstand hatten, entsprach demselben Zweck. So kam es in der hier besprochenen Periode zu weiteren Übertragungen ausgewählter Schriften Gotthold Ephraim Lessings, obschon das Interesse an seinem Werk nunmehr geringer war. Fünf auf Lessings Werken basierende Bücher wurden in dieser Zeitspanne auf Hebräisch herausgegeben: Der Freigeist, Miss Sara Samson, Die Juden – letzteres war bereits in der Vorperiode in zwei verschiedenen Fassungen erscheinen – sowie zwei Bände Fabeln und Erzählungen. Allen diesen Werken waren jüdische Themen gemein; wenn auch das Aufkommen der zionistischen Ideen, die explizit auf einem, gelegentlich sogar militanten jüdischen Nationalismus basierten, das Interesse an dem Toleranzdenken Lessings nicht ganz einschränkte, so schien es doch im Vergleich zur Vorperiode, als Lessing zu den populärsten unter den ins Hebräische übertragenen Autoren zählte, gemindert. Neben den in voller Länge übertragenen Werken erschienen Aphorismen Lessings 1885 in der Zeitschrift Ha-assif, und ein Ausschnitt aus Nathan der Weise in einem vom Übersetzer Schimon Bacharach unter dem Titel Scha‘ar Schimon herausgegebenen Band. Die Popularität Friedrich Schillers, der im 19. Jahrhundert in den Augen der Juden der deutsche Klassiker schlechthin war, ging viel deutlicher zurück. Zwar erschienen in Sammelwerken 26 Texte von Schiller, darunter einige Gedichtsammlungen sowie ein Drama im Volltext, Wilhelm Tell in der Übertragung von Bialik. Doch nur sechs Bücher kamen in dieser Periode auf Hebräisch heraus, davon zwei Neuauflagen früherer Übertragungen: Don Carlos, Infant von Spanien und Wilhelm Tell in der Übersetzung David Rodners. Wilhelm Tell wurde 1924 von S. Ben-Zion neu übertragen.58 Zudem erschienen in dieser Periode Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, Maria Stuart und Im Judenstaat der Chasaren. Warum das Interesse der Verleger und Übersetzer an Schiller ab-

58 Die Übertragung S. Ben-Zions erschien im »Omanut«-Verlag, obschon die Übersetzung ursprünglich im August 1920 vom »Stybel«-Verlag in Auftrag gegeben worden war. Ein Jahr danach wurde dem Verleger zu seiner Bestürzung bekannt, dass auch Bialik an einer Übersetzung arbeitete. Folgender Brief erging an einen gewissen Cohen (offensichtlich Yakov Cohen): »Wie Sie wissen, haben wir von S. Ben-Zion die Übertragung von Wilhelm Tell angekauft. Nun lese ich gestern in Ha’aretz, daß Bialik Wilhelm Tell übersetzt hat. Die Vorbereitungen für den Druck unserer Fassung sind schon im Gange. Was soll nun geschehen?«. Der Schriftwechsel zwischen dem »Stybel«-Verlag und Ben-Zion, auf den mich dankenswerterweise Dania Amichay-Michlin aufmerksam machte, befindet sich im »Gnasim«-Archiv.

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nahm, lässt sich nicht eindeutig sagen. Vielleicht musste er anderen, nunmehr populäreren Autoren den Platz räumen. Es mag auch sein, dass gerade die Möglichkeit, ihn wirklich in hebräischer Sprache zu spielen, Schillers Werke, denen auf der hebräischen Bühne nie großer Erfolg beschieden war, ins Abseits drängte. Hingegen erneuerte sich das Interesse an Heinrich Heine, auf den die hebräischen Verleger und Übersetzer erst relativ spät aufmerksam geworden waren. Acht Bände, beruhend auf sechs deutschen Originaltiteln, erschienen auf Hebräisch. Als erstes kam 1886 in der Übertragung von Schlomo Salman Luria ein der jüdischen Geschichte gewidmetes Werk heraus, Jehuda ben Halevy. Eine Neuauflage erschien im Jahre 1923. Ein weitere Version stammt aus dem Jahre 1897. Weitere Heine-Übertragungen erschienen unter den Titeln Ausgewählte Schriften, Die Nordsee, Die Harzreise, Das Buch der Lieder und Lieder. Auch in Sammelwerken wird mit dem Erscheinen von 57 Werkauszügen das große, in dieser Periode Heine zuteil werdende, Interesse offenkundig. Namentlich in den Jahrbüchern Luach Achiassaf handelte es sich jeweils um Zusammenstellungen von etwa einem Dutzend Gedichten. Es ist durchaus denkbar, dass die Übersetzer dieser Periode, die bereits über größere Übung und einen reicheren und flexibleren hebräischen Wortschatz verfügten, nunmehr in Heine eine interessante Herausforderung sahen, während, wie erwähnt, in der Vorperiode die noch unzureichend entwickelten Sprachformen des Hebräischen ein Hindernis in der Auseinandersetzung mit diesem komplexen Dichter dargestellt hatten. Auch Johann Wolfgang von Goethe genoss in dieser Periode große Popularität unter Verlegern und Übersetzern. Damals erschienen Hermann und Dorothea – in zwei Auflagen –, Iphigenie auf Tauris sowie Torquato Tasso. Hingegen wurde keines seiner Dramen auf Hebräisch aufgeführt. Darüber hinaus wurden weitere 25 Goethe-Exzerpte abgedruckt, unter anderem Die Leiden des jungen Werthers (1911) und Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1912). Im Gegensatz zur intensiven Übertragung der deutschen Klassiker vor 1881 ist für den vorliegenden Zeitraum die Übersetzung erfolgreicher zeitgenössischer Schriftsteller des deutschsprachigen Raumes charakteristisch.59 Im Grunde genommen setzte sich damit die bereits früher von Verlegern und Übersetzern verfolgte Linie fort, insofern, als diese bemüht waren, die jeweils beliebtesten Dichter der Epoche herauszubringen.

59 Nennenswert ist in diesem Kontext die Bemerkung Friedrich Nietzsches in Der Fall Wagner von 1888, der dem Aufsatz Die Wagner-Affäre entspricht: »Man kennt das Schicksal Goethes im moralinsauren altjungfernhaften Deutschland. Er war den Deutschen immer anstößig, er hat ehrliche Bewunderer nur unter Jüdinnen gehabt. Schiller, der ›edle‹ Schiller, der ihnen mit großen Worten um die Ohren schlug, – der war nach ihrem Herzen«. F. Nietzsche, Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1888, Leipzig 1895, 19. Bemerkenswert ist auch die von ihm vertretene Meinung, dass sich in Heines Rafinesse etwas von Mendelssohns geistigem Weitblick wiederfinde, das – wenn auch mit zeitlicher Verzögerung – bei den Juden gefallen fände. Vgl. S. Meisels, Heine im Hebräischen, in: Ost und West 7 (1907), 779–788.

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Hier sind namentlich zwei Schriftsteller jüdischer Abstammung, Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann, zu nennen. Vier Werke des als einer der Redakteure der satirischen Wiener Zeitschrift Simplicissimus fungierenden Wassermanns wurden in dieser Periode übertragen, darunter Die Schwestern in zwei Auflagen. 1913 erschienen Wassermanns Die Juden von Zirndorf in zwei von Uri Nissan Gnessin übertragenen Bänden, von denen der eine mit dem Original gleichlautend war, der andere den Titel In den Tagen Schabbtai Zwis trug. Dass der Geschichte des falschen Messias ein separater Band gewidmet war, lässt sich wohl mit der Bedeutung dieser Episode für die jüdische Geschichte erklären.60 Ein Jahrzehnt später kam auf Hebräisch auch Alexander in Babylon in einer Übersetzung von Abraham Leib Jakobowitsch (Akavia), von dem auch die hebräische Fassung von Die Schwestern stammte, heraus. Von Schnitzlers Werken wurden zu dieser Zeit drei übersetzt. Davon erschien Sterben in der Übersetzung Jakobowitschs in zwei Auflagen; vom selben Übersetzer stammte auch die im Jahre 1922, ein Jahrzehnt nach dem deutschen Original, erschienene hebräische Fassung von Professor Bernhardi. Bereits drei Jahre nach Erscheinen des Originals kam das Drama Fräulein Else auf Hebräisch heraus. Es lässt sich schwer beurteilen, ob die Entscheidung, diese beiden Autoren zu übersetzen, nur oder hauptsächlich auf ihrer jüdischen Abstammung beruhte. Jedenfalls galten beide im deutschsprachigen Raum als sehr erfolgreiche Dichter, obschon sie den Gipfel ihres Ruhmes erst später, um das Jahr 1928, erreichten.61 Zwei weitere renommierte deutsche Dichter, die auf Hebräisch erschienen, waren Gerhart Hauptmann und Richard Beer-Hofmann. Im Falle Beer-Hofmanns, von dem das Bibeldrama Jaákobs Traum 1925, sieben Jahre nach der deutschen Urfassung, auf Hebräisch herausgebracht wurde, mag auch dessen jüdische Abstammung eine Rolle gespielt haben. Von Hauptmann kam als hebräisches Einzelwerk lediglich im Jahre 1923, fünf Jahre nach Erscheinen des Originals in deutscher Sprache, Der Ketzer von Soana heraus. In den »Jefet«-Sammlungen erschienen jedoch auch die Werke Michael Kramer (1911), Einsame Menschen (1912 – dem Jahr, in dem an Hauptmann der Nobelpreis verliehen wurde), Fuhrmann Henschel (1913 sowie in Neuauflage 1944) in der Übertragung des 1881 in der Ukraine geborenen Josef Chaim Brenners.62

60

Ich danke Itta Shedletzky für diesen Hinweis. Die diese beiden Autoren betreffenden Umsatzziffern sind zu entnehmen: Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik (Anm. 8), 37 f. (Wassermann) und 84 f. (Schnitzler). 62 Bemerkenswert ist das große Interesse an Karl Emil Franzos in den zwei letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts; seine Bekanntheit beruhte wohl auf seinem publizistischen Wirken bei der Neuen Freien Presse und der Wiener Illustrierten Zeitung. Übersetzungen von Franzos’ Werken erschienen vor allem in Zeitschriften, auch wurden zwei seiner Bücher ins Hebräische übertragen. 61

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Vom Deutschen ins Hebräische: Der Weg über Osteuropa Dass praktisch alle hebräischen Hauptmann-Übersetzungen von Brenner stammten, indiziert die allgemeine Tendenz einer wachsenden Spezialisierung der Übersetzer auf ein bestimmtes Gebiet, gelegentlich auch, wie im Falle Brenners, auf einen bestimmten Autor. Das quantitative Anwachsen der übersetzten Titel, die größere Themenvielfalt und die vermehrte Zahl der übersetzten Schriftsteller brachten es auch mit sich, dass es wesentlich mehr Übersetzer gab. In der Zeitspanne zwischen 1882 und 1927 übertrugen 71 Übersetzer jeweils ein Buch ins Hebräische, 54 Übersetzer übertrugen mehr als ein Buch, über weitere 20 Bände sind keine Angaben vorhanden.63 Ein maßgeblicher Teil der Übersetzer, vornehmlich solche, die allgemein das hebräische Kulturleben dominierten, stammten aus Osteuropa. Ihre hegemoniale Stellung im deutsch-hebräischen Literaturtransfer lässt sich mit dem tiefgreifenden Einfluss der deutschen Kultur auf Osteuropa im Allgemeinen und auf die osteuropäische Judenheit im Besonderen erklären; ebenso relevant ist der Umstand, dass die Ostjuden die wichtigsten Träger der hebräischen Kultur außerhalb Palästinas waren. Zwei Übersetzer bedürfen besonderer Würdigung: Schlomo Bermann und David Frischmann. Die sich über lange Jahre erstreckende übersetzerische Tätigkeit des 1860 in Polen geborenen Frischmanns umfasste eine Vielfalt von Bereichen. Insgesamt übertrug er 11 Bücher, davon wurden Herzls Feuilletons im untersuchten Zeitraum dreimal aufgelegt, Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm zweimal. Die Verfasser der von ihm übertragenen Werke waren einem Großteil der hebräischen Leserschaft bekannt, wie Heine, Nietzsche und Nordau sowie Friedrich Spielhagen, der deutsche Schriftsteller und Kritiker und einer der Begründer des deutschen Gesellschaftsromans, dessen Werke auch außerhalb Deutschlands große Verbreitung fanden. Zudem übertrug Brenner Schriften des österreichischen Historikers und Anthropologen Heinrich Schumacher und des deutsch-jüdischen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Rudolf Borchardt ins Hebräische. Die Arbeitsweise des 1857 geborenen, aus Russland stammenden Bermanns war diametral entgegengesetzt: Er widmete sich fast ausschließlich der Übertragung der Märchen der Gebrüder Grimm in ein biblisch anmutendes Hebräisch. 16 Bände, teilweise Sammlungen einiger Märchenerzählungen, waren das Ergebnis dieser Arbeit; zwei der Sammlungen unter den hebräischen Titeln Der getreue Johannes und Die wahre Braut, wurden jeweils zweimal aufgelegt. Eine einzige Übersetzung Bermanns – Lehmanns Der verlorene Sohn – stammte nicht von den Gebrüdern Grimm. In ähnlicher Weise spezialisierten sich auch andere Übersetzer auf jeweils einen Autor. Besonders auffällig ist dies in der Kinderliteratur, was sich mögli63 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges errichtete das »Misrad Haerez-Israeli« eine Kommission für Übersetzungsangelegenheiten, deren Aufgabe die Autorenförderung sein sollte. Diese stellte jedoch ihre Tätigkeit mangels Mittel für die Finanzierung der Übersetzungsarbeiten nach Kriegsende ein.

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cherweise durch die für Kindergeschichten im Allgemeinen charakteristische Kürze erklären lässt, wodurch sie für Anfänger in der Übersetzerbranche besonders geeignet sind. Der aus Litauen stammende und 1887 geborene Mosche Elijahu Žack übertrug in den Jahren 1923–1924 sieben Werke von Wilhelm Hauff, darunter einige Sagensammlungen, sowie ein von Charitas Bischoff verfasstes Buch. Der 1879 in Weißrussland geborene Shmuel Chaim Berkuz übersetzte fünf Kinderbücher von Peter Rosegger, den Gebrüdern Grimm64 und Ludwig Bechtstein sowie Johann Peter Hebel und Paula Dehmel – letztere beide in Zusammenarbeit mit dem ebenfalls aus Weißrussland stammenden, 1870 geborenen Israel Yehuda Adler. Alle erschienen 1916, was die Vermutung zu bestätigen scheint, dass der Übersetzer sich intensiv in diesen Beruf eingearbeitet hat. Unklar ist hingegen, warum er mit dem Übersetzen aufhörte, jedoch später die Arbeit aus anderen Sprachen wieder aufnahm. Auch von Bialik, der sich eher mit Belletristikübertragungen beschäftigte, stammen mehrere Übersetzungen von Kinderbüchern: zwei davon aus der Feder der Schriftstellerin und Illustratorin Tom Seidmann-Freud, Das Buch der Dinge und Die Fischreise65, sowie ein Grimm-Märchen, unter dem Titel Die Königstochter und ihr Gemahl, das in zwei Auflagen erschien. Bei der Betrachtung der Übersetzernamen ist auffällig, dass es kaum Frauen unter ihnen gab, was für das literarische Leben jener Epoche typisch war. Im gesamten hier besprochenen Zeitraum gab es nur vier Übersetzerinnen. Eine von ihnen, Miriam Merkel-Mosessohn, scheint bereits 1869 mit der Übertragung eines Werkes von Eugen Rispart auf, Die Juden und die Kreuzfahrer in England unter Richard Löwenherz, von dem es später noch drei weitere Auflagen gab. Merkel-Mosessohn war eine für ihre Zeit ungewöhnliche Persönlichkeit: Die hebräische Sprache erlernte sie noch in frühester Jugend in ihrer Heimat Polen und erlangte eine hervorragende Sprachbeherrschung, sodass sie auch auf Hebräisch schrieb. Ihre Übertragung des Buches Risparts wurde von den hebräischen Lesern mit großem Interesse aufgenommen und galt auch in den Augen von Literaten wie Jehuda Leib Gordon und Lilienblum als literarische Meisterleistung.66 Auf die anderen drei Übersetzerinnen dieser Periode entfällt jeweils ein Buch: Bluma Beinschowitz übertrug Sarah Hirsch-Guggenheims (alias Friedrich Rotts) Bat Ruchama (bekannt auch als Jakobina), Dvora Lachower Der Diamantenschatz von Eginhard Barfuß und Lea Seliger das Werk ihres Bruders Mosche Rosenkranz, Gad der Seher. Gemeinsam ist allen vier Übersetzerinnen die Beschäf-

64 Der Übersetzer drei weiterer Grimm-Märchenbändchen, die im selben Jahre, 1916, erschienen, ist nicht belegt. Möglicherweise handelt es sich dabei ebenfalls um Berkuz. 65 1923 kam im Rahmen einer zehn Geschichten umfassenden Sammlung die ebenfalls von Bialik übersetzte Erzählung Das untere Paradies heraus, die eine Überarbeitung einer ursprünglich von Ludwig Bechtstein verfassten Erzählung darstellt. Zu dieser Übertragung und den Einfluss, den die russische Sprache dabei auf Bialik hatte, siehe: Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung). 66 Kressel, Lexikon der hebräischen Literatur (Anm. 28, 2. Kap.), 429 f.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

tigung mit Kinder- und Jugendliteratur. Es mag sein, dass sie zur Entfaltung ihrer intellektuellen Begabungen dieses Betätigungsfeld deshalb gewählt hatten, weil sie sich im Umfeld der für die Belebung der hebräischen Sprache als so bedeutend erachteten Kinder- und Jugendliteratur eine leichtere Akzeptanz ihrer feministischen Bestrebungen erhofft hatten. Ein außerordentlich markantes, mit der Ausweitung der Übersetzungstätigkeit einhergehendes Phänomen der hebräischen Buchproduktion dieser Periode war der sprunghafte Anstieg in der Zahl der Verlage. Die meisten waren nach wie vor in Osteuropa, wobei es damals nicht weniger als 122 Verlage gab, die deutsch-hebräische Übersetzungen herausbrachten, davon 79 nur jeweils einen Titel.67 Zweifellos waren die meisten von ihnen auch in anderen Bereichen aktiv, doch zeigt die weite Streuung, dass es zu dieser Zeit noch kaum eine Spezialisierung gab. Man kann davon ausgehen, dass das ideologische Konzept der hebräischen Verleger darauf abzielte, der Leserschaft eine reiche Vielfalt literarischer Übersetzungen zu bieten, und dies nicht unbedingt aus der deutschen Sprache. Der Übersetzer Samuel Josef Fünn, selbst auch etablierter Verleger, verschwand völlig von der Bildfläche der deutsch-hebräischen Literaturübertragung. Möglicherweise übertrat er seine Rechte an seine ehemaligen Teilhaber, Rosenkranz und Schriftensetzer, die nur noch ein weiteres aus dem Deutschen übersetztes Buch herausbrachten. Der Verlag der Witwe und der Gebrüder Rom war, unter Herausgabe von sieben Titeln, weiter tätig. Weitere fünf Verlage, die noch aus der Vorperiode für ihre Tätigkeit in der deutsch-hebräischen Übersetzung bekannt war, setzten ihre Aktivitäten ebenfalls fort. Zu nennen wäre vor allem der »Alpin-Verlag«, in dem fünf Übertragungen aus dem Deutschen erschienen.68 Unter den neuen Verlagen, die sich den Übersetzungen aus dem Deutschen widmeten, findet man führende Namen: »Tuschija«, »Stybel«, »Achiassaf«, »Omanut«, »Moria-Dvir«, »Et Liwnot«. In Letzterem erschienen ausnahmslos alle Hauff-Übersetzungen. Die Produktion der anderen Verlage war vielseitiger. Der »Tuschija«-Verlag, der seit 1891 vierzig aus dem Deutschen übersetzte Titel herausbrachte, widmete sich einer Vielfalt von Themen und Autoren. So wurde dort zum Beispiel eine existierende Übertragung des Richard Löwenherz-Buches von Rispart weitere dreimal aufgelegt; ebenso erschienen Grimm- und HauffÜbertragungen, jedoch auch Schriften ganz anderer Natur, wie etwa Moses Hess’ Rom und Jerusalem, Joseph Nassy von Johann von Wildenradt und auch teils neu aufgelegte Werke Ludwig Philippsons und Lehmanns. Die Auseinandersetzung mit Werken vor allem jüdischer Geschichte basierte sicherlich auf der Überzeugung, dass der Aufbau der gemeinsamen Zukunft eine Wiedererweckung der Vergangenheit voraussetzte. Dies gilt insbesondere für die Wahl von Rom und Jerusalem des Philosophen Moses Hess, dessen Erkennt67 Bezüglich 53 Titel liegt kein Vermerk über den Verlag vor, sodass nicht auszuschließen ist, dass es noch eine Reihe kleinerer Verleger gab. 68 Weitere Verlagsnamen aus diesen beiden Perioden: »Lebenson«, »Maz«, »Kletter« und »Gebrüder Winter«.

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nis von der Notwendigkeit der Errichtung eines jüdischen Staates seiner Zeit voraus war. Mit seiner Auffassung des Judentums als Religion der nationalen Erlösung (im Gegensatz zum Christentum als Religion individueller Erlösung) sah Hess in der Entfaltung einer säkularen hebräischen Literatur den Grundstein der von ihm angestrebten nationalen Renaissance.69 Daher ist anzunehmen, dass sich die Übertragung seines Werkes ins Hebräische nicht nur von dem bereits erwähnten Wunsch einer Historisierung der jüdischen Vergangenheit ableitete, sondern auch einer umfassenden national-kulturellen Überzeugung entsprach. Die im »Tuschija«-Verlag in dieser Periode erschienenen 32 Titel in insgesamt 40 Fassungen stammen von 18 Autoren; zwei der Werke wurden jeweils dreimal aufgelegt, vier waren Gegenstand einer zweiten Auflage. Von den insgesamt 40 Bänden entfallen 25 auf universelle Themen, 14 auf jüdische, ein weiteres auf Religion im Allgemeinen. 25 waren für Kinder gedacht, davon 14 – zumeist von Schlomo Bermann übersetzte – Werke der Gebrüder Grimm.70 Weitere sieben Bände entfallen auf Belletristik, zwei auf Dramenübersetzungen, drei auf jüdische Geschichte, zwei auf aktuelle Themen, ein weiteres auf Naturkunde. Alle in diesem Verlag produzierten Übersetzungen aus dem Deutschen kamen in Polen und Galizien heraus; 36 in Warschau, eines in Powiat Piotrkowski, eines gleichzeitig in beiden Städten, eines in Charkow sowie ein weiteres gleichzeitig in Charkow und Polen. Ab 1909 veröffentlichte der »Stybel«-Verlag 23 Buchübersetzungen aus dem Deutschen. Auch in diesem Fall ist die äußerste Vielfalt von Themen und Verfassern bemerkenswert. 13 Bände gehören der schönen Literatur an, sechs dem Theater, zwei der Philosophie, eines der Geschichte und eines der Ökonomie. Kein einziges Werk befasste sich mit jüdischen Angelegenheiten, nur eines, Das Buch Joram von Rudolf Borchardt, ist einem allgemeinen religiösen Thema gewidmet. Im »Stybel«-Verlag kamen u. a. Übertragungen der Werke Hebbels, Heines, Hauptmanns, Wassermanns, Schnitzlers sowie der Historiker Mommsen und Lange heraus. Die verhältnismäßige Uniformität ist angesichts der dahinter stehenden Verlegerpersönlichkeit eher überraschend. Abraham Josef Stybel war ein wohlhabender Geschäftsmann, der sich aus ideologischen Gründen entschloss, einen Teil seines Kapitals in die Herausgabe hebräischer Literatur zu investieren. In späteren Jahren erzählte er, zu diesem Entschluss wäre er aufgrund von Frischmanns Übertragung des Daniel Deronda gekommen, die er als Kind gelesen hatte. Hier mag auch die Einleitung ihre Wirkung getan haben, die in rhetorischer Frage verkündete: »Und wer mag nicht meinen und glauben, dass ein solches Werk zum Wohle der hebräischen Leser ins Hebräische zu übertragen sei?« Da er kein Fachmann auf dem Gebiet der Literatur war, beschäftigte »Stybel«

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Avineri, Moses Hess (Anm. 14, 2. Kap.), 142–164. Im Jahre 1923 erschien eine anonyme Übertragung der Märchen und Sagen. Zwei der Kinderbücher sind Bearbeitungen von historischen Büchern. 70

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Lektoren und Übersetzer auf vertraglicher Basis, wobei diese Vereinbarungen ganz nach seinem Gutdünken eingehalten wurden oder auch nicht. Stybel traf seine Publikationsentscheidungen aufgrund der Empfehlungen dieser Mitarbeiter, was kaum ein Garant für ein einheitliches, konsequentes Verlagskonzept sein konnte. In der Tat ist die scheinbare Einheitlichkeit in den im »Stybel«-Verlag erschienenen Übersetzungen aus dem Deutschen wohl irreführend. Im Jahre 1922 schrieb Hugo Bergmann, offensichtlich mit dem Bekanntwerden des Arbeitsbeginns an einer Übersetzung von Geschichte der neuen Philosophie von Wilhelm Windelband, einen kritischen Artikel über die Stybelsche Verlagstätigkeit. Aus dem Artikel geht hervor, dass Stybels Arbeit vor allem von Kaprizen abhängig war; dies mochte vielleicht für den hebräischen Leser auch Vorteile haben, doch sei damit nicht genüge getan: Als der »Stybel«-Verlag seine Tätigkeit aufnahm, veröffentlichte der Verfasser dieser Zeilen in der deutschen Monatsschrift Der Jude eine Meldung, in der er das neue literarische Unterfangen begrüßte, jedoch seiner Besorgnis über das Fehlen eines klaren Verlagsprogramms Ausdruck gab; die Verlagsleitung versprach dieses und jenes, ohne vorweg zu entscheiden, was zu übersetzen sei und was nicht […]. Nur hierzulande [in Palästina] benötigt die Jugend, die Schüler unserer Gymnasien, keine Fremdsprache, um sich mit Leichtigkeit der Lektüre zu widmen, weil sie ihre gesamte literarische Bildung außerhalb der Schule aus dem »Stybel«-Verlag bezieht [. . .]. Ich will hier dem »Stybel«-Verlag keinen Vorwurf machen. Er hat Großes geleistet. Doch ein solches Projekt nationaler Bedeutung bedarf eines klaren Programms, eine Politik mit festen Grundzügen […]. Schließlich haben wir es hier mit einem Verlag zu tun, der nicht nach Gewinn strebt, und für den die Zahl der verkaufen Exemplare kein Maßstab darstellt.71

Genau ist daraus nicht zu verstehen, worauf Bergmann – der Stybel kannte und offensichtlich wusste, dass der Verleger, der inzwischen in New York lebte, mit der Lebenswelt und den kulturellen Bedürfnissen des jüdischen Palästinas kaum vertraut war – anspielte. Zweifelsohne gaben Bergmanns Worte vornehmlich seiner eigenen Meinung als herausragende Erscheinung im intellektuellen Leben des Jischuw und nicht der Meinung des breiten Publikums Ausdruck; es ist zu bezweifeln, ob die Leserschaft das Stybelsche Verlagsprogramm in seiner Gesamtheit beurteilte bzw. es in ihren Augen für Qualität und Erweiterung geistiger Horizonte stand. Jedenfalls war Stybel als Verleger von Schrifttum unterschiedlicher Niveaus bekannt und anerkannt. Zwei Jahre vor Erscheinen dieses Artikels zeichnete ein gewisser S.S. (wahrscheinlich Shalom Joseph Shapira, auch bekannt als S. Shalom) folgendes Bild: Ich will nicht sagen, dass es der Arbeit dieses Verlages an Systematik fehle. Mancherorts wird die Frage nach den Grundprinzipien des »Stybel«-Verlages, allen voran der Übersetzungsabteilung, gestellt. Es ist klar: Zum einen neigt der Verlag dazu, in unsere Literatur ewiggültige Werke, Klassiker, einzuführen. Zum anderen bringt der Verlag auch Bücher,

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H. Bergmann, Windelband auf Hebräisch (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 6. Dezember 1922, 6 f.

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nach denen auf dem internationalen Buchmarkt brennende Nachfrage besteht. Diese beiden Tendenzen stehen nicht im Widerspruch zueinander.72

Auch am »Jefet«-Verlag, der sich auf die Veröffentlichung von Sammelwerken der Weltliteratur spezialisierte, wurde Kritik geübt. Eine mit J.Ch.B. (offensichtlich Josef Chaim Brenner) gezeichnete Artikelserie, die in der Zeitschrift Haachdut gegen Ende 1913 erschien, enthält einen Beitrag zum Wirken dieses Verlagshauses, zu dessen leitenden Übersetzern Brenner gehörte: Es sei nochmals festgehalten: Ich kritisiere nicht den Mangel an System. Wie schon gesagt: Der Systematik ist kein Ende gesetzt. Bei jeder Übertragung und Veröffentlichung eines Buches könnte man fragen: warum dieses und kein anderes? Auch wenn es die Möglichkeit gäbe, eine große Übersetzungsreihe herauszugeben, das berühmteste Meisterwerk aller großen Dichter eingeschlossen – Shakespeares Hamlet, Goethes Faust, Ibsens Brand, Hauptmanns Die versunkene Glocke, und so fort – auch dann wären nicht alle Anforderungen befriedigt […]. Der Kritiker könnte kommen und behaupten, das berühmteste Werk dieses oder jenes Dichters sei deswegen noch nicht sein bestes; und wenn schon hervorragend – dann bräuchten wir aus diesem oder jenen Grund gerade ein anderes Werk (so etwa ist für uns Hermann und Dorothea wichtiger als Faust!). Andere wiederum möchten meinen: Lasst doch die klassische Dichtkunst bleiben. Wer wird bei uns schon Dantes Inferno lesen, auch wenn sich dazu der geeignetste Übersetzer fände? Eine systematische Vorgangsweise erfordert, mit der uns näheren Zeit, der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu beginnen.73

Was auf den ersten Blick als negative Kritik an einem willkürlichen Eklektizismus erscheint, erweist sich eher als Ausdruck der Zweifel eines Praktikers. Die eklektische Einstellung ergibt sich aus dem Wunsch, zunächst die großen Werke der Weltliteratur ins Hebräische zu übertragen. Jedoch ist einiger Einwand an der Präferenz für Klassiker wie Dante und Goethe herauszuhören. Denkt man aber an die besondere Beziehung Brenners zum Werke Hauptmanns, den er unter anderem als Beispiel nennt, wird deutlich, dass seine Worte auch einem persönlichen Interesse dienen bzw. seinen eigenen Standpunkt zu untermauern suchten. Ein weiterer in dieser Periode aktiver Verlag war »Achiassaf«. Dessen Leitung war sich, wie bereits erwähnt, über den einzuschlagenden Weg – ob Quantität vor Qualität gehe oder umgekehrt – uneins, was die Verlagsarbeit zuweilen erschwerte. Darüber hinaus musste sich der Verlag auch mit akuten Problemen auseinandersetzen, wie etwa einem Brand in der Druckerei, mit der er arbeitete.74 Insgesamt brachte »Achiassaf« in dieser Periode – in Warschau allein – 13 72 S.S., Bemerkungen zum »Stybel«-Verlag (hebr.), in: Gwulot 1 (November 1920), 168. Zudem stellt der Verfasser fest, der Leser sei sowohl aus erzieherischen Gründen, als auch, um ihm das befriedigende Gefühl zu verschaffen, dass er mit der zeitgenössischen Literatur vertraut sei, an beide literarische Strömungen heranzuführen. 73 J.Ch. Brenner, Jefet (hebr.), in: Ha-achdut 1914, 18. 74 »Aufgrund eines Feuers in der Druckerei Schuldbarg lag die Arbeit des Achiassaf-Verlags einige Monate brach; nunmehr wurde die Druckerei wieder eröffnet und mit dem Druck der vielen und verschiedenen Bücher diverser literarischer Gattungen begonnen, die in Bälde der Öffentlichkeit vor-

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Übertragungen aus dem Deutschen heraus, darunter Die Geheimnisse der Juden von Zwi Chaim Hermann Reckendorf,75 Dichter und Kaufmann von Berthold Auerbach, Kulturgeschichte der Menschheit von Julius Lippert, Berenice von Heinrich Vollrat Schumacher, Das neue Ghetto von Herzl und das Lehrbuch der hebräischen Archäologie von Wilhelm Novak. Eine klare Linie des Verlages war die Wahl vornehmlich von Juden verfasster Werke zu jüdischen oder allgemeinreligiösen Themen. Auch zwei weitere Verlage, »Moria-Dvir« und »Omanut«, engagierten sich stark auf dem Gebiet der deutsch-hebräischen Übersetzung. Der von Schoschana Persitz begründete »Omanut«-Verlag nahm seine Tätigkeit im Jahre 1917 in Russland auf, übersiedelte 1920 nach Frankfurt, um sich schließlich 1925 in Palästina zu etablieren. Dieses Verlagshaus war auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert. Mit Ausnahme von Schillers Wilhelm Tell in der Übersetzung von S. Ben-Zion waren in der Tat alle von »Omanut« aus dem Deutschen übersetzten Werke Kinder- bzw. Jugendbücher. Insgesamt kamen in dieser Verlagsanstalt in den Jahren 1919 bis 1927 zehn auf deutschen Originalen beruhende Titel heraus, darunter zwei Auflagen von Hauffs Die Geschichte von dem Gespensterschiff. Der »Moria«-Verlag wurde 1901 in Odessa von Bialik, Jehoschua Chana Ravnitzky und S. Ben-Zion gegründet. Alle drei stammten aus dem Osten Europas. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte »Moria« drei Übertragungen aus der deutschen Sprache: Nordaus Märchen, Die Soziologie der Juden von Arthur Ruppin sowie Grimms Kinder- und Hausmärchen. Im Jahre 1921 leitete Bialik, parallel zu gleichgerichteten Bemühungen Ravnitzkys in Palästina, die Gründung des »Dvir«-Verlages als Nachfolger des Hauses »Moria« in Berlin ein. In dieser Übergangsperiode kamen in Deutschland und Palästina gleichzeitig unter dem Verlagsnamen »Moria-Dvir« weitere fünf aus dem Deutschen übertragene Werke heraus – darunter eine zweite Auflage von Nordaus Märchen. Im Jahre 1926 erschienen in Palästina bei »Dvir« noch zwei Kinderbücher der Gebrüder Grimm in einer Übertragung durch Frischmann. Die Tätigkeit des Verlages in Palästina stieß im Jischuw auf positives Echo: »Dvir« setzt fürs Erste das von »Moria« in Odessa begonnene Werk fort, wenngleich in größerem Umfang: die Herausgabe von Lese- und Lehrbüchern für die Volksschule und Sammlungen althebräischen Literatur […]. Man halte sich vor Augen, dass dieses Verlagshaus innerhalb eines einzigen Jahres noch keine Gelegenheit hatte, alle Zweige seiner Betätigung zu entfalten; es ist zu hoffen, dass der »Dvir«-Verlag im Laufe der Zeit, nachdem er hierzulande Fuß gefasst haben wird, auf seinen ursprünglichen Plan zurückkom-

gelegt werden sollen.« A.L. Ben-Avigdor an Jehuda Löb Lewin (Jehalel) auf »Achiassaf«-Briefpapier, 1. Dezember 1892, CZA, A9/89 (10). Hervorhebung im Original. 75 Bezüglich dieses Titels herrscht einige Unklarheit. Aus bibliografischen Angaben ist zu entnehmen, es handle sich um ein Buch Reckendorfs; aus dem Brief von Ben-Avigdor an Jehuda Löb Lewin (Jehalel) vom 1. Mai 1893 ist jedoch zu verstehen, dass es sich anders verhält: »Die (in Kürze erscheinende) erste Erzählung, Erinnerungen an das Hause David, ist ein Originalwerk, obschon es denselben Titel wie die Erzählung Reckendorfs trägt, doch ist der Inhalt ein anderer.«

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men, seine Tätigkeit voll angehen und in der Tat zu einem zentralen Träger der Kultur nicht nur in Palästina, sondern auch für die Diasporagemeinden werden wird.76

Die Berücksichtigung der Diaspora-Leserschaft seitens der Verlagshäuser war durchaus gang und gäbe, und dies nicht gerade aus philanthropischen Gründen. Die Migration des »Omanut«- bzw. »Dvir«-Verlages war für das Geschehen in der hebräischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegsjahre recht typisch. In der Tat begann in den Kriegsjahren und mit der Revolution in Russland die Auflösung des Zentrums der hebräischen Literatur in Europa, wobei es sich noch einige wenige Jahre in Berlin und Frankfurt halten konnte; in anderen Fällen erfolgte, wie im Fall des »Stybel«-Verlages, eine Übersiedlung in die Vereinigten Staaten. Der Wendepunkt ist Mitte der 20er Jahre anzusetzen, als sich das literarische Geschehen endgültig nach Palästina verlagerte. Dieser Übergang war mit großen wirtschaftlichen Problemen verbunden: Trotz des beachtlichen Umfangs der hebräischsprachigen Leserschaft im Jischuw bestand in Palästina keine ausreichende Basis für eine vom kommerziellen Standpunkt aus rentable Buchproduktion.77 Zwar waren die Angehörigen des Jischuw mit der deutschsprachigen Literatur bereits in Berührung gekommen, doch schien dies keinen ausreichenden Antrieb für die Förderung der Publikation deutsch-hebräischer Übersetzungen vor Ort zu sein. Nach wie vor zogen die Verleger die Herausgabe der übersetzten deutschen Literatur in Osteuropa vor. In den Jahren 1882 bis 1927 erschienen im osteuropäischen Raum 214 Bücher, davon 153 in Polen, 26 in Litauen, 19 in der Ukraine, die übrigen in diversen anderen osteuropäischen Ländern. Hingegen kamen in Palästina lediglich 55 Titel heraus, 27 in Mitteleuropa, davon nur einer in Österreich, acht Bücher wurden gleichzeitig an zwei Orten herausgegeben, fünf in den Vereinigten Staaten und der Erscheinungsort weiterer sechs Bücher ist unbekannt. Es mag auf Rentabilitätserwägungen beruhen, dass der Druck der Bücher in Osteuropa erfolgte, während sich die Mehrzahl der Übersetzer in Mitteleuropa und Palästina befand: In Osteuropa war die erforderliche Infrastruktur dank des Vorhandenseins von mit hebräischen Lettern ausgestatteten Druckereien schon vorgegeben. Auch dürften die Herstellungs-, vor allem die Lohnkosten, dort günstiger gewesen sein. Ein weiterer Vorteil bestand in der geografischen Nähe zum Lesepublikum und der damit verbundenen Einsparung an Transport- und Vertriebskosten. Es liegt auf der Hand, dass die hebräische Leserschaft in Zentraleuropa keiner hebräischen Übersetzung deutschsprachiger Literatur bedurfte, was erklärt, warum diese Bücher, trotz der vorhandenen technischen Möglichkeiten, nicht in Mitteleuropa gedruckt wurden. Hingegen stellte die zahlrei-

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A. Zioni, Die Verlage in Erez-Israel (hebr.), Jahrbuch 2–3, 1924–1925, Tel Aviv 1926, 360. Über die Verlagstätigkeit in Europa und die schwache wirtschaftliche Basis der Verlagshäuser in Palästina siehe Z. Shavit, Die Herausbildung des literarischen Zentrums in Erez-Israel im Kontext der Institutionalisierung der Gesellschaft im Jischuw (hebr.), in: Katedra 16 (1980), 208–222. 77

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che jüdische Bevölkerung in Osteuropa eine hervorragende Zielgruppe für den Absatz von Übersetzungen aus dem Deutschen dar. In Palästina war die hebräischsprachige Lesergemeinde derweilen noch relativ gering und auch die Produktionskosten waren wegen der dürftigen Infrastruktur des Verlagswesens und seiner Hilfsindustrien, wie Papier- und Zinkplattenerzeugung, ziemlich hoch. Dessen ungeachtet etablierte sich ab den späten 20er Jahren der Mittelpunkt der hebräischen literarischen Produktion in Palästina, was die hebräischen Literaten hoch erfreute, wie etwa Mordechai Ben-Hillel Hacohen, der 1926 folgendermaßen schrieb: Der Ursprung des hebräischen Schrifttums liegt in Erez Israel, und in unserer Zeit der hebräischen Erneuerung ist es nur natürlich, dass das hebräische Buch an seinen angestammten Ort zurückkehrt. So natürlich ist es, dass einige der hebräischen Verlagshäuser in der Diaspora es für ihre Geschäfte als richtig befanden, den Namen Jerusalem auf das Titelblatt zu schreiben, obzwar sich die Verlage außerhalb Palästinas befinden.78

Aufgrund der uneinheitlichen zeitlichen Verteilung der Übersetzungen ist es schwierig, aus dem zufälligen Anstieg und Rückgang der Publikationszahlen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. 1889 und 1908 kam kein einziges aus dem Deutschen übertragenes Buch heraus. Die Gründe dafür sind unklar, und da es sich ohnehin, absolut gesehen, in diesem Zeitraum um wenige Titel handelt, mag diese Lücke vollkommen zufällig sein: In denselben Jahren sind keine besonderen quantitativen Fluktuationen bei den in Zeitschriften erschienenen Übersetzungen zu vermerken. Der sprunghafte Anstieg der Veröffentlichungen im Jahre 1923 – auf insgesamt 31 Titel – ist leichter zu deuten. Diese Zahl schließt sieben Märchenbücher von Hauff und weitere 11 Kinder- und Jugendbücher mit ein. Nur ein Band kam in Palästina heraus, bei zwei Büchern ist der Erscheinungsort unbekannt. Die intensive Publikationstätigkeit bei den in diesem Jahr erschienen Kinder- und Jugendbüchern scheint der Abgesang der Verlagstätigkeit in der europäischen Diaspora, unter Ausnützung schon vorhandenen übersetzten Materials, vor ihrer Einstellung gewesen zu sein. Zum anderen scheint die außergewöhnliche Aktivität dieses Jahres aus dem besonderen Bestreben erwachsen zu sein, die Basis an Kinder- und Jugendlektüre zu erweitern. In demselben Jahr erschienen auch in Zeitschriften überdurchschnittlich viele Übersetzungen, wenn auch die Abweichung von der Norm jener Jahre nicht so auffällig war wie bei den Buchpublikationen. Auch der Rückgang im Erscheinen von Übertragungen aus dem Deutschen im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts – die sich in manchen Jahren auf jeweils nur einzelne Titel beliefen – ist zu erklären. Von 55 Büchern erschienen nur 15 in Palästina, sieben davon im Jahre 1916. Die spärliche Buchproduktion lässt sich wohl technisch und ideologisch begründen. Infolge der Kriegsereignisse in Europa und in Palästina traten praktische Schwierigkeiten auf: Unter anderem kam es zu einer Störung der Verbindungswege innerhalb und außerhalb Euro78 M. Ben-Hillel Hacohen, Zu den Regeln der hebräischen Literatur und Schriftsteller (hebr.), in: Ha-doar, 8. Januar 1926, 131.

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pas. Die besonders hohe Zahl der Neuerscheinungen 1916 beruhte auf der intensiveren Publikationstätigkeit dieses Jahres in Palästina. Zu dieser Zeit waren viele Länder Europas von politischen und militärischen Wirren erschüttert: in den meisten herrschte Kriegszustand, Polen hatte seine Unabhängigkeit erklärt, Russland war durch die Kämpfe in der Schwarzmeerregion und innenpolitischen Erschütterungen in Anspruch genommen. Letztere dauerten auch nach der Revolution im Jahre 1917 an. Doch beschränkte sich der Anstieg der in Palästina gedruckten Übertragungen aus deutscher Sprache, und dies nicht zufällig, auf ein einziges Jahr. Von der noch limitierten drucktechnischen Infrastruktur im Lande abgesehen, gab es noch einen weiteren Grund, weswegen sich die Verlegung aus dem Deutschen übertragener Werke im Jischuw in Grenzen hielt. Wie schon im 1. Kapitel erwähnt, kam es im Jischuw 1913/1914 in der Auseinandersetzung um die Verwendung der deutschen Sprache zu einem regelrechten »Sprachenkampf«. Der Widerstand, den der Versuch des »Hilfsvereins der deutschen Juden«, Deutsch an den Hochschulen des Landes als Unterrichtssprache durchzusetzen, hervorrief, minderte die Sympathie der in Palästina ansässigen mitteleuropäischen Juden für die deutsche Kultur. In Zeitschriftenpublikationen machte sich dies indes nicht bemerkbar, denn dort erschienen in den Jahren 1913–1914 zahlreiche Auszüge deutschsprachiger Werke. In den darauffolgenden Kriegsjahren wurde deutsche Literatur in diesem Medium fast nicht mehr abgedruckt. Jedenfalls fassten die deutsch-hebräischen Übersetzungen im Verlagswesen des Jischuw nur langsam Fuß. Erst Mitte der 20er Jahre, als Palästina sich zum Zentrum des hebräischen literarischen Schaffen entwickelte, kam es im Rahmen einer nennenswerten Erweiterung der Verlagstätigkeit auch zu einer Intensivierung der deutsch-hebräischen Übertragungen. Gleichzeitig wurde sich die Führung der damals im politischen Leben des Jischuw dominanten Arbeiterbewegung der Größe der auf ihr lastenden Aufgabe bewusst: Auf den Schultern der Arbeiterschaft in Erez Israel ruht die Verantwortung für das Schicksal der hebräischen Nationalkultur; nur in ihrem Rahmen sind kulturelle Werte nationaler und allgemein humanistischer Erneuerung ausgeprägt. Brenner und Gordon, die in unseren Reihen gelebt und gewirkt haben, haben die grausame, blutgetränkte, emanzipierende Realität Erez Israels wirklichkeitsnah dargestellt.79

In der Tat waren Angehörige der Arbeiterbewegung bei der Auswahl der Texte, die dem Publikum im jüdischen Palästina zur Verfügung gestellt werden sollten, und der Beurteilung der dafür heranzuziehenden Gründe maßgebend.

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D. Hurvitz, Unsere kulturelle Arbeit (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 23. Juni 1922, 7.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Rezeption: Zwischen Bewunderung und Misstrauen

Der Glaube an die Erfüllung einer Mission, wie er aus den oben zitierten Worten hervorgeht, war in den Tagen des praktischen Zionismus typisch für viele Literatur- und Kunstkritiken. Diese gehören zu den wichtigsten Quellen zur Rezeption der Buchübersetzungen aus dem Deutschen, dies umso mehr, als Auflagenund Umsatzzahlen nicht belegt sind. Da die Höhen einzelner Auflagen nicht bekannt sind, sagen auch vorhandene Daten zur Anzahl der Auflagen eines bestimmten Buches wenig aus, da ja etwa drei Auflagen eines Titels ohne Weiteres der Auflagenhöhe eines in größerer Quantität produziertes Bandes äquivalent sein können.80 Auch fehlten Instrumente der Popularitätsmessung, wie sie heute gang und gäbe sind, wie Bestsellerlisten oder Meinungsumfragen. Insofern ist die Buchkritik in der Tat die Hauptquelle der Rezeptionsforschung. Jedoch sind diese Rezensionen trotz bzw. gerade aufgrund ihrer zentralen Bedeutung mit zwei Einschränkungen zu beurteilen. Zum einen findet sich das Gros der Besprechungen in einer limitierten Anzahl von in Polen oder Palästina erschienenen hebräischen Periodika. Diese, wie etwa Ha-assif, Ha-dor, Ha-poel Ha-zair, Achdut, Hedim und Revivim, widmeten sich besonders häufig der Besprechung von – vor allem deutsch-hebräischer – Buchübersetzungen sowie der Publikation von Aufsätzen zu Deutschland und der deutschen Kultur im Gegensatz zu anderen Zeitschriften, die sich hauptsächlich mit der originären hebräischen Literatur befassten.81 Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Zeitschriften keine Hinweise auf das, wie bereits ausgeführt, für die deutsch-hebräische Übersetzung so wesentliche Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur liefern. Zwar entwickelte sich die Kinder- und Jugendforschung erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als der Zusammenhang zwischen sozialgeschichtlicher Entwicklung und der Einstellung der Gesellschaft zu Kindern bewusst wurde, zu einem eigenständigen Forschungszweig.82 Die umfangreiche, aus dem Deutschen und anderen Sprachen ins Hebräische übersetzte Kinderliteratur zeigt die eminente Bedeutung, die diesem Genre beigemessen wurde, und spiegelt rezeptionsrelevante Grundannahmen wider. Dass solche Literatur übersetzt und in der Kritik besprochen wurde, ermöglicht jedenfalls lediglich eine Beurteilung der Einstellung der Erwachsenen; eine Aussage über ihre Wirkung auf die eigentli80 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass das Lesen in Büchereien im Jischuw üblich war und es in vielen Ortschaften solche Lesesäle gab, auch in sehr kleinen Orten wie Maskeret Batia (seit 1893), Hartuw (1912) und Ruchama (1919). Vgl. Schidorsky, Das Buchwesen in Erez Israel (Anm. 3, 1. Kap.), 32 f. 81 Im »Mizpe«-Verlag ist die Zahl der Rezensionen in den Jahren 1926–1927 dokumentiert. Von 19 Belletristik-Büchern (davon drei Originale und 16 Übersetzungen) wurden 14 in insgesamt 59 Artikeln rezensiert. Vgl. Mizpe-Almanach, 1926–1927 (hebr.), Tel Aviv 1927, 178. 82 Die bedeutendste Arbeit zum historischen Kontext in jener Epoche ist Ph. Ariès, L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime, Paris 1960.

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Rezeption: Zwischen Bewunderung und Misstrauen

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chen Adressaten, Kinder und Jugendliche, kann so nicht getroffen werden.83 Ebenso wenig ist die Einstellung des nichtprofessionellen erwachsenen Publikums belegt. Hier lässt sich jedoch aus den Zeitungsveröffentlichungen einiges schließen, wenn sie auch, über eine rein fachliche Erörterung oder Lektüreanempfehlung hinaus, nur vereinzelt Äußerungen persönlicherer Art enthalten. Unter den charakteristischen Merkmalen der zeitgenössischen Buchkritik ist die hohe Emotionalität, der begeisterte, bisweilen pathetische Ton – verstärkt noch durch die damalige, vom modern-hebräischen Usus so unterschiedliche Sprache – am auffälligsten. Das erklärt sich aus dem starken ideologischen Glauben, von dem diese Generation durchdrungen war. Im Allgemeinen beschränkten sich die Verfasser nicht auf eine Stellungnahme zum künstlerischen Wert des Werkes, sondern stellten auch Vermutungen darüber an, inwiefern es den hebräischen Leser interessieren würde. Gelegentlich beurteilte der Rezensent das Werk auch nach der Rolle, die es seiner Ansicht nach in der zeitgenössischen hebräischsprachigen Literatur spielen würde. In zahlreichen Fällen sind die Beschreibungen der jüdischen Lebenswelt oder die jüdische Abstammung des Autors positive Faktoren in der Beurteilung. Analog sind des Öfteren auch eine deutsche Thematik und/oder ein deutscher Autor – positive oder negative – Elemente in der Qualifizierung, vor allem bei Werken mit nationalistischen Zügen. Ähnliche Schlüsse ergeben sich aus der Auswertung der sich mit Deutschland bzw. deutscher Kultur befassenden Zeitschriftenaufsätze. Den täglichen Zeitungsberichten waren jedenfalls ausreichend Informationen über das Geschehen in Deutschland zu entnehmen, um eine Beurteilung der Übersetzungen im zeitgenössischen Kontext zu ermöglichen. Wer sich besonders für deutsche Literatur interessierte, fand in den städtischen Büchereien ein reiches Arsenal deutscher Bücher.84 In vielen Fällen waren die Verfasser der sich mit Deutschland befassenden literatur- bzw. kulturkritischen Aufsätze selbst Übersetzer. Das bestärkt die eher tendenziöse Natur vieler Beiträge – derselbe Personenkreis, der in der Auswahl der zu übersetzenden Bücher involviert war, setzte dem Publikum auch auseinander, was es von ihnen zu halten habe. Ein markantes Beispiel dafür ist David Frischmann. Noch vor der Übertragung von Berthold Auerbachs Werken ins Hebräische verfasste er einen der ersten Artikel über diesen Erzähler. Dabei betont Frischmann eines der, wie gesagt, wichtigsten Kriterien der hebräischen Buchkritik – das Verhältnis des Autors zum Judentum: Ich wusste, dass er Jude war, ich wusste, dass seine ganze Tatkraft und eminente Wirkung auf dem Felde der Literatur das Volke Israel beflügelte; seine ersten Werke waren Das Judenthum und die neueste Literatur, Spinoza, Dichter und Kaufmann. Etwa vierzig Jahre sind seitdem verstrichen, eine wahrhaft lange Zeit. Berthold Auerbach wurde in dieser 83 Diese Bemerkung gilt auch für die zahlreichen Arbeiten Uriel Ofeks und Zohar Shavits zur Kinderliteratur, die sich – zumindest was die aus dem Deutschen ins Hebräische übertragenen betrifft – nicht zur Rezeption seitens der Kinder selbst äußern. 84 Originalsprachige deutsche Literatur war in den verschiedenen Büchereien des Jischuw stark vertreten und stellte im Allgemeinen den Hauptanteil ausländischer Belletristik.

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Zeit zu einem deutschen Erzähler ersten Ranges, verfasste unzählige Werke, seine Bücher wurden in alle innerhalb und außerhalb Europas gängige Sprachen übersetzt, er wurde wie ein Deutscher geschätzt und wie ein König geehrt. Zu einem auserwählten Sohn, einem Lieblingskind ward er, für die Dorfmagd im Schwarzwald bis zum Kronprinzen in Berlin.85

In diesem Absatz subsumiert sich die Einstellung der hebräischen Intellektuellen zur deutschen Literatur im Allgemeinen wie auch im jüdischen Kontext. Auf den künstlerischen Wert dieses oder jenes Werkes Auerbachs wird hier nicht explizit hingewiesen. Dies entspricht der Praxis der damaligen Buchkritik, das Gesamtœuvre eines Dichters zu beurteilen, ohne auf einzelne Werke einzugehen. Außerdem wird Auerbach den Lesern als kreativer und erfolgreicher deutsch-jüdischer Erzähler präsentiert. Seine Bedeutung leitet sich aus der Gesamtheit dieser Kriterien ab. Hätte er nur einen Teil davon erfüllt, etwa – um dem Gedankengang des Artikels zu folgen – sein Judesein verschleiert, um sich für die Deutschen akzeptabler zu machen, so wäre er kaum übersetzt bzw. überhaupt in der Presse besprochen worden. Im Gegensatz dazu war mit Beginn des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland für hebräische Intellektuelle der konfessionelle Übertritt eines Schriftstellers oder dessen Entfremdung vom Judentum kein Anlass mehr, sich von ihm zu distanzieren. Eine ähnliche Einstellung zu den positiven Facetten eines Schriftstellers kommt im selben Jahr, 1885, in einem anderen, nicht gezeichneten Artikel in Ha-assif zum Ausdruck. Anlässlich des Erscheinens der gesammelten Schriften Leopold Komperts in deutscher Sprache werden in diesem Aufsatz prinzipielle literarische Aspekte, wie natürlich die jüdischen Elemente im Schaffen des Autors besprochen: Nicht jedem Schriftsteller ist es gegeben, in der Literatur einen von seinen Vorgängern noch nicht berührten Ort finden. Die meisten Dichter gehen in jenen Furchen des literarischen Feldes einher, welche andere vorgezeichnet haben, und nur wenigen Begnadeten ist es vergönnt, auf ein größeres oder kleineres Fleckchen Erde zu stoßen, das noch nicht durchpflügt wurde; siehe da, ein solcher ist Kompert, einer jener Glücklichen, der auf ein Stück Brachland gestoßen ist, das er zu bearbeiten und zu pflegen sich ansetzt und das ihm reiche Ernte beschert. Solch jungfräuliches Land auf dem Felde der Literatur zu bebauen, ist das Metier des Dichters, der die Welt früherer jüdischer Generationen schildert.86

Diese Begeisterung über Kompert, der sich dem Kritiker zufolge, mit Ausschließlichkeit und in innovativer Weise der Schilderung der jüdischen Lebenswelt widmete, teilten Verleger und Übersetzer offensichtlich nicht. In dieser Periode wurde nur eine Erzählung Komperts, Zwei Trümmer (1880), ins Hebräische übertragen. Im Zeitabschnitt bis zur Staatsgründung folgten drei weitere Erzählungen, die letzte davon im Jahre 1905. Das Beispiel Komperts beweist, dass das Urteil der Kritik und die effektive Rezeption nicht immer in direkter 85 86

D. Frischmann, Der Jude Berthold Auerbach (hebr.), in: Ha-assif 1 (1885), 154. L. Komperts Sämtliche Schriften, Wien 1884 (hebr.), in: ebd., 218.

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Korrelation standen. Während der Kritiker sich in blumenreicher Sprache im Lob seines dichterischen Schaffens und der ihm beschiedenen »reichen Ernte« erging, war ihm auf dem hebräischen Buchmarkt kein Erfolg beschieden. Kompert war nicht der einzige, dem es nicht gelang, die hebräische Übersetzungs- und Verlagsbranche für sich einzunehmen. Wie aus einem Artikel in Ha-assif aus dem Jahre 1874 hervorgeht, geriet der hebräische Buchmarkt Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts in eine Krise. Nachdem diese Zeitschrift eingestellt worden war, wird fünf Jahre später in der ersten Neuausgabe in einem Leitartikel folgendermaßen dazu Stellung genommen: Man musste sich ein Weilchen gedulden, bis die Leserschaft aus dem Dämmerschlafe erwachte, die mageren Jahre den fetten wichen. Da schien der Buchmarkt zu neuem Leben zu erwachen. Neue Autoren, Schriftsteller und auch Händler kamen zur Verlagsbranche hinzu, brachten verschiedene Bücher heraus, größeren und kleineren Umfanges [. . .]. Viele Verleger wurden gewahr, dass es Käufer für das hebräische Buch gäbe, und begannen, Bücher herauszugeben, auch kam der Gedanke auf, ein Magazin zu veröffentlichen, der Buchmarkt begann sich zu rühren. Je größer die Zahl der Verleger, desto größer ward auch die der Schriftsteller und anderer Talente, in einem Maße, wie wir es nicht erlebt haben, seitdem wir hier unsere Heimstatt gefunden haben.87

Eines der populärsten in Ha-assif besprochenen Werke war Der Judenstaat von Theodor Herzl. Dessen Erfolg geht aus einer, kurz nach dem Erscheinen des Werks im deutschen Original und in hebräischer Übersetzung publizierten Rezension des Juristen David Zwi Farbstein (Warschau 1868 – Israel 1953), einem der ersten Vertreter des politischen Zionismus, hervor. Im Gegensatz zum damals üblichen Stil der Kritik äußerte sich Farbstein in reflektierter Weise zu den Hintergründen der Rezeption Herzls durch die breite Öffentlichkeit. Seiner Ansicht nach beruhte der Erfolg des Werkes – im Gegensatz zur Zurückweisung, die Pinskers Autoemanzipation erlitt – vornehmlich auf der Person des Autors. »Herzl ist bekanntlich einer der Redakteure der Neuen Freien Presse,« setzte Farbstein auseinander, »und sein Renommee in der literarischen Welt ist es, das die Aufnahme dieses Werkes bewirkt und die öffentliche Meinung aufgerührt hat. Diese Auslegung aber ist unrichtig.«88 Sechs Jahre später erwies sich Herzls Ruf, diesmal nicht als Feuilletonist, sondern als führende Persönlichkeit der zionistischen Bewegung, als hinderlich. Seinem Roman Altneuland war nicht nur positive Resonanz beschieden. Zum Teil wurde die von ihm darin dargelegte Idee rundweg abgelehnt. Mordechai Ehrenpreis, ein Vertrauter Herzls, der diesem bei den Vorbereitungen zum Ersten Zionistischen Kongress zur Seite stand, hielt es für angebracht, durch seine Erläuterungen den Worten des Zionistenführer größere Akzeptanz zu verschaffen: Er sieht im altneuen Land der Väter die Quintessenz europäischer Kultur in ihrer ganzen Fülle und Pracht, die Summe aller technischen Erfindungen, sozialer Formen und inno87

An die Leser (hebr.), in: Ha-assif 6, 1894, 5 f. D.Z. Farbstein, Der Judenstaat: Eine Kritik (hebr.), in: Ha-schiloach 1 (Oktober 1896–März 1897), 177. 88

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

vativer Ideen, deren Ziel es ist, das Glück auf Erden zu vervielfachen und dem menschlichen Leben mehr Glanz zu verleihen. Er sieht im Volke Israel nicht irgendeine gesonderte Spezies mit individuellen Zügen, sondern nur einen Teil der gesamten Menschheit; er sieht in der Wiedererweckung Israels nicht nur die Verwirklichung nationaler, sondern auch humanistischer Ideale, eine idealtypische Universalkultur in nationaler Gestalt.89

Wie auch in der erwähnten Besprechung Komperts bezog sich Ehrenpreis nicht auf den künstlerischen Wert des Werkes, obwohl es sich hier über den ideologischen Gehalt hinaus um einen Roman von durchaus literarischer Qualität handelte. Ehrenpreis, dem, wie auch Herzl, das Leben in Palästina fremd war, erfasste ebenso wenig wie jener, wie weit das Buch von der nahöstlichen Realität entfernt war. Statt sich auf Herzls bekannte stilistische Stärke zu konzentrieren, zog Ehrenpreis es vor, ihm ideologische Waffenhilfe zu bieten und jene Leser aufzuklären, die Herzl nicht voll und ganz verstanden hatten, besser gesagt, die mit ihm nicht übereinstimmten. Dies ist eines der eklatantesten Beispiele, in dem ideologischen Aspekten eines Werkes vor der literarischen Qualität der Vorrang gegeben wird. Die Besorgnis um die Situation der Juden war für den hebräischen Leser Anlass, weitere deutsch-jüdische Schriftsteller kennenzulernen. Dazu gehörte der jüdische Historiker Martin Philippson, demzufolge »unsere Brüder bereits aufgehört haben, sich der trügerischen Illusion hinzugeben, der Antisemitismus sei eine vorübergehende Erscheinung, die nicht ewig anhalten werde«90. Der Bibelforscher Dr. Simon Bernfeld, der Martin Philippson und seine Ideen den Lesern von Luach Achiassaf präsentierte, widmete den Hauptteil seines Artikels der Situation der Juden und des Judentums, wobei er die stilistisch-literarische Dimension vollkommen außer Acht ließ. Noch irriger scheint jedoch ein solch ideologisch fundierter Zugang bei der Besprechung anderer Autoren, deren schriftstellerische Qualitäten – im Gegensatz zu den in jüdischen Kreisen allseits bekannten Persönlichkeiten wie Herzl und Philippson – einer expliziten Erörterung bedurft hätten. Zwischen dem Erscheinen der beiden Herzl-Rezensionen liegt die Publikation zweier weiterer Besprechungen von Autoren jüdischer Abstammung. In beiden Fällen wird deutlich, dass zumindest in den Augen der Rezensenten die Rezeption einer Übersetzung noch weitgehend vom Vorhandensein irgendwelcher Berührungspunkte zum Judentum abhing. Bernfeld war es auch, der das hebräische Publikum über die jüdische Abstammung Heines unterrichtete. Er nannte den Dichter »unseren Bruder, der sich von uns entfernt hat«. In einer drei Beiträge umfassenden Artikelserie skizzierte Bernfeld ein Porträt Heines unter besonderer Betonung seiner religiösen Abstammung, der Umstände seines Übertritts sowie seiner Haltung zu Juden und Deutschen:

89 M. Ehrenpreis, Die Debatte um Altneuland (hebr.), in: Ha-schiloach 11 (Januar–Juli 1903), 293. Hervorhebungen im Original. 90 S. Bernfeld, Der Tag der Juden in Deutschland: Zum Bild des Professors Philippson (hebr.), in: Luach Achiassaf 1902, Warschau 1901, 334–342.

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Denn seitdem Heine aus dem jüdischen Glauben ausgetreten war, war er ein getreuer Sohn seines Volkes. Damals begann er, Sympathie für das Judentum zu hegen […]. Zeit seines Lebens empfand er eine tiefe Abneigung gegen das deutsche Volk. Das sahen seine deutschen Feinde sehr wohl […], doch wenn man ihn dummer Jude! hieß, schämte er sich für seine Herkunft und verfluchte den Tag, an dem er als Jude geboren wurde.91

Somit machte der Kritiker deutlich, dass weder das jüdische noch das deutsche Volk Veranlassung hätten, Heine gering zu schätzen oder sich von ihm als Verräter zu distanzieren; zwischen Anziehung und Ablehnung schwankend, sei der Dichter beiden im selben Ambivalenzverhältnis gegenübergestanden. Dies erklärte Bernfeld im zweiten Artikel, nachdem er bereits festgestellt hatte, dass »Heinrich Heine nach seinem Tode der Liebling der Besten und Hervorragendsten des deutschen Volkes war, die eine empfindsame und begeisterungsfähige Seele in sich tragen«92. Es hätte so lange gedauert, bis sich Heines Schriften durchsetzten, weil er »nicht tiefgründig wie Goethe, jedoch auch kein klangvoller Poet wie Schiller« war. »Hätte er zu Ende des 18. Jahrhunderts gelebt, wäre seine Stimme in allen deutschen Landen erhört worden, weil es damals in diesem Reich kein politisches Leben gab und das Volk gerne den Worten der Dichter lauschte.«93 In der Tat scheint der erste Teil von Bernfelds Worten Heines Gesinnung treffend wiederzugeben: Er hatte sich 1822 den Gegnern der Karlsbader Beschlüsse (1819) angeschlossen und glaubte an die Möglichkeit der Integration der Juden in die Wirtskultur. Wie Bernfeld zu Recht ausführte, erkannte Heine den besonderen Charakter des Judentums erst nach seinem Übertritt. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass es sich nicht nur um eine Religions-, sondern auch um eine historische Schicksalsgemeinschaft handele.94 Auch über Eduard Bernstein und sein Wirken wurde in ähnlicher Weise berichtet: Zwar war Bernsteins Werk für sich genommen schon von Bedeutung, doch sei seine Abstammung nicht zu vergessen – »der Neffe des Gelehrten Aaron Bernstein, des Verfassers der Naturwissenschaftlichen Volksbücher und der Erzählungen Vögele der Maggid und Mendel Gibbor«, wie der Verfasser des Aufsatzes anmerkte. In der Besprechung selbst wird erklärt, »Bernstein [sei] bis zum heutigen Tag ein getreuer Schüler seiner Lehrmeister [Marx und Engels]; ihre Thesen sind ihm, wie seiner gesamten Generation, heilig, doch bemüht er sich, ihre Umschweifigkeit zu mildern […]«.95 Die hebräischen Publizisten bemühten sich also, dem Leser einen bestimmten Schriftstellertypus zu präsentieren. Es waren zentrale Gestalten des deutschen Kulturlebens, die auf die eine oder andere Weise mit dem Judentum verbunden waren. Dabei tendierte die Kritik dazu, diese Autoren und die Übertragungen 91 S. Bernfeld, Ferner Bruder: Zum 100. Geburtstag Heinrich Heines (hebr.), in: Ha-schiloach 3/ 16 (Januar–Juni 1898), 218. 92 Ebd., 118. 93 Ebd., 221, 313. 94 Zu Heines Einstellung zum Judentum siehe M. Dubois und B. Mevorah, Heinrich Heine zwischen Judentum und Christentum (hebr.), Jerusalem 1983. 95 Anonym, Eduard Bernstein (hebr.), in: Ha-dor 1–17 (25. April 1901), 9 f.

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ihrer Werke als einheitlich darzustellen, obschon sie im Grunde von Stil und Inhalt her durchaus heterogen waren. Insofern ist in dieser Phase der jüdische Bezug ein beliebtes Argument, um das Publikumsinteresse zu erwecken und zum Buchkauf anzuregen. Auch als die Buchkritik sich Arthur Schnitzler, damals ein Stern am Firmament der deutschen Literatur, widmete, wurde nicht verabsäumt, neben seinem literarischen Talent auch seine Abstammung anzuführen. So beschrieb ihn Jacob Fichman: Arthur Schnitzler ist in »der jüdischen Gasse« vorläufig noch ein Gast. Dieser große jüdische Dichter, der seit einigen Jahren in Europa als einer der erstrangigen, talentiertesten Erzähler gilt, ist uns so fremd geblieben, dass sicherlich vielen unter uns bis heute nichts von seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk bekannt war […]. Obwohl die »Helden« des vorliegenden Romans [im Original Der Weg ins Freie], fast allesamt Nichtjuden sind, ist das Werk ein zionistisches, geprägt von der tiefen Traurigkeit des Westjuden und der ihm eigenen Tragik.96

Fünf Jahre später, im Jahre 1913, erschien in Ha-poel Ha-zair eine Besprechung von Schnitzlers Drama Professor Bernhardi. Es war dies am Höhepunkt des »Sprachenkampfes«, der diese einseitige Hervorhebung des Jüdischen noch verstärkte und im Jischuw die Ablehnung deutschsprachiger Literatur hervorzurufen suchte. Obwohl das Stück erst 1922 ins Hebräische übertragen wurde und sich der Kritiker, M. Assia, auf das deutsche Original bezog, hob er das für das damalige hebräische Publikum wesentlichste Detail, den jüdischen Bezug, hervor: Indes enthält diese Komödie einen weiteren, in meinen Augen zentralen Gesichtspunkt, auf den zu achten ist, nämlich die unterschiedliche Einstellung des Juden Bernhardi einerseits und der Christen andererseits, der Ehrlichen einerseits und der Unehrlichen andererseits, zu den Phänomenen des Lebens. Bernhardi unterscheidet als Sohn eines Volkes ohne Territorium und politische Institutionen nicht zwischen dem Glück der Allgemeinheit und dem des Individuums, zwischen der erhabenen universellen Wahrheit und der bescheidenen partikularen, und beurteilt jeden einzelnen Fall, jedes Detail für sich.97

Trotz der manchmal gezwungen wirkenden Hervorhebung der jüdischen Aspekte in der Person des Autors oder seiner Werke ignorierte die Kritik keineswegs beim jüdischen Publikum beliebte, nichtjüdische Autoren. In einem Aufsatz anlässlich der 150. Wiederkehr von Friedrich Schillers Geburtstag rief Josef Klausner der Leserschaft den bereits aus einer früheren Epoche bekannten Dichter in Erinnerung. Dabei suchte er einen zusätzlichen Aspekt in dessen Schaffen auszuloten:

96 J. Fichman, Schnitzlers neuer Roman (Buchbesprechung) (hebr.), in: Ha-schiloach 19 (Juli–Dezember 1908), 470. Hervorhebung im Original. 97 M. Assia, Professor Bernhardi, Lustspiel in fünf Akten von Arthur Schnitzler (Gedanken zur Lektüre) (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 16. Mai 1013, 11–13.

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Kein europäischer Dichter hat einen solchen Einfluss auf die hebräischen Schriftsteller – nicht nur die aus Deutschland, sondern auch die aus Galizien und Russland stammenden – gehabt wie Friedrich Schiller […]. Selbstredend ist Schiller nicht aufgrund seiner hier dargelegten abstrakt-philosophischen Anschauungen beim jüdischen Publikum beliebt: Die meisten jüdischen Verehrer Schillers wussten nicht einmal von der Existenz der philosophischen Abhandlung Über naive und sentimentale Dichtung.98

Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam es in der Buchkritik zu einer Wende. Es erschienen immer mehr Besprechungen nichtjüdischer Autoren, darunter eine Reihe eminenter Schriftsteller, die über Deutschland hinaus auch in Teilen der westlichen Welt Erfolg hatten, so etwa der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1912, Gerhart Hauptmann. Einige seiner Werke erschienen in den »Jefet«-Sammlungen auf Hebräisch. Hauptmanns internationales Renommee veranlasste hebräische Publizisten, seine Werke noch vor dem Erscheinen der Übersetzung kritisch zu würdigen. Dabei widmeten sie, wie üblich, scheinbar gegen das Judentum gerichteten Aspekten einigen Raum. Dr. Chawa Schapiro äußerte nach der deutschen Lektüre des Romans Atlantis tiefe Bewunderung für Hauptmanns literarischen Stil. Aus Besorgnis, die in diesem Werk vorkommenden Charaktere könnten bei jüdischen Lesern Anstoß erregen, fügte sie jedoch hinzu: »Wenn ein Erzähler in seinem Werk einzelne unangenehme Gestalten beschreibt, deren Namen nicht rein deutsch sind, so lässt sich daraus noch nicht schließen, dass er diese als jüdische Typen zeigen will. Die Zeichnung solcher Charaktere ist nicht unbedingt eine Karikatur des Judentums, denn schließlich gibt es solche Typen in allen Völkern.«99 Es ist zu bezweifeln, ob Hauptmann bei der Schilderung der von Shapira erwähnten Charaktere überhaupt an Juden dachte. Wahrscheinlicher ist, dass die Autorin recht krampfhaft nach irgendwelchen »jüdischen« Anhaltspunkten suchte, mit deren Hilfe sich das Buch leichter verkaufen ließe, und ihre so gewonnene Beobachtung wiederum die zitierte Apologetik erforderlich machte. Parallel dazu erschienen erste Besprechungen, die den jüdischen Aspekt und die religiöse Zugehörigkeit des Verfassers ganz beiseite ließen. Dies gilt für einen Aufsatz über Richard Dehmel in Ha-achdut100 sowie eine vernichtende Kritik Brenners an der Übertragung des Werther ins Hebräische. Neben allgemeinen Zweifeln über die Notwendigkeit der Übertragung äußerte er sich niederschmetternd zur Übersetzung als solche: Der moderne hebräische Übersetzer konnte unmöglich übersehen, daß es in jener Epoche für einen Selbstmord Liebeskummer und -leid bedurfte, während sich in unserer Zeit jemand durchaus auch ohne enttäuschte Liebe aufhängen kann [. . .]. Daher ist nicht anzu98 J. Klausner, Friedrich Schiller und seine poetische Philosophie (Zum Anlass der 150. Wiederkehr seines Geburtstages, 1759–1909) (hebr.), in: Ha-schiloach 21 (Juli–Dezember 1909), 413–422. 99 Ch. Schapira, Ein neuer Roman Hauptmanns (hebr.), in: Ha-schiloach 28 (Januar–Juni 1913), 563 f. Hervorhebungen im Original. 100 »Jedenfalls sind viele Gedichte Dehmels dem Volk sehr ans Herz gewachsen. Es steht außer Zweifel, daß keiner der Klassiker zu Dehmels Zeit beim Publikum so populär war wie dieser zeitgenössische Dichter.« I. Rogowin, Richard Dehmel (hebr.), in: Ha-achdut, 2. Januar 1914, 14–16.

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nehmen, daß Meir Vilkanski dieses Werk ans Herz gewachsen war, vielmehr klingt seine Übersetzung, als hätte ihm der Verleger im Nacken gesessen.101

Man muss sich hier Brenners umfassende Kenntnis der europäischen Kultur und sein eigenes übersetzerisches Talent vor Augen halten. Dies gilt auch für seine allgemein kritische Einstellung zur Edition der »Jefet«-Sammlung. Seine Kritik mag tatsächlich persönlichen Streitigkeiten oder Neidgefühlen entspringen. Wie dem auch sei, es ist anzunehmen, dass Brenner das deutsche Original kannte und ihm eventuell im Geiste eine gelungenere Übertragung als die Vilkanskis vorschwebte. Die Vermutung liegt nahe, dass Literaturkritiker, die selbst als Übersetzer tätig waren, bei der Beurteilung einer Buchübersetzung eine eigene, nur in ihrer Fantasie existierende Übertragung im Kopf hatten. Diesen Eindruck bestätigt auch die Besprechung der hebräischen Fassung von Goethes Hermann und Dorothea von S. Ben-Zion durch Jakob Koplewitz (Jeshuron Keshet): Es erweckt immer gemischte Gefühle, wird ein Werk der Weltliteratur in das Gefäß der hebräischen Sprache gegossen: Freude über den neu gekelterten Wein und Sorge um die Güte des Kruges – ob er nicht etwa gesprungen sein und sich sein Inhalt verschüttet haben mag. Hier war schon der Name des Übersetzers ein Faustpfand für die Treue und Vollständigkeit der Arbeit, nicht bar jedoch leiser Sorge: Vermag S. Ben-Zions Stil, griffig und fundiert wie er ist, exakt und klar, im Sentimentalen etwas schwerfällig – vermag er also die in voller Frische und Klarheit sanft dahinplätschernde Quelle dieser Naturidylle widerzuspiegeln, die über ihren Gehalt hinaus vornehmlich durch die klare und deutliche Sprache bezaubert. Und siehe da, die Lektüre erweist, dass wir es hier mit einer vorzüglichen Übersetzung zu tun haben [. . .].102

Koplewitz scheute sich also nicht, dem Argwohn Ausdruck zu geben, mit dem er an die Lektüre der hebräischen Fassung des Werkes herangegangen war. Er war aber auch aufrichtig genug, zuzugeben, dass seine Besorgnis unbegründet gewesen war. Noch vor der Publikation dieser Besprechungen im Jahre 1914 erschienen einige bemerkenswerte Aufsätze. Ein kurzer unsignierter Artikel in Ha-achdut brachte eine bibliografische Übersicht hebräischer Neuerscheinungen. Angeführt wird unter anderen Schabbtai Zwi, der erste Band der Juden von Zirndorf des deutsch-jüdischen Schriftsteller Jakob Wassermann. Der Autor des Artikels klagt, die Lektüre hätte ihn gelangweilt.103 Die Kritik des bekannten Romans Georg Hermanns, Jettchen Gebert, der beim deutschen Lesepublikum außerordentlich gut angekommen war, war nicht schmeichelhafter. Über den zweiten Teil des Romans, Henriette Jacoby, schrieb der Kritiker Aharon Hermoni, er sei »verworren und leidet an übermäßiger Länge und Wortfülle [. . .]. Doch auch in den wenigen skizzierten Beschreibungen sind die charakteristischen Besonder101 102 103

J.Ch. Brenner, Jefet III (hebr.), in: Ha-achdut, 21. November 1913, 16. J. Koplewitz, Hermann und Dorothea (hebr.), in: Revivim 6 (1919), 75. Bibliographie (hebr.), in: Ha-achdut, 31. Oktober 1913, 21 f.

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heiten der Familie erkennbar. In welcher christlichen Familie dieses Standes wäre so viel über Liszt und Heine gesprochen worden? [. . .] Er könnte auch vielen unserer Schriftsteller als Lehrmeister dienen.«104 Hier muss man sich vor Augen halten, dass Jettchen Gebert oft die »Buddenbrooks der jüdischen Literatur« genannt wurde. Die Buddenbrooks selbst erschienen jedoch erst viel später, nämlich 1930, auf Hebräisch. Das erklärt den Hinweis Hermonis auf die Gespräche über Liszt und Heine. In den von Thomas Mann geschilderten bürgerlichen deutschen Salons wird ja des Öfteren über Wagner und Schopenhauer gesprochen. Diese Namen waren damals dem jüdischen Bildungsbürgertum noch nicht vertraut, ganz zu schweigen von den Angehörigen des Jischuw.105 Auch erschien zu diesem Zeitpunkt vieles, das mit Deutschland zusammenhing, suspekt. Beim »Sprachenkampf« ging es, wie bereits ausgeführt, um die Verwendung der deutschen Sprache im jüdischen Palästina. Die Rolle Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg bestärkte noch die ablehnende Haltung diesen Ländern gegenüber. Das galt besonders für Deutschland, das in den ersten Kriegstagen im Jischuw als Staat beschrieben wurde, der in seine von blutigem Heroismus geprägte Geschichte zurückgekehrt sei.106 Parallel zum Rückgang in der Publikation von aus dem Deutschen übertragenen Büchern sowie der Beeinträchtigung des literarischen Geschehens in Mitteleuropa in den Kriegsjahren verringerte sich auch rasch die Anzahl der entsprechenden Rezensionen. Nach Kriegsende sah es so aus, als wären die Kriegsereignisse und auch der »Sprachenkampf« vergessen. Neben einer sachlichen Besprechung von Hermann und Dorothea befasste sich die Literaturkritik auch mit Bernhard Kellermann, von dem 1920 zwei seiner Werke, Der Tor und Ingeborg, auf Hebräisch erschienen. Hinter diesem Interesse an Kellermann, der während des Krieges als Korrespondent des Berliner Tageblattes tätig war, stand weniger seine schriftstellerische Begabung als sein kommerzielles Talent. Wie ein anonymer Kritiker in der Zeitschrift Ha-adama feststellte, sei »das literarische Bestreben Kellermanns, des Autors von Der Tunnel [eines utopischen, kapitalismuskritischen Romans], Ware auf den Markt zu bringen, die sich möglichst gut verkaufen lässt.«107 In einem einen Monat später erschienenen Artikel folgt eine ausführlichere Erklärung, deren Quintessenz sich in folgendem Absatz ausdrückt: »Alles, was nur irgendwie über Liebe gesagt werden kann, findet sich hier in einem leidenschaftlichen Lied auf die Liebe zusammengebraut [. . .]. Da es auf Hebräisch nicht viele Liebesromane gibt, ist anzunehmen, dass dieses Buch

104 A. Hermoni (Berlin), Jettchen Gebert (Ein jüdisches Drama der jüngsten Vergangenheit) (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 8. Mai 1914, 4–10. 105 1928 erschien auf Hebräisch eine für die Jugend bearbeitete Zusammenfassung der Wagnerschen Lohengrin-Erzählung. Das einzige existierende Exemplar verschwand aus dem Archiv der Jewish National University Library in Jerusalem und konnte auch in anderen Bibliotheken nicht aufgefunden werden. 106 Deutschland (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 18. September 1914. 107 Ingeborg, Roman von B. Kellermann, Übertragung von D. Zemach, Stybel-Verlag (hebr.), in: Ha-adama 2 (Oktober–November 1919), 245.

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gut ankommen wird.«108 Der Erfolg des Werkes wird prognostiziert, weil es eine Marklücke zu füllen verspricht. Noch kritischer äußerte sich einer der aktivsten Übersetzer der damaligen Zeit, Dov Kimchi, der sich gegen die Übersetzung von Kellermanns – und bei dieser Gelegenheit auch Sienkiewicz’ – Büchern schlechthin aussprach: Die im Warschauer »Stybel«-Verlag erschienenen Bücher Kellermanns (Ingeborg, Der Tor) hätte man nicht so rasch ins Hebräische übersetzen sollen. In anderen Ländern, in denen alles übersetzt wird, kommen auch solche Bücher zum Zug. Was für einen Sinn sah die Verlagsleitung darin, den Leser mit einem mittelmäßigen Buch wie Der Tor, oder auch den Werken Sienkiewicz’ zu beglücken, wo bei uns auch von den hervorragendsten Klassikern bis jetzt nur ein Mindestmaß übertragen wurde?109

Gängig waren in dieser Periode auch Rezensionen von vorläufig noch unübersetzten Werken. Dabei wurde der Biografie des Autors besonderes Augenmerk geschenkt. So wurde zum Beispiel im Jahre 1921 das bereits 1915 erschienene Werk Hermann Cohens Deutschtum und Judentum dem hebräischen Publikum vorgestellt. Dabei wurde nicht nur das Buch besprochen, sondern auch der Verfasser belehrt: Es will scheinen, dass Hermann Cohen in dieser Stunde des erwachenden Nationalismus in der Welt gut daran getan hätte, sich in bewusster Einsicht zu seinem Volk zu bekehren und zu bekennen, statt die nationalen Züge zweier durch ihre spezifischen Besonderheiten und wechselseitigen Gegensätze so großen Kulturen zu verwischen. Erst wenn das Judentum auf nationalem Boden steht, werden wir von der Ambivalenzproblematik des geistigen Judentums erlöst sein, das immer an der Nabelschnur anderer hängt, statt für sich selbst zu stehen; dann wird es keiner Vermittler mehr zum Geist des Judentums bedürfen.110

In manchen Fällen scheint die Besprechung eines ausländischen Buches dazu gedient zu haben, die Verleger zu seiner Übertragung ins Hebräische zu animieren. Jakob Klatzkin scheint in seiner Kritik etwas anderes im Sinn gehabt zu haben. Seine Beweggründe waren ideologischer Art, ähnlich derer Ehrenpreis’ in seiner Besprechung Theodor Herzls. Der aus Weißrussland stammende Klatzkin hatte eine sowohl religiöse als auch säkulare Bildung erfahren. Er studierte an der Universität Magdeburg. In seinen Aufsätzen übte er scharfe Kritik an der Frankfurter jüdischen Orthodoxie, die er in jenen Jahren kennengelernt hatte. Unter anderem war er auch Redakteur des Zentralorgans der Zionistischen Weltorganisation Die Welt sowie später des schweizerischen Bulletin Juif. Gemeinsam mit Nachum Goldmann begründete er den »Eschkol«-Verlag, in dem er die Encyclopaedia Judaica herausgab.111 Obwohl er selbst nicht nach Palästina 108 Ingeborg, Roman von B. Kellermann, Übertragung von D. Zemach, Stybel-Verlag (hebr.), in: Ha-adama 3 (November–Dezember 1919), 366–368. 109 D. Kimchi, Kritik (hebr.), in: Ha-schiloach 38 (September 1920–April 1921), 176. 110 J. Klatzkin, Deutschtum und Judentum (Aus der Kriegsliteratur) (hebr.), in: Ha-tekufa 11 (April–Juni 1921), 502. 111 Kressel, Lexikon der hebräischen Literatur (Anm. 28, 1. Kap.), 771–773.

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emigrierte, war Klatzkin ein radikaler Zionist, der ein jüdisches Leben in der Diaspora total ablehnte. Diese Auffassung zeigt sich auch in der Rezension Hermann Cohens, mit deren Veröffentlichung er seine Ideen beim hebräischen Publikum zu propagieren suchte. In der Folge wurden die ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den Aufsätzen zu Deutschland und deutscher Kultur dominanten Besprechungen nationalideologischen Charakters spärlicher. Auf das Judentum wurde nunmehr lediglich durch häufige Hinweise auf die jüdische Abstammung des Autors bzw. eventuell vorhandene jüdische Charaktere Bezug genommen. Ein besonderer Fall war Arthur Schnitzler, dessen Erfolg als nationaljüdisches Ereignis empfunden wurde. In einem Aufsatz zu Ehren Schnitzlers aus Anlass seines 60. Geburtstages im Jahre 1922 erklärte Gershom Schofmann in der Zeitschrift Ha-tekufa: Wenn unsere nationale Ehre durch untalentierte jüdische Schriftsteller deutscher Sprache, sei es in Wien oder Prag, beleidigt wird, welche meinen, sich auf ihre Schreiberei etwas einbilden zu können, ist es gut, sich Arthur Schnitzlers zu erinnern. Das ist einer, der unser Selbstgefühl wieder auf die Beine stellt. Schnitzler ist einer der wenigen, die den langen, einzigen, wahren Faden [des literarischen Schaffens] weiterspinnen.112

Der Umstand, dass Schnitzlers Geburtstag von seinen Glaubensgenossen, nicht aber jedoch von der nichtjüdischen Umgebung begangen wurde, wird von einem anonymen Verfasser in Hedim so erklärt: »In Österreich und auch in Deutschland steht die Stimmung derzeit nicht auf Feiern. Schnitzler ist sowohl Jude und auch kein Dichter, der das breite Publikum anspricht. Noch ist er Patriot oder Kämpfer für den Sozialismus. Das sei weder für noch gegen ihn, sondern einfach als Tatsache gesagt.«113 Die Umstände waren also gegen Schnitzler. Wenn wir beide Äußerungen zusammen betrachten, erweist es sich, dass in der hebräischen Presse nicht nur trockene Tatsachen aufgezählt wurden. Zwischen den Zeilen wird der Leserschaft suggeriert, dass die Gleichgültigkeit der Österreicher Schnitzler gegenüber der Verehrung für ihn keinen Abbruch zu tun habe. Aus den zwei zu dieser Zeit erschienenen Übertragungen, Professor Bernhardi – ein Stück, das, wie erwähnt, in Ha-poel Ha-zair besprochen wurde –, und dem in zwei Auflagen gedruckten Sterben kann man ersehen, dass die Verlagsbranche sich dieser Beurteilung anschloss. Ein anderer jüdischer Autor, dem breiter publizistischer Raum gewidmet wurde, war Jakob Wassermann. Zu seinem 50. Geburtstag im Jahre 1923 widmete ihm Fischel Lachower zwei Aufsätze. Der eine war eine positive Kritik des – in zwei Auflagen erschienenen – Romans Die Schwestern in der hebräischen Übertragung von Abraham Leib Jakobowitsch (Akavia). Der zweite befasste sich mit der Person Wassermanns, dessen Zugehörigkeit zum Judentum auf wärmste kommentiert wurde: »Es will scheinen, daß von allen derzeit wirkenden 112 113

G. Schofmann, Arthur Schnitzler (hebr.), in: Ha-tekufa 16 (Juli–September 1922), 510. Arthur Schnitzler (hebr.), in: Hedim 2 (Juni 1922), 53 f.

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deutsch-jüdischen Dichtern und Künstlern Wassermann der jüdischste ist.«114 Doch auch jüdischen Schriftstellern gegenüber erlaubte sich die Kritik gelegentlich, sich auf ganz unideologische Weise weniger positiv zu äußern. So räumte etwa Zvi Rudy ein, Wassermann sei ein aufsteigender Stern am literarischen Himmel, doch sei sein Schreibstil verbesserungsbedürftig.115 Dem hebräischen Leser wurde Wassermann als »ein unsriger« präsentiert, den man auch – vorderhand zumindest – kritisieren durfte. Ein bei jeder sich bietenden Gelegenheit von der literarischen Kritik zitierter Dichter internationalen Renommees, der nicht zu den »unsrigen« gehörte, war Gerhard Hauptmann. In einer in der Zeitschrift Hedim veröffentlichten Übersetzung eines Aufsatzes Franz Werfels hieß es: »Hauptmann ist mit Recht so berühmt. Er ist allseits beliebt. Er steht dem Leben auf das Positivste gegenüber. Nur berufsmäßige Nörgler können an ihm etwas auszusetzen finden.«116 Dass Werfel sich auf Hauptmanns Seite stellte, mag daher rühren, dass manche Kritiker nur schwer hinnehmen konnten, dass er sich in Der Ketzer von Soana (1918; hebräische Fassung 1923) mit dem Heidentum auseinandersetzte. Im selben Jahr musste Hauptmann folgenden Angriff eines, offensichtlich mit dem kulturellen Geschehen in Europa bestens vertrauten anonymen Kritikers – möglicherweise ein deutscher Literat – in Ha-poel Ha-zair einstecken: Gegen die »Schande Europas« erhebt sich wutentbrannt Gerhart Hauptmann in einem seiner letzten Essays […]. Und wo warst du, Gerhart Hauptmann, als die deutschen Soldaten mit ihren schweren Stiefeln die blühenden Felder Frankreichs niedertrampelten? Weißt du noch, was du Romain Rolland auf seinen berühmten Brief zu Anfang des Krieges entgegnet hast?117

Man ersieht daraus, dass sich die Mitglieder und Funktionäre der Arbeiterbewegung im jüdischen Palästina aus der Zeitschrift Ha-poel Ha-zair nicht nur über die kulturellen Ereignisse im Jischuw informieren konnten. Indirekt konnten sie das kulturelle hebräische Repertoire auch auf dem europäischen Hintergrund beurteilen und zu verschiedenen Autoren fundiert Stellung beziehen. In derselben Zeitschrift erschien auch Hugo Bermanns Besprechung einer Teilübersetzung der Kritik der reinen Vernunft Kants durch Jehuda Junowicz: »Die hebräische Übersetzung von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft ist sicherlich nur zu begrüßen […] [auch wenn] dieses Bändchen weniger als ein Sechstel der Kritik auf Hebräisch enthält.«118 Es ist zu bezweifeln, ob auch nur eine Handvoll Leser des Ha-poel Ha-zair Junowicz’ Übersetzung dieses Hauptwerkes der Philosophie las, das naturgemäß, gleichgültig in welcher Sprache, 114 F. Lachower, Jakob Wassermann: Zu Anlass seines 50. Geburtstages (hebr.), in: Ha-tekufa 18 (Dezember 1922–März 1923), 406 f. 115 Z. Rudi, Jakob Wassermann, Zu Anlass seines 50. Geburtstages (hebr.), in: Hedim 3/2 (1924), 80–83. 116 F. Werfel, Zu Gerhard Hauptmann (hebr.), in: Hedim Sondernummer (März–April), 168. 117 Rundherum (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 3. August 1923, 15. 118 H. Bergmann, Die Kritik der reinen Vernunft (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 3. August 1923, 15.

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nur eine Minderheit anspricht.119 Tatsache jedoch ist, dass es die Redaktion der Zeitschrift für richtig befand, ihrer vom Bildungsgrad her sehr unterschiedlichen Leserschaft eine tiefsinnige, schwer verständliche Kritik eines äußerst komplexen Werkes zu präsentieren. Junowicz’ übersetzerische Tätigkeit wurde von der gebildeten Elite des Jischuw freudig begrüßt und erntete auch in einer Übersicht über die Verlagsbranche im jüdischen Palästina viel Lob: »Große Achtung gebührt Dr. Junowicz für den Mut, sich die schwierigsten Bereiche des Verlegertums, Recht und Philosophie, aufzubürden, die sicherlich nur wenige Leser ansprechen und dem Verlust näher sind als dem Gewinn.«120 Dieses Beispiel ist eines der offenkundigsten für die Diskrepanz zwischen Erfolg bei der Kritik und beim Publikum; es ist von vornherein klar, dass sich die positive Besprechung nur an eine kleine Minderheit wendet. Die Übertragung war a priori für jene Wissensdurstigen im Jischuw gedacht, die der europäischen Sprache bzw. des Deutschen nicht kundig waren. Ähnliches gilt auch für andere vergleichbare Werke intellektueller Natur. So kommentierte etwa Dr. Alfred Bonne in Ha-poel Ha-zair das Erscheinen einer Biografie Max Webers mit folgenden Worten: »Es ist schwierig, heute Max Weber als Wissenschaftler zu würdigen [. . .]. Der Hauptteil seines wissenschaftlichen Schaffens und der durch ihn aufgeworfenen Fragen ruhen noch in seinem umfassenden wissenschaftlichen Nachlass.«121 In diesem Sinne äußerte sich auch Avraham Ya’ari über eine Reihe biographischer Neuerscheinungen in Deutschland, unter anderem eine Biografie Johann Heinrich Pestalozzis, einem der Wegbereiter der Jugendpädagogik. Pestalozzi war im Jischuw im Zusammenhang mit den Bestrebungen, vorhandene Konzepte der Jugenderziehung zu studieren und in die Praxis umzusetzen, bestens bekannt: »Das Pestalozzi-Buch [eine nicht ins Hebräische übertragene Biografie von Max Riedmann] hat sich nicht die ordnende Zusammenfassung der auf diverse Werke verteilten Thesen Pestalozzis oder eine Vertiefung der Pestalozzi-Forschung zum Ziel gesetzt; vielmehr handelt es sich um eine Würdigung des so vielseitigen Pestalozzis als Person.«122 In diesen und ähnlichen Fällen beschränkte sich die Presse darauf, das hebräische Lesepublikum auf das Erscheinen neuer deutschsprachiger Bücher aufmerksam zu machen. Auch Verlegern von der Art Junowicz’ war es offensichtlich klar, dass sich die Investitition in die Übertragung solcher Werke nicht

119 Ende 1910 betrug die Auflage des Ha-poel Ha-zair 1.300 Exemplare, davon 450 in Palästina. Bereits ein Jahr (nach ihrem Ersterscheinen) war die Zeitschrift ökonomisch lebensfähig. Nach der Zusammenlegung mit Achdut Haavoda im Jahre 1930 war die Zeitschrift »für die um die Mifleget Poalej Erez Israel (Mapai – Arbeiterpartei) herum organisierte Arbeiterschaft, die fast die Gesamtheit der Arbeiterschaft des Landes ausmacht, gedacht.« Vgl. I. Shapira, in: Ha-poel Ha-zair: Idee und Realisierung (hebr.), Tel Aviv 1967, 226–276. Zitiert von S. 266. 120 Zioni, Verlage in Erez-Israel (Anm. 76), 361. 121 A. Bonne, Max Weber (anlässlich des Erscheinens Max Weber – ein Lebensbild, von Marina Weber) (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 19. November 1926, 14. Die Schriftstellerin Marina Weber war die Gattin Max Webers. 122 A. Ya’ari, Pädagogen: Drei Neuerscheinungen (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 21. Mai 1925, 15. Hervorhebung im Original.

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rentierte und sie inhaltlich für die Allgemeinheit nicht bedeutsam genug waren, um ihre Übersetzung zu rechtfertigen. Etwas anders klangen die Kommentare zu Philosophen jüdischer Abstammung und solchen, die sich mit jüdischen Themen auseinandersetzten. Es ist anzunehmen, dass die Leser von Ha-tekufa und Ha-schiloach von Ferdinand Lasalle und Arthur Schopenhauer gehört hatten. Diesen Denkern wurde, ebenso wie jüdischen Romanschriftstellern, besonderes Augenmerk unter Betonung ihrer Beziehung zum Judentum zuteil. Doch ist schwer zu beurteilen, wie viele ihre Werke tatsächlich gelesen hatten und sie für übersetzungswürdig hielten. Zu Lasalle schrieb der Historiker Salo Baron: Zwar waren sie [die Eltern Lasalles, fromme Juden] mit dem Geist der deutschen Sprache und Literatur schon einigermaßen vertraut, und vor allem die Briefe des Vaters an seinen Sohn sind in ziemlich reinem Deutsch gehalten; auch spürt man in ihnen recht deutlich den Geist der europäischen Aufklärung [. . .]. Dennoch würzt der Sohn selbst noch hie und da seine Briefe an die Eltern mit einem Wort oder einer Redewendung auf Jiddisch [. . .]. Ungeachtet all dessen ist es klar, dass nach Lasalles Auffassung die Juden in Deutschland, deren geistige Kultur zu jener Zeit ganz mit der deutschen identisch war, keineswegs als besondere nationale Gruppe gelten konnten.123

Hingegen berichtete Raphael Seligmann seinen Lesern über »den Juden Schopenhauer«, »der, wenn sich das Judentum nicht gegen ihn gestellt hätte, vielleicht alle anderen Auffassungen und Methoden überwinden und die Notwendigkeit des Verzichts auf das Leben erklären hätte können«.124 Es zeigt sich somit einmal mehr, dass auch in, dem Großteil des hebräischen und nichthebräischen Publikums fernstehenden Bereichen die hebräischen Publizisten mit Vorliebe die jüdischen Aspekte hervorhoben, um die Themen attraktiver zu machen. Auf hebräischen Bühnen aufgeführte Dramenübersetzungen, wie etwa BeerHofmanns Jaákobs Traum, der 1925 insgesamt neunzigmal im »Habima«-Theater gespielt wurde, fanden über den gedruckten Text hinaus auch den Weg zu einem größeren Publikum.125 Der anonyme Kritiker der Zeitschrift Hedim, der im Sommer 1925 einer Vorstellung beiwohnte, bemerkte, das Publikum hätte – vielleicht wegen der großen Hitze – die Aufführung reserviert aufgenommen. Der Theatergenuss sei jedoch nicht nur durch das Wetter getrübt gewesen, sondern auch durch »die vollkommen unzulängliche Übersetzung, billige Musik;

123 S. Baron, Der Jude Ferdinand Lasalle: Zu Anlass seines 100. Geburtstages (hebr.), in: Ha-tekufa 23 (1925), 326–347. Es scheint sich hier um die Übersetzung eines von Barons verfassten Beitrags zu handeln, doch wird dieser Umstand wie damals üblich nicht ausdrücklich erwähnt. 124 R. Seligmann, Der Jude Schopenhauer (hebr.), in: Ha-schiloach, 43/6 (Februar–März), 496. 125 Vergleichsweise sei erwähnt, dass der 1922 uraufgeführte Dibbuk, die erfolgreichste aller »Habima«-Produktionen, insgesamt 1.029 gespielt wurde. Weitere Beispiele (in Klammer jeweils das Jahr der Erstaufführung): Uriel Acosta (1930), 182 Mal; Tartuffe (1932): 37 Mal; Der Kaufmann von Venedig (1936): 42 Mal. Siehe Levy, Geschichte des »Habima« (Anm. 49), Anhang 2: Das Repertoire des Habima-Theaters, 1918–1979 (hebr.) (ohne Seitenangaben).

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der Rest mittelmäßig im Vergleich zur Größe des Schauspiels.«126 Die negative Kritik der Aufführung überrascht insofern, als, wie bereits erwähnt, das Stück im Sinne des ideologischen Konzepts der »Habima«, das Dramen biblischer oder national-hebräischer Thematik den Vorzug gab, erworben worden war. Die Theaterleitung hatte wohl, über die Realisierung der ideologischen Ziele hinaus, auch erwartet, dass das Stück beim Publikum ohne Weiteres ankommen würde. Wenn man aber aus den Worten des Theaterkritikers auf die Reaktion der Zuschauer schließen kann, wussten diese sehr wohl zwischen der Bedeutung des Textes und der mangelhaften Qualität der Inszenierung zu unterscheiden. Im Jahr der Aufführung von Jaákobs Traum auf Hebräisch erschien in deutscher Sprache Max Brods Roman Reubeni, Fürst der Juden. Vier Jahre danach wurde das Werk ins Hebräische übersetzt, und eine Bühnenfassung 1940 aufgeführt. Das jüdische Thema des Stückes und die jüdische Abstammung des Autors garantierten wohl a priori den Erfolg beim hebräischsprachigen Publikum, wie er eigentlich auch bei Jaákobs Traum zu erwarten gewesen wäre. In der Tat schrieb die Kritik: »Reubeni verkörpert ein Kernproblem der individuellen und politischen Ethik. Darüber hinaus ist es auch das schönste poetische Werk Brods, Frucht langjähriger Reife und Schaffens.«127 Neben der Besprechung dieser beiden »jüdischen« Dramen setzte sich die Zeitschriftenpresse in jenem Jahr, 1925, mit einer Reihe verschiedener Themen deutscher Kultur auseinander. Doch in dieser Zeit hatte der Jischuw mit brennenderen Problemen zu kämpfen. Unter anderem machten sich die ersten Anzeichen einer Wirtschaftskrise bemerkbar: die Arbeitslosenrate stieg an, die Zahl neuer Bauprojekte ging zurück, der Immobiliensektor stagnierte, eine wachsende Zahl von Firmenbankrotten war zu verzeichnen, Bankeinlagen wurden abgezogen, vielen Gläubigern wurden die Kredite gesperrt, die Zahl der als »vermögend« kategorisierten Einwanderer verringerte sich wesentlich. Das deutlichste Symptom aber war die deflationäre Entwicklung: Von der Basis 100 im Jahre 1922 ging der Preisindex innerhalb eines Jahres auf 83,9 herunter und fiel bis 1927 auf 77 Punkte.128 Die wirtschaftlichen Erschütterungen machten sich vorerst im kulturellen Leben des Jischuw nicht bemerkbar. Die führende Rolle Palästinas in der hebräischen Literatur verfestigte sich weiter; ebenso hielt die Übertragung deutschsprachiger literarischer Werke ins Hebräische an. Trotz des alltäglichen Kontakts mit der englischen Sprache unter der britischen Mandatsherrschaft wurden aus Europa auch andere, unter anderem auch deutschsprachige Filme ins Land gebracht. Obwohl die Zahl der deutschen Filmaufführungen in Palästina verhältnismäßig gering war, fand doch immerhin die blühende deutsche Filmindustrie so auch hier ihren Niederschlag.129 Auf der Bühne zeigte sich der 126

Hebräische Theateraufführungen (hebr.), in: Hedim, Juni–Juli 1925, 106. Anonym, Reubeni, Fürst der Juden (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 4. Dezember 1925, 13. 128 Zur Wirtschaftslage siehe D. Giladi, Der Jischuw zur Zeit der Vierten Alija (1924–1929): Wirtschaftliche und politische Analyse (hebr.), Tel Aviv 1973, 172–182. 129 Unter anderem wurden Filme mit Filmstars wie Henny Porten, Werner Krauss und Conrad Veidt gezeigt. Zur deutschen Filmindustrie vgl. Pateley, Capital and Culture (Anm. 110, 1. Kap.). 127

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Einfluss des deutschen Theaters, über die Aufführung deutscher Dramen wie Uriel Acosta oder Jaákobs Traum hinaus, auch im Arbeitsstil der Schauspieler und der Regisseure. Der Begründer des »Ohel«-Theaters etwa, Mosche Halevy, brachte aus Österreich, wo er studiert hatte, den Brauch des Dorf- und Volksfestes mit und führte ihn in den landwirtschaftlichen Siedlungen des Jischuw ein; bevor sich Jehoschua Bertonow dem »Habima«-Theater anschloss, hatte er in Wien Bühnenerfahrung erworben; Mitte der 20er Jahre waren eine Reihe hebräischsprachiger Schauspieler in Berlin bei den Größen des deutschsprachigen Theaters, Max Reinhardt und Leopold Jessner, in Ausbildung.130 Insofern war es nur natürlich, dass Besuche deutschsprachiger Autoren im Jischuw sehr willkommen waren. Im März 1925 etwa besuchten Franz Werfel und der deutsch-jüdische Schriftsteller Ernst Toller Palästina. Toller hatte für seine Teilnahme an der Münchner Räteregierung fünf Jahre in Festungshaft verbracht. Die Arbeiterbewegung hieß ihn in Palästina aufs Wärmste willkommen, wie dies in den Worten des Publizisten Jizchak Lufbans zum Ausdruck kam: Es ist zu bedauern, dass er nur als vorübergehender Besucher zu uns kommt. Es ist zu bedauern, dass er mit seiner ganzen geistigen Schaffenskraft und -qual sich nicht hier uns anschließt, die wir uns im Rahmen der auf dem Boden Erez Israels sich festigenden neuhebräischen Kultur in ebensolcher Weise mühen. Auf den Feldern Galiläas und des Jisreel-Tales findet sich der Ansatz jenes Weges, den Toller mit Hingabe sucht. Hier gilt es, jenes Monument wiederzuerrichten, das drüben in der Not der Verzweiflung zertrümmert wurde. Wie dem auch sei – wir begrüßen ihn als unseren Bruder.131

Man ersieht daraus, dass in diesem Stadium des Jischuw, als verschiedene Strömungen der Arbeiterbewegung das politische Leben beherrschten, im kulturellen Bereich auch eine ins Konzept passende politische Aktivität ein Attraktivitätsattribut darstellte. Wie Lufbans Worten zu entnehmen ist, sind die Qualen der nationalen Erlösung und der sozialistischen Revolution einander durchaus äquivalent. Mitte der 20er Jahre normalisierte sich auch der Stil der hebräischen Presse einigermaßen. Nicht alle Zeitungsartikel waren dermaßen von Pathos erfüllt wie der oben zitierte. Nicht alle evozierten die jüdische Abstammung der Autoren bzw. befassten sich nur mit jüdischen Schriftstellern. Gelegentlich wurde einfach

130 Zur Arbeitsmoral, zur Institution des Volksfestes und dem deutschen Einfluss auf deren Veranstaltung im Jischuw und im Staate Israel siehe G. Efrat, Erde, Mensch, Blut: Der Pioniermythos und der Kult der Erde in den Dramen der Siedlerbewegung (hebr.), Tel Aviv 1980, 202. Zu Bertonow und Halevy siehe I. Jeffe-Nof, Israelische Künstler (hebr.), Tel Aviv 1959, 29, 119. Im Sommer 1923 gingen einige Schauspieler aus Palästina nach Berlin: Menachem Binyamini, Ari Kutayi, Josef Ochsenburg, Miriam Bernstein-Cohen, Michael Gur, Rivka Kafri, Sina Weinschel, Bat-Ami Pugatschow, Esther Levin, Rita Goldberg, Schoschana Honig und Menachem Gnessin. Vgl. A. Adar, Schauspielhäuser, Ensembles und Regisseure (hebr.), in: Jaffe, Die ersten zwanzig Jahre (Anm. 112, 1. Kap.), 76. 131 J. Lufban, Ernst Toller (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 31. März 1925, 12. Über Franz Werfels Besuch berichtet: H. Bergmann, Juarez und Maximilian: Franz Werfels neues Drama (hebr.), in: Hapoel Ha-zair, 8. April 1925, 30.

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dieser oder jene deutsche Dichter gewürdigt. Ein Beispiel dafür ist ein kurzer Artikel Jacob Fichmans über Thomas Mann anlässlich seines 50. Geburtstages: Er [Thomas Mann] ist es wert, dass auch wir, die wir noch nicht in den Genuss einer Übertragung seiner Werke im kulturellen Bereich gekommen sind, an diesem seinem Ehrenfest Anteil nehmen. Es ist dies nicht nur der Geburtstag eines großen Künstlers, sondern auch einer hervorragenden Persönlichkeit außerordentlicher Kreativität und Wirkung […]. Er ist einer der größten Epiker unserer Zeit […]. Gleichzeitig offenbart er ein solches Gefühl für Stil und Komposition, wie wir sie nur bei den Genies der deutschen Prosadichter, wie Goethe, Gottfried Keller und so fort finden.132

Die meisten Stellungnahmen zu Thomas Mann finden sich jedoch erst in den Jahren danach, als er vorerst wegen Verdachts der Sympathie mit dem nationalsozialistischen Regime umstritten war, und letztlich dann auf ihn für sein entschiedenes Auftreten gegen das »Dritte Reich« Lobeshymnen angestimmt wurden. Die intensivere Auseinandersetzung mit nichtjüdischen Dichtern veranlasste des Öfteren auch zu Vergleichen mit jüdischen Autoren. So heißt es etwa in einem Aufsatz Lufbans über Rainer Maria Rilke: »In der hebräischen Lyrik sind Rilke-ähnliche Elemente im Spätwerk Jakob Steinbergs zu finden. Sie sind nicht weltanschaulicher, sondern poetischer Natur.«133 Es ist zu bezweifeln, ob Steinberg selbst, als äußerst selbstkritischer Mensch, diesen schmeichelhaften Vergleich akzeptiert hätte.134 Etwa ein Jahrzehnt danach erschien eine Artikelserie, die diese Thesen bestätigt. Darin stellte der Übersetzer Arie Leib Mintz an seine Kollegen äußerst strikte Anforderungen. In einigen Rezensionen zu Übersetzungen von lyrischen Werken Heines griff Mintz die Übertragungen Fichmans, Ben-Zions und Jizchak Katzenelson aufs Heftigste an. Fichmans Gedichtübertragungen gehörten zu einer anderen Kategorie, weil er selbst Poet sei; doch sei »Heine in einfache (aber schöne) Sprache und Verse umzusetzen. Schade, dass Herr Fichman diese einfache Regel missachtet hat.«135 Zu den Übersetzungen Ben-Zions äußerte sich Mintz wie folgt: »Er bringt uns einige, mechanisch zu einem Gedicht zusammengeschweißte Bruchstücke von ihm [Heine].«136 Auch der zweite Teil der Serie enthält scharfe Kritik: 132

J. Fichmann, Leute: Thomas Mann (hebr.), in: Ha-tekufa 23 (1925), 486 f. J. Lufban, Rainer Maria Rilke (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 15. April 1928, 30. 134 Im Rahmen seiner Tätigkeit als Übersetzer etwa steckte er sich hohe Ziele: »Es mag durchaus sein, daß das neue sprachliche Gewand zur Verschönerung beiträgt, und es liegt nicht über der schöpferischen Fähigkeit, wie sie den geübten Übersetzer auszeichnet, der zwischen den Zeilen des Originals neue Farbtupfer hervorzuholen weiß, daß auch das Werk des größten Dichters dem Staub der Zeit verfällt, der sich auch auf Buchpergament legt und da und dort seinen ursprünglichen Glanz abstumpft.« J. Steinberg, Über das Übersetzen (hebr.), in: Haarez ve-haavoda 5 (Januar 1919). Zum Werk Steinbergs siehe J. Cohen, Jakob Steinberg, Der Mensch und das Werk (hebr.), Tel Aviv 1972. 135 A.L. Mintz, Die Lyrik Heines in hebräischer Übertragung (hebr.), in: Ha-schiloach 43–3 (November 1924–Dezember 1925), 242. 136 Ebd., 246. 133

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3. Kapitel: Konsolidierung der Übersetzungstätigkeit

Zur Beurteilung einer Übersetzung muss man nach folgender Regel vorgehen: Die Übersetzung ist nicht für sich, sondern parallel zum Originaltext zu lesen. Nur so zeigt sich die Qualität der Übertragung […]. Vergleicht man die Übersetzungen Herrn Jizchak Katzenelsons mit dem Original, wird unverzüglich klar …, dass man es so nicht macht.137

Man muss Mintz, trotz seiner demonstrativ unkollegialen Einstellung, zugute halten, dass seine Kritik auf seiner eigenen Erfahrung mit der Übertragung Heinescher Lyrik ins Hebräische fußt. Eine von ihm zusammengestellte und übertragene Gedichtanthologie Heines erschien 1929 unter dem Titel Auswahl von Gedichten Heines in Berlin. Mintz konnte davon ausgehen, dass die hebräische Leserschaft damals bereits mit einer ansehnlichen Zahl an Buchübersetzungen aus dem Deutschen konfrontiert gewesen war und genügend Reife für eine kritische Rezeption seiner Heine-Übertragungen besaß. Ebenso konnte er annehmen, dass ein Heine lesendes Publikum sich auch mit Besprechungen und Interpretationen deutscher Dichtung in Original und Übersetzung, wie den seinen, auseinandersetzte. Die hier zitierten Besprechungen sind zwar nicht unmittelbar für die Meinung der literarisch interessierten Öffentlichkeit im Jischuw repräsentativ. Es ist indes aus ihnen zu ersehen, welche Hinweise das Publikum im Hinblick auf die Lektüre erhielt, etwa, welche Elemente als wesentlich bzw. nebensächlich herausgestrichen wurden. Immer wieder wurde, offensichtlich aufgrund des darin vermuteten kommerziellen Potenzials, die jüdische Thematik der Werke bzw. die jüdische Abstammung der Autoren angeführt. Im Verlauf der Jahre wurde dann auf die Übertragung selbst wachsendes Augenmerk gelegt. Zu diesem Zeitpunkt war das Publikum in der Lektüre säkularer Literatur schon ausreichend geübt, um die Feinheiten der dazugehörigen Sprache differenzierend zur Kenntnis nehmen und beurteilen zu können. Diese Entwicklung stellte einerseits die Übersetzer vor neue Anforderungen, andererseits zwang sie die Kritiker, sich mit den künstlerischen Aspekten der übersetzten Werke eingehender auseinanderzusetzen. Dementsprechend war auch zu erwarten, dass sich in der folgenden Periode eindeutigere Kriterien für die Auswahl der deutschen Originalwerke und der Übersetzer ausbilden würden.

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Ders., Die Lyrik Heines, in: Ha-schiloach 43–4 (Januar 1925), 367.

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4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948

Im Schatten der Zeit

Fast 400 vom Deutschen ins Hebräische übersetzte Titel erschienen in den Jahren 1928–1948, den beiden letzten Jahrzehnten vor der Staatsgründung – die meisten davon im jüdischen Palästina, vor allem in Tel Aviv. In den Zeitschriften wuchs die Zahl der veröffentlichten Übertragungen aus der deutschen Sprache eher geringfügig, jedoch nahm die Besprechung der übersetzten Werke dort breiteren Raum ein. Weitaus mehr als früher wurde Bezug auf die aktuellen politischen und kulturellen Ereignisse in Deutschland genommen, denn auch die übersetzerische Tätigkeit dieser Jahrzehnte stand unter dem Zeichen zweier einschneidender Ereignisse der jüdischen Geschichte: der Holocaust an den Juden Europas sowie das Ringen um die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina. Dabei zeitigten die einzelnen Phasen der Geschehnisse – die Gründung und der Aufstieg der NSDAP, die massive Emigration der Juden aus Mitteleuropa, unter anderem nach Palästina, die politische Verfolgung deutscher Intellektueller sowie die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Deutschland und die fast völlige Vernichtung der Juden Europas – jeweils direkte Auswirkungen auf das Geschehen auf dem hebräischen Buchmarkt. Eine der ersten Folgen dieser Ereignisse war noch in den 20er Jahren die aus finanziellen wie ideologischen Gründen erfolgte Verlagerung des Zentrums des hebräischen Literaturschaffens nach Palästina. Damit wurde eine Erweiterung der technischen Infrastruktur, also der Zahl der Druckereibetriebe und der technologischen Hilfsmittel erforderlich. Dass die Verlagsanstalten tatsächlich in Palästina Fuß fassen konnten, war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Sie mussten sich neben dem Auftreiben des notwendigen Kapitals und der Investition in die neue Infrastruktur auch mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre auseinandersetzen. Auf ideologischer Ebene rief die Übersiedlung nach Palästina Zweifel hinsichtlich der Notwendigkeit der Übersetzungen schlechthin hervor, auf die noch näher eingegangen werden soll. Die Tendenz wies indes auf ein Fortführen der Übersetzungstätigkeit hin, wobei, trotz der dringlich erforderlichen Ausweitung des hebräischen Lesematerials, nicht als »Meisterwerke« klassifizierte Literatur eher verpönt war. Dessen ungeachtet kam man nunmehr nicht umhin, Werke anderer Art als bislang zu publizieren, weil sich die gesellschaftlichen Codes maßgeblich gewandelt hatten. Jene des traditionellen jüdischen Gemeindelebens in der Diaspora hatten in der Vorstellungswelt der hebräischsprachigen Leser im Jischuw keine Geltung mehr. Dementsprechend änderte sich auch die Auswahl

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4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948

der zu übertragenden Stoffe.1 Die Verleger, die sich wohl ihrer Rolle in der Schaffung einer neuen Kultur zutiefst bewusst waren, wurden viel wählerischer in der Bestimmung der zur Übersetzung vorgesehenen literarischen Werke. Die Beweggründe wandelten sich grundlegend, als klar wurde, dass man es bereits mit einem breiten hebräischsprachigen Leserkreis zu tun hatte und es nunmehr um den Aufbau eines regelrechten Kultursystems ging. Die einzelnen Übersetzungsprojekte wurden nicht mehr allein auf die Popularität der Werke bei Deutschen oder Juden hin geprüft. Vielmehr richtete sich die Entscheidung, ob ein Werk übersetzt werden sollte, in großem Maße nach dem zu erwartenden Beitrag zu der im Aufbau befindlichen kulturellen Basis. Was die verlagspolitische Praxis der Übertragungen aus dem Deutschen betrifft, so ist der Einfluss der aktuellen Entwicklungen in Deutschland bereits zum Ende der 20er Jahre deutlich. Einerseits erfreute sich deutsche Literatur einer ungeheuren Blüte und genoss in der gesamten westlichen Welt große Beliebtheit; dies galt auch für die hebräischsprachigen Leser europäischer Abstammung. Andererseits führte der Aufstieg des Nationalsozialismus zur vermehrten Auswanderung jüdischer Intellektueller aus den deutschsprachigen Ländern, vor allem in den Westen Europas, die Vereinigten Staaten und nach Palästina. So wurde auch die Übersetzung ihrer Bücher zu einem Instrument des Protests gegen die Geschehnisse in Deutschland. Insbesondere in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nahm die Übersetzung aus dem Deutschen ausgeprägt ideologische Züge an. Die bevorzugten Autoren waren Juden oder von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen verfolgte Nichtjuden. Im Prinzip bot die Verfemung eines Schriftstellers im NS-Deutschland allein schon ausreichenden Grund für die Übertragung seiner Werke in die hebräische Sprache. In der Tat zeigte sich im kulturellen bzw. literarischen Bereich eine ausgesprochen politisch motivierte Reaktion auf die Entwicklungen in Deutschland. Anstelle einer klaren politischen Aktion, zu der die jungen, international machtlosen jüdischen Organisationen Palästinas kaum fähig waren, erfolgte ein klar definierter kultureller Protest gegen das »Dritte Reich«. Vor diesem Hintergrund bildeten sich einige zusätzliche Charakteristika der deutsch-hebräischen Übersetzungstätigkeit aus. Zum einen stammten in dieser Periode die meisten Belletristikübertragungen ins Hebräische aus der deutschen Sprache.2 Zum anderen war erstmals der Anteil der jüdischen Autoren höher als der nichtjüdischer, dies aus dem Bestreben, den Beitrag der deutschsprachigen Juden Zentraleuropas an der deutschen Kultur zu erhalten. Dies war in den Jahre 1945–1948 besonders augenfällig.3 Schließlich führte die Identifizierung mit

1 G. Shaked, Der Wechsel in den Zentren der modernhebräischen Literatur – Codes und Modelle (hebr.), in: Mechkarej Jeruschalajim be-sifrut iwrit 5 (1984), 137–163. 2 Zur Aufschlüsselung der Belletristikübertragungen in die hebräische Sprache in den Jahren 1930–1945 siehe die Dissertation Tourys, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung). 3 Dessen ungeachtet waren die Themen der meisten Übersetzungen allgemeiner Natur und ohne besonderen Zusammenhang zum Judentum.

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Im Schatten der Zeit

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von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen verfolgten Schriftstellern von sich aus zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den politischen und kulturellen Ereignissen in Deutschland. Wenn bisher Erfolgsautoren besonderes Augenmerk geschenkt worden war, so wurde nunmehr vornehmlich nichtkanonische Literatur in die hebräische Sprache übertragen. Während manche Werke sicherlich schon aufgrund des Erfolges des deutschen Originals übersetzt worden wären, empfand man andere, lediglich als Protest gegen ihr Verbot in Deutschland ins Hebräische übersetzte Bücher, im Jischuw als überflüssigen »Schund«. Wie auch bislang stammten die Hauptträger der deutsch-hebräischen Übersetzungen aus Osteuropa, obschon in diesem Stadium, mit der Einwanderung vieler zentraleuropäischer Juden nach Palästina, auch jene hätten in Erscheinung treten können. Dass die Angehörigen dieser »Neuen Alija« wenig mit den Übersetzungen zu tun hatten, mag darauf beruhen, dass ihnen das Hebräische schwer fiel. Viele stammten aus assimilierten Familien, die in ihrer Heimat nicht mit der hebräischen Sprache in Berührung gekommen waren und sich auch nicht dem Zionismus verpflichtet fühlten. Viele waren gebildet und wohlhabend und sonderten sich gesellschaftlich ab, wozu umgekehrt auch ihre Ablehnung durch die Alteingesessenen im Jischuw beigetragen haben mag. Wie dem auch sei, die deutsche Literatur fand weiter in der Mediation über die osteuropäische Tradition ihren Weg zum hebräischsprachigen Publikum. Die hervorragendsten – ausnahmslos aus Osteuropa stammenden – Übersetzer aus dem Deutschen, Menachem Salman Wolfowski, Abraham Leib Jakobowitsch (Akavia) sowie Josef Lichtenbaum, widmeten sich diesem Metier bereits vollberuflich. Hingegen lag der Beitrag der mitteleuropäischen Einwanderer am literarischen Leben des Jischuw vor allem in der Buchkritik, der Essayistik und dem eigenem literarischen Schaffen. Gelegentlich wurden ihre auf Deutsch verfassten Arbeiten direkt vom Manuskript ins Hebräische übersetzt. Die aus Zentraleuropa stammenden Kritiker legten, wie ihre osteuropäischen Kollegen, bei der Besprechung deutscher Literatur, sei es Original oder Übertragung, besonderes Augenmerk auf die jüdische Abstammung der Autoren und ihre Verfolgung durch das NS-Regime. Besonders betont wurden auch eventuell vorhandene sozialegalitäre Ideen im rezensierten Schrifttum aller Genres, nicht nur in politischen Schriften sozialistischer Ausrichtung. Der Bereich der Theaterkritik erfuhr eine besondere Ausweitung. Dies wird insofern verständlich, als nunmehr zahlreiche Theaterproduktionen vor einem größeren Publikum zur Aufführung gelangten. Auf eine analoge Vergrößerung der hebräischsprachigen Leserschaft darf daraus indes nicht geschlossen werden. In den ersten sechs Jahren des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland verdoppelte sich zwar die Zahl der jüdischen Einwohner Palästinas von 200.000 auf 400.000, doch wuchs die Zahl der hebräischsprachigen Leser bei weitem nicht proportional an,4 da viele der Neueinwanderer – zumal, wie schon er4

Zur demographischen Entwicklung vgl. A. Bein, Alija und Ansiedlung im Staate Israel (hebr.),

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4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948

wähnt, die mitteleuropäischen Olim, die die neue Sprache besonders langsam und mühselig auffassten – noch kein Hebräisch konnten. Jedenfalls wandten sich die Buchveröffentlichungen, Prosa wie Lyrik, in relativ größerem Maße an das erwachsene Publikum. Auch wurden mehr Fachbücher für die Studenten der höheren Bildungsanstalten übersetzt. Der Anteil der für Kinder und Jugendliche bestimmten Übertragungen aus dem Deutschen machte hingegen nunmehr lediglich ein Fünftel aller Übersetzungen aus, verglichen mit einem Drittel in der Vorperiode von 1882 bis 1927. Das Gros der Übersetzungen aus dem Deutschen erschien in diesen zwei Jahrzehnten in einigen wenigen Verlagshäusern, während in zahlreichen weiteren jeweils nur vereinzelte Titel herausgegeben wurden. Der »Stybel«-Verlag sowie sein Nachfolger in Palästina, der »Tversky«-Verlag, gehörten zu den äußerst aktiven Verlagen. Auch der »Mizpe«-Verlag sowie die drei mit der sozialistischen Bewegung identifizierten Verlagsanstalten »Ha-kibbuz Ha-arzi«, »Ha-kibbuz Ha-meuchad« und »Am Oved« zeichneten sich um die Herausgabe von aus dem Deutschen übertragenen Werken aus. Die zwei großen Theater, »Habima« und »Ohel«, gaben zwecks Erweiterung ihres Repertoires die Übertragung deutscher Dramen in Auftrag. Besonders hervorzuheben ist auch die Tätigkeit des mit dem »Mossad Bialik« kooperierenden »Ligvulam«-Verlages sowie das Verlagshaus »Massada«, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Werke von im Exil lebenden jüdischen Schriftstellern herauszubringen. So wurde die übersetzerische Tätigkeit aus dem Deutschen in den zwei Jahrzehnten vor der Staatsgründung und auch darüber hinaus, vor dem Hintergrund der Judenverfolgung und -vernichtung in Europa und der massiven Einwanderung deutschsprachiger Einwanderer nach Palästina, entscheidend durch das Bestreben um den Fortbestand des schriftstellerischen Werkes jüdischer Autoren Mitteleuropas geprägt.

Eine neue Einstellung zur deutschen Literatur

Das Jahr 1928, das jene beiden Jahrzehnte einleitete, in denen eine markante Ausweitung der deutsch-hebräischen Übersetzungen erfolgte, war von einer Krise im jüdischen Jischuw in Palästina gekennzeichnet. Die Abwanderung, die zwischen Juli 1926 und Ende 1928 die jüdische Bevölkerung um zwei Prozent dezimiert hatte, kam zum Stillstand.5 Der wachsende Strom der Immigration entsprang diesmal, wie auch in ähnlichen früheren Situationen – etwa nach den Pogromen während des Ersten Weltkrieges –, nicht rein ideologischen Gründen, Jerusalem 1982, 30. Zur stagnierenden Leserzahl und zur Lektüre in Originalsprache vgl. Gertz, Perspektiven: Kultur und Gesellschaft in Erez Israel (Anm. 4, Einleitung), 34. 5 Giladi, Der Jischuw zur Zeit der vierten Alija (Anm. 128, 3. Kap.), 29.

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sondern der Suche nach einem Zufluchtsort. Die Weltwirtschaftskrise von 1929, die in West- und Mitteleuropa sowie in den Vereinigten Staaten noch jahrelange ökonomische Instabilität nach sich zog, markierte diese Wende in der Einwanderungsbewegung. Deutschland gehörte mit einer galoppierenden Inflation zu den von der Krise am stärksten betroffenen Ländern. Die deutschen Juden sahen sich neben der allgemein misslichen Lage auch dem Wiedererwachen eines verstärkten, virulenten Antisemitismus ausgesetzt. Wieder einmal bildeten wirtschaftliche Not und die daraus resultierenden sozialen Unruhen den Nährboden. Mit dem Aufstieg Hitlers zur Macht wurde zumindest einem Teil der Juden Deutschlands bzw. des gesamten deutschsprachigen Raumes bewusst, dass sie in ihrer Heimat unerwünscht waren. Zwischen 1933 und 1939 verließen 215.000 der etwa halben Million in Deutschland lebenden Juden das Land. Von 180.000 österreichischen Juden emigrierten 106.000. Aus dem Sudetenland wanderten 17.000 von insgesamt 22.000 Juden aus. Aus der unter deutschem Protektorat stehenden Tschechoslowakei emigrierten ein Drittel der 120.000 dort lebenden Juden. Im gleichen Zeitraum immigrierten lediglich 40.000 der Juden aus der Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland nach Palästina. Weitere 25.000 bis 30.000 gelangten in die Vereinigten Staaten, die übrigen verteilten sich auf verschiedenste Länder.6 Insgesamt machten die Einwanderer aus Zentraleuropa 1939 etwa zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Palästinas aus, die sich, wie bereits erwähnt, zwischen 1933 und 1939 durch die Zuwanderung von 204.000 Personen verdoppelt hatte. Obwohl sie also lediglich ein Fünftel der fünften Alija ausmachten – ein recht bescheidener Anteil, denkt man an jenen der polnischen Juden in den früheren Einwanderungswellen sowie in der fünften Alija selbst –, prägten die zentraleuropäischen Immigranten das Land in tiefster Weise. Charakteristisch für sie waren ein hoher beruflicher Ausbildungsgrad, die hervorragende Kenntnis der europäischen Kultur und ihre relative Wohlhabenheit. Dies wirkte sich auf jene Bereiche des Jischuw auf, in denen die Präsenz der deutschsprachigen Einwanderer besonders augenfällig war. In dem Jahrzehnt nach dem Beginn des NS-Regimes in Deutschland stellten sie etwa die Hälfte der Unternehmer des Landes, wobei sie in die industriellen und landwirtschaftlichen Betriebe des Jischuw investierten. Die Hälfte der Schüler und Studenten stammten aus ihren Kreisen, darunter viele, die mit der »Jugendalija« aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei gekommen waren. Auch die berufliche Schichtung wies besondere Charakteristika auf: Ein bedeutender Teil gehörte den freien Berufen an, sie waren Ärzte, Rechtsanwälte, Kaufleute, Ingenieure und Wissenschaftler sowie Künstler. Hingegen bildeten sie nur ein Fünftel der Arbeiterschaft des Jischuw.7 6 L. Yahil, Die Migration der Juden aus Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei in den Jahren 1933–1939 (hebr.), Jerusalem 1973, 107–113. 7 Zum Einfluss der Einwanderer auf das Kulturleben und zu ihrem Bildungsgrad siehe Bein, Alija

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Als die zentraleuropäischen Einwanderer ins Land kamen, fanden sie dort bereits ein reges Kulturleben vor – Film- und Theateraufführungen, Konzerte, ein Unterrichtswesen, das nach mitteleuropäischem Vorbild eingerichtete Berufsfachschulen sowie akademische Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem und im Haifaer Technion umfasste. Dies erleichterte ihnen die Eingliederung allerdings nur wenig, da sie kaum Berührungspunkte mit der Kultur im Jischuw fanden, eher unter sich blieben und sich kaum mit der Sprache vertraut machten.8 Viele empfanden das lokale kulturelle Leben als unzureichend, ja rückständig. In den Augen des nach seiner Emigration zeitweilig in Palästina lebenden Schriftstellers und Publizisten Arthur Koestler gab es hier zaghafte Anfänge einer noch dürftigen Kultur. Er bezeichnete das kulturelle Niveau als »erstaunlich niedrig«, befand jedoch die Theater, »Habima« und »Ohel«, und die Kinos, in denen vornehmlich Filme amerikanischer Provenienz mit Untertiteln gegeben wurden, als »ausgezeichnet«. Er äußerte sich folgendermaßen: Es leben dort einige hebräische Schriftsteller mit zufriedenstellenden europäischem Niveau zweiter Klasse. Die Presse mitsamt ihrer Rezensionen und Artikel ist im allgemeinen ziemlich provinziell. Das bereitet jenen Romantikern eine große Enttäuschung, die gehofft hatten, dass Palästina zum Zentrum der jüdischen kulturellen Renaissance werden würde. Ein Grund für dieses Manko ist die Schwierigkeit bei der Erlernung des Hebräischen, das erst seit einem knappen halben Jahrhundert zu den modernen Sprachen gehört.9

Die kritischen Äußerungen eines einzigen Intellektuellen sind sicherlich nicht für die Einstellung aller deutschsprachigen Einwander repräsentativ. Als weiteres Beispiel sei hier ein anderer Einzelfall angeführt, der jedoch einiges über die Integration dieser Immigrantengruppe aussagt bzw. über die von ihnen in Anspruch genommenen Segmente des kulturellen Angebots. Die Schwierigkeiten, die sie im Gebrauch des Hebräischen hatten, machten zwar das Lesen mühsam, ihr Sprachniveau gestattete aber dennoch, eine Theateraufführung zu sehen. So erinnert sich der Schauspieler und Regisseur Joseph Milo (der 1944 das KameriTheater gründete) an eine Aufführung des Diener zweier Herren in einer mehrheitlich von deutschen Einwanderern bevölkerten Siedlung: und Ansiedlung (Anm. 4), 30. Zu ihrer Rolle als Unternehmer und ihrem professionellen Beitrag siehe D. Gurevich, A. Gretz, R. Baki, Die Alija, der Jischuw und die natürliche Bevölkerungsentwicklung im jüdischen Palästina (hebr.), Jerusalem 1945, 60. Beide Themen werden auch ausführlich bei Gelber, Neue Heimat (Anm. 4, Einleitung) behandelt, siehe besonders 385–475. Eine Umfrage des Keren Hajessod aus dem Jahre 1939 zeigt folgende Gliederung der deutschen Einwanderer zwischen Anfang 1933 und Juni 1936 nach ihren ursprünglichen Berufsgruppen: 59 Prozent – Handel, 25,8 Prozent – freie Berufe, 9,7 Prozent – Staatsbeamte, 5,8 Prozent – Handwerker und Industriefacharbeiter, 0,7 – landwirtschaftliche Arbeiter. Die Verteilung nach effektiver Berufstätigkeit im Jischuw ergab ein vollkommen anderes Bild: 28,4 Prozent – Bau, Industrie und Bergbau, 15,2 Prozent – Landwirtschaft, 10 Prozent – freie Berufe, 5,5 Prozent – Transport, 3 Prozent – Dienstleistungen, 2 Prozent – Management, 18,7 Prozent – Diverse. Vgl. Palestine and the Jewish Emigration (Anm. 108, 1. Kap.), 14 f. 8 Zu den Schwierigkeiten der kulturellen Eingliederung siehe Gelber, ebd., insbesondere 222–316; Wormann, Kulturelle Probleme (Anm. 122, 1. Kap.), 285. 9 A. Koestler, Das Leben in der jüdischen Metropole (1937), in: ders., In den Fesseln des Okzidents (hebr.), Üb. J. u. S. Nedava, Jerusalem 1984, 100.

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Vor mir saßen zwei ältere Herren. Sie waren von der Vorstellung ganz eingenommen, doch konnte einer von ihnen nicht umhin und stieß immer wieder, die ganze Aufführung hindurch, seinen Sitznachbarn an, wobei er allerlei Bemerkungen von sich gab. Bei jeder Gelegenheit verglich er die unsere mit der berühmten Inszenierung Max Reinhardts an den Berliner Kammerspielen. Er erinnerte sich an die Namen aller Schauspieler aus Berlin und verschiedene Details der einzelnen Szenen, zitierte sogar – auf Deutsch, versteht sich – Witze aus dem Stück.10

Diese Art von Elitismus erregte den Zorn der Alteingesessenen gegen die wohlhabenderen und gebildeteren Neuankömmlinge aus Zentraleuropa.11 Die besonderen Schwierigkeiten, die die deutschsprachigen Immigranten beim Erlernen des Hebräischen hatten, vergrößerten noch die Kluft. Darüber hinaus errichteten sie sogar eigene Gemeindeinstitutionen, während die Alteingesessenen ihrerseits mit allem Nachdruck bemüht waren, die deutschsprachige Alija zu kultureller oder zumindest sprachlicher Anpassung zu zwingen. Bereits im Jahre 1932 gründeten die deutschen Einwanderer die »Hitachdut Olej Germania«, die in der Folge auch die Betreuung der Immigranten aus Österreich übernahm. Die Vereinigung, die es sich zur Aufgabe gestellt hatte, durch entsprechende Beratung die Eingliederung ihrer Mitglieder zu erleichtern, operierte anfangs mithilfe Freiwilliger. Mit dem Anschwellen der Alija wurde die Anstellung bezahlter Mitarbeiter erforderlich. Die Vereinigung war gemeinsam mit der Jewish Agency Mitbegründerin von Wirschaftsunternehmen, wie der Baufirma »Rasco«, den »Mekorot«-Wasserwerken sowie einer Darlehenskasse. Mit der Jewish Agency kooperierte sie sogar bezüglich des Kapitaltransfers von Deutschland nach Palästina. Bis 1939 hatte sie sich auf 26 Filialen mit 6.000 vornehmlich in Tel Aviv ansässigen zahlenden Mitgliedern erweitert. Bereits im Oktober 1934 war die »Kadima«-Bewegung unter der Führung von Kurt Blumenfeld, dem Vorsitzenden der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, mit dem Ziel der Schaffung eines eigenständigen politischen Rahmens gegründet worden.12 Man hätte meinen können, die Person Blumenfelds, der die Aufgabe der deutschen Kultur zugunsten der jüdischen und die Auswanderung nach Palästina befürwortete, hätte zu einer Annäherung zwischen den deutschen Einwanderern und dem Jischuw führen können.13 Diese hielten jedoch weiterhin an ihrer kulturellen Identität fest, sodass sie bisweilen geradezu als separatistisches Element empfunden wurden. Aus der, vor allem in Bezug auf den Gebrauch der hebräischen Sprache, militanten Einstellung der Alteingesessenen den deutschsprachigen Einwanderern 10 Kochanski, Das hebräische Theater (Anm. 111, 1. Kap.), 135. Zitiert nach Äußerungen bei einem Kongress in Warschau [o.D.]. 11 Vgl. dazu auch die Gelbers Studie Neue Heimat (Anm. 4, Einleitung). 12 M. Getter, Die eigenständige politische Organisierung der deutschen Einwanderer (hebr.), in: Hazionut 7 (1977), 241. 13 Lavsky, Vor der Katastrophe (Anm. 60, 1. Kap.), 26. Hingegen suchte die »Haschomer Hazair«-Bewegung Deutschlands die Synthese zwischen der jüdischen Kultur und den in den 20er und 30er Jahren in Europa verbreiteten marxistisch-philosophischen Wertauffassungen.Vgl. Y. Reinharz, Die Geschichte des »Haschomer Hazair« in Deutschland, 1931–1939 (hebr.), Bnei-Brak 1989, 32.

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gegenüber ersieht man, dass ihre Integration im Jischuw noch ein fernes Wunschbild war. Die »Vereinigung zur Durchsetzung der hebräischen Sprache« schrieb den Neueinwanderern deren Beherrschung innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Ankunft vor, wobei die Gewährung eines festen Arbeitsverhältnisses von der Einhaltung dieser Bedingung abhängig gemacht wurde.14 Dieser Druck auf die deutschsprachigen Immigranten verfehlte seine Wirkung nicht. Allmählich wurde Hebräisch auch an ihren Arbeitsplätzen zur Umgangssprache, was mit Genugtuung begrüßt wurde. In einem Bericht über die wirtschaftliche Eingliederung der deutschsprachigen Einwanderer von Dezember 1938 wurde vermerkt, dass im Gegensatz zur Situation der Jahre der Masseneinwanderung »heute jedermann, der sich um Arbeit bewirbt, verpflichtet ist, Hebräisch zu können«15. Doch gelang es bei weitem nicht allen Immigranten – und sicherlich nicht in allen Lebensbereichen –, die hebräische Sprache zu übernehmen. 1939 äußerte sich Arie Ben-David in einem ausführlichen Beitrag in Ha-poel Ha-zair zur mangelnden Integration der Einwanderer aus dem deutschsprachigen Raum in das hebräische Kulturleben. Er behauptete mit einiger Übertreibung, lediglich 20.000 der von ihm auf 65.000 bis 70.000 Personen geschätzten Einwanderergruppe könne bestenfalls die in vereinfachtem Hebräisch verfasste Zeitschrift Davar La-ole lesen. Es gibt jedoch andere, etwa die Hälfte – also 30.000 –, die nicht nur in allem, was hebräische Sprache und Kultur betrifft, wahre Analphabeten sind, sondern sich dessen nicht einmal bewusst sind; für sie ist es selbstverständlich, dass sich der Jischuw ihnen anpassen muss, ohne die geringste Scham oder Verlegenheit sprechen sie überall stolz deutsch, im Café, im öffentlichen Autobus, in den Geschäften und anderen öffentlichen Plätzen […]. Wir müssen deutschsprachige Annoncen, Reklamen und Aufschriften in allen öffentlichen Plätzen dulden […]. Wir sind diesem Phänomen gegenüber zu nachsichtig und erweisen damit der Sache selbst und diesen Menschen gegenüber, die Fremde in unserer Mitte bleiben werden, einen schlechten Dienst […]. Meines Erachtens nach herrscht auch zu große Freizügigkeit hinsichtlich der Aufführung deutschsprachiger Filme. Sie sind ein bedeutender Störfaktor; kann man sie denn nicht durch Filme aus Amerika oder England ersetzen? Ist es denn vom Schicksal vorgegeben, dass allabendlich der Klang der deutschen Sprache in allen Filmtheatern in den Ohren tausender Männer, Frauen und Kinder ertönen muss?16

Solche zornigen Klagen waren keine Ausnahme: Die deutschsprachigen Einwanderer galten als Menschen, die sich kulturell in ihrer eigenen Welt abkapselten. So wurden sie nicht nur Gegenstand zahlreicher Witze, sondern hatten auch unter regelrechter Geringschätzung zu leiden. Etwa ein Jahr nach Erscheinen des oben zitierten Artikels versuchten die deutschsprachigen Olim durch die Gründung einer neuen Zeitung eine Kompromisslösung. Diese, Jediot Chadaschot, 14

Getter, Die deutsche Alija (Anm. 123, 1. Kap.), 140. S. Kalko, Memorandum über die Eingliederung der Neueinwanderer aus Deutschland und Österreich im hebräischen Arbeitsprozess (hebr.), 14. Dezember 1938, CZA S83/1862. 16 A. Ben-David, Über die deutschsprachigen Olim (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 24. März 1939, 11 f. 15

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sollte »von Inhalt und Form her weitaus mehr als bisher üblich den Bedürfnissen der Einwanderer aus deutschsprachigen Ländern angepasst sein […]. Schwierigere Worte sollen auch auf Deutsch angeführt werden«17. Vorläufig aber zeigte sich das »Komité für die hebräische Sprache« demonstrativ intolerant. Es gestattete Jediot Chadaschot zwar, mit Rücksicht auf die deutschsprachigen Einwanderer, 25 Prozent der Zeitung auf Deutsch zu veröffentlichen. Die Bitte des Herausgebers »Schutfut Hozaat Tel Aviv« jedoch, diese Quote um eine Druckseite, also weitere 12,5 Prozent zu erhöhen, wurde schroff abgelehnt, mit dem Hinweis, ebenso wie eine zusätzliche Seite kein großes Zugeständnis sei, sei es auch nicht der Verzicht darauf.18 Die Kritik an den Einwanderern aus Mitteleuropa beschränkte sich jedoch nicht nur auf das sprachliche Problem. Noch bevor dieses offenbar wurde, hatten sich die Alteingesessenen ihnen gegenüber schon ausgesprochen negativ verhalten, wobei die Kritik, obschon auf realen Umständen wurzelnd, mit einem Superioritätsgefühl behaftet war. So etwa wies der aus Russland stammende öffentliche Funktionär Schmuel Eisenstadt im Jahre 1933 mit folgenden Worten auf den Unterschied zwischen den Immigranten aus Russland bzw. Polen und den deutschsprachigen Einwanderern hin: Ein Großteil der deutschsprachigen Alija hat sich bereits Generationen hindurch von den Wurzeln hebräischer Kultur und Sprache entfernt und ist bis an den Rand der so angenehmen und bequemen Assimililation gelangt […]. Diese Ambivalenz, die die Geisteshaltung und das öffentliche Profil der deutschen Alija prägt, macht das Propagieren der hebräischen Kultur innerhalb dieser Gruppe zu einem Problem ersten Ranges und erfordert auch eine spezifische Vorgangsweise […]. Ohne systematische und breitangelegte kulturelle Kampagne wird jede Ansiedlung der deutschen Juden zumindest für absehbare Zeit eine deutsche Enklave innerhalb des Jischuw darstellen.19

Sechs Jahre danach hatte sich der Zustand nicht gebessert. Die aus Deutschland Immigrierten sonderten sich sprachlich und politisch nach wie vor ab, die Alteingesessenen begegneten ihnen weiter feindselig, wobei sie in scheinbarem Wohlwollen ihre Akkulturierung zu erzwingen suchten. So etwa sah man zwar die »Deutsche Sektion« der »Histadrut« (Gewerkschaftsverband) als Fremdkörper an, verstand aber gleichzeitig die dringende Notwendigkeit, »diesem Menschenschlag gegenüber eine besondere Vorgehensweise einzuschlagen, um zu vermeiden, dass es auf beiden Seiten zu weiteren Fehlern kommt und die deutschen Einwanderer in der ›Histadrut‹ Fremdkörper und Anlass für Reibungen, Unzufriedenheit und Missverständnissen bleiben.«20 17 Mit Vokalpunktation versehene Werbeannonce von Jediot Chadaschot, 1940, CZA, A230/72, Hervorhebung im Original. 18 Schreiben des »Komités für die Durchsetzung der hebräischen Sprache« an die »Schutfut Hozaat Tel Aviv« vom 16. Januar 1940, CZA, A230/72. 19 S. Eisenstadt, Zu unser Kulturaktion innerhalb der deutschsprachigen Alija (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 4. August 1933, 8. 20 W. Jurgrau, Über die Aktion innerhalb der deutschen Olim (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 3. Februar 1939, 8.

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4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948

Neben den teils auf Ablehnung, teils auf freiwilliger Absonderung beruhenden Integrationsschwierigkeiten der deutschen Alija machte dem Jischuw auch ein weiterer Aspekt der Berührungspunkte mit der deutschen Kultur zu schaffen. Dass die Immigration aus Deutschland im Wesentlichen Folge des Überhandnehmens des Antisemitismus in Mitteleuropa und des Aufstiegs der Nationalsozialisten in Deutschland war, erregte im Jischuw Verachtung und fand zuweilen in groben Äußerungen Ausdruck, die sich im Nachhinein als profunde Einsicht um die Lage in Deutschland erwiesen. So zum Beispiel erklärte der sozialistische Politiker Max Adler, dass »man Hitler-Deutschland gegenüber nicht die üblichen politischen Kategorien anwenden darf«21; in ähnlicher Weise äußerte sich der Führer des Bauernverbandes Moshe Smilenski: »Gestern erst gehörte die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu den gesündesten und stabilsten innerhalb des jüdischen Volkes […]. Über Nacht ist diese an materiellen und geistigen Gütern so reiche und zahlenmäßig so starke Gruppe Menschen in Nichts aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben!«22 Dieser Meinung schloss sich auch der Leiters des Kulturzentrums der »Histadrut«, Jakob Sandbank an, indem er den ungeheuren Beitrag der Juden zur deutschen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft pries und die Kluft beklagte, die der Nationalsozialismus zwischen Deutschland und den Juden aufgerissen hatte.23 Neben derlei rationalen, gemäßigten Reaktion gab es in der zeitgenössischen Presse auch scharfe und zornige Aussagen. Zum einen wurde dabei das Problem des Nationalsozialismus kristallklar auf den Punkt gebracht, zum anderen spiegelten sich darin Spott und Geringschätzung statt Schrecken, der zum Handeln hätte anstoßen können: Von dem Tag an, an dem dieser vulgäre Mensch [Hitler], dessen Dummheit und Engstirnigkeit nicht nur aus seiner Ideologie, sondern auch aus seiner Physiognomie sprechen, die Bühne der Weltgeschichte betrat, hatte ich das Gefühl, dass gerade er, dieser erfolglose, uncharismatische Mensch in dieser wilden und impertinenten Zeit am gefährlichsten sei […] und Hitler ist ein gefährlicher Feind, gerade weil er zum verächtlichsten Abschaum unter den Judenhassern gehört.24

21

M. Adler, Deutschland in der Knechtschaft (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 22. Februar 1934, 3. M. Smilenski, Das deutsche Beispiel (hebr.), in: Bustenai, 14. Juni 1933, 1. 23 J. Sandbank, Die Katastrophe der deutschen Juden und der Jischuw in Palästina (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 19. Mai 1933, 3. 24 J. F. [Fichman], Hitler (hebr.), in: Mosnajim 9, 28. Juli 1931, 2 f. Scharfe Worte dieser Art mögen unter dem Eindruck der Äußerungen renommierter deutscher Intellektueller entstanden sein, wie zum Beispiel der nachstehend zitierten Worte Heinrich Manns von 1935, die auch auf Hebräisch publiziert wurden: »Die Hanswurste an der Macht wollen einem vormachen, man hätte es hier mit einem nationalen Erwachen zu tun. Wie in einem Schmierentheater gaukeln sie die Größe und Ehre des Volkes vor. Die Schauspieler prusten sich bis zum Zerplatzen vor dem Weltpublikum auf, dessen Manieren es ihm untersagen, sie mit einigen Schüssen von der Bühne zu treiben.« H. Mann, Die Affäre Deutschland (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 16. April 1935, 12. Es handelt sich, wenn auch nicht ausdrücklich vermerkt, wahrscheinlich um eine Übersetzung aus einer deutschen Zeitschrift. Auch wird der Name des Übersetzers nicht genannt. Diese Praxis ist auch für andere hebräische Zeitschriften der vorstaatlichen Ära charakteristisch. 22

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Mitunter führte der Hass gegen die Brutalität der Nazis und ihre unmenschlichen Gesetze zu extremen Reaktionen und deterministischen Schlussfolgerungen in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft: »Das Mittelalter, wenn nicht das Zeitalter der Hunnen, kehrt mit all seinen Schrecken wieder […]. Und am schlimmsten ist – man hat den Eindruck, als bestünde hier eine allgemeine, geheime Komplizenschaft, als hätte das gesamte Volk stillschweigend sein Einverständnis zu diesem Regime des Bösen gegeben.«25 Indes waren in der Regel die Artikel in der hebräischen Presse in gemäßigterem Ton gehalten und hielten sich emotionsloser eher an die zum damaligen Zeitpunkt bekannten Tatsachen. Dessen ungeachtet waren sie auch Ausdruck tiefer Erschütterung und innerer politischer Auseinandersetzungen. So erschien in der Zeitung Ha-poel Ha-zair eine scharfe Kritik an der revisionistischen Minderheitsfraktion der Zionistischen Bewegung unter ihrem Führer Ze‘ev Jabotinsky; bereits sehr früh beschuldigte man ihn, er hätte sich durch das Ausbleiben jedweden Protests gegen das NS-Regime zu dessen Handlanger machen lassen.26 Meist spiegelte die Kritik im Jischuw das Gefühl eines schmerzlichen Versagens wider: Die nach Assimilation strebenden deutschen Juden beklagten nun ihren Verstoß aus der deutschen Kultur. So formulierte es der aus Podolien stammende Jecheskiel Kaufmann, der seine Ausbildung in Bern genossen hatte und 1929 nach Palästina eingewandert war: In einem einzigen Augenblick ist das gesamte ideologische Gedankengebäude, das sich das Westjudentum seit Mendelssohn aufgebaut hatte, in sich zusammengefallen. Im Herzen Tausender ist der Glaube zerbrochen, dass es für Juden eine Erlösung durch nationale Selbstaufgabe gäbe. Der messianische Glaube an die erlösende Assimilierung, der Glaube daran, dass diese den Juden Heimatrecht in Europa erkaufen könne, ist enttäuscht worden […]. Tausende und Abertausende Juden, unter ihnen viele junge Menschen, sind sich über Nacht bewusst geworden, dass sie Fremde in ihrer Heimat sind.27

Dieser Zusammenbruch der jüdischen Aspirationen in Europa beunruhigte und enttäuschte die Intellektuellen im Jischuw. Etwa ein Jahr nach Hitlers Machtantritt veröffentlichte Jehoschua Radler-Feldmann (genannt Rabbi Benjamin) einen zornigen Artikel angesichts der Ohnmacht der Intellektuellen der Weltbühne, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufzurufen, und beschuldigte sie de facto einer zumindest stillschweigenden Kollaboration. Nachdem er sich über ihre von ihm als bloßes Geschrei bezeichneten Aktionen gegen den Nazismus mokiert hatte, reflektierte er darüber, wie die Nazis mit solcher Leichtigkeit an die Macht kommen konnten: »Vielleicht ist es ganz einfach so, dass das deutsche Volk, das Goethe und Schiller, Kant und Beethoven hervorgebracht hat, und unter dessen Menschen ich wandelte und dessen Feldern

25

[Chet-Jod], Die teutonische Sphinx (hebr.), in: Mosnajim 43, 20. April 1933, 13. J. Lufban, Verbündeter des Satans (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 26. Mai 1933, 1–4. 27 J. Kaufmann, Die antisemitische Revolution in Deutschland (hebr.), in: Mosnajim 1/1 (Oktober 1933), 2. Hervorhebung im Original. 26

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ich pflügte und eggte – im Grunde ignorant, geist- und ziellos ist, ohne Hirn und Charakter.«28 Die gegen das Regime eingestellten deutschen Schriftsteller waren sich bewusst, dass ihre Hilflosigkeit als Kollaboration ausgelegt werden konnte, und plädierten dafür, zwischen den Aktivitäten der Nationalsozialisten und dem Verhalten anderer Teile des deutschen Volkes zu unterscheiden. So wurde Heinrich Mann, ein scharfer Opponent des Regimes, auf Hebräisch damit zitiert, dass der von den Nationalsozialisten propagierte Antisemitismus »nicht bis tief ins Volk dringe«, und dass die Nazis »mit der Hetze gegen die Intellektuellen und den Bücherverbrennungen eines bewerkstelligen wollen: Sie wollen dem Volk beweisen, dass die Juden und die Intellektuellen an all seiner Not schuld sind.«29 Doch im Laufe der Jahre, als die nationalsozialistische Ideologie immer breitere Kreise ergriff, wurde deutlich, dass der Westen das deutsche Volk »umerziehen« werde müssen, um das Böse an der Wurzel auszumerzen. In einem am Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges erschienenen Aufsatz erklärte der 1939 nach Palästina immigrierte Max Brod, es werde »einer ernsthaften Erziehungsarbeit bedürfen, um dem deutschen Volk zu Bewußtsein zu bringen, wie tief es gesunken ist, wie weit es gefehlt hat und vom Wege des Humanismus, wie etwa eines Goethe abgewichen ist«.30 Andere Stimmen wiederum nahmen den Aufstieg der Nationalsozialisten mit geringem Erstaunen zur Kenntnis, als das Eintreten eines durchaus vorhersehbaren Ereignisses, da »man sich angesichts der innenpolitischen Entwicklung Deutschlands in den letzten Jahren keinerlei Illusionen mehr hingeben durfte; zahlreiche untrügliche Vorzeichen wiesen darauf hin, dass die Ära der zivilen Republik in diesem Staat zur Neige gehe und der Sieg der Gegenrevolution in Gestalt der nationalsozialistischen Bewegung unter Hitler nicht mehr mehr zu verhindern sei.«31 Das im Jischuw herrschende Gefühl der Ohnmacht und des Defaitismus angesichts der neuen Machthaber in Deutschland ging aus weiteren publizistischen Äußerungen hervor. In einem nach dem Novemberpogrom 1938 erschienenen Artikel drängte Smilenski die Juden, die Flucht an einen sicheren Zufluchtsort zu ergreifen, statt zu versuchen, dem Regime die Stirn zu bieten.32 Zwar beschäftigte sich die zeitgenössische Presse mit dem Nationalsozialismus – vornehmlich durch die Veröffentlichung von Kurzmeldungen und Essays, die sich mit dem Ende der »deutsch-jüdischen Symbiose« auseinandersetzten. Doch erst nach dem Anschluss Österreichs und der »Reichskristallnacht« wurde in Tageszeitungen und Periodika in größerem Umfang und auf den ersten Seiten auf das NS-Regime eingegangen. Auch den jugendlichen Lesern woll-

28

Rabbi Benjamin, Monolog mit Arnold Zweig (hebr.), in: Mosnajim1/6 (Februar 1934), 88 f. Aus Kunst und Literatur: Heinrich Mann über den Antisemitismus in Deutschland (hebr.), in: Gasit 4–5 (1938/39). 30 M. Brod, Thomas Mann und »zweierlei Deutschland« (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 22. Januar 1942, 10. 31 I. Soker, Mit dem Aufstieg Hitlers (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 3. Februar 1933, 1. 32 M. Smilenski, Die Greuel der Nazis (hebr.), in: Bustenai, 23. November 1938, 1. 29

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te man die Geschehnisse erklären. In Davar Lejeladim etwa erschien ein kurzer Artikel Jizchak Yatzivs unter der Überschrift »Hitler erobert Österreich«, dem der Deutlichkeit wegen eine Landkarte beigefügt war.33 Im Laufe des Krieges erreichten den Jischuw Meldungen über die Massenvernichtung der Juden. Im Nachhinein ist klar geworden, dass diese nicht gebührend beachtet wurden. Die Journalisten, die sich aus den zu ihnen dringenden Einzelmeldungen ein Gesamtbild über das Ausmaß des Grauens hätten machen können, widmeten sich den brennenden Themen im Jischuw – und derer waren es nicht wenige. Die Zeitschriften räumten Berichten über die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Europa Platz ein. Wie etwa später auch die Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem zogen sie es vor, ihre Energie in Gedenken statt in Tun zu investieren. So war ein ganzer von Jakob Cohen und Fischel Lachower herausgegebener »Knesset«-Sammelband aus dem Jahre 1943–1944 den untergegangenen Gemeinden gewidmet. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verlegte sich der öffentliche Diskurs von der Frage der Akkulturation der deutschsprachigen Einwanderer im Jischuw auf dringendere Probleme, wie den Kampf um die Immigration in das unter britischer Mandatshoheit stehende Palästina. Die hebräische Verlagsbranche, die die Übersiedlung nach Palästina und wirtschaftliche Krisen bislang überstanden hatte, erlitt einen schweren Rückschlag. Der Buchabsatz ging spürbar zurück, und in der Folge die Aufträge an Druckereien, Schriftsteller, Übersetzer und andere Berufszweige innerhalb des Verlagswesens. Das »Mossad Bialik« war über die neue Lage äußerst besorgt. Bereits 1939 erging folgende Warnung an den Finanzdirektor der Jewish Agency, Elieser Kaplan: Was sind die Auswirkungen des Kriegsausbruchs auf Literatur und Verlagswesen? 1. Der Verkauf hebräischsprachiger Bücher – wissenschaftlicher und belletristischer gleichermaßen – ist mit Ausnahme von Lehrbüchern fast vollkommen zum Stillstand gekommen; 2. In der Folge hat sich die Situation der Verlagshäuser drastisch verschlechtert und die Produktion neuer Bücher wurde eingestellt; das betrifft auch schon in den Umbruch gegangene bzw. zum Teil bereits gedruckte Titel; 3. Die Druckereien liegen still, und dieser wichtige Industriezweig ist in seiner Existenz gefährdet; 4. Viele Schriftsteller sind arbeitslos […]. Seit etwa zwei Jahren werden bei uns keine Erzählungen und Romane, allerortens und in allen Sprachen die verbreitetste Lektüre, mehr herausgegeben. Im Jahre 1938 erschienen einige Romane, darunter auch Übersetzungen, im darauffolgenden Jahr vereinzelte hebräische Originalwerke und nur eine einzige Übesetzung, aus dem Jiddischen.34 Hingegen ist eine besorgniserregende Verbreitung fremdsprachliger Lektüre festzustellen. Es besteht daher keine Chance, ein hebräisches Buch an den Konsumenten zu bringen; von der Möglichkeit, ein Buch in tausenden Exemplaren zu drucken, um es irgendwie rentabel zu machen, ist keine Rede, außer durch eine Preisreduktion, wie sie in den letzten Jahren überall im Ausland, auch in den angelsächsischen Ländern, erfolgt ist.35 33

Y. Yatziv, Hitler erobert Österreich (hebr.), in: Davar Lijeladim, 16. März 1938, 10. Nach den mir vorliegenden Daten erschienen in diesem Jahr neun Übersetzungen aus dem Deutschen, wenn auch keine einzige Erzählung und kein einziger Roman. 35 Das Kuratorium des »Mossad Bialik« an E. Kaplan, Finanzdirektor der Jewish Agency (Antrag 34

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Obgleich die vorliegenden Daten dokumentieren, dass die Verlagstätigkeit in den Kriegsjahren weiterging, blieb die Stimmung in der Branche gedrückt. Die Bitte um neue Aufträge seitens der Übersetzer zeugt von der Verlangsamung der Auftragsvergabe,36 was auf diverse neue Probleme, mit denen sich die Verleger konfrontiert sahen, zurückzuführen war. Diese betrafen teils die technische Seite der Buchproduktion, teils handelte es sich um Absatzschwierigkeiten infolge der allgemeinen Wirtschaftsflaute. So etwa wird die Situation des hebräischen Buchmarktes im September 1940 im Budgetbericht des »Mossad Bialik« für das Jahr 1940/41, als die Auswirkungen des Krieges zu greifen begannen, folgendermaßen geschildert: »Der Buchverkauf ist im Durchschnitt von 800–900 auf 300 Exemplare zurückgegangen, was nur die reinen Druckkosten ohne Amortisation deckt; der Papierpreis ist im Verlauf des Jahres um 300 bis 400 Prozent gestiegen; die Kreditlinien wurden von den Banken stark gekürzt; die Zahlungen an die Buchdruckereien und -bindereien erfolgten zumeist in bar.«37 Aus den Erläuterungen zum Budget für das Jahr 1944/45 ist zu ersehen, dass die Preise wieder in die Höhe gegangen waren und es nunmehr auch möglich war, Bücher, deren Produktion wegen Papiermangels aufgeschoben worden war, in Druck zu geben.38 Der Versuch, die Buchproduktion auf das Vorkriegsniveau zu bringen, stieß bald auf zusätzliche Schwierigkeiten. In der Periode kurz vor der Staatsgründung ähnelte die Situation wieder stark den Verhältnissen in den Kriegsjahren. Im März 1948 wandten sich die Druckereiarbeier an die Industriesektion der Jewish Agency. Mit einer Schilderung der problematischen Lage baten sie zur Gewährleistung des Weiterbestandes des Gewerbes um finanzielle Unterstützung. Seit Beginn der Unruhen im Land sei der Buchabsatz um mehr als die Hälfte gesunken, was »zu einer Aktivitätseinschränkung der Verlagsfirmen und damit zu einem Rückgang der Druck- und Bindeaufträge geführt hat«.39

auf Unterstützung einer hebräischen Volksbücherei), 24. November 1939, CZA, S83/1833. In den 30er Jahren war es in England zu einem Anstieg der Übersetzungen aus dem Deutschen ins Hebräische gekommen. Vgl. Halkin, The Enemy Reviewed (Anm. 45, 3. Kap.), 68. 36 Z. Woyslawski und A. Broides an das »Mossad Bialik«, 23. Mai 1940, CZA, S83/1833. 37 Budgetbericht des »Mossad Bialik« für das Jahr 1940/41, 25. September 1940, CZA, S83/132. Auch die Leserschaft wurde über den steilen Anstieg der Produktionskosten informiert. So trug die Umschlagseite der Broschüre »Hitlers Streben nach der Weltmacht« (Druckerei Moses [ohne Angabe des Erscheinungsortes]) folgenden Vermerk: »Angesichts der gewaltigen Preissteigerung für Papier und Druck sind wir gezwungen, den Preis dieser Broschüre auf 30 Mil. zu erhöhen.« 38 »Das Bild wird noch deutlicher, berücksichtigt man den Effekt der Inflation auf unsere Aktivitäten. In den vergangenen zwei Jahren sind die Preise wie folgt gestiegen: Autorenhonorare, Korrektur – ca. 100 %; Druck – über 200 %; Papier (offiziell) – 500–600 %; Binden – 200–250 %. Infolgedessen reichte der begrenzte Budgetrahmen nicht aus und wir mußten die Literaturproduktion, ganz im Gegensatz zu unserer Aufgabenstellung, auf einen sehr bescheidenen Umfang einschränken […]. Im laufenden Jahr werden einige Bücher, deren Drucklegung wegen des Mangels an Papier aufgeschoben wurde, in Druck gehen […].« Der Bericht führt des weiteren an, dass noch immer, vornehmlich seitens der »Rimon«-Verlages, über einen Papierengpass geklagt werde. Vgl. Erläuterungen zum Budget des »Mossad Bialik« für das Jahr 1944/45, CZA, S83/132. 39 Die Druckereiarbeiter an die Industriesektion der Jewish Agency, 29. März 1948, CZA, S83/ 1651.

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Die finanzielle Seite war nur eine von vielen Schwierigkeiten, mit denen die Verlagsbranche zu kämpfen hatte. Ein unmittelbares, zuweilen unlösbares Problem war der fast permanente, gravierende Mangel an Papier. Dieser beruhte teils auf den Kriegsgeschehnissen, die den maritimen Warentransport erschwerten, teils auf der Teuerung, die die Verleger zu Auftragskürzungen zwang. Der herrschende Papierengpass geht aus einem Großteil der Korrespondenz zwischen Verlagen in Palästina und der Leitung des »Mossad Bialik« hervor, an die man sich mit der Bitte um Hilfe bei der Papierbeschaffung bzw. der Finanzierung des Ankaufes wandte. Einer der Briefe, ein Schreiben des Verlegers Jehoschua Cziczik, gibt eine umfassende Darstellung der Problematik. Cziczik berichtet darin über ein Gespräch mit dem Leiter des Zolls, einem englischen Beamten also, der wenig Mitgefühl für die ihm unterbreitete Notsituation an den Tag legte: der Mangel an Papiersorten verschiedener Qualität und Gewichts, der Preis, 100 Pal. Pfund pro Tonne, verglichen mit dem früheren von 22–24 Pal. Pfund bzw. dem alternativen Bezug aus Amerika, wo der Preis frei Haus bei 50 Pal. Pfund lag. Zudem erklärte Cziczik dem Zollbeamten, dass ein Teil der hebräischen Bücher für den Export bestimmt war und in Devisen, an denen es der britischen Regierung mangelte, bezahlt werden würde; doch auch dieses Argument überzeugte seinen Gesprächspartner nicht.40 Die Lage verschlimmerte sich mit Fortschreiten des Weltkrieges. Anfangs meinten die Verleger noch, sie könnten Notreserven anlegen, denn »außer dem gewaltigen Preisrisiko besteht auch Gefahr, daß die Papierbeschaffung infolge der Kriegsunruhen unmöglich wird«.41 Statt zur Akkumulierung einer solchen Reserve kam es jedoch vielmehr zu einer Verschlimmerung der Lage. Von den mit dem »Mossad Bialik« in direkter Verbindung stehendenVerlagsfimen war der »Rimon«-Verlag am schwersten betroffen. Im Dezember 1942 wurde der Druck von bereits im Hochdruckverfahren in den Letternsatz gegangenen neun Büchern bis auf Weiteres eingestellt. Erst Mitte 1943 wurde die Herstellung wieder aufgenommen.42 In manchen Fällen konnte der Produktionsprozess jedoch nicht in der geplanten Weise fortgesetzt werden, weil das endlich vorhandene Druckpapier nicht mit dem Format der Druckformen, in die die Bleilettern bereits eingesetzt worden waren, übereinstimmte.43 Trotz aller beschriebenen Unbillen wurden weiter hebräische Bücher verlegt, einschließlich zahlreicher Übersetzungen. Der bereits bestehende Usus, neben klassischen und neuen hebräischen Werken literarische Übersetzungen heraus-

40

J. Cziczik an M. Gordon, 22. Mai 1940, CZA, S83/1835. B. Peli an die Leitung des »Mossad Bialik«, 11. Juli 1941, CZA, S83/1840. 42 Zur Einstellung des Druckes siehe M. Gordon an S. Feuerstein, 18. November 1942, CZA, S83/ 298. Die Wiederaufnahme des Druckes ist in einem nicht unterschriebenen, undatierten (ca. Ende Mai 1943) Bericht belegt, CZA, S83/1828. 43 Gordon an Cziczik (Schilderung der Schwierigkeiten bei der Beschaffung der erforderlichen Papierformate im Inland), 14. September 1943, CZA, S83/1835; Cziczik an Gordon (Erklärung der Möglichkeiten zur Beschaffung von Papier und dessen Zuschneiden auf das gewünschte Format), 25. Dezember 1944, CZA, S 83/1835. 41

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zugeben, setzte der Debatte über die Notwendigkeit der Übersetzungen kein Ende, wenn auch diese jetzt einen anderen Charakter annahm. Berl Katznelson, Gründer und Cheflektor des »Am Oved«-Verlages, war einer von jenen, die sich mit besonderem Nachdruck für eine Reduzierung im Umfang der Übersetzungstätigkeit einsetzten. Er entwickelte eine interessante Argumentation, um zu demonstrieren, dass ihn nicht Engstirnigkeit, sondern Voraussicht bewege, sich gegen die Übertragung von fremdsprachigen Werken der Weltliteratur auszusprechen: Nichts ist leichter gesagt als: Wir müssen die Welt kennenlernen. Doch brauchen wir wirklich ein Fenster zur Welt? Wir haben doch noch keine Wände! Unsere Kultur ist doch eine Filmkultur – und Film ist kosmopolitisch; die Kultur jedes Einzelnen von uns ist das Radio – das Radio ist kosmopolitisch; ein Großteil des Jischuw liest fremdsprachige Literatur und Presse in verschiedenster Form. Sind dies denn Menschen aus dem Schtetl, denen man Bildungsmöglichkeiten eröffnen oder erst erzählen muß, daß es auf der Welt einen Nietzsche gibt? Ist das zur jetzigen Stunde unser Problem? […]. Es wäre lachhaft, wollte man mich zu einem Gegner der Übersetzungen stempeln […]. Womit aber wollen wir das vor einem jüdischen Kind, das der hebräischen Literatur verbunden ist, rechtfertigen? All das für ein Buch, das jeder gebildete junge Mensch, der sicherlich eine europäische Sprache beherrschen wird, in 15 Jahren im Original wird lesen können?44

Ungeachtet dieser Einwände und der anfänglichen Irritation über die Anpassungsschwierigkeiten der deutschsprachigen Einwanderer im Jischuw wurde die Bedeutung der deutschen Literaturübersetzungen in den Augen des Lesepublikums im Jischuw keineswegs geringer. Auch das Entsetzen angesichts der Machtübernahme der Nationalsozialisten, des Ausbruchs des Weltkrieges und sogar der Meldungen, die über die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Europa in den Jischuw gelangten, taten den umfangreichen Bemühungen um die Übertragung deutschen Schrifttums ins Hebräische keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil stieg die Zahl der Übersetzungen aus dem Deutschen in den Kriegsjahren beträchtlich an.45 Es will scheinen, als ob die Menschen im Jischuw den Klang der deutschen Sprache, die die Immigranten aus Mitteleuropa weiterhin öffentlich verwendeten, nicht leiden konnten, jedoch weiterhin die in dieser Sprache verfasste Literatur verehrten, wobei hinfort der Übertragung von Werken jüdischer Autoren oder von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen verfolgter Schriftsteller besonderes Augenmerk gewidmet wurde.

44 B. Katznelson, »Am Oved« [Gespräch unter Freunden, 26. Mai 1943], in: Kuntres (August 1944), 21. Vgl. auch B. Katznelson, Gesammelte Schriften 12 (ohne Angabe von Erscheinungsort und Verlag), 169 f. 45 Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 177.

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1928–1948: Politisierung des literarischen Korpus

Mit dem Jahre 1928 setzte die außerordentlich intensive Publikation von aus dem Deutschen übersetzten Werken ein, wobei jüdischen oder jüdischstämmigen Autoren der Vorzug gegeben wurde. Zwischen 1928 und 1948 erschienen 210 von 68 jüdischen Autoren stammende Buchübertragungen aus dem Deutschen (etwa 55 Prozent aller in diesem Zeitraum publizierten Übersetzungen).46 23 Titel (etwa sechs Prozent) stammten aus der Feder von Schriftstellern, die sich vom Judentum gelöst hatten. Insgesamt 131 Titel waren die Werke 60 christlicher Autoren. Bei 15 Büchern (etwa vier Prozent) ist die religiöse Zugehörigkeit der Verfasser unbekannt. Während dieses Zeitraums war alljährlich in der Regel zumindest ein Drittel aller Übertragungen jüdischen Autoren zuzuordnen, in manchen Jahren sogar bis zu zwei Drittel. Während die Dominanz der jüdischen Schriftsteller mit gewissen Fluktuationen beide Jahrzehnte hindurch charakteristisch blieb, ist es schwer, zwischen diesen Schwankungen und den jeweiligen Zeitereignissen eine direkte Korrelation herzustellen. Auch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust war der Anteil der jüdischen Autoren auffallend hoch. So betrafen zum Beispiel im Jahre 1935 circa 77 Prozent aller Übertragungen jüdische Autoren. Am Höhepunkt des Krieges hingegen, im Jahre 1941, stammt ein weitaus niedrigerer, mit 43,5 Prozent jedoch per se sehr beachtlicher Anteil der übersetzten Titel von Juden und Konvertiten. Knapp vor Kriegsende schnellte dieser Prozentsatz in die Höhe, um 1947 mit über 80 Prozent einen Rekordanteil zu erreichen. Diese hohe Rate kennzeichnete die Periode zwischen Kriegsende und Staatsgründung, hingegen gelangte nach 1948 die Übersetzungstätigkeit vom Deutschen ins Hebräische zu einem fast absoluten Stillstand. Neben den jüdischen bzw. konvertierten Autoren verdient eine weitere Autorengruppe, die von den Nazis wegen ihrer offen gezeigten, dissidenten Haltung politisch verfolgten Schriftsteller, besonderes Augenmerk. Die renommiertesten waren Bertolt Brecht, Erich Kästner sowie Heinrich und Thomas Mann. Zudem waren unter ihnen Vertreter des Kommunismus bzw. Sozialismus, wie zum Beispiel Arthur Rosenberg und Karl Liebknecht, deren Schriften in Nazideutschland verboten waren. Die Tendenz in den deutsch-hebräischen Übersetzungen dieser zwei Jahrzehnte weist also deutlich auf eine Bevorzugung von aus rassischen oder politischen Gründen verfolgten Autoren.47 Betrachtet man die Liste der in diesen Jahrzehnten populärsten Autoren, so tritt die jüdische Herkunft noch mehr in den Vordergrund. Ein überwältiger Anteil von ihnen waren Juden – Theodor Herzl, Stefan Zweig, Max Brod, Lion

Zwei davon waren zum Judentum konvertiert – Nahida Ruth Lazarus und Franz Brentano. Dieses Kriterium wurde nicht nur auf deutschsprachige Dichter angewandt. Vgl. dazu Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 130. 46 47

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Feuchtwanger, Jakob Wassermann, Sigmund Freud und Max Nordau, zwei waren aus dem Judentum ausgetreten: Karl Marx und Heinrich Heine; allein die Gebrüder Grimm waren Nichtjuden. Der in diesen Jahren meistübersetzte deutschsprachige Autor war Theodor Herzl. Zwanzig seiner Werke wurden zwischen 1928 und 1948 auf Hebräisch herausgebracht, meist persönliche Aufzeichnungen und politische Schriften – Tagebücher, Briefe und Reden –, die im Jischuw nicht mit deutschem Schrifttum als solchem identifiziert wurden. Ein Teil davon erschien in verschiedenen Fassungen, wie etwa Der Judenstaat in der im »Tuschija«-Verlag mehrmals aufgelegten Übertragung von Michael Berkowitz sowie in einer Neuübersetzung von Ascher Barasz. Auch Herzls Tagebücher und eine Auswahl seiner Schriften wurden jeweils in zwei Auflagen herausgebracht, ebenso eine Aphorismen- und Briefsammlung unter dem hebräischen Titel So sprach Herzl. Einige wenige Werke Herzls gehören in den Bereich der Belletristik, so etwa das Drama Solon in Lydien (1947), die Erzählungen Die Güter des Lebens, Die Heilung vom Spleen (1928) sowie der Roman Altneuland (1939). Dass die Werke des Begründers des Zionismus dem hebräischsprachigen Publikum nahegebracht werden sollten, lag auf der Hand. Für den Schulunterricht wurde – in einem Stadium, in dem die Bedeutung Herzls angesichts der praktischen Realisierung seiner Vision schon in vollstem Maße ersichtlich war – ein Herzl-Lesebuch (1945) zusammengestellt. Ein weiterer im öffentlichen Leben stehender Publizist, von dem in dieser Periode neun Bücher erschienen, war Max Nordau. Auch hier handelte es sich vornehmlich um politische, nicht als deutsche Literatur per se geltenden Schriften, die unter den folgenden Titeln auf Hebräisch herauskamen: Ausgewählte Schriften, Politische Schriften, So sprach Nordau (Reden und Briefe), Das zionistische Testament Max Nordaus, Max Nordaus Schriften sowie Märchen. Für Kinder erschien lediglich eine Kindererzählung unter dem hebräischen Titel Das Wunderwasser, verglichen mit drei Märchensammlungen in der Vorperiode. Unter den Sachbüchern waren Freud und Marx die meistgelesenen Autoren. In dieser Zeit wurden acht Bücher Freuds publiziert. Dabei war Freuds jüdische Abstammung nicht der vorrangige Faktor, vielmehr seine Anerkennung als Begründer eines neuen Wissenschaftzweiges, der sich in Europa bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert hatte. Sein Renommee wurde auch von den Kontroversen um seine Theorien und Therapiemethoden nicht erschüttert. Im Hebräischen wurde er erstmalig 1928 mit einer Übertragung des 1921 veröffentlichten Buches Massenpsychologie und Ich-Analyse herausgebracht. Sein bahnbrechendes, ursprünglich 1901 erschienenes Werk Zur Psychopathologie des Alltagslebens wurde erst 1942 ins Hebräische übersetzt, in einer weiteren Fassung zwei Jahre danach. Die späte Veröffentlichung Freuds auf Hebräisch hat offensichtlich zwei Ursachen: Zum ersten der Umstand, dass lange Jahre die meisten an seinen Schriften interessierten Leser ihn ohnehin auf Deutsch oder Englisch lesen konnten; zum andern muss man bedenken, dass die erste Universität im Lande 1925 gegründet wurde und damit auch erst dann akademisches Interesse an seinen psychoanalytischen Theorien aufkam. Seine jüdische Abstammung mag vielleicht darüber hinaus die Herausgabe seiner Selbstdarstellung

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unter dem Titel Mein Leben und Werk und seines Briefwechsels mit Albert Einstein unter dem Titel Warum Krieg? mit angeregt haben. Von ganz anderer Thematik waren die theoretischen Schriften Karl Marx’. Zehn auf acht Originaltiteln basierende Bände erschienen in dieser Periode. Davon war nur ein einziges Werk, Das kommunistische Manifest, bereits Mitte der 20er Jahre ins Hebräische übertragen worden. Neben Marx wurden auch vier Bücher von Friedrich Engels herausgebracht. Wie bei Freud kann man auch bei Marx davon ausgehen, dass das Interesse an der Ideologie und nicht die jüdische Abstammung der ausschlaggebende Faktor für die Übersetzung in die hebräische Sprache war. Auf dem Gebiet der belletristischen Übertragungen sind fast ausschließlich jüdische Schriftsteller anzutreffen, von denen Stefan Zweig der beliebteste war. Zweig war vor 1928 überhaupt nicht ins Hebräische übersetzt worden, obschon er sich im Jahrzehnt davor, unter anderem mit seinem 1917 erschienenen altestamentarischen Drama Jeremias, einen Namen gemacht hatte. In der Periode von 1928 bis 1948 erschienen 15 Werke Zweigs auf Hebräisch. In den im Rahmen dieser Forschungsarbeit gesichteten Zeitschriften fanden sich im selben Zeitraum fünf literarische Prosastücke Zweigs sowie zwei Essays. Wie auch bei Freud und Marx kann man bei Zweig davon auszugehen, dass zumindest ein Teil seiner Werke unabhängig von seiner jüdischen Herkunft ins Hebräische übersetzt worden wäre. In deutscher Sprache erfreuten sich Zweigs Werke ungeheuerer Beliebtheit, in großem Maße wegen des von ihm gepflegten, in jenen Jahren so populären Genres der literarischen Biografie. Sein enormer Erfolg in den deutschsprachigen Ländern zeigt sich unter anderem in den Absatzziffern seines Werkes Verwirrung der Gefühle, von dem innerhalb der ersten zwei Wochen nach Erscheinen 40.000 Exemplare verkauft wurden. Auf Hebräisch erschien die Erzählung erst 1945, drei Jahre nach Zweigs Tod, als Teil einer Novellensammlung. Seine historischen Miniaturen Sternstunden der Menschheit wurden in den drei Jahren nach ihrem ersten Erscheinen in Deutschland, 1927– 1930, eine viertel Million Mal verkauft.48 Der große Erfolg Zweigs im Ausland beschleunigte offensichtlich auch seine Übertragung ins Hebräische; seine Biografie Maria Stuarts etwa wurde bereits 1936, ein Jahr nach ihrer Erstpublikation im Original, auf Hebräisch veröffentlicht. Zweigs Autobiografie Die Welt von gestern – im Original erschienen 1942, in jenem Jahr, in dem Zweig freiwillig aus dem Leben schied – kam zwei Jahre später in hebräischer Sprache heraus. Zweig hatte sein heißgeliebtes Europa 1937 verlassen, als ihm bewusst wurde, dass der Kontinent am Rande eines Abgrunds stand. Im brasilianischen Exil, wo er seine Autobiografie verfasste, verfiel er in ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Eine Ära geistiger Verrohung schien ihm in Europa angebrochen zu sein, deren Ende er nicht abzusehen vermochte. Sein Verzweiflungsschrei entsprang der universalistischen Geisteshaltung eines Menschen, der sich als »Weltbürger«, »als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als

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Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik (Anm. 8, 3. Kap.), 69, 85.

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Humanist und Pazifist«49 verstanden wissen wollte. Zweifelsohne stellte Zweigs Judesein bei der Herausgabe seiner Werke auf Hebräisch einen gewichtigen Faktor dar. Seine Übersetzer sahen ihn sicher als österreichischen Juden und Weltbürger an. Nach Stefan Zweig war Max Brod der populärste deutschsprachige Schriftsteller, der in hebräischer Übersetzung publiziert wurde. Der aus Prag gebürtige Brod war 1939 nach Palästina eingewandert, wo er weiterhin auf Deutsch schrieb. Den deutschsprachigen Lesern war Brod bereits seit dem Erscheinen von Die Arche Noah (1912) und Tycho Brahes Weg zu Gott (1916) bekannt. Zwischen 1929 und 1948 wurden zehn seiner Werke ins Hebräische übersetzt, eines davon in zwei Fassungen. Auch Brod hatte, obschon in weit geringerem Maße als Stefan Zweig, im deutschsprachigen Raum Erfolg. Von seinem 1925 erstveröffentlichten bekannten Roman Reubeni, Fürst der Juden wurden innerhalb von fünf Jahren 35.000 Exemplare verkauft. Auf Hebräisch erschien das Werk in einer Übertragung durch Jizchak Lamdan 1929. 1940 wurde die Bühnenfassung in einer Übersetzung von Menachem Salman Wolfowski am »Habima«-Theater, an dem Brod als Dramaturg tätig war, aufgeführt. Kommerzieller Erfolg war auch seinem Buch Die Frau, nach der man sich sehnt, beschieden, das jedoch nicht ins Hebräische übersetzt wurde. Nach seinem Erscheinen im Jahre 1927 wurden 35.000 Exemplare dieses Buches verkauft.50 Über den Absatzerfolg seiner Werke im deutschsprachigen Raum hinaus kam Brod auch zugute, dass er sich nach seiner Immigration persönlich der Übertragung und Herausgabe seiner Werke in Palästina annehmen konnte.51 Auch wurde er dem Publikum durch zahlreiche Veröffentlichungen in seiner Eigenschaft als Dramaturg der »Habima« in der Theaterzeitschrift Bama sowie durch Beiträge zu diversen Themen in Ha-poel Ha-zair bekannt. Seine enge persönliche Bekanntschaft mit dem Schriftsteller und Übersetzer S. Shalom (Shalom Joseph Shapira) war ein nicht unbedeutender Faktor bei der Übertragung seiner Werke ins Hebräische. Es war Shalom, der im März 1941 an das mit der Koordinierung der Verlagstätigkeit im jüdischen Palästina betraute »Mossad Bialik« mit demVorschlag herantrat, eines von zwei Werken Brods auf Hebräisch herauszubringen, Annerl. Schicksal einer alleinerziehenden kokainabhängigen Frau oder Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung. Fünf Monate darauf übersandte Brod selbst zwei seiner Bücher an das »Mossad Bialik«, weitere vier Monate später wurde beschlos-

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S. Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers [1942], Hamburg 1982, 7. Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik (Anm. 8, 3. Kap.), 69, 85. 51 Später besorgte er bekanntlich die Herausgabe des literarischen Nachlasses seines Freundes Franz Kafka, der sich als der weitaus größere Schriftsteller erweisen sollte. In dem hier behandelten Zeitraum jedoch war Kafka dem hebräischen Leser nur durch zwei kurze Erzählungen bekannt: Betrachtungen (1924 [hebr.], in: Ha-poel Ha-zair, Übersetzung von Gershon Hanoch) sowie Rechenschaft vor einer Akademie (1935 [hebr.], in: Ha-poel Ha-zair, Übersetzung von Israel Cohen). Erst 1945 erschien das erste Buch Kafkas auf Hebräisch, Amerika, übertragen von Jizchak Schönberg (Shenhar). 50

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sen, die Übersetzung von Abenteuer in Japan in Auftrag zu geben. Nachdem Brod sich bereiterklärt hatte, die Urheberrechte gegen eine in Anbetracht der Finanzknappheit des »Mossad Bialik« und der Verlage in Palästina reduzierte Summe zu überlassen, intervenierte Shalom wiederum zu seinen Gunsten: In Anbetracht der prekären finanziellen Situation Brods ersuchte er, die Zahlung des ihm geschuldeten Betrages nicht in die Länge zu ziehen. Bis zum Erscheinen des Buches im Oktober 1943 ergingen noch einige Briefe Brods an das »Mossad Bialik«; darin übermittelte er unter anderem das Vorwort zum Buch und beschwerte sich über die Verzögerung des Drucks.52 1944 klagte Brod dem Leiter des »Mossad Bialik«, Mosche Gordon, über die Knappheit an Druckpapier, die dem zeitgerechten Druck seines mit dem befreundeten S. Shalom gemeinsam verfassten Dramas Saul im Wege stand.53 Bemerkenswert ist im Übrigen, dass Brod der einzige Autor war, dem – im Jahre 1949 – der Bialik-Preis für ein auf Deutsch verfasstes (im Original und in hebräischer Übersetzung gleichzeitig erschienenes) Werk, Galilei in Gefangenschaft, verliehen wurde. Neben Brod waren einige weitere deutschsprachige Schriftsteller nach Palästina immigriert, deren Präsenz im Lande sicherlich, wie auch in seinem Fall, der Übertragung ihrer Werke ins Hebräische förderlich war. Dazu gehören bekannte Namen wie Arnold Zweig, der von 1934 bis zu seiner Remigration nach Deutschland im Jahr 1947 auf dem Carmel-Berg in Haifa, einer bekannten »deutschen« Enklave, lebte. Auch er korrespondierte mit dem »Mossad Bialik« bezüglich der möglichen Herausgabe seiner Werke auf Hebräisch. Sein Roman Das Beil von Wandsbek wurde direkt vom Manuskript ins Hebräische übersetzt. Diese Fassung erschien bereits 1943, vier Jahre vor der Veröffentlichung in deutscher Originalsprache. Es gab daneben noch einige weniger bekannte deutschsprachige Schriftsteller in Palästina. Zu ihnen gehörte Martha Hofmann, die unter anderem biografische Schriften über Herzl verfasste und vornehmlich in der Zeitschrift Bama theaterwissenschaftliche Essays veröffentlichte. Auch sie korrespondierte direkt mit dem »Mossad Bialik«. So etwa fragte sie im Mai 1940 nach dem Grund für die Ablehnung eines von ihr eingereichten Manuskriptes.54 Auch Irma Singer, 52 Briefwechsel Brods und Shaloms mit dem »Mossad Bialik« bezüglich der Veröffentlichung von Abenteuer in Japan vgl. S. Shaloms an diese Institution gerichtetes Schreiben (Vorschlag zur Übertragung eines Werkes Brods), 3. März 1941, CZA, S83/405 Brod an das »Mossad Bialik« (Übermittlung dreier Bücher), 20. August 1941, CZA, S83/405; Brod an das »Mossad Bialik« (Übertragung der Übertragungsrechte an Abenteuer in Japan), 31. Dezember 1941, CZA, S83/405; Gordon an Brod (Mitteilung über Gewährung der Bezahlung der Rechte zu reduziertem Preis), 2. Januar 1942, CZA, S83/405; Shalom an Gordon (Bitte um Zahlung an Brod wegen Geldnot), 26. Januar 1942, CZA, S83/ 405; Gordon an Brod (Mitteilung über das Befinden des Buches im Umbruch und Bitte um Auszahlung eines Vorschusses anstelle des verlorengegangenen), 29. August 1943, CZA, S83/405; Gordon an Brod (Mitteilung über baldiges Erscheinen und Verzögerung wegen Papierknappheit), 7. September 1943, CZA, S83/405. Das Buch erschien am 22. Oktober 1943. 53 Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Saul siehe: Gordon an Brod (Unterstützung der Verlegung von Saul durch das »Mossad Bialik«, 25. Mai 1944, CZA, S83/405; Brod an Gordon (Beschwerde über das Fehlen von Druckpapier für Saul), 27. Juli 1944, CZA, S83/405. 54 Hofmann an Gordon (Anfrage wegen Ablehnung eines Manuskripts), 22. Mai 1940, CZA, S83/259.

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deren Erzählungen zum Kanon der israelischen Kinderliteratur zählen, schrieb in deutscher Sprache. Dem lyrischen Werk Else Lasker-Schülers, die sich in Jerusalem niedergelassen hatte, wurde zu dieser Zeit noch keine Anerkennung zuteil. Ihre Gedichte erschienen zwar in hebräischer Übertragung in Zeitungen und Zeitschriften, eine Gedichtsammlung wurde damals aber noch nicht veröffentlicht. Ein weiterer häufig ins Hebräische übersetzter deutscher Schriftsteller war Lion Feuchtwanger. Sieben seiner Werke wurden in der hier besprochenen Periode, die der seines Aufstiegs im deutschsprachigen Raum entspricht, in hebräischer Sprache herausgegeben. Fünf davon erschienen bald im Anschluss an die deutsche Erstausgabe: Der Tag wird kommen und Der jüdische Krieg erschienen fast gleichzeitig in beiden Sprachen; Die Geschwister Oppenheim und Die Söhne lagen bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen in Deutschland auf Hebräisch vor. Hingegen wurde Der falsche Nero direkt vom deutschen Manuskript übersetzt. Die Publizierung dieses Werkes im Jahre 1942 ging seinem Erscheinen in Deutschland um fünf Jahre voraus. Drei seiner Bücher gab es jeweils in zwei Auflagen: Die Söhne und Der jüdische Krieg – beide übertragen von Josef Lichtenbaum, sowie Jud Süß in der Übersetzung von Mordechai Avi-Shaul. Bei seinem Erscheinen in Deutschland im Jahre 1925 wurde der Roman Jud Süß von der Kritik stilistisch als der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts entsprechend empfunden. Innerhalb von acht Monaten waren 40.000 Exemplare verkauft, bis Februar 1929 insgesamt 80.000 Exemplare.55 Interessanterweise fanden sich in den zum Zwecke dieser Forschungsarbeit gesichteten Zeitschriften keinerlei von Feuchtwanger stammende Beiträge. Kaum weniger populär im jüdischen Palästina war Jakob Wassermann, der mit seinem voluminösen Roman Der Fall Maurizius zu Ruhm gelangt war. Von diesem im Original im Februar 1928 im »S. Fischer«-Verlag erschienenen Werk wurden innerhalb von vier Wochen 25.000 Exemplare abgesetzt. Bis Mai desselben Jahres waren es insgesamt 55.000, bis November 75.000. Bis zum Fall der Weimarer Republik wurden insgesamt 112.000 Exemplare verkauft.56 Auf Hebräisch kam das Buch 1933 in einer Übertragung von Menachem Salman Wolfowski heraus.57 Wassermann war dem hebräischsprachigen Publikum bereits seit den zwanziger Jahren durch das Erscheinen von vier seiner Werke in hebräischer Sprache bekannt; von diesen wurden Die Schwestern zweimal aufgelegt. Zwischen 1927 und 1948 wurden neun seiner Bücher übersetzt, die jeweils in einer Auflage erschienen. Die Wertschätzung, die Wassermann innerhalb der Verlagsbranche genoss, ersieht man nicht nur aus den deutschen Verkaufsziffern des Fall Maurizius, 55

Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik (Anm. 8, 3. Kap.), 63 f. Ebd., 37. 57 Bemerkenswerterweise wurde bei einer Wiederauflage des Werkes durch den »Am Oved«-Verlag im Jahre 1983 die von Wolfowski angefertigte Fassung verwendet, statt, wie heute im Allgemeinen üblich, eine neue Übersetzung in Auftrag zu geben. Man erkennt daraus die Qualität von Wolfowskis Arbeit, die die Jahre überdauert hatte. 56

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sondern auch aus der Dokumentation der Verhandlungen zwischen dem »Mossad Bialik« und ausländischen Verlagen in Bezug auf Übersetzungsrechte. In der ersten Hälfte des Jahres 1940 war das »Mossad Bialik« um die Rechte für Bula Matari bemüht. Es konnte es sich aber nicht leisten, auf den vom »Kurt Reis«Verlag in Basel für die Überlassung der Rechte geforderten Betrag einzugehen, sodass es letztlich zu keiner Übersetzung kam.58 Neun (zumeist Prosa- und Philosophie-)Bücher sowie Dutzende philosophischer Fragmente und Gedichtsammlungen Heinrich Heines wurden in der in diesem Kapitel erörterten Periode auf Hebräisch veröffentlicht. Die Bücher kamen offensichtlich gut an: 1944 ersuchte angesichts des kommerziellen Erfolges die Verlegerin Bracha Peli das »Mossad Bialik« um die Genehmigung zur Übertragung von Heine-Gedichten.59 Auch bei Heine, der sicherlich früher seines Ranges innerhalb der deutschen Dichtung wegen übersetzt worden war, spielte jetzt die jüdische Herkunft eine Rolle; Die romantische Schule, Über Ludwig Börne: Eine Denkschrift und Reisebilder: Italien (dritter Teil) kamen dem sich der Publizierung von Juden aus dem Neckargebiet widmendem »Ligvulam«Verlag heraus. In der Tat kamen Heines jüdische Wurzeln in den nachfolgend zitierten Besprechungen seiner Werke und sonstigen Veröffentlichungen zu seiner Person immer wieder zur Sprache. Innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur waren die Brüder Grimm weiterhin die Spitzenreiter, wenngleich auch die Zahl der Übersetzungen rückläufig war. In den beiden Jahrzehnten vor der Staatsgründung wurden etwa ein Dutzend Bücher und Hefte mit Grimmschen Märchen auf Hebräisch gedruckt. Obwohl in nicht wenigen Fällen zwischen dem kommerziellen Erfolg eines Buches in deutscher Originalssprache und dem Umstand seiner Übertragung ein direkter Zusammenhang nachzuweisen ist, gab es umgekehrt doch zahlreiche Bestseller, die unübersetzt blieben, unter anderem Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz; von dem im Oktober 1929 erstveröffentlichten Roman waren innerhalb von acht Monaten 80.000 Exemplare verkauft worden.60 Dass das Buch erst 1987 ins Hebräische übertragen wurde, mag an Döblins modernistischem Stil liegen, der den hebräischen Verlegern jener Epoche weniger entsprach. In anderen Fällen verzichtete man auf eine Übersetzung, wenn die Verlags-

58 »Mossad Bialik« an den »Bermann-Fischer«-Verlag, Stockholm (Bitte um Überlassung der Übersetzungsrechte für Bula Matari), 10. Januar und 21. Februar 1940, CZA, S83/1832; »Mossad Bialik« an den »Kurt Reis«-Verlag, Basel (dito), 10. März 1940, CZA, S83/1832; »Bermann-Fischer« an »Mossad Bialik« (Rechte bei »Reis«), 15. März 1940, CZA, S83/1832; »Reis« an »Mossad Bialik« (Kostenpunkt 1000 Franken oder 500 Franken zuzüglich 10 Prozent Umsatzbeteiligung ), 18. März 1940, CZA, S83/1832; »Mossad Bialik« an »Reis« (Zahlung bis fünf Pfund möglich), 5. April 1940, CZA, S83/1832; »Reis« an »Mossad Bialik« (Angebot von Ersatz für Wassermann [beide offerierten Bücher wurden nicht übersetzt]), 23. April 1940, CZA, S83/1832; »Mossad Bialik« an »Reis« (Zurückweisung der Ersatzangebote) [undatiert], CZA, S83/1832; »Reis« an »Mossad Bialik« (Abbruch des Kontaktes), 21. Mai 1940, S83/1832. 59 Peli an »Mossad Bialik« (Antrag auf Übertragung zweier Heine-Gedichte), 28. März 1944, CZA, S83/1840. 60 Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik, (Anm. 8, 3. Kap.), 39 f.

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häuser in Palästina das Buch als saisonalen Bestseller einschätzten, doch wurden solche Bücher nicht rundweg abgelehnt. So etwa wurden die Romane Vicki Baums, als Schriftstellerin jüdischer Herkunft dieses Genres, durchaus ins Hebräische übersetzt. Grand Hotel erschien 1933 auf Hebräisch, vier Jahre nach seiner Veröffentlichung in Deutschland, wo im Zeitraum von zwei Jahren 56.000 Exemplare abgesetzt worden waren.61 Ein auffälliges Merkmal der Übersetzungen in den zwei vorstaatlichen Jahrzehnten ist ihre Aktualität und ihr enger Bezug zum kulturellen Geschehen in Europa und der Welt.62 Dies ging Hand in Hand mit der schon erwähnten Präferenz für die Werke von durch das NS-Regime aus rassischen oder politischen Gründen verfemten Schriftstellern.63 Viele von ihnen gingen ins Ausland, einige wenige nach Palästina, wo sie sich für die Übertragung ihrer Bücher ins Hebräische einsetzen konnten. Die überwältigende Mehrheit aber emigrierte in gegen Hitler-Deutschland eingestellte europäische Staaten bzw. nach Nord- oder Südamerika. Sie wurden in Palästina als übersetzungswürdig empfunden, weil sie durch das Exil ihre Haltung zum NS-Regime kundgetan hatten. In dieser Phase kam es somit zu einer recht einzigartigen Verschränkung dreier Faktoren: Übersetzt wurden zeitgenössische Autoren jüdischer Herkunft bzw. durch die Nationalsozialisten verfemte Schriftsteller, und zwar komplette Bücher. Die Wahl jüdischer Autoren führte indes nicht unbedingt zur Übertragung von Werken, die sich mit jüdischen Themen, also der jüdischen Frage oder der Beschreibung jüdischer Lebenswelten, befassten. Weniger als 20 Prozent der in den zwei letzten Jahrzehnten des Jischuw veröffentlichten Übersetzungen, seien es literarische oder historische Werke, haben ausgesprochen jüdischen Charakter.64 18 Bücher, weniger als fünf Prozent, flechten jüdisch-zionistische Belange in einen universellen Kontext ein. In diese Kategorie gehören Theodor Herzl, Arthur Ruppin und Max Nordau. Lediglich acht Bücher haben biblisch-religiösen Bezug, der jedoch für Christen ebenso wie für Juden relevant ist.65 Alle anderen in dieser Periode gedruckten Bücher behandeln diverse allgemeine Themen. 61

Ebd., 89 f. Von den 144 in dieser Periode ins Hebräische übersetzten Schriftstellern handelte es sich in 105 Fällen um die erstmalige Übersetzung ganzer Werke. Weitere 26 Autoren – 13 Juden, 11 Christen und zwei unbestimmter Konfession – waren der hebräischsprachigen Leserschaft bereits aus der ersten Phase des Jischuw, 1882–1927, durch vollständige Buchübersetzungen bekannt. Die Werke von lediglich 13 Verfassern – sieben Juden und sechs Christen – wurden noch vor 1881 als Ganzes ins Hebräische übertragen. 63 Die Dichterin Lea Goldberg meinte, »es mag sein, dass hier im Lande aus dem Deutschen einiges aus nationalistischen Gründen nicht übersetzt wurde«, ohne jedoch auszuführen, wen sie damit meinte. Ihrer Ansicht nach gingen die Übertragungen aus dem Französischen im Jischuw geplanter vor sich, weil es mehr deutsche und englische Muttersprachler gab [die die Originale lesen konnten]. L. Goldberg, Die Weltliteratur in hebräischer Übertragung (hebr.), Tel Aviv 1951. 64 65 von insgesamt 379 in diesen Jahren erschienenen Übersetzungen. 65 Gemeint sind hier: S. Zweig, Jeremias (1929), K. Gutzkow, Uriel Acosta (1930), N. Lazarus, Ich suchte Dich (1932), E. Bernhard, Der Brief des Uria (1935), T. Mann, Joseph und seine Brüder (1935), L. Feuchtwanger, Die Söhne (1936, 1945), M. Mendelssohn, Jerusalem (1947). 62

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Eine nähere Betrachtung der spezifischen Themenbereiche zeigt eine Rückkehr zur aus der Periode vor 1881 bekannten Tendenz: Bei nahezu einem Drittel der Übertragungen handelt es sich um (vornehmlich Prosa-)Literatur für den erwachsenen Leser.66 Daneben wurden 32 aus dem Deutschen übertragene Dramen publiziert, von denen 21 aufgeführt wurden. Darüber hinaus erschien noch eine Reihe von Übersetzungen in aktuell zusammengestellten Sammelbänden.67 Der Anteil der Kinder- und Jugendliteratur ging von einem Drittel in der Vorperiode auf ein Fünftel zurück. Den zweitwichtigsten Themenkomplex machten etwa 70 Schriften aktueller Thematik aus, ein Viertel davon inspiriert von sozialistischer Ideologie.68 Von den insgesamt 54 Sachbüchern im Bereich der Geisteswissenschaften gehörte die Hälfte zur Geschichtswissenschaft.69 Auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften erschienen 17 Bände,70 lediglich fünf in den Naturwissenschaften, nämlich in den Bereichen Medizin, Physik und Biologie. Es kann somit auf folgende Phänomene hingewiesen werden: erstens die Verschiebung von Kinder- und Jugendliteratur zu der für den erwachsenen Leser bestimmte Prosaliteratur; zweitens das wachsende Augenmerk auf aktuelle Fragestellungen, darunter namentlich Literatur, die den Thesen des Sozialismus gewidmet war; drittens der Anstieg der für die Bühnenproduktion gedachten Dramenübersetzungen sowie viertens ein gewisser Rückgang der Übersetzungen wissenschaftlicher Fachliteratur. Die Zunahme der Erwachsenenprosa auf Kosten der Kinder- und Jugendliteratur mag auf den ersten Blick erstaunen. An den Beweggründen für die Übertragung von Kinder- und Jugendbüchern hatte sich im Prinzip nichts geändert, da die im Lande aufgewachsene Generation nur hebräisch lesen konnte. Doch ist hier zu berücksichtigen, dass die bislang übersetzte Kinder- und Jugendliteratur zu den klassischen Werken dieses Genres gehörte – man denke zum Beispiel an die Märchen der Gebrüder Grimm. Insofern blieben die schon vorhandenen Übertragungen auch für die jetzige Generation von Interesse, zusätzlich zu jenen zeitgemäßeren Werken, die eigens für sie übersetzt wurden.71 66 106 Prosabände. Dazu kommen neun Lyrikbände, die Übersetzung eines Librettos von Max Brod und zwei Briefsammlungen. 67 In diesem Zusammenhang sei nochmals auf den Papiermangel hingewiesen, der das sporadischere Erscheinen periodischer Zeitschriften zur Folge hatte, wie aus dem Budgetbericht des »Mossad Bialik« für das Jahr 1940/41 hervorgeht: »Indes zeitigt die Wirtschaftskrise in den letzten zwei Jahren ihre Wirkung in Schriftstellerkreisen immer deutlicher. Die Notlage hat sich durch das Schrumpfen der Verlagstätigkeit in Palästina noch verschlimmert, durch die Verschlechterung der Situation der Literaturzeitschriften, die immer dünner werdenden Tageszeitungen (was schon zuvor die Annahme von Beiträgen nicht der Redaktion angehörender Schriftsteller beeinträchtigt hatte).« Budget des »Mossad Bialik« 1940/41, 25. September 1940, CZA, S83/132. 68 28 betreffen allgemeine Zeitthemen, vornehmlich aktuelle politische Fragen; 18 sind dem Sozialismus gewidmet; bei 14 handelt es sich um Biografien, bei sechs um Briefsammlungen; drei weitere beschäftigen sich mit militärischen Fragen. 69 Davon 17 allgemeine Geschichte, 11 jüdische Geschichte, 15 Philosophie sowie neun Biografien und zwei literaturwissenschaftliche Bücher. 70 Acht im Bereich der Psychologie, sechs – Pädagogik, zwei – Soziologie, einer – Wirtschaft. 71 Eine speziell für die Kinder im jüdischen Palästina dieser Periode verfasste Märchenerzählung

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Dass verhältnismäßig mehr Erwachsenenliteratur übersetzt wurde, steht sicherlich mit dem Heranwachsen jener Generation in Zusammenhang, die mit der in der Vorperiode (1882–1927) übertragenen Kinder- und Jugendliteratur aufgewachsen war. Das erwachsene Lesepublikum dieser zwei letzten Jahrzehnte des Jischuw bestand aus zwei Hauptgruppen: Zum einen die schon im Land aufgewachsene Generation, die hebräischsprachige Bücher, sei es Original oder Übersetzung, las; zum anderen die Neueinwanderer, die mit dem Hebräischen nicht gut zurechtkamen und weiterhin Bücher in den europäischen Originalsprachen lasen.72 Obgleich evident war, dass die Zahl der hebräischen Leser nicht proportional zum Bevölkerungsanstieg im Jischuw wuchs, glaubte die Verlagsbranche sicher, dass diese fremdsprachige Lesergruppe mit der Zeit auch die Fähigkeit entwickeln könnte, sich auch hebräischer Lektüre zuzuwenden. Hier sei nochmals auf die militante Einstellung des »Komités für die hebräische Sprache« gegen die Verwendung anderer als der hebräischen Sprache hingewiesen, wie auch auf die scharfe Kritik Berl Katznelsons im Zusammenhang mit der hebräischen Übersetzung angesichts der im Jischuw weitverbreiteten Lektüre fremdsprachiger Originalliteratur.73 Auch die wesentliche Zunahme der aktuellen Themen gewidmeten Publikationen ist sicherlich zum Teil auf das größere Leserpotenzial zurückzuführen. Ausschlaggebender waren indes wohl die politischen Entwicklungen im Jischuw und in der Welt. Gegen Ende der 20er Jahre brachte der Jischuw Ansätze zu einem politischen Gemeinwesen hervor, das zwar noch keine Souveränität, jedoch politische Institutionen und Parteien besaß. Die politische Leitung rekrutierte sich vor allem aus dem sozialistischen Lager und setzte sich aus der Pionierideologie des Landes verhafteten Persönlichkeiten zusammen. Vor diesem Hintergrund war es nur natürlich, dass zahlreiche Schriften sozialistischer Denker ins Hebräische übertragen wurden, namentlich jene von Marx und Engels, daneben auch Werke Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und anderer. Außer der ideologischen Nähe zur damaligen Führungselite des Jischuw kam hier wiederum der Umstand hinzu, dass diese Autoren im Nazideutschland verfemt waren. Bei manchen von ihnen war auch die jüdische Herkunft ein zusätzliches Motiv. entstand auf der Grundlage einer Zusammenfassung des Librettos von Wagners Lohengrin. Das in der »Sifrija Ketana Lijeladim« 1928 erschienene Büchlein stammte von einem anonymen Übersetzer, von dem nur die Initialen B.P. bekannt sind. Exemplare der Originalausgabe sind nicht mehr vorhanden. Die Übersetzung wäre von geringem Interesse, wäre es nicht im Anschluß an das Novemberpogrom 1938 erstmals zur Absage eines Wagner-Konzerts unter Eugen Szenkar gekommen, die zum Auftakt eines teilweise noch immer bestehenden Wagner-Boykotts in Palästina/Israel wurde. Ausführlich zu dieser Thematik siehe Sheffi, Der Ring der Mythen (Anm. 2, Prolog). Jedoch übersetzte noch 1940 Gershon K. Gershuni Briefe Wagners für die Zeitschrift Bama ins Hebräische. 72 Die größte Altersgruppe unter den deutschen Einwanderern bestand aus den 21- bis 30-Jährigen, 29 Prozent der zwischen Januar 1933 und Juni 1938 aus Deutschland Immigrierten. Obwohl es sich hier um gebildete, auch altersmäßig als potenzielle Leserschaft infrage kommende Schichten handelte, ist davon auszugehen, dass viele dieser Menschen sich mit hebräischsprachiger Lektüre schwertaten. Statistische Daten zur Immigration sind zu entnehmen aus: Palestine and the Jewish Emigration (Anm. 108, 1. Kap.), 8. 73 Vgl. Getter, Die deutsche Alija (Anm. 123, 1. Kap.), 140; B. Katznelson, »Am Oved« (Anm. 44).

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Eine Reihe weiterer Übersetzungen betrafen den Nationalsozialismus. Diese Bücher setzten sich, an der Grenze zwischen akademisch-politikwissenschaftlicher Analyse und ausführlicher journalistischer Reportage, mit den Hintergründen des Aufstiegs von Antisemitismus und Faschismus bzw. mit Hitler als Führerpersönlichkeit auseinander. Zu letzteren zählten Bücher wie Gespräche mit Hitler und Hitlers Streben nach Weltmacht74 von Hermann Rauschning sowie Konrad Heidens Ein Mann gegen Europa. Vereinzelt wurden den hebräischen Lesern auf Deutsch erschienene, nicht ins Hebräische übersetzte Bücher vorgestellt, wobei es galt, die Frage nach dem Wesen des Nationalsozialismus und den Gründen für seinen Aufstieg zu klären. So hieß es in einer 1934 erschienen Besprechung Raphael Seligmanns von Georg Bernhards Die deutsche Tragödie: Das Jahr 1918 besiegelte das Schicksal der deutschen Nation in der Nachkriegszeit. Es war eine Zeit der Verwirrung und des Chaos, wie es die deutsche Nation seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht erlebt hatte […]. Und doch hätte die deutsche Demokratie all diese gewaltigen Schwierigkeiten, Hindernisse, Erschütterungen und Umwälzungen aus eigener Kraft überwunden, wäre nicht die Weltwirtschaftskrise ausgebrochen, die Massen von Arbeitslosen und sich müßig auf den Straßen Herumtreibenden auf den Plan brachte […]. Diese Situation machten sich die Nationalsozialisten zunutze.75

Dieser relativ kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten erschienene Artikel ist exemplarisch für das Bestreben, im Jischuw das Verständnis für den Charakter der nationalsozialistischen Ideologie zu vertiefen. Es dokumentiert sich in dem Umstand, dass gerade nach Kriegsbeginn, als die Verlage fast ausschließlich jüdische bzw. politisch verfolgte Autoren herausbrachten, viele Übersetzungen auch der Beschreibung des NS-Regimes und seiner Führungselite gewidmet waren. Ein Beispiel dafür sind die Anstrengungen, die das »Mossad Bialik« in die Herausgabe der Übersetzung von Rauschnings Gespräche mit Hitler investierte. Der aus einer Junker-Familie stammende Hermann Rauschning war seit 1926 NSDAP-Mitglied und 1932/33 Präsident des Danziger Senats. Nach Streitigkeiten mit dem Danziger Gauleiter legte er sein Amt nieder, verließ die Partei und floh 1936 in die Schweiz. Nach heutiger Historikeransicht sind seine Gespräche mit Hitler weitgehend nicht authentisch – doch zur Zeit ihres Erscheinens waren sie ein Bestseller. 1940, im Jahr des Erscheinens des Buches in deutscher Sprache (auf Englisch war es 1939 herausgekommen), begann man sich um die hebräischen Übersetzungsrechte zu bemühen.76 Fünf Monate später – nachdem entweder die Rechte erworben worden waren bzw. das englische Embargo gegen Deutschland die 74 Es ist anzunehmen, dass das hebräische Buch Hitlers Streben nach der Weltmacht aus dem Englischen übersetzt wurde, vgl. Hitler wants the world: A series of articles by »the man who knows Hitler's mind«, London 1941, da keine entsprechende deutsche Version vorliegt. 75 R. Seligmann, Die deutsche Tragödie (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 29. Juni 1934, 10. 76 Im Archiv des »Mossad Bialik« befinden sich Kopien zweier Briefe mit dem Ersuchen um die Überlassung der Rechte, die an den Verlag in London (20. Februar 1940) und Paris (30. April 1940) gesandt wurde. CZA, S83/1832.

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Übertragung auch ohne Ankauf der Rechte ermöglichte – fand Bracha Peli einen potenziellen Übersetzernamens Josef Kastel.77 Seine Übersetzung des ersten Kapitels wurde wohl aufgrund der uneinheitlichen Qualität abgelehnt. Stattdessen wurde der bekannte Berufsübersetzer Wolfowski mit der Übersetzung beauftragt.78 Er bat um die Erlaubnis, sich auch auf die englische Fassung stützen zu dürfen, da offensichtlich die deutsche Fassung nicht vollständig war.79 Das »Mossad Bialik« gestattete ihm dieses und regte auch an, dem hebräischen Leser nicht geläufige Ausdrücke mit Erläuterungen zu versehen. Trotz der schwierigen Umstände kam das Buch Gespräche mit Hitler innerhalb von zehn Monaten nach dem erstmaligen Ersuchen um Abtretung der Übersetzungsrechte auf Hebräisch heraus.80 Ein völlig anderer Bereich der verstärkten Übersetzungstätigkeit vom Deutschen ins Hebräische war das Theater, namentlich die Übersetzung von zur Aufführung bestimmten Stücken. Dies erklärt sich aus dem Bestehen zweier großer Repertoiretheater, der »Habima«, die – ursprünglich 1916 in Moskau gegründet – seit 1931 in Palästina wirkte, und des 1925 errichteten »Ohel«-Theaters. Daneben gab es das kleinere, 1920/21 gegründete »Erez Israel«-Theater, und verschiedene andere Bühnen, wie das 1944 entstandene »Kameri«.81 Parallel dazu stieg die Zahl der Theaterbesucher, von denen nicht alle unbedingt hebräisch lasen. Für die Neueinwanderer mag der Theaterbesuch auch als Beweis für die Beherrschung der hebräischen Sprache und ihre gelungene Integration im Lande gegolten haben, wenn es auch, wie aus den Erinnerungen Joseph Milos hervorgeht, Zuschauer gab, die die Aufführungen im Jischuw nur als schwachen Abglanz des früheren Theatererlebnisses in der europäischen Heimat empfanden.82 Die Auswahl der übertragenen Dramen folgte im Wesentlichen den Kriterien, die generell für Übersetzungen aus dem Deutschen galten. Viele der Stücke hat77 Aus dem Schriftwechsel im Zusammenhang mit einem anderen Buch geht hervor, dass die Abkommen über Urheberrechte zwischen England und mit ihm im Kriegszustand befindlichen Staaten außer Kraft gesetzt waren. Siehe Gordon an Peli (Anweisung, Bücher aus mit England im Kriegszustand befindlichen Staaten in Übersetzung zu geben), 12. Juli 1940, CZA, S83/1840. 78 Peli an Gordon (Kastel ist bereit, Rauschning zu übersetzen), 25. Juli 1940, CZA, S83/1840. Unter den Dokumenten des »Mossad Bialik« findet sich auch eine Übersetzungsprobe Kastels. Vgl. CZA, S83/1839. 79 Hitler Speaks: A Series of Political Conversations with Adolf Hitler on his Real Aims, London 1939; Gespräche mit Hitler, Zürich und New York 1940. 80 Wolfowski an Gordon (Bitte um Verwendung der englischen Fassung), 3. September 1940, CZA, S83/1833; Gordon an Wolfowski (Zustimmung zur Bitte), 4. September 1940, CZA, S83/1833; Wolfowski an Gordon (Schwierigkeiten bei der Übertragung aus beiden Sprachen), 31. Oktober 1940, CZA, S83/271; Gordon an Wolfowski (Vorschlag auf Erläuterungen), 17. November 1940, CZA, S83/271; Gordon an Peli (Mitteilung über Drucklegung des Rauschning-Buches), 3. Dezember 1940, CZA, S83/1840. 81 Aber auch noch weitere Spielbühnen und Zentren der Theaterproduktion, wie »Hakumkum« und die »Vereinigung der Amateurbühnen«, die für das Thema der deutsch-hebräischen Dramenübersetzungen von marginaler Bedeutung waren. 82 Zur Einstellung der Neueinwanderer zum Theater vgl. B. Tamuz (Hg.), Jubiläumsband des Kameri-Theaters zum zehnjährigen Jahrestages seines Bestehens, 1944–1954 (hebr.), Tel Aviv 1954, 18. Vgl. auch Kochanski, Das hebräische Theater (Anm. 111, 1. Kap.).

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1928–1948: Politisierung des literarischen Korpus

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ten jüdische oder alttestamentarische Themen, etwas mehr als die Hälfte stammten von jüdischen Autoren. Das ist vor allem bei den speziell für Bühneninszenierungen übertragenen Dramen deutlich: Von 21 Dramen waren 13 Werke jüdischer Autoren, neun davon jüdischen bzw. alttestamentarischen Charakters.83 Gleichzeitig wurden Dramenwerke mit explizit sozialer Aussage übersetzt, wie etwa Georg Büchners Dantons Tod und Brechts Mutter Courage und Dreigroschenoper. Daneben wurden auch Klassiker wie Schillers Wilhelm Tell und Don Carlos, Infant von Spanien sowie Goethes Faust übertragen. Die große Zahl der Dramenübersetzungen aus dem Deutschen hatte zur Folge, dass sie einen beträchtlichen Teil der Inszenierungen an den beiden großen Repertoiretheatern dieser Epoche bildeten. In den Jahren 1925–1948 standen die deutschen Bühnenwerke mit 22,6 Prozent an erster Stelle der Theaterproduktionen, gefolgt von Übertragungen aus dem Jiddischen (21 Prozent) und aus dem Englischen (19,4 Prozent). Lediglich 8,1 Prozent waren hebräische Originaldramen. Im selben Zeitraum sah die Verteilung, nur auf die Aufführungen des »Habima«-Theaters bezogen, folgendermaßen aus: 18,8 Prozent aus dem Deutschen übertragene Werke, verglichen mit 22,3 Prozent aus dem Jiddischen, 15,3 Prozent aus dem Englischen sowie 14,1 Prozent original hebräische Werke.84 Der hohe Anteil der Übertragungen aus dem Deutschen lässt sich durch drei Faktoren erklären. Zum einen gab es noch keine ausreichende Zahl originaler hebräischer Dramen. Dies mag darauf beruhen, dass es schwieriger war, eine hebräische Bühnensprache zu schaffen, als bestehende Dialoge aus anderen Sprachen ins Hebräische umzusetzen. Zudem waren unter den bedeutenden zeitgenössischen Dichtern und Theaterleuten deutscher Sprache zahlreiche Juden, von denen einige nach Palästina emigriert waren. Dazu zählten Max Brod, der, wie bereits erwähnt, Dramaturg des »Habima«-Theaters war, sowie die Regisseure Leopold Jessner und Leopold Lindberg. Auch andere Theaterleute im Jischuw waren mit dem Theatergeschehen in Deutschland bestens vertraut – viele von ihnen hatten in Deutschland und Österreich Schauspiel studiert, auch war das »Habima«-Ensemble mehrmals in Mitteleuropa auf Tournee gegangen.85 Der dritte, nicht weniger wesentliche Faktor war die Verfügbarkeit der in den verschiedenen Sprachen verfassten Dramentexte. Die hauptsächlichen Ursprungssprachen waren Jiddisch und Englisch, eine auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Kombination. Die Rolle des Jiddischen lässt sich leicht damit erklären, dass die Intellektuellen des Jischuw noch aus der Diaspora mit dem jiddischen Theater sehr vertraut waren.86 Die Aufnahme von englischen Stücken

83 Laut Angaben von Emanuel Levy wurden in der »Habima« in den Jahren 1931–1948 14 Stücke deutschen Ursprungs aufgeführt; von ihnen hatten neun eine jüdische Thematik, die übrigen universellen Charakter. Vgl. Levy, Geschichte des »Habima« (Anm. 49, 3. Kap.), 139. 84 Ebd., 178. 85 Zu den Gastspielen der »Habima« in Deutschland und die allgemeinen deutschen Einflüsse auf das Theater siehe M. Klausner, Habima-Tagebuch, Tel Aviv 1971. 86 Das zeitgenössische jiddische Theater hatte wesentlichen Einfluss auf das hebräische Bühnengeschehen. So etwa beruhte die Uriel Acosta-Produktion der »Habima« im Jahre 1931 des zu seiner

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in die Theaterspielpläne beruhte auf der allgemeinen Wertschätzung des klassischen und zeitgenössischen englischen Dramas, die im Übrigen auch im deutschen Theaterleben der Weimarer Zeit Geltung hatte. Auch der Umstand, dass Palästina britisches Mandatsgebiet war, spielte dabei eine Rolle. Bemerkenswert ist übrigens, dass ein Teil der englischen Dramen vom Repertoirekomitee des »Habima«-Theaters ausgerechnet auf Deutsch gelesen wurde, wie etwa im Fall des englischen Dramatikers Christopher Fry.87 Entgegen dem im Bereich des Dramas, der Aktualia und der Erwachsenenbelletristik verzeichneten Aufwärtstrend ging die Übersetzung deutscher wissenschaftlicher Literatur etwas zurück. Bei den Geisteswissenschaften war dieser Rückgang relativ unbedeutend, absolut gesehen stieg die Zahl der Bücher sogar etwas an: In den Jahren 1882–1927 wurden 51 Bücher (etwa 16 Prozent) übersetzt, in der darauffolgenden Periode vor der Staatsgründung 54 Titel (etwa 14 Prozent). In den Naturwissenschaften gingen die Buchübersetzungen von acht (2,54 Prozent) auf fünf (1,32 Prozent) zurück. Umgekehrt stieg in den Sozialwissenschaften die Zahl der Bände von 12 (3,81 Prozent) auf 17 (4,48 Prozent). Diese Fluktuationen – mag man sie als geringfügig erachten oder als Ausdruck einer im Großen und Ganzen statischen Situation werten – sind schwer zu begründen. Mindestens drei Faktoren hätten eigentlich eine Zunahme der deutsch-hebräischen wissenschaftlichen Übersetzungen bewirken müssen. Zum ersten gab es in Palästina zwei Hochschulen, das »Technion« in Haifa und die Hebräische Universität in Jerusalem. Nicht wenige ihrer hebräischsprachigen Studenten taten sich mit fremdsprachigem Lesematerial schwer. Zum zweiten war den Studenten ab einem gewissen Stadium, als Europa nicht nur zum Kriegsschauplatz, sondern für Juden zu einer Stätte der Verfolgung und schließlich des systematisierten Massenmordes wurde, das Studium an europäischen Universitäten verschlossen. Schließlich bleibt es auch unklar, warum gerade die Übersetzung wissenschaftlicher Literatur aus dem Deutschen stagnierte, wo doch Juden – die, wie wir schon gesehen haben, von den hebräischen Verlagen als Autoren bevorzugt wurden – in der deutschen Wissenschaft eine so hervorragende Rolle spielten. Eine mögliche, logische Erklärung für diesen Zustand mag im Mangel an Druckpapier liegen. Es ist davon auszugehen, dass dieser die verlegerischen Rentabilitätsüberlegungen in den Vordergrund rückte und vornehmlich solche Bücher in den Druck gingen, die größtmöglichsten Absatz versprachen. So wurde, gegenüber den a priori nur für einen kleinen Leserkreis bestimmten wissenschaftlichen Werken, den Dramenübersetzungen Vorrang eingeräumt. Schließlich waren diese, wenn schon nicht für viele Leser, letztendlich für ein mehrere Tausend Zuschauer zählendes Theaterpublikum gedacht. Ein Beispiel für die Zeit sehr populären Dramas von Karl Gutzkow, Uriel Acosta, auf seiner großen Beliebtheit beim jiddischsprechenden Theaterpublikum; in Deutschland hingegen war das Werk zu diesem Zeitpunkt bereits in Vergessenheit geraten. Vgl. Kochanski, Das hebräische Theater (Anm. 111, 1. Kap.), 111. 87 Sitzung der künstlerischen Leitung der »Habima«, 10. August 1938, Israelisches Dokumentationszentrum für Darstellende Kunst, Universität Tel Aviv (nachstehend IDDK).

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Die Übersetzungstätigkeit im jüdischen Palästina

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Zurückhaltung bei der Herausgabe wissenschaftlicher Literatur ist Jakob Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien. Bereits 1937 war von einer Übertragung dieses Werkes die Rede; das »Mossad Bialik« übermittelte dem Dichter und Übersetzer Jacob Steinberg eine Zusammenfassung der Verhandlungen um die Übersetzung des Buches.88 Obwohl die Idee in den darauffolgenden Jahren immer wieder aufgebracht wurde, erschien das Buch letztlich erst nach der Staatsgründung im Jahre 1949. Eine explizite Erklärung der langen Verzögerung ist dem Briefwechsel des »Mossad Bialik« nicht zu entnehmen.

Die Übersetzungstätigkeit im jüdischen Palästina: Professionalisierung und Weiterbestehen der osteuropäischen Achse

Die hier beschriebenen neuen Tendenzen in den deutsch-hebräischen Übersetzungen spiegeln sich zumeist auch in den Aktivitäten der großen Verlagshäuser dieser Periode wider. Insgesamt beschäftigten sich in dieser Periode etwa neunzig Verlagsanstalten – teils in Ad-hoc-Zusammenschlüssen mehrerer Verlage – mit der Herausgabe von aus dem Deutschen übersetzten Büchern, und dies überwiegend in Palästina: Von 379 Titeln erschienen 355 in Palästina, zumeist in Tel Aviv.89 Der Druck von aus dem Deutschen übersetzten Werken in Europa hörte 1939, mit der vierten Auflage des Judenstaates von Herzl in einer Übertragung von Michael Berkowitz, abrupt auf. 1946 erschien noch eine einzige weitere Übersetzung im Ausland, und zwar Berenice von Carl de Haas, im New Yorker »Stybel«-Verlag. Parallel zur Einstellung der hebräischsprachigen Verlagstätigkeit in Europa wuchs im Jischuw in den 40er Jahren die Zahl der Verlage, darunter vornehmlich die Zahl derer, die sich auch mit den Übertragungen aus dem Deutschen befassten. Sie waren dem »Mossad Bialik« unterstellt, das sie finanziell unterstützte, die unmittelbaren Probleme des kleinen Lesepublikums und des permanenten Mangels an Druckpapier jedoch nicht zu lösen vermochte. Die Verlagsstrategien dieser Zeit sind nur dürftig dokumentiert. Im Gegensatz zur Vorperiode war die Veröffentlichung programmatischer Erklärungen seitens der Verlagshäuser nicht mehr üblich. Überliefert sind vornehmlich Briefwechsel zwischen den Großverlagen und der Leitung des »Mossad Bialik«, die mehr über Arbeitsmethoden als über Verlagspolitik aussagen. Deren Beurteilung muss sich somit, unter Berücksichtigung der für die einzelnen Verlage typischen Merkmale, auf die Auswertung des Buchbestandes selbst stützen. Am aktivsten im Bereich der deutsch-hebräischen Übersetzungen war der 88 Gordon an Steinberg (Zusammenfassung des Verhandlungen über Burckhardts Kultur der Renaissance), 15. April 1937, CZA, S83/1025. 89 Acht weitere Bücher wurden in Osteuropa gedruckt, drei in Mitteleuropa, drei in den USA, fünf erschienen gleichzeitig an mehreren Orten; in fünf Fällen ist der Erscheinungsort unbekannt.

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von dem aus Osteuropa stammenden Abraham Josef Stybel errichtete Verlag. Die insgesamt 38 aus dem Deutschen übertragenen Werke machten in den Jahren 1930–1945 mehr als ein Drittel der bei »Stybel« erschienenen Belletristik aus.90 Trotz der relativ großen Zahl ist es schwierig, eine klare verlagspolitische Linie abzuleiten. Vielmehr könnte man sagen, das Fehlen einer einheitlichen Programmatik sei kennzeichnend für den »Stybel«-Verlag. Zweifelsohne bemühte man sich, dem hebräischsprachigen Leser eine Auswahl der großen Werke der deutschen Literatur zur Verfügung zu stellen. Zu nennen wären hier neben der Klassik, vertreten durch Schillers Don Carlos, Infant von Spanien zeitgenössische klassische Werke wie Thomas Manns Joseph und seine Brüder; Bestseller wie Im Westen nichts Neues und der weniger erfolgreiche Roman Der Weg zurück von Erich Maria Remarque; Erfolgsromane jüdischer Autoren wie Wassermann und Feuchtwanger; schließlich zentrale Werke der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur, wie Theodor Mommsens Römische Geschichte und Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychonanalyse. Daneben erschienen auch eher zweitrangige Werke, wie die Übersetzung des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfassten Dramas Berenice, dessen Manuskript oder einziger Abdruck durch Zufall aufgefunden und »Stybel« in New York übergeben wurde. Der Autor, Carl de Haas, war ein christlicher Deutscher, der im Alter von etwa dreißig Jahren auf der Suche nach einem Leben der Freiheit in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Das Stück gelangte zufällig in die Hände eines mit dem Verleger Stybel bekannten Verwandten des Autors, P.I. Rupping. Stybel brachte das Werk, versehen mit einer Einleitung aus eigener Feder, in seinem Verlag heraus. Die ebenfalls im »Stybel«-Verlag erschienenen Romane B. Travens Die Baumwollpflücker, Die weiße Rose und Das Totenschiff waren wohl zu ihrer Zeit bekannt, haben jedoch im Laufe der Jahre weitgehend ihre Bedeutung verloren. Das von Ephraim Broide übersetzte Buch Die weiße Rose erschien erstmals 1932 und wurde vor der Staatsgründung in derselben Übertragung im Verlag des 1884 in Russland geborenen Nachum Tversky neu aufgelegt. Seit 1929 war Tversky der Bevollmächtigte Stybels in Palästina und somit mit der Wahrung dessen Interessen betraut.91 Stattdesssen – so mutmaßte jedenfalls Stybel – war Tversky vor allem auf seinen eigenen Vorteil bedacht und brachte selbst Bücher heraus, die Stybel für seine Filiale in Palästina in Planung gehabt hatte.92 Insgesamt verlegte Tversky in der besagten Periode 14 Titel, die sich im Publikations90 Die anderen Ursprungssprachen der bei »Stybel« erschienen Bücher waren Englisch (17 Prozent), Russisch und Französisch (je 13 Prozent). Einzelne weitere Übersetzungen stammen aus verschiedenen Sprachen, am hervorstechendsten davon Polnisch und andere slawische Sprachen. Vgl. Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 124. 91 Zu Beginn seiner Tätigkeit in Tel Aviv pflegte der »Stybel«-Verlag seine Bücher bei »Rom« in Wilna in den Satz und bei einer Druckerei in Berlin, wo der Verlag auch seinen Sitz hatte, in den Druck zu geben. Vgl. Dazu A-R, Gespräch mit Shaul Tchernichowski (hebr.), in: Ha-doar, 23. November 1928. 92 Ich danke Dania Amichay-Michlin für die Information über Stybels Verdacht Tversky gegenüber.

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Die Übersetzungstätigkeit im jüdischen Palästina

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programm des »Stybel«-Verlages hervorragend ausgemacht hätten: Romane von Feuchtwanger, Werfel und Marx, neben Kinderbüchern Erika Manns und der jüdischen Kinderbuchautorin Mira Lobe, die auch nach ihrer Einwanderung nach Palästina im Jahre 1936 weiter auf Deutsch schrieb. 1951 kehrte sie nach Europa zurück. Intensiv war auch die Tätigkeit des »Mizpe«-Verlages, der 1925 von den aus Osteuropa gebürtigen Verlegern Mordechai Nioman, Jehoschua Cziczik und Josef Schrebrek gegründet wurde. Deutsche Belletristik machte nur 15 Prozent der in den Jahren 1930–1945 in diesem Verlag herausgebrachten literarischen Übersetzungen aus.93 In den Jahren 1928–1948 erschienen bei »Mizpe« 33 Übertragungen aus dem Deutschen in verschiedenen Bereichen, davon zwei in Kooperation mit dem »Nioman«-Verlag. An erster Stelle wurden der Verlagspolitik entsprechend jüdische Autoren gesetzt: angefangen von zentralen Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung, wie Herzl und Nordau, über den seinerzeit sehr populären Kinderbuchautor Felix Salten bis zu Vicki Baum als Vertreterin beliebter zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur. Insgesamt stammten von den im besagten Zeitraum im »Mizpe«-Verlag erschienen Übersetzungen 15 von jüdischen Autoren. Bemerkenswert ist der Umstand, dass sowohl Baums als auch Saltens Stoffe in Hollywood sehr erfolgreich verfilmt wurden. Dies gilt sowohl für Vicki Baums Grand Hotel als auch für Saltens Bambi: 1944 brachte »Mizpe« die Übersetzung der auf dem Buch Saltens basierenden Filmfassung heraus, nachdem drei Jahre zuvor die literarische Vorlage bereits in Kooperation zwischen dem »Mossad Bialik« und dem »Massada«-Verlag erschienen war. Auch der von den Söhnen des Verlegers Schlomo Schrebrek 1933 gegründete »Jisreel«-Verlag erbrachte mit der Publizierung von 25 aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzten Titeln einen beachtlichen Beitrag zu diesem Bereich. Dabei schlug der Verlag eine recht eindeutige Linie ein, indem er sich einerseits auf jüdisch-historische Literatur, andererseits auf solche Werke der Kinderliteratur spezialisierte, die bereits in früheren Übersetzungen beim hebräischsprachigen Publikum sehr gut angekommen wurden; hier mag Schlomo Schrebrek, der selbst die Verlagshäuser »Achiassaf« und »Sefer« leitete, seinen Einfluss geltend gemacht haben. Zu den bei »Jisreel« zumeist in Neuübertragung herausgebrachten Werken zählen Die Geschichte der Juden von Heinrich Graetz, historische Romane von Ludwig Philippson, Hermann Reckendorf und Marcus (Meir) Lehmann. Zu nennen sind im Weiteren Wilhelm Hauffs Märchen sowie Baron Münchhausen, die von Abraham Leib Jakobowitsch (Akavia) neu übersetzt wurden. In erstmaliger Übersetzung erschienen zudem im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur je zwei Werke Erich Kästners und Karl Mays. Insofern führte 93 »Mizpe« war auf Übersetzungen aus dem Englischen spezialisiert, die 40 Prozent der Gesamtheit der verlegten Übersetzungen ausmachten. Jeweils 15 Prozent entfielen auf Werke aus dem Russischen und dem Deutschen, 10 Prozent aus dem Jiddischen und fünf Prozent auf Werke aus dem Französischen. Der Rest verteilt sich auf verschiedene Sprachen. Vgl. Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 124.

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der »Jisreel«-Verlag mit den Schwerpunkten jüdische Geschichte und Kinderund Jugendliteratur die zu Beginn der deutsch-hebräischen Übersetzungstätigkeit eingeschlagene Linie fort. Der hauptsächliche Unterschied zur Anfangsphase lag in der Person der Übersetzer: War das Übersetzen zunächst eine Nebenbeschäftigung, so wurden nunmehr vorwiegend Berufsübersetzer wie Jakobowisch (Akavia) und Wolfowski herangezogen. In den beiden letzten vorstaatlichen Jahrzehnten wirkten im Jischuw noch zwei weitere relativ große Verlagsfirmen. Im Bereich der deutsch-hebräischen Übertragungen brachten sie Bücher heraus, die die für diese Periode charakteristische Richtung verfolgten. Dabei sind drei Gruppen zu unterscheiden: die mit der Arbeiterbewegung identifizierten Verlage »Ha-kibbuz Ha-meuchad«, »Hakibbuz Ha-arzi« sowie »Am Oved«, die Verlage der beiden großen Repertoiretheater »Habima« und »Ohel«, deren Tätigkeit bereits besprochen wurde und zuletzt Verlagsanstalten mit spezifischer Ausrichtung wie »Massada«, »Mossad Bialik« und »Ligvulam«. In der zur Arbeiterbewegung gehörenden Kategorie war der Verlag »Ha-kibbuz Ha-arzi« führend. Dort erschienen 30 aus dem Deutschen übertragene Bücher. Vor allem in den ersten Jahren seines Bestehens lag der Schwerpunkt auf politischer Literatur sozialistischer Ausrichtung.94 Unter anderem erschienen hier Werke von Marx und Engels, von Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Otto Bauer. Allmählich kamen auch Schriften im Bereich der Psychologie und Pädagogik hinzu; neben Freud wäre hier der weniger bekannte Psychologe Heinrich Meng zu nennen. Für den »Ha-kibbuz Ha-arzi«-Verlag wurden auch Prosawerke, Briefwechsel und Lyrik zeitgenössischer und klassischer Schrifsteller übersetzt, wie Johann Wolgang von Goethe, Heinrich Mann und Ferdinand Lasalle. Hier erschienen auch die Werke zweier deutschsprachiger Schriftsteller auf Hebräisch, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR niederlassen sollten – Arnold Zweig und Anna Seghers, Trägerin des Kleist-Preises des Jahres 1928. Der 1939 gegründete »Ha-kibbuz Ha-meuchad«-Verlag brachte in den Jahren bis zur Staatsgründung lediglich sieben aus dem Deutschen übersetzte Bücher mit einer noch eindeutigeren politischen Orientierung heraus: drei Bände von Karl Marx, zwei von Rosa Luxemburg, ein Buch des Publizisten und Historikers Max Beer, der unter anderem Herausgeber der sozialdemokratischen Volksstimme in Magdeburg war, sowie einen Roman des sozialistischen Erzählers Leonhard Frank. Hingegen weisen die elf im jüngsten Verlag innerhalb der der Arbeiterbewegung angehörenden Gruppe »Am Oved« in dieser Periode erschienenen Buchübersetzungen aus dem Deutschen kein einheitliches Profil auf. Sie umfassen Sachbücher gegen den Nazismus, wie Arthur Rosenbergs Die Entstehung der deutschen Republik 1871–1918 oder persönliche Dokumentationen wie Arthur

94 Neben dem auf diesem Gebiet dominanten »Ha-kibbuz Ha-meuchad«-Verlag waren im Jischuw »Ha-sozialiut Ha-madait« und »Chewra« auf sozialistische Literatur spezialisierte Verlage.

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Ruppins Autobiografie. Bei den weiteren in diesem Verlag erschienenen Bänden handelt es sich um Belletristik, unter anderem um zwei Werke Max Brods. Weitere Materialien über die Tätigkeit dieser drei Verlage lassen vermuten, dass in den letzten Jahren des Jischuw ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Abstammung des Autors bzw. seinen politischen Auffassungen und der Bereitschaft, seine Werke herauszubringen, bestand. Dies geht etwa aus einem Interview mit einem der Lektoren des »Ha-kibbuz Ha-meuchad«-Verlages, Menachem Dorman, hervor. Zwar wurde dieser Verlag erst 1939 gegründet, doch lässt sich aus Dormans Worten einiges über die allgemeine Einstellung der Intellektuellen im Jischuw erschließen. Laut Dorman war mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges seitens der Verlagsleitungen von »Ha-kibbuz Ha-arzi« und »Hakibbuz Ha-meuchad« beschlossen worden, weitere Übersetzungen aus dem Deutschen nur dann zu publizieren, wenn der Autor entweder Jude oder erklärter Gegner des Naziregimes sei bzw. in keinerlei Zusammenhang zu den damaligen Ereignissen in Deutschland stünde. Dieser Entscheidung schloss sich auch der Begründer und erste Verlagsleiter von »Am Oved«, Berl Katznelson, an. Das Publikationsprogramm der drei Verlage bestätigt die Einhaltung dieser Politik; wie bereits erwähnt, erschienen in den Verlagen der beiden Kibbuzbewegungen Werke überwiegend jüdischer Autoren sozialistischer Ausrichtung.95 Diesbezüglich teilte Katznelson nicht die Auffassung seiner Kollegen. Er setzte sich zwar, über die Förderung des originären literarischen Schaffens hinaus, für die Literaturübersetzungen ein und glaubte an die Rolle der zentralen Körperschaften der Kibbuzbewegung als Mediatoren der Kultur. Indes war er, im Gegensatz zu den anderen Leitern der Kibbuzverlage, dagegen, den Publikationsschwerpunkt auf die Begründer der sozialistischen Bewegung zu legen. Ohne sich von dem auf ihn von links ausgeübten Druck beirren zu lassen, vertrat er den Standpunkt, diese Werke seien ohne entsprechende Erläuterungen und Kommentare für sich wertlos, wobei er als positives Beispiel auf das im »Ha-kibbuz Ha-meuchad«-Verlag erschienene Kommunistische Manifest von Marx verwies.96 Auch der »Massada«-Verlag97, ebenso wie das »Mossad Bialik« und der Verlagsverbund »Ligvulam«, legte sich eine politisch-ideologische Grundauffassung fest. Neben seiner eigenständigen Tätigkeit kooperierte »Massada« bei einigen

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Persönliches Interview mit Menachem Dorman, Kibbuz Givat Brenner, 11. Oktober 1990. Zu Katznelsons positiver Einstellung hinsichtlich der Veröffentlichung von Buchübersetzungen und seinem Appell zur Förderung des originären hebräischen Literaturschaffens, vgl. B. Katznelson, »Am Oved« (Anm. 44), 157. Zu seiner Haltung zum Thema der Propagierung von Kultur durch die Histadrut siehe Schidorsky, Das Buchwesen in Erez Israel (Anm. 2, 2. Kap.), 60. Zu seinen Äußerungen gegen unkommentierte Ausgaben der Werke der Väter des Sozialismus siehe A. Shapira, Berl (hebr.), Tel Aviv 1980, 652 f. 97 Hervorzuheben ist der hohe Anteil der aus dem Deutschen stammenden Buchübersetzungen im »Massada«-Verlag. In den Jahren 1930–1945 verteilte sich die bei »Massada« veröffentlichte Belletristik nach Herkunftssprachen wie folgt: Deutsch – 40 Prozent, Englisch – 30 Prozent, Französisch – 20 Prozent, Russisch – 10 Prozent. Vgl. Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 124. 96

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Buchveröffentlichungen auch mit dem »Mossad Bialik«; in den 40er Jahren kam es auch zu einer trilateralen Zusammenarbeit mit dem kurzlebigen »Ligvulam«Verlag.98 Dieser hatte sich, wie auf dem Eingang des Verlagsgebäudes verkündet, zum Ziel gesetzt, eine »Auswahl von Werken fremdsprachiger jüdischer Autoren« in Serie herauszugeben, oder wie es ein Kritiker in der Zeitschrift Mosnajim ausdrückte: »Mit der Errichtung des Verlagshauses ›Ligvulam‹ wurden die Grundpfeiler für ein schönes und begrüßenswertes Projekt gelegt: die verlorenen, fernen Söhne, die dem Judentum Entfremdeten, deren Werke in fremden Sprachen entstanden ist, wieder in den Bereich unserer Kultur einzubringen.«99 In der Tat wurden hier Dichter – wie etwa Heinrich Heine – herausgebracht, die sich vom Judentum abgewandt hatten und die es »heimzuführen« galt. Ironischerweise galten im Jischuw selbst vom Judentum Konvertierte, die nach eigenem Selbstverständnis keine Juden mehr waren, nach wie vor als solche, solange sie von Juden abstammten. Frucht der trilateralen Kooperation sowie der selbstständigen Aktivitäten von »Massada« war das Erscheinen der Werke bekannter jüdischer Denker wie Freud und Mendelssohn und Schriftsteller wie Stefan Zweig, Vicki Baum und Max Brod. Darüber hinaus wurden auch die Werke weitaus weniger bekannter Autoren übertragen, wie etwa des deutsch-jüdischen Schriftstellers Bruno Frank, der in die Vereinigten Staaten emigriert war und sich dort für die Reinhaltung der deutschen Sprache einsetzte, des Militärtheoretikers Siegmund Adler von Friedmann (Eitan Avisar), der als Berater der »Hagana« fungierte und nach der Gründung des Staates Israel der erste Präsident des Obersten Militärgerichtshofes wurde. Hingegen wurde der Vorschlag Israel Yevarekhyahu, etwas aus dem Werke des Karl Emil Franzos auf Hebräisch herauszubringen, zwischen dem »Mossad Bialik« und »Ligvulam« hin- und hergeschoben und letztendlich ohne Begründung ad acta gelegt.100 Die bilaterale Zusammenarbeit zwischen »Massada« und »Mossad Bialik« dokumentierte sich ebenfalls in der Herausgabe von Büchern, die – wenn auch aus einem sehr spezifischen Blickwinkel – erzieherischen Zwecken dienten, zum Beispiel Rauschnings Gespräche mit Hitler. Trotz der Themenvielfalt der bei »Massada«, »Mossad Bialik« und »Ligvulam« erschienenen Bücher und des unterschiedlichen Ausmaßes ihres Erfolgs in der jeweiligen Sparte sind sie als Korpus zu betrachten, der bestimmt war, für die im Jischuw Lebenden bzw. den später aus Europa hinzugekommenen Flüchtlingen eine Art kollektives jüdisches »Selbstbild« zu kreieren. Nur ein von so unterschiedlichen Autoren gebildeter Korpus konnte den Nationalstolz erwecken 98 Der Name Ligvulam bezieht sich auf »Ve-schawu banim ligvulam« (»Die Söhne werden zurückkehren in ihre Heimat«) aus dem Buch Jeremia 31,17. 99 B. I. Dochowni, Die romantische Schule (hebr.), in: Mosnajim 14/4 (Mai 1942), 255. 100 I. Yevarekhyahu an das »Mossad Bialik« (Vorschlag auf Übersetzung von Karl Emil Franzos), 23. August 1943, CZA, S83/201. Gordon an I. (Verweis auf »Ligvulam«), 24. August 1943, CZA, S83/ 201. Die Ablehnung der Übertragung von Franzos weist wohl auf eine Verschiebung der kulturellen Codes im Jischuw verglichen mit der Diaspora hin. Man hielt wohl ein Werk, das sich mit dem Leben in einer osteuropäischen jüdischen Gemeinde befasste, für den hebräischsprachigen Leser für irrelevant.

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und somit eine identitätsstiftende Wirkung zeitigen. Jede Lesergruppe konnte für sich innerhalb dieser Gruppe, die in ihrer Gesamtheit eine Art Visitenkarte der jüdischen Gesellschaft darstellte, passende Leitbilder entdecken. Vertreten war eine Bandbreite an Autoren, von den Wegbereitern ganzer Disziplinen in Philosophie und Psychologie bis zu Verfassern von Unterhaltungsliteratur, von Militärs bis Pazifisten. Die Verlagstätigkeit der hier beschriebenen Jahre wurde jetzt weitaus professioneller. Die Klärung der Urheberrechte wie auch der Prozess der Buchproduktion gingen schneller und geordneter vor sich. Ein Beispiel liefert der oben beschriebene Verlauf der Übertragung und Herstellung von Gespräche mit Hitler, der auch für die Herausgabe anderer Titel typisch war, die etwa von ihrem Informationswert oder ihrer erzieherischen Wirkung her weniger dringlich waren. So fiel im Juli 1940 die Entscheidung, Bambi – von der literarischen Vorlage und nicht vom Drehbuch her – zu übersetzen. Trotz der objektiven Schwierigkeiten, die sich mit dem Druck angesichts des chronischen Papiermangels ergaben, erschien das Buch im April oder Mai 1941.101 Auch die Herstellung anderer Bücher bei »Ligvulam« ging rasch vor sich. Georg Hermanns Jettchen Geberts Geschichte war einen Monat nach Drucklegung, Ende August 1941, im Handel. Das nächste Buch im Programm, Freuds Psychopathologie des Alltagslebens, erschien einige Monate danach, Anfang 1942. Die Herstellung von Heines Die romantische Schule dauerte etwa ein Jahr.102 Doch nicht nur die raschere Abwicklung deutete auf eine Professionalisierung der Branche hin, sondern auch der umfangreiche Schriftwechsel zwischen dem »Mossad Bialik« und den diversen Verlagsfirmen einerseits, zwischen letzteren und externen Dienstleistern andererseits. Belegt sind nicht nur Schreiben potenzieller Übersetzer, die dem »Mossad Bialik« oder den Verlagen selbst ihre Dienste offerieren, sondern auch diversen Fragen gewidmete Korrespondenzen, aus denen hervorgeht, dass verlagstechnischen Aspekten immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So bittet der Leiter des »Mossad Bialik« den Übersetzer von Hermann Hesses Peter Camenzind, Schlomo Herberg, dem Buch eine Einleitung voranzustellen. Die Arbeit Herbergs wurde S. Shalom zum Lektorat übergeben. Dieser verlangte die Ersetzung von ins Hebräische transkribierten Fremdwörtern durch hebräische Ausdrücke. Bei dieser Gelegenheit brachte Shalom, der des Öfteren für das »Mossad Bialik« tätig war, in Erinnerung, dass ihm

101 Sitzungsprotokoll des Komitees für die Reihe übersetzter Literatur fürs Volk (Vorschlag zur Übersetzung von Bambi durch A. Ben-Avraham), 9. Juli 1940, CZA, S83/1833; Gordon an Cziczik (Frage, ob der »Mizpe«-Verlag Bambi herausgebracht hat), 15. Juli 1940, CZA, S83/1835; Cziczik an Gordon (Anfrage an Cziczik in dieser Angelegenheit, doch er erinnert sich nicht, von wem), 16. Juli 1940, CZA, S83/1835, Gordon an Peli (Ankündigung des Druckes von Bambi), 14. Februar 1941, CZA, S83/75; Gordon an Gershoni (Ablehnung des Vorschlags mit der Begründung, dies sei nicht üblich), 14. Februar 1941, CZA, S83/75; Gordon an Ben-Avram (Übergabe von fünf Bambi-Exemplaren), 27. Mai 1941, CZA, S83/1851. 102 Peli an »Mossad Bialik« (Bericht über die in den Satz und in Druck gegangenen Bücher im »Ligvulam«-Verlag), 18. Juli 1941, CZA, S83/1840.

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das Lektorenhonorar für Bambi noch nicht ausgezahlt worden war.103 Man ersieht daraus, dass die Übersetzer und Lektoren sich in steigendem Maße der Bedeutung ihrer Leistung bewusst wurden und sich bemühten, dies auch ihren Auftraggebern vor Augen zu führen. Exemplarisch dafür ist der Dialog zwischen Gordon und dem Übersetzer Schmuel Perlman bezüglich der besonderen Rechte, die ihm Bracha Peli für seine Übersetzungsarbeit an Heines Die romantische Schule und Geständnisse überlassen sollte.104 Auch die Übersetzungen selbst wurden fachkundiger. Zwar ist nach wie vor an der großen Zahl der Übersetzer – insgesamt 130, von denen nur wenige mehr als ein Buch übersetzten – ein Mangel an Professionalität zu erkennen.105 Auch waren die Übersetzer nicht auf eine oder zwei Sprachen spezialisiert, wie heute üblich, sondern arbeiteten aus zwei bis fünf Ursprungssprachen.106 Im Gegensatz zur Vorperiode war das Übersetzen jedoch die Hauptbeschäftigung jener, deren Namen mit mehr als einer Arbeit verknüpft sind. Der produktivste deutsch-hebräische Übersetzer dieser Periode war Menachem Salman Wolfowski. Er entstammte einem traditionellen russisch-jüdischen Elternhaus. Seine Bildung, einschließlich mehrerer Fremdsprachen, erwarb er auf autodidaktischem Wege. Nach seiner Alija im Jahre 1921 schloss er sich dem »Gdud Haavoda« an, war dann im Unterrichtswesen und als Lektor in den Verlagen »Mizpe« und »Ha-kibbuz Ha-meuchad« tätig. Seine Übersetzungsarbeiten sind breit gestreut. Sie umfassen Belletristik, wie drei Werke Jakob Wassermanns und das Drama Reubeni. Fürst der Juden von Max Brod; Kinderund Jugendliteratur, unter anderem Erich Kästner und Karl May; von ihm neu übertragene jüdisch-historische Romane, von Rispart, Ludwig sowie Martin Philippson; schließlich auch Sachbücher, zum Beispiel Schriften von Max Nordau und Rosa Luxemburg. Als Übersetzer war Wolfowski auch für andere Verlage, vorwiegend »Jisreel« und »Am Oved«, tätig. Nennenswert ist weiter Josef Lichtenbaum, der in dem hier besprochenen Zeitraum zehn Bücher – von denen drei zu einer zweite Auflage gelangten –

103 Gordon an Harberg (Bitte um Verfassung einer Einleitung zu Peter Camenzind), 26. Januar 1941, CZA, S83/1839. S. Shalom an Gordon (Übermittlung eines längeren Abschnittes von Camenzind und Einforderung des für Bambi ausstehenden Honorarbetrages), 31. Januar 1941, S83/545. 104 1948 erschien auch Perlmans Heine-Übersetzung Reisebilder: Italien. Alle drei Bänder kamen im Rahmen von »Ligvulam« heraus. Bezüglich der Übersetzungsrechte siehe Gordon an Perlman (Bericht über seine Verhandlungen mit Peli bezüglich besonderer Rechte an den Heine-Übertragungen), 4. Februar 1944, CZA, S83/1840. 105 Bei der Durchsicht der Übersetzer aus allen Sprachen in den fünf großen Verlagen des Jischuw zwischen 1930–1945 stellte Gideon Toury fest, dass folgender Prozentsatz der Übersetzer nur je ein Buch übersetzte: »Massada« 85 Prozent, »Stybel« 74 Prozent, »Mizpe« 63,3 Prozent, »Sifriat Poalim« 60 Prozent, »Omanut« 37,5 Prozent. Vgl. hierzu Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 127. Die größere Professionalität erkennt man auch an dem Umstand, dass weniger Bücher – 17, d. i. 4,48 Prozent – ohne Namensangabe des Übersetzers herauskamen. In den Jahren 1882–1927 waren es 30 Bücher (6,35 Prozent). 106 Toury, Normen der literarischen Übersetzung (Anm. 4, Einleitung), 121.

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übersetzte. Lichtenbaum wurde 1895 in Warschau geboren, übersiedelte nach Moskau, wo er zu den Gründern des »Habima«-Theaters zählte. Er kam 1920 auf Alija, verblieb zwei Jahre in Palästina, verbrachte dann zwei Jahre in Deutschland, um schließlich nach Palästina zurückzukehren. Genremäßig beschränken sich Lichtenbaums Übertragungen vor allem auf Romane, darunter drei Werke Feuchtwangers und je eines von Franz Werfel, Thomas Mann und Remarque. Daneben übersetzte auch Lichtenbaum, wie Wolfowski, einen Band der Schriften Max Nordaus. Auch die anderen bedeutenden deutsch-hebräischen Übersetzer dieser Periode, Schlomo Herberg, Dov Stock (Sadan) und Jizchak Schönberg (Shenhar) weisen ein ähnliches Repertoire auf. Harberg wurde 1884 in Polen geboren, wo er in Grodno eine Jeschiwa besuchte. 1920 nach Palästina eingewandert, war er einer der ersten Berufsübersetzer im Lande. Die neun von ihm in der Jischuwperiode übertragenen Bücher umfassen vor allem belletristische Werke, wie Romane von Hermann Hesse und Stefan Zweig, und Kinderliteratur, wie etwa Bücher von Georg Ebers und Irma Singer. Darüber hinaus stammt von ihm auch eine Übertragung von Moses Mendelssohns Jerusalem. Die Übersetzungsarbeiten des aus Ostgalizien gebürtigen Dov Stocks (Sadans) liegen auf ähnlicher Linie wie die seiner Berufskollegen. Er brachte es auf zehn Übertragungen, von denen drei neu aufgelegt wurden. Auch er war traditionell erzogen, in der zionistischen Bewegung aktiv und nach Warschau in Lemberg ansässig. 1925 kam er nach Palästina, wo er Redaktionsmitglied der Zeitung Davar wurde. 1940 gründete er die mit Punktation versehene hebräische Zeitung Hege. Ab 1944 war er Lektor im »Am Oved«-Verlag. Die von ihm ausgewählten bzw. von ihm in Auftrag gegebenen Bücher lassen sich ähnlich wie die der anderen Übersetzer seiner Generation kategorisieren: drei Werke von Max Brod, ein historischer Roman von Emil Ludwig, die Memoiren Sammy Gronemanns, eine Briefsammlung Max Nordaus sowie ein Philosophiewerk von Leopold Karl Goetz. Bemerkenswert ist, dass mit Ausnahme Emil Ludwigs alle von ihm übertragenen Bücher von Persönlichkeiten stammten, die nach Palästina eingewandert waren. Es ist anzunehmen, dass er in enger Abstimmung mit den Autoren arbeitete bzw. sie ihm die Übersetzungsarbeiten in Kenntnis seiner Person und seines sprachlichen Könnens direkt anvertrauten. Eine Mischung aus Prosa-, Kinder- und Sachliteratur kennzeichnete auch das Werk Jizchak Schönbergs (Shenhar). Wie Sadan war auch er 1902 in der Nähe der ukrainisch-galizianischen Grenze zur Welt gekommen. Er stammte aus der Familie von Rabbi Levi Jizchak von Berditschew. Schönberg war in der »Hechaluz«-Bewegung aktiv, erhielt im Rahmen der »Hachschara«-Bewegung eine landwirtschaftliche Ausbildung und wanderte 1921 nach Palästina ein. Später verbrachte er ein Jahr in Belgien, wo er Nationalökonomie studierte. Auch war er Mitglied des »Erez Israel«-Theaters und arbeitete regelmäßig als Übersetzer. Zu den von ihm in der Jischuwperiode angefertigten Übertragungen zählen unter anderem zwei Jugendbücher von B. Traven, Werke von Feuchtwanger, Hermann, Rilke, Schnitzler, Kafka sowie Rosenbergs Buch über den Bolschewismus.

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Der aus Polen gebürtige Übersetzer Zvi Woyslawski legte sich sehr deutlich auf eine bestimmte Richtung, nämlich wissenschaftliche Standardwerke, fest, was sich aus seinem Lebenslauf erklärt. Nachdem er in der »Großen Jeschiwa« in Odessa und St. Petersburg gelernt hatte, studierte er an der Universität von Odessa weiter und wurde publizistisch tätig. 1921 ließ Woyslawski sich in Berlin nieder, wo er Redaktionssekretär des »Dvir«-Verlages wurde. Ein Jahrzehnt später schloss er sein Doktoratsstudium in Berlin ab. 1934 kam er nach Palästina. Noch vor der Staatsgründung erhielt er zweimal den Tschernichowski-Preis für hervorragende Übersetzungen: im Jahre 1943/4 für die Übertragung von Freuds Psychopathologie des Alltagslebens und 1946/7 für das Kapital von Marx. Darüber hinaus übersetzte Woyslawski auch Theodor Mommsens Römische Geschichte und Teile von Schopenhauers Parerga und paralipomena. Eine andere Nische wählte sich Avigdor Hameiri, der in den betreffenden zwei Jahrzehnten elf Titel übersetzte, darunter sechs Schauspiele, die im »Habima«- und »Ohel«-Theater aufgeführt wurden. 1886 in der Karpathoukraine geboren, lernte er erst in einer Jeschiwa, dann im Gymnasium, und war in der zionistischen Bewegung vorwiegend mittels seiner publizistischen Tätigkeit aktiv. Der Erste Weltkrieg brachte Hameiri der ostjüdischen Geisteswelt näher. Als Offizier in der k.u.k.-Armee fiel er in russische Kriegsgefangenschaft. 1921 ging er gemeinsam mit einer Gruppe hebräischer Schriftsteller nach Palästina, wo er das satirische Theater »Hakumkum« begründete. Neben Dramen von Friedrich Schiller, Stefan Zweig, Sammy Gronemann, Hermann Bahr und Max Zweig übertrug Hameiri auch zwei Romane – von Max Brod und Arnold Zweig – und drei Kinderbücher. Die Kinder- und Jugendliteratur war das Spezialgebiet von Abraham Leib Jakobowitsch (Akavia). Die literarische Betätigung des 1882 geborenen Jakobowitsch (Akavia) begann noch in seinem Geburtsland Polen, wo er Redakteur bei den in Warschau erscheinenden Zeitschriften »Ha-zefira« und »Ha-jom« sowie dem Wochenblatt »Baderech« war. Nach seiner Alija im Jahre 1935 war er als Lektor im »Jisreel«-Verlag tätig, in dem auch von ihm angefertigte Übertragungen, insgesamt ein Dutzend, herauskamen. Dazu zählten Neufassungen schon früher beliebter Bücher, wie etwa Werke von Philippson, Lehmann, Reckendorf, Grimm und Hauff, sowie die Übersetzung von Mays Durch die Wüste. Jene wenige Übersetzerinnen, die in den Vorperioden des Jischuw zu finden waren, hatten sich fast ausschließlich mit Kinder- und Jugendliteratur befasst. Aus diesem eng umgrenzten Bereich brachen die Übersetzerinnen der hier besprochenen Jahre aus. Lea Goldberg etwa, die bekannteste unter ihnen, beschäftigte sich nur am Rande mit Kinderliteratur. Goldberg wurde 1911 in Königsberg geboren, ging in Kowno zur Schule und übersiedelte in späteren Jahren nach Berlin, wo sie 1933 in semitischen Sprachen promovierte.107 Dvora Lachower übersetzte eine Erzählung für Kinder von Erika Mann, die zweimal, im »Sty-

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Y. Weiss, Lehrjahre in Deutschland. Lea Goldberg 1930–1933, Göttingen 2010.

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bel«-Verlag und später im »Tversky«-Verlag, erschien. Chawa Fichman übertrug ebenfalls eine Erzählung Erika Manns.Von Chawa Carmi und Anda Amir-Pinkerfeld (geboren in Galizien) stammen vor allem Übertragungen von Geschichten Wilhelm Buschs. Die in Wilna geborene Jemima Avidar-Tchernowitz übertrug eine Kindererzählung Mira Lobes vom Manuskript. Ruth Katz hingegen übersetzte Lion Feuchtwangers Roman Der falsche Nero, Ada Kornfeld Arnold Zweigs Der Spiegel des großen Kaisers. Die größer gewordene Zahl der Übersetzerinnen sollte die Übersetzerbranche viele Jahre hindurch, und dies noch verstärkt nach der Gründung des Staates Israel, kennzeichnen. Zu den in den beiden letzten Jahrzehnten des Jischuw als Übersetzer Tätigen gehörten auch einige Intellektuelle, die sich nur nebenbei damit befassten. Zu ihnen zählen unter anderem bereits erwähnte Namen wie Dov Stock (Sadan), Lea Goldberg, Anda Amir und Avigdor Hameiri, die alle selbst literarisch tätig waren. Darüber hinaus liegen vereinzelte Übertragungen einer ganzen Reihe renommierter Prosa- und Lyrikdichter vor. Hierzu gehören Saul Tschernichowski, Nathan Alterman, Aharon Avraham Kabak sowie der weniger bekannte Mordechai Avi-Shaul. Von der Quantität her war ihre Bedeutung für den Bereich der deutsch-hebräischen Übersetzung marginal, ihre Betätigung auf diesem Gebiet verlieh diesem aber eine zusätzliche Aura des Prestiges. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unter den Übersetzern – den hauptund nebenberuflichen gleichermaßen – jene osteuropäischer Herkunft überwogen, und dies zu einer Zeit, als es in Palästina bereits viele deutsche Juden gab, denen die Übersetzung der Literatur ihres Geburtslandes ein Anliegen hätte sein sollen. Die Hegemonie der Osteuropäer als Träger der deutschen Kultur innerhalb der hebräischsprachigen hielt somit in Fortführung einer langen Tradition an, trotz der veränderten, objektiv und subjektiv schwierigen Umstände, mit denen sie sich konfrontiert sahen: die demonstrative Ablehnung der deutschsprachigen Einwanderer einerseits und das Grauen und die Abscheu, die das nationalsozialistische Regime andererseits einflößte. Bemerkenswert ist in diesem Zeitraum auch die sich vollziehende Trennung zwischen den verschiedenen Verlagsberufen und dem Übersetzerstand. Eine geringere Zahl Verleger beschäftigten sich auch mit dem Übersetzen. Ebenso wurde die Unterscheidung zwischen den unternehmerischen-finanziellen Aspekten des Verlegertums und dem Lektoratsteil deutlicher. Einer der letzten, der die kommerzielle und geistige Seite des Verlegertums in sich vereinte, war der aus Bessarabien gebürtige Israel Zmora. Er studierte in Odessa und Petersburg, lebte in verschiedenen osteuropäischen Städten und kam 1925 nach Palästina. Zmora gründete das Verlagshaus »Machbarot Lesifrut«, dessen Leiter und Cheflektor er war. Er legte 1933 eine Rilke-Biografie vor, die seine Verehrung für diesen Dichter offenbarte. In seinem Verlag brachte er die Biografie Arturo Toscaninis von Stefan Zweig, Karl Liebknechts Briefe an die Söhne sowie die Rilke-Werke Briefe an einen jungen Dichter und Briefe an eine junge Frau heraus. Zmora übte sich auch, wie viele andere im Umfeld des Übersetzens, im Schreiben literarischer Rezensionen, von denen er eine lange Reihe veröffentlichte. Diese Sparte der Publizistik weitete sich parallel zum Anwachsen der jüdi-

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schen Gemeinschaft in Palästina aus. Trotz des Papiermangels und budgetärer Nöte, die in verschiedenen Fällen die Einstellung der Herausgabe von Zeitschriften zur Folge hatten, wurde die Buchkritik zu einem festen und bedeutenden Bestandteil der zeitgenössischen Presse.

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Ab Ende der 20er Jahre und in steigendem Maße in den 30er Jahren weitete sich die Zahl der Literaturrezensionen in der periodischen Presse im Jischuw aus. Dies ist zum Teil auf die Gründung neuer Zeitungen und Zeitschriften zurückzuführen, die sich ausführlich mit dem Kulturleben in Deutschland beschäftigten und Buchübersetzungen aus dem Deutschen und der Aufführung deutschsprachiger Theaterstücke breiten Raum widmeten.108 Die bedeutenste unter den Periodika war die 1929 begründete Zeitschrift Mosnajim. Die Verlage und der Verband hebräischer Schriftsteller in Palästina pflegten darin Kurzmeldungen und längere Beiträge über die literarischen Geschehnisse im deutschsprachigen Raum sowie natürlich Besprechungen neuer Bücher zu bringen. Die Buchkritik befasste sich mit einer Vielfalt von Themen, in erster Linie Belletristik, daneben auch Sachliteratur. In beiden Sparten wurden auch auf Deutsch erschienene, nicht ins Hebräische übersetzte Bücher besprochen, die für das breite Publikum von Interesse waren. Zu nennen wäre hier unter den Sachbüchern etwa Kurt Kerstens Werk über Bismarck und seine Zeit. Neben Berichten über deutsche Bücher, die der Leserschaft Hintergrundmaterial zu anderen, in Übersetzung erschienenen Werken boten, publizierten die Zeitschriften Meldungen über das kulturelle Geschehen in Europa und darunter auch in Deutschland. So konnten sich die Leser etwa über die Verleihung des KleistPreises an Else Lasker-Schüler in der Zeit vor ihrer Einwanderung nach Palästina informieren, oder etwas über die Übertragung deutscher Bücher in andere Sprachen, ihre Rangstellung auf den jeweiligen Buchmärkten, oder die aktuellen Verkaufsziffern von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues erfahren. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wurde in allen Zeitschriften die Bedeutung dieser Entwicklung und die daraus für die Juden und den europäischen Kontinent schlechthin erwachsende Bedrohung debattiert. 108 Gleichzeitig wurde die Versendung von Rezensionsexemplaren an die Redaktionen zur Routine. Ein Beispiel dafür ist Arthur Ruppins Werk Der Krieg der Juden ums Überleben (im Original hebr.), Tel Aviv 1940. Vgl. Bernstein an Gordon (Bitte um Versendung des Buches Ruppins an eine Reihe von Zeitungen zur Rezension), 25. November 1940, CZA, S83/1833; Gordon an »Dvir« (Bitte um Klärung im Auftrag Ruppins, ob ein Exemplar des Buches auch an das auf Hebräisch und Deutsch erscheinende Mitteilungsblatt der Hitachdut Olej Germania übersandt wurde), 27. November 1940, CZA, S83/1792. Der »Mizpe«-Verlag, der in den Jahren 1928–1929 15 original hebräische und 29 übersetzte Belletristikbände herausbrachte, wurde insgesamt mit 227 Besprechungen bedacht. Siehe A. Barasz (Hg.), Der Mizpe-Almanach (hebr.), Tel Aviv 1930, 179.

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Die steigende Zahl der Rezensionen einerseits sowie der Zeitungen und Zeitschriften andererseits, in denen sie erschienen, erhöhte das Resonanzpotenzial. Freilich richteten sich diese Pressepublikationen vorwiegend an ein gebildetes hebräischsprachiges Publikum, dem jedoch die Leser der aus dem Deutschen übersetzten Literatur in überwiegender Mehrzahl ohnehin angehörten. In Anbetracht der großen Zahl von Rezensionen seien hier in der Folge nur einige Beispiele genannt. Die ausgewerteten Artikel wurden genremäßig nach Belletristik, Dramen- und Sachliteratur katalogisiert. Dass in den verschiedenen Sparten im hier besprochenen Zeitraum dieselben Themen, nämlich das Schicksal der Juden und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, erörtert wurden, ist es sinnvoll, sie gemeinsam in den Blick zu nehmen. Zu betonen ist, dass die zentrale Stelle, die dieser Rezensionstypus im vorliegenden Band einnimmt, seine relative Bedeutung innerhalb des Zeitschriftenkorpus widerspiegelt und nicht lediglich Ausdruck seines hohen Interessensgehalts ist. Dieser ist zweifellos gegeben, da der literarische Diskurs einiges über die Einstellung des Jischuw zu Nazismus und Holocaust sowie zur politischen Reaktion der jüdischen und nichtjüdischen Autoren auf diese aussagt. Über die Rezeption der Buchübersetzungen beim Lesepublikum selbst liegen uns für diese Periode keine Angaben vor. Da es kaum Neuauflagen gab und genaue Absatzziffern ohnehin nicht existieren, ist schwer abzuleiten, welche Bücher sich gut verkauften. Insofern dienen die Rezensionen wiederum als Anhaltspunkt für die vermutliche Publikumsresonanz. Darüber hinaus sind die allgemeinen Reportagen über das – vor allem kulturelle – Geschehen in Deutschland zu berücksichtigen, die den Lesern der Buchbesprechungen ebenfalls zugänglich waren und ihre Entscheidung, die eine oder andere Buchübersetzung zu lesen, beeinflusst haben mögen. In gewissen Fällen wurden auch Zitate aus Zeitungsartikeln allgemeinen Charakters miteingebaut, um den Rezeptionshintergrund für die jeweiligen Bücher oder dramatische Aufführungen zu erhellen. Die Buchrezeption seitens der Leserschaft, im Gegensatz zur Buchkritik, ist allein durch eine allgemeine Umfrage des »Rimon«-Verlages aus dem Jahre 1939/ 40 innerhalb zweier Schülergruppen belegt. Befragt wurden 40 Schüler im Alter zwischen 14 und 16 Jahren sowie 21 17- und 18-jährige Schüler.109 Angaben über die Identität der Schüler, ihre Herkunft und Sozialisation liegen nicht vor. Auch ist die Methodik der Umfrage nicht beschrieben, doch kann man aus der breiten Streuung der Bücher folgern, dass die Schüler gebeten wurden, die von ihnen gelesenen Bücher aufzulisten und zu bewerten. In der jüngeren Altersgruppe sind insgesamt 104 Bücher erwähnt, davon elf Übersetzungen aus dem Deutschen;110 von letzteren wurden fünf mit »hat gefal109 Leseliste der Schüler der fünften Gymnasialklasse (40 Schüler im Alter von 14½ bis 16 Jahren) (hebr.), »Rimon«-Verlag 1939/1940, CZA, S83/1883; Leseliste der Schüler der achten Gymnasialklasse (Schwerpunkt Literatur) (21 Schüler im Alter von 17–18 Jahren) (hebr.), CZA, S83/1883. 110 In der Folge werden die gelesenen deutschen Bücher im Einzelnen bei der Besprechung der jeweiligen Rezensionen angeführt.

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len« angezeichnet. Die anderen Werke waren hebräische Originale und Übertragungen aus folgenden Sprachen: Englisch (Großbritannien und Vereinigte Staaten), Italienisch, Französisch, Russisch, Polnisch und Norwegisch. Die beiden, von 26 der insgesamt 40 Schülern angeführten meistgelesenen Werken, die ebenfalls das Prädikat »hat gefallen« erhielten, waren Die gute Erde von Pearl S. Buck und Geschichte zweier Städte von Charles Dickens. Von den älteren Schülern wurden 190 Bücher genannt, darunter 30 aus dem Deutschen übersetzte, ein Dutzend wurde mit »hat gefallen« benotet. Die übrigen Werke betrafen dieselben Sprachen wie in der anderen Gruppe. Auch bei den Älteren galt Die gute Erde als sehr populär, 19 der 21 Befragten gaben an, dass ihnen das Buch zugesagt hätte. Der Seewolf von Jack London wurde ebenso oft erwähnt, jedoch ohne eine einzige positive Beurteilung. Die Rezeption der deutschsprachigen Theaterstücke, die zur Aufführung gelangten, ist um einiges ausführlicher belegt. Über profesionelle Stellungnahmen zur Qualität des Stückes und der Inszenierung, zu Bühnenbild und Musik hinaus äußerten sich die Kritiker teilweise auch zur Reaktion des Theaterpublikums auf das Bühnengeschehen. Zu einem Teil der »Habima«-Aufführungen liegen detaillierte Angaben der Zuschauerzahlen für die gesamte Spieldauer vor. Da Theaterabonnements wie auch Werbung damals noch unüblich waren, kann man davon ausgehen, dass ein Kassenerfolg nicht Folge effektiven Marketings, sondern Ausdruck dessen war, wie ein Stück tatsächlich beim Publikum ankam. Die Buchkritik befasste sich vorwiegend mit Belletristik. Naturgemäß spiegeln die Rezensionen damit jenen Buchtypus wieder, der mit Präferenz ins Hebräische übertragen wurde – von Juden oder NS-Gegnern verfasste Erfolgsliteratur also. Die Rezensenten lenkten des Öfteren das Augenmerk der Leser auf die Abstammung der Autoren bzw. ihre politische Einstellung, vor allem, wenn es um Nationalsozialismus oder Sozialismus ging. Explizit gegen den Nationalsozialismus gerichtete Prosa- und Dramenliteratur wurde in höherem Maße und in der Regel positiv besprochen. Hingegen finden Übersetzungen zionistischer Schriften, wie Werke von Herzl und Nordau, in der Kritik kaum Erwähnung; offensichtlich ging man a priori davon aus, dass sie ein positives Echo zeitigen würden.111 Thomas Mann nahm die Kritik besonders oft zum Gegenstand, wobei die diesbezüglichen Beiträge einen interessanten Aufschluss über die Geisteswelt der Buchkritiker geben. Mann war ein bereits über die Grenzen seines Landes bekannter Schriftsteller, spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1929. In den intellektuellen Kreisen des Jischuw stießen seine Werke auf enormes Echo; dies vielleicht aufgrund seines internationalen Erfolges, oder des spezifisch von ihm gepflegten, den Geist des Fin de siècle widerspiegelnden Genres der Romanliteratur, der auch jene geprägt hatte, die bei den Übersetzungen ins 111 Erwähnenswert ist der Umstand, dass dem Repertoireausschuss der »Habima« über den Verkauf der Filmrechte an Herzls Altneuland an eine ungenannte Firma berichtet wurde. Die Verfilmung sollte im Gedenken an Herzls 30-jährigen Todestag erfolgen. Vgl. Generalversammlung des Habima-Theaters (hebr.), 11. November 1933, IDDK, »Habima«.

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Hebräische das Sagen hatten. Auch seine Position Nazideutschland gegenüber wird sicherlich bestimmend gewesen sein. Die Zeitschriften berichteten intensiv über ihn sowie natürlich über seinen Kurzbesuch in Tel Aviv und Jerusalem. Auch die Veröffentlichung einer preiswerten Ausgabe der Buddenbrooks in einer Auflage von einer viertel Million Exemplaren gegen Ende 1930 wurde vermeldet.112 Neben dem großen Interesse an Mann wurde im Jischuw auch mit einiger Skepsis zu ihm Stellung bezogen. Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an den Dichter brachte Mosnajim eine Artikelserie von Rabbi Benjamin zu seinem Werk. Darin äußerte sich der Verfasser folgendermaßen: »Und doch: ich lese diese Werke dreißig Jahre nach ihrem Ersterscheinen, nachdem Thomas Mann Weltruhm erlangt hat und zu dem gekommen ist, zu dem er eben gekommen ist. Trotz allem sehe ich in ihnen auch jetzt keine Größe.«113 Die Vorbehalte Rabbi Benjamins rührten wohl weniger von Manns literarischem Werk her als vielmehr von seiner Weltanschauung. In dem eine Woche zuvor erschienenen Artikel hatte er bereits Manns große Verehrung für Richard Wagner erwähnt. Anhand der Schilderung, wie Mann auf der Piazza Colonna in Rom tief bewegt den Klängen von Siegfrieds Tod gelauscht hatte, kritisierte er den Nationalismus des Dichters.114 Es ist offensichtlich, dass sich Rabbi Benjamin Manns großer Bewunderung für Wagner, wie sie unter anderem in den Buddenbrooks oder in der Erzählung Wälsungenblut zum Ausdruck kam, bewusst war. Bemerkenswert ist jedenfalls, 112 Zum Besuch Thomas Manns in Palästina siehe: In der Welt (hebr.), in: Mosnajim 1/49–50 (20. April 1930, 11. April 1930), 16. Zur Billigausgabe der Buddenbrooks siehe Mosnajim 1/49–50 (20. April 1930, 11. April 1930), 40 (17. Januar 1930), 16. Zu den Absatzzahlen siehe: In der Welt (hebr.), in: Mosnajim 2/25 (12. November 1930), 16. Unter den jüngeren Lesern in Palästina fand das Buch geringeren Anklang. In der Umfrage des »Rimon«-Verlages erschien es nur in den Leselisten dreier Schüler aus der älteren Gruppe. In einem Atemzug mit Mann wurde der Dichter Hermann Hesse genannt: »Der Name [Hesse] war mir nicht fremd. Aus der jungen deutschen Prosa, die ich damals [im Herbst 1914] las, prägten sich zwei Werke in mein Gedächtnis: Tonio Kröger von Thomas Mann und Peter Camenzind von Hermann Hesse […]. Ich weiß nicht, welche Wirkung er auf die Zeitgenossen haben wird […], doch will mir scheinen, dass gerade dieses Buch von der hiesigen Jugend sehr gut aufgenommen werden wird.« J. Fichman, Rezension: Literarische Auswahl (hebr.), in: Mosnajim 12/4 (Februar 1940), 265 f. Zu erwähnen ist, dass Fichman selbst Hesses Narziss und Goldmund 1933 übersetzt hatte. Obwohl Hesse in Ablehnung des deutschen Militarismus in die Schweiz ins Exil ging, galt er unter den Intellektuellen im Jischuw als unpolitisch. Im Gegensatz zu Mann wurde zu ihm nur gelegentlich und leidenschaftslos Stellung genommen. 113 Rabbi Benjamin, Thomas Mann vor den Buddenbrooks (hebr.), in: Mosnajim 1/37 (27. Dezember 1929), 13. 114 »Die Füße wollen ihm vor Begeisterung schier versagen, doch applaudiert er nicht, weil er sich im Menschengewühl nicht rühren kann; den Bravorufen schließt er sich nicht an, weil ihm die Stimme versagt, doch mit dem Anklingen des Nothung-Motivs rinnen ihm Tränen über die Wangen, er strahlt, und sein Herz klopft in ungestümer, schwärmerisch-jugendlicher Begeisterung […] Der Name dieses jungen Mannes war Thomas Mann […]. Im [Ersten] Weltkrieg […] entpuppte er sich als deutscher Nationalist. In tiefem Irrtum befangen, meinte er, das Recht sei auf Seiten der deutschen Politik. Im späteren Verlauf des Krieges galt diese Einstellung in intellektuellen Kreisen als schwere Verfehlung.« Ders., Thomas Mann – woher kommt er? (hebr.), in: Mosnajim 1/36 (20. Dezember 1929). Siehe dazu auch Sheffi, Der Ring der Mythen (Anm. 2, Prolog), 33.

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dass diese Zeilen noch vor Manns spektakulärer Rede anlässlich des fünfzigsten Todestages Wagners im Mai 1933, kurz nach dem nationalsozialistischen Machtantritt, und selbstredend vor dem Beginn des Wagner-Boykotts in Palästina verfasst wurden. Doch galt in den Augen der jüdischen Verehrer Thomas Manns bereits damals jedweder Verdacht einer deutsch-nationalen Einstellung als schwere Verfehlung.115 Nicht lange nach dem Erscheinen von Rabbi Benjamins Artikel gab es indes im Jischuw auch positive Stellungnahmen zu Mann. So etwa brachte der sich Manns nationalistischer Auffassung bewusste Literaturkritiker und Übersetzer David Marani eine auf dem deutschen Original beruhende, überschwengliche Besprechung von Manns Erzählung Mario und der Zauberer.116 1936, im Jahr der Bücherverbrennungen in Deutschland, ereiferte sich Yaakov Cahan gegen Manns Verhalten: Zur Person des Schriftstellers Thomas Mann, der seine Werke weiterhin im deutschen Fischer-Verlag herausbringt, findet derzeit eine große und heftige Kontroverse in der deutschen Exilpresse statt. Der Umstand, dass der Nobelpreisträger Mann, einer der führenden Schriftsteller unserer Zeit, seine Beziehungen zum in Deutschland derzeit herrschenden Hitler-Regime nicht völlig abgebrochen und es nicht explizit verurteilt hat, hat alle seine Bewunderer brüskiert und vor allem die Gemüter der sich im Exil befindlichen deutschen Schriftsteller erregt. Die Nazityrannen, die fast alle angesehenen Schriftsteller und Künstler aus Deutschland in die Emigration gezwungen haben, können mit dem Hinweis darauf, dass sich Thomas Mann nicht scheut, seine Werke auch weiterhin in Deutschland herauszubringen und zu vertreiben, auf die scheinbar in ihrem Lande für deutsche Dichter geltende Geistesfreiheit pochen.117

Die Rehabilitierung Manns erfolgte zehn Monate später: Da wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, seine Bücher wurden verboten und die weitere Veröffentlichung seiner Werke untersagt. Zu seinen Gunsten wurde auch eine Stellungnahme angeführt, in der er das NS-Regime als ein »an Barbarei grenzendes Regime« bezeichnete und »für die Juden eintrat« (so im Hebräischen wiedergegeben). Der positive Wandel von Manns Image unter den Intellektuellen des Jischuw mag Anlass für die Übertragung von André Gides Einleitung zur französischen Ausgabe eines erfolgreichen Essaybandes von Thomas Mann gewesen sei: »Seine Werke wie auch sein Leben sind makellos. Seine Antwort auf die Absurdität der Hitler-Schmach ist eines Verfassers der Buddenbrooks, des Zauberbergs und der Trilogie Joseph und seine Brüder würdig. Die Bedeutung seines Œuvres verleiht seiner Geste enorme Wichtigkeit und Signifi-

115 Über Manns Wagner-Rede wurde auch im Jischuw berichtet. Vgl. Diverses: Thomas Mann über Richard Wagner (hebr.), in: Bama 1/1 (Mai 1933). Zur Verehrung Manns seitens des jüdischen Publikums vgl. Grunfeld, Prophets Without Honor (Anm. 32, 1. Kap.), 25 f. 116 D. Marani, »Mario und der Zauberer« [Zum deutschen Original] (hebr.), in: Achdut 5–6 (September–Oktober 1930), 596. 117 Alschech (Y. Cahan), Thomas Manns Erklärung (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 28. Februar 1936, 14.

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kanz.«118 Diese Einstellung zu Mann als einem in seinen literarischen Qualitäten unübertroffenen Dichter war im Jischuw durchaus typisch. Der in München geborene, 1935 nach Palästina eingewanderte Schalom Ben-Chorin veröffentlichte vier Jahre später einen begeisterten Aufsatz zu Thomas Mann. Tod in Venedig bezeichnete er als »gewaltiges Werk«, und zu Joseph und seine Brüder schrieb er, es zähle »mit all seinen Schwächen zweifelsohne zu den wunderbarsten Werken, die in Gottes Garten unter Berufung auf das ewig gültige Buches der Bücher entstanden ist«.119 Nunmehr wurden Thomas Mann auch seine politischen Äußerungen zugute geschrieben. So erschien etwa in Ha-poel Ha-zair ein von Mann noch vor der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Paktes verfasster Artikel, in dem er die »nationalsozialistische Revolution« und die zynische Art und Weise, in der sie sich die Angst der Bourgeoisie vor der Möglichkeit eines bolschewistischen Einfalls zunutzen machte, auf das Schärfte angriff.120 Seine antinazistische Haltung erweckte auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Bewunderung der Publizisten im Jischuw. So schrieb Israel Cohen: »Mit Grauen sah er den Untergang seines Volkes und Vaterlandes voraus und musste mit ansehen, wie sich diese Schreckensprophezeiung erfüllte […]. Er riskierte Leben, Ehre, literarischen Namen und Zukunft, um seinem über alles geliebtem Volk öffentlich die bittere Wahrheit zu verkünden.«121 Es liegt nahe, dass die Sympathien für Thomas Mann auch die Übertragung von Werken anderer Mitglieder der Familie Mann förderte. Mehrere Aufsätze seines, in Thomas’ Schatten stehenden, vom literarischen Schaffen her jedoch nicht weniger faszinierenden Bruder Heinrichs, der entschieden und offen gegen den Nationalsozialismus auftrat, erschienen 1935 in Ha-poel Ha-zair. Zwei seiner Bücher, wie auch zwei der Kinderbücher von Thomas Manns Tochter Erika wurden ins Hebräische übersetzt. Die große Sympathie für Thomas Mann wurde vom Erscheinen des Romans Doktor Faustus getrübt, der die Gemüter aufs Neue erregte. In den Augen zumindest eines Teiles der hebräischen Leserschaft fiel er damit wieder auf jene prekäre Position zurück, in der er sich vor seinem öffentlichen Eintreten gegen den Nationalsozialismus befunden hatte. Einen Monat vor der Unabhängigkeitserklärung Israels, als die Greuel der zwölfjährigen nationalsozialistischen Herr-

118 André Gide, Zu Thomas Mann (Einleitung zu einem Essayband) (hebr.), in: Mosnajim 6/2–3 (November 1937), 235. 119 S. Ben-Chorin, Die Josephslegende als Epos: Zu Thomas Manns Josephstrilogie (hebr.), in: Mosnajim 9/2 (Juni 1939), 271 f. In Ben-Chrorins Beitrag über Lotte in Weimar aus dem Jahre 1941 war seine Beurteilung zurückhaltender, wobei er die Erzählung als »ebenso tiefgründig wie amüsant« bezeichnete. Siehe Lotte in Weimar (hebr.), in: Mosnajim 13/1–2 (Juni 1941), 124. 120 Thomas Mann, Der Zwang zur Politik (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 13. September 1939, 9 f. 121 I. Cohen, Thomas Mann (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 7. Juni 1945, 8. Eine ähnliche Stellungnahme erfolgte in einem anderen Beitrag: »Als Thomas Mann im Jahre 1933 in die Emigration ging, war er ein großer Schriftsteller. Heute ist er mehr als nur ein großer Schriftsteller […]. Der permanente Rechtsbruch, der organisierte und systematische Massenmord, die Verachtung des Geistes, der Rassenwahn haben die Zunge des Dichters geschärft.« S. Ben-Chorin, Literatur und Kunst in der Welt: Thomas Mann (hebr.), in: Gasit 8/2–3 (November 1945), 59.

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schaft allmählich ins Bewusstsein des Jischuw zu dringen begannen, wurde Mann erneut vorgeworfen, er habe die NS-Verbrechen nicht ausreichend verurteilt. Der aus Polen stammende S. Shalom, der in Österreich zur Schule gegangen und in Deutschland studiert und gelehrt hatte, mit der deutschsprachigen Kultur also bestens vertraut war, fühlte sich von dem Buch persönlich verletzt: »Dieses Werk verstößt gegen die Wahrheit des Lebens und insofern auch gegen die Wahrheit des Schaffens. Und weil ich das Werk als eine Entweihung der Gräber meines Volkes empfinde, gestatte ich mir, seinem Verfasser meine Meinung zu sagen …«122 Die Stellungnahmen zu Thomas Mann vermitteln ein Bild der allgemeinen Einstellung der hebräischen Publizisten zu den Literaturübersetzungen aus dem Deutschen: Man fühlte sich zu den großen Werken der deutschen Kultur hingezogen, äußerte jedoch ungeschminkte Kritik; man achtete auf die Beziehung des Autors, oder, wie im Falle Manns, seines Werkes – wie Joseph und seine Brüder –, zum Judentum sowie auf seine politischen Auffassungen. Das politische Element war so wesentlich, dass etwa ein Dichter wie Gerhart Hauptmann, ein Liebling der hebräischen Pressekritik, im Jischuw wegen seines Ansehens unter dem NS-Regime völlig tabuisiert wurde. Während es noch im November 1932, kurze Zeit also vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten, zu Hauptmann folgendermaßen hieß: »In seinem Weltbild und Bewusstsein widerspiegelt sich seelische Größe, menschliche Emotion, die sein gesamtes Œuvre durchzieht«123, hieß es 1945 in einem, Thomas Mann als den größten Dichter seiner Generation rühmenden Artikel, Hauptmann hätte sich in den Dienst des NS-Regimes gestellt. Hauptmann, von dem eine Reihe von Erzählungen auf Hebräisch in den »Jefet«-Sammlungen erschienen war, wurde völlig verfemt und ignoriert. Es mag sein, dass er ohnehin in Vergessenheit geraten wäre, weil sein literarischer Stern gesunken war; im Jischuw jedenfalls wurde er bestenfalls nur in negativem Kontext erwähnt. In der Regel interessierten sich die Kritiker nicht für provokative Persönlichkeiten. Ganz im Gegenteil beschäftigten sie sich gerne mit nicht-kontroversen Themen und Personen. Auf literarischem Gebiet fehlte es nicht an »positiven« Gestalten, wie etwa in Deutschland und im Ausland erfolgreiche jüdische Schriftsteller. Verständlicherweise steigerte sich die Sympathie ihnen gegenüber mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und angesichts des Verbots ihrer Bücher. Zu den jüdischen Schriftstellern deutscher Sprache, die ins Hebräische übertragen und in der Presse rezensiert wurden, zählten Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Lion Feuchtwanger, Richard Beer-Hofmann, Stefan Zweig, Arnold Zweig, Max Brod, Vicki Baum und Anna Seghers. Beer-Hofmann und Schnitzler waren bereits früher bekannt. Beer-Hofmanns Jaákobs Traum wurde ins Hebräische übersetzt und 1925 in der »Habima« auf122 S. Shalom, Ein verwerflicher Roman Thomas Manns (hebr.), in: Mosnajim 1/13–14 (16. April 1948), 302. 123 M. Calvari, Gerhard Hauptmann: Zum Anlass seines siebzigsten Geburtstages (hebr.), in: Mosnajim 23 (24. November 1932), 5.

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geführt; Gedichte erschienen vereinzelt in Zeitschriften und Zeitungen. Viele von Schnitzlers Werken wurden sowohl zu seinen Lebzeiten als auch nach seinem Tod Anfang der 30er Jahre ins Hebräische übertragen. Über beide Dichter erschienen vor allem Retrospektiven mit einer Würdigung ihres Œuvres, wobei immer wieder ihre jüdische Abstammung hervorgehoben wurde. Zum Anlass von Beer-Hofmanns achtzigstem Geburtstag schrieb die nach Palästina eingewanderte deutsch-jüdische Schriftstellerin Martha Hofmann: Väterliche Wärme, Güte, Menschlichkeit, Ehrfurcht vor der Erhabenheit der unsterblichen Seele des Mitmenschen und der kleinsten Einzelheit, die doch in sich Wesenhaftes birgt – dies sind einige der Wesensmerkmale eines in seiner Art einzigartigen Menschen, eines edlen und aufrechten Juden, der nicht einen Augenblick jener spitzfindigen Ambivalenz und Problematik anderer deutschsprachiger jüdischer Dichter erlag, wie wir sie etwa von Wassermann kennen. So sehr war er mit sich eins, dass auch sein Judentum für ihn kein Problem darstellte.124

Auch Schnitzlers jüdische Abstammung wird, ungeachtet des Ansehens, das Schnitzler als Schiftsteller ohnehin genoss, in den Besprechungen erwähnt – wie z. B. dieser Rezensent in Bustenai bemerkt: »Schnitzler offenbart in diesem Werk [Professor Bernhardi] seine jüdische Seele«125. Jeshurun Keshet (Jacob Koplewitz) etwa verglich Schnitzler mit zentralen Figuren der Kunst: »In Begriffen der Musik ausgedrückt, ist Arthur Schnitzler der Chopin, und in Begriffen der Malerei, der Corot der Literatur. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass er ein hervorragender moderner Dichter ist. Der Klassiker der Moderne.«126 Doch auch nach Schnitzlers Ableben, als sein Werk in Retrospektive, repräsentativ für eine ganze Ära und Künstlergeneration, betrachtet werden konnte, verwies die Kritik weiterhin darauf, dass er Jude gewesen war. Zu seinem zehnten Todestag war in der Zeitschrift Bama zu lesen: Von jeher habe ich in Schnitzler den markantesten jüdischen Dichter gesehen – nicht nur, weil er Verfasser des Wiener Ärztedramas Professor Bernhardi ist, oder, als Bild jüdischer Lebenswelt, des Romans Der Weg ins Freie, der schier zu einem Begriff geworden ist. Seine dauernde Beschäftigung mit der menschlichen Seele, die Wurzellosigkeit, die fast allen Schnitzlerschen Helden anhaftet, obwohl kaum jemand die Wiener Atmosphäre wie er zu erfassen wusste, diese – nicht weniger als seine Einstellung zu Krieg und Frieden – sind die jüdischen Fundamente dieses Phänomens.127

124 M. Hofmann, Notizen – Richard Beer-Hofmann: Zum Anlass seines achtzigsten Geburtstages (hebr.), in: Gasit 27 (Juni 1945), 27. 125 Kore Stam, Arthur Schnitzler, Dichter des Lebens und des Todes (hebr.), in: Bustenai (9. Dezember 1931), 16. 126 J. Koplewitz, Schnitzler (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair (30. Oktober 1931), 14. 127 Frango, Zum zehnten Todestag Arthur Schnitzlers (hebr.), in: Bama 5/1 (November 1941), 48. Zu Schnitzlers Rang in der zeitgenössischen Literatur vgl. u. a.: [Jod-Ajn], Arthur Schnitzler (hebr.), in: Gasit 1 (Januar 1932), 33. In den Worten des Verfassers »sind in Schnitzlers Werk alle Eigenschaften seiner Epoche enthalten […]. Schnitzlers œuvre ist in seinem ganzen Aufbau, trotz aller Unterschiedlichkeit, repräsentativ für eine bestimmte Generation«.

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Eine ähnliche Verbindung jüdischer Abstammung und scharfsichtiger gesellschaftlicher Analyse war der Kritik zufolge auch Merkmal eines Dichters, der sich eines völlig anderen Stils bediente: Stefan Zweig. Dessen belletristisches Werk, das vornehmlich in den zwei Dekaden vor der Staatsgründung ins Hebräische übertragen wurde, wurde ausführlich in den literarischen Zeitschriften rezensiert. Auch er galt als hervorragender, die gesamteuropäische Kultur repräsentierender Intellektueller. Jakob Fichman pries Zweig in einem Aufsatz zu seinem fünfzigsten Geburtstag über alle Maßen: »In ihm findet sich der Geist der Universalität – das heißt, jene umfassende Durchschlagskraft, die nur vereinzelte auszeichnet, denen der Weltgeist seine große Melodie einhaucht […]. Er stellt in unseren Tagen jenen klarsichtigen Weltgeist dar, in dessen Wirken sich der dieser Epoche gemeinsame Genius widerspiegelt.«128 Fichmans positive Meinung über Zweig äußerte sich nicht nur in festlichen Momenten wie diesem. Er rühmte ihn auch für Marie Antoinette und bemerkte, »zweifelsohne wird dieser zu einem der meistgelesenen biographischen Romanen gehören«129. In der Tat gaben in einer Umfrage unter Schülen der höheren Gymnasialklassen 18 von 21 an, den Roman gelesen zu haben; 16 hatten Maria Stuart gelesen und positiv bewertet.130 Selbstverständlich sind Fichmans Äußerungen und die Ergebnisse einer so eng gefassten Umfrage kein zwingender Beleg für die öffentliche Meinung im Jischuw; doch gemeinsam mit der Häufigkeit der Zweig-Übersetzungen betrachtet, ergibt sich hier ein Bild seiner allgemeinen Beliebtheibt. Die Verehrung für Zweig wuchs noch mit Bekanntwerden seines Selbstmordes. Dass Zweig, nicht zuletzt, weil er als Jude Europa verlassen musste, jede Hoffnung für die Zukunft des Kontinents aufgegeben hatte, warf neues Licht auf seine Person. Max Brod, der aus demselben Grund nach Palästina emigriert war, schrieb auf die Nachricht von Zweigs Freitod: Weiters ist mir zu Ohren gekommen, Zweig hätte in seinem Abschiedsbrief geschrieben, er gehe in den Tod, weil ihn ein Gefühl der Heimatlosigkeit erfasst hätte. Wie sehr diese Version auch der zionistischen Ideologie entgegenkommt, möchte ich doch selbst an der Richtigkeit dieses Gerüchts und dieser propagandistischen Äußerung zweifeln […]. Sein Glaube war die Menschheit, sein Streben all das, was das Menschengeschlecht vereint.131

128

J. Fichman, Stefan Zweig zum fünfzigsten Geburtstag (hebr.), in: Mosnajim 40 (3. März 1932),

11–12. 129

Ders., Weltliteratur: Der biographische Roman (hebr.), in: Mosnajim 2/8 (April–Mai 1934),

196. 130 Leseliste der Schüler der achten Gymnasialklasse (21 Schüler im Alter von 17–18 Jahren) (hebr.), »Rimon«-Verlag 1939/1940, CZA, S83/1883. 131 M. Brod, Der Tod Stefan Zweigs (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair (4. März 1942), 5. Trotz seiner Zweifel an den Umständen von Zweigs Selbstmord war es Brod, der dafür plädierte, von Kritik daran Abstand zu nehmen: »In der Jischuw-Presse schwang in den Nachrufen auch Kritik an Zweig, den Gründen seiner Verzweiflung und seines tragischen Freitodes mit. Ich meine, an dem, was im tiefen Innern eines schaffenden Menschen vorgeht, soll man nicht rühren. Es ist an uns, sein Andenken als Jude und als Künstler damit zu ehren, dass wir im Herzen nur das Ewige an seinem Schaffen bewahren.« M. Brod, Zum Tode Stefan Zweigs (hebr.), in: Bama 5/3 (April–Mai 1942), 4.

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In der Rezeption von Zweigs Werk stellte, vielleicht aufgrund der persönlichen Bekanntschaft seitens einiger Vertreter der intellektuellen Kreise des Jischuw, die jüdische Herkunft nur eines von verschiedenen Elementen dar. Das Interesse an ihm begründete sich vornehmlich auf den Schreibstil, wie Jacob Koplewitz (Jeshurun Keshet) prägnant formulierte: »Stefan Zweig hatte das Pech, zu jener Generation von Dichtern zu gehören, die in einem zur Neige gehenden Zeitalter zu jung und in einer neu anbrechenden Epoche zu alt waren; Bindeglieder zwischen zu Ende gehender und in Aufbruch befindlicher Lebenswelten.«132 Obwohl das von Zweig gepflegte Genre des biografischen Romans zu dieser Zeit neuen Stilrichtungen zu weichen begann, genoss es im jüdischen Palästina noch ansehnlichen Erfolg. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Werk Emil Ludwigs, der vom Judentum zum protestantischen Glauben konvertiert war und diesen Schritt nach dem Mord am jüdischen Außenminister Deutschlands, Walter Rathenau, rückgängig gemacht hatte. Ludwig, der unter Verwendung historischer Quellen seinen Gestalten psychologische Dimensionen verlieh, genoss unter den hebräischsprachigen Lesern große Popularität. Seine weit ausholenden Schilderungen gefielen den Lesern. Man sah darin auch einen Weg, der Jugend Geschichte – wohl unter Verzicht auf historische Präzision, doch in packendem Stil – nahezubringen. Anlässlich eines Besuches Ludwigs im Lande wurde er als »Maler der Schreibfeder« gepriesen: »Ludwigs Wirkung auf die Leser geht vom Auge ins Herz, und nicht ins Gehirn. Denn er ist zuallererst Künstler.«133 Acht aus der älteren Gruppe der Gymnasialschüler, die an der Umfrage des »Rimon«-Verlages teilnahmen, also mehr als ein Drittel dieser Jahrgänge, gaben an, es hätte ihnen der Roman Juli 1914 gefallen, etwas weniger als ein Drittel hatten Napoleon gelesen. Auch die Buchkritik lobte Ludwigs Biografien in hohem Maße. Zu Napoleon hieß es, die Lektüre des Buches sei »alles andere als langweilig. Das ist nicht Geschichte, es ist keine Biografie, sondern ein Roman«. Zu Lincoln hieß es, dies sei »wohl nach Napoleon eine der vorzüglichsten Biografien Ludwigs«.134 Im Gegensatz zu Zweig erregte Ludwigs Autobiografie jedoch einigen Antagonismus. David Marani, ein scharfzüngiger und oftmals harter Kritiker, äußerte sich zu der niemals ins Hebräische übersetzten Originalfassung des Buches vernichtend: Ein mittelmäßiger Mensch und letztendlich mittelmäßiger Schriftsteller, dessen Privatleben, das die meisten Seiten dieses Buches füllt, völlig untypisch ist, ohne irgendeinen Wert für den zeitgenössischen Leser und schon gar nicht für künftige Generationen […]. Von allen großen Ereignissen unserer Epoche, dem Weltkrieg und der Revolution, klingt in diesem Buch nur ein leises Echo an. Denn seelisch stand Ludwig diesen Ereignissen

J. Koplewitz, Notizen – Zu Stefan Zweig (hebr.), in: Mosnajim 14/2 (März–April 1932), 126. D.A. Friedmann, Emil Ludwig (anlässlich seines Besuches im Lande) (hebr.), in: Mosnajim 35 (13. Dezember 1929), 10 f. 134 Zu Napoleon vgl. B., Emil Ludwig, Napoleon (hebr.), in: Mosnajim 2 (15. Mai 1930), 16. Zu Lincoln siehe Kore Stam, Lincoln (hebr.), in: Bustenai, 13. August 1930, 11. 132 133

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fern, ein bloßer Zuschauer, ohne innere Beteiligung, wenn er sich auch wie viele Literaten mit seinen linksgerichteten Auffassungen aufspielte.135

Die Lebensgeschichte Ernst Tollers erinnert in manchem an Zweig und Ludwig. Toller fühlte sich von Kindheit an als Opfer antijüdischer Anfeindungen. Nachdem er schließlich aus Europa emigriert war und sich in New York niedergelassen hatte, verfiel er in Verzweiflung und setzte 1939 seinem Leben ein Ende. Seine 1933 veröffentlichte Autobiografie wurde von den Nazis beschlagnahmt, war jedoch im Jischuw den deutschsprachigen Lesern bekannt, so auch Rabbi Benjamin, der seine Eindrücke wie folgt zusammenfasste: »Ein großer Schriftsteller erzählt hier sein Leben und tut dies in aller Einfachheit.«136 Elieser Lubrani rühmte das Werk mit folgenden Worten: »Das Buch ist in erschütternder Einfachheit geschrieben. Es ist sehr anschaulich und rührt an das Herz des Lesers. Nur wenige Schriftsteller sind imstande, die deutsche Revolution mit solcher Klarheit, mit all ihren Licht- und Schattenseiten, ihrem kühnen Elan und ihrem schrecklichen Scheitern zu schildern.«137 Als die Autobiografie ein Jahrzehnt später, im Jahr 1944, ins Hebräische übersetzt wurde, waren die Kritiker sich ihrer Bedeutung bewusster. Das entsetzliche Wissen um die Todesmaschinerie, die Deutschland zur Massenvernichtung eingesetzt hatte, erweckte neues Interesse an der Beziehung zwischen den Juden und Deutschland. Nunmehr wurde man auf Folgendes aufmerksam: Tollers Memoiren spiegelt eine allgemeingültige Tragödie wider. Sein Bildungsgang der Anpassung an die fremde Kultur und Entfremdung von der eigenen Herkunft ist für die deutschen Juden typisch. Die Intellektuellen und die empfindsamen Seelen unter ihnen litten wie er an Wurzellosigkeit. Toller war sich seines Judentums bewusst, kämpfte dagegen an, bemühte sich, es sich aus der Seele zu reißen, sich vom jüdischen Volk zu lösen und ganz mit der deutschen Nation zu verschmelzen.138

135 D. Marani, Die Autobiografie Emil Ludwigs [Zum deutschen Original Geschenke des Lebens] (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair (7. August 1931), 13. 136 Rabbi Benjamin, Aus Ernst Tollers Worten [Über das deutsche Original von Jugend in Deutschland] (hebr.), in: Mosnajim 28 (April–Mai 1934), 201. 137 A. Lubrani, Jugend in Deutschland, 2 [zum deutschen Original] (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 31. August 1934, 11. Im ersten Teil des Artikels stellt Lubrani fest: »In der deutschen Nachkriegsliteratur hat Ernst Toller eine Sonderstellung inne […]. Deutschland ist nicht mit vielen, die wie er Dichter und Kämpfer zugleich sind, gesegnet.« Siehe Ha-poel Ha-zair, 10. August 1934, 11. Ebenso enthusiastisch sind auch die Nachrufe nach Tollers Selbstmord: »Und auf die Frage, warum er nicht weiterschreibt, könnte seine Antwort nur lauten: ›Worüber sollte ich denn schreiben? Ich habe alles gesagt. Ich würde mich nur wiederholen.‹ Und in der Tat sah er dieses Wahnsinnsregime in Deutschland voraus und beschrieb seine ersten frühen Thesen. Als die Wirklichkeit seine Prophezeiungen noch übertraf, stand er machtlos da, über sich und die Welt reflektierend, und versank in Schwermut. Der Untergang seiner kulturellen Umwelt, die Enttäuschung über die Menschheit veranlassten ihn zu seinem letzten Akt.« Alschech, Bemerkungen und Notizen: Nachruf (hebr.), in: Hapoel Ha-zair (17. Januar 1936), 16. Hervorhebung im Original. 138 B.I. Michali, Aus dem Notizbuch eines Lesers: Jugend in Deutschland (hebr.), in: Ha-poel Hazair (26. Oktober 1944), 13.

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Aus zeitlichem Abstand heraus konnte man nun auch Tollers literarische Qualitäten beurteilen. Emanuel Bin-Gurion formulierte schonungslos wie folgt: »Auch in der Niederschrift seines Lebens in seinem Buch ›Eine Jugend in Deutschland‹ ist er meines Erachtens völlig gescheitert.«139 Auch mit Lion Feuchtwanger verfuhr die Kritik bisweilen nicht gerade sanft und ohne Rücksicht auf seine jüdische Herkunft und seine Auseinandersetzung mit jüdischen Geschichtsthemen. In einer Rezension zum Jüdischen Krieg wird als einziger Lichtblick die hervorragende Übersetzung des Buches angeführt.140 In der Umfrage des »Rimon«-Verlages geben drei Schüler der Unter- und einer der Oberstufe an, das Buch gern gelesen zu haben; drei Schüler der Unterstufe kreuzten an, sie hätten Die Söhne gelesen. Die damalige positive Einstellung zu Feuchtwanger hatte offensichtlich bewirkt, dass Die Geschwister Oppenheim direkt vom Manuskript übertragen wurde. Doch war das Ergebnis unbefriedigend, was zeigte, dass gelegentlich ein einzelner Übersetzer oder Verleger dem Publikum seine Meinung aufzwingen kann. So argumentierte M. A. Žack: Die Gepflogenheit, Bücher vom Manuskript weg zu übersetzen, muss auch bei berühmten Autoren neu überdacht werden. Nicht alles, was aus der Feder ein und desselben Schriftstellers stammt, ist gleich gut redigiert. Und warum soll man sich auf den Geschmack einer Person verlassen und seinem alleinigen Urteil in literarischen Dingen vertrauen. So ist es in allen Literaturen üblich, und warum sollte die unsre hier eine Ausnahme sein? Dafür aber kann das hier besprochene Buch nicht als Indiz dienen. Anderswo geht ein solches Buch unter Dutzenden anderen Neuerscheinungen unter. Unsere literarische Produktion ist bei weitem nicht so fruchtbar und bringt allmonatlich nicht mehr als zwei Bände hervor.141

Ein ähnliches Urteil fällte Jehuda Burla über Jakob Wassermanns Gänsemännchen. Zugunsten des Autors wurden zwar sein Renommee und seine jüdische Herkunft geltend gemacht, doch war es dem Rezensenten im spezifischen Fall völlig unklar, was den »Omanut«-Verlag veranlasst hatte, das Buch zu veröffentlichen: Nach Lektüre dieses Buches stellt sich wieder die quälende Frage: Wozu sind diese Übersetzungen gut? Welchen Wert und welche Aufgabe haben sie für uns? Welches Prinzip hat uns hier als Richtlinie zu dienen? […] Der hier besprochene Roman Gänsemännchen gehört zu jenen Werken, die in der Regel in fremden Literaturen ihren Platz haben. Wassermann ist sicherlich ein großer Erzähler von Rang und Namen; des Öfteren haben wir 139

E. Bin-Gurion, Drei Lebensabschnitte (hebr.), in: Mosnajim 19/2 (Oktober–November 1944),

90 f. 140

Shmueli, Buchkritik: Der jüdische Krieg (hebr.), in: Mosnajim 24 (24. November 1932), 14 f. M.A. Žack, Das Haus Oppermann (hebr.), in: Mosnajim 1/5 (Januar–Februar 1934), 104. Žack Angriff richtete sich offensichtlich gegen die Allmacht des Verlegers Stybel bei der Realisierung seiner persönlichen Vorstellungen. Meinen Aufzeichnungen zufolge erschien die hebräische Übersetzung etwa ein Jahr nach dem deutschen Original. Dieser scheinbare zeitliche Abstand ist wahrscheinlich auf die unterschiedliche Jahresbezeichnung des jüdischen Kalenders zurückzuführen (das jüdische [Mond-]Jahr beginnt jeweils im Herbst des gregorianischen Kalenders). Zu erwähnen ist noch, dass fünf der 21 Befragten der »Rimon«-Umfrage in der Gymnasialoberstufe das Buch gelesen hatten. 141

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seine Arbeiten mit Dankbarkeit und Freude gelesen. Gänsemännchen hingegen ist ein misslungenes Werk.142

Nichtsdestotrotz urteilten vier der 21 Schüler der Gymnasialoberstufe im Rahmen der »Rimon«-Umfrage positiv über das Buch. Obgleich die meisten Übertragungen aus dem Deutschen in dieser Periode von Juden stammten, wurden sie keineswegs mit Samthandschuhen angefasst. Es wurden dieselben Maßstäbe wie an andere Autoren angelegt, auch wenn in vielen Fällen die jüdische Herkunft als Begründung oder zumindest als eines der Momente für die Anfertigung der Übersetzung schlechhin genannt wurde. Der Ton war weniger objektiv, wenn es sich um jüdische Autoren handelte, die nach Palästina eingewandert waren und auch weiterhin deutsch schrieben. Ein markantes Beispiel dafür ist der schon vor seiner Immigration berühmte Max Brod, der im Jischuw mit offenen Armen aufgenommen worden war. Seine Einstellung zur jüdischen Diaspora verschaffte ihm bei den Publizisten in Palästina große Anerkennung. Sie sahen in ihm jemanden, »der mit seinen herrlichen historischen Romanen, hochstehenden philosophischen Schriften, seinen Dramen, Gedichten, Biografien sowie unzähligen Aufsätzen und Rezensionen dem Judentum einen großen Dienst erwiesen hatte«.143 Dass er den intellektuellen Kreisen des Jischuw nahestand, ersparte Brod offensichtlich auch manche Unannehmlichkeit. So schrieb Abraham Jaffe höflich, die Botschaft des Buches Abenteuer in Japan käme auf den letzten Seiten zum Ausdruck, überging aber die vorhergehende Handlung wohl wegen ihres anarchischen und unausgegorenen Aufbaus.144 Über seine Präsenz im Jischuw und sein Wirken in der »Habima« hinaus war Brods großer Verdienst die Herausgabe von Franz Kafkas Werken. Im Jischuw war Kafka ein recht unbekannter Autor. Lediglich ein Roman sowie eine Erzählsammlung waren ins Hebräische übertragen worden, wodurch er naturgemäß in der Presse nur geringe Erwähnung fand. Wann immer dies jedoch geschah, dann mit großer Anerkennung, wobei ihm auch seine jüdische Herkunft zugute gehalten wurde. So berichtet Israel Cohen den Lesern von Ha-poel Ha-zair folgendermaßen über die Lektüre des deutschen Originals von Das Schloß: 142

J. Burla, Gänsemännchen, in: Mosnajim 141–42 (hebr.) (7. Mai 1933), 22. [A. Pe-Nun], Max Brod: Aus Anlaß seiner Ankunft (hebr.), in: Gasit 3 (24. April 1939), 41. Auch in der Zeit seines Wirkens im Ausland war Brod als tatenreiche, dem jüdischen Volk zur Ehre gereichende Persönlichkeit anerkannt. Vgl. etwa S. Bass, Max Brod: Zum Anlass seines fünfzigsten Geburtstages (hebr.), in: Mosnajim 2/6 (22. Juni 1934), 620–624. Auch die Einstellung zu Arnold Zweig war während seiner Jahre in Palästina, über seine Wertschätzung als guter Schiftsteller hinaus, äußerst warmherzig: »Soll Zweigs Verweilen im Lande lediglich eine Zwischenstation sein, wie jeder andere Zufluchtsort auch, in dem die Exilierten mit Sehnsucht auf die Rückkehr in die Heimat warten? […] Mit seinen ersten Schritten auf dem Gebiet der Literatur deklarierte er sich als Jude […]. Er streute die Samen seiner Schaffenskraft auf dieser Erde aus dem tiefen Bewusstsein und dem Verantwortungsfühl heraus, ein jüdischer Schriftsteller dieser Generation zu sein.« M. Avi-Shaul, [In der Rubrik: Essays] Arnold Zweig, aus Anlass seines fünfzigsten Geburtstages (hebr.), in: Mosnajim 7/3 (Juli 1938), 407. Hervorhebung im Orginal. 144 A. Jaffe, Abenteuer in Japan (hebr.), in: Gasit 6/4 (Dezember 1943), 34. 143

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Dank der deutlichen literarischen Qualitäten, der wunderbaren deskriptiven Begabung und dem gewaltigen Talent für Formgebung und Schilderung der Charaktere, die sich bei Franz Kafka finden, haben wir es hier mit einem hervorragenden Werk zu tun, das man in vielerlei Weise auskosten kann, ob nun die einzelnen Elemente bewusst oder unbewusst darin gesetzt sind […]. Es ist wert, Kafka ins Hebräische zu übersetzen.145

Eine derartige Empfehlung seitens eines Kritikers war keine alltägliche Sache und eine besondere Verbeugung vor dem Menschen und begnadeten Schriftsteller Kafka. Auch der Prager Intellektuelle und Zionistenführer Felix Weltsch befürwortete, offensichtlich anlässlich des hebräischen Ersterscheinens eines Kafka-Werkes, Amerika, mit Nachdruck das Übersetzen dieses Schriftstellers: Kafka war Jude, der zwar auf Deutsch schrieb, ein Mensch, der ein jüdisches Schicksal erfuhr und sich mit der jüdischen Frage auseinandersetzte [. . .]. Er ist ein wahres jüdisches Genie und als solcher gilt er heute weltweit. Demnach ist es wünschenwert, dass auch der Jischuw diesen großen jüdischen Geist anerkenne und mit der Übersetzung seines Werkes die Lücke zumindest zum Teil fülle […]. Erst der Zionismus hat das Judentum aus den Tiefen der Seele [Kafkas] geholt und [ihm] den Weg zur Teilhabe am jüdischen Leben gewiesen.146

Übersetzt wurden im Jischuw jedoch nicht nur literarisch hochstehende Werke wie diese, sondern auch weniger wertvolle Bücher, die sich jedoch großer Popularität erfreuten. Denkt man die vernichtende Kritik von Romanübersetzungen wie Feuchtwangers Die Geschwister Oppenheimer oder Wassermanns Das Gänsemännchen, ist es fraglich, ob es ein großer Anreiz für jemandem im Jischuw gewesen war, auch Vicki Baum zu übersetzen. Doch kamen ihr der immense internationale Erfolg und ihre jüdische Abstammung zugute. Die Kritiker schwankten zwischen einer Bewertung der Schriftstellerin nach den üblichen Maßstäben – was eine diesem Genre gebührende, eher ätzende Kritik bewirkt hätte – einerseits und einer Anpassung an die rezensorischen Kriterien in Europa und den USA andererseits. So wies die Beurteilung auf die Schwächen hin, fand aber auch hier noch einige Vorzüge: ]…] [U]nd immer gelingen der Autorin persönliche, intime Szenen, was man über die Szenen, die in der Welt des »Business« und der Gesellschaft spielen, nicht sagen kann – offensichtlich die Schwachstelle der Autorin. Doch will es bisweilen scheinen, dass dies dem Werk keinen Abbruch tut, sondern ihm noch eine gewisse Pikanterie verleiht.147

Der gerade zitierte Kritiker A. Pessel hob auch positive Aspekte der Übersetzung hervor, wie die rhythmische Sprache, hielt dem Übersetzer Menachem Salman Wolfovski jedoch vor, dass er des Öfteren die deutschen Sprachmuster beibehalten hatte. Auch Jehuda Burla vertrat die Ansicht, man habe es hier mit mittelmäßiger, doch mitreißender Literatur zu tun.148 Die ambivalente Rezeption von 145

J. Kahan, Das Schloß (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair (25. Oktober 1935), 13 f. F. Weltsch, Franz Kafka (hebr.), in: Gasit 1/7 (September–Oktober 1944), 11. 147 A. Pessel, Grand Hotel von Vicki Baum (hebr.), in: Gasit 11–12 (Dezember 1932), 59. 148 J. Burla, Grand Hotel (hebr.), in: Mosnajim 34 (16. Februar 1933). Dort heißt es: »Keine reife Literatur, und doch etwas sehr Wertvolles, geschöpft aus der Tiefe des menschlichen Lebens, steigt 146

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Grand Hotel beeinflusste offensichtlich auch die relativ jüngeren Leser. Von den 21 in der Umfrage des »Rimon«-Verlages befragten Abiturienten hatten nur acht das in Europa und den Vereinigten Staaten äußerst populäre Buch gelesen. Trotz des Unmuts über die Übersetzung von »mittelmäßiger Literatur«– wie etwa die erwähnten Romane Feuchtwangers und Wassermanns – waren die Leser im Jischuw offensichtlich nicht geneigt, solche Unterhaltungsliteratur völlig von sich zu weisen. Als Maßstab galt ein interessanter, flüssiger Stil wie auch der beträchtliche Verkaufsverfolg des Originals. Das gilt neben Baum auch für andere Werke, die nicht gerade der »hohen« Literatur angehörten, sich jedoch im Original ungewöhnlich gut verkauft hatten. Das herausragendste Beispiel dafür ist Remarques Im Westen nichts Neues, von dem innerhalb eines Monats nach dem Erscheinen in Deutschland im November 1928 bereits 30.000 Exemplare verkauft worden waren.149 Innerhalb weniger Monate wurde in der JischuwPresse bereits darüber berichtet. Der Leiter des Kulturzentrums der »Histadrut« Jakob Sandbank, schrieb in Ha-poel Ha-zair: In dem jüngst erschienenen Buch schildert ein begnadeter Autor den Krieg an der deutsch-französischen Front mit all seinen Schrecknissen aus dem Blickwinkel eines einfachen, anonymen Soldaten, mit den Augen der Tausenden jungen Männer, die direkt von der Schule in den Krieg und an die Front geschickt wurden. Das Buch ist würdig, in alle Sprachen übersetzt und in Millionen Exemplaren verkauft zu werden; ein Buch, das die Kriegs- und Frontgeneration dokumentiert, vor dem noch viele Generationen ihr Haupt in Ehrfurcht neigen werden, um atemlos diesem erschütternden Zeugnis zu lauschen, diesem Anklageschrei der Jugendgeneration.150

Sandbanks Begeisterung deckte sich weitgehend mit der Meinung der deutschen Leser, die sich offensichtlich mit der Aussage des Werks identifizierten. Die Verkaufsziffern waren nach den damaligen Maßstäben überwältigend: Als die oben zitierte Rezension erschien, waren in Deutschland bereits 350.000 Exemplare verkauft worden. Doch nicht nur in Deutschland fanden sich die jungen Leser in den in Remarques Werk geschilderten individuellen und kollektiven Erfahrungen wieder, auch in den anderen europäischen Staaten, die die Kriegserfahrung mitgemacht hatten und eine ganze Generation an Seele und Körper verwundet nach Hause zurückgekehrt war, war dem Werk enormer Erfolg beschieden. Innerhalb von zwei Jahren nach seinem Erscheinen war es in 28 Sprachen übersetzt und weltweit in dreieinhalb Millionen Exemplaren verkauft worden (davon 450.000 Exemplare in Frankreich, 400.000 in Russland, 360.000 in Großbritannien und 325.000 in den USA). Remarque wurde sogar als möglicher Anzu uns aus den Seiten dieses Buches hinauf, ein trauriger Seufzer, ein welkes Rascheln, das Lied des Alterns, das die Kapitel erfüllt.« In ihrer Arbeit zur Übersetzung deutscher Literatur ins Englische in Großbritannien gelangt Ariela Halkin zur Vermutung, die Einschätzung von Grand Hotel beruhe nicht auf der Qualität des Buches selbst, sondern vielmehr auf dem Eindruck, den die Verfilmung hinterließ. Siehe Halkin, The Enemy Reviewed (Anm. 43, 3. Kap.), 509. 149 Die Verkaufsziffern hier und in der Folge aus: Vogt-Praclik, Bestseller in der Weimarer Republik (Anm. 8, 3. Kap.), 49–53. 150 J. Sandbank, Aufschrei einer Generation (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 5. April 1929, 14.

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wärter für den Friedensnobelpreis genannt und das Buch in Hollywood verfilmt.151 In Palästina wurde der Siegeszug des Romans rund um die Welt mit Interesse verfolgt. Er wurde zweimal ins Hebräische übertragen, 1929 von Jakob Horowitz für den »Stybel«-Verlag und 1930 von S. Jemueli für den Verlag »Jakobson & Goldenberg«. Bemerkenswert ist, dass es auch ins Jiddische übersetzt wurde. Von dieser Übersetzung wurden 1931 6.700 Exemplare verkauft. Trotz des Erfolges wies die Kritik darauf hin, dass es sich hier nicht um »hohe« Literatur handle, sondern um eine Art der Alltagsschilderung: Kein großes Buch, kein berühmter Autor, ein abgedroschenes Thema – und doch ein gewaltiger Erfolg, fast eine literarische Sensation. Eine halbe Million Exemplare im Laufe weniger Monate, Übersetzungen in fast alle Sprachen, in manchen davon aus Übereifer gleich zwei Übersetzungen […]. Der Grund für diesen Erfolg liegt nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form. Es spricht in fast natürlicher Art. In einfacher, schmuckloser Sprache erzählt es den langen Weg einer Jugendgeneration, die sich anfangs Illusionen und Träumen hingab und sich schließlich in der bitteren Realität des Kriegsalltags wiederfand. Den Inhalt des Buches kann man in zwei Worten fassen: Traum und Wirklichkeit.152

Das Werk wurde jedoch nicht von allen Lesern in gleicher Weise aufgenommen. Manche fassten es als pazifistischen Appell auf, andere klassifizierten es als »Kriegsroman« im militaristischen Sinn. So suchte David Marani die tieferen Gründe für den ungeheuren Verkaufserfolg des Buches. Sein Versuch, »die Soziologie des guten Geschmacks« zu dechiffrieren, mündete in zwei »Erkenntnisse«: Zum einen entspräche die spezifische Auseinandersetzung mit dem Genre des Kriegsromans der für die Deutschen charakteristischen Tendenz zur Spezialisierung, sodass »eigene Bücher den Marinesoldaten, den Einheiten, die die Schützengräben aushoben, sowie den Sanitätern gewidmet wurden«; zum anderen würden »in Deutschland, wo die militärische Tradition noch sehr stark ist, viele junge Leser aus dem Buch Remarques Begeisterung für den Krieg und die damit verbundenen starken und dominanten Erfahrungen schöpfen«.153 Diese negative Rezeption des Buches als Ausdruck des deutschen Militarismus – und dies schon im Juli 1930 – war offensichtlich nicht repräsentativ. Auch ein Jahrzehnt später, als der Zweite Weltkrieg bereits wütete, meinte man im Jischuw, am Ende des vorigen Krieges hätten beide Seiten gehofft, »dass letztendlich eine neue bessere Welt erstehen wird«154. Der als Fortsetzung von Im Westen nichts Neues konzipierte Roman Der Weg zurück wurde gleich nach sei151 1Über die mögliche Nominierung für den Friedensnobelpreis wurde auch berichtet in: Mosnajim 1/20 (9. August 1929), 16. Über die Verfilmung wurde berichtet in: Mosnajim 1/41 (24. Januar 1930), 15. 152 Kore Stam, Im Westen – nichts Neues (hebr.), in: Bustenai, 17. Juli 1929, 15. Hervorhebung im Original. Zu erwähnen ist noch, dass einer unfundierten Annahme zufolge der wirkliche Name Remarques Krämer gewesen und er jüdischer Abstammung gewesen sein soll. 153 D. Marani (Spiegel), Der Krieg im deutschen Roman (hebr.), in: Achdut (Juli 1930), 113 f. 154 Etwas: Wenn Hitler fiele, in: Mosnajim (November–Dezember 1939), 139.1

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nem Erscheinen in Hebräische übersetzt, obgleich sein kommerzieller Erfolg in Deutschland weitaus geringer gewesen war. Auch diese Übersetzung wurde in Palästina mit Bewegung und Begeisterung aufgenommen. »Das neue Werk ist zutiefst aufwühlend, hallt doch in ihm noch das schreckliche Morden wieder, und über Leben und Frieden schwebt noch das Schicksal (hakilion) der jungen Generation, die – obschon von Siegestrunkenheit und frischem Lebensmut erfüllt – doch den inneren Glauben und geistigen Halt verloren hat.«155 Nicht nur die Kritik, auch die Leser fanden Gefallen an den beiden Werken. Remarque wurde in der Umfrage des »Rimon«-Verlages weitgehend positiv vermerkt. Fast die Hälfte hatte Im Westen nichts Neues gelesen. Von den 21 Unterstufen-Schülern hatten 15 das Buch gelesen, in der Oberstufe acht von 40. Die antimilitaristische Einstellung Remarques, sein Erfolg bei den Lesern im Jischuw und seine Emigration – er ging 1932 in die Schweiz und 1939 in die USA – waren die Gründe für seine anhaltende Popularität im jüdischen Palästina. 1943 empfahl Emanuel Bin-Gurion in Ha-poel Ha-zair, Liebe deinen Nächsten ins Hebräische zu übersetzen, doch blieb der Vorschlag unrealisiert. Hingegen wurde 1947, ein Jahr nach seinem Erscheinen, Arc de Triomphe übersetzt und sogar ein zweites Mal aufgelegt.156 Der nach allen Maßstäben außergewöhnliche Erfolg der Übersetzung Remarques lässt keine direkte Schlussfolgerung in Bezug auf andere Werke zu. Jedenfalls fand die Antikriegsgesinnung Remarques und seine Schilderung des Zusammenbrechens des gesellschaftlichen Gefüges in der Folge des Krieges bei den Lesern im Jischuw Anklang. So wurden in den 30er und 40er Jahren weitere Werke übertragen, die Europa nach dem politischen und demografischen Zusammenbruch der Systeme infolge des Krieges schilderten: eine Realität der Lebensmittelknappheit und Arbeitslosigkeit. Zu diesen populärliterarischen Werken zählen Wahn-Europa 1934 von Hans Gobsch, Mich hungert von Kurt Münzer und Von drei Millionen drei von Leonhard Frank. Als erstes erschien auf Hebräisch das Werk Münzers, dessen Held in Hunger und Elend lebt. Über seinen Aktualitätsbezug hinaus wurde das Werk im Jischuw auch als Schilderung des Klassenkampfes im marxistischen Sinne verstanden – »auf der einen Seite das Proletariat, auf der anderen die herrschende Klasse der Reichen«157–, ein Thema, das nicht nur den Politikern, sondern offensichtlich auch der breiten Öffentlichkeit naheging. Das Buch hatte fast die Hälfte der Oberstufenschüler in der »Rimon«-Umfrage gelesen, sie stuften es indes nicht als beliebte Lektüre ein. Auch das Werk Leonard Franks, das hungernde Arbeitslose auf dem Weg aus dem von der Wirtschaftskrise heimgesuchten Deutschland nach Argentinien schildert, wurde im Jischuw mit Anerkennung aufgenommen. Ein Teil der Kritik stufte das Werk als »wahre« Literatur ein:

155 Shmueli, Die Heimkehrer von den Schlachtfeldern (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 13. März 1931, 12.1 156 E. Bin-Gurion, Trümmer eines Schiffswracks (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 4. November 1943, 7. 157 Shmueli, Ich bin hungrig (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 9. Januar 1931, 11.

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»Leonard Frank ist vor allem ein feinfühliger Schriftsteller künstlerischer Prägung. Die Aktualität dient lediglich als Hintergrund, ohne den lyrisch-deskriptiven Elementen Abbruch zu tun.«158 Andere jedoch fanden seine Schilderung allzu zurückhaltend, wodurch »die Handlung schwerfällig und ermüdend wird, scheinbar eindimensional. Zugleich vermögen eben diese Schwerfälligkeit und Eindimensionalität dem Werk das Gewicht echter Bewegung zu verleihen, weil gerade so Leid und Hunger verdichtet dargestellt werden.«159 Das Werk Gobschs, das futuristische Bild eines durch einen neuerlichen Weltkrieg aus allen Fugen geratenen, zerstörten Europas, erweckte die – sich später als realistisch erweisende – Angst, es handele sich um eine prophetische Vision: Mit rasender Geschwindigkeit, in einer tiefgründigen Durchleuchtung der Beziehungen zwischen den Völkern in der heutigen Zeit, entfaltet sich vor uns, Seite um Seite, die grausame Realität der auf den Abgrund, die Zerstörung, den Churban zusteuernden europäischen Politik. […] Alle Einzelelemente des Buches verquicken sich zu einem großen, vollständigen Bild, einer unabwendbaren Realität, und das Prosawerk, scheinbar nur eine Chronik, wird zu einer Art Vision, einem Prophetenwort, einer schrecklichen Warnung an diese und auch künftige Generationen.160

Die Angst vor dem nächsten Krieg, vor dem wachsenden Antisemitismus in Europa und der Möglichkeit, dass der nächste Völkerkonflikt sich gegen ethnische Minderheiten wenden würde, kam auch in Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh zum Ausdruck. Dieses ebenfalls der Weltliteratur angehörende Werk des jüdischen Schriftstellers wurde 1934, ein Jahr nach seinem Erscheinen in Deutschland, ins Hebräische übersetzt. Es schildert den – auf historischen Quellen beruhenden – Kampf der Armenier am Musa Dagh und erhellte die im Westen so gut wie unbekannte dunkle Geschichte einer grausamen Unterdrükkung. In jüdischen Kreisen wurde die Geschichte der Armenier als die von Brüdern in Not erkannt, wie es Raphael Seligmann ausdrückte: »Das Schicksal dieses armenischen Volksstammes erinnert in wichtigen Einzelheiten an das Schicksal des Volkes Israel, und der jüdische Leser wird hier verschiedene, ihm aus dem Leben und der Überlieferung seines Volkes so bekannte Motive antreffen.«161 Auch den in der »Rimon«-Umfrage erfassten Schülern gefiel das Buch. In der Unterstufe hatten neun von 40 Beteiligten das Werk gelesen, in der Oberstufe 16 von insgesamt 21. Man kann davon ausgehen, dass die Jugendlichen über Werfel und sein Werk nicht viel wussten. Bis zum Erscheinen des Musa Dagh wurden nur einzelne sei158

Hagai, Zwei Bücher (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 22. Juli 1932, 14. S. H., Bemerkungen und Notizen: Millionen (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 19. August 1932, 12. Dieser Artikel erschien als Gegenwicht zum vorigen in derselben Zeitschrift. Dieses Buch hatten von den 21 Oberstufenschülern der »Rimon«- Umfrage neun gelesen. 160 Shmueli, Buchbesprechungen: Wahn-Europa 1934 (hebr.), in: Mosnajim 19 (1. Oktober 1931). 161 R. Seligmann, Die vierzig Tage des Musa Dagh (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 3. August 1934, 14. 159

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ner Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht, und hier und da wurden seine in Deutschland publizierten Werke rezensiert. Zu dem nie ins Hebräische übersetzten Buch Barbara oder die Frömmigkeit bemerkte Max Brod, Werfel schreibe »ähnlich wie Knut Hamsun, der, trotz aller Beschäftigung mit komplexen zwischenmenschlichen Beziehungen, (in seinem Spätwerk) dazu aufruft, die Welt mittels ursprünglicher Einfachheit und Rückkehr zu naturverbundener Arbeit zu retten«.162 Hingegen äußerte sich David Marani kritisch über das ebenfalls unübersetzt gebliebene Drama Werfels Das Reich Gottes in Böhmen. Nachdem er Werfels Erfolg als lyrischer Dichter hervorgehoben hatte, stellte er fest, dass »seine zahlreichen Versuche auf dem Gebiet des Dramas noch keine Werke hervorgebracht haben, die an seine Lyrik herankommen«163. Trotz dieser kühlen Kritik scheint es, dass Werfel bei der Leserschaft des Jischuw gut ankam. Musa Dagh wurde 1947 zum zweiten Mal aufgelegt, und im Laufe der Jahre erschienen noch zwei weitere Romane sowie ein Drama Werfels.

Auf dem Prüfstand der Zeit: Historisches Bewusstsein und künstlerische Rezeption Ein literarischer Bereich, der die Kritiker – und offensichtlich auch einen Teil des allgemeinen hebräischsprachigen Publikums im Jischuw – faszinierte, war jenes Theater, das sich mit Minoritäten und insbesondere den Juden befasste, und dabei handelte es sich vor allem um Übersetzungen aus dem Deutschen. In der Regel beruhten diese Dramen auf Gestalten der jüdischen Geschichte, darunter biblischen Figuren wie Uria, Jeremias und die Tochter des Jephtha, umstrittenen Persönlichkeiten wie David Reubeni sowie tragischen Figuren wie Uriel Acosta und den Hofjuden Süß. Daneben wurden auch Dramen übertragen, die sich mit tatsächlichen oder zumindest wirklichkeitsnahen Geschehnissen auseinandersetzten, unter anderem ein Drama über Marranen, eines über den Rassismus im zeitgenössischen Deutschland sowie die Geschichte einer jüdischen Familie in Deutschland. Diese Werke fanden bei der Kritik große Beachtung, doch ihr Erfolg beim Publikum war von Fall zu Fall verschieden: Wie es die im folgenden angeführten Kartenverkaufsstatistiken des »Habima«-Theaters bezeugen, fiel ein Großteil der deutschen Stücke, die sich nicht mit Minoritäten befassen, beim Theaterpublikum im jüdischen Palästina durch.164 Das anerkannteste Romanwerk Lion Feuchtwangers, Jud Süß, »mit dem der Autor mit einem Schlag ein berühmter Romanschriftsteller wurde, der Jakob Wassermann den Rang abzulaufen drohte, ja sogar für Thomas Mann und andere große deutsche Erzähler Konkurrenz darstellte«, wie es in einer Rezension 162

M. Brod, Franz Werfels neuer Roman (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 29. November 1929, 14. D. Marani, Das Reich Gottes in Böhmen. Zum deutschen Original (hebr.), in: Ha-poel Hazair, 2. Januar 1931, 10. 164 Zit. nach Levy, Geschichte der »Habima« (Anm. 49, 3. Kap.), Anhang 2, ohne Seitenangaben. 163

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in der Zeitschrift Mosnajim hieß, wurde 1933 von Mordechai Avi-Shaul dramatisiert. Bereits die Übersetzung des Romans durch denselben Übersetzer war 1929 auf heftige Kritik gestoßen; derselbe anonyme Rezensent warf ihm vor, es sei ihm nicht gelungen, »sich das stilistische Tempo Feuchtwangers zu eigen zu machen. […] In einem Satz finden sich quasi archaische Wendungen neben moderner Ausdrucksweise, die sich zu keinem Ganzen fügen, woraus eine dem Original fremde Verschwommenheit entsteht.«165 Nach der Premiere des Stückes im Jahre 1933 schrieb Avi-Shaul in der Theaterzeitschrift Bama, der Erfolg des Stückes sei nicht allein technisch-stilistischen Elementen zu verdanken, sondern vielmehr der kunstvollen Evozierung der historischen Atmosphäre.166 Über die Frage der übersetzerischen Qualität hinaus widmete sich ein Großteil der Besprechungen den inhaltlichen Aspekten des Dramas, das besser rezipiert wurde als der Roman, nicht zuletzt angesichts der damaligen Ereignisse in Deutschland, wo die Nationalsozialisten bereits an der Regierung waren: »Die entsetzliche Tragik des Ewigen Juden unter den Gojim im Verlauf der Jahrhunderte und der Generationen, ganz unabhängig von Zeit und Ort, offenbart sich hier in all ihrer Abgründigkeit.«167 Die Inszenierung des 88-mal aufgeführten Stückes auf zwei die beiden entgegengesetzten Welten symbolisierenden Drehbühnen, zwischen denen Süß hin- und hergerissen wird, bildete einen weiteren Anziehungspunkt. A.S. Juris zählt alle Vorzüge der Produktion auf, wobei er eventuelle Einwände angesichts der Problematik der Bearbeitung für die Bühne von vornherein ausräumt: Beurteilen wir das Drama Jud Süß nicht nach seiner Entfernung vom Romanoriginal. Fest steht, dass eine Dramafassung an die Höhe und Weite der epischen Landschaft nicht herankommen kann […]. Zuweilen schlägt die technische Innovation [die Drehbühne] das Auge derartig in seinen Bann, daß das Ohr dem Gesprächs- und Gedankenfluß nicht mit gebührender Schnelligkeit folgen kann. […] Hier haben wir es erstmals mit einem Drama zu tun, daß das Ringen zwischen zwei Welten, der jüdischen und nichtjüdischen, widerspiegelt.168 165 Buchbesprechung: Jud Süß (hebr.), in: Mosnajim 17 (12. Juli 1929), 13 f. Über die Popularität dieses Romans liegen nur spärliche Informationen vor. In der mehr als ein Jahrzehnt später durchgeführten »Rimon«-Umfrage gab nur einer der 21 Oberstufen-Schüler an, das Buch gelesen zu haben. 166 M. Avi-Shaul, Die Gestalt des Jud Süß (hebr.), in: Bama 1/1 (Mai 1933), 17. Ein Teil der Kritiken der Aufführung befindet sich in den IDDK, 5.2.8. Zur Rezeption des Dramas siehe auch Sheffi, Jews, Germans and the Representation of Jud Süß (Anm. 2, Prolog). 167 S. Aviheda, Jud Süß (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 4. August 1933, 14. Derselben Frage wurde auch in der Besprechung in Davar eine zentrale Rolle eingeräumt: »Der Jude, der in der Kultur der Nichtjuden heimisch tut und die Nichtjuden, die in der Seele des Juden bohren – diese Frage ist in unserem heutigen Leben unter den Nichtjuden alltäglich. Sie stellt sich nolens volens mit erneuter Macht und Grausamkeit. Sie ist nicht auf die Grenzen dieses oder jenes Staates beschränkt, wie auch die Diasporagemeinden nicht auf einen Ort beschränkt sind, denn es gibt sie überall. Unter den Nichtjuden, mit den Nichtjuden.« Yatziv, Jud Süß (hebr.), in: Davar, 11. August 1933. 168 A.S. Juris, »Jud Süß« in der »Habima« (hebr.), in: Bama 1/2 (Oktober–November 1933), 32– 35. Das Bühnenbild erweckte auch das Interesse des Kritikers der Zeitschrift Kolnoa: »Das Stück wird dem Publikum gefallen. Es ist aktuell und spricht, wie der Roman auch, das Herz an. Die Aufführung ist sauber gemacht, das Bühnenbild schön, und es gibt zwei Drehbühnen.« Zur Aufführung von »Jud Süß« (hebr.), in: Kolnoa, 18. August 1933.

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Das Schwanken zwischen zwei verschiedenen Welten beschäftige die Menschen im Jischuw auch weiterhin. Ein Jahr nach Jud Süß wich mit Professor Mannheim das »Habima«-Theater von seinem üblichen Repertoire ab. Hinter dem Pseudonym des Autors, Hans Scheier, verbarg sich Friedrich Wolf, ein jüdischer Dramatiker kommunistischer Gesinnung; unter dem Titel Professor Mamlock wurde das Stück gleichzeitig in Europa und den USA aufgeführt wie auch verfilmt. Das ursprüngliche Drama hatte den Niedergang des deutschen Liberalismus, den sinkenden Stern Hindenburgs und den Aufstieg Hitlers als Idol des deutschen Volkes zum Gegenstand. Die »Habima«-Inszenierung hob vor allem heraus, wie sich diese Entwicklung im Leben eines Arztes niederschlägt, der vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus in Deutschland nach und nach Bekannte und Patienten verliert.169 In der Zeitschrift Kolnoa drückt ein anonymer Kritiker die Einstellung des Publikums zur Aufführung prägnant aus: »Das Stück gehört zu jenen Visionen, deren Erfolg a priori gesichert ist. Wie kann der Zuschauer heutzutage gegenüber einem Thema wie dem Hitlerismus und der Tragödie der deutschen Juden gleichgültig bleiben? Noch bevor sich der Vorhang hebt, ist der Zuschauer schon davon eingenommen.«170 In der Tat ist anzunehmen, dass das Publikum, das zu den 68 Aufführungen dieser Inszenierung kam, so empfand. Im Jahre 1934 war die hebräische Presse bereits voll von Artikeln, die die Ereignisse in Deutschland in düsteren Farben darstellten, ohne dass man die weiteren Entwicklungen hätte erahnen können. Die pessimistische Stimmung lässt sich unter anderem aus einer Besprechung in Ha-poel Ha-zair ablesen: Während noch der Stoff, der Basis und Hintergrund für dieses dramatische Werk bildet, eine Art Protokoll, eine Aneinanderreihung von beängstigenden Reportagen, die wir in der Zeitung gelesen haben, oder Berichten, die wir von Menschen gehört haben, die heute unter uns weilen und solches an eigenem Leib erfahren haben; während noch diese Dinge vor sich gehen, im Einklang mit der Mentalität und Gesinnung unserer Zeit, die von großer Verwirrung und satanisch-düsteren Kräften erfasst ist, die, Verstand und Trieb beherrschend, Menschenunwürdiges begehen – war es vom »Habima«-Theater sehr kühn, dieses Stück auf die Bühne zu bringen. Das Ergebnis aber ist ein voller Erfolg. Die »Habima« hat sich an dieses glühende Eisen gewagt, ohne sich zu verbrennen.171

169 Aus den Gesprächen des »Habima«-Jugendkreises, Über die Aufführung »Professor Mannheim« (Auszüge der Rede von Margot Klausner) (hebr.), in: Bama 1/5–6 (Dezember 1934), 56–58. Ein Teil der Kritiken über die Aufführung befindet sich in: IDDK, 17.2.2. Zur Rezeption des Stückes siehe Sheffi, »And Suddenly the Wheel of History Changed« (Anm. 2, Prolog). 170 »Professor Mannheim« in der »Habima« (hebr.), in: Kolnoa, 27. September 1934. Auch in einer anderen Besprechung wurden die aktuellen Geschehnisse hervorgehoben: »Und in diese Stille brach der große Hitler-Sturm ein. Der bedeutende Arzt Mannheim wird in Schimpf und Schande entlassen, mit ›Jude‹-Rufen beschimpft, seine Tochter trägt am Rücken einen gelben Stern. Sein Ideal eines republikanischen Deutschlands der Gerechtigkeit und Demokratie, ist zerstört.« [GimmelResch Mem-Nun], Professor Mannheim, Probeneindrücke (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 11. Oktober 1934, 12 f. 171 Shmueli, »Professor Mannheim« (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 24. August 1934, 13. Hervorhebung im Orignal.

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Den Kernpunkt der Rezensionen bildete zumeist eher die Botschaft des Dramas als seine Inszenierung. Insgesamt wurde die Aufführung begeistert aufgenommen, wenn auch die Würdigung der theatralischen Leistung in der Regel nur kurz, nach einer ausführlichen Stellungnahme zu der über den Juden schwebenden Katastrophe, zum Ausdruck kam.172 Solche Ansichten waren für viele Menschen im Jischuw charakteristisch, ob sie nun aus Deutschland kamen – und sich damit der Geschehnisse bewusster waren oder wähnten – oder nicht, oder sich allgemein über die Entwicklungen in Deutschland erregten. Anfang der 30er Jahre wurden im Jischuw seitens der deutschen Immigranten Warnungen vor den Gefahren des Nazismus laut, wenn sich diese auch im Nachhinein als zu mäßig entpuppten. Arthur Ruppin vermerkte im Jahre 1931 nach seiner Rückkehr aus Europa in seinem Tagebuch: »Es scheint mir, daß viele Juden in Deutschland noch nicht die volle Tragweite dessen begreifen, was ihnen widerfährt.«173 Auch Gerda Luft, damals PalästinaKorrespondentin der Jüdischen Rundschau, räumte Jahre später ein: »Obwohl ich für das bedeutendste jüdische Blatt in Deutschland schrieb, verstand ich nicht, was vor sich ging. Daher beschloß Robert Weltsch im Sommer 1934, daß die Zeit für mich gekommen sei, der Situation in die Augen zu sehen, und versetzte mich für einen Monat in die Redaktion in Berlin.«174 In Bezug auf das Kulturleben Deutschlands wusste man im Jischuw recht gut Bescheid. So berichtete etwa der Kritiker Menashe Rabinovich (Rabina) im Herbst 1932 über die Nazifierung der Wagner-Hochburg Bayreuth und die Einflussnahme der NSDAP-Spitze auf die Leitung der Festspiele: »Hakenkreuzabzeichen prunken auf der Kleidung vieler Gäste. Bayreuth, dieses abgelegene Kleinod einer Stadt, die nur dank der Musik Ruhm und Namen erlangt hat, droht diese durch ihre Vereinnahmung für nichtmusikalische Zwecke zu gefährden.«175 Die Identifizierung Bayreuths mit dem NS-Regime sollte in Israel viele Jahrzehnte andauern. Vorläufig jedoch galt trotz dieser Warnung Wagner im Jischuw weiterhin als herausragender Repräsentant der deutschen Kultur. Zweieinhalb Monate vor der »Reichskristallnacht«, in deren Folge die Boykottierung der Musik Wagners in Palästina bzw. Israel einsetzte, erklärte ein Publizist: »Meine Generation hat das an Genien reiche Deutschland geliebt, vor, während und trotz des Krieges geliebt und geachtet […]. Nietzsche und Wagner sind die letzten Vertreter des glorreichen Deutschlands.«176 Der Angst vor dem Nationalsozialismus beförderte auch verbale und physische Gewalt. Einer der Mitbegründer der »Brit Ha-birjonim«, einer Untergruppe der revisionistischen Bewegung, Jakob Orenstein, berichtet:

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A.S. Juris, »Professor Mannheim« (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 11. Oktober 1934, 12 f.1 A. Ruppin, S/S Polonia in der Nähe Palästinas [11. April 1931], in: ders. Aus meinen Leben (Anm. 109, 1.Kap.), 298. 174 Luft, Achtzig Jahre (Anm. 29, 1. Kap.), 104. 175 M. Rabinovich, Festtage der Musik in Bayreuth (hebr.), in: Mosnajim 19 (20. Oktober 1932), 12. 176 Kulmus [Schreibfeder], Die Juden und die deutsche Kultur (hebr.), in: Turim, 31. August 1938. Hervorhebung im Original. 173

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In dem Jahr, in dem Hitler in Deutschland an die Macht kam, beschlossen wir, die Einstellung zu Deutschland zu nützen, um unsere Tätigkeit in Gang zu bringen. Zunächst wollten wir uns nicht damit abfinden, daß die Hakenkreuzfahne vor aller Augen in Erez Israel auf den Masten wehen konnte. Auch den Verkauf deutscher Waren in den Geschäften wollten wir nicht akzeptieren. Innerhalb einer Woche entfernten wir trotz der strengen Bewachung der britischen Polizei die Hakenkreuzfahne vom deutschen Konsulat in Jaffa und Jerusalem. Wir schlugen Schaufenster ein, in denen deutsche Waren ausgestellt waren, und obgleich die Händler selbst nicht wenig zürnten, erregten die Aktionen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.177

Verbale Attacken richteten sich auch gegen die Deutschen als Kollektiv. 1932 erschien »Deutschland, Deutschland über alles?« aus der Feder des ansonsten unbekannten Chaim Shalmoni, der das »wahre« Gesicht der Deutschen entlarven wollte. Der echte Deutsche war Shalmoni zufolge eine minderwertige Kreatur, »hat keine eigene Weltanschauung, es fehlt ihm an Kreativität und Erfindergeist; er ist körperlich und geistig schwerfällig, bar jeder geistigen Flexibilität und jedweden Elans«. Der mangelnde Erfindergeist der Deutschen äußere sich unter anderem schon darin, dass »die Rassenlehre, die das Kernstück der Neoromantik und der Basis des Antisemitismus ist, nicht von Deutschen formuliert wurde, sondern vom Franzosen Gobineau und dem Engländer Chamberlain.«178 Extreme Äußerungen enthielt auch ein im Jahre 1941, offensichtlich kurz nach Erscheinen des Originals, ins Hebräische übersetzte Buch von Konrad Heiden, Ein Mann provoziert Europa, in dem die Persönlichkeit Hitlers analysiert wird. Neben der sachlichen Erklärung der Umstände, die das Umsichgreifen der NS-Ideologie gefördert hätten – wie die galoppierende Inflation und die allgemeine wirtschaftliche Instabilität in Europa –, wird Hitler als lächerliche Figur dargestellt. So etwa schildert das Kapitel »Der Versager« Hitlers mittelmäßige zeichnerische Begabung, insbesondere für Perspektive, Licht und Schatten: »All das bleibt ohne individuellen Ausdruck, und die schreienden Farben bilden eine grässliche Disharmonie.« Hitler wird von Heiden als oberflächlicher Mensch dargestellt und verurteilt. Seine kritische Schilderung machte offensichtlich jeden weiteren Kommentar seitens der Rezensenten überflüssig. Überhaupt fand die Auseinandersetzung mit dem Nazismus im Kulturleben des jüdischen Palästinas auch in der Sachbuchsparte ihren Ausdruck. Das beste Beispiel hierfür ist die Geschichte der Publikation von Rauschnings Gesprächen mit Hitler, und hier insbesondere das Bestreben, wie bereits erwähnt, es rasch und ungekürzt dem hebräischen Leser vorzulegen. Das 1941 auf Hebräisch er-

177 J. Orenstein, In Ketten: Aus den Erinnerungen eines Kämpfers, Tel Aviv 1973 (hebr.), 61. Im Jahre 1944 wurde im »Habima«-Theater das Drama Nicht sterben werde ich, sondern leben des jüdisch-sowjetischen Autors David Bergelson aufgeführt, das sich mit den Problemen eines jüdischen Flüchtlings aus Deutschland zur Zeit der deutschen Invasion Sowjetrusslands auseinandersetzt. Auf der Bühne war ein großes Hakenkreuz zu sehen; stereotyp wurden die Nazis als hochgewachsen und die Juden als kleinwüchsig dargestellt. Beides rief beim Publikum zornige Reaktionen hervor. Vgl. Levy, Geschichte der »Habima« (Anm. 49, 3.Kap.), 151. 178 Ch. Shalmoni, Deutschland, Deutschland über alles (hebr.), o. O. 1932, 5,11.

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schienene Werk erregte anfangs deswegen Interesse, weil hier scheinbar Gespräche von der NSDAP Abtrünnigen wiedergegeben wurde, in dem Hitler als gefährliche Führungspersönlichkeit skizziert wurde: »Fühlte Hitler nicht, daß dieser sein Jünger zu jenen Zweiflern und Zauderern gehörte, die ihn eines Tages verraten und aus einem moralischen Zwang heraus das Gespräch veröffentlichen würden?«, fragte Rabbi Benjamin verwundert. Er wies auch auf die nicht auf den ersten Blick ersichtlichen, da unterschwellig wirkenden literarischen Qualitäten des Werkes hin. »Jedes Kapitel steht für sich, doch verbinden sie wechselseitige Bezüge. Der Autor legt nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Erzählform Wert. Jedes Wort und jeder Begriff werden genau geprüft und gewogen.«179 Indes entfachten diese persönlichen Gespräche, die in und außerhalb Deutschlands Aufsehen erregt hatten, im Jischuw unverzüglich nach dem Erscheinen der Übersetzung eine Kontroverse. Der Chefredakteur von Ha-poel Ha-zair, Jizchak Lufban, stellte mit fundierten Argumenten die Notwendigkeit der hebräischen Übersetzung schlechthin infrage: Wer von den beiden wird beim Massenpublikum die Oberhand behalten, bei der Jugend, den Halbintelligenten, die in unserer zusammengewürfelten Herde den am weitest verbreiteten Typus darstellen, bei denen, die geistig »von der Hand in den Mund« leben und dazu neigen, sich immer vom brillanten, von revolutionärem Schwung und Phantasie beflügelten letzten Wort beeindrucken zu lassen? Ich denke dabei natürlich nicht an einen direkten Einfluß. Es besteht auch nicht der leiseste Verdacht, daß jemand aus dem jüdischen Lager sich plötzlich zu einem Bewunderer und Anhänger Hitlers verwandelt könnte […]. Worin lag also der Sinn, die Worte dieses Weltpiraten ins Hebräische zu übersetzen, es gerade unter uns Juden zu einem Populärwerk zu machen, in Tausenden Exemplaren zu vertreiben und diese Politikpornographie unserer Jugend als geistige Nahrung anzubieten? […] Und während es politischen Sinn machte, dieses Buch ins Englische und Französische zu übersetzen, um die politischen und intellektuellen Kreise in England, Amerika und Frankreich vor den hinterlistigen Plänen Hitlers zu warnen – wozu wurde es ins Hebräische übersetzt?180

Lufbans Worte verhallten nicht ungehört. Es folgte eine rasche Reaktion seitens des Übersetzers Baruch Krupnik (Karu), der die Herausgabe des Buches durch das »Mossad Bialik« im Namen der freien Meinungsäußerung und -verbreitung verteidigte: Der Gedanke, daß insbesondere auf Buchübersetzungen moralische Zensur auszuüben sei, ist a priori abzulehnen. Es wäre geradezu mittelalterlich, wollte man für jedes Buch eine Genehmigung vorschreiben. In gewissem Sinne ist heute auch eine Zustimmung erforderlich, was bedauerlich und sicherlich nicht noch auszuweiten ist. Bücher und Meinungen haben nicht bevormundet zu werden […]. Das Mossad Bialik hat also gut daran getan, ein aktuelles Buch zu übersetzen, das in aller Munde ist. Gerade die hebräischspra179 Rabbi Benjamin, Etwas: Bemerkungen zu Gesprächen mit Hitler (hebr.), in: Mosnajim 11/3–4 (Juli–August 1940), 323. 180 Jizchak Lufban, Zu einem Buch (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 22. Januar 1941, 2. Hervorhebung im Original.

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chige Literatur – Original wie Übersetzung – darf nicht von gestern oder von vorgestern sein und sich vor der Wirklichkeit scheuen. Man muß für eine gute Antwort gut bestückt sein – auch auf Hebräisch.181

Es ist anzunehmen, dass die Diskussion um die Übersetzung die Meinungen der Leser widerspiegelte, mit Ausnahme vielleicht jener »Halbintelligenten«, die wohl von der Existenz des Buches, Original oder Übersetzung, nichts wussten. Möglicherweise hatte die Kontroverse zur Folge, dass ganze Gruppen von Lesern aus der prinzipiellen Ablehnung der Übersetzung heraus gar nicht zu dem Buch griffen. Jedoch scheinen die Befürworter der Übersetzung die Oberhand behalten zu haben, da ein Jahr später ein schmaler Band Rauschnings unter dem Titel Hitlers Streben nach der Weltherrschaft herauskam, in dem der Autor seine Einschätzung von Hitlers Chancen, als Diktator zu überleben, abgab. Vorderhand wirkte sich das Hitler-Regime auf die Rezeption verschiedener Werke aus. Dies gilt nicht nur für jene, die sich mit Hitlers Person beschäftigten, sondern auch sich direkt auf die NS-Herrschaft beziehende Dramen wie Professor Mannheim. Auch Werke, die sich auf frühere Perioden der jüdischen Geschichte bezogen, wurden nun mit Blick auf den Nationalsozialismus verstanden, wie etwa Die Marranen von Max Zweig. Das Drama wurde 1938, gleichzeitig mit seiner Veröffentlichung in deutscher Sprache, vom »Habima«-Ensemble aufgeführt. Das Stück, das mit 81 Vorstellungen eines der am häufigsten gebrachten deutschen Dramen war, wurde ein »Kassenschlager«, wie aus einer Kurzmeldung der Zeitung Davar zu entnehmen war: »3 .958 Zuschauer sahen Die Marranen in drei Vorstellungen des ›Habima‹-Ensembles im ›Armon‹Theater […]. Stück und Schauspieler wurden mit außerordentlicher Begeisterung aufgenommen. Viele konnten keine Karten mehr ergattern, und die Habima wurde gedrängt, ein zweites Mal in Haifa zu gastieren.«182 In seiner ersten Saison, 1938/39, wurde es 51-mal aufgeführt, davon 27-mal in Tel Aviv und 24mal in anderen Städten, wobei es insgesamt 35.044 Zuschauer sahen. Im gleichen Jahr wanderte auch der Autor nach Palästina ein. In der folgenden Saison gab es lediglich vier Vorstellungen mit insgesamt 1.156 Zuschauern, während sich die restlichen Aufführungen auf die weiteren Jahre bis zur Staatsgründung verteilten.183 Immerhin sahen etwa zehn Prozent der damaligen jüdischen Be181 Baruch Krupnik, Reaktionen: Rauschning auf Hebräisch – gestattet oder verboten? (hebr.), in: Ha-schaah, 30. Januar 1941. Derselben Meinung war Berl Katzelnelson, dessen Einstellung aus seiner Weigerung zu ersehen ist, sich an die Spitze der Intellektuellengruppe »Al-Domi« zu stellen, die den Judenmord in Europa stärker zu Bewusstsein bringen wollte. Er brachte jedoch Bücher zu dem Thema heraus. Vgl. D. Porat, Al-Domi – Intellektuelle in Erez-Israel angesichts der Schoah, 1943–1945 (hebr.), in: Hazionut 8 (1983), 265. 182 Theater und Musik (hebr.), in: Davar, 23. Januar 1939. Zur Rezeption des Dramas siehe Sheffi, The Jewish Expulsion from Spain (Anm. 2, Prolog). 183 Die Zuschauerstatistiken der ersten Jahre entstammen Habima, Wechselseitige Gen.m.b.H., Laufendes und neues Repertoire der Saison ’38/39; sowie Habima-Theater, Einnahmen und Ausgaben der Saison 1939/40, CZA, S83/1813. Zu den Vorstellungen insgesamt vgl. Kochanski, Das hebräische Theater (Anm. 111, 1. Kap.), Anhang 2. Erwähnenswert ist der Umstand, dass der Repertoireausschuss der »Habima« 1947 erwog, Die Marranen wieder auf die Bühne zu bringen, doch wur-

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völkerung Palästinas die 450 Jahre alte Geschichte der spanischen Marranen, die sie auch im Kontext der Zeitgeschehnisse verstehen konnten. Diese Verknüpfung war nicht neu. Schon bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 wurden Analogien zwischen historischen Ereignissen, die das jüdische Volk heimgesucht hatten, und dem, was in Deutschland noch bevorzustehen drohte, angestellt: Auch die Vertreibung aus Spanien war seinerzeit kein plötzliches Ereignis, eine Flutwelle, ein Blitz aus heiterem Himmel, der nicht vorauszusehen und nicht ungeschehen zu machen ist; sogar die Pogrome in der Ukraine zur Zeit Chmelnitzkis wie auch Petljurias brachen nur über die Juden als Katastrophe [schoah] herein und waren für die Gepeinigten kein schreckliches Rätsel.184

1935, als die Tragweite der von den Nationalsozialisten in die Wege geleiteten Maßnahmen deutlicher wurde, hieß es: »Dies ist eine Enteignung jüdischen Eigentums, wie es sie nur in den finsteren Zeiten der Vertreibung aus Spanien und Portugal gegeben hat.«185 Die Besprechungen der Marranen gingen meist explizit auf den Zusammenhang zwischen der Vertreibung aus Spanien und den aktuellen Ereignissen in Nazideutschland ein. Sie unterschieden sich namentlich in dem Grade, in dem diese Verknüpfung angestellt wurde bzw. diese der Absicht des Dramatikers selbst zugeschrieben wurde. Am moderatesten war der Kritiker Abraham Samuel Juris, demzufolge »es naheliegend [ist], den Vergleich zwischen den spanischen und den deutschen Juden zu ziehen. Hier wie dort war es ein ›Goldenes Zeitalter‹, hier wie dort brach die Katastrophe unvermittelt ein, und man wurde sich bewusst, dass die Assimilierung nur eine Illusion in den Augen der Juden und der Nichtjuden ist.«186 Jedoch zwei Wochen nach Erscheinen des ersten Artikels setzte er seinen Lesern auseinander, dass Max Zweig sehr wohl – mit Erfolg – bemüht gewesen sei, den Handlungsverlauf in der Vergangenheit zu belassen und keine historische Analogie herzustellen, »und obschon hier das Blut der derzeitigen Pogrome gegen die Juden Deutschlands hervorbricht, bleibt alles, die Personen und ihre Handlungen, der Stil und die Atmosphäre insgesamt, im Rahmen ihrer Epoche«.187 In einer Besprechung in der Zeitung Ha-olam zum Beispiel wurde betont, dass die derzeitige Realität der Tragödie der Marranen größere Wirkung verleihe.188 Die Zeitschrift Bama führte die Parallele zwischen den Geschehnissen einst und jetzt noch eindringlicher vor Augen: »Die Juden

de der Vorschlag in der Abstimmung. Siehe: Generalversammlung des ›Habima‹ Theaters, 7. November 1947, IDDK, ›Habima‹. 184 [Jod-Shin], Trauer Deutschlands (hebr.), in: Mosnajim 41–42 (7. April 1933), 2. 185 Melaket [Sammler], Zum Schicksal der deutschen Juden: Presserundblick (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 15. November 1935, 10. Hervorhebung im Original. 186 A.S. Juris, Marranen (hebr.), in: Davar, 4. Januar 1939. Ein Teil der Rezensionen befindet sich im IDDK, 1.5.6. 187 Ders., Die Marranen (hebr.), in: Davar, 16. Januar 1939. 188 M. Ein-Roi, Die Marranen in der Habima (hebr.), in: Ha-olam, 12. Januar 1939.

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wurden 1492 aus Spanien vertrieben, ebenso wie sie 1938 aus Deutschland vertrieben wurden […], Damals standen den Juden drei Häfen offen: Lissabon, Oporto und Setubal. Und heute? Hamburg, Triest, Cherbourg.«189 Über die Analogie der Ereignisse hinaus beschäftigten sich die Kritiker auch mit rein theatralischen Aspekten, wie Emil Feuerstein – »ein gutes Stück, eine hervorragende Übersetzung, gelungene Rollenbesetzung, erstklassige Ausstattung, und über allem herrscht mit viel Talent der Regisseur«190. In einer anderen Rezension wurde die prinzipielle Frage der prekären Situation der Juden über den historischen Vergleich Spanien-Deutschland hinaus auf die allgemeine Frage des Lebens in der Diaspora ausgeweitet. Dabei wurde die Aktualität des historischen Dramas damit erklärt, dass die Lage des jüdischen Volkes sich seit dem Mittelalter nicht geändert habe und es noch immer in der Zerstreuung lebe.191 Dem »Habima«-Theater wurde die Auseinandersetzung mit der nationalen Frage zugute gehalten. Wie wohl auch die Zuschauer sahen die Kritiker in den Marranen ein nationales Drama, so zusammengefasst vom Dramaturg der »Habima«, Max Brod: »Die Marranen von Max Zweig sind ein nationales Drama im besten Sinne der Worte […], Auf dem Wege der ›Habima‹ zu einem nationaluniversalen Theater ist die Aufführung Die Marranen ein bedeutendes Wegzeichen.«192 Auffällig ist, dass die meisten Rezensionen nicht auf Max Zweigs bisherige schriftstellerische Tätigkeit und sein Wirken außerhalb der Theaterwelt eingingen. Vielmehr galt die Begeisterung eher dem Text und seiner Interpretation durch das Publikum als dem Autor. In der Tat wurde Zweig nicht als erstrangiger Dichter betrachtet. Sein 1942 augeführtes Drama Zwei Welten wurde kühl aufgenommen und als Werk »von zweifellos literarischer, jedoch nicht über das Mittelmaß hinausgehender Qualität«193 beschrieben. Im Gegensatz zu dem vor allem auf seinen aktuellen Bezügen beruhenden Erfolg der Marranen war Karl Gutzkows Uriel Acosta, das sich ebenfalls mit der Frage der jüdischen Identität unter dem Druck des umgebenden Nationalismus auseinandersetzte, eine recht kühle Aufnahme beschieden. Das Stück war in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland sehr populär gewesen, wurde aber hundert Jahre später nur noch im hebräischen oder jiddischen Theater gespielt.

189 E. Feuerstein, Über das Drama Die Marranen von Max Zweig, in: Bama 4/1 (Dezember 1948– Januar 1939), 52. 190 Ders., Unser Theater in dieser Saison: Die Marranen (hebr.), in: Gasit 7/5–6 (April–Juli 1939), 54. 191 M. Achi-Yossef, Auf den Bühnen: Die Marranen in der Habima (hebr.), in: Bama‘ale, 13. Januar 1939. 192 M. Brod, Die Marranen in einer Aufführung der Habima (hebr.), in: Bama 4/2 (März–April 1939), 5–10. Die Aufführung selbst wurde auch in anderen Besprechungen hoch gelobt: »Visuell war dies eine der prächtigsten Aufführungen der Habima, dank der Kostüme und des Bühnenbilds des Malers I. Frenkel, dessen Rolle in diesem Theaterfest, neben der vorzüglichen Regieführung, besondere Hervorhebung verdient.« S. Gorelik, Theater: Die Marranen (hebr.), in: Haaretz, 30. Dezember 1938. 193 N. Grünblatt, Theater: Zwei Welten in der Habima (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 29. Januar 1942, 8.

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Vom »Habima«-Ensemble wurde das Drama anlässlich eines Gastspiels in Berlin 1931 uraufgeführt – als die Lage der Juden in Deutschland zwar noch nicht kritisch war, die drohenden Anzeichen des Unheils jedoch bereits fühlbar waren. Dessen ungeachtet widmeten sich die Rezensionen anfangs vornehmlich den rein theatralischen und weniger den inhaltlichen, das Schicksal des jüdischen Volkes betreffenden Aspekten.194 Doch gerade nun, als die Kritik zurückhaltend war, wurde dem Stück ein großer Publikumserfolg zuteil: Es wurde 182-mal aufgeführt, mehr als jedes andere aus dem Deutschen übersetzte Drama, und dies über eine Reihe von Jahren hinweg. In der Saison 1938/39 gab es nur eine Vorstellung vor 380 Zuschauern, im Jahr darauf zwei vor insgesamt 1.137 Zuschauern.195 Erst im Mai 1945, mit dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland, versuchte Max Brod in einer Besprechung in der Zeitschrift Bama den großen Erfolg zu ergründen, den das Drama nicht nur bei jüdischem Publikum und nicht nur im Jischuw gehabt hatte. Seine Auslegung war ganz im Sinne der Zeit: Gutzkow habe zum Kreis des Jungen Deutschlands gehört, das eine Alternative zu Bismarckscher Junkerbarbarei hätte bieten können.196 Die nichtdeutschen Zuschauer konnten demnach in diesem Stück ein anderes, schönes, nicht so grausames wie jenes von Bismarck repräsentiertes Deutschland finden – das im Krieg unterlegene Deutschland. Auch Max Brods eigenes Drama Reubeni, Fürst der Juden, das 1940 im »Habima«-Theater uraufgeführt wurde, wurde aus diesem Blickwinkel heraus rezipiert. »Im Publikum überwiegen sicherlich jene, die die Geschichte des historischen Reubeni kennen, über die, die nur eine vage Ahnung von diesem wundersamen Mann haben, und sicherlich gibt es niemanden, der seinen Namen vorher noch nicht gehört hat.«197 In der ersten Saison fanden 30 Vorstellungen mit über 18.000 Zuschauern statt, und das Stück erntete ungewöhnliche Lobpreisungen: In seinem Roman und seinem Schauspiel hat sich Max Brod der Sage des David Reubeni angenommen und ihr eine neue Auslegung verliehen. Neu und originell […]. Mit Reubeni, Fürst der Juden hat das »Habima«-Theater sein Repertoire um ein wichtiges Theaterstück bereichert. Schon lange hat man in der »Habima« keine so schöne und behutsam inszenierte Vorstellung gesehen wie diese. Regie, Spiel, Ausstattung – alles gereicht der »Habima« zu Ehren. Es will scheinen, daß die Habima nach manchen Irrungen und Wir-

194 I. R., Zu zwei Aufführungen (hebr.), in: Mosnajim 7 (25. Juni 1931), 12; I. R., Bemerkungen und Eindrücke zu Uriel Acosta auf der Bühne des Habima-Theaters (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 27. Februar 1931, 13. Ein Teil der Rezensionen befindet sich im IDDK, 4.3.2. 195 Die Zuschauerzahlen der ersten beiden Saisons sind entnommen: Habima Mutual Association Ltd., Neues und altes Repertoire der Saison 1938/9, wie auch Habima-Theater, Einnahmen und Ausgaben für die Stücke der Saison 1939/40, CZA S83/1813. Der Hinweis auf 182 Aufführungen der Erstinszenierung – ohne Angabe des Zeitraums – ist entnommen: Kochanski, Das hebräische Theater (Anm. 111, 1. Kap.), Anhang 2. 196 M. Brod, Uriel d’Acosta (hebr.), in: Bama 10/2 (Mai 1945), 48. 197 E. Bin-Gurion, Reubeni als historischer und literarischer Held (hebr.), in: Mosnajim 11/5–6 (September–Oktober 1939), 424. Ein Teil der Rezensionen befindet sich im IDDK, 5.5.8.

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rungen, Übersetztem und zweifach Übersetztem auf den rechten Weg gelangt ist. Mit etwas Mühe und Ausfeilung kann Reubeni, Fürst der Juden d a s Glanzstück der »Habima« werden, wie seinerzeit »Der Dibbuk«.198

Der Vergleich mit dem Dibbuk war übertrieben, da das Stück in der darauffolgenden Saison nur sechsmal aufgeführt wurde, einschließlich einer Sondervorstellung für jugendliches Publikum anlässlich des Tel-Chai-Tags – des ersten offiziellen Gedenktags im Jischuw. Er erinnerte an jene Siedler, die in der Verteidigung von Tel Chai in Galiläa gestorben waren, allen voran ihr zu einer mythischen Gestalt hochstilisierte Kommandant Josef Trumpeldor. Die Zeitung Omer brachte dazu eine eingehende Schilderung eines nicht genannten Autors: […] [B]evor sich der Vorhang hob, gedachten die Jugendlichen der Verteidiger von Obergaliläa. Im halbdunklen Saal war das erleuchtete Bild Trumpeldors zu sehen. Ein Knabenquartett spielte eine Trauermelodie von Mendelssohn, eines der Mädchen [sic] las gesetzt das Jiskor [Totengedenkgebet] für B. Katznelson, nachdem das junge Publikum sich erhoben hatte. Malkin würdigte in blumenreicher Sprache den Gedenktag, den 11. Tag des Monats Adar, als eines der Bindeglieder in der Kette der Aufstände auf dem Wege zur Erlösung und Wiedererstehung [des jüdischen Volkes in Palästina] und ging auf einige bekannte Stellen des Dramas ein.199

Das Schauspiel wurde also nicht nur mit der aktuellen Situation der Juden in Deutschland verglichen, sondern auch mit der damaligen Realität Palästinas in Zusammenhang gebracht. Die meisten Jugendlichen kannten das Werk in Romanform; 17 der 21 Oberstufenschüler in der Umfrage des »Rimon«-Verlages hatten angegeben, dass sie das Buch (gerne) gelesen hätten. Die zahlreichen Parallelen, die zwischen der Handlung der verschiedenen Dramen und der Realität gezogen wurden, demonstrieren ihre Bedeutung für die Theaterrezeption, und vielleicht nicht nur für diese. Vermutlich rührte dies auch von einem Bedürfnis her, das die aktuellen Ereignisse selbst hervorriefen. Schließlich lebten die Juden in Palästina unter großem Druck: Zum einem bangten viele um das Schicksal ihrer in Europa zurückgebliebenen Familien, zum anderen stand der Jischuw unter britischer Mandatsherrschaft, von der sich die meisten zu befreien wünschten. Es ist daher naheliegend, dass die gedrängten Ereignisse und die häufigen öffentlichen Debatten über das Schicksal des jüdischen Volkes in Palästina und der Diaspora das Bedürfnis erweckten, nach einer Analogie zwischen einst und jetzt zu suchen. Ungeachtet der Auseinandersetzung mit Inhalten und Aktualitätsbezügen scheuten sich die Kritiker keineswegs, eine ästhetisch mittelmäßige oder gar 198 M. Lifson, Paravents (hebr.), in: Hatzofeh, 14. Mai 1940. Auch die Dichterin Lea Goldberg schloss sich, von einigen Einschränkungen abgesehen, den Lobpreisungen an: »Insgesamt handelt es sich hier um eine bedeutende und sich vom übrigen Repertoire abhebende Aufführung, die ein großes Potential in sich birgt und viel Interesse erweckt.« Lamed-Waw-Gimmel [L. Goldberg], Reubeni, Fürst der Juden in der Habima (hebr.), in: Davar, 2. Juni 1940. 199 Anonym Zuschauer, Hanoar Haowed [Jugendorganisation der Arbeiterpartei] zu Besuch in der Habima (hebr.), in: Omer, 16. März 1941.

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schlechte Aufführung, auch wenn der Autor Jude war oder sich das Stück mit jüdischen Inhalten befasste, zu verreißen. Die uns zur Verfügung stehenden Statistiken zeigen, dass das Publikum solchen Aufführungen fernblieb. Sogar im Fall eines so renommierten und verehrten Dichters wie Stefan Zweig erlaubte sich die Kritik, einiges Negatives einzuflechten. So wurde etwa dem biblischen Schauspiel Jeremias bei seiner Aufführung im »Ohel«-Theater im Jahre 1929 zwar zugute gehalten, dass es sich mit dem Friedensgedanken auseinandersetze (»eine große Geste an den antiken Propheten des Friedens, und darüber hinaus – an die Idee des Friedens in unseren Zeiten«200), doch gab es auch wesentliche Vorbehalte: Viel Pathos, lange Reden und rührselige Predigten verschütten unentwegt den zentralen Gedanken, der zwar wahr und richtig ist (Krieg und Blutvergießen sind immer böse, denn sie sind das Böse schlechthin; Friede und Nächstenliebe sind gut, denn sie sind das Gute schlechthin), jedoch für ein lebendiges Drama nicht reicht; an Neuem und Originellem in Bezug auf Situation, Handlung und Ausdruck ist darin nichts, das es belebt, es von Abgedroschenheit und Konvention befreit und aus dieser überladenen, emotionstriefenden Rhetorik rettet.201

Immerhin schienen Bühnenbild und Kostüme dem Kritiker Schlomo Zemach in Ordnung. Was die Langatmigkeit betrifft, so handelte es sich hier bereits um eine von neun auf fünf Akte geraffte Fassung mit besonderer Genehmigung des Autors, die dieser dem Regisseur Mosche Halevy in einer persönlichen Zusammenkunft erteilt hatte. Jedoch scheinen die Kürzungen nicht ausgereicht zu haben: Auch eine andere Besprechung äußerte sich ähnlich – das Bühnenbild sei interessant, die Auswahl des Werkes jedoch unverständlich.202 Ebenfalls von der Kritik negativ beurteilt wurde das 42-mal aufgeführte biblische Schauspiel Die Tochter des Jephtha von Chawa Buschvitz. Auch dass die in Jerusalem lebende Dichterin den Kritikern persönlich bekannt war, vermochte dies nicht zu mildern. So hieß es bei Emil Feuerstein: »Der Stoff ist nicht oder nur begrenzt dramatisch und bietet keine Spannung. Er ist von epischer Natur, ohne Höhen und Tiefen, ohne ausreichende Handlung. Leider wurden auch die wenigen dramatischen Momente nicht ausreichend genützt.«203 Feuersteins Urteil scheint die allgemeine Beurteilung der Aufführung widerzuspiegeln; jedenfalls beeilte sich Brod, der das Stück ausgewählt und bearbeitet hatte, die Bearbeitung sowie die Übersetzung durch seinen Freund S. Shalom zu verteidigen.204

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A.I. Ehrlich, Kritik: Jeremias von Stefan Zweig (hebr.), in: Mosnajim 21 (9. August 1929), 13. S. Zemach, Jeremias (hebr.), in: Mosnajm 22 (16. August 1929), 9–10. 202 Zur Kürzung des Stückes siehe Halevy, Mein Weg auf der Bühne (Anm. 50, 3. Kap.), 131–135. Eine weitere negative Kritik ist [Ajn-Resch], Jeremias im Ohel-Theater (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 23. August 1929, 15 f. 203 E. Feuerstein, Theater: Habima (hebr.), in: Gasit 5/9–10, 57. 204 M. Brod, Zur Aufführung von Tochter des Jephta (hebr.), in: Bama 7/3 (Juni 1943), 11. Diese Apologie der Theaterproduktion führte zum völligen Verriss. Es wurde bemängelt, durch wieviele Hände das Werk gegangen war: »Der Umstand, dass einige Hände daran gerührt haben, verheißt 201

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Lediglich Schalom Ben-Chorin fand an dem Stück auch etwas Positives: »Mit diesem Theaterstück, das einen Abschnitt der Bibel zum Leben erweckt, kehrt das ›Habima-Theater‹ zu seinen ureigensten Quellen zurück.«205 Ähnlich fiel die Kritik von Der Brief des Uria von Emil Bernhard aus. Dass der Kritiker A.S. Juris das Stück, das nur 23-mal aufgeführt wurde, an dem von Friedrich Hebbel in Herodes und Miriam gesetzten Standard maß, ließ ihm wenig Chancen: »Dem jüdischen Autor geht jene Gestaltungskraft der Figuren ab, die dem großen deutschen Bühnendichter zu eigen ist.« Auch der Vergleich mit Stefan Zweigs Das Lamm der Armen konnte kaum zu Bernhards Gunsten ausfallen.206 Eine andere Besprechung urteilte unerbittlich: »Die Aufführung von Der Brief des Uria beweist eindeutig, dass die Verknüpfung der Bibel und der Moderne künstlich und zum Scheitern verurteilt ist.«207 Daraus ist auf die generell negative Einstellung zu den biblisch inspirierten Schauspielen zu schließen: Während Jeremias mit wenig Begeisterung aufgenommen und Die Tochter des Jephtha sowie Der Brief des Uria geradezu verrissen wurden, ernteten die jüdische Geschichtsdramen ohne Bibelbezug den Beifall von Kritikern und Publikum. Die Abneigung gegen die biblischen Stoffe rührte wohl daher, dass die überlieferten religiösen Schriften kaum in die neue »Religion« des Zionismus passten und dieser die nationalen Aspekte des Judentums an die Stelle der Tradition der Väter setzte. Jedoch auch Beschreibungen der jüdischen Lebenswelt und des Zwiespalts zwischen dieser und der Umwelt wurden nicht immer positiv rezipiert. Einen besonders interessanten Fall stellte der den Intellektuellen im Jischuw wohl bekannte Sammy Gronemann dar, wie Dov Ber Malkin in Davar berichtete: »Das Drama Der junge Heine kenne ich noch von einer Textlesung. Es war dies eine Lesung von Sammy Gronemann, der einen kleinen Kreis hauptsächlich aus Deutschland Stammender eingeladen hatte; die Zuhörerschaft war sehr beeindruckt.«208 Von den ermunternden Worten Malkins und auch anderer Kritiker abgesehen, wurde das Stück eher kühl aufgenommen und lediglich 24-mal aufgeführt: »Obschon Gronemann ein netter Autor ist und die Aufführung einige angenehme Momente und mehr oder weniger gelungene komische Stellen birgt

nichts Gutes; zwar ist Max Brod ein Poet und Künstler, doch ist er nur der Bearbeiter und nicht der Autor des Dramas, und die neue, von ihm eingeführte Gestalt von Jephtas Stiefbruder Ezvon [eventuell abgeleitet von azuw, hebr. traurig; im Text des Dramas scheint übrigens keine solche Gestalt auf, N. S.] ist vor allem wegen ihres irritierenden Aktualitätsbezugs fragwürdig […]. Das Drama Die Tochter des Jephta bietet wenig Handlung, dafür aber viel oberflächliches Zierwerk und kann das poesie- und theaterliebende Publikum nicht befriedigen.« N. Grünblatt, Theater: Die Tochter des Jephtha in der Habima (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 22. Juli 1943, 10. Ein Teil der Rezensionen dieser Aufführung befindet sich im IDDK, 43.2.7. 205 S. Ben-Chorin, Die Sage von Jephthas Tochter (hebr.), in: Bama 7/4 (September 1943), 41. 206 A.S. Juris, Die Tragödie des Gewissens (hebr.), in: Bama 1/7 (Juni 1935), 20 f. 207 Shmueli, Der Brief des Uria: Aufführung der Habima (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 18. Januar 1935, 15. 208 D.B. Malkin, S. Gronemanns Die Familie [sic] Heine im Habima-Theater (hebr.), in: Davar, 25. April 1947. Ein Teil der Rezensionen dieser Aufführung befindet sich in IDDK, 17.3.7.

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[…], kennzeichnet sie vor allem eine gehörige Portion einer gewissen Zusammenhanglosigkeit und Spuren von Schalheit und Langeweile.«209 Lauwarme Kritiken und geringes Publikumsinteresse ernteten manche in früherer Zeit in Deutschland und ganz Europa populäre Theaterstücke. Das gilt unter anderem für die Dramen Friedrich Schillers, der, wie schon ausgeführt, im 19. Jahrhundert der Lieblingsdichter der osteuropäischen Juden und einer der am häufigsten vom Deutschen ins Hebräische übersetzten Autoren gewesen war. Allmählich hatte das Interesse an ihm nachgelassen, und Buchveröffentlichungen bzw. die Publikation von Werkauszügen und einzelnen Gedichten Schillers in Sammelbänden und Zeitschriften waren immer rarer geworden. Man kann davon ausgehen, dass solche einer anderen Ära angehörenden Werke das Publikum im Jischuw angesichts der tragischen Tagesereignisse nicht mehr ansprechen konnten. Nach wie vor war Schiller jedoch einer der bevorzugsten Dramatiker, wenn es galt, das zeitgenössische Repertoire der Theaterbühnen durch Klassiker zu ergänzen. So brachte das »Habima«-Theater 1936 Wilhelm Tell und das »Ohel«Theater drei Jahre später Kabale und Liebe. Wilhelm Tell war, lange vor seiner Erstaufführung in hebräischer Sprache, bereits 1878 von David Rodner übersetzt worden. Später erschienen in Zeitschriften Auszüge in neuer Übertragung. In der Folge wurden zwei vollständige Neuübersetzungen durch S. Ben-Zion und Bialik angefertigt, letztere diente als Grundlage der »Habima«-Aufführung. Noch im Jahr 1929 stieß eine Aufführung des im Jahr davor von Ascher Barasz übersetzten Don Carlos, Infant von Spanien (einer früheren Übertragung Rodners folgend) bei den Kritikern auf Begeisterung. Damals hieß es: »Unter der Fülle der Übertragungen, die der hebräischsprachigen Literatur in den letzten Jahren zuteil wurden, strahlt dieses Werk dank seines literarischen Wertes und der Qualität der Übersetzung wie ein Edelstein hervor.«210 1936 hingegen herrschte ein anderer Ton. Die zu dieser Zeit auf die Bühne gebrachten Dramen waren zeitnahen Inhalts oder von der Thematik der historischen Judenverfolgungen her indirekt aktualitätsbezogen. Nunmehr war auch Schiller – ungeachtet seines Status als deutscher Klassiker – des übermäßigen Nationalismus verdächtig, den die Nationalsozialisten für ihre Zwecke einsetzen konnten. Unter anderem äußerste sich der Publizist Josef Heftman vehement gegen die Wahl des Autors: Die Wahl von Wilhelm Tell unter den heutigen Umständen und hierzulande erscheint mir, milde ausgedrückt, sehr befremdlich. Selbstredend sind Politik und Kunst nicht zu vermischen. Doch der gesamte Hintergrund des Dramas, der Aufstand der Schweizer gegen den habsburgischen Reichsvogt in Schwyz und Uri, die patriotischen Begeisterungsreden, die Verschwörung und der Anschlag, all dies übersetzt in die Sprache einfacher 209 J. Horowitz, Eine nicht so familiäre Familienangelegenheit (hebr.), in: Haaretz, 25. April 1947. Eine weitere positive Kritik ist etwa N. Grünblatt, Die Familie Heine im Habima-Theater (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 23. April 1947, 7. 210 [-Nun], Kritiken und Kommentare: Don Carlos auf Hebräisch (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 23. April 1947, 7.

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Menschen, erinnert dieser Tage nur allzusehr an die Rhetorik unserer Verfolger […]. Obgleich dies im vollsten Sinne des Wortes eine künstlerische Aufführung war, ändert dies nichts an unserer Kritik an der Stoffauswahl.211

Heftmans Ansicht war offensichtlich für breite Teile des Publikums und andere Kritiker repräsentativ. Jakob Fichman etwa definierte das Stück als »eher Nationalepos als Drama«,212 doch wurde dem von anderer Seite entgegengesetzt, »es ist ungemein leichtfertig zu behaupten, dass es unnötig und unvorsichtig gewesen sei, jetzt den Tell zu spielen: Jetzt erst recht!«213 Der Regisseur der Aufführung, Leopold Jessner, war der Ansicht, »Wilhelm Tell ist heute ebenso aktuell wie im Jahre 1802 zur Zeit seines Entstehens, vor dem Krieg und nach dem Krieg.«214 Über die prinzipielle Frage hinaus, ob die Aufführung des Stückes angebracht sei oder nicht, äußerten sich die Kritiker auch zu den künstlerischen Aspekten: Die Übersetzung und die gesamte Aufführung wurden gelobt, die mangelhafte Diktion der Schauspieler jedoch beanstandet.215 Jedenfalls war das Publikum nicht begeistert, und nach lediglich zwanzig Vorstellungen wurde das Stück abgesetzt. Ein noch größerer Mißerfolg war Kabale und Liebe im »Ohel«Theater unter einem anderen deutsch-jüdischen Regisseur, Friedrich Lobe.216 Bis zum heutigen Tage meiden die Theater in Israel die Schillerschen Dramen ungeachtet ihres kanonischen Status, da sie unweigerlich ein finanzielles Fiasko zu werden versprechen. Die politischen Geschehnisse legten demnach jedes Interesse an der deutschen Klassik lahm. Vollständige Buchübersetzungen waren im Vergleich zu früher und zur Intensivität, mit der die Prosa jüdischer Autoren übersetzt wurde, eine Seltenheit. Auch in periodischen Zeitschriften wurden die Klassiker weitaus weniger erwähnt als aktualitätsbezogene Literatur. Dessen ungeachtet war die gesamte Mosnajim-Ausgabe im März 1932 dem hundertsten Todestag Goethes gewidmet. Auch die darauffolgenden Ausgaben brachten Beiträge zu Goethe. Durch eine doppelte Übertragung des Faust – sowohl von Jakob Kahan als auch Jizchak Leib Baruch – rückte Goethe im Jahre 1943 erneut ins literari211 J. Heftman, Wilhelm Tell in der Habima (hebr.), in: Haboker, 31. Juli 1936. Hervorhebung im Original. 212 Ein Teil der Rezension der Aufführung befindet sich im IDDK, 10.2.71. 213 J. Fichman, Über das klassische Theater (hebr.), in: Bama 3/1–2 (September–Oktober 1936), 13. Hervorhebung im Original. 214 R. Sachs, Schillers Freiheitsgedanke (hebr.), in: Bama 3/1–2 (September–Oktober 1936), 13. Hervorhebung im Original. 215 L. Jessner, Allgemeine Bemerkungen zur Tell-Aufführung (hebr.), in: Bama 3/1–2 (September–Oktober 1936), 76. 216 Vgl. zum Beispiel: Shmueli, Wilhelm Tell (hebr.), in: Haaretz, 31. Juli 1936. Eine Zusammenfassung der Schiller-Produktionen im hebräischen Theater ist enthalten in: I. Gur, Zur Aufführung von Maria Stuart [1961], ders., Theaternotizen, Jerusalem 1961, 136. Vgl. auch Ch. Shoham, Das Habima-Theater im Gespräch mit seinem Publikum (hebr.), in: Millet 1 (1983), 351–376. Shacham erörtert die unterschiedliche Rezeption von Wilhelm Tell und Uriel Acosta. In beiden sei es um deutsche Geschichte gegangen. Das Schillersche Schauspiel kam im Jischuw nicht an, während die Bearbeitung des Gutzkowschen Dramas zur sinnbildlichen Geschichte des jungen Juden wurde, der gegen gegen das traditionelle Establishment rebelliert.

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sche Rampenlicht. Beide Übersetzer wurden mit dem Tschernichowski-Übersetzerpreis für das Jahr 1945/6 ausgezeichnet, gegen den heftigen Widerstand jener, die es für unstatthaft hielten, in solch zeitlicher Nähe zum Holocaust die Übersetzung eines deutschen Dichters zu würdigen.217 Ein anderer klassischer Dichter, der sich, zumindest unter den Übersetzern und Lektoren, wachsender Beliebtheit erfreute, war Heinrich Heine. Dass man ihn gerade damals ins Hebräische übersetzte, geschah, mit Blick auf seine jüdische Abstammung, aus ideologischen Gründen. Zwar war er konvertiert, doch quälten ihn auch späterhin Selbstzweifel diesbezüglich, und für die Nationalsozialisten hatte er ohnehin als Jude gegolten. Heines Schriften erschienen im »Ligvulam«-Verlag, während Lea Goldberg den jugendlichen Lesern der Wochenzeitschrift Davar lijeladim Folgendes berichtete: Der Knabe hieß Harry Heine, Harry – so nannten ihn Vater und Mutter und die ganze Familie. Sein wirklicher Name aber war Herz, nach seinem verstorbenen Onkel; als er in Frankfurt lebte und sich selbst als Erwachsener fühlte, der sich seinen Unterhalt selbst verdient, erschien ihm der Name Harry zu kindlich. Der jüdische Name – Herz – klang in den Ohren der Deutschen, unter denen er lebte und arbeitete, fremd. Daher nannte er sich selbst Heinrich […]. Wir gedenken seiner Gedichte, lieben sie und übersetzen sie vom Deutschen ins Hebräische. Er steht uns geistig nahe, denn er war ein großer Mensch und ein aufrechter Jude, der sich nach seinem Volk sehnt und dessen Leiden mitfühlt, auch wenn er es scheinbar verließ.218

Auch jetzt wurde Heine dem Publikum als Jude dargestellt und von diesem als solcher aufgefasst. Am Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges schien es, Heine habe den Holocaust vorausgesehen, Heine, »der die Wahrheit in all ihrer Grausamkeit sah, die mystischen Anwandlungen und die finstere Psyche des deutschen Volkes erfasste. Er versuchte zu warnen und anderen Völkern, allen voran seinem eigenen Volk, den wahren Begriff der ›mystischen Psyche‹ dieser teutonischen Nation zu vermitteln«219. Dass Heine als Jude verstanden wurde und ihm eine besondere Einsicht in die Problematik des jüdischen Schicksals zugesprochen wurde, beruhte zum Teil auf der Kenntnis des Zitats aus seiner – nicht ins Hebräische übersetzten – Tragödie Almansor (1821): »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.« Freilich wurde dieser Satz, der sich auf das Verbrennen von Koran-Schriften im Spanien des späten 15. Jahrhunderts bezieht, in anderem Zusammenhang interpretiert.220 217 Zu dieser Kontroverse siehe E. Bin-Gurion, Goethes Erbe und die jüdische Ehre (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 16. Oktober 1945, 12–13. Bin-Gurion argumentiert unter anderem, »als die deutsche Schuld, die Vätern und Söhnen gleichermaßen anhaftet, in die sachliche Diskussion geworfen wurde, hätte man auf diese Kandidatur verzichten müssen.« 218 Lea Goldberg, Heinrich Heine (hebr.), in: Davar lijeladim, 14. Mai 1936, 7 f. 219 Gabriel Talphir, Volksfeind Nr. 1 (hebr.), in: Gasit 5/6 (Februar 1943), 2. 220 Ich danke Zvi Tauber für den Hinweis auf die fälschliche Auslegung dieser Passage. Zu erwähnen wäre, dass jeweils ein Auszug enthalten ist in: H. Graetz, Geschichte der Juden, Letzter Teil, Wilna 1929, 279 f; sowie üb. v. S. Ben-Zion, in: Ha-poel Ha-zair 31 (1913); üb. v. J. Katzenelson in Heinrich Heine, Almansor, in: Buch der Lieder, Warschau 1924, 271–278: ebenso Buch der Lieder, üb. v. J. L. Baruch, Tel Aviv 1954, 207–211.

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Zwei weiteren Dichtern galt von seiten der Kritik beachtliche Aufmerksamkeit, und ihre Werke wurden vor dem Hintergrund der Zeitgeschehnisse gelesen: Zum einem Stefan George, in dem die Nationalsozialisten einen Propheten sahen, unter anderem wegen seines an die Klassik angelehnten Stils als Verkörperung jener künstlerischen Reinheit, die sie wiederherzustellen suchten. George selbst entzog sich allen Ehrerweisungen und verstarb letzlich in der Schweiz.221 Zum anderen war es Rainer Maria Rilke, der die Aufmerksamkeit der Kritikergilde auf sich zog, im Besonderen dank eines Verehrers, des Verlegers und Übersetzers Israel Zmora, der Rilkes Briefe ins Hebräische übertrug. In seinem Buch über Rilke verglich er den Dichter mit »einer Eiche mit mächtigen Wurzeln, die Schmerz und Leiden des Seins ganz in sich aufgesogen hat« und bezeichnete ihn mehrmals als »Genie«.222 Doch auch andere Kritiker befassten sich mit Rilke, unter anderem im Zusammenhang mit der zweifachen Übersetzung von Die Weisen von Liebe und Tod des Kornett Christoph Rilke. Dieses Werk erschien in kurzem Abstand als eigener Band im »Tarschisch«-Verlag (1942) wie auch im Rahmen der Zeitschrift Gasit (1943).223 Ein weiteres häufig in den Rezensionen auftauchendes Thema war der Sozialismus. Dies betraf Sachbücher und ideologische Schriften ebenso wie Dramen oder Romane. Überhaupt wurde unter den Sachbüchern die sozialistische Literatur am meisten besprochen. Neben den Schriften Marx’, die für die Mitglieder und einen Teil der Führung der Arbeiterbewegung im Jischuw die Basis aller Dinge waren, wurden in den relevanten Zeitschriften auch sozialistische Denker des beginnenden 20. Jahrhunderts erörtert, allen voran die in weiten Kreisen des Jischuw bekannten Karl Kautsky und Rosa Luxemburg. Zudem wurden alle drei aufgrund ihrer Abstammung trotz ihrer Lossagung von der Religion als Juden betrachtet.224 In den 30er Jahren wurden auch – jeweils im »Ohel«-Theater, das der Arbeiterpartei gehörte – zwei sozialistisches Gedankengut beinhaltende Dramen gespielt: Georg Büchners Dantons Tod sowie Bertold Brechts Dreigroschenoper. Die Wahl des 1835 entstandenen Danton mag zwar verwunderlich erscheinen, doch war es 1916 auch unter der Regie von Max Reinhardt in Deutschland wie221 Zu George als Klassizist vgl. unter anderem: J. Lichtenbaum, Stefan George: Auszüge aus einem Essay (hebr.), in: Mosnajim 41, 12. Februar 1931, 6–8; J. Fichman, Stefan George: Konturen einer Persönlichkeit (hebr.), in: Mosnajim 1/5 (Januar–Februar 1934), 72–77. Zu Georges Ablehnung des Nationalsozialimus siehe Z. Rudi, Einige Skizzen zur Person Stefan Georges (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 1. November 1935, 12–15. 222 I. Zmora, R. M. Rilke, Tel Aviv 1933, 49. 223 Als weitere Artikel über Rilke sind zu nennen: I. Silberschlag, Rainer Maria Rilke, in: Hatekufa, 26–27 (1929/30), 655–657, E. Bin-Gurion, Zwei Übersetzungen (hebr.), in: Mosnajim 16/2 (Mai 1943), 117; ders., Drei Lebensabschnitte (hebr.), in: Mosnajim 19/2 (Oktober–November 1945), 95. 224 Repräsentativ hinsichtlich der Übersetzung der Werke von Marx und Engels und der Schwierigkeit, entsprechende hebräische Ausdrücke zu prägen: I. Barzilay, Die Lehre von Marx und Engels (hebr.), in: Mosnajim 17/1–2 (Oktober–November 1933), 104 f. Zu Karl Kautsky als geistiger Erbe von Marx und Engels siehe [Jod-Chaf], Karl Kautsky zum achtzigsten Geburtstag (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 26. Oktober 1934, 7. Zu den politischen Ansichten Rosa Luxemburgs siehe R. Shai, Rosa Luxemburg (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 23. Januar 1939, 10.

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der aufgeführt worden. Das Drama erregte bei den Kritikern, anscheinend wegen seiner der sozialistischen Ideologie nahestehenden Ideen, die ja der im Jischuw dominierenden politischen Gesinnung entsprachen, großes Interesse. Das Organ der Arbeiterpartei, Ha-poel Ha-zair, widmete in einem Beitrag von Abraham Samuel Juris dazu breiten Raum: Zwei Generationen mussten vergehen, damit Büchner von einer bloßen Nummer im Katalog der literaturgeschichtlichen Kuriositäten zu einer bedeutenden dramaturgischen Realität werden konnte und seinen Dramen viele erfolgreiche Aufführungen zuteil wurden […]. Es war ein riskantes Unterfangen seitens des Arbeitertheaters »Ohel«, eine Tragikkomödie auf die hiesige Bühne zu bringen – und dies vor ein Publikum, dem der Sinn eher nach Tragödie als nach Komödie steht. Friedrich Lobe aber ging es darum, einerseits dem Autor und seinen Intentionen treu zu bleiben, andererseits dem Geiste unserer Zeit zu entsprechen, in der sich Dinge abspielen, die so sehr der Niederlage der Helden der Französischen Revolution ähneln, freilich ohne die heroisch-deklamatorische Geste.225

Auch die Dreigroschenoper hielten die Sozialisten im Jischuw in Ehren. Der »Sozialist Brecht […] wurde in die Emigration getrieben, die Dreigroschenoper als jüdisch-sozialistisches Machwerk verboten. Doch während das Werk hier in Palästina gespielt wird, führen gleichzeitig deutsche Schauspieler dieses charakteristischste unter den zeitgenössischen Dramen in Paris unter der Regie von Autor und Komponist auf.«226 Vom Standpunkt der Kritiker sprach also einiges Wesentliche für das Stück: die von ihm repräsentierte Weltanschauung, die Exilierung des Autors sowie der Erfolg der Pariser Aufführung. Etwa zur gleichen Zeit berichtete die hebräische Presse in bedrückenden Einzelheiten über das Geistesleben in NS-Deutschland, was möglicherweise die Motivation verstärkte, in Deutschland verbotene Literatur zu übersetzen. Elieser Lubrani berichtete in zwei Artikeln über den Alltag des deutschen Künstlers: Dem Gebot der Gleichschaltung sind nicht nur Wirtschaft, Politik und Religion unterworfen, sondern auch die Kunst. Auch hier haben die Nazis keine Mühe gescheut, alles zu unterdrücken und eine Kasernenatmosphäre zu verbreiten. Alle »schädlichen und suspekten Elemente« sind aus dem Kulturleben verschwunden, wo man nunmehr nur noch rein arische Luft atmet.227

Zum Exil äußerte er sich folgendermaßen: »In unsere Diaspora zog die gesamte Nation mit allen Stämmen und Sippen, was hingegen Deutschland betrifft, so blieb die Nation im Vaterland, und nur die Intellektuellen und Denker sind zum Exil verurteilt.«228 225 A.S. Juris, Dantons Tod – im Ohel-Theater (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 2. März 1934, 13 f. Lobes Bearbeitung erhielt eine vernichtende Kritik mit dem Hinweis, die Inszenierung habe die ursprüngliche Absicht des Schauspiels, die Schattenseiten des Kleinbürgertums zu zeigen, verfälscht. Vgl. dazu [Pe- Nun], Dantons Tod von Georg Büchner im Ohel-Theater (hebr.), in: Gasit 2/3 1934, 47. Im Programmheft hieß es: »Büchner verkündet: Sehet das Schicksal eines Führers, der zur Zielscheibe von Engstirnigkeit wird.« Siehe Ziunim, Programmheft von Dantons Tod, 5, IDDK, 26.3.8. 226 A. Karu, Die Geschichte der Dreigroschenoper, Programmheft, 8, IDDK, 125.2.3. 227 E. Lubrani, Kunst im Dritten Reich (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 12. Januar 1934, 2. 228 Ders., Die deutsche Exilliteratur (hebr.), in: Ha-poel Ha-zair, 30. März 1934, 20.

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4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948

Die Politik der Repression, die das deutsche Kulturleben beherrschte, empörte die Menschen im Jischuw, als ginge es um ihre eigene Kultur. In der Tat handelte es sich in vielen Fällen um Elemente einer Kultur, die man sich im Jischuw zu eigen gemacht hatte, die von Juden erschaffen worden war, und diese wurden nun, zumindest im übertragenen Sinn, in die Reihen ihres Volkes zurückverwiesen. In einem besonderen Fall stellte man sich auf die Seite eines nichtjüdischen deutschen Künstlers, der den Großteil seines Lebens in England verbrachte hatte – Georg Friedrich Händel: Anlässlich der Aufführung des Samson-Oratoriums bei uns sei ein Geschehnis der jüngsten Zeit aus der Tageschronik Nazideutschlands erwähnt. Da erschien plötzlich ein Büchlein mit dem Titel »Volk der Helden«, deutsches Oratorium, Musik von Händel – eine Bearbeitung von Händels Judas Makkabäus im Sinne der Nazis […] Händel ist im heutigen Deutschland verhasst, weil seine Vokalwerke fast die gesamte jüdische Geschichte umfassen, doch kann man das deutsche Volk nicht seiner Oratorien berauben. Daher mussten sie »überarbeitet« werden.229

Der Zorn, der aus dem Beitrag des unbekannten Autors in Bama spricht, spiegelt in großem Maße das besondere Verhältnis der Menschen im Jischuw zu Deutschland und seiner Kultur wider. Zum einen kam der Schmerz über den in Deutschland vor sich gehenden Niedergang, der einen absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben schien, zum Ausdruck, zum anderen sprach daraus die große Bewunderung, die man der vor dem Aufstieg des Nationalsozialimus entstandenen deutschen Kultur zollte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Liebe zu Werken deutscher Kultur, mit Ausnahme des Großteils des Konzertmusikrepertoires, von dem Zorn und Entsetzen über die Gräuel des NS-Regimes – zumindest vorübergehend – verdrängt. Erst in den 70er Jahren kam es zu einer neuen Welle literarischer Übersetzungen aus dem Deutschen, die dort anknüpften, wo sie abgebrochen hatten, nämlich bei Romanen jüdischer Autoren der dreißiger und vierziger Jahre, wie etwa Wassermann und Feuchtwanger. Dazu kamen Romanwerke, die sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzten. In den zwei Jahrzehnten zwischen der Gründung des Staates Israel und der neu aufgenommenen übersetzerischen Aktivität verfügte der hebräischsprachige Leser jedoch immerhin über mehrere hundert Bücher und hunderte Gedichte und Erzählungen, die bis zur Staatsgründung übersetzt worden waren.

229

Nazideutschland – Händel und Das Volk der Helden (hebr.), in: Bama 6/2 (März–April 1939), 48.

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Der »Eiszeit« entgegen

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Der »Eiszeit« entgegen In den Jahren vor der Gründung des Staates Israel setzte sich im Jischuw das Gefühl durch, dass sich nunmehr klare kulturelle Normen herausgebildet hätten. In Bezug auf die Übersetzungen aus dem Deutschen galt das Hauptaugenmerk den Werken jüdischer Schriftsteller, während nichtjüdische Autoren kaum mehr berücksichtigt wurden. Die politischen Geschehnisse nach 1948 und die gesellschaftlichen Umwälzungen im Land, das weiterhin große Einwandererströme, darunter zahlreiche Holocaustüberlebende, zu integrieren hatte, veränderten das Bild. Noch während des in diesem Abschnitt behandelten Zeitraums hatten die Intellektuellen im Jischuw erneut prinzipielle Fragen hinsichtlich der Wesensmerkmale der Übersetzungstätigkeit aufgegriffen. Der Schriftsteller Elieser Steinmann etwa befasste sich mit der Frage der Auswahl der zu übersetzenden Werke: Seit einem halben Jahrhundert wird bei uns an der Übertragung nichtjüdischer Literatur ins Hebräische gearbeitet. Und welch ein Wunder: Zumeist werden nicht gute, sondern mittelmäßige oder gar noch schlechtere Bücher übersetzt […]. Im Lauf der Jahre werden immer wenige große Werke der Weltliteratur übersetzt, und auf jedes Meisterwerk kommt eine Menge Schund.230

Die Angst vor einer lückenhaften Bildung der neuen Generation hebräischsprachiger Leser war verständlich. Indem die Gründung eines selbständigen Staates Realität zu werden versprach, schien es umso wichtiger, eine Gesellschaft heranzubilden, die einen solchen zu tragen und zu führen vermochte. Insofern rief Steinmann im Hauptteil seines Beitrags dazu auf, die Klassiker ohne Rücksicht auf ihre Herkunft zu übersetzen; in einem Atemzug nannte er Goethe, Byron, Dante, Puschkin, Heine, Gogol, Rousseau und Schiller. Doch konnte man in diesem Stadium schwer von diesem neuralgischen Punkt, der Herkunft des jeweiligen Autors, absehen. 1946, als das Wissen um die Geschehnisse im Holocaust oder jedenfalls die Bereitschaft im Jischuw, die Version der Opfer zu hören, begrenzt war, schrieb der in Deutschland geborene Schriftsteller und Arzt (Oskar) Jeschajahu Wolfsberg (Aviad): Eine schreckliche Frage verlangt Erhellung und Antwort: Wie erklärt man den entsetzlichen, erschütternden Widerspruch, dass eine Nation, die solche Künstler und Dichter hervorgebracht hat, eine Nation, deren Sendung für das Kulturschaffen so gewaltig ist, dass diese Nation Generationen hervorgebracht hat, die einen Weltenbrand auslösten, denen nichts vor Zerstörung heilig war, die Gott lästerten und den Messias leugneten? Zweifellos lastet Gottes Fluch auf dieser Nation.231 230 E. Steinmann, Erste und letzte: Zum Thema der Literaturübersetzung (hebr.), in: Ha-doar, 12. September 1947. 231 J. Wolfsberg, Unser Verhältnis zu Deutschland und den Geistesgrößen der Vergangenheit (hebr.), in: Mosnajim, 22/3 (Juni 1946), 181.

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4. Kapitel: Etablierung in Palästina, 1928–1948

Dieser Fluch begleitete die deutsche Literatur im Staate Israel noch weitere zwei Jahrzehnte, in denen die Verleger aus Angst vor einer negativen Reaktion der Öffentlichkeit sich offensichtlich scheuten, aus dem Deutschen stammende Werke zu publizieren. In dieser Zeit wurde der Holocaust keineswegs verdrängt; ganz im Gegenteil erhitzten sich unweigerlich die Gemütter, sobald Deutschland betreffende Themen auf der Tagesordnung waren – sei es das »Schilumim«(Wiedergutmachungs)-Abkommen oder kulturelle Fragen wie die öffentliche Aufführung von Richard Wagner und Richard Strauss in Israel. Es musste einige Zeit verstreichen, bis man sich mit dem Gräuel der Schoah auseinandersetzen und allmählich auch mit der deutschsprachigen Kultur wieder in Berührung kommen konnte.232 In den Jahren, in denen neue Übersetzungen aus dem Deutschen äußerst rar waren, stand dem hebräischen Lesepublikum ein breites Angebot vorhandener Übertragungen aus der vorstaatlichen Periode zur Verfügung. In den zwei Jahrzehnten, die der Staatsgründung vorausgingen, wurde dieses Repertoire namentlich durch die Werke jüdischer oder von den Nationalsozialisten verfolgter, in die Emigration gegangener Autoren erheblich erweitert. Daneben wurden einige Sachbücher übersetzt, die sich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und den von ihm dräuenden Gefahren auseinandersetzten. Die zeitgenössischen Rezensionen deuten darauf hin, dass die Rezeption stark von den aktuellen Ereignissen beeinflusst wurde. Ein ausgeprägtes Beispiel dafür ist das rege Publikumsinteresse für Theaterstücke, die sich mit der Problematik des jüdischen Lebens in Deutschland auseinandersetzten bzw. historische Dramen, die als Analogie auf die Ereignisse in Nazideutschland ausgelegt werden konnten. Zwar hatte dies außerhalb Palästinas keinerlei politische Wirkung, gab jedoch den Intellektuellen im Jischuw immerhin das Gefühl, einen Protestakt gegen das NS-Regime gesetzt zu haben. Maßgeblich wurde der kulturelle Protest indes erst nach der Staatsgründung fühlbar.

232 Zur Zentralität der Schoah im öffentlichen Diskurs siehe: A. Shapira, The Holocaust: Private Memory and Public Memory, in: Jewish Social Studies 2 (Winter 1998), 40–58; sowie N. Barzel, Die Dimension von »kein Vergeben und keine Sühne« im Verhältnis des Staates Israel und der israelischen Gesellschaft zu Deutschland in den Jahren 1945–1957 (hebr.), in: Y. Gutman (Hg.), Major Changes within the Jewish People in the Wake of the Holocaust (proceedings of the Ninth Yad Vashem International Historical Conference), Jerusalem, Juni 1993, Jerusalem 1996, 525–541.

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Epilog Die vorliegende Studie endet mit der Gründung des Staates Israel, zu einer Zeit also, als die Kluft zwischen Deutschland und dem neuen Staat unüberwindbar schien und dessen Bürger alles, was deutsch war, weit von sich wiesen. Die Kinder der Olim flüchteten in die hinteren Sitzreihen des Autobusses, wenn die Eltern miteinander Deutsch sprachen. Die Eltern selbst waren eine Zielscheibe des Spotts für die Satire, in der sie als Fremdkörper in dieser mediterranen, vom Zwang europäischer Höflichkeitsregeln befreiten Gesellschaft dargestellt wurden. In den frühen 50er Jahren wurde die Vorführung von Filmen in deutscher Sprache durch die zuständige Zensurbehörde, den Rat für Film- und Dramenkritik, untersagt. 1963 debattierte die Leitung des Israel Philharmonic Orchestra die Frage, ob es statthaft sei, Musikwerke in deutscher Sprache aufzuführen. Einer Grundsatzentscheidung aus dem Weg gehend wurde beschlossen, dies sei zu gegebenem Anlass ad hoc zu prüfen. Im Juni 1967, wenige Tage nach dem überwältigenden Sieg Israels im Sechstagekrieg, dirigierte Leonhard Bernstein die Zweite Sinfonie Gustav Mahlers, die Auferstehungssinfonie. Begleitet vom Israel Philharmonic Orchestra sangen Chor und Solistinnen in deutscher Sprache. Niemand protestierte. Offensichtlich war es in diesem Moment, als sich die israelische Gesellschaft von der Vernichtungsgefahr und dem jahrhundertealten Gefühls der Verfolgung befreit fühlte, wieder möglich, mit der deutschen Sprache und Kultur in Berührung zu kommen.1 Ganz anders sieht es im Jahr 2010 aus. Die Zuschauer füllen, wenn es um die deutsche Kultur geht, Vortrags- und Filmsäle – je heikler das Thema, desto größer scheint das Interesse. Im Sommer 2010 zeigte die Cinematheque Tel Aviv Ausschnitte aus Tony Palmers The Wagner Family. Dieser Film über die zerstrittene Dynastie und der Vortrag seines Protagonisten, des aufrührerischen Urenkels Gottfried Wagner, lockten Hunderte Zuschauer an. Im selben Sommer fand ebenfalls vor großem Publikum eine Präsentation und Diskussion des Romans Anaschim towim des israelischen Autors Nir Baram statt. Er erzählt die ineinander verflochtene Geschichte eines Berliners und einer Moskauerin, die sich während des Zweiten Weltkriegs dem totalitären Regime ihres jeweiligen Landes andienen.2 Es war offensichtlich, dass die Diskussion über die Verquickung mit dem Nationalsozialimus die Gemüter weitaus mehr erregte als die Erörterung der stalinistischen Ära in der Sowjetunion. Dieses Interesse kam auch 2010 in der Rezeption der hebräischen Erstübersetzung von Hans Falladas Jeder stirbt 1 Zur Verwendung der deutschen Sprache in Israel und den Kontroversen hierzu in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, siehe Sheffi, Der Ring (Anm. 2, Prolog), 47–91. 2 N. Baram, Anaschim towim (Fine people), Tel Aviv 2010. Das Buch soll 2012 im Hanser Verlag auf Deutsch erscheinen.

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Epilog

für sich allein aus dem Jahre 1947 zum Ausdruck. Nicht nur, dass diese positive Kritiken erntete, sie gelangte auch auf die Bestsellerlisten. Angesichts dieses beeindruckenden Erfolges kam es auch zu einer Neuauflage der Übersetzung von Kleiner Mann – was nun? (1932; hebr. 1987, 2010). So wurde also dieser 1947 verstorbene deutsche Schriftsteller im heutigen Israel zu einem Kulturhelden. Das Interesse der Israelis für jene Kunstwerke, die zu entschlüsseln suchen, wie sich die deutsche Gesellschaft vom Nationalsozialismus mitreißen ließ, ebbt auch Jahrzehnte nach dem Sieg über das »Dritte Reich« nicht ab. Dieses Interesse ermöglicht einen Diskurs zur deutschen Kultur, den es so in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Krieg nicht geben konnte. Damals war die israelische Gesellschaft mit dem Aufbau des Staates und seiner Kultur beschäftigt und mied die direkte Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Kriegs und den Überlebenden des Holocaust. Die Publizität der Gerichtsverfahren, die sich mit dem Holocaust befassten, bot erstmals die Gelegenheit, an den Wunden zu rühren.3 Nicht zuletzt konnte dies in der Folge auch mittels der zeitgenössischen deutschen Literatur geschehen. Zu den deutschen Klassikern, die auch weiter in den israelischen Schulen unterrichtet wurden, kamen neue Übersetzungen, spezifisch solcher Werke, die mit der NS-Ära abrechneten. Nach Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame (dt. 1971, hebr. 1973) erschienen Die Blechtrommel von Günter Grass (dt. 1959, hebr. 1975) und Das Vorbild von Siegfried Lenz (dt. 1973, hebr. 1977). Man kann davon ausgehen, dass diese kritischen Stimmen innerhalb der deutschen Gesellschaft es den Israelis erleichterten, sich erneut mit der deutschen Kultur zu befassen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt zur Leselust der Israelis auch eine intensive Reisetätigkeit in jenes Land, das so viel Schreckliches über die vorhergegangenen Generationen gebracht hat. Viele Israelis erfreuen sich an der deutschen Landschaft und dem reichen Kulturangebot. Für manche unter ihnen ist es eine Rückkehr in die Kindheit, zu einer Sprache, die keine Scham mehr erweckt, zu einem Gefühl der »Gemütlichkeit«, das jetzt gestattet ist. Damit wird ein Kreis geschlossen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert begannen jüdische Intellektuelle, deutsche Meisterwerke, die sie bewunderten und die ihnen als Vorbild dienten, ins Hebräische zu übersetzen. Der entsetzliche Bruch zwischen den beiden Völkern hat es den Israelis unmöglich gemacht, in der deutschen Kultur einen geistigen Leitstern zu sehen, wie es dies frühere Generationen empfanden. 3 Der Prozess um Rudolf (Israel) Kasztner, der der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt wurde, weil er eine Gruppe von über 1.600 ungarischen Juden von der Deportation in die Todeslager freigekauft hatte, war der erste, in dem Zeugen detailliert über den Holocaust aussagten. Kasztner wurde verurteilt und noch vor dem Berufungsverfahren ermordet. Letztendlich wurde er freigesprochen. Der Prozess gegen Adolf Eichmann, der ein unvergleichlich größeres Aufsehen erregte, konfrontierte die israelische Öffentlichkeit mit Dutzenden Aussagen »einfacher Menschen«, deren Heroismus darin bestand, dass sie ihre Menschlichkeit unter schwersten Entbehrungen und Qualen zu bewahren suchten. L. Bilsky, In a Different Voice: Nathan Alterman and Hannah Arendt on the Kasztner and Eichmann trials, in: Theoretical Inquiries in Law 1/2 (2000), ix; H. Yablonka, The State of Israel vs. Adolf Eichmann, New York 2004; A. Shapira, The Eichmann Trial: Changing Perspectives, in: The Journal of Israeli History 23/1 (2004), 18–39.

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Der »Eiszeit« entgegen

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Die seitdem vergangene Zeit und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit innerhalb Deutschlands haben es seit den 1970er Jahren und mit besonderer Intensität in diesem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ermöglicht, die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Völkern wieder anzuknüpfen. Auch heute unterscheidet sich die Einstellung der Israelis zu Deutschland von jener gegenüber anderen Ländern. Doch lässt sich in den letzten Jahren eine auffallende Veränderung in der Einstellung vor allem junger Israelis feststellen. So standen bisher die Israelis bei den Fußballweltmeisterschaften immer auf der Seite derjenigen Mannschaften, die gegen die deutsche Nationalmannschaft spielten, in der Hoffnung, diese besiegt zu sehen. Erstmalig war dies bei der Weltmeisterschaft 2010 anders, bei der laut einer Umfrage rund ein Drittel der Israelis auf den Sieg der deutschen Mannschaft hofften. Und nach wie vor sind viele Israelis begierig, über die Errungenschaften der deutschen Kultur zu lernen, aus der auch das extrem Böse erwuchs.4

4

Moshe Zimmermann, Özils Opa war nicht bei der SS, Der Tagesspiegl, 8. Juli 2010.

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