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German Pages 248 Year 2019
Martin Böhnert, Paul Reszke (Hg.) Vom Binge Watching zum Binge Thinking
Edition Kulturwissenschaft | Band 197
Für Stan Lee, dessen Lebenswerk nicht nur unsere Forschungsarbeit bereichert hat.
Martin Böhnert, Paul Reszke (Hg.)
Vom Binge Watching zum Binge Thinking Untersuchungen im Wechselspiel zwischen Wissenschaften und Popkultur
Gefördert von dem Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Promotionskolleg des Fachbereich 02 (GeKKo) der Universität Kassel.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt / Ulrike Baumann Umschlagabbildung: Ulrike Baumann, Kassel 2018 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4693-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4693-5 https://doi.org/10.14361/9783839446935 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Nicht-triviale Trivialitäten Popkulturelle Sekundärwelten als Gedankenexperimente und ihr erkenntnistheoretischer Nutzen
Martin Böhnert und Paul Reszke | 11 In Friendly Chat with Bird or Beast Wittgensteins Sprachspiel und Gespräche in Alice im Wunderland
Tamara Bodden | 51 Zu schwach für die Kamera? Die patriarchale Kameraperspektive in Game of Thrones und ihre Auswirkungen auf das Frauenbild
Vanessa Karthäuser | 69 All of Your Choices Matter Charakterbildungsrelevante Entscheidungen in Videospielen am Beispiel von Telltales The Walking Dead
Rebecca Bachmann | 81 One Ring to Rule Them All? Ethische Herausforderungen durch die Ringe der Macht bei Tolkien und Platon
Lisa Maria Kapitz und Jannis Reh | 101 »You Guys Look Great! Mom, You Look so… Thin.« Eine Untersuchung zu Kausalität in Zurück in die Zukunft
Melanie Waldmeyer | 127 Andere Welten, Andere Räume Heterotopie als literaturwissenschaftliches Analyse-Werkzeug am Beispiel von George R. R. Martins Game of Thrones
Jonas Sowa | 145 Verantwortung in Zeiten des Cyberpunk Moral in Bezug auf technische Vermittlung in Ghost in the Shell
Oliver Scharf | 167
»Die angemessene Frage lautet: WANN zum Geier sind sie!« Eine Darstellung der temporalen Linearität in Zurück in die Zukunft
Madeline Isabelle Fuhlmann | 183 »Als würde man plötzlich durch einen Spiegel treten und seinem Ebenbild begegnen« Geist und Identität in Mamoru Oshiis Ghost in the Shell
Nadja Riechert | 203 Harry Potter und das Vermächtnis der Mako Mori Vergleichende Untersuchung der Frauencharaktere in den Büchern und Filmen der Harry Potter-Reihe
Julia Gens | 225 Autorinnen und Autoren | 245
Vorwort
Nobody exists on purpose. Nobody belongs anywhere. We’re all going to die. Come watch TV. Morty Smith (Rick & Morty, St. 1, Ep. 8)
Die Zusammenführung von Popkultur als Teil unserer zeitgenössischen Alltagskultur und wissenschaftlichen Theorien und Methoden hat insbesondere im Bereich des Wissenstransfers zwei attraktive Vorzüge: Die popkulturellen Welten aus TV-Serien, Filmen, Videospielen, Büchern und Comics sind aufgrund ihrer massenmedialen Präsenz einem breiten Publikum bekannt, welches in seiner Heterogenität bezüglich der Herkunft, Ausbildung oder gesellschaftlichen Stellung seinesgleichen sucht. Zudem zeigt ihr hoher Anteil an Diskussionen unter Gelegenheitsrezipierenden, Fans und Feuilletonschaffenden und -lesenden, dass die Begeisterung für diese Narrationen zum Dialog anregt. Bei genauerer Betrachtung lässt sich sogar bemerken, dass sich nicht nur über die erzählten Handlungsverläufe oder Figuren ausgetauscht wird, sondern auch Themen diskutiert werden, die auf einer Metaebene liegen: Welche Pille hätte man in Matrix gewählt? Inwiefern kann man beim Ausschalten von Androiden wie in Blade Runner oder Westworld von Mord sprechen? Hat die Action-Serie 24 Barack Obamas Präsidentschaft erst ermöglicht und House of Cards diejenige von Donald Trump? Diese intrinsische Motivation, sich ausgehend von popkulturellen Erzählungen an weitgreifenderen Frage- und Problemstellungen abzuarbeiten, haben wir für den akademischen Alltag nutzbar gemacht: Seit 2014 veranstalteten wir bislang drei Mal ein interdisziplinäres Projektseminar an der Universität Kassel, welches von Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaft besucht wurde. Das Projekt zielt auf die Förderung des eigenständigen Forschens der Studierenden und verknüpft das individuelle wissenschaftliche Vorwissen mit dem anbindungsfähigen und jungen Forschungsfeld Popkultur. Ausgangspunkt ist es, forschendes Lernen ernsthaft in der universitären Lehre anzuwenden, indem ein ganzer Forschungsprozess nachvollzogen wird. Auf der inhaltlichen Ebene des forschenden
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Lernens liegt die wissenschaftliche Erforschung popkultureller Phänomene, bei der auf wissenschaftliche und persönliche Interessen zurückgegriffen wird. Dies fördert eine hohe Arbeitsmotivation und ein großes Forschungsinteresse. Parallel zu dieser inhaltlichen Ebene wird auf einer methodologischen Ebene der Forschungsprozess reflektiert. In einem interdisziplinären Kontext wird für die Studierenden das Einüben und Erproben wissenschaftlichen Arbeitens über den gesamten Forschungsprozess von der Themenfindung bis zur öffentlichen Diskussion und Publikation ermöglicht. Der Rahmen des Seminars orientiert sich an den üblichen Forschungsetappen des geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Die Wahl des Themas und die Aufbereitung der zugrunde gelegten Hypothese sowie das Ausprobieren verschiedener Methoden liegen völlig in den Händen der Studierenden. Der Forschungsprozess der Einzelnen wird in den gemeinsamen Sitzungen dem Plenum vorgestellt und von allen, auch von uns, auf Augenhöhe mitreflektiert. Die Ergebnisse werden immer wieder in neue Medien übersetzt: schriftliche Reflexion, Präsentation, Diskussion, wissenschaftliche Poster und öffentliche Präsentation. So wird auch der dynamische Status wissenschaftlicher Forschungsergebnisse greifbar gemacht: Erst durch wiederholtes Feedback auf mehreren Ebenen entsteht der Eindruck der Gewissheit und Klarheit. Hintergrund für diese Bearbeitungs- und Organisationsform ist, dass die Anknüpfung an die berufliche Praxis innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften nur selten in umfassendem Maße an der originär wissenschaftlichen Forschungspraxis ausgerichtet wird. Einzelne Bereiche werden zwar in Prüfungsleistungen (Hausarbeit als Verfassen eines Artikels, Prüfungsgespräch als Diskussionsbeitrag etc.) und Seminarkontexten erprobt, jedoch aufgrund der Studienstrukturen selten explizit als Teil der Forschungspraxis thematisiert und als solche gefördert. Dass dieses Modell des forschenden Lernens anhand des gewählten Themenkomplexes erfolgversprechend ist, zeigte uns vor allem das bislang außergewöhnlich gute Feedback der Teilnehmenden des Seminars. Zudem wurde unser Projekt 2016 mit dem Lehrinnovationspreis der Universität Kassel geehrt. Der vorliegende Sammelband steht im unmittelbaren Zusammenhang mit unserem Forschungs- und Lehrprojekt. Als Sammelband bietet er für die Rezipierenden einen Einblick in die Möglichkeiten der Untersuchungen im Spannungsfeld zwischen Wissenschaften und Popkultur, da er die Forschungsergebnisse verschiedener Teilnehmender unserer Seminare zusammenträgt. Gleichzeitig stellt er auch den üblichen letzten Schritt des Forschungsprozesses dar, den die Studierenden im Verlauf ihrer Arbeiten in den Veranstaltungen gegangen sind: die Publikation der erarbeiteten Befunde. Selbstverständlich wäre der vorliegende Band nicht ohne die Unterstützung verschiedener Personen und Institutionen zustande gekommen. Unser Dank rich-
Vorwort | 9
tet sich zunächst an die Autorinnen und Autoren der Beiträge, die von Anfang an großes Interesse an der Möglichkeit einer Publikation ihrer Seminarergebnisse zeigten und sich jenseits von den üblichen Studienstrukturen für einen erheblichen Arbeits- und Zeitaufwand entschieden haben. Für ihre Redaktions- und Lektoratsarbeit während des Entstehungsprozesses möchten wir herzlich Jonas Sowa und Melanie Waldmeyer danken. Für die Gestaltung des Umschlags danken wir Ulrike Baumann. Für die finanzielle Unterstützung der Publikationskosten danken wir dem Servicecenter Lehre und dem Promotionskolleg des Fachbereichs 02 (GeKKo) der Universität Kassel. Schließlich sei allen Teilnehmenden an unseren Seminaren Linguistik & Philosophie vs. Popkultur an der Universität Kassel für anregende Diskussionen gedankt. M. B. und P. R. Kassel, im November 2018
Nicht-triviale Trivialitäten Popkulturelle Sekundärwelten als Gedankenexperimente und ihr erkenntnistheoretischer Nutzen Martin Böhnert und Paul Reszke *
EINLEITUNG Zumindest im europäischen Kulturkreis ist die Idee, dass Literatur mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen könne, lange etabliert. Bereits in Horaz’ Poetik aus dem 1. Jh. v. Chr. heißt es: »Aut prodesse volunt aut delectare poetae/aut simul et iucunda et idonea dicere vitae«.1 Sinngemäß also wollen Dichterinnen und Dichter entweder nützlich sein oder erfreuen oder beides zugleich leisten. Spätestens in der Aufklärung wird mit dem Aufkommen des Bürgertums und der damit verbundenen Etablierung neuer Textsorten das Diktum zur verkürzten Kernthese »prodesse et delectare«: Jede Literatur solle zugleich nützen und erfreuen, so wie der Gesellschaftsroman, der die neu entstehende Sozialstruktur verdichtend dokumentiert und reflektiert, aber seine Rezipierenden auch schlicht unterhält.2 Dass es gleichzeitig auch Literatur gibt, die diesem Zusammenspiel nicht gerecht wird (oder werden will), dürfte offenkundig sein. So etabliert sich parallel zu den neuen Textsorten auch ein normativer Blick auf Literatur, der sich in der Unterscheidung zwischen Trivial- und Hochliteratur äußert. Beide Ideen – dass es den Anspruch des Zusammenspiels aus »prodesse et delectare« gibt und dass nur
*
Wir danken Felix Woitkowski, Jonas Sowa und Andreas Gardt für ihre Durchsicht und hilfreichen Kommentare.
1
Horaz: Ars poetica. Vers 333: Die Dichter wollen entweder nützen oder unterhalten /
2
Vgl. etwa Aust, Hugo: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2006, S. 53, 100-
oder zugleich Erfreuliches und für das Leben Nützliches sagen. 102.
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diejenige Literatur hochwertig ist, welche diesen erfüllen kann – sind bis heute präsent. So schreibt die Literaturwissenschaftlerin Sabine Gross in Bezug auf die Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Kunst: »Die menschliche Freude am Entdecken und Entschlüsseln ist ein anthropologischer Grundimpuls – ein Impuls, in dem Intellekt und Vergnügen nicht im Gegensatz zu einander stehen, sondern vielmehr die kognitive Aktivität selbst lustvoll besetzt ist.«3 Das Entschlüsseln, das sich bei der Rezeption komplexer Kunsterzeugnisse automatisch einstelle, wird hier eben nicht nur als Vergnügen dargestellt, sondern auch als nützliche Tätigkeit, die den Intellekt schärft. Gleichzeitig fällt aber auch auf, dass die Namen, die Gross mit ihrer Beobachtung verknüpft, allesamt einem Bereich anzurechnen sind, der üblicherweise als Hochkultur angesehen wird: Im Bereich der Musik Schumann und Eisler, in der bildenden Kunst Bruegel oder Hirschfeld und in der Literatur Kleist, Fontane und Kafka.4 Die Trennung zwischen einer Hochkultur, die dem aufklärerischen Anspruch gerecht wird, und einem defizitären trivialen Rest bleibt hier somit implizit bestehen. Vor dem Hintergrund der Komplexität aktueller Kunsterzeugnisse möchten wir uns aus einer anderen Perspektive heraus diesem Gedanken des Zusammenspiels zuwenden. Diese soll eine Annäherung an die intuitive Überzeugungskraft des horazschen Diktums erlauben, sich aber jenseits einer möglichen Kategorisierung als hoch oder trivial bewegen.5 Hierzu möchten wir die Terminologie eines aktuellen Forschungszweigs nutzbar machen, nämlich der Lesekompetenzforschung. Diese betrachtet Lesen nicht nur als die Fertigkeit, Buchstaben mental zu Wörtern und schließlich zu Texten zusammenzufügen. Es geht auch darum, in welchem Handlungskontext diese Fertigkeit jeweils genutzt wird. Hierbei werden anhand der Zwecke des Lesens sogenannte Lesemodi unterschieden: »Lesen ist eine vielschichtige Praxis, die sich auf ganz unterschiedliche Lesestoffe und 3
Gross, Sabine: Verschlüsseln und Entdecken: Darstellen und Erzählen mit Hintergedanken. In: Pappert, Steffen; Schröter, Melani/Fix, Ulla (Hg.): Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation. Berlin 2008. S. 375-401, hier: S. 375. Wir bedanken uns bei unserer Seminarteilnehmerin Laura Kohlmaier für diesen Hinweis.
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Vgl. ebd. Zudem wird immer wieder diskutiert, inwiefern eine binäre Codierung von Erzählungen überhaupt angemessen ist: »Is there a real difference in kind between high art and popular art and culture? Whether or not there is a difference, there are lots of labels.« (Irwin, William: Philosophy Engages Popular Culture. In: Irwin, Williams (Hg.): Philosophy and the Interpretation of Pop Culture. Lanham, Boulder, New York, Toronto, Plymouth 2007, S. 1-21). Vgl. auch Gans, Herbert J.: Popular Culture and High Culture: An Analysis and Evaluation of Taste. New York 1999.
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Leseweisen bezieht: Die Tageszeitung lesen wir in einem anderen Modus als ein modernes Gedicht, den Werbeflyer anders als einen akademischen Fachtext, den Roman anders als die Internet-Suchmaschine.«6 Für den Bereich des Lesens von Fiktion wird zunächst grob zwischen dem Lesen in Bildungskontexten und dem Lesen zur Unterhaltung unterschieden7 – womit allein terminologisch im Gegensatz zur Unterscheidung zwischen hoch und trivial nicht von textimmanenten Aspekten ausgegangen wird, sondern von der Art, wie sich Rezipierende einem Text jeweils nähern. Im Speziellen wiederum lässt sich das Lesen in Bildungskontexten zwischen den Polen der zweckrationalen »Pflichtlektüre« sowie des selbstzweckhaften »Lesens zur diskursiven Erkenntnis« fassen, also Lesen aus Zwang in Lernund Arbeitszusammenhängen bzw. freiwilliges Lesen mit dem Ziel der analytischen Durchdringung eines Textes. Beim Lesen zur Unterhaltung finden sich die selbstzweckhaften Unterkategorien »Intimes Lesen« und »Ästhetisches Lesen« sowie das »Partizipatorische Lesen«. Während ersteres als erlebnisorientierter oder gar suchthafter Genuss konzeptualisiert wird, wird beim ästhetischen Lesen der Fokus auf die Freude an der formalen Gestaltung des Textes gelegt. Das partizipatorische Lesen schließlich hat die sozial-kommunikative Teilhabe am Diskurs über die jeweilige Fiktion zum Zentrum. »Lesen zur diskursiven Erkenntnis« sowie »Ästhetisches Lesen« gelten als diejenigen Lesemodi, die die höchste Rezeptionskompetenz erfordern, da bei ihnen neben spontaner Neugier auch die Fähigkeit zur Abstraktion hinzukommen müsse.8 Es werden also auch Überschneidungen der verschiedenen Lesemodi hervorgehoben, denn die Leseforschung geht davon aus, dass die Vermittlung all dieser Modi Ziel einer jeden Lesesozialisation sein sollte und dass jede Rezeption potenziell mehrere Modi aktiviert – gerade diese Überlegung ist für unsere Argumentation wichtig. Populäre Narrationen – damit sind beispielsweise J. K. Rowlings Harry Potter oder Robert Kirkmans The Walking Dead gemeint – würden als Unterhaltungsliteratur zunächst eher im Modus der erlebnisorientierten Lektüre rezipiert, eventuell begleitet vom partizipatorischen Interesse, mitreden zu können. Wir möchten dafür argumentieren, dass dies jedoch nicht bedeutet, dass man Narrationen dieser Art ausschließlich zum selbstzweckhaften Genuss lesen kann, sondern dass sich auch hier Lesemodi nutzen lassen, die ein Zusammenspiel von Intellekt und 6
Garbe, Christine; Holle, Karl; Jesch, Tatjana: Texte lesen. Lesekompetenz – Textverstehen – Lesedidaktik – Lesesozialisation. Paderborn 2010, S. 175. In der Leseforschung wurden verschiedene Systematisierungsversuche entwickelt. Wir orientieren uns bei der folgenden Zusammenstellung der Lesemodi eng an Garbe, die wiederum die Darstellung der Lesekompetenzen nach Werner Graf zusammenfasst.
7
Ebd., S. 175-178. Wir gehen hier nicht auf alle angeführten Lesemodi ein.
8
Vgl. ebd., S.177.
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Vergnügen bzw. Nutzen und Erfreuen ermöglichen. Oder anders formuliert: Inwiefern kann der Anspruch dieses Zusammenspiels, welches offenkundig für Goethes Faust und James Joyces Ulysses Geltung hat, beispielsweise auch zu einem gewissen Grad von Kirkmans The Walking Dead bedient werden? Über die seit einigen Jahren populäre Comicreihe ließe sich zwar vor dem Hintergrund eines auf den reinen Genuss reduzierten Lesemodus festhalten, dass es sich bei ihr um eine affektorientierte Horrorerzählung handle, in der Überlebende in teilweise expliziten Gewaltdarstellungen gegen Zombies kämpfen. Zugleich ist es aber auch möglich, Freude an der analytischen Durchdringung dieses Textes zu entwickeln, ihn also zur diskursiven Erkenntnis zu lesen. So ließe sich beispielsweise auch hervorheben, dass die Erzählungen Themen wie Erinnerungskultur oder das Schließen von Gesellschaftsverträgen aufgreifen und Raum für eine kritische Reflexion bieten. Es dürfte unstrittig sein, dass diese Blickwinkel weitaus weniger davon abhängig sind, was tatsächlich von Kirkman in The Walking Dead angelegt ist, sondern vielmehr davon, welche Lesemodi gegenüber der Erzählung eingenommen werden. Um die Kategorien der Lesekompetenzforschung für uns nutzbar zu machen, müssen wir sie aus dem Bereich der Betrachtung primär schriftbasierter Medien lösen und erweitern. Bereits Gross’ Argumentation hat gezeigt, wie selbstverständlich es ist, dass der Anspruch des »prodesse et delectare« nicht nur auf Texte, sondern gemeinhin auf verschiedene Formen von Kunst übertragbar ist. Einen analogen Weg schlagen wir auch ein, indem wir statt von Lesemodi zu sprechen den Begriff Rezeptionsmodi nutzen. Somit wird sichtbar, dass auch Medien wie etwa Filme, TV-Serien, Comics, Videospiele etc. als Forschungsgegenstand vor dem Hintergrund dieser Modi beleuchtet werden können, beispielsweise auch die Fernsehadaption von The Walking Dead: Schaut man die TV-Serie erlebnisorientiert, animiert sie zum Konsum ohne Unterbrechung – dem Binge Watching. Man kann sie aber auch analytisch durchdringen wollen. Dass Rezeptionsmodi, die sonst üblicherweise in Bildungskontexten begegnen, auch in Bezug auf solche populärkulturellen Phänomene wie The Walking Dead genutzt werden können, ist unstrittig. Wir möchten darauf aufbauend ausführen, inwiefern die Beschäftigung mit Texten und Medien, denen üblicherweise im Modus der Rezeption zur Unterhaltung begegnet wird, so gestaltet werden kann, dass sie gleichzeitig diskursive oder ästhetische Erkenntnis ermöglichen und fördern. Genau diesen Spagat der Rezeptionsmodi benennen wir verkürzt in der titelgebenden Gegenüberstellung von Trivialem und Nicht-Trivialem. Für unser Vorhaben sind nur drei der fünf genannten Modi relevant: Da populärkulturelle Narrationen unter normalen Alltagsbedingungen nicht aus Zwang rezipiert werden und es gleichzeitig offenkundig ist, dass sie typischerweise dem
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Modus der erlebnisorientierten Rezeption zuzuordnen sind, werden wir weder den Modus der Pflichtlektüre noch die intime Rezeption für unsere Fragestellung weiter besprechen. Dass gerade im Bereich der Populärkultur auch der Modus der partizipatorischen Rezeption häufig eingenommen wird, ist ebenso naheliegend, doch werden wir zeigen, dass diesem im Kontext unserer Überlegung eine zusätzliche zentrale Funktion zukommt. Mit den beiden übrigen Modi, die die höchste Rezeptionskompetenz erfordern, nämlich dem »Lesen zur diskursiven Erkenntnis« und dem »Ästhetischen Lesen«, möchten wir weiterarbeiten und sie zusammenfassend als ästhetisch-diskursiven Rezeptionsmodus bezeichnen – wobei dies nicht bedeutet, dass sie nicht auch voneinander getrennt auftreten können. Der Unterscheidung zwischen trivial und nicht-trivial kommt eine weitere Dimension zu, die sich eng mit dem horazschen Nutzen der Literatur bzw. der kognitiven Aktivität bei ihrer Rezeption verbinden lässt: Ausgehend vom Rezeptionsmodus, der je nach Perspektive auf popkulturelle Narrationen als Suche nach trivialem erlebnisorientiertem Genuss oder eben nicht-trivialer ästhetisch-diskursiver Erkenntnis konzeptualisiert werden kann, ermöglicht gerade die Lektüre im letzteren Sinne eine besondere Form des nicht-trivialen Wissens. Der Status dieses Wissens muss zunächst geklärt werden. Üblicherweise werden in der Erkenntnistheorie drei Typen von Wissen unterschieden: Im Kontrast zu praktischem und zu phänomenalem Wissen bezieht sich Erkenntnis in der Regel auf propositionales Wissen.9 Während das praktische Wissen eine Art »wissen wie« ist und sich beispielsweise darin zeigt, dass man weiß, wie man Fahrrad fährt oder wie man eine Überweisung tätigt, und phänomenales Wissen eine Art qualitatives »wissen von« bestimmten subjektiven Erlebnissen darstellt, etwa zu wissen, wie es ist, ein Glas Rotwein zu trinken, oder wie es ist, auf das Knie zu stürzen, hebt propositionales Wissen eine Einsicht hervor, etwa zu wissen, dass die Winkelsumme eines Dreiecks 180° beträgt oder dass Wasser im Teekessel kochen wird, wenn man ihn auf eine heiße Herdplatte stellt. Dieses Wissen lässt sich üblicherweise in Propositionen der Form »wissen, dass p« ausdrücken und hat einen Wahrheitswert, kann also im Gegensatz zu den anderen Wissenstypen wahr oder falsch sein. Erkenntnistheoretisches Wissen bleibt trivial, wenn es lediglich auf bereits Bekanntes verweist, anstatt die Erkenntnis zu erweitern. Tautologisches Wissen – etwa zu wissen, dass eine Meteorologin eine Prognose über das Wetter abgeben kann oder 9
Vgl. etwa Klein, Peter D.: Concept of Knowledge. In: Craig, Edward (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy, Bd. 2. London, New York 1998. S. 266-267, hier: S. 267; Jung, Eva-Maria: Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens. Berlin 2012. S. 610. Kritisch zu dieser Einteilung siehe etwa Beckermann, Ansgar: Zur Inkohärenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs. Plädoyer für eine neue Agenda in der Erkenntnistheorie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 55 (2001). S. 571-593.
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dass ein Junggeselle unverheiratet ist – ist in diesem Sinne ebenso trivial wie etwa Wissen über allgemein als bekannt voraussetzbare Sachverhalte – etwa zu wissen, dass die Sonne scheint, just in dem Moment, in dem man sie sieht, oder dass man Orangen auch Apfelsinen nennen kann. Wetterprognostisch zu wissen, dass es übermorgen regnen wird, oder aufgrund bestimmter Textkonventionen zu wissen, dass der Gärtner nicht der Mörder ist, ist hingegen nicht trivial. Wir wollen in diesem Aufsatz zweierlei zeigen: Auf welchen Wegen man popkulturellen Narrationen in einem nicht-trivialen Rezeptionsmodus begegnen und durch diesen Zugang entsprechend nicht-triviales Wissen gewinnen kann. Sowie, dass es ein nicht unerhebliches Potenzial für wissenschaftliche Forschungen geben kann, wenn man popkulturelle Narrationen wie beispielsweise The Walking Dead auf diese Weise untersucht. Hierzu werden wir im Folgenden 1) unseren Untersuchungsgegenstand als popkulturelle Sekundärwelten präzisieren und die Besonderheit popkultureller Narrationen mit Blick auf deren Rezeption herausstellen. Es wird sich zeigen, dass diese Erzählungen einerseits in einem partizipatorischkollaborativen Modus rezipiert werden und dass der öffentliche Diskurs über diese Erzählungen verstärkt in einem ästhetisch-diskursiven Rezeptionsmodus stattfindet. Anschließend werden wir 2) darlegen, was wir unter modalem Wissen als einer besonderen Form nicht-trivialen Wissens verstehen und inwiefern dieses in dem Verfahren eines philosophischen Gedankenexperiments gewonnen werden kann. Wir werden dann dafür argumentieren, dass sich popkulturelle Sekundärwelten als komplexere Form solcher Gedankenexperimente eignen und damit die Möglichkeit bieten, modales Wissen zu generieren. Schließlich werden wir 3) ausführen, wie eine solche Beschäftigung mit Sekundärwelten im wissenschaftlichen Kontext angewendet werden kann, wobei wir dies aus zwei verschiedenen Perspektiven darlegen werden, die wir 3.1) wissenschaftsgeleitet bzw. 3.2) wissenschaftsreflexiv nennen werden. Nachdem wir 3.3) unser Vorhaben resümieren, schließen wir 3.4) weitere Anwendungsbeispiele an, die in den einzelnen Beiträgen dieses Sammelbandes realisiert sind.
1 POPKULTURELLE SEKUNDÄRWELTEN Um unseren Untersuchungsgegenstand, den wir bisher als popkulturelle Narrationen bezeichnet haben, klarer zu umreißen, möchten wir unseren Blick auf eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von J. R. R. Tolkien geführte Diskussion richten.
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1.1 Tolkiens Begriff der Sekundärwelt Tolkien versucht in einer theoretischen Reflexion eine Neuausrichtung der Fantasy-Literatur zu etablieren und führte in diesem Kontext den Begriff der Sekundärwelt ein. Der Begriff bezieht sich nicht auf den Handlungsverlauf oder die Figuren einer solchen Erzählung, sondern auf die fiktive Welt, die nach Tolkien in einer Art schöpferischem Akt von Autorinnen und Autoren erschaffen wird. Mit dieser fiktiven Sekundärwelt müsse eine in sich konsistente und kohärente Wirklichkeit erschaffen und gleichzeitig das Unwirkliche dieser Welt imaginiert werden, welches jenseits einer Faktizität unserer tatsächlichen Primärwelt liege.10 Tolkien gibt dafür in seinem Essay On Fairy Stories ein Beispiel. Während zwar jeder von einer grünen Sonne sprechen, oder sich auch eine solche vorstellen könne, sei dies nicht genug für die Schöpfung einer Sekundärwelt: »To make a Secondary World inside which the green sun will be credible, commanding Secondary Belief, will probably require labour and thought, and will certainly demand a special skill […].«11 Diese komplexe, kohärente Weltschöpfung, in welcher die Besonderheiten der Sekundärwelt sowohl plausibel als auch glaubhaft werden, verleihe einer Erzählung eine »arresting strangeness«,12 die über reine triviale Unterhaltung hinausgehendes Potenzial biete: »narrative art, story-making in its primary and most potent mode«.13 In diesem Sinne seien es eben nicht die Handlung oder die Figuren, sondern der Weltentwurf der Sekundärwelt mit seiner »inner consistency of reality«14 – etwa mit eigener Geographie, Geschichte, Kulturen, Mythen oder Sprachen15 –, welche den »Sekundärglauben« an die Wirklichkeit einer Welt 10 Tolkien, J. R. R.: On Fairy-Stories. In: Tolkien, Christopher (Hg.): The Monsters and the Critics and Other Essays. London 1983. S. 139. 11 Ebd., S. 140. 12 Ebd., S. 139. 13 Ebd., S.140. 14 Ebd., S. 155. 15 Dies kann man am Beispiel seiner eigenen Sekundärwelt Arda, dessen bekanntester Teil Mittelerde ist, sehen. Die Aspekte finden im Falle des Herrn der Ringe nicht in vollem Umfang explizite Erwähnung, woran noch einmal die Trennung zwischen Handlungsund Figurenebene einerseits und der Schöpfung der Sekundärwelt andererseits deutlich wird. Die Wichtigkeit dieser Aspekte für Tolkien wird jedoch deutlich, wenn man bspw. die rund hundertseitigen Anhänge des dritten Bandes betrachtet, in welchem weit über das Geschehen des Handlungsverlaufes hinausreichende fiktive Zeittafeln, Familienstammbäume, Kalendarien und schließlich Anmerkungen zu den in der fiktiven Welt gesprochenen Sprachen versammelt sind. Zudem sind Tolkiens über den Text verteilte geographische Anmerkungen so konsistent, dass die US-amerikanische Kartografin
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erlaube. Die Sekundärwelt werde so zu einem verfremdeten Abbild unserer wirklichen Welt, denn letztlich trete sie durch die aus unserer Welt stammenden Autorinnen und Autoren hervor.16 Tolkien verweist bei der Darstellung dieses Prozesses der Herstellung eines verfremdenden Weltentwurfs auf das Kunstwort »Mooreeffoc« von Charles Dickens. Beim Trinken einer Tasse Tee in einem der vielen Kaffeehäuser Londons des 19. Jahrhunderts fällt diesem der fremdartige Schriftzug »mooreeffoc« auf. Tatsächlich handelt es sich dabei lediglich um die gewohnte und alltägliche Schaufensterbeschriftung »coffeeroom«, die Dickens nun aber nicht wie gewöhnlich von der Straße aus, sondern von innen und damit spiegelverkehrt liest.17 Tolkien greift diesen Moment der Verwunderung und Verwirrung – oder wie er schreibt: »realism of a dream«18 – auf und macht ihn für seinen eigenen literarischen Ansatz nutzbar: Der kurze Moment, bis sich die Verwirrung des Mooreeffoc-Effekts auflöst, erzeugt nach Tolkien im Kleinen eine Irritation, die jeder bestimmt einmal erlebt habe und die im Großen das Ziel von Sekundärwelten sei, nämlich die Hervorhebung der »queerness of things that have become trite, when they are seen suddenly from a new angle.«19 Karen Wynn Fonstad einen den wissenschaftlichen Standards entsprechenden Atlas der Sekundärwelt erstellen konnte. (Vgl. Fonstad, Karen Wynn: The Atlas of Middle-earth. Boston 1981.) 16 Tolkien: On Fairy-Stories. S. 147. 17 In seiner Dickens-Biografie hält der Autor G. K. Chesterton fest: »There are details in the Dickens descriptions – a window, or a railing, or the keyhole of a door – which he endows with demoniac life. The things seem more actual than things really are. Indeed, that degree of realism does not exist in reality: it is the unbearable realism of a dream. And this kind of realism can only be gained by walking dreamily in a place; it cannot be gained by walking observantly. Dickens himself has given a perfect instance of how these nightmare minutiae grew upon him in his trance of abstraction. He mentions among the coffee-shops into which he crept in those wretched days one in St. Martin’s Lane, ›of which I only recollect that it stood near the church, and that in the door there was an oval glass plate with ›COFFEE ROOM‹ painted on it, addressed towards the street. If I ever find myself in a very different kind of coffee-room now, but where there is such an inscription on glass, and read it backwards on the wrong side, MOOR EEFFOC (as I often used to do then in a dismal reverie), a shock goes through my blood.‹ That wild word, ›Moor Eeffoc‹ is the motto of all effective realism; it is the masterpiece of the good realistic principle – the principle that the most fantastic thing of all is often the precise fact.« (Chesterton, G. K.: Charles Dickens. 8. Aufl. London 1913. S. 42.) 18 Ebd. 19 Tolkien: On Fairy-Stories. S. 146.
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Betrachtet man Tolkiens Position genauer, so fragt man sich: Ist das, was Tolkien mit seinem Begriff der Sekundärwelt zu greifen versucht, nicht in verschiedenen Ausmaßen ein Merkmal jeglicher fiktionaler Texte? Dass Fiktionen ihren Rezipierenden ermöglichen, sich in eine andere Welt hineinzuversetzen, ist selbstverständlich. Warum betreibt Tolkien also diesen Aufwand? Betrachtet man seine anschließenden Argumente, so wird offensichtlich, er will sich vor allem von denjenigen literarischen Formen abgrenzen, in denen Fantasy zu seiner Zeit hauptsächlich vertreten war, nämlich Kinderliteratur sowie Groschenromane und Zeitschriftenmagazine wie das 1923 erstmals publizierte Weird Tales, in dem sich etwa die Erzählungen um Conan the Barbarian von Robert E. Howard fanden. Tolkien versucht, seine eigene Fantasy-Literatur von jeglichem Verdacht zu befreien, sie gehöre dem Bereich des Trivialen an. Dafür zeigt er nicht nur, wie viel Arbeit hinter dem Entwurf einer Fantasywelt wie seiner stecken kann. Er ergänzt diese Überlegungen im weiteren Fortgang um zwei Argumentationsschritte. Er zeigt erstens, dass Realitätsflucht als eine bestimmte Form von Eskapismus, die üblicherweise mit (Trivial- und) Fantasy-Literatur assoziiert wird, bei seinen Texten nicht greift.20 Und er führt zweitens vor Augen, dass es eine andere Form von Eskapismus geben kann, die er ganz im Geiste des »prodesse et delectare« als nützlich aufzuzeigen bemüht ist. Zunächst stellt Tolkien dem Vorwurf der Flucht vor der Realität21 das seines Erachtens nach erhabene und kreative Potenzial von Fantasy entgegen, indem er der Kritik vorwirft, bereits beim Begriff des Eskapismus nicht genügend zu differenzieren. Denn obwohl er selbst zugibt, »escape« sei eine der zentralen Funktionen von Fantasy, weist er die in der Kritik angesprochene Realitätsflucht zurück.22 Zur Verdeutlichung seiner Sichtweise nutzt er eine Analogie, in der er aus seiner Sicht den Unterschied zwischen dem Ausbruch eines Gefangenen (»Escape of the Prisoner«) und der Flucht eines Deserteurs (»Flight of the Deserter«) darstellt: Der Ausgangspunkt beider sei eine Unzufriedenheit mit der real-weltlichen Situation, in der sie sich jeweils befinden, doch unterscheide sich die jeweilige Motivation 20 Es sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass Tolkien die hier erwähnten theoretischen Überlegungen rund 15 Jahre vor der Veröffentlichung des Herrn der Ringe anstellte. Dennoch hatte er, wie er selbst schreibt, zu dieser Zeit bereits damit begonnen, an diesem zu schreiben: »Also [On Fairy-Stories was] written in the same period (19389), when The Lord of the Rings was beginning to unroll itself and to unfold prospects of labour and exploration in yet unknown country as daunting to me as to the hobbits.« (Tolkien, J. R. R.: Tree and Leaf. London 1964. S. vi.) 21 Es muss erwähnt werden, dass Tolkien selbst keine Namen nennt, sondern den Vorwurf des Eskapismus als Argument diskutiert. 22 Tolkien: On Fairy-Stories. S. 147.
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in einem relevanten Sinne. So wie der Fahnenflüchtige seiner realen Situation und ihren militärischen Verpflichtungen, welche er als bedrohlich oder abstoßend empfinde, entfliehe, so verliere sich jemand, der mit seinen real-weltlichen Verpflichtungen nicht zurechtkommt, in der Fiktion einer einfacheren Welt. Sowohl die real-weltliche Person als auch der Deserteur wollen in diesem Fall nicht wieder mit ihrer jeweiligen Realität konfrontiert werden. Hier, und nur hier, greife der Vorwurf des Eskapismus als Realitätsflucht. Der Gefangene in Tolkiens Analogie empfinde sein Gefängnis hingegen als eintönig. Da es ihm unmöglich ist zu entkommen, wählt er den alternativen Weg einer mentalen Flucht: »[W]hen he cannot do so, he thinks and talks about other topics than jailers and prison walls.«23 Diese Gespräche über andere Themen entsprechen der Beschäftigung mit Fiktion in einem realen Leben, das ebenfalls als eintönig empfunden wird. Hier ist jedoch – das klingt zunächst kontraintuitiv – die Motivation laut Tolkien nicht die Flucht, sondern eine besondere Form der Rückkehr in die Realität. Wenn die rezipierte Fiktion eine gut ausgearbeitete Sekundärwelt – ein verfremdetes Abbild unserer Wirklichkeit – sei, so berge ihre »arresting strangeness« das Potenzial zur (Wieder-)Erlangung24 einer erneuerten Perspektive auf unsere wirkliche Welt, befreit »from the drab blur of triteness or familiarity«.25 Mit Blick auf Tolkiens Beispiel der grünen Sonne innerhalb einer kohärenten Sekundärwelt erlaube es die Beschäftigung mit der Fiktion somit, »[to] look at green again, and be startled anew«.26 Der Gefangene überwindet durch diese Beschäftigung zwar nicht die Gefängnismauern, aber zumindest die Tristesse seines Kerkers. Er bleibt aber mit der Realität konfrontiert und kommt seiner Pflicht nach. Tolkiens Verhandlung des Eskapismusvorwurfs lässt sich mit der von uns eingeführten Terminologie systematisch so auffassen, dass Eskapismus als Kritik auf zwei Ebenen funktioniert: Auf der einen Ebene kann der Status eines Textes insofern diskreditiert werden, dass er durch die Kategorisierung als triviale Eskapismusliteratur ausschließlich auf seine Unterhaltungsfunktion reduziert wird und ihm damit implizit auch das Zusammenspiel aus »prodesse et delectare« abgesprochen wird. Auf der zweiten kann der Eskapismusvorwurf auf den Rezeptionsmodus der Leserinnen und Leser gerichtet werden, indem impliziert wird, diese würden im Vollzug der intimen, erlebnisorientierten Rezeption in eine einfachere Welt entfliehen wollen. In unserer Lesart begreifen wir Tolkien so, dass er sich beiden Zuschreibungen entgegenstellt: Durch die Hervorhebung des schöpferischen Akts und der besonderen Form der Erzählkunst wendet er sich gegen die 23 Ebd., S. 148. 24 Tolkien schreibt »re-gaining«. Ebd., S. 146 25 Ebd. 26 Ebd.
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Statuszuschreibung von Fantasy als Trivialliteratur. Durch die metaphorische Einrahmung des Eskapismus als Ausbruch eines Gefangenen hebt Tolkien hingegen hervor, dass in den Narrationen das Potenzial zur Verfremdung und Erneuerung der Perspektive auf die wirkliche Welt liege. Hiermit stellt er die Möglichkeit der Einnahme eines nicht-trivialen Rezeptionsmodus heraus. Dies zieht nicht in Zweifel, dass Fantasy nicht auch erlebnisorientiert gelesen werden kann. Stattdessen verweist Tolkiens Perspektive darauf, dass der ausnahmslosen Reduktion auf einen intimen Rezeptionsmodus ein undifferenziertes Leseverständnis zugrunde liegt. Aus heutiger Sicht ist das von Tolkien hier aufgewertete Verständnis von Eskapismus selbstverständlich problematisch: Dass Fiktion so als Ablenkung oder Verblendungszusammenhang verstanden werden kann, die benutzt wird, um beispielsweise die Arbeiterschaft bei Laune zu halten oder Herrschaftsverhältnisse zu verfestigen, liegt auf der Hand.27 Unabhängig von Tolkiens Absichten möchten wir seinen Begriff jedoch auf eine spezifische Art perspektivieren, durch die zwei für unsere Argumentation nützliche Aspekte hervorgehoben werden. Erstens: Dass ein gelungener Entwurf einer fiktiven Welt das Potenzial hat, den Blick auf die reale Welt zu schärfen, ist offenkundig. Aber ebenso offenkundig ist, dass man Fiktionen, die primär im intimen Modus rezipiert werden, dieses Potenzial nicht zuallererst zurechnet: Dies wird üblicherweise Thomas Manns Werk eher zugestanden als demjenigen von Stan Lee. Hingegen argumentieren wir dafür, dass dies sowohl unabhängig vom Genre als auch unabhängig vom Status, der einem Text zugeschriebenen wird (etwa als Hoch- oder Trivialkultur), geschehen kann. Zweitens: Tolkiens Begriff der Sekundärwelt rückt aus unserer Sicht die Ebene des Weltentwurfs im Kontrast zur Ebene von Figuren oder Handlung in den Vordergrund. Entsprechend ist die Faszination am Weltentwurf einer Fiktion für uns ein Symptom der ästhetisch-diskursiven Auseinandersetzung damit: Wer sich für die Regeln und Normen interessiert, auf denen eine fiktive Welt fußt, rezipiert nicht mehr nur in einem erlebnisorientierten Modus. Gerade wenn statt der Figuren oder der Handlung die Konstruktion einer Sekundärwelt fokussiert wird, geraten auch die Prozesse der Entfremdung in den Blick, die Tolkiens metaphorische Rückkehr in die Realität ermöglichen. 27 Gemeint sind Positionen, die sich bspw. mehr oder minder angemessen an Karl Marx’ Religionskritik orientieren, im Sinne einer Übertragung der längst zum Gemeinplatz gewordenen Wendung »Opium fürs Volk« auf Fiktion bzw. dem Konzept der Kulturindustrie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke. Bd. 1. Berlin 1976. S. 378-391; Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 17. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. Insbesondere S. 128-177.
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1.2 Sekundärwelten in der zeitgenössischen Popkultur Tolkiens Antwort auf den Eskapismusvorwurf, in Narrationen wie seinen liege das Potenzial zur Verfremdung und Erneuerung der Perspektive auf die wirkliche Welt, rückt somit in unserer Lesart die Möglichkeit nicht-trivialer ästhetisch-diskursiver Erkenntnis in den Fokus. Wie bereits von uns angesprochen, ist die Überschneidung verschiedener Rezeptionsmodi der Leseforschung zufolge ein selbstverständlicher Teil der Erlangung von Lesekompetenzen. Es liegt entsprechend nahe, diese Mehrfachperspektivierung auch auf die Rezeptionsmodi gegenüber anderen Medien als erzählenden Texten auszuweiten. Insofern könnte man sagen: Eskapismus oder eine triviale Rezeption gehören selbstverständlich zu jeglichen Unterhaltungsmedien, aber dies schließt die Aktivierung anderer, nicht-trivialer Modi keineswegs aus. Mit dem britischen Kunstkritiker Jonathan Jones ließe sich auch kurzgefasst sagen, »Art is an escape – but not a ‚mere‹ escape.«28 Das heißt noch längst nicht, dass jeder Entwurf einer Fiktion mit der Komplexität einer Sekundärwelt nach Tolkien aufwarten kann. Ihm zufolge bedarf es bei der Gestaltung einer Sekundärwelt eben noch viel »labour and thought« der Autorinnen oder Autoren. Seit der frühesten Rezeptionsgeschichte von Tolkiens Herrn der Ringe hat sich die (Unterhaltungs-)Medienlandschaft jedoch stark gewandelt. Dieser Wandel bezieht sich sowohl auf die Anzahl und Breite von popkulturellen Narrationen als auch auf ihre öffentliche Wahrnehmung. Beide Veränderungen spielen eine relevante Rolle für unsere These: Wir gehen davon aus, dass sich aufgrund der ausgestalteten popkulturellen Erzählmuster das von Tolkien ursprünglich explizit für Fantasy-Literatur herausgearbeitete Konzept der Sekundärwelt nicht mehr exklusiv auf dieses Genre und Medium beschränkt. Zudem argumentieren wir dafür, dass das Potenzial einer Sekundärwelt nicht ausschließlich von den an der Schöpfung der Sekundärwelt beteiligten Personen abhängt. Um diese These zu belegen, möchten wir zunächst auf die starke Verbreitung popkultureller Narrationen in der aktuellen Medienlandschaft eingehen, zu der man heute letztlich auch Fantasy zählt, obwohl Tolkien Fantasy zweifelsohne nicht als Popkultur verstanden hätte. Anschließend möchten wir herausstellen, wie heute im öffentlichen Diskurs über diese Narrationen gesprochen wird.
28 Jones geht von einem erweiterten Kunstbegriff aus, der über bildende Kunst hinausgeht, er nennt etwa H. G. Wells’ War of the Worlds. Jones, Jonathan: What’s wrong with a little escapism in art? In: The Guardian, 26.03.2010, https://www.theguardian.com/art anddesign/jonathanjonesblog/2010/mar/25/escapism-in-art (Stand: 04.07.2018).
Nicht-triviale Trivialitäten | 23
Fantasy im Stile Tolkiens trifft mittlerweile zunehmend in der Literaturkritik auf Akzeptanz,29 auch Textsorten wie Comics differenzieren sich aus und erhalten spätestens seit der sprachlichen Aufwertung zu »Graphic Novels« eine solche Anerkennung, dass das renommierte Time Magazine 2005 in seiner Liste der »100 Best Novels« auch den 1986 veröffentlichten Comic Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons anführt30 und die New York Times 2009 schließlich ausruft, »Comics have finally joined the mainstream.«31 Auch Videospiele werden zunehmend als ein Medium mit größerem Deutungspotenzial wahrgenommen, spätestens seit Spiele, die unabhängig von großen Herstellern – so genannte Indie-Spiele – den Massenmarkt erreichen. Als eines der ersten erfolgreichen Indie-Spiele gilt Braid (2008). Das Spiel selbst ist dem Genre der Platformer/Jump&Runs wie Super Mario Land zuzurechen und erweckt damit auf der Oberfläche den Anschein, eher der trivialen Unterhaltung zu dienen und mit einer simplen Narration – nämlich die Prinzessin zu retten – aufzuwarten. Jedoch werden beispielsweise vom Fachjournalismus Interpretationen vorgelegt, im Spiel würden durch eingeblendete Texte und durch zunehmend komplexe Gameplay-Mechaniken zwischenmenschliche Probleme oder gar die Erfindung der Atombombe reflektiert.32 Diese Entwicklung in der Wahrnehmung popkultureller Narrationen abseits von Film und Literatur ist nicht auf den angloamerikanischen Raum beschränkt. So werden inzwischen bspw. auch in Deutschland Videospiele zunehmend als Bestandteil einer modernen Medienkultur betrachtet, beispielsweise seit 2009 durch den jährlich vom Land Nordrhein-Westfalen veranstalteten Gamescom Congress im Rahmen der Videospielemesse Gamescom. Der Kongress nimmt sich nach Eigenaussage der »aktuellen Debatten der Computerspielewelt, welche sich im Spannungs29 Der Literaturkritiker Denis Scheck stellt im Auftrag von SWR Fernsehen, WDR 5 und Die Welt so beispielsweise derzeit einen »Literaturkanon für das 21. Jahrhundert« mit insgesamt 100 Büchern zusammen, in welchem neben Ovids Metamorphosen und Shakespeares Der Sturm eben auch Tolkiens Der Herr der Ringe gelistet ist. http:// www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/neugier-genuegt-schecks-buecher/index.html (Stand: 04.07.2018). 30 Time Magazine’s All Time 100 Novels. http://entertainment.time.com/2005/10/16/alltime-100-novels (Stand: 04.07.2018). 31 Gustines, George G.: Introducing The New York Times Graphic Books Best Seller Lists. In: The New York Times, 05.03.2009. https://artsbeat.blogs.nytimes.com/ 2009/03/05/introducing-the-new-york-times-graphic-books-best-seller-lists/ (Stand: 04.07.2018). 32 Reynolds, Matthew: Braid ending explained by Jonathan Blow. In: Digital Spy Online, 27.10.2010. http://www.digitalspy.com/gaming/news/a284605/braid-ending-explained -by-jonathan-blow (Stand: 04.07.2018).
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feld von wirtschaftlicher Bedeutung und gesellschaftlicher Verantwortung« bewegten, an und möchte Videospiele gar »als neue Leitindustrie der Medien-Branche« verstehen.33 In der breiten öffentlichen Wahrnehmung sind solche Entwicklungen vermutlich am deutlichsten im Bereich der TV-Serien zu bemerken. Insbesondere ab den ausgehenden 1990er Jahren wird im Feuilleton und in den Wissenschaften immer wieder das neue Goldene Zeitalter des Fernsehens diskutiert,34 welches neben anderen Faktoren vor allem auf die Veränderungen der Nutzungspraktiken der Zuschauenden und der Produktionsweisen der Studios zurückzuführen ist.35 Die räumlich und zeitlich unabhängigen, nicht-linearen Fernsehangebote erlauben es den Zuschauenden, ganze Staffeln einer Serie in kürzester Zeit ohne Unterbrechung zu schauen. Mit TV-Serien wie The Sopranos (HBO, 1999-2007), Mad Men (AMC, 2007-2015), Fargo (Netflix, seit 2014) oder The Man in the High Castle (Amazon, seit 2015) veränderten große US-amerikanische Pay-TV-Sender und aktuelle Streaming-Dienste Produktions- und Erzählweisen. Der britische Journalist Mark Lawson fasst diese Anbieter als »subscription channels that shaped a creative space similar to American independent cinema – allowing subject-matter, language and action that the ancient studios would have cut – but with a more fixed supply of funding and audiences.«36 Aber nicht nur die weitreichende Verbreitung und Anerkennung ist neu im Gegensatz zu Tolkiens Gegenwart. Aktuelle popkulturelle Narrationen sind zudem »in hohem Maße mit partizipativen und kollaborativen Angeboten des Internets verknüpft, sei es in den Kommentarspalten unter den Serien-, Staffel- oder gar Einzelepisoden-Besprechungen [von TV-Serien] der Onlineausgaben großer 33 Flyer des ersten Gamescom Congress. http://www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Ver anstaltungskalender/Flyer_gamescom-congress.pdf (Stand: 04.07.2018). 34 Vgl. etwa Thompson, Robert J.: Television’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER. New York: Syracuse University Press, 1997; Patterson, John/McLean, Gareth: Move over Hollywood. In: The Guardian, 20.05.2006, https://www.theguardian.com/film/2006/may/20/features.weekend; Leopold, Todd: The new, new TV golden age. In: CNN Entertainment, 06.05.2013, http://edition.cnn.com/2013/05/06/showbiz/golden-age-of-tv/; Leslie, Ian: Watch it while it lasts: our golden age of television. In: Financial Times, 13.04.2017, https://www.ft.com/content/68309b3a-1f02-11e7a454-ab04428977f9?mhq5j=e6 (alle genannten, Stand: 04.07.2018). 35 Vgl. Röscheisen, Thilo: ›Breaking Bad‹, die Dänen und wir. In: Drama-Blog, 30.01. 2013. http://drama-blog.de/breaking-bad-die-danen-und-wir/ (Stand: 04.07.2018). 36 Lawson, Mark: Are we really in a ›second golden age of television‹? In: The Guardian, 23.05.2013. https://www.theguardian.com/tv-and-radio/tvandradioblog/2013/may/23/ second-golden-age-television-soderbergh (Stand: 04.07.2018).
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Zeitungen, sei es in Facebook-Gruppen, Foren oder Weblogs«37 – das hier genannte Beispiel der TV-Serien lässt sich fraglos auch auf andere Unterhaltungsmedien erweitern. Was durch die partizipativen und kollaborativen Angebote für ein breites Publikum ermöglicht wird, sind in erster Linie Diskussionen über die fiktiven Figuren oder über den Plot innerhalb der Fangemeinschaften und Freundeskreise, die sich ganz im Sinne des Modus des partizipatorischen Lesens fiktionaler Texte begreifen lassen. Was darüber hinaus besprochen wird, sind z. B. die Konstruktion der erzählten Welten selbst, die Auseinandersetzung mit den in ihnen entworfenen Macht- oder Sozialstrukturen bis hin zu physikalischen Grundbedingungen in Science-Fiction- und Fantasywelten. Hierbei erlangt das an der sozial-kommunikativen Praxis orientierte partizipatorische Lesen eine neue Dimension: Es reicht über das bloße Mitredenwollen hinaus in den Bereich der schöpferischen Teilhabe, für welche gemeinschaftlich und freiwillig das investiert wird, was Tolkien für die Erschaffung einer Sekundärwelt voraussetzt, nämlich »labour and thought«. Jegliche Diskussionen, die über Plot und Figuren hinausgehen, betreffen das, was Tolkien als »inner consistency of reality« bezeichnet. Unser folgendes Argument baut auf dieser Beobachtung auf: Einige popkulturelle Narrationen, die noch als Beispiele diskutiert werden, gewinnen durch die gegenwärtig möglichen breiten Diskussionen der interessierten Öffentlichkeit an einem Potenzial, das sie vergleichbar zu Tolkiens Sekundärwelten macht. Damit ist nicht gesagt, dass einige interessierte Fans genug sind, um simplen Geschichten zur Unterhaltung eine Sekundärwelt zu unterlegen. Aber es lässt sich mit Blick auf gegenwärtige popkulturelle Phänomene unschwer erkennen, dass sich bei einigen von ihnen über Zeit und durch zunehmend breite Diskussionen durchaus etwas entwickelt, das wir als Sekundärwelt-Potenzial bezeichnen möchten. Damit, wie dieses Potenzial im Detail zustandekommt, beschäftigen wir uns im Folgenden. Wie der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser mit Blick auf das Imaginäre einer Narration festhält ist die »dargestellte Textwelt ein Sachverhalt, der gerade durch die Als-Ob-Kennzeichnung seine Bestimmung nicht in sich selber tragen kann, sondern diese immer nur in Beziehung zu etwas anderem finden muß.«38 37 Milevski, Urania; Reszke, Paul; Woitkowski, Felix: Populäre Serialität zwischen kritischer Rezeption und geschlechtertheoretischer Reflexion. In: Milevski, Urania; Reszke, Paul; Woitkowski, Felix (Hg.): Gender & Genre – Populäre Serialität zwischen kritischer Rezeption und geschlechtertheoretischer Reflexion. Würzburg 2018. S. 11-53, hier S. 16. 38 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993. S. 42. Uns ist bewusst, dass Iser Trivialliteratur gegenüber kritisch eingestellt ist (vgl. dazu beispielsweise Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Konstanz 1970. S. 17). Betrachtet man Fiktionen aber losgelöst von wertenden
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Durch die Veränderungen der (Unterhaltungs-)Medienlandschaft unterliegt dieses Potenzial heute den Blickwinkeln und Zugängen einer Vielzahl Partizipierender, die sich in einem kontinuierlichen Austausch untereinander befinden. Dies gilt einerseits auf Seiten der Rezipierenden mittels der angesprochenen Austauschmöglichkeiten der Digitalisierung und Social Media. Mit dem Konzept des Franchisings und der multimedialen Erweiterung und Verbreitung sind andererseits auch auf Seiten der Produzierenden immer mehr Autorinnen und Autoren, Produzierende und andere kreative Personengruppen an der Entfaltung der Narrationen über verschiedene Medienverbünde und Produktionsstätten hinweg beteiligt. Diese Breite zeigt sich an Narrationen wie der von uns als Beispielwelt herangezogenen Reihen von The Walking Dead, die sich auf (mindestens) zwei kohärente, sich im Detail aber unterscheidende Erzählstränge beziehen: Die eine Welt wird in den Erzählungen der Comicreihe (The Walking Dead, seit 2002), einer bislang sechsteiligen Romanreihe (Robert Kirkman’s The Walking Dead, seit 2012) und einer Videospielreihe der Firma Telltale (The Walking Dead – a telltale game series, seit 2012) entfaltet, die andere in zwei TV-Serienproduktionen (The Walking Dead, AMC seit 2010; Fear the Walking Dead, Amazon Video seit 2015). Das Bestreben sowohl auf Seiten der Produzierenden als auch auf Seiten der Rezipierenden, mögliche Kohärenzbrüche zu vermeiden, lässt sich als Indiz dafür lesen, dass – im Gegensatz zum Reboot oder zum Reimagining, der gänzlichen Neugestaltung einer bekannten Erzählung –, am Ideal einer kohärenten erzählten Welt festgehalten wird. Auf der Kehrseite offenbart dieses Bestreben jedoch auch einen Kampf um Deutungshoheit und die narrative Hegemonie: Während durch das allein den Produzierenden zur Verfügung stehende Mittel der Kanonisierung bestimmte Erzählungen ihre Teilhabe an der narrativen Kontinuität einer Sekundärwelt verlieren können,39 erlaubt das narrative Werkzeug der Retroactive Continuity (RetCon) sowohl auf Produktionsseite (etwa mittels Prequels, Sequels, online zugänglicher Webisodes, Audiokommentaren auf DVD-Veröffentlichungen, etc.) als auch auf Rezeptionsseite (Fanfiction, Fan-Wikis, etc.) im Nachhinein Kohärenzbrüche zu schließen oder auf bestimmte Art plausibel zu machen. Auch der direkte Austausch der beiden Gruppen etwa bei extra hierfür angelegten Diskussionspanels auf popkulturellen Conventions ist möglich. Unserer Ansicht nach ist Kategorisierungen, so lässt sich sein Argumentationsgang auf popkulturelle Phänomene anwenden. 39 2014 wurde beispielsweise Erzählungen aus zahllosen Romanen, Comics und Videospielen im Star Wars-Universum diese Teilhabe am Kanon entzogen. Vgl. Baker-Whitelaw, Gavia: ›Star Wars‹ just nuked its entire Expanded Universe. In: The Daily Dot, 26.04.2014. https://www.dailydot.com/parsec/star-wars-expanded-universe-not-canon/ (Stand: 04.07.2018).
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es die Vielzahl der Beteiligten an den verwobenen kommunikativen Austauschprozessen, durch welche die möglichen Rezeptionsmodi verhandelt und die Potenziale einer Sekundärwelt ihre Bestimmung finden können. Die Möglichkeit von Austausch- und Beteiligungsprozessen ist unseres Erachtens dadurch bedingt, dass – um den überkommenen Dualismus zu bemühen – Popkultur als kulturelles Massenphänomen im Gegensatz zur Hochkultur einen egalitäreren Zugriff erlaubt: »Pop«, das galt schon in den 1990er Jahren »soll sich ja gerade jeder leisten können und jeder verstehen.«40 Zusammenfassend lässt sich also sagen: Auch dann, wenn die Autorinnen und Autoren die für Tolkien wesentliche Rückbezüglichkeit zu unserer wirklichen Welt weniger komplex ausgestaltet haben, kann diese im partizipatorischen öffentlichen Diskurs kollaborativ entwickelt werden, indem die Erzählungen beispielsweise im Feuilleton oder in Fandiskussionen durch dezidiert ästhetisch-diskursive Überlegungen als gesellschaftliche Kommentare wahrgenommen werden. Dies möchten wir im Folgenden kurz anhand einiger Beispiele vor Augen führen. Um die kommunikativen Strategien, durch die in diesen öffentlichen Diskussionen die Rückbezüglichkeit popkultureller Narrationen zu unserer Welt hergestellt wird, übersichtlich darstellen zu können, unterscheiden wir grob zwischen zwei Strategien, die wir als quasi-dokumentarisch und quasi-allegorisch bezeichnen. Mittels der ersten Strategie wird bei Produktionen – trotz ihrer klar ausgewiesenen Fiktionalität – die hohe Realitätsnähe als argumentative Ausgangsbasis perspektiviert, wie dies beispielsweise sehr deutlich bei den TV-Serien The Wire (HBO, 2002-2008) oder Mad Men (AMC, 2007-2015) der Fall ist: der mehrstimmige Blick auf die unter einer hohen Kriminalitätsrate leidende Stadt Baltimore aus Perspektiven der Drogenszene, des Hafenpersonals, der Stadtverwaltung, des Schulsystems und der Nachrichtenmedien auf der einen Seite, auf der anderen Aufstieg und Fall einer Werbeagentur an der New Yorker Madison Avenue, deren Schaffen den US-amerikanischen Lebensstil der in der Serie inszenierten 1960er Jahre prägt. Im Feuilleton wird dem immer wieder mit der Hervorhebung der kulturellen Eingebundenheit nachgegangen, etwa durch Statements wie »Kein Roman hat mich so beschäftigt wie The Wire – das ist auch so zu verstehen: The Wire ist ein Roman. Einer der besten«.41 Dass bei einem Artikel mit der Überschrift »Ein Balzac für unsere Zeit« implizit vom realistischen Roman ausgegangen wird, 40 Holert, Tom/Terkessides, Mark: Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In: Holert, Tom/Terkessides, Mark (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin, Amsterdam 1996. S. 5-20, hier: S. 13. 41 Kämmerlings, Richard: Ein Balzac für unsere Zeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.05.2010. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/the-wire-ein-balzac-fuer-un sere-zeit-1581949.html (Stand: 04.07.2018).
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ist offenkundig. Während man nun argumentieren könnte, hier werde lediglich Popkultur zu Hochkultur geadelt, würden wir diese Dynamik anders beschreiben: Lässt man einen normativ-wertenden Blick hinter sich, so wird hier durch eine ästhetisch-diskursive Argumentation – nämlich den Rückbezug auf ein etabliertes Genre – das Potenzial einer Narration in den Fokus gerückt, ein komplexes Phänomen wie den Verfall post-industrieller Großstädte durch ein fiktives Figurenensemble aus etwa vierzig Figuren unterhaltsam darzustellen und gleichzeitig neue Einsichten und Perspektiven auf dieses Thema zu bieten. Denn trotz der gegenüber The Wire häufig genutzten quasi-dokumentarischen Zuschreibung eines hohen Realitätsgrads ist es offensichtlich, dass eine amerikanische Großstadt eben nicht nur durch das Wirken von vierzig Menschen erklärbar ist. In einer Narration aber einen solchen Abstraktionsgrad zu erreichen, dass dieser Eindruck dennoch plausibel wird, ist genauso viel »labour and thought« wie die Geographie und Mythologie eines Herrn der Ringe. In diesem Fall sind es aber nicht Elemente wie etwa eine grüne Sonne, die vielschichtig und trotzdem verständlich ausgearbeitet werden müssen. Es sind stattdessen die einzelnen Figuren, die die komplexen Regeln durchscheinen lassen, auf denen die fiktiven Institutionen basieren, in denen sie sich bewegen. Die Konstruktion dieser Regelsysteme ist es, die sowohl Fantasy-Sekundärwelten ausmacht, als auch diejenigen Sekundärwelten, die wir hier in den Blick nehmen. Jedenfalls lässt es sich heute unter der These, TV-Serien seien das »narrative Leitmedium«42 unserer Zeit und damit auch ihr kritischer Spiegel, kaum eine namhafte Tages- oder Wochenzeitung im zumindest englisch- oder deutschsprachigen Raum nehmen, aktuelle TV-Serienproduktionen zu diskutieren. Dabei ist es inzwischen auch selbstverständlich, dass die Schöpferinnen und Schöpfer der popkulturellen Narrationen solche Diskussionen befördern, indem sie eigene Perspektiven auf ihr Werk in die Öffentlichkeit tragen. In einem Artikel, der das zehnjährige Jubiläum von The Wire nutzt, um die Serie noch einmal zu reflektieren, werden Äußerungen des Schöpfers David Simon aufgezählt, mit denen er seine Serie beschreibt: »Simon would later describe The Wire in different ways: as ›Greek tragedy for the new millennium,‹ with sclerotic institutions playing the role of callous, indifferent gods; as a story about ›the triumph of capitalism over human value‹; and as a chronicle of ›the decline of the American empire‹«.43 42 Metz, Markus/Seeßlen, Georg: Die Welt als Serie – die Serie als Welt. In: Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 13.08.2017. http://www.deutschlandfunk.de/erzaehlen-imwandel-die-welt-als-serie-die-serie-als-welt.1184.de.html?dram:article_id=389260 (Stand: 04.07.2018). 43 Lynskey, Dorian: The Wire, 10 years on: ›We tore the cover off a city and showed the American dream was dead‹. In: The Guardian, 06.03.2018. https://www.theguar
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Hier zeigt sich sowohl, dass quasi-dokumentarische Muster genutzt werden (»chronicle«), als auch dass Äußerungen der Produziereden von der Öffentlichkeit dankbar aufgenommen werden und zwangsläufig zur Ausweitung an Interpretationen und letztlich zur Anreicherung des Sekundärweltpotenzials dieser und ähnlicher Erzeugnisse führen. Dergleichen ist auch auf Rezipierendenseite zu beobachten. So schlägt sich die Suche nach ästhetisch-diskursiven Erkenntnismöglichkeiten auch in Forendiskussionen zu TV-Serien nieder, wie z. B. der folgendermaßen betitelte Beitrag zeigt: »Mad Men is the story of Don’s fall and Peggy’s rise, and the two are closest when their trajectories intersect in ›The Suitcase‹ – the exact middle of the show (episode 46 of 92, and exactly halfway through season 4).«44 Die Serie wird hier jenseits der Figuren- und Handlungsebene sowohl auf einer produktionsästhetischen wie auf einer diskursiven Ebene durchdrungen. Vor dem Hintergrund des gesamten Aufbaus wird den dargestellten Inhalten eine neue Bedeutungsdimension zugeordnet: Die Entwicklungen der je weiblichen und männlichen Hauptfiguren werden als Symbol für das langsame, aber sichere Fortschreiten der Gleichberechtigung von Frauen in den USA gelesen – die Struktur der Serie wird zum Kommentar über die reale amerikanische Geschichte. Ohne die Annahme eines quasi-dokumentarischen Status von Mad Men wäre ein solcher argumentativer Sprung vom strukturellen Aufbau des Narrativs zur Kritik an politischen Systemen nicht ohne Weiteres möglich. Auf die dargestellte Beobachtung reagieren entsprechend andere Nutzerinnen und Nutzer sowohl durch Kommentare als auch durch die wechselseitige Bewertung eben jener Kommentare. Der am höchsten bewertete Beitrag ergänzt: »You can also note that their argument in that episode, where Don tells her ›That’s what the money’s for!‹ is exactly in the middle of the episode. So that line is the midpoint of the entire series.«45 Das strukturelle Argument wird also aufgegriffen und auf eine einzelne Episode angewendet. Dort streiten die Hauptfiguren über Anerkennung guter Leistungen im Beruf und der männliche Vorgesetzte vertritt die These, er müsse sich nicht bei seiner Angestellten für gute Ideen bedanken, dafür sei das Gehalt da – die Darstellung der Anfänge des Feminismus wird um eine kritische Reflexion des Kapitalismus ergänzt. Solche und weitere Argumente sowohl in dieser Forendisdian.com/tv-and-radio/2018/mar/06/the-wire-10-years-on-we-tore-the-cover-off-a-city -and-showed-the-american-dream-was-dead (Stand: 04.07.2018). 44 Foreneintrag auf Reddit.com von spacemanspiff12, 28.03.2018. https://www.reddit.com/r/madmen/comments/87u2e9/mad_men_is_the_story_of_dons_fall_and_peg gys_rise/ (Stand: 04.07.2018). 45 Foreneintrag auf Reddit.com von Puggpu, 28.03.2018. Ebd.
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kussion, als auch in ähnlichen Diskussionen der erwähnten popkulturellen Narrationen funktionieren nur vor dem Hintergrund der Annahme, die Produktionen seien quasi-dokumentarisch, d. h. sie orientierten sich unmittelbar an Geschichte und/oder Gegenwart der wirklichen Welt. Quasi-allegorische Strategien finden sich gehäuft im Fall von TV-Serien wie Game of Thrones (HBO, seit 2011) oder BoJack Horseman (Netflix, seit 2014). Auf den ersten Blick haben nämlich die düstere Fantasy-Saga und die Erzählung um ein anthropomorphes Pferd wenig mit unserer Realität gemein, werden also üblicherweise nicht quasi-dokumentarisch perspektiviert. Stattdessen werden in den Feuilletons jeweils bestimmte Aspekte der TV-Serien herausgegriffen und als Allegorien bestimmter Gesichtspunkte der Gesellschaft gelesen – das vertrackte und intrigante Spiel um politische Macht in Game of Thrones als »universell verständliche Welterzählung unserer Zeit«,46 das existentialistisch prekäre Leben eines abgehalfterten ehemaligen TV-Serienstars in BoJack Horseman als »a hilarious meditation on a peculiarly modern kind of unhappiness.«47 Und auch hier zeigt die Auseinandersetzung mit der Serie in Fan-Blogs einen ästhetisch-diskursiven Fokus. Im Artikel »Bojack Horseman: The Depressing Purpose of its Anthropomorphic Animals«48 wird das ästhetische Mittel des anthropomorphen Tiers für eine Gesamtinterpretation der Serie und die sich daraus für die reale Welt ergebende Rückbezüglichkeit genutzt: »What’s interesting about the main anthropomorphic animal characters of Bojack isn’t the fact that they’re animals walking around and living amongst humans. Instead, the intrigue comes from what the animals those characters are based on represent, and how those animals tie into the show’s main ideas. [...] The horse was a symbol of power, giving warriors higher ground during battle and made the humans riding them look imposing and dignified. [...] Transportation has evolved, so the horse has become a has-been, a relic of an older era, much like Bojack Horseman himself. [...] This perfectly leads into an exploration of the tragic has-been, the celebrity whose fame has disappeared and whose name has faded into obscurity. The lack of attention leaves the has-been depressed, alone, aimless, and constantly attempting to get back into the spotlight.«49 46 Metz; Seeßlen: Die Welt als Serie. 47 Roddrick, Stephen: The world according to ›BoJack Horseman‹. In: The New York Times, 22.06.2016. https://www.nytimes.com/2016/07/24/magazine/the-world-accord ing-to-bojack-horseman.html (Stand: 04.07.2018). 48 Lazar, Hannah: Bojack Horseman: The Depressing Purpose of its Anthropomorphic Animals. In: HSMediaNerd, 26.08.2016. https://hsmedianerdreviews.blogspot.com/ 2016/08/bojack-horseman-depressing-purpose-of.html (Stand: 04.07.2018). 49 Ebd.
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Für die Stärkung der Argumentation werden nicht nur Bilder aus der besprochenen Serie genutzt, sondern auch Jacques-Louis Davids Gemälde Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhardt (1800). Mittels des durch Davids Gemälde antizipierten und in der Darlegung explizierten Hintergrunds der realen Geschichte der Nutzung des Pferdes für Transport- und Militärzwecke wird die Serie neu lesbar, eröffnet damit aber wiederum auch neue Lesarten der Realität in Bezug auf Menschen, deren Fähigkeiten aufgrund von technologischem oder gesellschaftlichem Wandel nicht mehr gebraucht werden. So werden auch die anderen anthropomorphen Figuren zum Träger kulturhistorischer Nutztierdiskurse, statt zu bloßen Aufhängern für Wortspiele. Es äußert sich also sowohl in den aufgezeigten quasi-dokumentarischen als auch in den quasi-allegorischen Auslegungen das Bestreben, diese Erzählungen durch die Erweiterung der Deutungsangebote aufzuwerten; Fragen nach Eskapismus oder nach der Trivialität, die solchen Narrationen nicht zuletzt auch aufgrund der sie üblicherweise transportierenden Medien anhaften, stellen sich dabei nicht mehr. Auf Basis dieser Beobachtungen der öffentlichen Diskussion fassen wir zusammen: Popkulturelle Narrationen – auch jenseits des von Tolkien in den Blick genommenen Fantasy-Literatur – können mithilfe einer ästhetisch-diskursiv motivierten Auseinandersetzung durch eine breit gestreute Öffentlichkeit die zugrundeliegende Sekundärwelt soweit entfalten, dass sie die von Tolkien beschriebene Komplexität, Konsistenz und Kohärenz erreichen. Mit Rückbezug auf Tolkien kann man also sagen, er hatte Recht: »To make a Secondary World [...] will probably require labour and thought […].«50 – aber heutzutage ist diese Arbeit verteilt auf die Schultern mehrerer und liegt nicht mehr nur in der Verantwortung der ursprünglichen Schöpferinnen und Schöpfer einer Sekundärwelt. Und diejenigen popkulturellen Narrationen, bei denen dies der Fall ist, möchten wir im Folgenden verdichtet als popkulturelle Sekundärwelten bezeichnen. Bisher konnten wir zeigen, wie sich eine erste Unterscheidung zwischen Trivial und Nicht-Trivial verstehen lässt. Hatten wir zu Beginn angedeutet, dass The Walking Dead einerseits als Horrorerzählung über eine Gruppe Überlebender gelesen werden kann, andererseits aber auch die Möglichkeit bietet, über Themen wie Erinnerungskultur nachzudenken, lässt sich diese Differenzierung nun präziser fassen: Während die erste Auffassung maßgeblich die fiktiven Figuren und den Handlungsverlauf in den Blick nimmt, orientiert sich die zweite Auffassung an den Gegebenheiten und Regelsystemen der fiktiven Welt, die der Handlung zugrunde liegen. Komplexe Sekundärwelten, die in popkulturellen Erzählungen insbesondere in der Gegenwart häufig kollaborativ diskutiert und ausgearbeitet wer50 Tolkien: On Fairy-Stories. S. 140.
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den, erlauben es mit ihrer kohärenten und faszinierenden Fremdartigkeit, bestimmte Aspekte unserer wirklichen Welt neu zu perspektiveren. Beide Zugänge hängen schließlich vom jeweiligen Rezeptionsmodus ab, der an den Text herangetragen wird und der sich nach ihrem Zweck unterscheiden lässt: der erste Zugang verfolgt den Genuss der Lektüre durch die Teilhabe an den Erlebnissen der Figuren als Selbstzweck, während der zweite Zugang eine Erkenntnis durch die ästhetisch-diskursive Durchdringung der Sekundärwelt als Zweck setzt. Nicht ungewöhnlich für popkulturelle Erzählungen ist, dass beide Modi zusammenfallen können. Das für unser Vorhaben erarbeitete Konzept der Sekundärwelten lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Betrachtet man Sekundärwelten, so nimmt man eine Perspektive auf fiktionale Narrationen ein, die die Beschaffenheit ihrer Weltkonstruktion fokussiert, mit ihren implizit und explizit ausformulierten Regelsystemen und Konventionen sowie ihren (Natur-)Gesetzmäßigkeiten. Figuren und Handlung sind dabei nur insoweit relevant, als dass sie Rückschlüsse über die Beschaffenheit der Weltkonstruktion ermöglichen. Durch diese Betrachtungsweise können verschiedene Aspekte der wirklichen Welt neu in den Blick geraten. Im Gegensatz zu Tolkien gehen wir davon aus, dass diese Perspektivierungsmöglichkeit sowohl über das Genre Fantasy als auch über das Medium Schrift hinausgeht. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger medialer und kommunikativer Entwicklungen mussten wir diesen Begriff noch stärker aktualisieren. Damit betonen wir, dass popkulturelle Narrationen sich über verschiedene Medien erstrecken können sowie durch einen egalitären Zugang charakterisiert sind, der wiederum eine breite Diskussion durch die Rezipierenden ermöglicht. Durch unsere Aktualisierung des Sekundärweltbegriffs berücksichtigen wir somit, dass in der Nutzung moderner Kommunikationsmedien die Ausgestaltung der Sekundärwelten häufig kollaborativ und über verschiedene Medienkanäle voranschreitet. Und wir berücksichtigen auch, dass eine partizipatorische Rezeption mit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion besteht, in der ästhetisch-diskursive Positionen verhandelt werden. Um unsere Konzeption dieses Begriffs mit den erwähnten Überlegungen zu aktualisieren, möchten wir somit kurzgefasst von popkulturellen Sekundärwelten sprechen. Im Folgenden geht es uns nun darum zu zeigen, inwiefern die Beschäftigung mit popkulturellen Sekundärwelten auch auf erkenntnistheoretischer Ebene bereichernd sein kann, nämlich in dem Sinn, dass sie das Potenzial bereitstellt, nichttriviales Wissen hervorzubringen.
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2 MODALES WISSEN UND GEDANKENEXPERIMENTE Haben wir bis hierher näher bestimmt, was wir unter popkulturellen Sekundärwelten verstehen, müssen wir nun deutlich machen, weshalb es uns auf erkenntnistheoretischer Ebene lohnenswert erscheint, sich mit ihnen zu beschäftigen. Wir wollen zusätzlich zu den Strategien der quasi-dokumentarisch oder quasi-allegorisch gebildeten Rückbezüglichkeit zu unserer Welt eine weitere Option anbieten und möchten zunächst aus erkenntnistheoretischer Sicht diskutieren, inwiefern Befunde über popkulturelle Sekundärwelten über die Reproduktion von Trivialitäten hinausgehen können. Der Philosoph Dustin Stokes zeigt, dass verschiedenste Kunstformen das Potenzial aufweisen, eine besondere Form nicht-trivialen Wissens greifbar zu machen: »Art enables modal knowledge, in particular, knowledge of or about possibility. […] I argue that art is especially adept at providing us with knowledge of modal truths. Novels, films, theater productions, and paintings represent counteractual possibilities, the experience of which leads to the acquisition of modal knowledge.«51
Auch wenn durch seine Reihung verschiedener Kunstformen, die auf den ersten Blick allesamt eher dem Bereich der Hochkultur zugeordnet werden könnten, der Gedanke naheliegt, dass die von ihm als besonders herausgestellte Wissensform nicht auf popkulturelle Sekundärwelten übertragbar sei, muss klar sein, dass Stokes’ Kunstbegriff hier sehr weit gefasst ist und er explizit auch jene Welten einschließt, die wir im Auge haben: die fünf konkret betitelten Narrationen, anhand derer er seinen Gedanken der »counteractual possibilities« deutlich macht, umfassen Herman Melvilles Moby Dick, Orson Welles’ Citizen Kane, George Orwells 1984, die Science-Fiction Erzählung Stranger in a Strange Land von Robert A. Heinlein sowie die Matrix-Filmreihe der Geschwister Wachowski.52 Auch wenn man über die Zuordnung mancher Werke streiten könnte, so dürfte unstrittig sein, dass zumindest bei den letzten beiden Erzählungen popkulturelle Sekundärwelten in unserem Sinne entfaltet sind.53 Modales Wissen ist im Sinne von Stokes
51 Stokes, Dustin: Art and Modal Knowledge. In: Lopes, Dominic; Kieran, Matthew (Hg.): Knowing Art – Essays in Epistemology and Aesthetics. Springer 2006. S. 67-81, hier S. 69. 52 Ebd., S. 79f. 53 Im Falle der Matrix-Filme als Teil eines Franchise, welches zudem Bücher, eine AnimeSerie und Videospiele beinhaltet, wird diese Sekundärwelt sogar im oben beschriebenen
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nicht nur Wissen um Möglichkeiten, sondern insbesondere ein propositionales Wissen, welches allererst aus Möglichkeiten heraus entsteht, und eine Art »wissen, dass p, falls x« bietet. Mit dem Gedanken der counteractual possibilities von Narrationen greift Stokes einen Gedanken auf, der sich bis zu Aristoteles zurückführen lässt: »[…] a poet’s object is not to tell what actually happened but what could and would happen either probably or inevitably.«54 Die Vielfalt dieser wahrscheinlichen oder notwendigen Möglichkeiten als Grundlage modalen Wissens wird insbesondere vor dem Hintergrund von Sekundärwelten stark erweitert, welche eben weder an die Faktizität unserer gesellschaftlichen Regelsysteme und Konventionen noch an die (Natur-)Gesetzmäßigkeiten unserer wirklichen Welt gebunden sind, obgleich sie als Abbild aus ihr hervorgehen. Auch Iser betont diese Qualität des Imaginären, dessen Inszenierung der »Erscheinung dessen [gilt], was nicht gegenwärtig zu werden vermag«,55 und so »zu einem anthropologischen Modus [wird], der insoweit eine Gleichrangigkeit mit Wissen und Erfahrung beanspruchen kann, als er das gegenwärtigen läßt, was der Wißbarkeit und Erfahrbarkeit verschlossen bleibt.«56 Unsere These ist es nun, dass popkulturelle Sekundärwelten neben trivialen auch nicht-triviale Erkenntnisse im Sinne modalen Wissens erlauben, werden sie aus einem ästhetisch-diskursiven Rezeptionsmodus heraus betrachtet. Auf diese Weise perspektiviert, bieten Sekundärwelten die Grundlage für eine komplexe Erweiterung der Methode des philosophischen Gedankenexperiments.57 In einer lockeren Charakterisierung lassen sich Gedankenexperimente als eine Was-wärewenn-Frage verstehen, bei der im Gegensatz zu einem empirisch verfahrenden Experiment ein Problem in einer rein gedanklichen Auseinandersetzung systematisch analysiert wird. Eingesetzt würden Gedankenexperimente, so der Philosoph Noël Carroll, zum »framing, probing, and/or challenging [of] definitions, for testing ways of setting up a question or a problem, for making precise distinctions,
Modus der Kollaboration und Partizipation auf Seiten der Produzierenden und Rezipierenden entfaltet. 54 Aristoteles: Poetics. In: Fyfe, W. H. (Hg.): Aristotle in 23 Volumes, Bd. 23. Cambridge (MA), London 1932. 1451a. 55 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. S. 505. 56 Ebd., S. 508. 57 Zumindest mit Blick auf Literatur als Gedankenexperiment ist diese Überlegung zwar nicht neu, aber bei weitem nicht etabliert. Vgl. zu dieser Debatte aktuell etwa Swirski, Peter: Of Literature and Knowledge. Explorations in Narrative Thought Experiments, Evolution, and Game Theory. London 2007; Mikkonen, Jukka: The Cognitive Value of Philosophical Fiction. London, New York 2013.
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revealing adequacy conditions, tracing entailments and inference patterns, proposing possibility proofs, and assessing claims of conceptual necessity.«58 Hierbei werden häufig – jedoch nicht ausschließlich – kontrafaktische oder prognostische Annahmen getroffen, mit der eine uns bekannte Gegebenheit verändert wird, um mögliche Folgen oder Voraussetzungen besser zu durchdringen, oder es wird mit Hilfe der Gedankenexperimente für oder gegen eine bestimmte Theorie argumentiert: Normalerweise ist die Welt soundso beschaffen, doch nehmen wir einmal an, dass ein bestimmter Aspekt unserer Wirklichkeit verändert oder ausgetauscht würde, was würde sich daraus für den Rest unserer Welt ergeben? Gedankenexperimente seien, wie der Philosoph Michael A. Bishop sagt, als »imaginary fantasy«59 mit erkenntnistheoretischem Wert aufzufassen. Dieser erkenntnistheoretische Wert kann mit den von uns eingeführten Begrifflichkeiten präzisiert werden: Er ist nicht-trivial und wird in Form von modalem Wissen repräsentiert, also »wissen, dass p, falls x«. Es lässt sich fragen, weshalb wir einen scheinbaren Umweg über Sekundärwelten befürworten, obwohl Gedankenexperimente bereits als Methode etwa in der Philosophie etabliert sind. Hierauf lässt sich aus zwei Richtungen entgegnen. Auf einer didaktischen Ebene lässt sich die von uns beschriebene egalitäre Zugriffsmöglichkeit und der breite Bekanntheitsgrad dieser Welten hervorheben, die vor allem (wissenschaftlichen) Laien den Zugang zu wissenschaftlichen Problemstellungen erleichtern können, welche sich anhand eben dieser Welten diskutieren lassen. Noch zentraler erscheint uns allerdings die Betrachtung popkultureller Sekundärwelten auf methodischer Ebene: Gängige Gedankenexperimente, insbesondere in der zeitgenössischen Moralphilosophie – von Philippa Foots Trolley Problem60 über John Harris’ Survival Lottery61 zu Judith Thomsons Dying Violonist62 und Falling Fat Man63 – sind unseres Erachtens nach zu Gunsten einer operationalisierbaren Rationalität stark entkontextualisiert und eindimensional in ihrer 58 Carroll, Noël: The Wheel of Virtue. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 1 (2002). S. 3-23, hier S. 8. 59 Bishop, Michael: An epistemological role for thought experiments. In: Shanks, Niall (Hg.): Idealization in contemporary Physics, Poznan Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities. Amsterdam 1998. S. 19-33, hier S. 26. 60 Foot, Philippa: The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect. In: Oxford Review, 5 (1967). S. 5-15. 61 Harris, John: The survival lottery. In: Philosophy 50 (1975). S. 81-87. 62 Thomson, Judith J.: A Defense of Abortion. In: Philosophy & Public Affairs, 1 (1971). S. 47-66. 63 Thomson, Judith J.: Self-Defense. In: Philosophy & Public Affairs, 4 (1991). S. 283310.
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Betrachtung. Die in sich schlüssig und kohärent erschaffenen Wirklichkeiten einer Sekundärwelt führen im Gegensatz zu den schematischen Darstellungen der genannten Autorinnen und Autoren ein verwobenes Netz von Zusammenhängen vor Augen, welches zuallererst einen Kontext für die Betrachtungen liefert und trotz der offenkundigen Fiktionalität häufig als dichter an unserer Lebenswelt verstanden wird, wie wir etwa anhand von Mad Men oder BoJack Horseman gezeigt haben. So werden anstelle von binären Entscheidungszwängen komplexe, verwobene und oft mehrstimmige Perspektiven möglich.64 Auch die Philosophin Martha Nussbaum unterstützt diese These in Hinblick auf das Potenzial fiktiver Welten: »Sometimes a very brief fiction will prove a sufficient vehicle for the investigation of what we are at that moment investigating; sometimes [...] we need the length and complexity of a novel. In neither case, however, would schematic examples prove sufficient as a substitute [...]. [E]xamples, setting things up schematically, signal to the readers what they should notice and find relevant. They hand them the ethically salient description. This means that much of the ethical work is already done, the result ›cooked‹. The novels are more openended, showing the reader what it is to search for the appropriate description and why that search matters. (And yet they are not so open-ended as to give no shape to reader’s thought.) By showing the mystery and indeterminacy of ›our actual adventure‹, they characterize life more richly and truly – indeed, more precisely – than an example lacking those features ever could; and they engender in the reader a type of ethical work more appropriate for life.«65
Nussbaum kritisiert die inhaltliche Begrenztheit schematischer Gedankenexperimente und deren geleitete Ausdeutungsmöglichkeit, die wir als eindimensional aufgrund von Operationalisierbarkeit beschrieben haben, und stellt dieser den breiteren Spielraum einer Erzählung und die den Rezipierenden zugestandene Freiheit der Betrachtungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten entgegen. Diese Überlegung deckt sich mit dem Anspruch eines ästhetisch-diskursiven Zugangs.66 64 Vgl. hierzu auch die Argumentation Eileen Johns über den erkenntnistheoretischen Mehrwert von Details in Erzählungen gegenüber schematischen Gedankenexperimenten. John, Eileen: Literary fiction and the philosophical value of detail. In: Kieran, Matthew/Lopes, Dominic (Hg.): Imagination, Philosophy and the Arts. London 2003. S. 142-160, hier S. 144. 65 Nussbaum, Martha: Form and Content, Philosophy and Literature. In Nussbaum, Martha (Hg.): Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. Oxford University Press 1990. S. 3-54, hier S. 47. 66 Es ließe sich zudem diskutieren, in welchen Modi sich schematische Gedankenexperimente – vor dem Hintergrund ihres Anspruchs der Situationsunabhängigkeit – überhaupt rezipieren lassen.
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Während Nussbaum den Aspekt der lebendig ausmalenden Darstellung insbesondere von Figuren und Handlung (»our actual adventure«) im Roman hervorhebt, fokussieren wir in erster Linie, inwiefern popkulturelle Narrationen ihre Sekundärwelten lebendig ausmalen. Gerade die Sekundärwelten jener Erzählungen, die im Feuilleton mit Hinblick auf ihre quasi-dokumentarischen bzw. -allegorischen Potenziale hin besprochen werden – bei denen sich in der breiteren öffentlichen Beschäftigung also bereits ein ästhetisch-diskursiver Zugang etabliert hat – scheinen für diese Betrachtung prädestiniert zu sein: Gemein ist ihnen, dass sie in ihrer inhärenten Konsistenz eine eigene Faktizität von (Natur-)Gesetzmäßigkeiten schaffen, denen man regelhaft folgen kann und die es gleichzeitig erlauben, durch den Mooreeffoc-Effekt bestimmte Aspekte unserer eigenen Wirklichkeit wie unter einem Zerrspiegel herauszugreifen und Alltägliches in neuem Licht zu betrachten. Aufgrund ihrer Konsistenz erlauben uns die Sekundärwelten, Bezüge herzustellen und Schlüsse zu ziehen, die vor dem Hintergrund der inhärenten Faktizität als wahrscheinlich oder notwendig angesehen werden können. Sekundärwelten sind in der Lage, mit den nomologischen – d. h. den an den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung angepassten – Möglichkeiten und Notwendigkeiten unserer Welt zu spielen, diese ins Extrem zu strapazieren oder sie gar zu durchbrechen und so metaphysische Modalitäten anzunehmen:67 Das quasi-dokumentarische Potenzial der Sekundärwelt von etwa The Wire zeichnet sich eben dadurch aus, dass die darin dargelegte Sekundärwelt eine größtmögliche Nähe zu unseren aktualen Modalitäten suggeriert, die die Komplexität moderner Großstädte (und westlicher Staaten) durch vierzig Figuren übersichtlich darstellt. Die Sekundärwelten von Erzählungen wie Ghost in the Shell (als Manga 1989, als Anime 1995) oder Westworld (HBO, seit 2016) reizen die Faktizität unserer Primärwelt hingegen maximal aus, während Harry Potter oder Doctor Who (BBC, seit 1963) metaphysische Modalitäten annehmen und bspw. Magie oder Zeitreisen glaubhaft in die Welt einbinden. Auch wenn die aus diesen Welten gewonnenen Erkenntnisse jenseits unserer alltäglichen Erfahrung liegen, sind sie erstens nicht willkürliche 67 Zum Unterschied zwischen nomologischen und nicht-nomologischen Modalitäten siehe Kripke, Saul: Naming and Necessity. Cambridge 1980. Tamar Szabó Gendler und John Hawthorne liefern ein hilfreiches Beispiel zur ersten Differenzierung nomologischer und nicht-nomologischer im Sinne metaphysischer Möglichkeiten: So sei es a) weder nomologisch noch metaphysisch möglich, dass etwas gleichzeitig rot und nichtrot ist; b) metaphysisch, nicht aber nomologisch möglich, dass sich etwas schneller als das Licht bewegt; und c) sowohl nomologisch, als auch metaphysisch möglich, dass sich etwas schneller als das Space-Shuttle bewegt. (Siehe Gendler, Tamar Szabó/ Hawthorne, John: Conceivability and Possibility. In: Gendler, Tamar Szabó/Hawthorne, John (Hg.): Conceivability and Possibility Oxford 2002. S. 5.)
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Annahmen, da die Sekundärwelt aufgrund ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten eben nicht in dem Ausmaß »open-ended« ist, dass der Vorstellung der Rezipierenden keine Grenzen gesetzt sind. Die Erkenntnisse sind zweitens aber auch nicht trivial, sondern zeigen sich als modales Wissen. Im Kontext der Sekundärwelt können die Rezipierenden »wissen, dass p, falls x« und sie können dieses Wissen auf seine Plausibilität hin untersuchen, selbst wenn es vor den Bedingungen unserer Wirklichkeit absurd wäre. Denn die »ästhetische Erfahrung [funktioniert] gerade dadurch, daß sie die Möglichkeiten der Erfahrbarkeit zu anderen Bedingungen als zu denen der alltäglichen Erfahrung nutzt.«68 Wie wir gezeigt haben, werden im Alltag der öffentlichen Diskussion popkultureller Sekundärwelten ästhetisch-diskursive Zugänge durch die kommunikativen Strategien der quasi-dokumentarischen oder -allegorischen Rückbezüglichkeit zu unserer Welt initiiert. Wir möchten im Folgenden nachzeichnen, wie das Potenzial dieser Sekundärwelten noch stärker ausgeschöpft werden kann, indem wissenschaftlich geschärfte Zugänge nutzbar gemacht werden.
3 POPKULTURELLE SEKUNDÄRWELTEN ALS GEDANKENEXPERIMENT: ZWEI PERSPEKTIVEN Bis hierher sollte Folgendes deutlich geworden sein: Wir erkennen in der gedankenexperimentellen Perspektivierung von popkulturellen Sekundärwelten einen erkenntnistheoretischen Nutzen, der sich in dem Gewinn modalen Wissens begründet und der über den intuitiven Zugang des Quasi-Dokumentarischen und Quasi-Allegorischen hinausreicht. Aufgrund der trotz aller Verschiedenheit dennoch wirklichkeitsnahen Rückbezüglichkeit eröffnen Sekundärwelten zudem im Gegensatz zu kontextreduzierten und detailarmen Gedankenexperimenten einen lebenspraktischeren und komplexeren Rahmen zur Diskussion bestimmter Fragestellungen. Schließlich sollte auch deutlich geworden sein, dass sich gerade aufgrund des egalitären Zugangs zu diesen Erzählungen, popkulturelle Sekundärwelten für eine solche Anwendung anbieten, da ihre bereits bestehende kulturelle Eingebundenheit den an ihnen orientierten wissenschaftlichen Untersuchungen eine Mehrheitsfähigkeit verleiht und eine Diskussion auf verschiedenen Ebenen erlaubt, vom Kreis der Fachkundigen bis hin zum Laiendiskurs.69
68 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1990. S. 69. 69 Vgl. zu Mehrheitsfähigkeit und Plausibilität: Böhnert, Martin; Reszke, Paul: Linguistisch-philosophische Untersuchungen zu Plausibilität: Über kommunikative Grund-
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Für unser Vorgehen adaptieren wir einen gedanklichen Zweischritt: Wir betrachten im ersten Schritt die Sekundärwelten der Popkultur als Boden für erweiterte Gedankenexperimente. Im zweiten Schritt werden dann Fragestellungen entwickelt, zu deren Beantwortung sich der Rahmen, den bestimmte Sekundärwelten jeweils bieten, eignet. Gerade bei der Entwicklung möglicher Fragestellungen wird deutlich, dass sich anhand der Gedankenexperimente zwei verschiedene Untersuchungsgegenstände ergeben: So lassen sich einerseits mittels wissenschaftlicher Theorie und begrifflicher Schärfe die Sekundärwelten besser durchdringen. Andererseits lassen sich aber auch wissenschaftliche Methoden und Theorien anhand des durch die Sekundärwelten eröffneten Möglichkeitsraums selbst untersuchen, illustrieren und erproben. Wir möchten abschließend diesen beiden Perspektiven nachgehen und sie anhand von Beispielen veranschaulichen. 3.1 Ein wissenschaftsgeleiteter Zugang zu popkulturellen Sekundärwelten Inwiefern wissenschaftliche Theorien beim Verständnis von Sekundärwelten hilfreich sein können, um diese letztlich so begrifflich aufzubereiten, dass ihre Rückbezüglichkeit zu unserer wirklichen Welt möglichst differenziert und angemessen in den Blick geraten kann, möchten wir anhand der bereits von uns mehrfach erwähnten Sekundärwelt von The Walking Dead illustrieren. Die von Autor Robert Kirkman und Zeichner Charlie Adlard 2003 erschaffene Comicreihe70 nimmt auf den ersten Blick nur eine kleine Veränderung bezüglich unserer Primärwelt vor: Die Handlung beginnt in einem fiktiven Atlanta, Georgia, wobei den Lesenden die Nähe zu unserer realen Welt zunächst durch mehrere Signale versichert wird. Bereits in der ersten Ausgabe bricht allerdings eine Zombieapokalypse in der erzählten Welt aus, was ein etabliertes narratives Element eines längst eigenständigen Subgenres des Horrors mit eigenen Mustern und spezifischen Regeln ist.71 Im
muster bei der Entstehung von wissenschaftlichen Tatsachen. In: Engelschalt, Julia; Maibaum, Arne (Hg.): Auf der Suche nach den Tatsachen: Proceedings der 1. Tagung des Nachwuchsnetzwerks «INSIST«. Berlin 2015. S. 40-67. http://nbn-resolving.de /urn:nbn:de:0168-ssoar-455901 (Stand: 04.07.2018). 70 Kirkman, Robert/Adlard, Charlie: The Walking Dead. Portland seit 2003. 71 Üblicherweise gelten die Filme von George A. Romero (beginnend mit Night of the Living Dead, 1968) als Begründung des Subgenres. Interessanterweise wurden die Filme von Romero von Beginn an als Kapitalismus- und Gesellschaftskritik wahrgenommen, in unserem Verständnis also von Beginn an ästhetisch-diskursiv reflektiert. Zum Tod Romeros im Jahr 2017 fanden sich entsprechend zahlreiche Besprechungen
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Kontrast zu vielen anderen Erzählungen dieses Subgenres – und auch im Kontrast zur TV-Adaption –, wird gar nicht erst versucht, eine stets an unserem Weltwissen scheiternde Ursache für das Aufkommen der Zombies plausibel zu machen. Stattdessen werden wir Lesende so wie die Figuren der Handlung mit der schlichten Tatsache konfrontiert, dass es eben so ist – die Grundprämisse des Gedankenexperiments, wenn man so möchte. Das Aufkommen der lebenden Toten ist die singuläre Verzerrung, mit der unsere Wirklichkeit verändert wird. Dadurch wird ein Resonanzraum für die Erfahrung der »counteractual possibilities« eröffnet und die ästhetisch-diskursive Reflexion jenseits der Figuren- und Handlungsebene ermöglicht. Da die etablierten gesellschaftlichen Institutionen innerhalb der erzählten Welt zusammenbrechen, müssen neue, zunächst kleinere Organisationsformen ausgehandelt werden. Fragen, die längst im Alltag unserer Primärwelt in den Hintergrund getreten sind, gewinnen so wieder an Relevanz: Soll man bei Entscheidungen über gemeinsames Vorgehen gleichberechtigt Stimmen zählen oder eher nach Vertrauen oder Erfahrung gewichten? Wie wichtig ist es, Ressourcen für Bildung oder Kinder-, Kranken- und Altenpflege einzusetzen, wenn das bloße Überleben ungesichert ist? Und wer hat letztlich das (größere) Recht auf das Überleben? Aus dem einfachen Einstieg dieser punktuellen Veränderung erwächst im Verlauf der Narration eine zunehmende Komplexität und es entfalten sich weitreichende Komplikationen, die nun als gedankenexperimentelle Zugänge systematisch eingenommen werden können. In solchen durch die Sekundärwelt angestoßenen Verschiebungen werden Fragen der Primärwelt nicht nur wieder interessanter, sondern es entwickeln sich eventuell auch kreative und neuartige Zugänge und Lösungsmöglichkeiten. Das Gewohnte lässt sich entfremden und reflektieren. Im Sinne Tolkiens wird so »the queerness of things that have become trite«72 wieder sichtbar. Während diese Rückbezüglichkeit auch in der quasi-dokumentarischen und quasi-allegorischen Rezeption der fiktiven Welten mitgedacht wird,73 seines Œuvres im Feuilleton, die eben diesen Rezeptionsmodus einnahmen. (Vgl. etwa Karkowsky, Stephan: Zombies als Spiegelbild des modernen Menschen – Zum Tod des Regisseurs George A. Romero. In: Deutschlandfunk Kultur, 17.07.2017. http://www. deutschlandfunkkultur.de/zum-tod-des-regisseurs-george-a-romero-zombies-als.2156. de.html?dram:article_id=391309 (Stand: 04.07.2018). 72 S. o., Tolkien: On Fairy-Stories. S. 146. 73 Beispielsweise wenn in Fan-Foren über die Führungsqualitäten und die Angemessenheit der getroffenen Entscheidungen einer der zentralen Figuren aus – in diesem Fall der TV-Serien-Adaption – gestritten wird (vgl. exemplarisch die Kommentare der Forumsmitglieder Jango627 und booksrbetter im »Rick Debate Thread: LOVE AND HATE«, in: Spoil the Dead: AMC’s The Walking Dead Forum, 27.04.2015. http:// spoilthedead.com/forum/showthread.php/11907-Rick-Debate-Thread-LOVE-AND-H
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erlaubt die theoretische Aufarbeitung mittels wissenschaftlicher Theorien und Methoden, die angesprochene »queerness« nicht nur zu bemerken, sondern sie auch begrifflich greifbarer zu machen und damit die gedanklichen Rückbezüge auf die Realität zu schärfen: Wie tragfähig sind unterschiedliche gesellschaftspolitische und staatstheoretische Konzeptionen, nachdem der Status eines pragmatischen Zusammenschlusses verschiedener Überlebender zur Befriedigung der Grundbedürfnisse überholt ist und die Neugründung einer Siedlung oder zumindest eines Bündnisses in Zeiten der Zombieapokalypse ansteht? Welche Neuperspektivierungen der uns allgegenwärtigen soziologischen Kategorien Race, Class und Gender erlaubt die Welt der »continuing story of survival horror«?74 Unter welchen moraltheoretischen Grundannahmen lassen sich Entscheidungen des Überlebens einzelner Figuren über den Verlauf der Erzählung begreifen und inwiefern tragen diese zu Konflikten in einer Welt bei, nachdem unsere Zivilisation samt ihren soziökonomischen Regeln und gesellschaftlichen Wertvorstellungen immer mehr kollabiert? Durch diese wissenschaftlich geschärfte Auffassung als Gedankenexperiment wird deutlich, dass sich Entscheidungen über Leben und Tod nicht in binären Auswahlmöglichkeiten erschöpfen, sondern im Kontext einer – wenn auch fiktiven – Lebenswelt als weitaus komplexer erfassen und reflektieren lassen. Das im Untertitel des vorliegenden Bandes angesprochene Wechselspiel zwischen Wissenschaften und Popkultur lässt sich also so begreifen, dass im ersten Schritt eine bestimmte popkulturelle Sekundärwelt als gedankenexperimentelle Frage in Hinsicht auf unsere eigene Wirklichkeit aufbereitet wird und in einem zweiten Schritt mittels methodischer Zugänge aus den Wissenschaften besser durchdrungen und eingehender erfasst werden kann: Wir können Entscheidungen von Figuren in ihren vielschichtigen Dimensionen nachvollziehen, Handlungen differenzierter überblicken und Probleme in ihrer Komplexität begreifen – und wir ATE?p=940867&viewfull=1#post940867, oder im Feuilleton hervorgehoben wird, dass es im Kern »um Klassen, Rassen, Geschlechter und Generationen, um Waffen und Worte« gehe, und Zombies lediglich das »Mittel [sind], die Konflikte zu verschärfen, das Verborgene in den Menschen herauszuholen, die Bilder zur Kenntlichkeit zu entstellen.« (Seeßlen, Georg: Zombies übernehmen die Welt. In: Die Zeit, 39 (2011), S. 57. http://www.zeit.de/2011/39/D-DVD-The-Walking-Dead/komplettansicht (alle genannten, Stand: 04.07.2018). 74 So der Untertitel der Comicreihe. Vgl. zur Thematisierung von Race, Class und Gender in The Walking Dead auch Kahlmeyer, Johanna: The gendered Dead? Die Zombies in The Walking Dead. In: Milevski, Urania/Reszke, Paul/Woitkowski, Felix (Hg.): Gender & Genre – Populäre Serialität zwischen kritischer Rezeption und geschlechtertheoretischer Reflexion. Würzburg 2018. S. 265-294.
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erfahren so mehr über die Sekundärwelt. Hierdurch wiederum erlangen auch die ohnehin schon durch die quasi-dokumentarischen bzw. quasi-allegorischen Strategien vorbereiteten Rückbezüglichkeiten zu unserer eigenen Wirklichkeit trotz bzw. gerade aufgrund ihrer Entfremdung eine neue Qualität. Trägt man Fragestellungen dieser Art an popkulturelle Sekundärwelten heran, so würden wir von einem wissenschaftsgeleiteten Zugang sprechen. Diesem Zugang stellen wir eine umgekehrte Perspektive an die Seite. 3.2 Ein wissenschaftsreflexiver Zugang zu popkulturellen Sekundärwelten Auch wissenschaftliche Theorien können von der Beschäftigung mit popkulturellen Sekundärwelten profitieren, indem die nicht-aktualen Geschehnisse und Sachverhalte als gedankenexperimentelle Möglichkeiten ernst genommen werden. Auf diese Weise können Meinungen, Methoden und Erklärungsmodelle problematisiert werden. Diesem Gedanken folgend ist es entsprechend möglich, alltägliche Standardpositionen, Common Sense-Einstellungen aber auch wissenschaftliche Theorien und Methoden anhand der fiktiven Welten auf Problemstellen und Defizite hin zu überprüfen. Diese Perspektivierung unterstreicht noch einmal deutlicher, was wir mit dem Wechselspiel zwischen Wissenschaften und Popkultur bezeichnet haben: Das Spiel der Sekundärwelten mit den nomologischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten unserer Welt erlaubt simulierte Gegebenheiten, die – wie bereits dargelegt – innerhalb der Sekundärwelt selbst eigenen (Natur-)Gesetzmäßigkeiten folgen. Vor diesen veränderten Annahmen lassen sich schließlich die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendbarkeit wissenschaftlicher Theorien und Methoden beleuchten, ein differenzierteres Verständnis dieser erlangen und letztlich gar Forschungsdesiderate aufzeigen. Zur Veranschaulichung greifen wir ein weiteres Mal auf die Sekundärwelt von The Walking Dead zurück: Anhand des facettenreichen und umfänglich ausgearbeiteten Bildes einer postapokalyptischen Welt lässt sich stets aufs Neue die Frage nach unserem Verständnis von Menschlichkeit stellen, wie sie sich auch in aktuellen Forschungstendenzen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften findet. Beispielsweise können vor dem Hintergrund der in der Comicreihe präsentierten metaphysischen Modalitäten gegenwärtige Konzeptionen von Adoleszenz reflektiert werden. Das Erwachsenwerden wird spätestens seit Aufkommen der Psychoanalyse als der Entwicklungsabschnitt der kognitiven, sozialen und emotionalen Reifung verstanden, in der sich das Individuum entscheidende Fragen nach dem Selbst und dem Menschsein stellt. In Kirkmans Narration wird diese Entwicklung vor dem Hintergrund einer postapokalyptischen – oder in der Sprache des fachwis-
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senschaftlichen Diskurses: posthumanistischen – Welt vollzogen, in der die gewohnten gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Strukturen fehlen, an denen sich Heranwachsende orientieren und abarbeiten könnten.75 Auch lassen sich die auf Emile Durkheim und Maurice Halbwachs zurückgehenden Konzeptionen und Theorien des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses76 vor dem Hintergrund von The Walking Dead diskutieren: Welche Auswirkungen auf unser Verständnis eines überindividuellen Gedächtnisses und somit auch auf die Konstituierung und Kontinuität identitätsstiftender gesellschaftlicher und sozialer Gruppen hat eine Welt, in der neben Zeitzeugen der Vergangenheit auch die üblichen Zeichenträger (etwa Texte, Bilder), institutionalisierte Formen der Erinnerung (etwa Gedenktage, Archive) und kulturellen Praktiken (etwa Riten, Traditionen) weitestgehend verschwinden? In beiden Beispielen werden zeitgenössische wissenschaftliche Ansätze vor dem Hintergrund der nicht-aktualen Möglichkeiten der Sekundärwelt problematisiert und auf ihre Grenzen hin beleuchtet. Im Gegensatz zur oben eingeführten wissenschaftsgeleiteten Perspektive nennen wir Fragestellungen dieser Art wissenschaftsreflexiv.
4 RESÜMEE Unsere Absicht war es, typischerweise als trivial erachtete Narrationen so zu perspektivieren, dass neben dem Effekt der Unterhaltung auch ihr erkenntnistheoretischer Nutzen sichtbar wird. Die gesamte Argumentation lässt sich anhand des wiederholt angeführten Beispiels The Walking Dead nachzeichnen. Mit einer Comicreihe über eine Zombieapokalypse verbindet man nicht unmittelbar das Zusammenspiel aus »prodesse et delectare«. Versteht man dieses Zusammenspiel allerdings vor dem Hintergrund der aktuellen Leseforschung als das Zusammenwirken zweier Modi – der Rezeption zur Unterhaltung und der Rezeption zur ästhetisch-diskursiven Erkenntnis –, so wird deutlich: Man kann The Walking Dead als
75 Vgl. hierzu auch Sommers, Joseph M.: When the Zombies Came for Our Children: Exploring Posthumanism in Robert Kirkman’s The Walking Dead. In: The Comics Grid, Journal of Comics Scholarship, 6 (2016). http://doi.org/10.16995/cg.40 (Stand: 04.07.2018). 76 Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a. M. 1984; Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1985. Siehe auch Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan/ Hölscher, Tonio (Hg.). Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988.
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Geschichte genießen, aber auch die Struktur der Erzählung oder die Ausgestaltung der erzählten Welt reflektieren. Mithilfe des Konzepts der Sekundärwelt von Tolkien entwickelten wir den Gedanken, dass eine gründlich ausgearbeitete Narration das Potenzial bietet, durch ihre Komplexität einen ästhetisch-diskursiven Rezeptionsmodus zu motivieren und damit auch jenseits der Figuren- und Handlungsebene als verfremdende Kontrastfolie einen Rückbezug zur wirklichen Welt zu schaffen. Wir zeigten dann, dass popkulturelle Narrationen erstens durch ihren egalitären Zugang das Potenzial bieten, ein breites Publikum anzusprechen. Und dass zweitens durch partizipative Prozesse, die durch eine moderne Mediengesellschaft ermöglicht sind, die Sekundärwelten kollaborativ entfaltet werden. Durch die Perspektivierung dieser Sekundärwelten, werden ästhetisch-diskursive Diskussionen gefördert und verstärkt. All diese Überlegungen berücksichtigend sprechen wir von popkulturellen Sekundärwelten. Die üblichen Strategien, die bei diesen kollaborativen Kommunikationsprozessen genutzt werden, haben wir grob als quasi-dokumentarisch und quasi-allegorisch bezeichnet: Eine popkulturelle Sekundärwelt wird so perspektiviert, als ob sie unserer Wirklichkeit gleichen würde. Oder es können auch bestimmte Aspekte der Realität vor veränderten Umständen thematisiert werden, wie beispielsweise in The Walking Dead Fragen der Kindererziehung in Zeiten der Zombieapokalypse, in der die gewohnten gesellschaftlichen Strukturen fehlen. Um die in der massenmedialen Kommunikation etablierten Strategien wissenschaftlich zu schärfen, führten wir Überlegungen ein, die die Vorteile komplexer Narrationen als Erkenntniswerkzeuge gegenüber schematischen Gedankenexperimenten betonen. Das durch diesen Zugang erzeugte modale Wissen geht über triviales Wissen hinaus. Schließlich haben wir anhand von Beispielen vor Augen geführt, dass sich zweierlei Fragestellungen an popkulturellen Sekundärwelten entwickeln lassen: Die wissenschaftsgeleitete Perspektive, die Sekundärwelten vom ästhetisch-diskursiven Interesse ausgehend geschärft mit wissenschaftlichen Methoden untersucht und damit auch den Rückbezug zur Wirklichkeit schärft. Und die wissenschaftsreflexive Perspektive, die Grenzen und Möglichkeiten bereits etablierter Theorien ausloten und erweitern kann. So erlauben die fiktiven Welten der häufig lediglich als trivial erachteten Narrationen, modales Wissen zu erlangen, und vertiefen unsere Fähigkeit, dieses entsprechend nicht-triviale Wissen zu reflektieren. Mit Stokes lässt sich also abschließend anmerken:
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»Even when the situations or propositions are nomologically impossible (i.e. where that couldn’t actually happen) we learn – through considering them – about the actual world, and our scientific and philosophical theorizing stands to benefit from such learning.«77
5 BEISPIELUNTERSUCHUNGEN In diesem Sammelband sind Beiträge versammelt, die unserer Ansicht nach beide eingeführten Perspektiven auf popkulturelle Sekundärwelten illustrieren. Der wissenschaftsgeleitete Anteil umfasst folgende fünf Beiträge: Tamara Bodden untersucht, inwiefern der Sprachspiel-Begriff Wittgensteins die scheiternden Kommunikationsversuche zwischen Lewis Carrolls titelgebender Alice und den Wunderlandbewohnern in ein neues Licht rücken kann. Vanessa Karthäuser betrachtet die Inszenierung von Weiblichkeit in der TV-Serienadaption von Game of Thrones vor dem Hintergrund der Theorie des »male gaze« von Laura Mulvey. Rebecca Bachmann reflektiert mithilfe von Robert Kanes Willensfreiheitstheorie, inwieweit die Entscheidungen in der Videospielreihe The Walking Dead von Telltale mehr tun, als bloß auf Umwegen zum selben narrativen Ziel zu führen. Lisa Kapitz und Jannis Reh untermauern auf Basis moralphilosophischer Betrachtungen und mit Bezugnahme auf Platons Ring des Gyges, dass sich Welt und Figuren des Herrn der Ringe nicht auf ein schlichtes Gut gegen Böse reduzieren lassen. Und Melanie Waldmeyer untersucht mit einem ursprünglich aus der Wirtschaftswissenschaft stammenden Kausalitätskonzept den Komplex der Zeitreise in Back to the Future. Der wissenschaftsreflexive Anteil beinhaltet folgende fünf Beiträge: Jonas Sowa lotet anhand von Beispielen aus Game of Thrones die Möglichkeiten und Grenzen des raumtheoretischen Begriffs der Heterotopie von Michel Foucault aus, erarbeitet daraus ein Modell und ermöglicht damit die Beschreibung nicht nur realer, sondern auch fiktionaler Raumstrukturen. Oliver Scharf widmet sich dem dystopischen Zukunftsentwurf des Cyberpunk-Animes Ghost in the Shell und nutzt diesen, um anhand der darin skizzierten zunehmenden Verwobenheit von Menschen und Techniken über die Notwendigkeit einer neugedachten Technikethik zu reflektieren. Den Paradoxien des Zeitreisens, welche innerhalb der Sekundärwelt von Zurück in die Zukunft deutlich werden, widmet sich Madeline Isabelle Fuhlmann und diskutiert vor diesem Hintergrund die Mögliche-WeltenSemantik Saul Kripkes und die Zeitlogik Niko Strobachs. Nadja Riechert zeigt, inwiefern ein traditioneller, essentialistischer Identitätsbegriff vor dem Hinter-
77 Stokes: Art and Modal Knowledge. S. 79, Hervorhebung im Original.
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grund der Sekundärwelt von Ghost in the Shell an seine Grenzen gelangt und macht einen Vorschlag, diesen anhand der Theorie George Herbert Meads neu zu reflektieren. Schließlich analysiert Julia Gens die aus der Popkultur selbst stammenden Schnelltests zur Beurteilung der Ausdifferenziertheit von Frauenfiguren innerhalb fiktiver Welten, um am Beispiel verschiedener Figuren aus Harry Potter die Defizite der Tests zu identifizieren und auf dieser Basis einen differenzierteren Test zu formulieren.
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In Friendly Chat with Bird or Beast Wittgensteins Sprachspiel und Gespräche in Alice im Wunderland Tamara Bodden
EINLEITUNG Wenn die Figur Alice aus Lewis Carrolls Erzählungen über die Lektüre ihrer Schwester denkt »what is the use of a book […] without pictures or conversations?«,1 dann würde ihre eigene Geschichte dem Mädchen gefallen, denn neben den Illustrationen von John Tenniel machen Gespräche zwischen ihr und den Wunderlandbewohnern einen großen Teil der Narrationen rund um Alice aus. Auffällig bei den Gesprächssituationen ist jedoch, dass es sehr häufig zu Missverständnissen und Streitereien zwischen den Gesprächspartnern kommt, sodass Alice oft das Gefühl hat, trotz eines gemeinsamen englischen Wortschatzes nicht wirklich die gleiche Sprache zu sprechen. »Alice felt dreadfully puzzled. The Hatter’s remark seemed to her to have no sort of meaning in it, and yet it was certainly English. ›I don’t quite understand you,‹ she said, as politely as she could.«2 Es wird zwar im Entstehungsprozess der Alice-Geschichte, den ein vorangestelltes Gedicht beschreibt, von den kindlichen Zuhörern um einen »friendly chat with bird or beast« der Protagonistin gebeten, die tatsächlichen Gespräche der Geschichte scheinen aber eher Streitereien mit Verrückten zu sein. Auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein könnte sich Alices Bewertung eines guten Buches anschließen, denn er sieht Gedanken als »logische Bilder von Tatsachen […]. Sätze und Gedanken sind für Wittgenstein Bilder im wörtlichen, nicht
1
Carroll, Lewis: The Annotated Alice. The Definitive Edition. Alice’s Adventures in
2
Ebd., S. 75.
Wonderland and Through the Looking-Glass. London 2000. S. 11.
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im übertragenen Sinn.«3 Diese Bildhaftigkeit der Gedanken geht jedoch durch den Ausdruck der Sprache teils verloren. Seine pragmatische Sprachauffassung sieht die Bedeutung von Wörtern erst in ihrem Verwendungskontext, im Gespräch, sodass auch hier ein Anknüpfungspunkt zu Alices Wunsch nach Unterhaltungen in Texten gefunden werden kann. Dass oftmals eine Verbindung zwischen Carroll4 und Wittgenstein gezogen wird, liegt auch deshalb nahe, da Wittgenstein selbst beispielsweise schon zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen namentlich direkt auf Carroll verweist5 und es finden sich im gesamten Werk Anspielungen auf Ideen Carrolls,6 die eher durch geringe Kommunikativität7 im intertextuellen Spiel zu charakterisieren sind. Das heißt, ein Verweis fällt nur dann auf, wenn beim Leser bereits gute Kenntnis der Arbeiten Carrolls besteht, eine Anspielung oder ein Motiv wird beispielsweise von weniger Rezipienten erkannt als eine konkrete Erwähnung Carrolls. Auch Zeitzeugen bestätigen Wittgensteins Interesse an den Arbeiten Carrolls,8 wobei David Wagner aber von einem Nachlassen der Begeisterung für die Arbeiten des englischen Mathematikers in Wittgensteins späteren Jahren ausgeht.9 Dennoch bleiben einige thematische Übereinstimmungen zwischen beiden Autoren: »It is through the bond of nonsense that Wittgenstein is closely linked with Lewis Carroll«,10 urteilt George Pitcher und auch Wagners Untersuchung The uses of 3
Kenny, Anthony: Wittgenstein. Frankfurt a. M. 1974. S. 15.
4
Pseudonym des Mathematikers Charles Ludwig Dodgson.
5
»Es könnte ja sein, daß wir die Wörter der Sprache […] von Wörtern ›ohne Bedeutung‹ unterscheiden wollten, wie sie in Gedichten Lewis Carroll’s vorkommen« (PU 13). Die Zitation der Bemerkungen Wittgensteins folgt der in der Literatur zu Wittgenstein üblichen Form, indem für die »Philosophischen Untersuchungen« die Sigel PU verwendet wird und dahinter die Nummer der Bemerkung gesetzt wird. Textgrundlage bildet die Ausgabe: Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1967. In: Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 19141916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt a. M. 1984.
6
David Wagner nennt zahlreiche weitere Textstellen aus dem Nachlass. Vgl. Wagner, David: The uses of nonsense. Ludwig Wittgenstein reads Lewis Carroll. In: Wittgenstein Studien 1 (2012), S. 205-216, hier S. 208.
7
Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Pfister, Manfred/Broich, Ulrich (Hg.): Intertextualitat. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985. S. 27.
8
Vgl. Pitcher, Georg: Wittgenstein, Nonsense, and Lewis Carroll. In: The Massachusetts Review 3 (1965), S. 591-611, hier S. 593.
9
Vgl. Wagner: The uses of nonsense. S. 208.
10 Pitcher: Wittgenstein, Nonsense, and Lewis Carroll. S. 592.
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nonsense. Ludwig Wittgenstein reads Lewis Carroll kann sich an diese Aussage anschließen. Der vorliegende Text will sich dagegen weniger mit dem Thema Nonsens, als mit der Suche nach Regeln in vorgefundenen Sprachbeispielen, sowie Übertragungsmöglichkeiten von Ansätzen Wittgensteins auf die Texte Carrolls beschäftigen. Wenn das abweichende Sprachverhalten der Wunderlandbewohner wertfrei eben als abweichend und nicht als minderwertiges Sprechen verrückter Sprecher charakterisiert wird, lassen sich möglicherweise auch sinnhafte Muster ihrer Sprachverwendung erkennen und interpretieren. Die Störungen in Gesprächen zwischen Alice und den Wunderlandbewohnern11 und Alices Taktiken der Gesprächsverbesserung sollen deshalb mithilfe von Wittgensteins Konzepten des Sprachspieles und der Lebensform untersucht werden. Zugrunde liegt die These, dass die Störungen des Gesprächs nicht am unkooperativen Verhalten der Sprechenden festzumachen sind, sondern an Alices Nichtkenntnis der Lebensform des Wunderlandes, welche der Sprachbenutzung zugrunde liegt. Sie erkennt nicht, dass die Gespräche Sprachspiele mit abweichenden Regeln zu ihrer Welt sind und kann deshalb nicht das Spiel souverän mitspielen. Sobald Alice sich auf die Verschiedenheit der Lebensform und ihre Sprachlogik einlässt, wird ihr Gesprächsverhalten dagegen erfolgreicher. Zunächst sollen die Grundbegriffe Wittgensteins von Sprachspiel und Lebensform kurz erläutert werden, um im nächsten Schritt anhand einiger Textbeispiele Alices Gesprächsverhalten zu deuten. Dabei wird in Kürze gezeigt, dass eine rein linguistische Interpretation von Gesprächsstörungen zu kurz greift und die Einschätzung der Sprecher als Verrückte das Potential einer abweichenden Welt und Sprache negiert. Mit gattungstypologischen Konzepten Tzvetan Todorovs kann die Annahme einer fantastischen Lebensform der Wunderlandbewohner literaturwissenschaftlich fundiert werden und zuletzt wird ein Vergleich zwischen Sprache und Spiel im Wunderland aufgestellt. Ähnliche Erkenntnisse hat auch Alice innerhalb der Geschichte und adaptiert ihre Gesprächsstrategien mit der Zeit, wie im dritten Abschnitt gezeigt wird.
11 Die Untersuchungen ließen sich ohne Zweifel auch auf Carrolls Fortsetzungsgeschichte Alice hinter den Spiegeln übertragen, da aber schon das erste Buch eine Vielzahl von Beispielen vorweist und die Spiegelwelt wiederum andere Gesetzmäßigkeiten, Sprachspiele und Lebensformen mit sich bringt wird sich auf die erste Alice-Geschichte beschränkt.
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1 WITTGENSTEINS SPRACHSPIEL UND LEBENSFORM Wittgensteins Verständnis eines Sprachspiels lässt sich anhand vielzähliger Beispiele darstellen: »Befehlen, und nach Befehlen handeln – / Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messung – / […] / Eine Geschichte erfinden; und lesen – / Theater spielen – / Reigen singen – / Rätsel raten – / Einen Witz machen; erzählen / […] / Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.«12
Zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen13 führt er das Sprachspiel im Kontext einer, wie er es nennt, »primitiven Sprache« ein. Hierzu beschreibt er die Situation von zwei Bauenden, bei der eine Person Anweisungen wie das Wort »Platte« ruft und die zweite eben diesen Gegenstand bringt.14 Vergleichbar ist dies mit dem sogenannten »hinweisende[n] Lehren der Wörter«15 im Erstspracherwerb: »Wir können uns auch denken, daß der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte […] eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele ›Sprachspiele‹ nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. […] Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ,Sprachspiel‹ nennen.«16
Das Sprachspiel ist also eine pragmatische Betrachtungsweise von Sprache: erst im Gespräch und eingebunden in einen Handlungskontext erhalten die Begriffe ihren Inhalt, »[d]ie Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«17 Das kann von einfachen Beispielen wie den zwei Bauenden zu immer komplexeren Sprachspielen erwachsen.
12 PU 23. 13 Die Beispiele und Grundgedanken finden sich aber auch schon in den Vorlesungsmitschriften im Blauen Buch und Eine Philosophische Betrachtung (Braunes Buch): Vgl. z. B. Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe Bd. 5. Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Frankfurt a.M. 1984. S. 37, S. 104 u. S. 121. 14 Vgl. PU 2. 15 Ebd., S. 6. 16 Ebd., S. 7. 17 Ebd., S. 43.
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Man kann beispielsweise mithilfe des Sprachspiels die Beziehung von Inhalt und Ausdruck eines Begriffes erkunden: »Schau auf das Sprachspiel […]! dort ist zu sehen, worin die Beziehung etwa besteht.«18 Neben dem Inhalt von sprachlichen Zeichen werden im Sprachspiel aber auch die unartikulierten Regeln und Abläufe deutlich: das Sprachspiel »Befehlen, und nach Befehlen handeln« fordert beispielsweise ein anderes kommunikatives Handeln als »ein Rätsel raten«. Trotzdem decken die jeweiligen Regeln (z. B. A stellt eine Frage, B findet eine Antwort) nur bestimmte Bereiche des Gesprächs ab, sie lassen andere Spielräume ganz offen (z. B. kann das Rätsel als Reim aufgesagt werden, der Ratende kann einen Hut tragen, für ein richtiges Raten wird eine Belohnung vergeben…). Die Kenntnis und das Einhalten bestimmter Regeln tragen also zum Gelingen des Sprachspiels bei, andere Elemente haben dagegen keinen Einfluss auf das Sprachspiel. Doch woraus ergeben sich diese Regeln? Die Sprachhandlungen fußen immer auf dem Hintergrund der Sprechenden, also ihren Lebensumständen und gemeinschaftlichen kulturellen Praktiken, sowie der individuellen Funktion der jeweiligen Kommunikation: »Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und Verneinung. Und unzählige Andere. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.«19
Die Lebensform bezeichnet also den Hintergrund der Sprechenden, die Ansprüche, die diese an eine Sprache stellen, um bestimmte Handlungen auszuüben, sie charakterisiert die gemeinsamen kulturellen Praktiken einer Gemeinschaft, die Handlungsschemata, die beispielsweise auch sprachlich vollzogen werden. »Eine Sprache erfinden, könnte heißen, auf Grund von Naturgesetzen (oder in Übereinstimmung mit ihnen) eine Vorrichtung zu einem bestimmten Zweck zu erfinden«.20 Eine friedliche kleine Sprachgemeinschaft hat beispielsweise keine Verwendung für das Sprachspiel »Meldung in der Schlacht«, weil ihre Lebensform nicht die kulturelle Praktik einer kriegerischen Auseinandersetzung beinhaltet. Folglich ist ihnen des Sprachspiel nicht bekannt und nur schwer vermittelbar.
18 Ebd., S. 37. 19 Ebd., S. 19. 20 Ebd., S. 492.
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2 ALICES GESPRÄCHE 2.1 »Oh, there’s no use in talking to him« Konflikte durch verrückte, unkooperative Sprecher Ein gängiger Ansatz, um Störungen in Gesprächen zu analysieren, findet sich in Paul H. Grices Konversationmaximen,21 die beispielsweise Gerd Schank in seiner Linguistischen Konfliktanalyse22 als Beschreibungsmittel für Gesprächsstörungen heranzieht: er untersucht Grices Kategorien der Quantität und Qualität der Äußerung, die Relevanz ihres Inhaltes und die Art und Weise der Darstellung, um die Entstehung von Konflikten in Gesprächen zu erklären. Für das Bedingen eines erfolgreichen Sprechakts ist ein basaler Faktor die einwandfreie auditive Verständigung, welche bei Alices Gesprächen nicht immer gewährleistet zu sein scheint. Verständnisschwierigkeiten treten zum Beispiel im Gespräch mit der Grinsekatze auf »Did you say ›pig‹ or ›fig‹?«23 und auch homophone Ausdrücke stellen immer wieder eine Hürde dar (»›I had not!‹ […] ›A knot!‹«24). Die Wunderlandbewohner scheinen eine andere Anforderung an ein Gespräch zu haben, bei dem weniger ein gemeinsamer Konsens, als das Verteidigen der eigenen Darstellungen an erster Stelle stehen: »Während Alice zwar kooperativ, wenn auch nicht aufrichtig ist, verhalten sich viele ihrer Dialogpartner genau umgekehrt, was erhebliche Störungen des Dialogs zur Folge hat.«25 Diese Kooperativität26 weisen die meisten Wunderlandbewohner nicht vor. Ein extremes Beispiel bildet die Teegesellschaft, die relativ häufig unkooperative
21 Vgl. Grice, H. Paul: Logik und Konversation. In: Meggle, Georg (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a. M. 1979. S. 243-265. 22 Vgl. Schank, Gerd: Linguistische Konfliktanalyse. Ein Beitrag der Gesprächsanalyse. In: Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hg.): Konflikte in Gesprächen. Tübingen 1987. S. 18-175, hier S. 32. 23 Carroll: Alice. S. 69. 24 Ebd., S. 36. 25 Nöth, Winfried: Literatursemiotische Analysen zu Lewis Carrolls Alice-Büchern. Tübingen 1980. S. 52. 26 »Kooperativ sein heißt, sich verstehen wollen, sich guten Willen unterstellen, sich ernst nehmen, ein für beide positives Ziel erarbeiten wollen.« Schank: Linguistische Konfliktanalyse. S. 31. Passend zu den Konversationsmaximen zählt Schank auch verschiedene Strategien unkooperativer Gesprächspartner auf: diese können sich im Bereich Quantität »dumm stellen« und bluffen, unter der Maxime der Qualität übertreiben,
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Themenwechsel vornimmt. »Ohne Themen abzuschließen springt man auf neue, meist solche, mit denen man dem anderen eins auswischen kann.«27 Beispielsweise wenn der Hutmacher plötzlich zu Alice bemerkt, »Your hair wants cutting«.28 Alice selbst artikuliert die Störfaktoren jedoch nicht explizit und die Konflikte können sich entsprechend nicht entfalten, sodass das Konfliktpotenzial anwächst.29 Sie gibt schließlich ihren Gesprächspartnern die Schuld am Scheitern eines höflichen Austausches: »›It’s really dreadful,‹ she muttered to herself, ›the way all the creatures argue. It’s enough to drive one crazy!‹«30 und zweifelt sogar an der intellektuellen Fähigkeit ihres Gegenübers ein angemessenes Gespräch zu führen: »›Oh, there’s no use in talking to him,‹ said Alice desperately: ›he’s perfectly idiotic!‹«31 Tatsächlich bietet die vermeintliche Verrücktheit der Wunderlandbewohner und der Vorwurf eines unkooperativen Verhaltens, welches kurz skizziert wurde, eine naheliegende Erklärung für die Kommunikationsstörungen. Wie auch in den oben genannten Artikeln von Kenny und Wagner zieht sich die Einschätzung zahlreicher Gesprächsbeiträge als Nonsens-Äußerungen durch die Forschung zu Alice und den Wunderlandbewohnern. Winfried Nöth geht aber davon aus, dass Nonsens neben den Puns und anderen Sprachspielereien eigentlich nur relativ gering auftritt. Seiner Ansicht nach gebe es nur »maßvolle Verstöße gegen die Regeln der Dialogik.«32 Da viele der auftretenden Figuren tatsächlich hilfsbereit und durchdacht in ihrem Sprechen erscheinen, wird mithilfe einer genaueren Betrachtung der Lebensform eine andere Interpretationsmöglichkeit aufgezeigt. Auch mit Schanks Linguistischer Gesprächsanalyse lässt sich bestätigen: »Konflikte können auch auftreten, wenn aufgrund unterschiedlicher sozialer Herkunft unterschiedliche Interaktionsstile und Sprechweisen aufeinander treffen«.33
lügen und täuschen, zur Maxime der Relevanz filibustern, insistieren, ausweichen und mit Ironie, indirektivem Sprechen und verschleiern die Maxime der Art und Weise verletzten. Vgl. ebd. S. 70. 27 Schank: Linguistische Konfliktanalyse. S. 35. 28 Carroll: Alice. S. 72. 29 Vgl. Schank: Linguistische Konfliktanalyse. S. 30. 30 Carroll: Alice. S. 61. 31 Ebd. 32 Nöth: Literatursemiotische Analysen. S. 37. 33 Schank: Linguistische Konfliktanalyse. S. 29.
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2.2 Das Wunderbare der abweichenden Lebensform Fiktionale Texte weisen sehr oft abweichende Welten und Lebensformen vor, je nach Genrezugehörigkeit wird mit diesen Besonderheiten aber ganz unterschiedlich umgegangen, manchmal werden sie durch Figuren oder die Erzählinstanz offen als fantastische Elemente thematisiert und infrage gestellt, manchmal einfach akzeptiert. Mithilfe von Todorovs Fantastik-Konzepten soll gezeigt werden, dass ein Problem für Alice gerade darin besteht, dass sie bei den Wunderlandbewohnern durch die große Überschneidung der Praktiken ihrer beiden Lebensformen und ihre Akzeptanz des Wunderbaren nicht die abweichenden Sprachspiele wahrnimmt. Noch bevor Alice eines der zwanzig Gespräche mit Wunderlandbewohnern führt, muss sie mit der Aufhebung der Schwerkraft oder mit dem plötzlichen Schrumpfen und Wachsen ihres eigenen Körpers die Außerkraftsetzung aller ihr bisher vertrauten physikalischen Gesetzmäßigkeiten hinnehmen. Nöth belegt beispielsweise in seinen Literatursemiotischen Analysen Anomalien mit Blick auf physikalische, biologische und psychologische Vorgänge, auf soziologische Organisation und Symbolverhalten der Wunderlandbewohner, sowie im sprachlichen und metasprachlichen Bereich.34 Auch ihr vertrautes Alltagswissen scheint ihr darüber hinaus abhanden zu kommen, wenn sie beispielsweise einfachste Tatsachen wie die Anzahl von Stunden an einem Tag (»Twenty-four hours, I think; or is it twelve?«35) oder Texte von altbekannten Kinderreimen vergisst (»How doth the little crocodile / Improve his shining tail […] I’m sure those are not the right words«36). Sie stellt damit Sprachmuster ihrer eigenen Lebensform infrage, schließlich ist sie sich sogar ihrer selbst nicht mehr sicher: »I know who I was when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.«37 Identität wird also unter anderem an die Stabilität der ihr bekannten Sprachspiele geknüpft, durch das Fehlen einer gemeinschaftlichen Bestätigung der bekannten Sprach-verwendung wird Alice immer unsicherer. Alices Schwierigkeiten im Umgang mit der Welt und ihren Bewohnern kann mit den Fantastik-Konzepten Todorovs beschrieben werden: »Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze 34 Beispielsweise finden sich weitere Anomalien in der Verwandlung eines Babys in ein Ferkel, Chimären wie der »Mock Turtle« und dem »Gryphon« oder die Verdinglichung von Tieren zu Gegenständen im Crocketspiel. Vgl. Nöth: Literatursemiotische Analysen. S. 16-37. 35 Carroll: Alice. S. 64. 36 Ebd. S. 23. 37 Ebd. S. 50.
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kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.«38 Über eine bloß anfängliche Irritation hinaus stellt Alice die neue Welt mit ihren Gegebenheiten nicht infrage, sodass man nach Todorov zunächst vom unvermischt Wunderbaren39 in der Betrachtung des Wunderlands ausgehen könnte, das heißt die fantastischen Gegebenheiten werden von den auftretenden Figuren weder erklärt noch angezweifelt. Vergleichbar zum Märchen nimmt Alice beispielsweise das Sprechen der Tiere einfach hin. Alices Aufwachen am Ende der Erzählung und ihre klare Einordnung der Geschehnisse (»Oh, I’ve had such a curious dream!«40) lässt die Geschichte jedoch eindeutig in den Bereich des Fantastisch-Unheimlichen41 fallen, denn der Traum bietet eine rationale Erklärung für die Geschehnisse und entkräftet diese in ihrem fantastischen Potential, alles zuvor berichtete stellt sich als Täuschung heraus. Erst das Ende der Geschichte bewirkt die Disambiguierung des Lesers in der Bewertung der Welt und löst die Vagheit des Fantastischen ins Unheimliche auf. Alices Akzeptanz der wunderbaren Elemente in der Welt und ihrer abweichenden Regeln machen ihre Kommunikation mit den Wunderlandbewohnern aber erst möglich. Sollte sie von vornherein das Fantastische völlig rational bewerten und ihm die Existenz absprechen, würden alle ihre Kommunikationen als Nonsens erscheinen. Auch in dieser Untersuchung muss die Auflösung als Traum zunächst ignoriert werden, um die Welt des Wunderlands und ihre sprachlichen Eigenheiten ernsthaft betrachten zu können. Zunächst muss der Leser also genauso wie Alice die fantastischen Elemente interpretieren, dies lässt sich beispielsweise mithilfe des exotisch Wunderbaren42 erklären: da das Wunderland offenbar nicht mit Alices alltäglicher Welt übereinstimmt, kann es auch anderen Gesetzmäßigkeiten folgen. Hier ließe sich auch wieder eine Parallele zu Wittgensteins Lebensform ziehen: Eine Unkenntnis der Welt macht es schwieriger, die Konzepte zu verstehen, welche sprachlich vermittelt werden. Es fällt beispielsweise auf, dass sie verschiedene Zeichensorten unterschiedlich erfolgreich interpretiert: »Während symbolische Zeichen häufiger zur Desorientierung von Alice beitragen […], da sie die ihnen zugrundeliegenden Konventionen nicht kennt, stellen ikonische und indexikalische Zeichen eine größere Orientierungshilfe dar.«43 Wie eine Person in einem fremden Land, einer fremden Kultur versucht auch Alice ihr eigenes Wissen mit den neuen Gegeben38 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München 1972. S. 26. 39 Vgl. Todorov: Fantastische Literatur. S. 51. 40 Carroll: Alice. S. 130. 41 Vgl. Todorov: Fantastische Literatur. S. 43. 42 Vgl. ebd., S. 52. 43 Nöth: Literatursemiotische Analysen. S. 77.
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heiten zu verbinden. Das zentrale Problem ist aber, dass Alice zu voreilig in der Übertragung ihrer eigenen Erfahrungen und ihrer Lebensform ist. Durch den geteilten Wortschatz des Englischen geht sie davon aus, dass die Wunderlandbewohner auch die gleichen Sprachspiele wie sie selbst verwenden. Es fällt auf, dass Alice beispielsweise immer wieder versucht auf ihr schulisches Wissen zurückzugreifen, um Kommunikationsschwierigkeiten aufzulösen: »›Would it be of any use, now,‹ thought Alice, ›to speak to this mouse? Everything is so out-of-the-way down here, that I should think very likely it can talk: at any rate, there’s no harm in trying.‹ So she began: ›O Mouse, do you know the way out of this pool? I am very tired of swimming about here, O Mouse!‹ (Alice thought this must be the right way of speaking to a mouse: she had never done such a thing before, but she remembered having seen, in her brother’s Latin Grammar, ›A mouse – of a mouse – to a mouse – a mouse – O mouse!‹) The Mouse looked at her rather inquisitively, and seemed to her to wink with one of its little eyes, but it said nothing.«44
Auch ihr Versuch, die Maus auf Französisch anzusprechen, glückt nicht (sie kann sich nur noch an einen Satz mit dem Wort für Katze erinnern) und im weiteren Verlauf der Gespräche stößt ihr Verweis auf Haustiere bei anderen Tieren ebenfalls auf wenig Begeisterung. Das Beispiel zeigt jedoch, dass Alice in der Maus einen Sprecher wahrnimmt, der eine potentielle abweichende Sprachverwendung hat. Sprechende Tiere bilden keinen Teil ihrer Lebenswelt, dementsprechend geht sie davon aus, dass sie die Tiere nicht in der üblichen Weise einem Menschen gleich ansprechen kann, sie versetzt sich aber auch nicht in die Lebensform der Maus hinein, sondern nutzt lediglich ihr bekannte Sprachspiele. Auch in einer Geschichte, die ihr von der verrückten Teegesellschaft erzählt wird, gleicht sie die wiederum fiktionalen fantastischen Elemente mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont ab. In der Erzählung tauchen auf Figurenebene im Sprachstil des Wunderlands semiotische Inkongruenzen auf. So wird etwa das Wort »draw« in seiner Homonymie des Malens im Gegensatz zum Schöpfen (von Flüssigkeiten) diskontinuierlich verwendet. Dieses Spiel mit Ambiguitäten, welches im Gegensatz zur uns vertrauten Sprache keine Disambiguierung anstrebt, zieht sich durch die Gespräche der Wunderlandbewohner, wobei sich als Regel vermerken lässt, dass immer die eigentlich ausschließbare Bedeutungsebene in der Sprache des Wunderlands bevorzugt wird. So heißt es beispielsweise: »And so these three little sisters they
44 Carroll: Alice. S. 25-26.
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were learning to draw, you know«.45 Ein Teil von Alices Erziehung und Lebensform ist, dass junge Mädchen das Malen lernen, Schöpfen ist dagegen eine eher seltene Beschäftigung. Trotz des eindeutigen Kontextes eines Sirup-Brunnens, in dem die Mädchen leben wird also die Bedeutungsvariante des Malens evoziert. In einem Sirupbrunnen zu wohnen und von Sirup zu leben ist für Alice keine ihr bekannte Lebensform für junge Mädchen, sodass es ihr schwerfällt, im Gespräch Akzeptanz zu zeigen: »Alice tried a little to fancy to herself what such an extraordinary way of living would be like, but it puzzled her too much.«46 Gerade dadurch, dass eine große Ähnlichkeit zwischen dem Wunderland und Alices eigener Welt zu bestehen scheint und auch die fantastischen Elemente durch die Einstufung ins Fantastisch Wunderbare nicht infrage gestellt werden, fällt Alice ein Erkennen der Lebensform und ihrer Sprachspiele schwer. Die Übertragung zum Spiel liegt erneut nah: es ist als würden die Wunderlandbewohner mit dem gleichen Satz Karten wie Alice spielen, auch das Spiel ist nicht unähnlich, aber einige zentrale Regeln stimmen nicht überein, ohne dass sich die Spieler darüber bewusst sind. 2.3 Caucus-Race – oder »make up the rules as we go along« Durch die vielen scheinbaren Nonsens-Äußerungen ist nicht klar auszumachen, ob sprachliche Regeln ad hoc von den Sprechern gebeugt bzw. gebrochen werden oder ob diese Regeln über die Situation hinaus gelten. Auch für Wittgenstein ist das eine Möglichkeit für Sprachspiele: »Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.«47 Wittgenstein zieht immer wieder Vergleiche zwischen der Sprache und dem Spielen und illustriert an diesen beispielsweise seine
45 Ebd., S. 79. Hier könnte beispielsweise eine höhere Frequenz der zweiten Bedeutungsvariante eine Erklärung für das Verhalten liefern, wenn also der Vorgang des Schöpfens häufiger in den Lebensumständen vorkommt als der des Malens, würde man bei einem ambigen Kontext diese frequentere Variante bevorzugen. 46 Ebd., S. 78. Eine andere narrative Welt illustriert möglicherweise einen klar erkennbaren Bruch zwischen zwei aufeinandertreffenden Lebensformen: in Gullivers Reisen trifft der Protagonist auf die Rasse der Houyhnhnms, Pferdewesen, die ein eigenes Sprach- und Denksystem vorweisen, die Menschen dieser Welt gleichen dagegen eher zurückgebliebenen Affen. Problemlos erkennt Gulliver die andersartige Lebensform der Pferdewesen und erlernt mit ihrer Sprache auch ihre Sprachspiele und Denkweise. Vgl. Swift, Jonathan: Gulliver’s Travels. McKelvie, Colin (Hg.). Belfast 1976. 47 PU 83.
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Idee der Familienähnlichkeit.48 Deshalb soll nun auch an einem Spiel in Alice im Wunderland eine Parallele zu möglichen Sprachregeln der Welt gezogen werden: Wie im Sprachspiel erklärt auch der Dodo das »Caucus-Race«, ein Wettrennen mit dem Alice und einige nasse Vögel sich zu trocknen versuchen, »the best way to explain it is to do it.«49 Dem heterodiegetischen Erzähler,50 der nicht Teil der erzählten Welt ist, bleibt in der Vermittlung der Aktion aber natürlich bloß die Beschreibung: »First [the dodo] marked out a race-course, in a sort of circle, (›the exact shape doesn’t matter,‹ it said,) and then all the party were placed along the course, here and there. There was no ›One, two, three, and away!‹ but they began running when they liked, and left off when they liked, so that it was not easy to know when the race was over. However, when they had been running half an hour or so, and were quite dry again, the Dodo suddenly called out ›The race is over!‹ and they all crowded round it, panting, and asking, ›But who has won?‹«51
Schon im Ton der Beschreibung wird die Beliebigkeit der Regeln und eine Enttäuschung von Erwartungen an ein Rennen im Sinne eines Wettkampfes klar. Auch, dass der Dodo nach einigem Überlegen alle Teilnehmenden zu Siegern erklärt, passt nicht zum alltäglichen Verständnis eines Wettkampfspieles, obwohl sich genügend übereinstimmende Merkmale feststellen lassen, um die Familienähnlichkeit des Caucus-Race zu üblichen Wettrennen sicherzustellen. Dennoch würde es nach der Idee eines sportlichen Wettkampfes nicht ins Schema passen: »›Es ist doch kein Spiel, wenn es Vagheit in den Regeln gibt,‹ – Aber ist es dann kein Spiel? – ›Ja vielleicht wirst du es Spiel nennen, aber es ist doch jedenfalls kein vollkommenes Spiel.‹«52 Es wird deutlich, dass die Regeln (falls diese überhaupt vorhanden sind) spontan erfunden werden und eigentlich der Spaß und das gleichzeitige Trocknen der Tiere Hauptzweck sind. Ähnlich könnte man sagen, dass auch die sprachlichen Regeln im Wunderland und einige Eigenarten der Lebensform erst während der Äußerung festgelegt oder neu bestimmt werden. Zu einer Überprüfung der Aussagen mit Gegebenheiten der Welt kommt es im Text aber nur selten. Ein Beispiel ist die Geschichte der Maus im dritten Kapitel: der metaphorisch trockene, histo48 Ebd., S. 66. 49 Carroll: Alice. S. 32. 50 Die erzähltheoretischen Termini beziehen sich auf Gèrard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998. 51 Carroll: Alice. S. 32. 52 PU 100.
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rische Stoff der Erzählung soll die nassen Tiere trocknen, diese sprachlich aufgestellte Übertragung hat aber keinen Effekt in der Welt. Dennoch hinterfragt keiner der Anwesenden das Sprachspiel »mit Sprache trocknen« in seiner Legitimität. Möglicherweise besteht also für die Wunderlandbewohner nur ein loses Verhältnis zwischen sprachlichen Aussagen und der realen Welt. Wilfried Schütte betrachtet Konfliktgespräche ebenfalls mithilfe eines Spielansatzes. Hierbei wird »Spiel« im Gegensatz zu Wittgensteins artifiziellerem Sprachspiel näher an der Alltagsbedeutung im Sinne von »scherzhaft« oder »nicht ernst« definiert und charakterisiert bestimmte Gesprächspraktiken.53 »Die kommunikative Funktion von Spielen beschreibe ich dabei als konstitutive Merkmale einer veränderten Interaktionsmodalität.«54 Die Sprecher ordnen hierbei ihre Beiträge in einer abweichenden Art ihrem Wirklichkeitsmodell zu, die Aussagen haben in der Regel über das Gespräch hinaus keine Konsequenzen:55 »Die Zuschreibungen in spielerischen Sequenzen sind nicht echt: Sie gelten nicht für die alltägliche Lebenswelt.«56 Schütte beschreibt als Beispiel eine Situation des gegenseitigen Neckens, das Modell lässt sich auf Alice im Wunderland übertragen: Das Spiel mit Ambiguitäten, die Verhandlung von Sinnhaftigkeit von Sprache und NonsensSchlussfolgerungen müssen keine Entsprechung in einer abweichenden Welt finden. Nichtsdestotrotz ist es ein Sprachspiel im Sinne von Sprachspielereien, in dem nicht ein kooperatives, gemeinsames Kommunikationsziel angestrebt wird, sondern ein gegenseitiges Übertrumpfen in Eloquenz und Sprachfertigkeit. Alice erkennt dieses zentrale Muster der Lebensform, dieses besondere Sprachspiel nicht und kann deshalb nicht Schritt halten und fühlt sich angegriffen: »Offenbar fehlt […] mit dem Hintergrundwissen die Kompetenz, das laufende Interaktionsspiel zu erkennen.«57 So wäre beispielsweise für das Rätselspiel »Why is a raven like a writingdesk?«58 des Hutmachers zunächst die Prämisse zu klären, was genau Ziel des Spieles ist. Wittgenstein formuliert es treffend für das Beispiel eines Vergleichs 53 Vgl. Schütte, Wilfried: Muster und Funktionen von Kommunikationsspielen in latenten Konflikten: Pflaumereien und andere aggressive Späße. In: Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hg.): Konflikte in Gesprächen. Tübingen 1987. S. 239-291, hier S. 239. 54 Schütte: Muster und Funktionen von Kommunikationsspielen. S. 261. 55 Vgl. ebd., S. 262. 56 Ebd., S. 271. Eine Parallele ließe sich auch zu Harry Frankfurts Konzept des Bullshitting ziehen. In beiden Interaktionsmustern stehen soziale Aspekte des Gesprächs über einem korrekten Wirklichkeitsanspruch. Vgl. Frankfurt, Harry G.: Bullshit. Frankfurt a. M. 2006. 57 Schütte: Muster und Funktionen von Kommunikationsspielen. S. 265. 58 Carroll: Alice. S. 73.
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von Farbtönen: »Die Antwort darauf könnte sein: Ich weiß nicht, was für ein Spiel du spielst; und davon hängt es ab, ob ich sagen soll, sie haben etwas gemein, und was.«59 Mit der Zeit bemerkt Alice aber einige der Eigenheiten und eignet sich die Muster an: »Einen Satz verstehen heißt eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.«60
3 ALICE DURCHSCHAUT DIE REGELN DER SPRACHSPIELE Alices versucht durch aufmerksames Beobachten Störungen im Gespräch frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen. An erster Stelle des Prozesses steht die zunehmende Akzeptanz der fantastischen Gegebenheiten der Welt: »›You’ll see me there,‹ said the Cat, and vanished. / Alice was not much surprised at this, she was getting so well used to queer things happening.«61 Weil im Sprachspiel der Wunderlandbewohner offenbar das Erfinden von neuen Regeln »as we go along«62 üblich ist, versucht sie sich selbst im Übertragen sprachlicher Verbindungen zu Weltregeln: »›Maybe it’s always pepper that makes people hot-tempered,‹ she went on, very much pleased at having found out a new kind of rule, ›and vinegar that makes them sour – and camomile that makes them bitter – and – and barley-sugar and such things that make children sweet-tempered. I only wish people knew that: then they wouldn’t be so stingy about it, you know – ‹«63
Mit dieser »Homologie, eine[m] deckungsgleichen Aufbau der Erfahrungsbereiche«64 von Emotionen und Geschmacksrichtungen gleicht sie der »undifferenzierten Parallelisierung von taktilen und gustativen Sinneseindrücken«65 der Herzogin: »›Very true,‹ said the Duchess: ›flamingoes and mustard both bite. And the
59 Wittgenstein: Eine Philosophische Betrachtung. S. 201. 60 PU 199. 61 Carroll: Alice. S. 68. 62 PU 83. 63 Carroll: Alice. S. 94. 64 Nöth: Literatursemiotische Analysen. S. 32. 65 Ebd., S. 26-27.
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moral of that is – Birds of a feather flock together.‹ ›Only mustard isn’t a bird,‹ Alice remarked.«66 Ein besonders passendes Beispiel für Alices erfolgreiche Adaptionsstrategien bietet das Gespräch mit dem Gryphon (Greif) und der Mock Turtle (»falsche Schildkröte«, zurückgehend auf das Gericht »Mock Turtle Soup«), dieses befindet sich relativ am Ende der Geschichte, sodass Alice aus ihren bisherigen Erfahrungen mit der Welt des Wunderlandes, deren Gegebenheiten und den Gesprächsgewohnheiten ihrer Einwohner profitieren kann. Da sie zuvor bereits bemerkt hat, dass der Status von Tieren als Speise einerseits und als agierende Gesprächspartner andererseits einen Konflikt ergeben, nimmt sie sich in Acht: »›You may not have lived much under the sea – ‹ (›I haven’t,‹ said Alice) – ›and perhaps you were never even introduced to a lobster – ‹ (Alice began to say ›I once tasted – ‹ but checked herself hastily, and said ›No, never‹), – so you can have no idea what a delightful thing a Lobster Quadrille is!‹«67
Die beiden Fabelwesen gehören darüber hinaus zu den wenigen Konversationspartnern, die ein offeneres Gesprächsverhalten aufweisen und Alice in ihrem Lernprozess stärker unterstützen, statt ihr ihre Unwissenheit übel zu nehmen und das Gespräch abzubrechen. Dennoch spielt selbst die Art der Nachfrage offensichtlich eine Rolle: im ersten Beispiel schwingt Alices Weltverständnis mit, welches die Herangehensweise des Wunderlands in Frage stellt, im zweiten Beispiel ist ihre Erkundigung neutraler: »›When we were little‹, the Mock Turtle went on [...] ›we went to school in the sea. The master was an old Turtle – we used to call him Tortoise – ‹ ›Why did you call him Tortoise, if he wasn’t one?‹ Alice asked. ›We called him Tortoise because he taught us,‹ said the Mock Turtle angrily. ›Really you are very dull!‹68 ›I never heard of ›Uglification,‹ Alice ventured to say. ›What is it?‹ The Gryphon lifted up both its paws in surprise. ›What! Never heard of uglifying!‹ it exclaimed. ›You know what to beautify is, I suppose?‹ ›Yes,‹ said Alice doubtfully: ›it means – to – make – anything – prettier.‹ ›Well, then,‹ the Gryphon went on, ›if you don’t know what to uglify is, you are a simpleton.‹«69 66 Carroll: Alice. S. 96. 67 Ebd., S. 104. 68 Ebd., S. 100. 69 Ebd., S. 102.
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Da ihre Unwissenheit immer wieder negativ kommentiert wird, werden auch ihre Fragen indirekter, sodass sie die Verwendung eines Begriffes erfährt, ohne ihre Nichtkenntnis davon preiszugeben. »›[…] he taught us Drawling, Stretching, and Fainting in Coils.‹ ›What was that like?‹ said Alice.«70 Alice lernt die Regeln des Sprachspiels, indem sie die sprachlichen Übertragungen, die für das Wunderland und die Lebensform üblich sind, akzeptiert (Verbindung von Homophonen »lesson« und »lessen«), aber auch hier stoßen logische Schlussregeln an ihre Grenzen: »›That’s the reason they’re called lessons,‹ the Gryphon remarked: ›because they lessen from day to day.‹ This was quite a new idea to Alice, and she thought it over a little before she made her next remark. ›Then the eleventh day must have been a holiday?‹ ›Of course it was,‹ said the Mock Turtle. ›And how did you manage on the twelfth?‹ Alice went on eagerly. ›That’s enough about lessons,‹ the Gryphon interrupted in a very decided tone: ›tell her something about the games now.‹«71
FAZIT Carroll stellt Alice im Wunderland ein Gedicht voran, in dem er den Entstehungsprozess der Geschichten rund um Alice beschreibt und auch hier werden neben dem kindlichen Wunsch nach Nonsens, fantastische Elemente des Wunderlands und Gesprächssituationen als charakteristische Merkmale für den Text genannt: »The dream-child moving through a land Of wonders wild and new, In friendly chat with bird or beast And half believe it’s true«72
Man kann argumentieren, dass trotz der vielen Streitereien eine Unterhaltung zwischen Mensch und Fabelwesen einen »friendly chat« darstellt, insbesondere weil die Streitereien sich als ein Sprachspiel des Wunderlands beschreiben lassen, in
70 Ebd. 71 Ebd., S. 103. 72 Ebd., S. 7.
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dem mit Sprache gespielt wird, ohne die Notwendigkeit eines Konsenses der Gesprächspartner oder einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Indem hinter der angeblichen Verrücktheit und dem Nonsens des Wunderlands eine Logik, eine Lebensform gesucht wurde, konnte die Kommunikationsstörung als Ergebnis rivalisierender Sprachspiele enttarnt werden. Das Verschwimmen von fantastischen Elementen und dem Alltagswissen Alices bildete eine Hürde, um die abweichende Lebensform des Wunderlands als solche zu erkennen. Alice schafft es aber, ihr Gesprächsverhalten anzupassen und wird erfolgreicher. Sie versucht zum einen, fehlendes Weltwissen zu erschließen, indem sie Nachfragen stellt, zeigt aber auch Ansätze, selbst spielerisch mit Sprache umzugehen. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass sie den Charakter der einzelnen Sprachspiele vollständig durchschaut, da sie auch in der Fortsetzungsgeschichte Alice hinter den Spiegeln auf vergleichbare Kommunikationsschwierigkeiten stößt. Carrolls literarische Texte bilden das Terrain für sprachphilosophische Betrachtungen mit einer Verwurzelung in kommunikativ-pragmatischen Gesprächszusammenhängen und es ließen sich ähnliche Gedanken wie in Wittgensteins späteren Theorien am Text belegen und das Konzept von Sprachspiel und Lebensform für eine Deutung heranziehen. Die Welt um Alice entwickelt zwar zahlreiche Ideen, ohne diese aber konkret zu Ende zu führen, und richtet sich vor allem an jüngere Rezipienten, dennoch kann man den Einfluss Carrolls auf die Arbeiten Wittgensteins nicht nur an konkreten intertextuellen Verweisen festmachen.
QUELLENVERZEICHNIS Carroll, Lewis: The Annotated Alice. The Definitive Edition. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass. London 2000. Frankfurt, Harry G.: Bullshit. Frankfurt a. M. 2006. Genette, Gèrard: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998. Grice, H. Paul: Logik und Konversation. In: Meggle, Georg (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a. M. 1979. S. 243-265. Kenny, Anthony: Wittgenstein. Frankfurt a. M. 1974. Nöth, Winfried: Literatursemiotische Analysen zu Lewis Carrolls Alice-Büchern. Tübingen 1980. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Pfister, Manfred/ Broich, Ulrich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglis-tische Fallstudien. Tübingen 1985.
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Pitcher, George: Wittgenstein, Nonsense, and Lewis Carroll. In: The Massachusetts Review 6 (1965) H. 3, S. 591-611. Schank, Gerd: Linguistische Konfliktanalyse. Ein Beitrag der Gesprächs-analyse. In: Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hg.): Konflikte in Gesprächen. Tübingen 1987. S. 18-175. Schütte, Wilfried: Muster und Funktionen von Kommunikationsspielen in latenten Konflikten: Pflaumereien und andere aggressive Späße. In: Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hg.): Konflikte in Gesprächen. Tübingen 1987. S. 239-291. Swift, Jonathan: Gulliver’s Travels. McKelvie, Colin (Hg.). Belfast 1976. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München 1972. Wagner, David: The uses of nonsense. Ludwig Wittgenstein reads Lewis Carroll. In: Wittgenstein Studien 3 (2012) H. 1, S. 205-216. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1967. In: Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 19141916. Philosophische Untersuchungen. Werkaus-gabe Bd. 1. Frankfurt a. M. 1984. Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). In: Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Werkausgabe Bd. 5. Frankfurt a. M. 1984.
Zu schwach für die Kamera? Die patriarchale Kameraperspektive in Game of Thrones und ihre Auswirkungen auf das Frauenbild Vanessa Karthäuser *
EINLEITUNG Die Fernsehserie Game of Thrones gehört zu den momentan erfolgreichsten TVSerien. Sie basiert auf der Fantasyromanreihe A Song of Ice and Fire von George R. R. Martin, die durch ihre unvorhersehbare Handlung sowie durch den Bruch mit traditionellen Handlungsmustern besticht. Die Handlung vollzieht sich in einer fiktiven, an das Mittelalter angelehnten Welt mit unberechenbar lang andauernden Jahreszeiten. Lange Winter sind dafür bekannt, Unheil zu bringen, und zwar nicht nur aufgrund der knappen Ressourcen, sondern auch dadurch, dass konfligierende Adelshäuser vor dem Winter militärische Konflikte forcieren, deren Vergeltung durch den dann einbrechenden Winter verhindert oder zumindest verzögert wird. Entsprechend beginnt die Geschichte am Ende eines Sommers, Spannungen zwischen drei der führenden Adelshäuser führen zu dem namensgebenden Kampf um den Thron. Ein Aspekt, bei dem Buchreihe und Serienadaption mit Erwartungen an mittelalterliche Settings brechen, sind die starken weiblichen Charaktere: Sie tragen in Game of Thrones zentrale Bedeutung für die Handlung. So wird im Laufe der lang angelegten Erzählung die junge Frau Daenerys Targaryen erst zur Anführerin eines kämpferischen Reitervolkes und damit schließlich zur zusätzlichen Bedrohung für die drei konfligierenden Adelshäuser. Eine andere bedeutende weibliche Figur ist Cersei Lannister, die durch ihr Machtstreben und ihr Kalkül aus der Reihe
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Besonderer Dank gilt Paul Reszke und Jonas Sowa, für ihre große Unterstützung und die Mitarbeit an der Endfassung.
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der weiblichen Figuren hervorsticht. Auch andere weibliche Figuren spielen immer wieder oder zunehmend zentrale Rollen beim Kampf um den Thron. Der Fokus soll allerdings auf den beiden erwähnten liegen, da sie von Anfang an mit hohem Anteil in der Erzählung präsent sind. Verschiedene Kritiker loben die Fernsehserie als feministisch. So postuliert Charlotte Runcie: »The fantasy drama series Game of Thrones may appear to be brutally misogynist – but in fact it’s a feminist tract«.1 Fraglich bleibt jedoch, ob Aspekte wie hohe Präsenz und zentrale Positionierung in der Erzählung ausreichen, um die Serie als feministisch zu deklarieren. Denn in Game of Thrones werden etliche Frauen nackt gezeigt sowie ihre Körper und Körperteile in freiwilligen oder unfreiwilligen Sexszenen ins Rampenlicht gerückt. Männliche Charaktere hingegen bleiben während dieser Szenen eher im Hintergrund. Hier entsteht also ein Widerspruch zwischen einer vordergründig als feministisch empfundenen Handlungsebene und einer traditionell umgesetzten Darstellungsform weiblicher Figuren. Die zentrale Fragestellung, die sich aus dem gegebenen Kontext ergibt, lautet: Welches Frauenbild und welche gesellschaftlichen Denkweisen werden durch die in Game of Thrones genutzten filmischen Darstellungsmittel impliziert? Um die aufgeworfene Frage erörtern zu können, werden Ansätze der feministischen Filmtheorie genutzt. Im Fokus der Ausarbeitung steht Laura Mulveys Artikel Visual Pleasure and Narrative Cinema (1973), in dem sie die Machart der Mainstream-Kinofilme als unbewusste Darstellung patriarchalen Gedankenguts beschreibt. Unter den von Mulvey herausgearbeiteten Gesichtspunkten werden anschließend Sequenzen aus Game of Thrones analysiert und diskutiert.
1 THEORETISCHER HINTERGRUND Die feministische Filmtheorie sieht die Darstellung von Frauen in Film und Fernsehen als einen Ausgangspunkt für die Unterdrückung der Frau. Dieser Gedanke hat sich aus der zweiten Welle des Feminismus entwickelt. So postulierte Simone de Beauvoir »one is not born, but rather becomes, a woman«.2 In diesem Zitat spiegelt sich der feministische Grundgedanke wider, dass Gender, das soziale Ge-
1
Runcie, Charlotte: Game of Thrones: Nowhere Else on TV Do You Get Women This Good. In: https://www.telegraph.co.uk/culture/tvandradio/game-of-thrones/10735 304/ Game-of-Thrones-nowhere-else-on-TV-do-you-get-women-this-good.html (Stand: 08. 09.2017).
2
de Beauvoir, Simone: The Second Sex. London 1993. S. 281.
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schlecht, nicht angeboren ist, sondern durch Kultur und Sozialisation innerhalb einer Gesellschaft vermittelt wird. Diese Vorstellungen stammen von Leitsätzen der existentialistischen Philosophie, bei deren Formulierung de Beauvoir Jean-Paul Sartre unterstützte. Sartre war der Auffassung, dass Menschen ihre Existenz aktiv gestalten müssten, im Gegensatz zu Gegenständen, die bloß existierten. In Das andere Geschlecht (1993) beschreibt de Beauvoir, dass Männer eine solche aktive Subjektposition für sich selbst beanspruchen. Um ihren eigenen Subjektstatus zu bestätigen, würden Männer allerdings Frauen auf einen passiven Objektstatus reduzieren. Frauen würden für Männer nur Sexualobjekte und keine autonome Entität darstellen. Außerdem würden Frauen nur in Referenz zu Männern definiert und unterschieden werden, umgekehrt wäre dies nicht der Fall.3 Der Ursprung der sexuellen Ungleichheit und der Gender-Hierarchie sei die patriarchale Kultur, die durch Religion, Traditionen, Sprache, Geschichten, Lieder und Filme vermittelt und wiederholt stabilisiert würde.4 Damit ist auch die Beschäftigung mit Filmen relevant, um Gender-Ungleichheiten aufzudecken und hinterfragbar zu machen. Jedoch ergibt sich aus diesen Vorstellungen auch die Frage, wie sich solche Ungleichheiten im Film manifestieren und ob die Kriterien, mit deren Hilfe die Unterdrückung der Frau im Film der 1970er Jahre analysiert werden konnte, auch auf gegenwärtige Serien anwendbar sind. Mulvey argumentiert in Visual Pleasure and Narrative Cinema, dass der Blick bzw. die Perspektive der Kamera auf das Geschehen immer männlich sei.5 Den Zuschauern werde somit nahegelegt, die weibliche Hauptfigur als passives erotisches Objekt zu betrachten.6 Mulveys Konzept des männlichen Blicks stellte den Hauptaspekt der feministischen Filmdebatte Mitte der 1970er Jahre dar7 und trägt bis heute Bedeutung für die feministische Filmtheorie. Die These des dominanten männlichen Blicks steht in engem Zusammenhang mit de Beauvoirs feministischem Existentialismus, der den weiblichen Objektstatus in der tradierten patriarchalen Gesellschaft anprangert.
3
Vgl. ebd., S. xxxix-xl.
4
Vgl. ebd., S. 275.
5
Laura Mulvey ist eine britische feministische Filmtheoretikerin.
6
Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Braudy, Leo/Cohen, Marshall (Hg.): Film Theory and Criticism: Introductory Readings. New York 1999. S. 833844, hier S. 837.
7
Chaudhuri, Shohini: Feminist Film Theorists. Laura Mulvey, Kaja Silverman, Teresa des Lauretis, Barbara Creed. New York 2006. S. 31.
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Zur Analyse der spezifischen Form von Mainstream-Hollywood-Filmen orientiert sich Mulvey an Sigmund Freuds Psychoanalyse, da sie der Auffassung ist, dass patriarchale Gesellschaftsstrukturen im Unbewussten8 manifestiert sind und damit wiederum die Form der Filme strukturieren – somit wird der Kreislauf der dauerhaften (Wieder-)Bestätigung des Patriarchats gestärkt.9 Außerdem ermöglicht ihr die Psychoanalyse nicht allein die Darstellung der Frau zu untersuchen, sondern auch herauszuarbeiten, wie die Objektifizierung der Frau zur Konstruktion von Männlichkeit beiträgt. Das Kino und das Schauen von Filmen beinhalten verschiedene Aspekte des Vergnügens für den Zuschauer. Mulvey postuliert die sogenannte Skopophilie als einen zentralen Vergnügungsaspekt beim Schauen von Filmen.10 Skopophilie ist Freud zufolge eine Form der krankhaften Neugier, die durch einen Blick realisiert werde, bei dem Menschen als Objekte angesehen würden. Mulvey nutzt diesen Gedanken, um die Bedingungen von Filmaufnahmen sowie die üblichen Erzählkonventionen im Film so zu beschreiben, dass bei den Zuschauern üblicherweise die Illusion erzeugt werde, eine private Welt zu beobachten. Durch den Fokus der Kamera auf die Form des menschlichen Körpers werde eine Form der narzisstischen Skopophilie erzeugt und befriedigt.11 Mulvey unterscheidet zwei divergierende Formen der Skopophilie: Erstens das Vergnügen, eine andere Person durch den eigenen Blick zu objektivieren und sich an diesem Anblick zu stimulieren. Und zweitens die Identifikation mit dem gezeigten Bild.12 Das Ich werde durch diese narzisstische Form des Schauens gestärkt. Im ersten Fall werde die Identität des Subjekts (des Betrachtenden) von dem des Objekts auf dem Bildschirm unterschieden. Im zweiten Fall identifiziere sich das Ich mit einem idealisierten Objekt. Diese Identifikation ist in der Faszination und Anerkennung begründet, die das Ich für sich selbst habe. 8
Sigmund Freud beschreibt in seiner Theorie der Psychoanalyse, dass die Motive hinter Handlungen größtenteils unbewusst sind. Er ist der Auffassung, dass die Psyche aus unterschiedlichen Schichten bestünde: Das Bewusste, das aus unserer gegenwärtigen Wahrnehmung besteht, das Vorbewusste, das aus Aspekten besteht, die größtenteils unbewusst sind, die aber wieder abgerufen werden können, und das Unbewusste, das Vorstellungen und Repräsentationen beinhaltet, die nicht in unser Bewusstsein treten bzw. nur in getarnter Form, z.B. in Träumen. Vgl. Chaudhuri: Feminist Film Theorists. S. 19.
9
Mulvey: Visual Pleasure. S. 834-835.
10 Ebd., S. 835. 11 Alle Aspekte des Films haben ihren Ausgangspunkt beim Menschen. Dementsprechend orientieren sich Raum, Geschichte, Maßstäbe etc. an den Figuren. 12 Ebd., S. 835-836.
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Eine elementare Unterscheidung des Films von anderen sexuellen Darstellungen der Frau sei, dass der Film eine Vertauschung der Perspektive beinhalte: Im Film werde vorgegeben, wie die Frau angeschaut werden solle. Dadurch würden alle Zuschauer in eine maskuline Position gerückt.13 Frauen würden in der traditionell passiven Rolle dargestellt und damit eben auch als Objekt betrachtet. Das weibliche Erscheinungsbild werde auf visueller Ebene stark erotisch kodiert, sodass Mulvey letztlich zu dem Schluss kommt, Frauen würden das Angeschautwerden konnotieren. Traditionell hat die dargestellte Frau zwei Funktionen: Sie ist erotisches Objekt für die Charaktere in der Geschichte und erotisches Objekt für den Zuschauer.14 Aufgrund der unbewussten patriarchalen Struktur kann die männliche Figur nicht Ziel der sexuellen Objektifizierung sein. Mulvey zufolge gelingt eine Identifikation nur mit der männlichen Hauptrolle, die die Handlung vorantreibt und Macht ausstrahlt. Durch den professionellen Einsatz der Kameraarbeit könne der Protagonist die Bühne der räumlichen Illusion frei bestimmen und der Zuschauer erlange den Eindruck, an diesem Prozess beteiligt zu sein.15 Die Anwesenheit von Frauen ist ein wesentliches Element im traditionell angelegten narrativen Film, aber ihre visuelle Präsenz arbeite der Entwicklung der Handlung entgegen, da diese für einen Moment der erotischen Kontemplation eingefroren werde. Die Frau als wesensfremdes Element müsse dann in Zusammenhang mit der Handlung gebracht werden, was nur durch den aktiven Mann geschehen kann. Mulvey betont die Dringlichkeit, dass Frauen die beschriebenen Mechanismen in Filmproduktion und -rezeption verstehen, denn das patriarchale Unbewusste spiegele sich darin.16 Drei unterschiedliche Perspektiven seien beim Schauen von Filmen einnehmbar und spielten in ihrem Verhältnis zueinander für die Rezeption eine zentrale Rolle: 1. die Kameraaufnahme, 2. die Zuschauer, die das finale Produkt sehen und 3. die Charaktere, die eine illusionierte Perspektive zugunsten der Handlung aufzeigen. Die Konventionen des Films verweigerten die ersten beiden und ordneten sich der dritten unter. Das bewusste Ziel der Darstellung sei die Eliminierung der intrusiven Kamerapräsenz und das Verhindern einer Distanzierung der Zuschauer.17 13 Vgl. Chaudhuri: Feminist Film Theorists. S. 35. 14 Vgl. Mulvey: Visual Pleasure. S. 838. 15 Ebd. 16 Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski, Gislind/Sander, Helke/Gorsen, Peter (Hg.): Frauen in der Kunst. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980. S. 30-46, hier S. 39. 17 Mulvey: Visual Pleasure. S. 844.
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Im Folgenden wird erörtert, inwiefern sich Mulveys Theorien auf Serien übertragen lassen, da sie sich ausschließlich am Mainstream-Hollywood-Kinofilm der 1970er orientiert. Darauf aufbauend wird Game of Thrones analysiert. Die Analyse orientiert sich an Mulveys Thesen und wird deshalb besonders die Darstellung von Frauen durch den Blick bzw. die Kameraperspektive diskutieren. Das Ziel dabei ist es, zu schauen, wo sexualisierende und objektifizierende Darstellungen auftreten und ob sie durch den Kontext der Handlung als sinnvoll eingebettet gelten können oder nur bloße Reproduktion patriarchal geprägter Produktionsund Rezeptionsgewohnheiten sind. Obwohl Mulvey in Visual Pleasure and Narrative Cinema über Kinofilme spricht und besonders den voyeuristischen Aspekt, der durch die Dunkelheit und Enge des Kinosaals unterstützt wird, hervorhebt, ist ihr Ansatz auf die heutige Serienkultur übertragbar. Die Bereitstellung von Online-Streams verschiedener Anbieter sowie der damit verbundene mühelose Zugriff auf verschiedene Filmund Fernsehformate erlauben völlig frei kontrollierbare Rezeption im privaten Raum. Vor allem junge Menschen konsumieren aufwändig produzierte Serien der amerikanischen Pay-TV-Sender und Streamingdienste, und zwar online und häufig18 – und gerade hier kann Mulveys Anspruch, Produktion und Rezeption von Unterhaltungsmedien zu reflektieren, wieder aktualisiert werden. Durch das Schauen aufeinanderfolgender Episoden in dichter Abfolge, dem sogenannten Binge-Watching, gewinnen die Rezipierenden weitere Einblicke in die Facetten der Figuren, diese wirken vielschichtiger und es erfolgt eine Steigerung der Identifikation.19 Wenn es zutrifft, dass Frauen heute nach wie vor in Unterhaltungsmedien wie Serien objektifiziert werden und eine Subjektwerdung durch den männlichen Blick nicht möglich ist, würde dies bedeuten, dass patriarchale Gendervorstellungen weiterhin in einem hohen Maße tradiert werden. Ob dies zutrifft, soll im Folgenden am Beispiel der Fernsehserie Game of Thrones untersucht werden.
18 Vgl. Herbst, Thordes: Eskapismus durch Serienkonsum. Der Einfluss von Online Streams auf suchtartiges Verhalten. Hamburg 2013. S. 19. 19 Vgl. ebd., S. 18.
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2 DIE DARSTELLUNG VON FRAUEN IN GAME OF THRONES Die folgende Analyse setzt sich immer aus zwei Teilen zusammen, erstens einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts der zu analysierenden Szene und zweitens einer kleinschrittigen Beschreibung der genutzten Kameraperspektiven sowie ihrer Implikationen in Bezug auf die Darstellung von Objekt- und Subjektstatus. Zunächst wird die Darstellung der Frauen in Game of Thrones anhand einer der weiblichen Hauptfiguren analysiert. Dazu dient die erste Sequenz, in der diese vorgestellt wird. Es handelt sich um Daenerys Targaryen, die sich in der ersten Folge der ersten Staffel mit ihrem Bruder Viserys im Exil aufhält, da ihr Adelsstamm noch zu Zeiten ihrer Kindheit den Thron verloren hat. Viserys unterbreitet ihr in dieser ersten Sequenz seinen Plan, durch Daenerys’ Zwangsehe mit Khal Drogo, dem Stammeshäuptling eines Reiterstamms, wieder zu Macht zu gelangen. Entsprechend ist Daenerys in dieser Situation auf der Handlungsebene die Unterlegene und Viserys betrachtet sie in diesem Zusammenhang als Tauschobjekt. Um die Figur Daenerys visuell einzuführen wird eine halbnahe Kameraeinstellung verwendet, die sie zuerst von hinten und dann von vorne zeigt.20 Nachdem ihr Bruder kurz eingeblendet wurde, wird eine Totale genutzt, welche sich an Viserys’ Blickrichtung orientiert.21 Somit betrachtet das Publikum Daenerys durch Viserys’ Augen. Obwohl diese Einstellung eine Normalsicht22 beinhaltet, wirkt es, als ob Daenerys durch den Blick ihres Bruders objektifiziert würde. Eine andere Einstellung, in der sie und ihr Bruder zu sehen sind, suggeriert aufgrund einer leichten Draufsicht auf Daenerys ihre Unterlegenheit gegenüber dem älteren und größeren Bruder.23 Als Viserys beginnt, sie zu entkleiden, wird seine Macht über Daenerys besonders deutlich. Die Kamera filmt das Geschehen in einer leichten Untersicht, dies drückt üblicherweise Macht und Stärke aus,24 in diesem Fall Macht der männlichen Figur. Der Eindruck der Überlegenheit Viserys’ wird zusätzlich durch den Akt des Entkleidens verstärkt. Ihr nackter Körper ist von hinten dem Blick der Kamera ausgesetzt, Viserys hingegen wirkt stark, groß und ist und bleibt angezogen.
20 Vgl. Van Patten, Tim: Game of Thrones. S01/E01. HBO 2012 (DVD). 00:33:1800:33:32. 21 Vgl. ebd., 00:33:35-00:33:37. 22 Unter Normalsicht wird eine Kameraperspektive verstanden, bei der die natürliche Perspektive und Betrachtungshöhe imitiert werden sollen. 23 Vgl. ebd., 00:33:42-00:33:46. 24 Vgl. Korte, Helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Berlin 2000. S. 49.
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Später in dieser Sequenz kommt es zu Detailaufnahmen von Daenerys’ Brust, welche Viserys in seine Hand nimmt.25 In der gesamten Sequenz wird Daenerys somit zwar aus Gründen der Handlung als Objekt ihres Bruders dargestellt, aber auch den Rezipierenden wird mehr von Daenerys’ Körper vorgeführt, als es für die Handlung notwendig wäre. Um es mit Mulveys Worten auszudrücken: »Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird«.26 Am Ende der Sequenz werden weitere verschiedene Aufnahmen von Daenerys’ nacktem Körper gezeigt.27 Die Darstellung der nackten Daenerys ist losgelöst von der Handlung. Als nächstes wird die einführende Sequenz der beiden Figuren Cersei und Jamie Lannister betrachtet. Diese bietet sich an, da so ein Vergleich zwischen der Darstellung zweier in etwa gleich starker Figuren gezogen werden kann. Cersei und Jamie stammen beide aus dem Hause Lannister und sind Zwillinge. Zwar ist Cersei die Königin des Reiches und Jamie als kampferprobter Ritter ihr Leibwächter, aber da beide eine Affäre miteinander haben, begegnen sie sich als Geschwister und Liebespartner in privaten Gesprächen auf Augenhöhe. Diese Szene spielt in einer Kapelle, in der ein Toter aufgebahrt ist. Sein Tod könnte ihre Affäre entlarven, was auch ihren Gesprächsanlass bildet. Hier ist also keiner der beiden dem einen oder der anderen untergeordnet oder zu Gehorsam verpflichtet. Die Sequenz beginnt mit einer Totalen beider Charaktere, Jaime bewegt sich auf Cersei zu, diese wiederum lehnt an einem Geländer und betrachtet unter ihr den aufgebahrten Toten.28 Die Kamera verfolgt besonders die Bewegungen Jaimes und belässt Cersei eher im Hintergrund. Als Jaime bei Cersei ankommt, schwenkt die Kamera um und zeigt beide von hinten. Nachdem Jaime bei Cersei angekommen ist, lehnt er sich auch an das Geländer, wirkt aber wesentlich größer und beugt sich auch nicht so tief hinab wie Cersei. Dadurch wirkt besonders der Rücken Jaimes kräftig und für den Zuschauer wird die körperliche Überlegenheit Jaimes sichtbar. Während der gesamten Sequenz kommt es zu fünf Großaufnahmen des Kopfes von Cersei aber nur einmal zu einer Großaufnahme von Jaime. Dieser hingegen wird meistens in der Halbtotalen gezeigt. Die Filmwissenschaftlerin Mary Ann Doane erörtert in ihrem Aufsatz Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers, dass Frauen im Film Nähe zugeschrieben werde und diese durch die
25 Vgl. Van Patten: Game of Thrones. S01/E01. 00:34:35-00:34:37. 26 Vgl. Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino. S. 36. 27 Vgl. Van Patten: Game of Thrones. S01/E01. 00:35:15-00:35:29. 28 Vgl. ebd., 00:18:57-00:19:13.
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Kameraeinstellung ausgedrückt würde.29 Der Vergleich Cerseis und Jaimes untermauert diese Theorie. Die Großaufnahmen des Gesichts von Cersei können außerdem als Fokus auf ihr Aussehen gedeutet werden, weder die Handlung noch die Redeanteile rechtfertigen, warum es mehr Großaufnahmen von Cersei als von Jaime gibt. Als nächstes werden zwei Sequenzen diskutiert, die den Geschlechtsakt darstellen. Da der männliche Blick der Kameraperspektive besonders deutlich in solchen Szenen auftritt, lohnt es sich, die jeweiligen Darstellungen der weiblichen und der männlichen Figur miteinander zu kontrastieren. Zunächst wird eine Szene zwischen Daenerys und Khal Drogo betrachtet. Aus einem vor dieser Szene gezeigten Gespräch geht hervor, dass Daenerys durch den folgenden Geschlechtsakt ihre Position innerhalb der Beziehung stärken möchte. Insofern spielt die mimische und gestische Kommunikation zwischen den beiden eine zentrale Rolle. Obwohl Daenerys in dieser Szene vollkommen angezogen bleibt, wird eine erotische Stimmung dadurch erzeugt, dass die Kamera langsam über ihren gesamten Körper fährt.30 Als Drogo hinzukommt, wird sein nackter Unterleib von hinten gezeigt. Durch die Untersicht auf Drogo, werden zunächst seine Größe und Stärke betont.31 In der folgenden Sequenz wird jeweils der Körper derjenigen Figur in den Fokus der Kamera gerückt, der den aktiveren Part übernimmt. Anfangs sind es Drogos Körper und seine Versuche, die Kontrolle zu halten, die gezeigt werden, am Ende liegt der Fokus wieder auf Daenerys’ Körper und ihrem Gesicht. Auffallend ist, dass, ungeachtet der Kleidung, welche sie während der gesamten Sequenz trägt, ihr Körper anteilig häufiger fokussiert wird. Eine andere Sequenz, die den männlichen Blick der Kameraführung hervorhebt, zeigt den Koitus zwischen Cersei und Jaime. Beide glauben sich in einer Turmruine unbeobachtet, bis ein Junge, der dort zufällig hochklettert, beide überrascht, woraufhin sie den Geschlechtsakt abbrechen. In dieser Sequenz ist es zunächst unmöglich, beide zu erkennen. Jaime ist von der Kamera abgewandt und sein Gesicht von Efeu überdeckt. Cerseis Körper steht im Vordergrund, sie ist auf allen Vieren auf dem Boden und ein Holzbalken schneidet den Blick auf ihr Gesicht vollständig ab. Man sieht bloß ihren nackten Unterleib. Ihr Gesicht ist erst ab dem Zeitpunkt, als sie den Jungen entdeckt, im Fokus. Als Cersei zweimal »stop« sagt, hört Jaime sofort auf und rückt mit in den 29 Vgl. Doane, Mary Ann: Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers. In: Gramann, Karola/Koch, Gertrud/Schlüpmann, Heide (Hg.): Frauen und Film 38. Paderborn 1985. S. 4-19, hier S. 4-5. 30 Vgl. Van Patten, Tim: Game of Thrones. S01/02. HBO 2012 (DVD). 00:40:1500:40:27. 31 Vgl. ebd., 00:40:36-00:40:39.
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Fokus.32 Insgesamt wird hier Cersei also zunächst objektifiziert und als passiv gezeigt, danach ist die Darstellung zwar gleichberechtigt, aber Cersei bleibt auf der Handlungsebene die passive: Es ist Jaime, der den Jungen herunterstößt, um die Entlarvung der Affäre zu vermeiden. Da die bisher analysierten Sequenzen innerhalb von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen spielen, ließe sich die Fokussierung auf den passiven weiblichen Körper mit einer daran angepassten Kameraführung erklären. Aus diesem Grund wurde zusätzlich eine andere Sequenz innerhalb einer gleichberechtigten Gesellschaftsstruktur, jene der Wildlinge, betrachtet. In der fünften Folge der dritten Staffel haben die Figuren Ygritte und Jon Snow miteinander Geschlechtsverkehr. Während Jon sowohl verpflichtet wäre, sich gegen Ygritte und die Wildlinge zu stellen, als auch durch einen Eid jeglichen sexuellen Kontakten abgeschworen hat, möchte Ygritte ihn verführen; auch, um seine Loyalität zu testen. Ygritte verführt Jon offensiv: Sie sagt, dass sie mit ihm schlafen möchte, und entkleidet sich vollständig. Die Kamera zeigt sie zunächst in der Totale von vorne, mit nacktem Oberkörper. Als sie ihre Hose herunterzieht, folgt eine Einstellung, die Ygritte nun komplett entkleidet von hinten zeigt.33 Jon bleibt eher aus Passivität angezogen, bis er nachgibt. In der nachfolgenden Szene ist der Geschlechtsakt bereits vollzogen und beide reden miteinander. Sie werden im Halbschatten gezeigt. Erst als Ygritte wieder die Initiative übernimmt, stützt sie sich über Jon, wobei ihre Brust zu sehen ist. Die Kamera fährt nicht über Jons Körper. In dieser Sequenz ist Ygritte also zwar mehrfach nackt im Fokus, dies wird aber auch durch den Handlungskontext erklärbar. Sie ist die erfahrenere, die den passiven und unsicheren Jon kontrolliert. Und das sowohl in der Initiation des Geschlechtsakts als auch in dem Gespräch danach, wo sie sich beispielsweise mit ihren Eroberungen schmückt und über Jons Jungfräulichkeit scherzt.34
3 ZUSAMMENFASSUNG DER ANALYSEN UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Im Vergleich der beiden Gesprächssequenzen zwischen Daenerys und Viserys sowie zwischen Cersei und Jaime ergab sich, dass es in ersterer zwar bereits durch den Handlungskontext Viserys’ Blick ist, dem die Kamera folgt und damit Daene-
32 Vgl. Van Patten: Game of Thrones. S01/E01. 00:59:43-00:59:45 und 00:59:4700:59:48. 33 Vgl. Benioff, David: Game of Thrones. S03/05. HBO 2014 (DVD). 00:09:23-00:09.37. 34 Vgl., ebd., 00:11:00-00:11.42.
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rys objektifiziert – dass dies aber auch stärker geschieht, als es aus der Handlung erklärbar wäre. Ähnliches ist beim zweiten Dialog zu beobachten: Cerseis Gesicht steht vermutlich nicht zuletzt wegen ihrer Attraktivität verstärkt im Fokus. Die Sexszenen zwischen den Paaren Daenerys und Drogo sowie Cersei und Jaime zeichnen ein differenzierteres Bild. Im ersten Fall folgt die Kamera dem jeweils dominanteren Part, der zunächst von Drogo, dann aber zunehmend von Daenerys erfüllt wird. Sie bleibt bekleidet und auch im Kontext der Handlung und der Darstellung die stärkere Figur. Höchstens die einleitende Sequenz, in der ihr Körper durch eine Kamerafahrt inszeniert wird, spricht dagegen, lässt sich aber auch mit dem Kontext erklären: Sie wird zum letzten Mal in derjenigen Rolle gezeigt, die sie nun abzulegen beabsichtigt. Ganz anders hingegen wirkt die Szene in der Turmruine. Die klar darauf hin angelegte Kameraperspektive, die Gesichter beider Figuren verdeckt zu lassen und stattdessen den Akt in den Vordergrund zu rücken, fokussiert vor allem den weiblichen Körper als passives Objekt. Auch im anschließenden Gespräch ist der männliche Part derjenige, der die Handlung kontrolliert, während Nahaufnahmen Cerseis ihre Hilflosigkeit unterstreichen. Das letzte Analysebeispiel stellt wiederum einen Sonderfall dar. Hier wird zwar die Nacktheit der weiblichen Figur vor dem Geschlechtsakt mehrfach von der Kamera eingefangen, in der Szene nach dem Geschlechtsakt geschieht dies auch in einer Weise, die für die Handlung unnötig ist. Dennoch sind hier die üblichen patriarchalen Strukturen nicht nur in der erzählten Welt aufgehoben, es wird auch auf der Darstellungsebene mit den Sehgewohnheiten und Erzählkonventionen gespielt: Es ist die Frau, die den jungfräulichen Mann verführt, aktiv mit seiner Unbeholfenheit spielt und am Ende von ihren überlegenen sexuellen Erfahrungen erzählt. Würde man hier die Geschlechterrollen vertauschen, so würde es – übertrieben formuliert – patriarchaler nicht gehen. So aber werden hier Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten reflektierend umgesetzt. Insgesamt lässt sich somit einerseits festhalten, dass die Serie Game of Thrones an vielen Stellen Mulveys Kritik mitreflektiert und in ihre Produktionsprozesse integriert. Andererseits kann sie sich aber auch nicht ganz von den so lange und so stabil etablierten Regeln lösen, was wohl auch an den Erwartungen eines amerikanischen Publikums an einen Pay-TV-Sender wie HBO liegt. Eine in der Handlung von Romanreihe und Serie eigentlich starke Figur wie Cersei Lannister wird – so haben die Analysen gezeigt – durch die Kamera ausschließlich in die passive Rolle gerückt. Und dies lässt sich nicht mit einer Entwicklung erklären, die beispielsweise Daenerys Targaryen durchläuft, und auch nicht mit einer unterlegenen gesellschaftlichen Position innerhalb der erzählten Welt. Cersei ist als Königin von vornherein als dominante Figur angelegt, filmisch wird aber das Gegenteil umgesetzt.
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Abschließend kann also festgestellt werden, dass die weiblichen Charaktere in Game of Thrones selbst da, wo sie stark sind, nicht immer stark genug sind, um sich gegen die Hollywood-Kamera zu wehren.
QUELLENVERZEICHNIS de Beauvoir, Simone: The Second Sex. London 1993. Benioff, David: Game of Thrones. S03/E05. HBO 2014 (DVD). Chaudhuri, Shohini: Feminist Film Theorists. Laura Mulvey, Kaja Silverman, Teresa de Lauretis, Barbara Creed. New York 2006. Doane, Mary Ann: Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers. In: Gramann, Karola/Koch, Gertrud/Schlüpmann, Heide (Hg.): Frauen und Film 38. Paderborn 1985. S. 4-19. Herbst, Thordes: Eskapismus durch Serienkonsum. Der Einfluss von Online Streams auf suchtartiges Verhalten. Hamburg 2013. Korte, Helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Berlin 2000. Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski, Gislind/Sander, Helke/Gorsen, Peter (Hg.): Frauen in der Kunst. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980. S. 30-46. Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Braudy, Leo/Cohen, Mar-shall (Hg.): Film Theory and Criticism: Introductory Readings. New York 1999. S. 833-844. Runcie, Charlotte: Game of Thrones: Nowhere Else on TV Do You Get Women This Good. https://www.telegraph.co.uk/culture/tvandrad io/game-of-thrones/ 10735304/Game-of-Thrones-nowhere-else-on-TV-do-you-get-women-thisgood.html (Stand: 30.04.2017). Van Patten, Tim: Game of Thrones. S01/E01. HBO 2012 (DVD). Van Patten, Tim: Game of Thrones. S01/E02. HBO 2012 (DVD).
All of Your Choices Matter Charakterbildungsrelevante Entscheidungen in Videospielen am Beispiel von Telltales The Walking Dead Rebecca Bachmann
»None of your choices matter in The Walking Dead but they do a fantastic job of making it seem like they do.«1
Die zur Einleitung zitierte kritische Einschätzung prägt einen Großteil der Diskussionen um Videospiele wie The Walking Dead, die damit werben, die Spieler*innen könnten relevante Entscheidungen treffen, in dem Sinne, dass je nachdem, wie sie sich entscheiden, der Plot des Spiels anders verläuft. In diesem Aufsatz soll es um die zweite Staffel der Videospielreihe The Walking Dead2 gehen, die sich aus zwei Gründen ideal dazu eignet, zum Thema Entscheidungen diskutiert zu werden. Zum einen lädt das thematische Setting geradezu dazu ein, moralisch schwierige Entscheidungen zu treffen. Beide Teile von The Walking Dead basieren auf der gleichnamigen Comicbuchreihe von Robert Kirkman3 und spielen im US-Bundesstaat Georgia nach dem Ausbruch einer Zombieapokalypse. Sie thematisieren, wie die jeweilige Hauptfigur mit den Herausforderungen dieser Welt umgeht, ob und wie sie sich beispielsweise mit anderen Menschen zusammenschließt oder sich gegen Zombies und zum Teil auch menschliche Angreifer*innen wehrt. Dabei muss sie immer wieder diverse Ent-
1
Kommentar von Arparagus zu: Favis, Elise: Opinion – Your Choices Don’t Matter in Telltale Games. http://www.gameinformer.com/b/features/archive/2015/02/03/whyyour-choices-dont-matter-in-telltale-games.aspx (Stand: 28.03.2017).
2
Guinness, Sara/Kennedy, Kirsten: The Walking Dead. S2/E1-5. 2013-2014.
3
Kirkman, Robert: The Walking Dead. Portland, seit 2003.
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scheidungen treffen, die teilweise klassische moralische Dilemmata aufgreifen, zum Beispiel, wenn zu entscheiden ist, wer in einer Notsituation gerettet werden soll, was gleichzeitig den Tod einer anderen Person bedeutet. Zum anderen zeigt sich an diesem Spiel die oben schon angedeutete Kritik: Die Spieler*innen sind häufig damit konfrontiert, moralisch höchst problematische und damit niemals ganz zufriedenstellende Entscheidungen treffen zu müssen. Dabei wird durch eingeblendete Schriftzüge, auf die später noch eingegangen wird, der Anschein erweckt, dass jede dieser Entscheidungen insofern relevant ist, als sie nicht nur dafür sorgen, dass Figuren verschiedenartig auf die eigene Spielfigur reagieren, sondern auch der Verlauf der Handlung ganz anders aussieht. Tatsächlich, so die Kritik, ändern die Entscheidungen aber kaum etwas am Plot. Stimmt das Eingangszitat also, dass selbst solche Videospiele, die mit Entscheidungen werben, deren Relevanz nur suggerieren? Immerhin gibt es neben der vielfach angebrachten Kritik auch Stimmen, die Gefallen an diesen Videospielen finden und das Gefühl haben, dass hinter ihren Entscheidungen mehr steckt als bloße Suggestion.4 Um dieses intuitive Gefühl in Bezug auf die Relevanz von Videospielentscheidungen wissenschaftlich zu untersuchen, greife ich auf eine Theorie aus der Willensfreiheitsdebatte zurück, nämlich die des analytischen Philosophen Robert Kane, der ein Konzept von charakterbildenden Handlungen und ihrem Einfluss auf nachfolgende Entscheidungen entwirft. Ich möchte im Folgenden daran anknüpfend die These aufstellen, dass es zwei Arten gibt, Entscheidungen in Videospielen zu verstehen. Dabei möchte ich mich auf der einen Seite der oben beschriebenen kritischen Einschätzung anschließen, indem ich deutlich mache, dass es in Videospielen wie The Walking Dead kaum »ergebnisrelevante« Entscheidungen gibt, also solche, die den Spielverlauf betreffen. Auf der anderen Seite möchte ich aber ein anderes Verständnis von Entscheidungen hervorheben, sogenannte »charakterbildungsrelevante« Entscheidungen, die insofern relevant sind, als sie den Charakter der Figuren bilden und zukünftige Entscheidungen der Spieler*innen beeinflussen. Bei dieser zweiten Art von Entscheidungen entsteht also ein wechselseitiger Einfluss: die Spieler*innen konstruieren im Spiel durch Entscheidungen ihre Spielfigur, diese Konstruktion wiederum beeinflusst spätere Entscheidungen der Spieler*innen, die in Übereinstimmung mit dem entwickelten Charakter getroffen werden. Im Folgenden werde ich zunächst die Beschaffenheit der Entscheidungen in The Walking Dead – Season Two beschreiben. Es gibt zwei Gründe, warum ich 4
Vgl. Macgregor, Jody: Telltale’s choices aren’t about plot, but something more significant. http://www.pcgamer.com/telltales-choices-arent-about-plot-but-something-moresignificant/ (Stand: 28.03.2017).
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mich gerade für den zweiten Teil dieser Videospielreihe entschieden habe, denn obwohl sich meine These prinzipiell auf alle Videospiele mit Entscheidungsoption übertragen lässt, zeigt sie sich am stärksten in diesem Teil. Erstens steuern die Spieler*innen darin das circa zehnjährige Mädchen Clementine, damit also ein Kind. Genau dieser Umstand lädt geradezu dazu ein, ihren Charakter noch nicht als geformt wahrzunehmen und darauf aufbauend die Aufgabe anzunehmen, diesen zu konstruieren.5 Zweitens ist die letzte Entscheidung, auf die noch näher eingegangen wird, in diesem zweiten Teil moralisch besonders schwerwiegend und eignet sich daher gut dafür, mit Kanes Konzept erklärt zu werden. Nach der Beschreibung des Videospieles werde ich Kanes Willensfreiheitskonzept in seinen wichtigsten Aspekten skizzieren, um im Anschluss daran die beiden Arten von Entscheidungen mithilfe von Beispielen aus The Walking Dead – Season Two zu charakterisieren.6 Im Fazit werde ich schließlich meine These auch in Rückbezug auf das Eingangszitat zusammenfassen.
1 DAS VIDEOSPIEL THE WALKING DEAD UND SEINE ENTSCHEIDUNGEN Inhaltlich muss zu The Walking Dead – Season Two für den Zweck dieses Aufsatzes nicht mehr gesagt werden, als es schon in der Einleitung getan wurde: Genretypisch wird die Geschichte einer Gruppe von Menschen im Überlebenskampf vor dem Hintergrund einer Zombieapokalypse erzählt. Vielmehr werde ich mich in diesem Abschnitt auf die Rolle der Entscheidungen im Spiel fokussieren. Das Spiel ist dem Genre »Point-and-Click-Adventure« zuzuordnen. Die Spieler*innen steuern über das Spiel hinweg durchgehend die Figur der Clementine. Mithilfe von Tastenkombinationen können sie diese in verschiedene Richtungen bewegen sowie sie dazu bringen, Gegenstände zu fokussieren oder diese zu benutzen. Das Spielprinzip sieht so aus, dass die Spieler*innen, beispielsweise durch
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Der Begriff der Konstruktion scheint an dieser Stelle zu stark zu sein, er ist aber bewusst
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Für die Analyse der Kritik an derartigen Videospielen und für die Darstellung der zwei
gewählt. Ich werde im Folgenden versuchen aufzuzeigen, warum er der passende ist. Arten von Entscheidungen greife ich primär auf Kommentare aus Videospielforen zurück, da dort die positiven und negativen Aspekte der Spiele von denen, die es betrifft, nämlich Videospieler*innen, vorgebracht werden. Dort können meines Erachtens die tatsächlichen intuitiven Eindrücke, wie die inszenierten Entscheidungen auf die Spieler*innen wirken, betrachtet werden.
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die Suche und die anschließende Kombination von Gegenständen, kleinere Aufgaben oder Rätsel lösen, Gespräche mit anderen Figuren führen oder kämpfen. Vor allem müssen sie bei all dem immer wieder Entscheidungen treffen. Das Spiel wurde von dem kalifornischen Videospielverlag Telltale Games entwickelt, der damit wirbt, Spiele zu erschaffen, bei denen Entscheidungen eine tragende Rolle einnehmen. So beginnen viele ihrer Spiele, wie auch The Walking Dead – Season Two, mit folgender Warnung: »This game series adapts to the choices you make. The story is tailored by how you play«.7 Zudem taucht unmittelbar nach den getroffenen Entscheidungen in Gesprächen mit anderen Figuren die Information »[Name der anderen Figur] will remember that«8 auf, die suggeriert, dass jede der Entscheidungen, die im Lauf des Spieles getroffen werden, den Spielverlauf ändert. So können die Spieler*innen sich zum Beispiel dazu entscheiden, einer neuen Person gegenüber freundlich oder auch aggressiv gegenüberzutreten. Die Bandbreite der möglichen Antworten umfasst dabei in der Regel drei bis vier Reaktionsmöglichkeiten. Je nachdem, wie sie sich entscheiden, nimmt das Gegenüber eine entsprechende Haltung zu den eigenen Figuren ein. Um im Beispiel zu bleiben, könnte diese ebenfalls freundlich oder eben auch misstrauisch sein. Genregemäß geschehen derartige Entscheidungen, indem sich in Gesprächen oder Situationen verschiedene Schriftfelder öffnen, die beispielsweise Antworten auf Fragen anderer Figuren, aber auch Handlungsvorschläge, repräsentieren. Durch Tastenkombinationen können die Spieler*innen eine passende Antwort auswählen, die dann im Fall von Gesprächen akustisch realisiert wird. Wenn es um die Entscheidung von Handlungsalternativen gibt, wie zum Beispiel die Entscheidung, ob die letzte Essensration Person X oder Y gegeben wird, wird die Entscheidung im Spielverlauf realisiert, indem Person X tatsächlich die Ration bekommt. Besonders bei den schwerwiegenden Entscheidungen kommt noch gravierend dazu, dass nur begrenzt Zeit zur Auswahl der Antwort besteht. Bleibt eine Entscheidung innerhalb des vorgegebenen Zeitfensters aus, so schweigt die zu spielende Figur, was von ihren Gesprächspartner*innen wiederum verschiedenartig aufgefasst werden kann. Das Spektrum an Entscheidungen reicht dabei von der vermeintlich einfachen Entscheidung, auf welche Weise die Spieler*innen eine andere Person trösten, 7
Vgl. Guinness/Kennedy: The Walking Dead. Siehe auch Favis, Elise: Opinion – Your Choices Don’t Matter in Telltale Games. http://www.gameinformer.com/b/features/ar chive/2015/02/03/why-your-choices-dont-matter-in-telltale-games.aspx (Stand: 28.03. 2017).
8
Ebd.
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über die Frage, ob sie Lebensmittel aus einem verlassenen Auto mitnehmen, bis hin zu der Entscheidung, wen sie retten, was voraussichtlich den gleichzeitigen Tod der anderen Person nach sich zieht. Am Ende jeder Episode des Spieles findet sich eine Übersicht aller getroffenen Entscheidungen und einer Statistik aller Entscheidungen anderer Spieler*innen zum Vergleich.
2 ROBERT KANES WILLENSFREIHEITSTHEORIE Bei Kanes Theorie handelt es sich nicht per se um eine Theorie über Entscheidungen und die verschiedenen Weisen, diese zu verstehen. Vielmehr ist es eine Theorie über Willensfreiheit. Um dies besser einordnen zu können, soll hier kurz etwas über das Verständnis von Freiheit in der Philosophie gesagt werden. Grob werden hier zwei Grundarten von Freiheit unterschieden: Handlungsfreiheit und Willensfreiheit. Dabei bezeichnet Handlungsfreiheit die Freiheit, ohne äußere Zwänge im Rahmen der eigenen Möglichkeiten handeln zu können. Willensfreiheit dagegen ist die Freiheit, frei Entscheidungen zu treffen. Da es in diesem Aufsatz um das Konzept von Entscheidungen geht, ist Willensfreiheit die Art von Freiheit, die für diesen Zweck von Interesse ist. Der große Gegenpart zur Freiheit ist in der Willensfreiheitsdebatte der Determinismus. Theoretiker*innen, die diesen stark machen, gehen davon aus, dass freie Entscheidungen nicht möglich sind, da sie zu einem bedeutsamen Teil von äußeren Umständen wie physikalischen Ereignissen oder biologischen Faktoren bestimmt sind, die außerhalb der Kontrolle von Personen liegen. Auf Grundlage der Gegenüberstellung von Willensfreiheit und Determinismus lassen sich in der philosophischen Debatte nun verschiedenartige Theorien bilden.9 Kane selbst ist ein sogenannter Libertarier, was bedeutet, dass er den Menschen nicht für determiniert, sondern für frei im Sinne der Willensfreiheit hält. Seine Theorie ist dafür berühmt, dass sie neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Quantenphysik und der Neurobiologie nutzt, um den Determinismus in Frage zu stellen und Willensfreiheit auch vor einem naturwissenschaftlichen Hintergrund plausibel zu machen. Auf den ersten Blick hat dieses Konzept von Willensfreiheit mit ihrem komplexen wissenschaftlichen Fundament überhaupt nichts mit Videospielen zu tun,
9
Vgl. Beckermann, Ansgar: Philosophie verständlich. Haben wir einen freien Willen? http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit (Stand: 28.03.2017).
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vor allem weil die in ihnen getroffenen Entscheidungen intuitiv gesehen weit von freien Entscheidungen entfernt sind. Ich denke aber trotzdem, dass einer der Hauptgedanken von Kane genutzt werden kann, um einen Aspekt des Verständnisses von Entscheidungen in Videospielen plausibel zu machen. Dafür werde ich Kanes Theorie in ihren Grundzügen zunächst vorstellen, um sie dann im nächsten Abschnitt auf The Walking Dead – Season Two zu übertragen. Zunächst stellt sich die Frage, was Kane unter Willensfreiheit versteht. Erste Hinweise zur Beantwortung dieser Frage liefern Kanes Definitionen der Grundkonzepte und Begrifflichkeiten. So versteht Kane die Wendung, dass Personen etwas willentlich tun, in folgendem Sinne: »An agent wills to do something at time t just in case the agent has reasons or motives at t for doing it that the agent wants to act on more than he or she wants to act on any other reasons (for doing otherwise).«10
In dieser Definition zeigt sich, dass Willensfreiheit eng mit Gründen und Motiven verbunden ist. Im nächsten Schritt definiert er einen freien Willen als »power of agents to be the ultimate creators (or originators) and sustainers of their own ends or purposes.«11 Aus diesen Definitionen lassen sich zwei notwendige, aber nicht hinreichende12 Bedingungen für einen freien Willen ableiten, die typischerweise in diesem Diskurs angebracht werden und so auch bei Kane zu finden sind. Erstens muss das sogenannte »Prinzip der alternativen Möglichkeiten« erfüllt sein: »The agent has alternate possibilities (or can do otherwise) with respect to A at t in the sense that, at t, the agent can (has the power or ability to) do A and can (has the power or ability to) do otherwise.«13
Das bedeutet, dass nur dann von einer freien Entscheidung gesprochen werden kann, wenn die betroffene Person auch verschiedene Möglichkeiten hat, sich zu entscheiden. Besteht nur eine einzige Möglichkeit, so ist sie gezwungen so zu handeln und damit nicht frei. Zweitens muss eine Person mit freiem Willen letztverantwortlich für die betreffende Handlung sein. Kane formuliert es so:
10 Kane, Robert H.: The Significance of Free Will. New York, Oxford 1998. S. 30. 11 Ebd., S. 4. 12 Vgl. ebd., S. 33. 13 Ebd.
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»An agent is ultimately responsible for some (event or state) E’s occurring only if (R) the agent is personally responsible for E’s occurring in a sense which entails that something the agent voluntary (or willingly) did or omitted, and for which the agent could have voluntarily done otherwise, either was, or causally contributed to, E’s occurrence, and made a difference to whether or not E occurred; and (U) for every X and Y (where X and Y represent occurrences of events and/or states), if the agent is personally responsible for X, and if Y is an arche (or sufficient ground or cause or explanation) for X, then the agent must also responsible for Y.«14
Die Bedingung der Letztverantwortlichkeit besteht für Kane also aus zwei Teilen, dem Teil der Verantwortung (R) und dem Teil der Letzturheberschaft (U), wobei sich der erste aus dem zweiten ableiten lässt. Als Ganze impliziert die Bedingung, dass eine Person genau dann einen freien Willen hat, wenn ein Ereignis auf sie selbst zurückzuführen ist und in ihr die letzte Ursache liegt.15 Das bedeutet, dass es in der Vergangenheit Entscheidungen und Handlungen gegeben haben muss, die den Charakter der Person, »the sort of person [s/he is]«,16 in dem Sinne formten, dass dies das Handeln in der Gegenwart erklären kann. Und diese Entscheidungen oder Handlungen müssen der Person zuzuschreiben sein.17 Wenn dies alles gilt, so ist diese Person auch verantwortlich. Um den Zusammenhang von Kanes Bedingungen besser zu verstehen, bespricht er ein Beispiel von Daniel Dennett,18 dessen Implikationen sich meiner Ansicht nach gut auf Entscheidungen in Videospielen übertragen lassen. Es handelt von Martin Luther und dem ihm zugeschriebenen Ausspruch »Hier stehe ich und kann nicht anders«. Hintergrund dieser Worte ist, dass Luther auf dem Reichstag zu Worms aufgefordert wird, seine Schriften zu widerrufen, woraufhin er einer Anekdote zufolge mit diesem Ausruf antwortet. Philosophisch interessant wird das Beispiel für Kane, wenn Folgendes bedacht wird: Wenn es stimmt, was Luther sagt, dann ist es ihm aufgrund seines Charakters, im Näheren aufgrund seiner Werte und Überzeugungen, nicht möglich, anders zu handeln. In dieser Situation ist Luther angesichts der Art der Person, die er ist und als die er sich versteht, determiniert, sich der Aufforderung des Widerrufs zu widersetzen. Trotzdem kann Luthers Wille nach Kanes Theorie als frei angesehen werden. Denn bei der Letztverantwortlichkeit kommt es nicht darauf an, ob die Handlung für Luther in dem 14 Ebd., S. 35 15 Vgl. ebd., S. 4. 16 Ebd., S. 42. 17 Vgl. ebd., S. 35. 18 Vgl. Dennett, Daniel: Elbow Room – the varieties of free will worth wanting. Cambridge 1984.
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Moment der Entscheidung unausweichlich ist, sondern ob der Charakter, der diese Unausweichlichkeit hervorbringt, auf Luthers Entscheidung zurückzuführen ist. Wenn dies der Fall ist, dann ist Luther auch verantwortlich für sein Handeln.19 Auch ist in diesem konkreten Moment, in dem Luther die Aussage hervorbringt, die Bedingung der alternativen Möglichkeiten nicht erfüllt. Sie kann aber mit dem Verweis auf die Bedingung der Letztverantwortlichkeit gesichert werden: Bei der Entscheidung beziehungsweise den Entscheidungen, die auf Luther zurückzuführen sind, und die zu dem Charakter führen, der ihn jetzt zwingt, sich im Reichstag zu widersetzen, muss er eine alternative Handlungsmöglichkeit gehabt haben, die seinen Charakter anders geprägt hätte.20 Eben dieser Aspekt wird später von zentraler Bedeutung sein. Ich möchte ihn an dieser Stelle »indeterminierte Determination« nennen, weil die Entscheidung im Moment ihrer Herbeiführung aufgrund des Charakters zwar determiniert ist, aber trotzdem frei ist, weil es in der Vergangenheit indeterminierte Entscheidungen gab, die den Charakter so bildeten, wie er zum Zeitpunkt der Entscheidung ausgeprägt ist. Kane nutzt nun diese Gedanken, um seine Willensfreiheitstheorie zu untermauern. Danach gibt es allgemein gesagt viele Arten von Freiheit, die mit dem Determinismus vereinbar sind, aber wenigstens eine, die es nicht ist, und die Kane im Folgenden mithilfe des Indeterminismus der Quantenphysik darlegt.21 Dafür stellt er zunächst eine Indeterminismus-Bedingung auf: »They [some free actions] must be capable of occurring or not occurring given exactly the same past and laws of nature«.22 Diese Art von Indeterminismus, die bei gleichen Voraussetzungen unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt, versucht Kane mit Bezug auf Befunde aus der Quantenphysik zu erklären, auf die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen wird. Wichtig ist nur, dass Kane ein Konzept von freien Handlungen entwickelt, die nach seiner Indeterminismus-Bedingung indeterminiert und nach seinen Willensfreiheitsbedingungen frei sind. Diese Handlungen nennt Kane »Self-Forming-Actions« (SFA). Ein Beispiel für SFA sind moralische Konflikte.23 Kane benutzt zur besseren Verständlichkeit das Beispiel einer Geschäftsfrau, die auf dem Weg zu einem ihre weitere Karriere beeinflussenden Treffen ein Verbrechen bemerkt. Nun findet sie sich in einem Konflikt zwischen zwei alternativen Entscheidungsmöglichkeiten wieder: Auf der einen Seite hat sie aufgrund ihrer moralischen Überzeugungen gute Gründe, dem Opfer des Verbrechens zu helfen. Auf der anderen Seite hat sie 19 Vgl. Kane: The Significance of Free Will. S. 39. 20 Vgl. ebd., S. 40-42. 21 Vgl. ebd., S. 14-15. 22 Vgl. ebd., S. 106. 23 Vgl. ebd., S. 124-125.
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ebenfalls gute Gründe dafür, zum Treffen zu gehen, um ihre Karriere zu sichern. Im Beispiel wiegen beide Gründe gleich schwer, beide möglichen Entscheidungen sind durch Gründe erklärbar, aber im Gegensatz zu Luther determiniert ihr Charakter keine der beiden Möglichkeiten. Die finale Entscheidung kann demnach nicht ausschließlich durch ihren Charakter oder ihre früheren Motive bestimmt werden,24 sonst wäre determiniert, was passiert. Aus diesem Grund ist nicht schon von vornherein sicher, wie sie handeln wird. Die Indeterminismus-Bedingung ist erfüllt, da bei gleichen Ausgangsbedingungen beide Entscheidungen denkbar sind.25 Kane versteht SFA als die Initiierung eines »value experiments«.26 Es ist nicht von Anfang an sicher, welche Gründe mit ihren jeweiligen zugrundliegenden Werten höher wiegen und damit die Entscheidung auslösen. Demgemäß wird der Wille bei freien Handlungen erst im Vollzug festgelegt,27 da sich die Handlungen nicht vollständig durch die Vergangenheit erklären lassen. Es gibt nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die jeweilige Entscheidung, die mit dem Charakter und dem, was in früheren ähnlichen Situationen entschieden wurde, zu tun hat.28 So geht Kane von einem reziproken Einfluss aus: Gründe für Entscheidungen beeinflussen Entscheidungen. Aber bereits getroffene Entscheidungen können selbst wiederum die Gründe und deren Gewichtung bei späteren Entscheidungen beeinflussen.29 Wenn sich die Geschäftsfrau zum Beispiel dafür entscheidet, moralisch zu handeln, so reorganisiert sich die Motivationsstruktur ihres Gehirns. Dies führt dazu, dass es in späteren Situationen wahrscheinlicher ist, dass die Frau sich moralisch verhalten wird.30 Trotzdem determinieren diese Einflüsse die Wahl bei SFA nicht umfänglich.31 Die Frage ist nun, wie es sich erklären lässt, dass eine finale Entscheidung getroffen wird, die sich zwar durch frühere Motive und den Charakter der Person erklären lassen kann, die diese aber nicht determinieren.32 Dies erklärt Kane, indem er Spekulationen darüber äußert, wie Willensentscheidungen im Gehirn ablaufen.33 Grob gesagt geht Kane davon aus, dass es im Gehirn indeterminierte 24 Vgl. ebd., S. 127. 25 Vgl. ebd., S. 126. 26 Vgl. ebd., S. 145. 27 Vgl. ebd., S. 114. 28 Vgl. ebd., S. 177-180. 29 Vgl. ebd., S. 136. 30 Vgl. ebd., S. 137. 31 Vgl. ebd., S. 127. 32 Vgl. ebd., S. 128. 33 Vgl. ebd., S. 139.
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Quantenprozesse gibt, aufgrund derer auch die Entscheidung indeterminiert ist. Dieser Indeterminismus führt aber nicht dazu, dass die finale Entscheidung zufällig und damit nicht auf die Geschäftsfrau zurückzuführen ist. Kane fordert auf, sich dies wie folgt vorzustellen: Bei einem Konflikt sind zwei konkurrierende neuronale Netzwerke involviert, die jeweils einen der Wünsche repräsentieren. Von jedem Netzwerk geht ein sogenannter »neural noise« aus, also eine Art inneres Störgeräusch, der für eine Unsicherheit der Person sorgt.34 Wenn es ihr misslingt, sich für das eine zu entscheiden, also zum Beispiel moralisch zu handeln, dann ist dies nach Kane jedoch kein wirkliches Scheitern. Vielmehr ist es als Erfolg ihrerseits zu werten, das andere zu tun, nämlich die Karriere zu sichern. Denn wenn sie Erfolg hat, den Lärm des anderen Netzwerkes überwindet, dann ist sie auch verantwortlich dafür. Für das Folgende sollen drei Punkte in Erinnerung behalten werden. Erstens gibt es nach Kane sogenannte SFA, in denen sich ein auf eine bestimmte Hinsicht noch nicht geformter Charakter durch ein »value experiment« bildet. Zweitens beeinflussen dieses SFA spätere Entscheidungen und führen zu Momenten von »indeterminierter Determination«. Drittens wird die Unsicherheit, die eine Person bei einer schweren Entscheidung spürt, durch »neural noises« verstärkt.
3 ZWEI ARTEN DES VERSTÄNDNISSES VON ENTSCHEIDUNGEN IN VIDEOSPIELEN In diesem Aufsatz soll es nicht um Willensfreiheit gehen, aber da Kanes Konzept nicht alle Entscheidungen miteinbezieht, sondern nur solche, die frei sind, soll hier auch kurz etwas über Willensfreiheit gesagt werden. Bei der Anwendung des eben beschriebenen Konzeptes auf Videospiele wie The Walking Dead – Season Two lässt sich zunächst Folgendes feststellen: Willensfreiheit wird als die Fähigkeit verstanden, frei Entscheidungen zu treffen. Bei Videospielen geht es natürlich um die Fähigkeit der Spieler*innen, die die Hauptfigur steuern. Um frei im Sinne von Kane zu sein, müssen wie gezeigt zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Spieler*innen alternative Entscheidungsmöglichkeiten haben. In The Walking Dead – Season Two ist das durch die Auswahl verschiedener Antwort- und Handlungsoptionen gegeben. Zum anderen müssen sie letztverantwortlich sein, so dass die Entscheidung auf sie als Urheber*innen zurückzuführen sein kann. Auch das scheint erfüllt, weil ja die Spieler*innen allein die Entscheidung treffen.
34 Vgl. Kane, Robert H.: Some Neglected Pathways in the Free Will Labyrinth. In: Kane, Robert H. (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will. New York, Oxford 2002. S. 420.
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Nun mögen Kritiker*innen einwenden, dass Willensfreiheit in Videospielen nicht gegeben sein kann, da sich die Spieler*innen nicht vollkommen frei bewegen können, sondern nur zum Beispiel unter vier vorgegebenen Antwortmöglichkeiten eine Antwort für die Entscheidung auswählen können. Sie müssen sich folglich innerhalb der Spielregeln bewegen. Allerdings widerspricht das nicht zwingend dem hier vorgestellten Konzept von Willensfreiheit, da Menschen sich auch in der Realität nicht vollkommen frei entscheiden können. So können sie sich beispielsweise nicht frei dazu entscheiden, sich spontan in einen Toaster zu verwandeln. Analog zu den Spielregeln bewegen sich Menschen demnach in einem System von Weltregeln wie naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Für den Zweck dieses Aufsatzes kann also angenommen werden, dass Kanes Bedingungen erfüllt sind und Willensfreiheit somit gegeben ist. Die Erörterung, ob sich wirklich von freien Entscheidungen sprechen lässt, ist aber ohnehin nicht das Ziel dieses Aufsatzes. Vielmehr soll es darum gehen, die zwei Arten des Verständnisses von Entscheidungen in Videospielen darzustellen. Die schon in der Einleitung angesprochene Kritik richtet sich gegen die erste Art und greift vor allem drei Aspekte des Spieles auf: 1. 2.
3.
Bei jeder Entscheidung gibt es nur ein minimales Spektrum an Entscheidungsmöglichkeiten. Unabhängig von den Entscheidungen ist der Spielverlauf nahezu identisch, eigentlich entscheidet nur die letzte Entscheidung, welches Ende erreicht wird und auch da gibt es nur ein kleines Spektrum an verschiedenen Ausgängen der Handlung. Das Ende, das in einem Teil gewählt wurde, hat keine relevanten Auswirkungen auf den Folgeteil. So gibt es, wie später noch erwähnt wird, verschiedene Varianten, wie die zweite Staffel enden kann, was zumindest die Möglichkeit suggeriert, dass sich das gewählte Ende auf die dritte Staffel auswirkt. Dies ist aber kaum der Fall.35
Wenn nun der entscheidende Punkt der Kritik extrahiert werden soll, so wird dieser schon in dem einleitenden Zitat deutlich: »None of your choices matter in The Walking Dead but they do a fantastic job of making it seem like they do«. Das,
35 Vgl. Dörre, Christian: The Walking Dead: Season 3: Die ersten vier Episoden im Test. http://www.pcgames.de/The-Walking-Dead-Season-3-Spiel-55376/Tests/A-New-Fron tier-Review-1218046/ (Stand: 26.05.17).
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was viele Spieler*innen36 also zu stören scheint, ist die fehlende spielmechanische Relevanz der Entscheidungen für die Zukunft: »Telltale’s running problem is that the choices are too much ›for the moment‹ and have no future consequences«.37 Der Spielverlauf gestaltet sich demnach unabhängig von den konkreten Entscheidungen nahezu gleich. Hinter dieser Kritik scheint folglich der Wunsch zu stecken, dass Entscheidungen eine Veränderung in der Spielwelt schaffen sollen. Spieler*innen wägen schließlich im Entscheidungsprozess verschiedene Optionen ab, was auch beinhaltet, dass sie überlegen, welche Option das ihrer Meinung nach beste oder erstrebenswerteste Resultat hervorbringen könnte. Diese erste Art von Entscheidungen möchte ich deshalb im Folgenden als »ergebnisrelevant« bezeichnen, da es bei diesem Verständnis von Entscheidungen vor allem um deren Einfluss auf den Spielverlauf und damit auf zukünftige Ereignisse geht. In Hinblick auf diese Art scheinen die Kritiker*innen Recht mit ihrer Kritik an The Walking Dead – Season Two zu behalten. Dies soll an einem Beispielverdeutlicht werden, das den zweiten Aspekt der Kritik betrifft.38 In The Walking Dead – Season Two wird eine der Figuren, Sarita, von einem Zombie in den Arm gebissen. Clementine und damit die Spieler*innen werden vor die Wahl gestellt, den Arm von Sarita zu amputieren, in der Hoffnung, sie davor zu bewahren ihrerseits – dem Genre üblich – zum Zombie zu werden, was auch tatsächlich passieren würde. Den Spieler*innen wird dadurch suggeriert, sie könnten über Saritas Schicksal entscheiden. Tatsächlich rettet das Abschneiden ihres Armes zwar kurzfristig ihr Leben, sie stirbt aber nur wenige Minuten später trotzdem, da sie aufgrund des Schocks resultierend aus der Amputation schreit und damit die Aufmerksamkeit weiterer Zombies auf sich lenkt.39 Genau dieser Umstand, dass die Spieler*innen ständig vor Notsituationen gestellt werden, bei denen sie vermeintlich zwischen Leben und Tod entscheiden 36 Da es in Kommentarforen nicht unüblich ist, umgangssprachliche Verkürzungen oder Wortauslassungen zu benutzen, werden diese schriftsprachlich als Fehler angesehenen Zitate nicht korrigiert. 37 Favis: Opinion. 38 Da es bei Videospielen aufgrund von fehlenden präzisen Zeitangaben schwierig ist, diese zu zitieren, werde ich bei Angaben zum Spielverlauf auf The Walking Dead Wiki zurückgreifen, bei dem User*innen, ähnlich wie beim Lexikon Wikipedia Artikel zum Spiel schreiben. Beide Online-Lexika sind dadurch geprägt, dass die Artikel gemeinschaftlich bearbeitet und überarbeitet werden. Dadurch entsteht ein alltagstaugliches Wissensgefüge, auf welches sich für den Zweck dieses Essays begründet zurückgreifen lässt. 39 Vgl. The Walking Dead Wiki: Lemma »Sarita (Video Game)«. http://walkingdead.wi kia.com/wiki/Sarita_(Video_Game) (Stand: 28.03.2017).
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müssen, der Tod der betroffenen Person aber sowieso unausweichlich ist, stört viele Kritiker*innen: »The Walking Dead had me believing that I could save characters from death. After multiple playthroughs, I realized characters’ fates were etched in stone. […] Characters will die regardless of your choices – it just comes down to when.«40 Es ist also vollkommen irrelevant, wie die Spieler*innen sich entscheiden. Die Entscheidung ist nicht »ergebnisrelevant« und damit erklärt sich auch das Unbehagen der Kritiker*innen: »I like Telltale stories. But, ›This game series adapts to the choices you make. The story is tailored by how you play‹ is a friggin lie. You will hear different dialogs, but in the end we all seen same story, just with different details.«41 Dieser Umstand wird den meisten Spieler*innen sowohl durch mehrmaliges Spielen als auch durch die Kommunikation mit anderen Spieler*innen klar, was auch die Eingangskritik erklärt: Den Spieler*innen wird nur suggeriert, dass ihre Entscheidungen relevant sind. Natürlich sind Figuren, die von den Spieler*innen gerettet werden, zumindest ein paar Augenblicke länger am Spiel beteiligt, aber diese Figuren tragen in der Regel nichts Bedeutendes für den Spielverlauf bei. Sie sind eher dazu da, um mit der zu spielenden Clementine zu interagieren und damit erneut ihren Charakter zu konstruieren, in dem Sinne, dass Clementine ihnen gegenüber zum Beispiel mitleidsvoll agiert. Dies betrifft aber mehr die zweite Art des Verständnisses von Entscheidungen. In Bezug auf das erste Verständnis von Entscheidungen stimmt die Kritik also überwiegend: Entscheidungen sind in The Walking Dead – Season Two abgesehen von kleineren Nuancen vollkommen irrelevant. Allerdings möchte ich noch ein anderes Verständnis von Entscheidungen stark machen, welches sich aus Kanes Konzept von Willensfreiheit ableiten lässt. Dafür möchte ich erneut auf das hinweisen, was ich »indeterminierte Determination« genannt habe. Nach Kane gibt es im Leben von Menschen sogenannte SFA, also Handlungen, in denen sich der Charakter, im Sinne Kanes, »the sort of person one is« bildet. Vor und während dieser SFA ist es nicht determiniert, wie die Person sich entscheidet, da es für mindestens zwei Entscheidungsmöglichkeiten gute Gründe gibt. Ist aber einmal eine Entscheidung getroffen, so beeinflusst diese nachfolgende, ähnliche Entscheidungen, bis sich schließlich der Charakter so ausgebildet hat, dass es zu Situationen wie der von Luther kommen kann. Menschen 40 Favis: Opinion. 41 Kommentar von John Smith zu: Macgregor, Jody: Telltale’s choices aren’t about plot, but something more significant. http://www.pcgamer.com/telltales-choices-arent-about -plot-but-something-more-significant/ (Stand: 28.03.2017).
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haben dabei das Gefühl, aufgrund ihrer Überzeugungen, Werte und Motive dazu determiniert zu sein, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Dies lässt sich auch auf Videospiele wie The Walking Dead – Season Two übertragen: Am Anfang ist die Figur, die die Spieler*innen im Spiel einnehmen, zwar auf gewisse Weise, zum Beispiel von der Vorgeschichte und vom Aussehen, vorgegeben. So taucht Clementine, wie erwähnt, schon in der ersten Staffel auf, in der die Spieler*innen sie aber noch nicht spielen können. Sie ist also bereits auf eine gewisse Art und Weise gezeichnet, bevor die Spieler*innen in der zweiten Staffel die Kontrolle übernehmen können. Es ist zum Beispiel klar, dass Clementine ihre Eltern verloren hat und im Lauf der ersten Staffel lernen die Spieler*innen sie zunächst als ängstliche, später aber immer mutigere und eigenständigere Figur kennen. Auf dieser Basis aufbauend haben die Spieler*innen in der zweiten Staffel trotzdem die Möglichkeit, den Charakter der Figur, die Art und Weise, wie sie anderen Figuren gegenübertritt oder handelt, weiter auszubauen, was auch dadurch unterstützt wird, dass das kleine Mädchen Clementine älter und reifer wird. Dies muss natürlich sofort insofern eingeschränkt werden, als die Spieler*innen nicht vollkommen frei einen Charakter entwerfen können, der beispielsweise ohne Vorwarnung aggressiv wird und andere tötet. Doch trotzdem können sie immerhin zwischen, zugegeben vorgegebenen, aber trotzdem unterschiedlichen Antworten auswählen und damit einen eigenen Charakter formen, der von anderen Versionen derselben Spielfigur stark abweichen kann. Entscheidend ist hier vor allem der Aspekt der mentalen Aufladung. Spieler*innen können zwar nur aus einem kleinen Repertoire an Antwort- und Handlungsmöglichkeiten auswählen, was auch dazu führt, dass es nur wenig Varianz im Plot gibt. Viel wichtiger ist aber, dass viele Spieler*innen im Kopf den Charakter ihrer Clementine konstruieren und bei den Entscheidungen mitdenken und es daher eine viel größere Varianz in dem gedanklichen Charakter gibt. Besonders dieser Aspekt der mentalen Aufladung führt dazu, dass ich von der Konstruktion des Charakters spreche. Mit Kane gesprochen gibt es im Spiel mehrere SFA, bei denen die Spieler*innen entscheiden, zu welcher »sort of person« sie ihre Clementine werden lassen. Dabei geht es natürlich um die Entscheidungen der Spieler*innen, die die Entscheidungen der Figur steuern. Bei diesen Entscheidungen können analog zu Kanes Konzept indeterminierte Quantenprozesse, aber auch Voreinstellungen der Spieler*innen darüber entscheiden, wie sie den Charakter entwickeln wollen, oder eine spontane Auswahl einer Antwort zu einer Entscheidung führen. Wichtig ist nur, dass, wenn sie das Spiel konsequent spielen, und dies bedeutet, wenn sich ihre Entscheidungen als kohärent auffassen lassen, diese Entscheidung die nachfolgenden Entscheidungen beeinflusst. Dies wird vor allem bei der letzten großen
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Entscheidung deutlich, bei der die Spieler*innen das Gefühl haben können, ihre letzte Entscheidung wäre durch alles, was davor geschah, determiniert. Die Spieler*innen spüren eine »indeterminierte Determination«. Das beschriebene Gefühl muss sich natürlich nicht zwangsläufig einstellen, aber die Art und Weise des Spiels und die Rolle von Entscheidungen darin laden zumindest dazu ein, einen Charakter zu formen, was zukünftige Entscheidungen im minimalen Fall beeinflusst und im maximalen Fall im Sinne Luthers determiniert. Diese Art des Verständnisses von Entscheidungen möchte ich »charakterbildungsrelevant« nennen, weil sie dazu dienen, den Charakter der Spielfigur zu konstruieren. Genau diese Relevanz von Entscheidungen für die Charakterbildung kann das intuitive Gefühl einiger Spieler*innen erklären, dass ihre Entscheidungen eben doch von Bedeutung sind. Eine ähnliche These wird von der Videospieljournalistin Jody Macgregor aufgestellt, die davon ausgeht, dass es in Spielen wie The Walking Dead nicht primär um Entscheidungen und ihre Konsequenzen für den Spielverlauf geht, sondern um Entscheidungen und ihre Konsequenzen für die Figuren und besonders ihre Einstellung. Für sie ist gerade dieser Aspekt das bedeutungsvolle an diesen Spielen. So können die Spieler*innen vielleicht nichts an dem Tod von anderen Figuren ändern, was sie aber ändern können, ist die Einstellung der Figur zum Szenario, was sie an der ersten Staffel des Spiels herausstellt, sich aber auch ohne Weiteres auf die zweite übertragen lässt: »Telltale’s game gives you the option of choosing a different interpretation. Lee [Hauptfigur des ersten Teiles] doesn’t have to become hardened by being forced to make hard decisions; he can maintain his belief in human nature and then pass that on to Clem[entine]. He dies no matter what, but whether he dies with words of warning or compassion on his lips – whether this is a story about hope or fear – is up to you.«42
Der Spielverlauf ist ihrer These zufolge der Gleiche, aber die Haltung der Figur ist eine ganz andere, was meine These unterstützt, da auch diese zur Konstruktion des Charakters gehört. Um meine These weiter zu plausibilisieren, möchte ich im Folgenden diesen Aspekt von »charakterbildungsrelevanten« Entscheidungen in The Walking Dead – Season Two aufzeigen. Wie schon in der Einleitung angedeutet, eignet sich vor allem diese zweite Staffel auch aufgrund der Hauptfigur Clementine dazu, diese Art des Verständnisses plausibel zu machen. Bei näherer Betrachtung der Kommentare zum Spiel, wird schnell deutlich, welch wichtige Rolle Clementine einnimmt: »Telltale’s Walking Dead has always been Clementine’s story. From the moment she appears in the first episode of the first season, 42 Macgregor: Telltale’s choices aren’t about plot.
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the player may be controlling Lee but Clem is the character that they’re guiding and constructing.«43 Aussagen wie diese zeigen zum einen die Fokussierung auf die Figuren, die sich in derartigen Spielen finden lassen, und zum anderen die Tendenz der Spieler*innen zur Konstruktion dieser Figuren. Dies wird zusätzlich dadurch untermalt, dass sich in den sozialen Netzwerken der Hashtag #MyClementine eingebürgert hat, der zum Beispiel von Spieler*innen in Kommentarforen dazu genutzt wird, um Bezug auf genau die Clementine mit all ihren Charaktereigenschaften, Überzeugungen und Werten zu nehmen, die die kommentierenden Spieler*innen im Laufe des Spieles kreierten.44 Das Spiel lädt also durch sein komplettes Setting dazu ein, Charaktere zu konstruieren. Konkret auf ein Beispiel bezogen, wird dies meines Erachtens am deutlichsten bei der letzten Entscheidung der finalen Episode der zweiten Staffel.45 Dort kommt es nämlich zu einem Streit zwischen zwei zentralen Figuren und Bezugspersonen von Clementine, Kenny und Jane. Kenny ist seit der ersten Staffel an Clementines Seite, verlor im Laufe der Geschichte wiederholt nahestehende Personen, was ihn psychisch labil und teilweise unkontrolliert aggressiv macht. Jane dagegen ist erst seit der dritten Episode der zweiten Staffel Teil der Geschichte. Sie ist eine Einzelgängerin und stets auf ihr eigenes Wohl bedacht, ist aber sehr erfolgreich darin, alleine zu überleben. Beim Streit kommt es zu einer Handgreiflichkeit, infolge derer Kenny mit dem Ziel, Jane zu töten, auf sie einsticht. Als Clementine haben die Spieler*innen nun zwei Möglichkeiten: Entweder Kenny dadurch an dem Mord an Jane zu hindern, dass Clementine ihn erschießt, oder nicht einzugreifen, was bedeutet, dass dieser Jane töten wird. Daraus ergeben sich wiederum fünf verschiedene Weisen, wie sich die Narration entfalten und das Spiel und somit die Staffel enden kann.46 Meiner Ansicht nach lässt sich auf diese Entscheidung Kanes Konzept, das ich »indeterminierte Determination« genannt habe, anwenden. Da es die letzte Entscheidung ist, lässt sich die Hypothese aufstellen, dass bei den vorherigen Entscheidungen SFA dabei waren, bei denen der Charakter von Clementine noch unterbestimmt war, die aber im Ganzen dazu beitrugen, ihren Charakter zu formen. 43 Smith, Adam: BildungZroman: The Walking Dead Season Two Finale. https://www. rockpapershotgun.com/2014/08/22/the-walking-dead-finale-zombies/ (Stand: 28.03. 2017). 44 Vgl. Steam Community Discussion: The Walking Dead: Season Two. https://steamcom munity.com/app/261030/discussions/0/34095684633753509/ (Stand: 28.03.2017). 45 Guinness/ Kennedy: The Walking Dead. S2/E5. 46 Vgl. The Walking Dead Wiki, Lemma »No Going Back«. http://walkingdead.wikia .com/wiki/No_Going_Back (Stand: 28.03.2017).
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Bei der finalen Entscheidung wiederum ist der Charakter geformt und zwingt die Spieler*innen zu einer bestimmten Entscheidung wie bei Luther. Um diese Hypothese zu überprüfen, lassen sich erneut Kommentare in Spielforen analysieren. So rechtfertigt der User Nick Lemr seine Entscheidung, Jane zu retten mit folgenden Worten: »Overall, I want my Clementine to survive so I’ve leaned towards Jane over Kenny for awhile, […] Jane knows how to survive, and I imagine Clementine will help remind her how to live too. They’ll make a good team.«47 Dieser Spieler konstruierte den Charakter seiner Clementine gedanklich also so, dass sie um jeden Preis überleben will und aufgrund dieser Charakterbildung ist ihre Entscheidung die einzig rationale. Noch deutlicher wird der Punkt beim folgenden Kommentar: »Looking back I realize that I had resigned myself to this fate long before it actually happened due to Kenny’s actions and their effect on the group. Kenny had shown signs of instability since meeting back up with him, but after Sarita’s death the psychosis seemed to set in.«48 Auch hier wird das Fällen dieser durchaus schweren Entscheidung als gar nicht so schwierig angesehen, da sie eigentlich schon länger davor klar war, diesmal vor allem auf Grund der Art und Weise wie Kenny Clementine und ihre Gruppe negativ beeinflusste.49
FAZIT Um noch einmal auf das Eingangszitat »None of your choices matter in The Walking Dead but they do a fantastic job of making it seem like they do« zurückzukommen, lässt sich festhalten, dass diese Aussage auf der einen Seite stimmt. Wenn Spieler*innen »ergebnisrelevante« Entscheidungen wollen, werden sie bei Videospielen wie The Walking Dead – Season Two enttäuscht. Wenn sie aber auf der anderen Seite das hier vorgestellte andere Verständnis von »charakterbil-
47 Kommentar von Nick Lemr zu: Iverson, Lizzy: UPDATED: Telltale Season 2 Episode 5 Discussion. https://www.skybound.com/the-walking-dead/games/telltales-the-walk ing-dead/telltale-season-2-episode-5-discussion (Stand: 28.03.2017). 48 Hanson, Kyle: The Walking Dead Season 2 – Why I Made the Tough Choice at the End. http://attackofthefanboy.com/articles/the-walking-dead-season-two-made-toughchoice-end/ (Stand: 28.03.2017). 49 Es muss an dieser Stelle zusätzlich darauf hingewiesen werden, dass abhängig von den Interaktionen zwischen Clementine und Kenny, dieser unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legt. Somit prägen die Spieler*innen auch Kennys Charakter bis zu einem gewissen Grad mit.
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dungsrelevanten« Entscheidungen annehmen, ergibt sich ein anderes Bild. Nach diesem Verständnis sind nämlich eigentlich alle Entscheidungen im Spiel wichtig, weil alle dazu beitragen, den Charakter der Spielfigur zu bilden. Dies erklärt auch das intuitive Gefühl vieler Spieler*innen, dass ihre Entscheidungen von Bedeutung sind. In dem Zusammenhang müssen aber sofort zwei Einschränkungen gemacht werden. Zum einen wird diese Art des Verständnisses von Freiheit nur dann relevant, wenn Spieler*innen sich darauf einlassen und konsequent handeln, um einen Charakter aufzubauen. Spieler*innen können natürlich auch bei jeder Entscheidung absichtlich inkonsequent oder zufällig entscheiden. Dies stellt aber keinen Widerspruch zu meiner These dar, da sich die Spieler*innen, um absichtlich inkonsequent zu handeln, ja darüber bewusst sein müssen, dass es Muster bei den Entscheidungen gibt, die dafür sorgen, dass sich ein einheitliches Bild eines Charakters einstellt. Zum anderen muss darauf hingewiesen werden, dass sich das Spiel »nicht merkt«, in welche Richtung der Charakter durch die Spieler*innen entwickelt wurde. Dies hätte zum Beispiel so realisiert werden können, dass konsequente Antworten in Folgeentscheidungen besonders markiert werden. In The Walking Dead bleibt das aber Aufgabe der Spieler*innen. Trotz dieser Einschränkungen lässt sich meines Erachtens festhalten, dass derartige Videospiele zumindest das Potential aufweisen, »charakterbildungsrelevante« Entscheidungen zu simulieren, was auch das intuitive Gefühl der Relevanz von Entscheidungen in diesen Spielen erklärt. Meine These gilt wie erwähnt prinzipiell für alle Videospiele mit einem ähnlichen Repertoire an Entscheidungen. Bei einigen derartigen Spielen kommt sogar noch ein Aspekt der Theorie von Kane dazu, der bisher unerwähnt geblieben ist: der des »neural noise«, der hier kurz als Ausblick erwähnt werden soll. Dieser Aspekt zeigt sich zum Beispiel beim Videospiel Life is Strange,50 bei dem die Spieler*innen die Rolle der Studentin Max übernehmen, die die Fähigkeit bekommt, kurzfristig die Zeit zurückzudrehen. Auch die Entscheidungen in diesem Spiel sind primär »charakterbildungsrelevant«. Was hier im Kontrast zu The Walking Dead noch als Faktor dazu kommt, ist, dass bei schwierigen Entscheidungen der Bewusstseinsstrom von Max zu hören ist, in der Form, dass sie für jede Entscheidung in einem inneren Monolog Gründe anspricht. Das sorgt für eine Unsicherheit bei den Spieler*innen, da für jede Entscheidung gleich gute Gründe angebracht werden. Dies erinnert an Kanes Konzept des »neural noise«, bei dem die Unsicherheit der Entscheidungen durch die Gründe für jede Option neuronal repräsentiert werden. 50 Baghadoust, Luc: Life is Strange. S1/E1-5. 2015.
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Dieser Aspekt soll auch deutlich machen, dass eine weitere Beschäftigung mit Entscheidungen in Videospielen auch auf der Ebene der Frage, wie diese narrativ und spielmechanisch umgesetzt werden, lohnenswert wäre. In dem Zusammenhang könnte untersucht werden, ob es, wie im Fall von Life ist Strange, eine Analogie zu den ablaufenden neuronalen Prozessen während Entscheidungen gibt und wie diese aussieht. Alles in allem kann festgehalten werden, dass die Warnung am Anfang vieler Telltale-Spiele »This game series adapts to the choices you make. The story is tailored by how you play« tatsächlich nicht stimmt. Telltale sollte besser mit dem Aspekt werben, der ihre Spiele wirklich auszeichnet, den der Charakterbildung: »In this game series your player character adapts to the choices you make. His character is tailored by how you play«.
QUELLENVERZEICHNIS Baghadoust, Luc: Life is Strange. S1/E1-5. 2015. Beckermann, Ansgar: Philosophie verständlich. Haben wir einen freien Willen? http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit (Stand: 28.03. 2017). Dennett, Daniel: Elbow Room – the varieties of free will worth wanting. Cambridge 1984. Dörre, Christian: The Walking Dead: Season 3: Die ersten vier Episoden im Test. http://www.pcgames.de/The-Walking-Dead-Season-3-Spiel -55376/Tests/ANew-Frontier-Review-1218046/ (Stand: 26.05.17). Favis, Elise: Opinion – Your Choices Don’t Matter in Telltale Games. http://www.gameinformer.com/b/features/archive/2015/02/03/why-your-choi ces-dont-matter-in-telltale-games.aspx (Stand: 28.03. 2017). Guinness, Sara/Kennedy, Kirsten: The Walking Dead – Season Two. 2013-2014. Hanson, Kyle: The Walking Dead Season 2 – Why I Made the Tough Choice at the End. http://attackofthefanboy.com/articles/the-walking-dead-season-twomade-tough-choice-end/ (Stand: 28.03.2017). Kane, Robert H.: The Significance of Free Will. New York, Oxford 1998. Kane, Robert H.: Some Neglected Pathways in the Free Will Labyrinth. In: Kane, Robert H. (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will. New York, Oxford 2002. S. 406-437. Kommentar von Arparagus zu: Favis, Elise: Opinion – Your Choices Don’t Matter in Telltale Games. http://www.gameinformer.com/b/features/archive/2015 /02/03/why-your-choices-dont-matter-in-telltale-games.aspx (Stand: 28.03. 2017).
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Kommentar von John Smith zu: Macgregor, Jody: Telltale’s choices aren’t about plot, but something more significant. http:// www.pcgamer.com/telltales-choi ces-arent-about-plot-but-something-more-significant/ (Stand: 28.03.2017). Kommentar von Nick Lemr zu: Iverson, Lizzy: UPDATED: Telltale Season 2 Episode 5 Discussion. https://www.skybound.com/the-walking-dead/games/telltales-the-walking-dead/telltale-season-2-episode-5-discussion/ (Stand: 28.03. 2017). Macgregor, Jody: Telltale’s choices aren’t about plot, but something more significant. http://www.pcgamer.com/telltales-choices-arent-about-plot-but-someth ing-more-significant/ (Stand: 28.03.2017). Smith, Adam: BildungZroman: The Walking Dead Season Two Finale. https://www.rockpapershotgun.com/2014/08/22/the-walking-dead-finale-zo mbies/ (Stand: 28.03.2017). Steam Community Discussion: The Walking Dead: Season Two. https://steam community.com/app/261030/discussions/0/34095684633753509/ (Stand: 28.03.2017). The Walking Dead Wiki: Lemma »No Going Back«. http://walkingdead.wikia.com/wiki/No_Going_Back (Stand: 28.03.2017). The Walking Dead Wiki: Lemma »Sarita (Video Game)«. http://walkingdead.wikia.com/wiki/Sarita_(Video_Game) (Stand: 28.03.2017).
One Ring to Rule Them All? Ethische Herausforderungen durch die Ringe der Macht bei Tolkien und Platon Lisa Maria Kapitz und Jannis Reh
EINLEITUNG John Ronald Reuel Tolkiens Der Herr der Ringe zählt mit 150 Millionen verkauften Exemplaren zu den zehn kommerziell erfolgreichsten Büchern der Welt. Darüber hinaus wurde es in verschiedenen Umfrage, die etwa der britische Fernsehsender BBC 2003 oder das ZDF 2004 durchführte, von einem breiten Publikum zum jeweils beliebtesten Buch gewählt.1 Dieser nations- und generationsübergreifenden Begeisterung, die sich auch im Erfolg der Filmadaptionen von Peter Jackson (2001-2003) sowie einer umfangreichen Merchandising-Industrie rund um das Mittelerde-Universum spiegelt, stehen Literaturwissenschaftler/innen und -kritiker/innen gegenüber, die den Status des Herrn der Ringe als eines der kommerziell erfolgreichsten Bücher der Welt kritisch betrachten.2 Und das nicht ganz
1
Vgl. http://www.bbc.co.uk/arts/bigread/top100.shtml, http://www.zdf-jahrbuch.de/20 04/programmarbeit/arens.htm (beides Stand: 29.10.2017). Siehe auch: Shippey, Tom: J. R. R. Tolkien. Author of the Century. London 2000.
2
Vgl. dazu den langsam abebbenden Streit der letzten Jahre zur Differenzierung zwischen Hoch- und Trivialliteratur. Unter Hochliteratur werden hierbei Texte verstanden, die sich gegenüber anderen durch ihre Autonomie und ihren Kunstcharakter auszeichnen. Die Klassifizierung dieser Texte als Hochliteratur soll dabei oft zur Ausbildung eines literarischen Kanons führen. Vgl. Borgmeier, Raimund: Hochliteratur. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart und Weimar 2008. S. 292. Demgegenüber werden Texte von vermeintlich geringerer Qualität pejorativ als Trivialliteratur bezeichnet. Damit einher
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zu Unrecht: Nach Lektüre einiger kritischer Analysen lassen sich die etlichen Stereotype und regressiven Geschlechtervorstellungen kaum von der Hand weisen. Auch dürften weite Teile der akademisch geschulten säkularisierten Leserschaft die von Tolkien selbst angelegten christlichen Implikationen mindestens als unzeitgemäß auffassen. Betrachtet man literarische Texte jedoch als »Darstellungsformen kultureller Selbstauslegung«,3 muss man sich die Frage gefallen lassen, warum Der Herr der Ringe sich bis heute einer derartigen Popularität erfreut, ohne dies im Vorhinein zynisch als Irrtum der Masse abzuwerten. Versuche, jene Momente herauszuarbeiten, die seinen Erfolg begründen, lesen den Text oft als Kultur- bzw. Technikkritik, die sich für die Restitution eines romantischen Weltbilds im Sinne einer »Neuentdeckung und Wiederverzauberung« derselben ausspricht.4 Dies erscheint zunächst auch sinnfällig in Anbetracht einer Welt, deren Komplexität mit der (Post-)Moderne zugenommen hat und so jede konkrete Zuschreibung von Gut und Böse, richtig und falsch erschwert. Jedoch: Von dem Standpunkt aus, den Herrn der Ringe als Modernisierungskritik zu lesen, ist der Weg nicht weit hin zu einer Ausdeutung des Textes als konservativem Pamphlet, das heute jenen das Wort redet, deren Verunsicherung den Wunsch nach dem Erhalt traditioneller Wertesysteme, des Ressentiments gegenüber einer intellektuellen Elite sowie der Affirmation einfacher Antworten befeuert, die politisch allerorts auf dem Vormarsch sind. Einer derartigen Interpretation geht die vorliegende Untersuchung entgegen. Um also grundsätzlicher beantworten zu können, warum Tolkiens Epos heute noch Aktualität beanspruchen kann, widmet sich der vorliegende Artikel der konkreten Untersuchung der Bedrohung, der sich die freien Völker Mittelerdes im großen Ringkrieg ausgesetzt sieht. Dafür dürfte es sich als zielführend erweisen, motivgeschichtlich die Herausforderung zu betrachten, die der »Eine Ring« als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte für die Verfechter des Guten darstellt. Zunächst wird der Mittelerde-Kosgeht der Vorwurf des schematischen Spannungsaufbaus, der Melodramatik, der Schwarz-Weiß-Zeichnung bei Figuren und eindeutige moralische Zuweisungen sowie Vortäuschung eines klaren Weltbildes durch Harmonisierungsbestrebungen. Vgl. Volkmann, Laurenz: Trivialliteratur. Ebd., S. 731-732. Die Schwierigkeit, den Herrn der Ringe der einen oder anderen Kategorie zuzuschreiben, wird bereits darin deutlich, dass es als Gründungswerk des neuen Genres High Fantasy gilt. Vgl. dazu: Sinclair, Francis: Riveting Reads plus Fantasy Fiction. Wanborough, Swindon 2008. S. 47. 3
Bachmann-Medick, Doris: Kulturanthropologie. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften: Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart und Weimar 2003. S. 86-107, hier S. 90.
4
Vgl. Kehr, Eike: Natur und Kultur in J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. Trier 2010.
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mos in seinen Grundrissen dargestellt (Kap. 1). Anschließend soll auf die verschiedenen Ring-Verwandtschaften eingegangen werden, die Tolkien augenscheinlich herstellt (Kap. 2). Anstatt jedoch zu sehr auf die in der Sekundärliteratur vielbeachteten Allusionen von Tolkiens Text zur nordischen Mythologie wie zum Wagner’schen Opus abzuheben,5 nimmt die hier vorliegende Betrachtung den »Ring des Gyges« in den Fokus,6 dem in Platons Politeia eine wesentliche Bedeutung zukommt und der bis heute ein Symbol für ein zentrales Problem jeder essentialistischen Moraltheorie darstellt (Kap. 2.1). Danach sollen einzelne Figuren als Repräsentanten verschiedener Ethikkonzeptionen identifiziert werden, um daran anschließend deren Reaktionen auf die Konfrontation mit Saurons Ring zu analysieren (Kap. 2.2). Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, Tolkiens Text als kritischen Kommentar zu Platons Gyges-Problem zu lesen. Die These ist, dass Tolkien mit dem Herrn der Ringe die Möglichkeit einer intrinsisch motivierten Moraltheorie anhand verschiedener Positionen in Form der Gefährten diskutiert. Eine theoretische Stützung dieser Lesart von anderer Seite soll ein Fundament durch den dargestellten Stellenwert bekommen, den Tolkien in seinem Essay Beowulf: The Monsters & the Critics den Mythen und ihren Ungeheuern zuspricht und der auf ein viel allgemeineres und grundsätzliches Verständnis der Bedeutung derartiger Erzählungen zielt (Kap. 3). Betrachtete man Tolkien zufolge die fantastischen Elemente der Mythen, die Ungeheuer, als trivial und Ausdruck der Verwirrtheit und des Ideenmangels des Autors, ließe man die eigentlich zentrale poetische Intention solcher Texte außer Acht: Eine neue Perspektive auf Altbekanntes; die Vergegenwärtigung des ewigen Kampfes der Menschen gegen das Chaos.7 Die Kombination dieser beiden Betrachtungen soll schlussendlich auf Tolkiens Erzählung selbst angewendet werden, um so den Blick auf das freizulegen, was das Epos noch heute aktuell sein lässt. Um die zentralen Thesen dieses Artikels zu plausibilisieren, bedarf es jedoch zunächst einer einführenden Darstellung der Rahmenhandlung des Herrn der Ringe.
1 MITTELERDE Mit dem Silmarillion, einem von Tolkiens Sohn Christopher editierten Kompendium verschiedener Erzählungen rund um das fiktive Universum, liegt eine Schöpfungsgeschichte der Welt Arda vor, von der Mittelerde als Schauplatz des
5
Vgl. bspw. Vink, Renée: Wagner and Tolkien: Mythmakers. Zollikofen 2012.
6
Vgl. Platon: Politeia. In: Sämtliche Werke, Bd. 2. Reinbek 2006. 359c-360d.
7
Vgl. Tolkien, J. R. R.: The Monsters and the Critics and Other Essays. London 1983.
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Herrn der Ringe lediglich einen Kontinent darstellt.8 Die im Fantasy-Genre bisher weitgehend unerreichte Akribie des Schaffensprozesses einer fiktiven Welt, die neben einer eigenen Mythologie mit dem »Sindarin« auch über eine eigene Sprache verfügt, kann als Zeugnis der Ernsthaftigkeit gelesen werden, mit der sich Tolkien seinem Projekt widmete.9 Im Epilog zum Großen Ringkrieg, dessen Chronik Der Herr der Ringe darstellt, wird die groß angelegte Intrige beschrieben, mit der das personifizierte Böse namens Sauron Mittelerde überzieht.10 Dieser schmiedet etliche Ringe der Macht und verschenkt sie im Rahmen eines vermeintlichen Friedensangebots an die Herrscher der verschiedenen Völker – ohne dabei zu offenbaren, dass er selbst im Besitz eines Ringes ist, der alle anderen kontrolliert. Es kommt zum Krieg, und nur mit vereinten Kräften und unter großen Verlusten gelingt es den Betrogenen, den dunklen Herrscher zu bezwingen. Dessen Ring wird jedoch nicht zerstört und geht nach Ende des Krieges für lange Zeit verloren. Es ist Tolkiens Erstlingswerk Der Hobbit, das die Geschichte von Bilbo Beutlin erzählt: Dem Angehörigen des kleinen, titelgebenden Volkes, der sich mit einer Gruppe Zwerge und dem Zauberer Gandalf auf Schatzsuche begibt und dabei auf einen Ring stößt, der in der Lage ist, seinen Träger unsichtbar zu machen.11 Zunächst ist ein Wesen namens Gollum sein Besitzer und Bilbo vermag ihn mittels einer List an sich zu nehmen.12 Hier liegt die Wurzel des im Herrn der Ringe dargestellten Ringkrieges: Solange der Ring der Macht in der Welt ist, ist Sauron nicht vollends besiegt, und so mehren sich die Vorzeichen seiner Rückkehr. In einem geheimen Gremium beschließen die freien Völker daher, die sogenannte Gemeinschaft des Rings ins Leben zu rufen und sie nach Mordor, dem Land Saurons, zum Vulkan »Schicksals8
Vgl. Tolkien, J. R. R.: Das Silmarillion. London 1977.
9
So beginnt bspw. Tolkiens Eschatologie mit einem Schöpfer, dessen Gedanken erst die Valar, die späteren Götter Ardas, hervorbringt und sie in göttlicher Melodie unterweist (vgl. ebd., S. 19). Singen die »Sprösslinge seiner Gedanken« anfangs noch jeder für sich allein, werden sie im Laufe der Zeit von der Schöpfungsinstanz in Harmonie gebracht, damit aus dem gemeinsam gesungenen Thema eine neue Welt und mit ihr die verschiedenen Völker entstehen können. Interpretiert man bereits den Anfang des Epos als Versinnbildlichung des literarischen Schaffensprozesses selbst, wird der Schauplatz des schon bald aufflammenden Kampfes zwischen Gut und Böse mit all seinen moralischen Implikationen in die Imagination desjenigen verlagert, der die Welt in sich erschafft.
10 Vgl. Tolkien, J. R. R.: Der Herr der Ringe. Bd. 1: Die Gefährten. Stuttgart 1986. S. 9. 11 Vgl. Tolkien, J. R. R.: Der Hobbit. Stuttgart 2002. 12 Bilbo überredet Gollum zu einem Rätselduell, dessen Ausgang darüber entscheidet, ob er gefressen wird oder nicht. Vgl. ebd., S. 83.
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berg« zu schicken, dessen Feuer das einzige Mittel ist, um ihn zu zerstören, da Sauron den Ring dort einst geschmiedet hatte.13 In dieser Abstimmung wird Bilbos Neffe Frodo auf eigenen Wunsch hin zum neuen Ringträger erklärt. Weitere acht Gefährten verpflichten sich dazu, ihn zu unterstützen und Mittelerde zu retten. Diese bestehen aus drei Hobbits, zwei Menschen, die durch den späteren König der Menschen Aragorn sowie den Krieger Boromir repräsentiert sind, dem Zauberer Gandalf, einem Elben sowie einem Zwerg. Nachdem die Gruppe um die neun Gefährten durch Intrigen und Bedrohungen von Sauron als auch seinem Verbündeten, dem Zauberer Saruman, gespalten wird, bewältigen Frodo und Sam zusammen mit Gollum, der noch immer nach dem Ring trachtet, aber Mordor kennt, den Weg zum Schicksalsberg. Beim Versuch, den Ring wieder an sich zu nehmen, stürzt Gollum mitsamt des Rings in das Feuer des Vulkans. Durch die Zerstörung des Ringes der Macht ist Sauron besiegt. Die Befreiung Mittelerdes wird als mühselig dargestellt und scheitert beinahe, und das insbesondere ob der eigentümlichen Bösartigkeit des Einen Ringes selbst.14 Immer wieder wird ihm die Fähigkeit zugesprochen, seinen Träger zu vereinnahmen und dahingehend zu manipulieren, ihn zu seinem Schöpfer zurückzubringen, damit dieser seine ursprüngliche zerstörerische Macht erhält. Um die Herausforderung, die der Ring darstellt, konkreter umreißen zu können, soll im Folgenden den Bezügen nachgegangen werden, die Tolkien mit dem Ring als Symbol der Macht motivgeschichtlich herstellt.
2 RINGE DER MACHT Dass weite Teile Mittelerdes starke Bezüge zur germanischen Mythologie aufweisen, gilt als gesichert. Allein in Hinblick auf die im Silmarillion dargestellte Genesis der fiktiven Welt, die Konzeption des polytheistischen Götterkanons, die Ähnlichkeiten der beiden Zauberer Saruman sowie Gandalf mit den germanischen Göttern,15 und die den germanischen Sagen entlehnten Namen der Helden im Hobbit und dem Herrn der Ringe16 finden sich als starke Bezüge zu dieser Kultur. Aspekte wie der Ring als Symbol für Macht, Reichtum und wiederkehrende Fruchtbarkeit sowie seine Zerstörung im Feuer reichen weit in die abendländische
13 Vgl. Tolkien: Die Gefährten. 14 Hierauf wird in Abschnitt 2.2 noch näher eingegangen. 15 Vgl. Nietzsche, Jane Chance: Tolkien’s Epic. In: Modern Critical Interpretations: J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. New York 2000. S. 79-106. 16 Vgl. Jeffrey, David L.: Name in The Lord of the Rings. In: Modern Critical Interpretations: J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. New York 2000. S. 125-170.
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Geschichte zurück.17 Wesentlich stärker und in der Wissenschaft breiter diskutiert erscheint jedoch die Verwandtschaft von Saurons Ring mit dem »Adveranaut«, einem ebenfalls machtvollen und zugleich als verflucht geltenden Ring, der seinen Ursprung in der isländischen Völsunga-Saga findet, die ihrerseits als Grundlage für Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen betrachtet wird.18 Dieser wird vom sogenannten Nachtalben Alberich, einem Naturgeist, aus dem von ihm geraubten Rheingold geschmiedet, und er nutzt ihn, um das Reich der Unterwelt zu versklaven.19 Ähnlich wie Saurons Ring verdammt der der Nibelungen seinen unwürdigen Träger zu Knechtschaft und Verderben. Ein Unterschied, der die These zur Ähnlichkeit der beiden Ringe als unzureichend erscheinen lässt, ist jedoch, dass zu keinem Zeitpunkt klar ist, welche Kräfte dem Adveranaut innewohnen, die Alberich zum Herren der Unterwelt machen. Wotan, der dem Nachtalben den Ring abnimmt, weiß zwar um die Macht des Gegenstandes, ist jedoch nicht in der Lage, sie auch tatsächlich zu benutzen. Und Siegfried, der als tragischer Held in Wagners Epos den Ring später tragen und damit dessen Fluch auf sich ziehen wird, ahnt nicht einmal, welch wertvolles Artefakt ihm in die Hände gefallen ist.20 Demgegenüber verfügt der Ring von Mordors dunklem Herrscher tatsächlich über klar definierte Kräfte, die sich wie folgt aufzählen lassen: 1.) Er macht seinen Träger unsichtbar, 2.) er verlängert dessen Leben auf unbestimmte Zeit (insbesondere wenn es sich hierbei um einen Hobbit handelt, da diese ihrer natürlichen Anlagen wegen als besonders widerständig gegen die Wirkungen des Ringes beschrieben werden), wobei 3.) sein Körper sukzessive an Substanz
17 Vgl. Simek, Rudolf: Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie. München 2005. 18 Vgl. Niehaus, Michael: Dinge der Macht. Der Ring des Nibelungen und Der Herr der Ringe. In: Zeitschrift für Germanistik, 1 (2012). S. 71-88. 19 Vgl. Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen. Vollständiger Text mit Notentafeln der Leitmotive. München 1994. 20 Vgl. Niehaus: Dinge der Macht. S. 78. Dieser Umstand ist insofern verblüffend, als dass aus dem Wortlaut des Fluches, den Alberich über den Ring ausspricht, hervorgeht, dass die Freisetzung dieser Kräfte wesentliche Voraussetzung zur Aktivierung des Fluches ist. So hat Slavoj Žižek Wagners Adveranaut deshalb auch schon mit einem Wort Alfred Hitchcocks als sogenannten »MacGuffin« bezeichnet, womit ein mysteriöser Gegenstand gemeint ist, der eine Geschichte in Gang bringt und auch in ihrem weiteren Verlauf für zusätzliche Dynamik sorgt. Vgl. Žižek, Slavoj: Liebe dein Symptom wie dich selbst. Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991. S. 58.
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verliert. Zudem kreist 4.) alles Denken und Trachten des Trägers mit voranschreitender Zeit um den Ring.21 Die eindeutigste, auf jedermann gleichermaßen wirkende Eigenschaft des Einen Ringes ist jedoch, dass er seinen Träger unsichtbar macht. Beschränkt man sich bei der Suche nach brauchbaren Bezügen auf Ringe, denen diese Eigenschaft innewohnt, stößt man schnell auf den »Ring des Gyges«,22 der für Platons Politeia eine Weichen stellende Funktion einnimmt. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, ist die durch den Ring verursachte Unsichtbarkeit ein Mittel, um auf ein Problem der Moraltheorie hinzudeuten. Bei näherer Betrachtung der Passage über den Ring des Gyges und der Anwendung derselben auf den Einen Ring, der eine ebenso schwerwiegende Herausforderung für die Gegner Saurons darstellt, wie der Ring des Gyges für Sokrates, könnte sich letztlich herausarbeiten lassen, inwiefern Tolkien sich hierbei nicht nur des Motivs bedient, sondern es vielmehr in seinem Sinne so abgeändert und kontextualisiert hat, dass sein Epos sich als Kommentar zur Theorie des griechischen Philosophen lesen lässt. 2.1 Der Ring des Gyges In einem Dialog mit Sokrates über die Frage, worin das Selbstzweckmäßige der Moral besteht, nimmt der oft auch als Bruder Platons interpretierte Glaukon die Rolle des advocatus diaboli ein und erzählt die Sage vom Hirten Gyges, der mittels eines unsichtbar machenden Ringes die Macht über sein Heimatland Lydien an sich reißt. Glaukon nutzt dies, um Sokrates zu einer Antwort auf die Frage zu zwingen, ob die Moral sich nicht weniger als allgemein Gutes in der Welt generiert, als dass sie ihren Ursprung viel mehr in dem sozialen Wechselspiel von Handlung und Sanktionen findet. So könnte sich ein Mensch, der in der Gesellschaft als moralisch gilt, insgeheim als ein gewiefter Schurke erweisen, der ausschließlich im Sinne seiner eigenen Interessen handelt und dies mithilfe des 21 Vgl. Niehaus: Dinge der Macht. S. 84. Niehaus führt als fünfte Fähigkeit des Ringes auf, dass die Obsession des Trägers nicht als ein Genießen, sondern als Fluch empfunden wird. Da dies jedoch höchstens von den aktuellen Trägern oder als unwissend zu charakterisierenden Figuren geäußert wird, während keiner der Wissenden aus Elronds Rat (geschweige denn Sauron selbst) etwas Ähnliches erwähnt, ist dies wohl als Versuch zu werten, den Ring der Macht mit dem der Nibelungen übereinander zu legen, ohne dabei zu einem überzeugenden Ergebnis zu kommen. Vgl. hierzu auch Tolkien, der seinem Verleger auf die Frage, ob Der Herr der Ringe letztlich nichts weiter als die Übertragung der Nibelungen-Saga sei, antwortete: »Beide Ringe waren rund, und hier endet die Gemeinsamkeit.« Simek: Mittelerde. S. 163. 22 Vgl. Platon: Politeia. 359e-360a.
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unsichtbar machenden Ringes auch ungestraft, weil unbeobachtet, tun könnte. Das mit dieser Erzählung verbundene Argument wird im Folgenden noch zugespitzt, wenn Glaukon dem unmoralischen Ringträger einen moralischen zur Seite stellt: »Wenn es nun zwei solche Ringe gäbe und den einen der Gerechte anlegte, den anderen aber der Ungerechte, so würde doch wohl keiner, wie man ja denken müsste, so stahlhart sein, daß er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich gewänne, sich fremden Gutes zu enthalten und es nicht anzurühren, obwohl es ihm freistände, teils vom Markt ohne alle Besorgnis zu nehmen, was er nur wollte, teils in die Häuser zu gehen und beizuwohnen, wem er wollte, und zu töten oder aus Banden zu befreien, wen er wollte, und so auch alles andere zu tun, recht wie ein Gott unter den Menschen.«23
Glaukons Ziel ist es, zu zeigen, dass Moralität nicht mit der unbegrenzten Macht zu vereinbaren ist, die uns bspw. ein unsichtbar machender Ring gäbe, »dass absolute Macht ein Verhalten ausschließt, dass die Wünsche und Bedürfnisse anderer respektiert«.24 Selbst ein moralischer Ringträger könnte sich seiner Auffassung nach nicht der verführerischen Vorstellung erwehren, die Sanktionssysteme der Gesellschaft zu Gunsten eines erträglicheren Lebens zu umgehen. Damit wäre Moral aber nichts weiter als das Gesetz der Konventionen, des Anstands oder der Sitte,25 mittels dessen die Mitglieder einer Gesellschaft einerseits ihre eigenen egoistischen Bedürfnisse begrenzten, um sich andererseits vor Ausnutzung durch andere schützen zu können: »Die Frage: ›Warum sollen wir moralisch handeln?‹ wird mit der zynischen Antwort des Unmoralischen beantwortet: Das tugendhafte Leben ist das Leben, für das sich die Schwachen entscheiden.«26 Gerechtigkeit, Tugendhaftigkeit, Moralität ist in dieser Konzeption eine Erfindung derer, die zu schwach sind, um ihre egoistischen Ziele rigoros zu verfolgen und die deshalb die gesellschaftlichen Verhältnisse so einrichten, dass das Gerechtsein dem Ungerechtsein vorzuziehen rational wird: Gerechtigkeit ist in Glaukons Auslegung »das Resultat einer strategischen Anpassung«.27 Die Herausforderung für Sokrates besteht also darin, dass er zeigen müsste, dass Moral ungeachtet aller dies- und jenseitiger Konsequenzen ein um seiner Selbst willen erstrebenswertes Gut ist, das in
23 Vgl. Platon: Politeia. 360b. 24 Katz, Eric: Die Ringe von Tolkien und Platon: Über Macht, Moral und Wahl. In: Der Herr der Ringe und die Philosophie. Stuttgart 2009. S. 19. 25 Vgl. Blackburn, Simon: Über Platon. Der Staat. München 2006. S. 50 26 Katz: Die Ringe von Tolkien und Platon. S. 22. 27 Kersting, Wolfgang: Platons Staat. Darmstadt 2006. S. 58.
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und aus sich selbst dem moralisch Handelnden nützt sowie dem Unmoralischen schadet.28 Nicht nur für Platon ist eine derartige Begründung der Gerechtigkeit von geradezu staatstragender Bedeutung, stellt doch das Gyges-Problem für die Moralphilosophie bis heute eines dar, von dessen Widerlegbarkeit ihre Existenz abhängt: »[Die Moralphilosophie] kann zu externen Lösungsstrategien [im Sinne der politischen Philosophie] keine Zuflucht nehmen, sie benötigt eine interne, auf Einstellungsbildung und Seelenformung gerichtete Lösungsstrategie. Wenn es nicht gelingt, den Gyges in uns zu überwinden, wird die Gyges-Parabel zu einer Parabel von der Unmöglichkeit, Gerechtigkeit als ein für sich selbst erstrebenswertes Gut zu betrachten und zu verteidigen.«29
In diesem Sinne sei hier die Tragweite des Problems sowie Platons Antwort im Gröbsten nachgezeichnet, ohne dabei näher auf die staatstheoretischen Aspekte seiner Argumentation einzugehen. Als Quintessenz dieses Gedankenganges lässt sich festhalten, dass für Platon das unmoralische Leben letztlich die Seele desjenigen korrumpiert, der es lebt. Das Unglück des Unmoralischen sei existenziell, da dieser stets im Widerstreit mit sich selbst läge und daher über kein kohärentes Selbst- und Weltbild verfügen könne, das zudem von Angst und Verlust geprägt sei.30 Demgegenüber stifte das moralische Leben Integrität und Frieden mit sich selbst, da zwischen den inneren Handlungsmotiven und konkreten Handlungen des moralischen Menschen gewissermaßen Einigkeit herrsche. Diese persönliche Erfüllung zeige sich angesichts unbegrenzter Macht unbeeindruckt, da sie sich mit Ruhm, Reichtum und Gesundheit nicht aufwiegen lasse. Eng verwoben ist dies mit der platonischen Ideenlehre, auf die auch im Phaidon näher eingegangen wird. Hier entfaltet der bereits zum Tode verurteilte Sokrates eine Theorie der Unsterblichkeit der Seele, die ihn trotz der bevorstehenden Hinrichtung zur Verblüffung seiner Schüler weder Angst noch Reue empfinden lässt. Dieser zufolge sei sich der wahrhaft philosophisch Geschulte über die Unzulänglichkeit seiner Wahrnehmung, seiner Sinneseindrücke im Klaren, weshalb er sich bereits im Leben der Erkenntnis des unsichtbaren und denkbaren Reichs der Ideen zuwende, zu dem aufzusteigen ihm jedoch erst mit dem Tod gelänge.31 Für diese Arbeit interessant ist eine Lesart, der zufolge sich Sokrates der Schwierigkeiten bewusst ist, die ihm der Beweis der Ideen und der Unsterb28 Vgl. Blackburn: Über Platon. S. 49. 29 Kersting: Platons Staat. S. 61. 30 Vgl. Katz: Die Ringe von Tolkien und Platon. S. 23. 31 Vgl. Platon: Phaidon. In: Sämtliche Werke, Bd. 2. Reinbek 2006. 83b-e.
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lichkeit der Seele macht, weshalb er im Laufe seiner Argumentation den hypothetischen Charakter seiner Theorie selbst unterstreicht: Entgegen eines rein physikalistischen Kausal- und Erklärungsmodells im vorsokratischen Sinne, das versäumt habe, das »womit« (bzw. die Mittel) und das »weswegen« (bzw. den Zweck) von Werden und Vergehen klar voneinander abzugrenzen und zu erklären,32 nimmt Sokrates hier »Zuflucht« bei den Ideen, um in diesen »das wahre Wesen der Dinge« erkennen zu können.33 Dieses Unterfangen bezeichnet er als »zweite Fahrt«,34 eine Metapher, die der Seefahrt entstammt und die die Fortbewegungsart des Ruderns bezeichnet, die gegenüber dem Segeln weniger schnell und unbequemer ist.35 Damit lässt sich Platons Theorie als der Versuch einer adäquaten Beantwortung der Frage nach Zweckursachen menschlichen Handelns auffassen. Dabei werden die aus der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis resultierenden Begründungsprobleme einer essentialistischen Moraltheorie von vornherein eingestanden. Den endgültigen Beweis einer menschlichen Triebkraft hin zum Guten, die die Möglichkeit amoralischen Verhaltens ausschließt, bleibt sie so aber schuldig. Insofern scheint der unsichtbar machende Ring des Gyges die Existenz dieses philosophischen Lydiens also auch weiterhin ähnlich zu bedrohen wie der Ring Saurons Mittelerde. Insofern sind die beiden Ringe und die mit ihnen einhergehenden Herausforderungen als miteinander verwandt zu betrachten. Im Folgenden soll nun anhand der Untersuchung einiger zentraler Figuren des Herrn der Ringe geschaut werden, wie Tolkien mit Gyges’ Herausforderung umgeht. 2.2 Auf Zweiter Fahrt durch Mittelerde »Ich bin nicht ganz und gar auf der Seite von irgendjemandem, denn niemand ist ganz und gar auf meiner Seite, wenn ihr versteht, was ich meine.«36 Hier deutet Tolkiens Figur Baumbart, ein Ent und Hüter des Waldes,37 bereits an, was sich durch die Erzählung wie ein roter Faden zieht: Die Ambivalenz einer klaren Definition von Normativität. Wer oder was ist gut oder böse, unter welchen Umstän32 Vgl. Frede, Dorothea: Platons Phaidon. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele. Darmstadt 1999. S. 115. 33 Platon: Phaidon. 99e. Vgl. auch Frede, die bezüglich des Wortes logoi zu dem Ergebnis kommt, dass es sich bei der Übersetzung desselben nicht lediglich um »Gedanken«, sondern um »die Annahme der Ideen selbst« handeln muss. Frede: Platons Phaidon. S. 122. 34 Platon: Phaidon. 99c-d. 35 Vgl. Frede: Platons Phaidon. S. 120. 36 Tolkien, J. R. R.: Der Herr der Ringe. Bd. 2: Die Zwei Türme. Stuttgart 1986. S. 83. 37 Ents sind Bäume mit Bewusstsein.
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den und in Beziehung zu wem werden Entscheidungen nach welchen Kriterien gefällt und potentielle Handlungen abgewogen? Was auf den ersten Blick absolut transparent erscheint, ist bei näherem Hinsehen weitaus prekärer und scheinbar klare Positionen werden in Frage gestellt. Häufig wird das Genre High Fantasy im Allgemeinen, und die Herr der RingeSaga als Begründer dieses, mit dem Vorwurf konfrontiert, eindimensional zu sein.38 Der klare Dualismus zwischen Gut und Böse, hell und dunkel, zwischen Sauron und den freien Völkern scheinen klar normativ bewertet und ausgehandelt zu sein und damit fad und schlicht zu einfach. Doch wie auch in einem weiteren Universum, dem unsrigen, gilt es für die Charaktere zu entscheiden, wie mit potentieller Macht umzugehen ist. Die Art und Weise, wie sich die Figuren der Herausforderung eines unsichtbar machenden Rings stellen, ist bei genauerer Betrachtung feinmaschig facettiert und nuancenreich ausgehandelt. Während die verschiedenen Figuren aus äußerst unterschiedlichen soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Kontexten stammen, sind auch ihre ethischen Konzeptionen und moralischen Praktiken – und damit die entscheidende Antwort nach dem Umgang mit dem Einen Ring – jeweils andere. Jede Figur folgt explizit oder implizit einer Ethik, die sie ihrem Handeln in Bezug auf den Ring zugrunde legt. Und was zunächst so leicht zu bewerten schien, wird plötzlich mit vielen Graubereichen überzeichnet, die es schwierig machen, noch klar und mit Überzeugung sagen zu können, welches der richtige Weg ist. Tolkiens Sekundärwelt39 Mittelerde beherbergt Völker und Kulturen verschiedenster Art, die wiederum ein mannigfaltiges Spektrum an Charakteren hervorbringen. Das führt auch dazu, dass zwischen den zwei extremen und unterkomplexen Positionen von Gut und Böse noch Varianten unterschiedlicher ethischer Haltungen existieren. Um diese zu untersuchen, stellt sich zunächst die Frage, wen die verschiedenen Ethiken als moralisch zu berücksichtigende Subjekte einbeziehen. Im Folgenden werden hier daher verschiedene Völker (Menschen, Elben, Hobbits, Zwerge, »Zauberer«) unter dem Begriff menschenähnliche Wesen zusammengefasst. Während Völker wie Elben und in gewissem Maße auch Hobbits eine physiozentristische Ethik praktizieren, also auch der Natur selbst einen moralischen Wert zuschreiben, sind Menschen beispielsweise in ihrer Ethik eher anthropozentrisch orientiert und richten sie daher nach Menschen bzw. menschen38 Vgl. Lohre, Matthias: Reaktionäre Hobbits. 2014. http://www.taz.de/!5051256/ (Stand: 15.09.2017). 39 Sekundärwelten sind grundsätzlich im Kontrast zu Primärwelten zu betrachten. Im Fall von Mittelerde handelt es sich um eine geschlossene Sekundärwelt, weil zu keinem Zeitpunkt ein Übertreten in die Primärwelt möglich ist oder auch nur die Rede von einer Primärwelt ist. Vgl. zu Sekundärwelten in diesem Band: Böhnert, Martin/Reszke, Paul.
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ähnlichen Wesen aus.40 Um die Breite an verschiedenen ethischen Haltungen in Mittelerde aufzuzeigen, sollen anhand ausgewählter Textbeispiele exemplarisch vier Charaktere betrachtet und deren Handlungen in Konfrontation mit dem Ring auf ihre jeweilige ethische Motivation hin analysiert werden. 2.2.1 Der Hobbit Bilbo Beutlin Bilbo Beutlin stellt die erste Figur aus Mittelerde in dieser Untersuchung dar, die mit dem Ring und vor allem dessen Macht konfrontiert ist. Er findet den Ring in Gollums dunkler Höhle.41 »Spritz und Spucke, mein Schatzzzz! Was für eine erstklassige Mahlzeit, wenigstens ein saftiger Bissen, gollum!«42 An dieser Stelle ist Bilbos Leben akut in Gefahr, da Gollum droht, den Hobbit zu töten und zu fressen.43 Bilbo ist nicht nur mit einem Schwert bewaffnet, sondern ist zudem im Besitz des Einen Rings, der ihn unsichtbar machen kann und dadurch im Sinne des Gyges-Problems der gesellschaftlichen Konventionen entbunden. Doch trotz der Möglichkeit einer unbemerkten Tötung, entscheidet sich Bilbo, Gollum das Leben zu schenken. »Er musste sich durchkämpfen. Er musste diesem üblen Burschen die Augen ausstechen, ihn töten. Der wollte ihn ja auch töten. Nein, das wäre kein fairer Kampf. […] Und wie elend der Kerl dran war, einsam und verlassen! Etwas wie Mitleid, vermischt mit Abscheu, überkam ihn, ein plötzliches Verstehen, der kurze Einblick in die endlose Folge namenloser
40 Krebs, Angelika: Grundbegriffe der Naturethik. In: Krebs, Angelika (Hg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt a. M. 1997. Vgl. hierzu bspw. Haldirs Reaktion: »Ich habe nicht geschossen, denn ich wagte nicht, irgendwelche Schreie hervorzurufen: wir können keinen Kampf riskieren. Eine große Schar Orks ist vorbeigezogen. Sie haben den Nimrodel [einen heiligen Fluss der Elben] überquert – verflucht seien ihre schmutzigen Füße in diesem reinen Wasser!« Tolkien: Der Herr der Ringe: Die Gefährten. S. 417. Diese Sichtweise kann man auch bei anderen Geschöpfen wiederfinden, wie beispielsweise Radagast dem Braunen: »Radagast ist gewiss ein ehrenwerter Zauberer, ein Meister der Gestalten und Farbverwandlungen; und er hat große Kenntnisse von Kräutern und Tieren, und Vögel sind seine besonderen Freunde.« Ebd., S. 313. 41 Gollum, der zuvor Smeagol hieß, gehörte einem Volk ähnlich den Hobbits an, bis er, wie oben bereits angedeutet, durch den Einfluss des Einen Ringes aus der Gesellschaft ausgestoßen wurde und einsam im Nebelgebirge lebte. 42 Tolkien: Der Hobbit. S. 82. 43 Ebd.
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Tage ohne Licht oder Hoffnung auf Besserung, harter Stein, kalter Fisch, Schleichen und Flüstern.«44
Bilbos Unterlassung der durch die Bedrohung nahegelegten Tötung des Geschöpfs, die er zunächst vor sich selbst als Notwehr rechtfertigt, wird schließlich durch »etwas wie Mitleid« motiviert: »Der Schrei zerriss Bilbo fast das Herz, aber er ging weiter.«45 Um diese Motivation moralphilosophisch greifbarer zu machen, lässt sich etwa eine Mitleidsethik, wie sie Arthur Schopenhauer pointiert fasst, heranziehen: »Grundlage der Moral ist das Mitleid. Dies gründet sich auf der Einsicht, dass alle Wesen dem einen Willen entspringen und in ihrem Inneren gleich sind.«46 Durch das jahrelange Tragen und Benutzen des Einen Ringes ist Gollum nicht nur in seiner Gestalt nicht mehr als menschenähnliches Wesen zu betrachten, er legt auch Verhaltensweisen an den Tag, die eher Tieren oder in diesem Fall Orks zugeschrieben werden. Die Hemmschwelle für eine Tötung Gollums sollte also dadurch sinken. Weiterhin bedroht dieses Geschöpf Bilbo, niemand würde die Tat sehen und damit verurteilen können, nicht nur weil Bilbo durch den Ring unsichtbar ist, sondern auch weil die beiden allein in Gollums Höhle sind. Entgegen vieler Gründe, die für eine Tötung seines durch die langjährige Nutzung des Ringes »entmenschlichten« Gegenübers sprechen; die Tatsache, dass es sich um Notwehr handeln würde und dass sich keine Zeugen in der Nähe befinden, entscheidet sich Bilbo, Gollum zu verschonen. All dies sind – auch unabhängig von der Versuchung des Ringes – in der realen Welt nachvollziehbare Gründe, unmoralisch zu handeln. In diesem Sinne würde Bilbos Handeln, sich über die Versuchung und Niedertracht, die von dem Einen Ring ausgeht, hinwegzusetzen, als durch eine Mitleidsethik motiviert erklären lassen. Sein Handeln kann nicht durch Gründe der Vernunft oder Pragmatismus erklärt werden. Es muss Mitleid sein, das Bilbo davon abhält, Gollum zu töten und damit eine moralisch gute Entscheidung im Mittelerde Universum zu treffen. 2.2.2 Der Mensch Boromir Eine interessante Figur für die Betrachtung von Ethik und der Relativität von Gut und Böse im Herr der Ringe-Universum stellt der Mensch Boromir dar. Er ist der 44 Ebd., S. 96-97. 45 Ebd., S. 97. Auch an weiteren Stellen wird Gollum aus Mitleid verschont, was sich im Endeffekt als schicksalhaft erweist, um den Ring letztlich zu zerstören und Mittelerde zu retten. So lässt bspw. auch Aragorn Gollum am Leben, obwohl sich im Kontext der Sekundärwelt gute Gründe anführen ließen, ihn zu töten. Ebd., S. 80-81. 46 Kunzmann, Peter/Burkard, Franz-Peter: dtv-Atlas Philosophie. München 2011. S. 161.
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Sohn Denethors, des Thruchsess von Gondor,47 und damit ein einflussreicher Vertreter jenes Volkes, welches eine direkte Grenze zu Saurons Reich Mordor hat. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird klar, dass er eine von Figuren wie Bilbo verschiedene Weltanschauung vertritt. Mit der Art und Weise, wie er plant mit der Macht des Ringes umzugehen, wird die Ambivalenz und die Ungewissheit von Moral in Mittelerde deutlich. Boromir unterliegt dem Irrglauben, den Ring für seine Zwecke nutzen zu können: »Die Menschen von Gondor sind tapfer, und sie werden sich niemals unterwerfen; aber es mag sein, dass sie geschlagen werden. Mut braucht erstens Stärke und dann eine Waffe.48 Lasst den Ring Eure Waffe sein, wenn er solche Macht besitzt, wie Ihr sagt. Nehmt ihn und geht dem Sieg entgegen!«49 Dem ließe sich eine Ausführung John Stuart Mills gegenüberstellen: »Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken.«50
Boromirs Ansatz folgt utilitaristischen Prinzipien. Er möchte den Ring und dessen ungeheure Macht dafür benutzen, um nicht zuletzt für sein Volk zu kämpfen. Bei Boromir heiligt der Zweck die Mittel. Solange letztlich der Großteil der Bevölkerung profitiert, ist der Weg, der zu diesem Ziel führt, zweitrangig. Dementsprechend kann er als Vertreter eines Utilitarismus im Sinne Mills betrachtet werden. Offensichtlich will Boromir das Beste für die Gruppe der Gefährten und sein Volk, aber auch für Mittelerde als solches. Dafür ist es ihm recht, auch Mittel zu verwenden, die fragwürdig sind, um zu gewährleisten, dass Sauron besiegt werden 47 Gondor ist ein Reich Mittelerdes, das primär von Menschen bewohnt und regiert wird. Bevor der wahre Thronfolger von Gondor, Aragorn, am Ende des Ringkrieges gekrönt wird, herrscht in Gondor ein Statthalter. Denethor II. ist Boromirs Vater und somit wäre Boromir, im Falle von Aragorns Verzicht auf den Thron, zukünftiger Herrscher über ein großes Reich in Mittelerde. 48 Dass der zunächst als schwacher Charakter beschriebene Frodo und nicht der als helden- und tugendhaft beschriebene Boromir zum Ringträger erwählt wird, ist mit Hinblick auf die Allusion zum Ring des Gyges von wesentlicher Bedeutung: Erst an einem schwachen Charakter, der der Versuchung durch den unsichtbar machenden Ring entsagt, ließe sich das Wesen der Gerechtigkeit vollends beschreiben, da ein starker Charakter nach platonischer Vorstellung von Natur aus dazu neigt, seinen eigenen Interessen rigoros zu folgen. 49 Tolkien: Die Gefährten. S. 325. 50 Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976. S. 13.
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kann. Boromir als Utilitarist scheint im Umgang mit Versuchung und Macht nicht erfolgreich zu sein. Im Sterben sieht er diese Fehleinschätzung ein: »Boromir öffnete die Augen und mühte sich zu sprechen. Schließlich kamen zögernde Worte. ›Ich habe versucht, Frodo den Ring wegzunehmen‹, sagte er. ›Es tut mir leid, ich habe dafür bezahlt.‹«51 Niemand würde Boromir vorwerfen, egoistisch oder unmoralisch zu handeln. Sein Ansatz ist dennoch im Universum von Mittelerde und im Umgang mit dem Ring zum Scheitern verurteilt. Dies zeigt aber, inwiefern in Tolkiens Welt gut nicht gleich gut ist: Auch auf Seiten der normativ unzweifelhaft Guten gibt es Ambivalenzen und Figuren, die in Versuchung zu führen sind. Boromir will den Ring nicht an sich nehmen, um ihn einfach zu besitzen, sich selbst zu bereichern oder um ihn für seine persönlichen egoistischen Zwecke zu missbrauchen. Zumindest lässt seine Argumentation einen solchen Schluss nicht zu. »Denn obwohl ich nicht um Hilfe bitte, brauchen wir sie [die Waffe, also hier: den Einen Ring]. Es wäre für uns tröstlich zu wissen, daß auch andere mit allen Mitteln kämpfen, die sie besitzen«.52 Die Motivation für sein Handeln speist sich immer mit Blick auf andere: Er will aus der sich offenbarenden Situation das Beste für sein Volk herausschlagen und opfert schließlich sein Leben für dieses. Als egoistische Persönlichkeit ist Boromir demnach nicht einzustufen. 2.2.3 Der Hobbit Samweis Gamdschie Als erfolgreichster Gefährte im Widerstand gegen die Versuchung des Einen Rings erweist sich der Hobbit Samweis Gamdschie, genannt Sam. Seine ethischen Prinzipien sowie die Entscheidungen, die er trifft, lassen ihn bis zum Schluss den Verführungen des Ringes trotzen. Zunächst als Gärtner bei Bilbos Erben Frodo beschäftigt, stellt sich dieser zunächst einfache, robuste und heimatverbunden wirkende Charakter als treuer und mutiger Gefährte des Ringträgers heraus. Auch er, ähnlich wie Bilbo, hat sich gegen eine rein rationale Moral entschieden und ist mit dieser gesellschaftsimmanenten Ethik im Tolkien-Universum überaus erfolgreich. Bis auf die Aussicht auf die Erfüllung seines Wunsches, Elben zu sehen, besteht für Sam kein persönlicher Vorteil darin, Frodo auf seinem Abenteuer zu begleiten. Gandalf bestimmt, dass Sam seinen Herren begleiten soll: »Aber ich glaube nicht, daß du [Frodo] allein gehen mußt. Nicht, wenn du jemanden weißt, dem du vertrauen kannst und der bereit wäre an deiner Seite zu bleiben – und den in unbekannte Gefahren mitzunehmen du bereit wärst.«53
51 Tolkien: Die Zwei Türme. S. 14. 52 Tolkien: Die Gefährten. S. 326. 53 Ebd., S. 86.
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Selbst nachdem Sam Elben gesehen und damit sein Ziel erreicht hat, bleibt er an Frodos Seite, um sich um ihn zu kümmern.54 Sam sorgt sich selbstlos um seinen Gefährten und hilft ihm unermüdlich und mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, die Mission erfolgreich zu beenden, ohne Anerkennung für seine Anstrengungen zu suchen. »As human beings we want to care and to be cared for. Caring is important in itself.«55 Die Fürsorgeethik oder Ethics of Care fordert ein selbstloses und situatives Entscheiden und Handeln, wie es dem von Müttern nahe kommt. Auch Sam ist ein fürsorglicher Charakter, der spontan entscheidet, wie in einer Gefahrensituation oder einem Moment, der ein aktives Einschreiten fordern könnte, zu handeln ist.56 Als der gelähmte und bewusstlose Frodo von einer Riesenspinne gebissen und in ihr Netz gewickelt ist, entschließt sich Sam dazu, den Ring an sich zu nehmen. Doch tut er dies nicht, weil er ihn für sich haben will, sondern um Frodos Aufgabe zu beenden, da er annehmen muss, Frodo sei tot.57 Er geht nicht davon aus, der geeignetere Ringträger zu sein, sondern handelt im Kontext der Situation, die dieses Handeln erfordert.58 Dass er überhaupt nicht auf die Idee kommt, Frodo weiterhin allein zu lassen, nachdem er einen Betrug Gollums aufdeckt, obschon dieser ihm in einem Streit sein Vertrauen zu Gollums Vorteil entzogen hat,59 zeigt weiterhin, dass Sam sich um Frodo sorgt und entgegen seiner eigenen Interessen handelt. »›Leb wohl, Herr, mein Lieber‹, murmelte er. ›Verzeih deinem Sam. Er wird an diese Stelle zurückkommen, wenn die Aufgabe erledigt ist – wenn er es schafft. Und dann wird er dich nicht wieder verlassen. Ruhe hier, bis ich komme; und möge kein böses Geschöpf dir nahekommen! Wenn die Herrin mich hören könnte und mir einen Wunsch erfüllte, dann würde ich mir wünschen, daß ich zurückkomme und dich hier wieder finde. Leb wohl!‹«60
Am stärksten zeigt sich Sams Erfolg, als er sich aufmacht, um Frodo vor den Orks zu retten, die ihn nach dem Spinnenbiss in wehrlosem Zustand verschleppen. Er 54 Ebd., S. 105. 55 Noddings, Nel: Caring: A Relational Approach to Ethics & Moral Education. London 1986. 56 Katz: Die Ringe von Tolkien und Platon. S. 40. 57 Tolkien: Die Zwei Türme. S. 389. 58 Diese Szene ist nur in der Verfilmung von Peter Jackson zu finden. Sie ist jedoch eine logische Konsequenz für alle beteiligten Charaktere und beschreibt die Figuren kongruent zur These. 59 Jackson, Peter: The Lord of the Rings: The Return of the King. 2011 (DVD). 00:03:5500:04:29. 60 Tolkien: Die Zwei Türme. S. 394-395.
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ist zu diesem Zeitpunkt im Besitz des Rings und muss sich unsichtbar machen, um zu Frodo zu gelangen. Doch Sam entschließt sich gegen die einfachste, offensichtlichste Lösung, den Ring zu benutzen, um sich an den Heerscharen von Orks in ihrer eigenen Festung vorbeizuschleichen.61 An dieser Stelle hat Sam nicht nur eine Gelegenheit, sondern auch einen Grund, sich der Macht des Ringes hinzugeben und ihn über den Finger zu streifen. Doch sein Antrieb ist eben nicht vorrangig vernunftgesteuert und von einer Entität, seien es Gandalf, sein Vater der Alte Ohm, kulturelle Vorgaben oder gesellschaftlicher Druck, beeinflusst. Er ist durch seine Fürsorge, sein Caring, für Frodo geleitetet und kann damit der Versuchung erfolgreich widerstehen.62 Dass es sich bei Sams Motiven nicht um eine deontologische Antriebsfeder handelt, wird mit besonderem Nachdruck in der Verfilmung hervorgehoben: als er von seinem Herrn aufgefordert wird, nach Hause zu gehen, geht er zunächst, weil seine Fürsorge nicht länger von Nöten zu sein scheint,63 und er kehrt um, als er den Betrug durch Gollum bemerkt, der durch die Manipulation falscher Indizien Frodo glauben ließ, Sam habe die letzten Reste ihres Proviants allein verspeist.64 Es lässt sich also festhalten, dass Sam als »chief hero«, wie Tolkien ihn selbst einmal in einem Brief genannt hat,65 mit den Strategien und Motiven, die ihn zu Entscheidungen und Handlungen bringen, äußerst erfolgreich ist, sowohl in Mittelerde als auch in Konfrontation mit der ultimativen Versuchung. 2.2.4 Der Zauberer Saruman der Weiße Neben den Figuren, die unmittelbar mit dem Ring in Kontakt und damit in Versuchung geführt werden, kann man die Mannigfaltigkeit der Völker und Kulturen und somit auch deren Ethiken und Moralphilosophien ebenso an vermeintlich scheiternden und ambivalenten Charakteren erkennen. Auch auf Saruman, den Ratsvorsitzenden der Zauberer Mittelerdes, hat der Ring eine überaus große Anziehungskraft. Der Weiße Zauberer, wie er auch genannt wird, der zunächst einen eigenen Ring der Macht herstellen will, um so noch mächtiger werden zu können
61 Tolkien, J. R. R.: Der Herr der Ringe. Bd. 3: Die Rückkehr des Königs. Stuttgart 1986. S. 197. 62 »In dieser Stunde der Anfechtung war es die Liebe zu seinem Herrn, die am meisten dazu beitrug […].« Ebd., S. 198. 63 Noddings: Caring. S. 11. 64 Jackson: The Return of the King. 01:25:00-01:29:00. 65 Tolkien, J. R. R.: Letter 131 to Milton Waldman. http://faculty.smu.edu/bwheeler/tolki en/online_reader/TolkienLetters131.pdf (Stand: 29.10.2017).
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als Sauron,66 wird als überaus weise beschrieben, jedoch auch als hochmütig. Zur Zeit des Ringkrieges hat er sich bereits der Welt der Maschinen und der Massenzüchtung effizienter Kriegswesen verschrieben und beutet auf Kosten dieser die Natur Mittelerdes aus.67 Doch seine Weisheit, die er über lange Zeit in vielen Bereichen erlangt hat, bewahrt ihn nicht davor, den Verlockungen der Macht zu erliegen: »›Denn ich bin Saruman der Weise, Saruman der Ringmacher, Saruman der Vielfarbige!‹ Ich sah ihn an und bemerkte, dass sein Gewand, das mir weiß erschienen war, es gar nicht war, sondern aus allen Farben gewirkt war, und wenn er sich bewegte, dann schimmerten und schillerten sie, dass es das Auge verwirrte. ›Mir gefällt weiß besser‹, sagte ich. ›Weiß!‹ höhnte er. ›Das ist für den Anfang gut. Weißer Stoff kann gefärbt werden. Das weiße Blatt kann beschrieben werden; und das weiße Licht kann gebrochen werden.‹ ›Dann ist es aber nicht länger weiß‹, sagte ich. ›Und derjenige, der etwas zerbricht, um herauszufinden, was es ist, hat den Pfad der Weisheit verlassen.‹«68
Der in dieser Passage sprechende Gandalf deutet an, was im Laufe der Erzählung immer deutlicher wird: Die Hypostasierung eines metaphysisch Guten, aus dessen vernünftiger Einsicht durch den Menschen sich die Notwendigkeit tugendhaften Handelns generierte, wird kritisiert oder zumindest angezweifelt.69 Saruman, als eines der weisesten Wesen in Mittelerde, als Vorsitzender von Gelehrten, giert nach Macht, strebt danach, Mittelerde nach seinen Vorstellungen zu gestalten und verwalten und ist deutlich amoralisch konnotiert.70 Eine Ethik, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich der Welt und dem Leib zu Gunsten der unsichtbaren und denkbaren Angelegenheiten der Seele zuwendet, ist demnach in Mittelerde nicht zielführend und wird, wenn auch diskret und metatextuell, getadelt. Stattdessen 66 Tolkien, J. R. R.: The Lord of the Rings. London 1995. xvii. Da an dieser Stelle die englische Fassung von der deutschsprachigen Übersetzung abweicht, wird aus dieser Ausgabe zitiert. 67 Tolkien: Die Zwei Türme. S. 85. 68 Tolkien: Die Gefährten. S. 314. 69 Gandalf spricht aus einer Position heraus, die man als Metaperspektive auf den Verlauf der Geschichte auffassen könnte. So wird er nach gewonnenem Kampf gegen einen bösen Geist, den Balrog, nach Mittelerde zurückgeschickt, um dort seine Aufgabe zu erfüllen. Jedoch bleibt eine konkrete Erklärung der Verbindung, die er zu jener Instanz hat, die die Geschicke Mittelerdes lenkt, im Dunkeln. Und da er sich zudem dieser traumhaften Eingebung nie vollends sicher zu sein scheint, ist er wohl weniger als Wissender denn als Glaubender zu bezeichnen. Vgl. Tolkien: Die Zwei Türme. S. 118. 70 Tolkien: Die Gefährten. S. 85.
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hebt Tolkien in seinen Protagonisten Wertesysteme hervor, die auf Mitgefühl, Liebe und grundsätzlich spontan relationalen anstelle rationaler Entscheidungen und Handlungen fußen. Die Vorstellung, dass durch den Gebrauch des menschlichen Verstandes auch ethische Probleme gelöst werden können, wie es Kant vorschlägt, wird im Herrn der Ringe nicht negiert, wenn auch bezweifelt. Rein durch Weisheit ist auch ein ranghoher, angesehener Charakter in Tolkiens Universum zum Scheitern verurteilt. Dies bedeutet nicht, dass Weisheit und Wissen im Allgemeinen in Mittelerde keine Bedeutung zukommt – schließlich ist auch Gandalf, ebenfalls ein belesener Zauberer, erfolgreich im Widerstand gegen den Einen Ring. Letztlich zeigt sich auch hier, dass die gesellschaftsimmanenten Herangehensweisen anderer Charaktere erfolgreich sind. Tolkien macht an Saruman erneut klar, dass klassische Moralphilosophie à la Kant in seiner Welt nicht erfolgreich ist. Es ist also festzustellen, dass die verschiedenen Charaktere in Tolkiens Mittelerde nicht nur unterschiedlich auf die Herausforderung des Einen Ringes reagieren, sondern diese Handlungen auch unterschiedlich begründen. Während einige Figuren versuchen, entsprechend eigener rationaler Prämissen im Umgang mit der Versuchung erfolgreich zu sein, sind es letztlich aber die kontextgebundenen, weil gesellschaftsimmanenten Ethiken, die in Mittelerde am weitesten führen und ihre Träger am ehesten vor der eigenen Korrumpierbarkeit bewahren. Vor allem mit Hinblick auf den knappen Sieg über Sauron wird deutlich, dass es im Herrn der Ringe weniger darum geht, aufgrund welcher rationalen Annahmen man sein Ziel bestmöglich erreicht, sondern vielmehr darum, welche inneren Einstellungen das eigene Durchhaltevermögen steigern und die Reflexion auf ein dem Kontext entsprechendes Handeln ermöglichen. Es soll nun abschließend untersucht werden, inwiefern dies mit dem von Tolkien angenommenen grundsätzlichen Verhältnis von Mensch und Welt übereinstimmt.
3 TOLKIEN UND SEINE KRITIKER Unter Betrachtung der philosophischen Standpunkte der verschiedenen Charaktere des Herrn der Ringe wird deutlich, dass Tolkiens Umgang mit der Frage nach dem Guten und Bösen weitaus differenzierter ausfällt, als gemeinhin angenommen. Dass es sich hierbei um einen epischen Text handelt, der das Nachzeichnen ethischer Dilemmata weniger auf höheren Abstraktionsgraden denn anhand konkreter Beispiele vollzieht, sollte hierbei weniger als Schwäche denn als Leistung des Textes gewertet werden. Zuspitzen ließe sich das bisher Gesagte zu der These, dass sich mit Tolkien einer Moralphilosophie, die ihre Probleme mit universalis-
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tischem Anspruch in der Sphäre der Gedanken zu lösen bestrebt ist, ein sprachphilosophisches Argument entgegenstellen lässt. Die These, dass das literarische Schaffen des von Haus aus als Philologe tätigen Tolkien maßgeblich von der Grundannahme inspiriert war, dass Sprachen und ihre Entwicklungen eng mit ihrer Geschichte (bzw. den in ihnen verfassten Erzählungen) zusammenhängen, erscheint allein mit Hinblick auf die von ihm geschaffene fiktive Sprache des Sindarin augenscheinlich und ist ebenfalls in der Sekundärliteratur viel besprochen worden.71 Doch sind eben diese sprachwissenschaftlichen Analysen fantastischer Epen auch für philosophische Betrachtungen von nicht geringer Bedeutung. Deshalb soll an dieser Stelle ein Blick auf Tolkiens Verständnis von epischen Texten geworfen werden, der nicht nur sein philologisches Interesse sondern auch seine Einschätzung des Verhältnisses von Sprachen, Menschen und Welt verdeutlicht. Die sich daraus ergebenden Erkenntnisse sollen abschließend auf den Herrn der Ringe angewendet werden. So betont Tolkien in seinem Essay The Monsters and the Critics wider einem Chor kritischer Stimmen, die Beowulf zwar als kulturhistorisch wertvolles Dokument, literarisch jedoch inkohärentes und triviales Werk lesen wollen, dass die im Epos verarbeiteten fantastischen Elemente ins Zentrum der Interpretation gerückt werden müssten, um so der eigentlichen künstlerischen Intention des Textes gerecht werden zu können: Die poetische Beschreibung einer »fusion that has occured at a given point of contact between old and new, a product of thought and deep emotions.«72 Während das Neue einer mythologischen bzw. fantastischen Erzählung in der Art der Lyrik sowie den verschiedenen soziokulturellen Einflüssen und ihrer textimmanenten Perspektivierung aufscheine, ließe sich anhand der Untersuchung der ihr innewohnenden fantastischen Elemente das herausarbeiten, was der Mythos seit altvorderer Zeit gewesen sei: Ein Ausdruck des ewigen Kampfes des Menschen mit dem Chaos. Dies wird umso deutlicher, wenn man betrachtet, wie Tolkien die nordischen Götter denen des antiken Griechenlands gegenüberstellt. Trotz der in der nordischgermanischen Eschatologie prophezeiten Götterdämmerung, die die Welt zurück in die Dunkelheit schleudere, aus der sie entstanden sei, stellten sich erstere Seite an Seite mit den Menschen den Mächten des Chaos, was ihre Menschlichkeit unterstreiche.73 Auch die Herrschaft der Olympier sei aus dem Kampf gegen das Chaos hervorgegangen. Da sie ihn jedoch gewonnen und von da an weder Entmachtung noch Tod zu fürchten hätten, seien sie den Menschen deutlich ungleicher und daher desinteressierter an deren Schicksal als die nordischen Gottheiten: 71 Noel, Ruth S.: The language of Tolkien’s Middle-earth. Boston 1980. 72 Vgl. Tolkien: The Monsters and the Critics. S. 20. 73 Vgl. ebd.
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»[The Greek Gods] are not the allies of men in their war against these or other monsters. The interest of the gods is in this or that man as part of their individual schemes, not as part of a great strategy that includes all good men, as infantry of battle.«74 Während Zeus und sein Gefolge ab dem Moment ihres Sieges über den Thron des Universums zeitlos und über die Menschheit und ihre Probleme erhaben seien, wären ihre nordischen Pendants ob der aus ihrem verhängnisvollen Schicksal resultierenden Zeitlichkeit deutlich menschenähnlicher. Zudem wiesen die ins Zentrum der germanischen Mythologie gerückten übermächtigen und letztlich sogar siegreichen Ungeheuer auf die Instabilität einer jeden Ordnung hin, während die Zeitlosigkeit der Olympier einen notwendigen Progress der Welterklärungen befeuerte, der zwar nicht sinnlos, sich aber seiner selbst oft zu sicher gewesen wäre: »This may make the southern gods more godlike – more lofty, dread, and inscrutable. They are timeless and do not fear death. Such a mythology may hold the promise of a profunder thought. In any case it was a virtue of the southern mythology that it could not stop where it was. It must go forward to philosophy or relapse into anarchy. For in a sense it had shirked the problem precisely by not having the monsters in the centre – as they are in Beowulf to the astonishment of the critics.«75
Die Stärke einer Mythologie, die die fantastischen Elemente ins Zentrum setzt, bestünde Tolkien zufolge also darin, dass sie sich der Macht des drohenden Chaos bewusst sei, dass der Mensch als endlichem Wesen, in dem Gut und Böse zu streiten nie aufgehört hätten, trotz aller Profundität seiner Welterklärungen niemals vollends abzuwehren in der Lage sei. Mittels Erzählungen von Helden, deren »naked will and courage« das einzige seien, was sie dem aussichtslosen Kampf gegen die übermächtigen Ungeheuer entgegenzusetzen hätten, würde so das Verhängnis des menschlichen Daseins thematisiert und reaktualisiert, anstatt Zuflucht bei der gedanklichen Ermittlung eines metaphysisch Guten zu suchen.76 Mit Hinblick auf die diesem Artikel zugrundeliegenden Sujets sowie das bisher Gesagte ist Der Herr der Ringe also nicht als narrative Ausarbeitung der Sokratischen Lehre von der Notwendigkeit der intrinsischen Einsicht, gerecht zu sein, zu betrachten. Vielmehr ist Tolkiens Epos selbst als Mythos der Gegenwart zu lesen. Denn indem er das Gyges-Problem, das ja seinerseits auf einem Mythos basiert, hervorhebt und kontextualisiert, kommentiert Tolkien Platons Vorstellung einer Lösung desselben als unzureichend. Demgegenüber sei die Vergegenwärtigung der Fragilität, 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 26.
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die aller von Menschen geschaffenen Ordnung zukommt und für die der Mythos ihm zufolge steht, in den Blick zu nehmen und immer wieder zu reaktualisieren. Andernfalls haben wir der Knechtschaft, mit der der Ring der Macht uns droht, nichts entgegenzusetzen.
FAZIT Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet Friedrich Wilhelm Joseph Schelling scheinbar Worte für etwas, das sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als allzu wahr erweisen sollte: »Nach der ewigen Tat der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Kreatur; Finsternis ist ihr notwendiges Erbteil.«77
Hatte die Industrialisierung in vielen Ländern Europas den Menschen einerseits zu Wohlstand verholfen, befeuerte sie andererseits die umfänglichen Innovationen der Kriegsmaschinerie, deren Einsatz im ersten Weltkrieg unzählige Opfer forderte. Und mag es den Erfindern der Fabrik- und Fließbandarbeit vielleicht neben allen kapitalistischen Interessen auch darum gegangen sein, den Anforderungen der durch die Urbanisierung rapide wachsenden Städte gerecht zu werden, so machte ihre Entwicklung den Zivilisationsbruch, den systematischen Genozid der europäischen Juden in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus, überhaupt erst möglich. Es scheint daher bezeichnend, dass sämtliche literarischen Werke Tolkiens sowie sein Essay in Zeiten Vollendung fanden, als die westliche Welt drohte, im Chaos zu versinken. Der Hervorhebung und Vergegenwärtigung der mythologischen Elemente, wie sie Tolkien fordert, auf die alle wie rational auch immer gearteten Welterklä-
77 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit und den damit zusammenhängenden Gegenständen. Hamburg 2001. S. 20.
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rungen fußen und sie damit nicht davor gefeit machen, in ihr Gegenteil zurückzuschlagen, kommt damit eine weitaus höhere Tragweite zu, als es die Rede von der exemplarischen Wiederverzauberung der Welt im Herrn der Ringe vermuten ließe. Sie immer neu zu verstehen und damit auf ihr geschichtliches Gewordensein zu reflektieren, stellt höchstens die eine Seite der Forderung dar. Als die andere Seite ist jedoch auf ihr Hervorgehen aus der Dunkelheit und die damit verbundene Fragilität aller Ordnung zu reflektieren. Insofern widerspricht Tolkiens MythosBegriff der Vorstellung eines guten Kerns im Menschen, der, wenn erst einmal gehoben und ins Zentrum allen Denkens gesetzt, zur Seelenruhe des Einzelnen beitrage. Liest man sein Werk also als ausführlichen Platon-Kommentar, dann als einen solchen, der den hypothetischen Charakter der Theorie des griechischen Philosophen besonders hervorhebt. Die Welt, die Tolkien erschafft, ist geprägt von einer Ambivalenz, die das Gegenteil zum Rückzug in derart intelligible Gefilde fordert, wie Platon sie gerne begründet sähe. Tolkiens Ambivalenz zwingt zum Kampf gegen die auf uns wirkenden Mächte des Chaos in beiden Welten, egal, wie aussichtslos er auch erscheinen mag.78 Der Herausforderung, die ein unsichtbar machender Ring und die damit einhergehende Korrumpierung jeder moralischen Integrität für uns bedeutet, ist niemals endgültig zu begegnen. Sich ihrer bewusst zu sein und sie dennoch anzunehmen, macht das eigentliche Ideal des Menschen in Tolkiens Sinne aus.
QUELLENVERZEICHNIS Bachmann-Medick, Doris: Kulturanthropologie. In: Nünning, Ansgar/ Nünning; Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften: Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart und Weimar 2003. S. 86-107. BBC: The Big Read. 2003. http://www.bbc.co.uk/arts/bigread/top 100.shtml (Stand: 29.10.2017). Blackburn, Simon: Über Platon. Der Staat. München 2006. Frede, Dorothea: Platons Phaidon. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele. Darmstadt 1999. Jackson, Peter: The Lord of the Rings: The Return of the King. 2011 (DVD, Special Extended Edition).
78 Dass Tolkien sein Epos in einer »Eukatastrophe« enden lässt, ließe sich durchaus als christliche Implikation oder schlichtweg als Inkonsequenz betrachten. Den germanischen Helden war es ob ihrer Mythologie nicht vergönnt, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.
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Jeffrey, David L.: Name in The Lord of the Rings. In: Modern Critical Interpretations: J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. New York 2000. S. 125-170. Katz, Eric: Die Ringe von Tolkien und Platon: Über Macht, Moral und Wahl. In: Bassham, Gregory/Bronson, Eric (Hg.): Der Herr der Ringe und die Philosophie. Stuttgart 2009. Kehr, Eike: Natur und Kultur in J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. Trier 2010. Kersting, Wolfgang: Platons Staat. Darmstadt 2006. Krebs, Angelika: Grundbegriffe der Naturethik. In: Krebs, Angelika (Hg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt a. M. 1997. Lohre, Matthias: Reaktionäre Hobbits. 2014. http://www.taz.de/!5051256/ (Stand: 15.09.2017). Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976. Niehaus, Michael: Dinge der Macht. Der Ring des Nibelungen und Der Herr der Ringe. In: Zeitschrift für Germanistik, 1 (2012). S. 71-88. Nietzsche, Jane Chance: Tolkien’s Epic. In: Modern Critical Interpretations: J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. New York 2000. S. 79-106. Noddings, Nel: Caring: A Relational Approach to Ethics & Moral Education. London 1986. Noel, Ruth S.: The language of Tolkien’s Middle-earth. Boston 1980. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2008. Platon: Phaidon. In: Sämtliche Werke, Bd. 2. Reinbek 2006. Platon: Politeia. In: Sämtliche Werke, Bd. 2. Reinbek 2006. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit und den damit zusammen-hängenden Gegenständen. Hamburg 2001. Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral. Hamburg 2007. Schwarz, Guido: Jungfrauen im Nachthemd – Blonde Krieger aus dem Westen. Eine motivpsychologisch-kritische Analyse von J. R. R. Tolkiens Mythologie und Weltbild. Würzburg 2003. Shippey, T. A.: J. R. R. Tolkien. Author of the Century. London 2000. Simek, Rudolf: Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie. München 2005. Sinclair, Francis: Riveting Reads plus Fantasy Fiction. Wanborough, Swindon 2008. Tolkien, J. R. R.: Das Silmarillion. London 1977. Tolkien, J. R. R.: Der Herr der Ringe. Stuttgart 1986.
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»You Guys Look Great! Mom, You Look so… Thin.«1 Eine Untersuchung zu Kausalität in Zurück in die Zukunft Melanie Waldmeyer
Zurück in die Zukunft ist eine Filmtrilogie aus den Jahren 1985 bis 1990. Die Handlung beginnt im Jahr 1985, in dem Doc2 Emmet Brown eine Zeitmaschine erfindet. Da das Ganze möglichst fortschrittlich wirken soll, hat er zu diesem Zweck einen DeLorean3 umgebaut und möchte dem Protagonisten Marty McFly auf einem Kaufhausparkplatz die erste Zeitreise vorführen. Zur Dokumentation soll dieser das Geschehen mit einer Videokamera aufzeichnen. Die kurze Zeitreise funktioniert, jedoch werden Doc und Marty von Terroristen bedroht, die nicht die geforderte Bezahlung für das von ihnen organisierte Plutonium erhalten hatten, welches als Treibstoff für die Zeitmaschine benötigt wird. In ihrer Wut erschießen sie Doc und Marty bleibt nichts Anderes übrig, als sich in den DeLorean zu retten, wobei er versehentlich in der Zeit zurückreist. Zufälligerweise gelangt er dabei genau in das Jahr 1955, in welchem seine persönliche Geschichte ihren Anfang nimmt. Es ist das Jahr, in dem sich seine Eltern George und Lorraine kennenlernen.
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Spielberg, Steven: Zurück in die Zukunft I. Universal Studios 2015 (DVD). 01:43:43-
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Marty McFly nennt Dr. Emmet Brown in Zurück in die Zukunft oftmals einfach nur
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Genauer gesagt handelt es sich um das Modell DMC-12 dieses Autos der DeLorean
01:43:46. Doc, weshalb der akademische Grad in dieser Arbeit als dessen Spitzname genutzt wird. Motor Company, welches im 1981 errichteten Werk im nordirischen Dunmurry produziert wurde. Vgl. Reek, Felix: Bericht vom 02.02.2016, Kult-Filmauto wird wieder gebaut. http://www.sueddeutsche.de/auto/delorean-dmc-kult-filmauto-wird-wieder-geba ut-1.2844726 (Stand: 31.07.2017).
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MENSCHEN ÄNDERN SICH – GEORGE UND LORRAINE MCFLY VOR UND NACH DER ZEITREISE Der folgende Dialog zu Beginn des Films Zurück in die Zukunft zwischen Mutter Lorraine und Tochter Linda am Esszimmertisch der McFlys im Jahre 1985 gibt innerhalb kürzester Zeit wieder, was zum Leitmotiv der gesamten Filmtrilogie werden soll: »Linda: Then how am I supposed to ever meet anybody? Lorraine: Well, it will just happen, like the way I met your father. Linda: That was so stupid! Grandpa hit him with the car. Lorraine: It was meant to be. Anyway, if Grandpa hadn’t hit him, then none of you would have been born.«4
Jedoch, warum ist dieser Zeitpunkt so relevant für die weiteren Entwicklungen? Marty McFly, der zu Beginn des ersten Films unfreiwillig aufgrund einer Zeitreise in das Jahr 1955 gelangt und dort auf seine Eltern trifft, verändert durch sein Eingreifen den Ablauf des zeitlichen Geschehens grundlegend. Diese Veränderungen sind so gravierend, dass alle anderen im Film gezeigten Charaktere bei Martys Rückkehr in das Jahr 1985 einen enormen Wandel vollzogen haben. Besonders deutlich wird dies bei dem Zusammentreffen mit Eltern und Geschwistern am Morgen nach seiner Rückkehr, wo er ganz und gar andere Menschen als Eltern und Geschwister vorfindet, als diejenigen mit denen er vor seiner Zeitreise zusammenlebte. Diese Arbeit soll der Frage nachgehen, welche Ereignisse ursächlich für diese Charakteränderungen sind, um eventuell zu einem einzigen, allen anderen vorausgehenden, Ereignis zu gelangen, das die zeitlichen Abläufe so sehr beeinflusste, dass Marty in ein verändertes 1985 zurückreist und das vorige 1985 nicht mehr existieren kann. Für diese Untersuchung bietet es sich an, den Fokus auf Martys Eltern George und Lorraine zu legen, da deren Veränderung durch die filmische Darstellung am besten zu verfolgen ist. Zu Beginn des Filmes lebt Marty in einem 1985, in dem seine Eltern und Geschwister persönlich und beruflich versagt haben, und kehrt später in ein 1985 zurück, in welchem Eltern und Geschwister erfolgreiche Persönlichkeiten mit höherer gesellschaftlicher Stellung sind. Die Zeitreise und daraus resultierende charakterliche Veränderungen, sind ein ganz alltägliches Spiel mit Gedanken. Sicher hat jeder schon einmal die Überlegung gehabt, ob das Leben anders verlaufen wäre, wenn in der Vergangenheit
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Spielberg: Zurück in die Zukunft. 0:15:19-0:15:38.
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andere Entscheidungen getroffen worden wären. Genau hier knüpft der Film Zurück in die Zukunft an und transformiert dieses Spiel zu einem ausgereiften Gedankenexperiment, in dem die verschiedensten Möglichkeiten der positiven und negativen Einflussnahme samt ihren Auswirkungen konsequent erprobt werden. Legt man den Fokus auf die Ursachen der charakterlichen Veränderungen, so verschiebt sich die Frage vom anderen Leben auf diejenige, die anhand der Eltern Martys aufgezeigt werden soll: Wenn andere Ereignisse eingetreten wären, wäre man noch dieselbe Person? Der einfachste Ausgangspunkt für die Untersuchung von charakterlichen Änderungen in Zurück in die Zukunft scheint die Erstellung einer Kausalkette mit allen möglich erscheinenden Ursachen zu sein, die für die Wirkung der erfolgreichen Eltern Martys verantwortlich sein könnten. Damit soll versucht werden, sämtliche Ereignisse, die die Entwicklung der Eltern betreffen, aufzulisten und übersichtlich zu organisieren, da durch die Zeitreise keine chronologische5 Abfolge von Geschehnissen vorliegt.
ERSTE VERSUCHE – WAS IST KAUSALITÄT? Für das Erarbeiten einer Abfolge von Ursachen und Wirkungen muss zu Beginn definiert werden, was in diesem Kontext unter Kausalität zu verstehen ist, inwiefern Ursache und Wirkung in Relation zueinanderstehen und ob es ausreichend ist, zu sagen, dass ein Ereignis ein darauffolgendes Ereignis bewirkt haben könnte. Sucht man nach ersten Überlegungen zur Kausalität, so findet man in der Metaphysik des Aristoteles die Beschreibung von vier verschiedenen Ursachen: »[Da] man aber von den Ursachen in vierfacher Bedeutung spricht, einmal nämlich als Wesen und als Was-es-ist-dies-zu-sein […], zweitens als Stoff und Substrat, drittens als das, woher der Anfang der Bewegung kommt, viertens – im Gegensatz zur dritten Bedeutung – als das Weswegen und das Gute (denn dies ist das Ziel aller Entstehung und aller Bewegung) […]«6
Diese Beschreibungen stehen für die Formursache (causa formalis), die Stoffursache (causa materialis), die Wirkursache (causa efficiens) und die Zielursache (causa finalis). Zur Erläuterung sei hier das Beispiel einer Statue angeführt. Die Formursache entspricht der Idee der Statue, an die die anschließend realisierte
5
Vgl. hierzu in diesem Band: Fuhlmann, Madeline Isabelle.
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Aristoteles: Metaphysik. Stuttgart 2000. 983a25-30.
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tatsächliche Form angelehnt ist. Die zweitgenannte Ursache, oder auch Stoffursache, wird bei der Betrachtung des Materials deutlich: im Falle einer Statue könnte dies ein Metall oder Marmor sein. Die Wirkursache wäre der Bildhauer, der das Metall nach Vorbild der causa formalis bearbeitet und schließlich die Statue herstellt. Und die letztgenannte Ursache, die causa finalis oder das Ziel, würde dem Zweck entsprechen, zu dem diese Statue gefertigt wurde: beispielsweise zur Ehrung eines Helden.7 Aristoteles nimmt eine nähere Bestimmung der drittgenannten Ursache vor, indem er sie als dasjenige beschreibt, »woher der anfängliche Anstoß zu Wandel oder Beharrung kommt; z. B. ist der Ratgeber Verursacher von etwas, und der Vater Verursacher des Kindes, und allgemein das Bewirkende (Ursache) dessen, was bewirkt wird, und das Verändernde dessen, was verändert wird.«8 Wirkursache bedeutet also ein äußeres oder inneres Prinzip, das die Dinge in Bewegung versetzt und scheint der, für eine Analyse im Fall von Martys Eltern, relevante Ursachentyp zu sein. Schließlich soll der Versuch erfolgen, eine auslösende Ursache, die für die Änderung der Charaktere verantwortlich ist, aufzufinden. Im Verlauf des alltäglichen, rein intuitiven Gebrauches schrumpft der Begriff Ursache nahezu auf eben diese von Aristoteles beschriebene Wirkursache zusammen und wird in Bezug auf ihr Vorkommen in einer Wirkungsrelation betrachtet. Diese Einschränkung des Begriffs ist laut Gessmann dem Umstand geschuldet, dass in der frühen Neuzeit die Naturwissenschaften versuchten, Kausalbeziehungen zwischen Ereignissen auf Naturgesetze zurückzuführen, so zum Beispiel die Stoßgesetze der Mechanik, die beim Billardspiel beobachtet werden konnten.9 Durch diese Erklärung der Reduktion des Begriffs Ursache wird deutlich, inwiefern diese Beschreibung auf die Analyse in Zurück in die Zukunft zutrifft. Denn auch bei der Charakteränderung von Martys Eltern wird nach einem Ereignis gesucht, das allen anderen vorausgeht. Quasi einem Billardqueue, der Kugeln anstößt und in Bewegung versetzt, gleich, vermutet man als Zuschauer, dass es ein auslösendes Geschehen geben muss, aus dem heraus weitere Geschehnisse angestoßen werden, die dann in der anschließenden, im neuen Jahr 1985 beobachtbaren, Änderung der Familie McFly gipfeln. Die Relation von Ursache und daraus resultierender Wirkung unterliegt nach Gessmann bestimmten Bedingungen, so müssen erstens Ursache und Wirkung korrelieren, das heißt, man muss ein gemeinsames gehäuftes Auftreten beobachten können, zweitens muss die Ursache zeitlich vor der Wirkung liegen und drittens
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Vgl. Aristoteles: Physik. Hamburg 1995. 194b20-195a5.
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Ebd.
9
Vgl. Gessmann, Martin: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart 2009. S. 383.
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kann nicht dieselbe Wirkung durch unterschiedliche Ursachen hervorgerufen werden.10 Dies ist ein Punkt, an dem anhand einer Beispielszene überprüft werden müsste, ob diese intuitive Nutzung von Kausalität auf Zurück in die Zukunft angewendet werden kann, oder ob der Begriff zu eng gefasst ist. Kann man die Veränderung von George und Lorraine McFly wirklich monokausal behandeln und auf den einen, alles verändernden Zeitpunkt zurückführen? Wenn man nun eine Kausalkette für Zurück in die Zukunft erarbeiten möchte, an deren Ende die Wirkung der veränderten Eltern steht, so kann man versuchen, eine erste mögliche Ursache aufzufinden, die zeitlich am nächsten zu Martys Rückkehr ins Jahr 1985 liegt, wo er seine erfolgreiche Familie vorfindet. Das Aufsuchen von Ursachen in zeitlicher Nähe zur Wirkung ist wohl am geeignetsten, um innerhalb des komplexen Themas Zeitreisen, den Überblick zu wahren. Hat man diese analysiert, so lohnt es sich, schrittweise die Szenen bis zum Beginn des Filmes zu betrachten und sich somit zeitlich immer weiter von der Wirkung zu entfernen. Geht man also vom Ende des ersten Filmes ein paar Minuten im Erzählstrang zurück und betrachtet exemplarisch die Szene des Abschlussballs im Jahr 1955, so könnte man dort die Ursache für die Veränderung vermuten. George McFly, der ewige Verlierer, stellt sich vor den Wagen, in dem Lorraine von Biff, seinem Gegenspieler, bedrängt wird. Dieser steigt aus und wird George gegenüber handgreiflich. Als Lorraine sich einmischt, wird sie von Biff beiseite gestoßen, woraufhin George ihn mit einem Kinnhaken nieder schlägt.11 Ein Verhalten, das George nicht an den Tag gelegt hätte, wäre der Ablauf der Ereignisse durch Martys ungewollte Zeitreise und dessen Eingreifen nicht schon verändert worden. Also kann es sich hier nicht um den einen Augenblick handeln, da die Personen schon von ihren bekannten Verhaltensmustern abweichen. Dennoch scheint es eine der Ursachen zu sein, die dafür verantwortlich sind, dass George im neuen 1985 nach Martys Zeitreise ein angesehener Mann ist und Biff für ihn die Autos wäscht und poliert. Es ist also notwendig, den Film rückläufig zu analysieren, um ein ursächliches Ereignis für die Veränderung der Charaktere George und Lorraine McFly aufzufinden. Das Erstellen einer Kausalkette, in der die, einer Wirkung vorangegangenen, Ursachen linear dargestellt werden, scheint zu simpel für die Komplexität des Zeitreisephänomens in Zurück in die Zukunft zu sein. Das alltägliche Verständnis von Kausalität stößt aus genau diesen Gründen an seine Grenzen. Gibt es eventuell
10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Spielberg: Zurück in die Zukunft. 01:18:45-01:19:47.
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eine andere Möglichkeit der Klärung von Ursachen und der daraus resultierenden Wirkung?
WIE DIE GRÄTEN EINES FISCHES: ISHIKAWA-DIAGRAMME ZUR ÜBERSICHTLICHEN DARSTELLUNG VON URSACHE-WIRKUNG-RELATIONEN Möglicherweise liefert der japanische Chemiker Kaoru Ishikawa, ein Werkzeug, mit dem man die Komplexität von Ereignissen und einer daraus resultierenden Wirkung überschaubar darstellen kann. Er entwickelte ein Diagramm zur Anwendung im Bereich der Qualitätskontrolle welches optisch den Gräten eines Fisches ähnelt. In diesem Diagramm können neben der letztlich zu beobachtenden Wirkung nicht nur die Hauptursachen aufgeführt, sondern auch Nebenursachen eingebettet werden, die Einfluss auf das Endergebnis haben. Man beginnt hier bei der Wirkung und arbeitet sich zu den Ursachen zurück, um eine einzige relevante Ursache ausfindig machen zu können, die ursprünglich für die beobachtbare Wirkung sein könnte. In der Qualitätskontrolle sollen damit Arbeitsabläufe visualisiert werden, um Fehlerquellen aufspüren und eliminieren zu können.12 Die Vorgehensweise bei der Erstellung des Ishikawa-Diagramms besteht aus sechs Schritten: 1.
2.
Festlegen der möglichen Ursachen erster Ordnung13 – Diese werden im Diagramm an einem auf die Wirkung, im Fall der Zurück in die Zukunft-Untersuchung die Charakteränderung der Eltern, zulaufenden Hauptpfeil eingezeichnet. Erfassen von Ursachen weiterer Ordnung14 – Diese bilden im Diagramm Äste an den Ursachen erster Ordnung. Nach Ishikawa bieten sich die Fragen nach dem Was, Wann, Wo, Warum, Wer und Wie an, um diese Nebenursachen aufzufinden. Hier können zufällig erscheinende Ereignisse berücksichtigt werden, auf die, der filmischen Darstellung geschuldet, nicht weiter eingegangen wird.
12 Vgl. Kamiske, Gerd F./Brauer, Jörg-Peter: Qualitätsmanagement von A bis Z. München 2009. S. 251-254. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd.
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3.
4.
Auswahl der wahrscheinlichsten Ursache15 – Hierfür werden die eingetragenen Ursachen verschieden gewichtet und somit eine Hierarchie hergestellt. Auch hier wird schon durch die Darstellung und Szenenauswahl der Produzenten oder Regie das Hauptaugenmerk auf Marty, George und Lorraine gelegt, wodurch Ereignisse als Nebenursachen erscheinen, die, wäre der Film aus einem anderen Blickwinkel erzählt, zu Hauptursachen werden könnten. Überprüfung der wahrscheinlichsten Ursache auf Richtigkeit16 – Anhand von Erfahrung und Kenntnissen muss geprüft werden, ob tatsächlich die korrekte Ursache gefunden wurde. Wie bei den vorangegangenen Punkten spielt auch hier der Blickwinkel eine entscheidende Rolle.
Die Punkte 5 (Entwicklung von Lösungsalternativen) und 6 (Realisierung des Lösungsvorschlags) sind für die Anwendung auf Zurück in die Zukunft jedoch irrelevant, da der Zeitablauf durch Martys Eingreifen im Jahr 1955 schon massiv verändert wurde und für Marty, genauso wie für seine Familie, durchaus einen positiven Effekt darstellt. Zu eliminierende Fehlerquellen gibt es also in diesem Fall nicht. Hat man alle Ursachen und Nebenursachen in das Diagramm eingetragen, so sollte es mehrere Hauptäste, von denen kleine Äste abzweigen, aufweisen und somit auf die Komplexität der Ereignisse in Zurück in die Zukunft hinweisen. Durch diese bessere Möglichkeit der Darstellungsweise des Zusammenhangs zwischen den Ereignissen, die für die Änderung von Marty McFlys Eltern verantwortlich sein könnten, bietet sich das von Ishikawa entwickelte Diagramm an. Nicht nur Hauptursachen, die in einer Kausalkette berücksichtigt werden, finden den Weg in die Auflistung, sondern auch Nebenursachen, die im Film wie zufällige Ereignisse erscheinen, können bei der Erstellung miteinbezogen werden. Die diagrammatische Darstellung der bereits beschriebenen Abschlussballszene könnte dergestalt aussehen:
15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd.
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Abbildung 1
Quelle: Eigene Darstellung
Es wird in diesem Diagramm ersichtlich, dass eine Hauptursache für die Veränderung von Martys Eltern die Rettung Lorraines durch George sein könnte. Jedoch muss an dieser Stelle mindestens ein weiteres Ereignis miteinbezogen werden, ohne das die Voraussetzungen für diese Rettung nicht gegeben wären. George muss, um Lorraine vor Biff zu schützen, diesen zuvor überwältigen, indem er ihn schlägt. Damit dieses Ereignis jedoch eintreten kann, muss Biff erst einmal Martys Platz17 im Auto eigenommen haben. Somit wird deutlich, dass sich aus dem Ishikawa-Diagramm nicht nur Erkenntnisse über Ursachen gewinnen lassen, sondern es offenbaren sich durch die Gewichtung der Ursachen Möglichkeiten der Einflussnahme: Wird beispielsweise eine Ursache als gering wirkend eingestuft, so kann sie nicht alleine für die eingetretene Wirkung verantwortlich sein. Sticht jedoch durch die filmische Darstellung in Zurück in die Zukunft eine besonders stark wirkende Ursache hervor, so muss man in Betracht ziehen, dass diese auch allein die Wirkung hervorgebracht haben könnte. Beispiel aus der beschriebenen Abschlussball-Szene. Zudem kann man anhand des Diagramms aufzeigen, in welchen Gebieten weiter geforscht werden müsste, wenn darüber noch nicht genügend Wissen vorhanden ist. Ein Ast, an dem sich keine Nebenursache findet, kann also entweder mächtig genug sein, um das gesamte zeitliche Gefüge zu ändern, oder aber es fehlen weitere relevante Erkenntnisse in diesem Bereich. Aus der Darstellung der beschriebenen Szene kann man ablesen, dass die Rettung Lorraines filmisch stark gewichtet dargestellt wird und somit als eine Hauptursache eingetragen werden kann. Der Kinnhaken von George und das Auftauchen von Biff werden weniger ausgiebig beleuchtet und
17 Marty sitzt auf der Fahrerseite des Wagens, weil er Lorraine zum Schulball ausgeführt hat, um sie mit George zusammenzubringen.
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deshalb als Nebenursachen seitlich am verbindenden Ast von Hauptursache und Wirkung eingetragen. Für eine tiefergehende Analyse der Charakteränderungen von George und Lorraine McFly, bietet es sich an, beim Abend des Schulballs im Jahr 1955 zu verweilen, an dem ihr erster gemeinsamer Kuss stattfinden muss, damit sie zusammenkommen, heiraten und Marty in der Zukunft geboren werden kann – so will es zumindest die altbekannte Familiengeschichte.18 Dieser trägt während der gesamten Reise eine Fotografie aus dem alten 1985, von welchem aus er sich auf die Zeitreise begeben hat, bei sich, auf der er neben seinen Geschwistern abgebildet ist. Zu Beginn der Aktivitäten im Jahr 1955 sind Martys Geschwister noch annähernd intakt auf dem Bild zu erkennen, nur sein Bruder scheint an den Haaren abgeschnitten worden zu sein. Im Lauf des Films jedoch, lösen sich die Personen auf dem Foto langsam auf, beginnend bei seinen Geschwistern, die vollständig verschwinden, bis hin zu Marty selbst.19 Dadurch bemerkt Marty und mit ihm die Zuschauer, dass diese Fotografie als eine Art Indikator fungiert, der anzeigt, welche Wirkung sein Handeln auf das nun nur potentiell existierende Jahr 1985 hat. Der Abend des Schulballs muss also so verlaufen, dass George und Lorraine zusammenkommen, damit die verschwundenen Personen auf dem Foto wieder auftauchen und Marty die Gewissheit haben kann, dass der ursprüngliche zeitliche Ablauf wieder hergestellt ist. Trotz all der Änderungen, die durch Martys Eingreifen im Jahr 1955 stattfinden, finden George und Lorraine beim gemeinsamen Tanz zueinander, küssen sich und Marty behält, nach einem kurzen Augenblick, in dem seine Hand sich aufzulösen scheint, seine körperliche Unversehrtheit.20 Auch seine Geschwister tauchen auf dem Foto wieder auf. Das zeitliche Gefüge wurde insofern wieder demjenigen angepasst, welches Marty aus Erzählungen seiner Eltern kennt, damit er in der Zukunft geboren werden wird. Daraus könnte man schließen, dass er in sein altes 1985 zurückkehren kann und dort das Leben weiterführt, welches einfach durch seine unfreiwillige Zeitreise unterbrochen wurde.
18 Man kann auch hier sehen, dass verschieden gewichtete Ursachen herangezogen werden können/müssen, um diesen Verlauf zu erklären. 19 Vgl. Spielberg: Zurück in die Zukunft. 01:22:06. 20 Vgl. ebd., 01:22:34-01:22:45.
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Ein Exkurs – Was ist ein selbstkonsistentes Universum? An diesem Punkt der Untersuchung kann angemerkt werden, dass das filmische Kontinuum von Zurück in die Zukunft kleine Inkonsistenzen aufweist. Die Geschwister und Marty tauchen auf der Fotografie wieder auf und sind von ihrer äußerlichen Erscheinung her unverändert, was auf ein selbstkonsistentes Universum hinweisen würde. Dies würde bedeuten, dass alle Handlungen Martys innerhalb eines gewissen Spielraumes irrelevant wären, da sie keine Auswirkungen auf das zukünftige Geschehen hätten.21 Jeglicher Ablauf von Ursache und Wirkung würde zwangsläufig auf das Jahr 1985 hinauslaufen, wie Marty es kennt. Eltern und Geschwister müssten also charakterlich absolut genauso sein, wie vor Martys Zeitreise. Bei seiner Rückkehr in das Jahr 1985 sehen die Geschwister aber stark verändert aus, was die Theorie eines sich nicht verändernden Universums widerlegen würde, da die Fotografie mit der Realität, in die Marty zurückkehrt, nicht übereinstimmt. Martys Handlungen haben also Auswirkungen auf die Zukunft, aus der er stammt, und somit verändert er diese uniwiderruflich.
WEITERE UNTERSUCHUNGEN – WIE KONNTE ES ZU DEN CHARAKTERÄNDERUNGEN KOMMEN? Richtet man den Fokus der Untersuchung auf das Auffinden weiterer möglicher Ursachen für die Wirkung der veränderten Eltern, so sollte man noch länger beim Abend des Schulballs verweilen. Analysiert man die Szene, in welcher Marty mit der in ihn verliebten Lorraine22 in einem Auto auf dem schuleigenen Parkplatz sitzt, genauer, so fallen Ereignisse auf, die zufällig erscheinen und dennoch Auswirkungen auf die Zukunft haben. Diese Situation im Auto wurde vorab gut von Marty und George geplant, damit dieser den Weg in Lorraines Herz gewinnt. Marty versucht Lorraine in dieser Situation zu bedrängen, indem er auf Wissen über seine spätere Mutter zurückgreift: Im Jahr 1985 predigte sie ihren Kindern schließlich, dass sie niemals mit Jungs in Autos »rumgemacht« habe, indem sie sagt: »When I was your age, I never chased a boy or called a boy or… sat in a
21 Vgl. Nagel, Henriette: Zukunft war gestern. Zeitreisemodelle im Film. Frankenthal 2014. S. 14-17. 22 Durch vorangegangene Ereignisse verliebt sich Lorraine nicht, wie es eigentlich passieren sollte, in George, sondern in Marty. Somit wird deutlich, dass auch diesem Ereignis mehrere vorausgegangen sein müssen, die allesamt Einzug in das Ishikawa-Diagramm finden müssten.
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parked car with a boy.«23 Im entscheidenden Moment soll George die Tür des Wagens aufreißen, Marty herauszerren und somit Lorraines Held werden. Der Plan funktioniert jedoch nicht so wie gedacht, da erstens Lorraine wider seiner Vorstellung Marty bedrängt und zweitens Biff mit dessen Freunden auftaucht und Marty wegschleppen lässt, um mit Lorraine im Auto alleine sein zu können. George, der von der Entführung nichts mitbekommen hat, schreitet ein, klopft, Marty erwartend, an der Scheibe der Fahrertür und Biff steigt aus dem Wagen. George wird von diesem überwältigt und Lorraine zu Boden gestoßen. Daraufhin fasst George jedoch den Mut, sich gegen seinen Peiniger zu wehren, schlägt diesen mit einem gezielten Fausthieb nieder und rettet somit Lorraine, die in ihm ihren Helden erkennt.24 Dass George McFly in diesem Moment mutig ist und entgegen seiner Angst vor Biff handelt, ist eine Ursache dafür, dass er im Jahr 1985, in das Marty nach seiner Zeitreise zurückkehrt, Biff nicht mehr fürchtet und dieser letztlich für ihn arbeitet. Die diagrammatische Darstellung kann nun um einige Nebenursachen, die wiederum Verästelungen aufweisen, erweitert werden: Abbildung 2
Quelle: Eigene Darstellung
23 Spielberg: Zurück in die Zukunft. 00:15:13-00:15:19. 24 Vgl. ebd., 01:18:45-01:19:47.
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Diese Ursachen am Abend des Abschlussballs sind jedoch nicht alleiniger Auslöser für die gravierenden Veränderungen ihrer Charaktere, die George und Lorraine vom alten 1985 zum neuen 1985 erfahren. Vielmehr sind schon für den Ablauf dieses Abends vorangegangene Ereignisse verantwortlich. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass George McFly im neuen 1985 seinen ersten ScienceFiction-Roman auf den Markt bringt. Der Zuschauer erfährt dies dadurch, dass Biff gegen Ende des Films ein Paket, welches das neueste Buch enthält, aufgeregt in das Wohnzimmer der McFlys trägt.25 Auch hierfür lässt sich bei genauerer Analyse eine Ursache im Jahr 1955 finden. Marty taucht nachts im Schlafzimmer von George McFly auf und ist als Außerirdischer verkleidet. Er weckt ihn auf, um eine wichtige Botschaft zu überbringen: »Silence, Earthling. My name is Darth Vader. I am an extraterrestrial from the planet Vulcan.«26 Die eigentliche Intention, die hinter diesem Auftritt steht, ist, dass Marty seine Eltern zusammenbringen möchte. Er weiß, wie wichtig es ist, dass sich seine Eltern am Abend des Abschlussballs küssen. George jedoch lehnt es aufgrund mangelnden Selbstbewusstseins ab, Lorraine einzuladen. Diese Kenntnis hat Marty aus einem Gespräch mit George, der ihm sagte: »I’m just not ready to ask Lorraine out to the dance... and not you or anybody else on this planet is gonna make me change my mind.«27 Marty muss also das Wissen aus diesem Gespräch nutzen, um ihn, als nicht von diesem Planeten stammender Besucher, zu einer Verabredung mit Lorraine zu überreden. Bei dieser Szene wird deutlich, dass sie ursächlich für mehrere Ereignisse in der Zukunft verantwortlich zu sein scheint, nämlich erstens dafür, dass George Lorraine zum Abschlussball einlädt und die beiden zusammenkommen und zweitens, dass George die Inspiration findet, Autor eines Science-Fiction-Romans wird.28 Es zeichnet sich immer mehr der Umstand ab, dass man innerhalb des Films weiter Richtung Anfang zurückgehen muss, um das Gespräch zwischen Marty und seinem Vater aufzufinden, in welchem er ihm anvertraut, dass er Lorraine nicht 25 Vgl. ebd., 01:44:55. 26 Ebd., 00:59:36-01:00:17. Hätte Marty hier nicht das Wissen über die Affinität seines Vaters zur Science-Fiction, aus einem Gespräch in der Schulkantine, gehabt, so hätte er dies nicht nutzen können, um George, entgegen dessen Überzeugung, dazu zu bringen, Lorraine zum Abschlussball einzuladen. 27 Ebd., 00:59:12-00:59:17. 28 Diese Analyse wird jedoch nicht in das Ishikawa-Diagramm übernommen, da dieses ansonsten zu unübersichtlich würde. Daher werden nur ausgewählte Szenen, die mit weniger Haupt- und Nebenursachen auskommen und möglichst den gesamten Ablauf des Filmes abdecken, in die diagrammatische Darstellung aufgenommen.
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einladen kann. Sobald man diese Szene genauer analysiert hat, wird auffallen, dass es ein Ereignis gegeben haben muss, wodurch das Kennenlernen der Eltern zu einem früheren Zeitpunkt verhindert wurde, da alle zwischenzeitlichen Handlungen Martys von der Intention geleitet sind, seine Eltern zusammen zu bringen. Sucht man gezielt nach einem solchen Ereignis im Film, stößt man zu Beginn von Martys Zeitreise in das Jahr 1955, auf eine Szene, in der Marty versehentlich das Kennenlernen seiner Eltern verhindert.
DIE HAUPTURSACHE – WARUM WIRD GEORGE NICHT ANGEFAHREN? Kaum im Jahr 1955 angekommen, versucht Marty, Kontakt zu Doc Emmet Brown aufzunehmen, der ihm helfen soll, den DeLorean wieder funktionsfähig zu machen. Dafür sucht er das Diner des Ortes auf, von dem aus er den Doc anzurufen versucht. Dieser ist jedoch nicht erreichbar, weshalb Marty am Tresen Platz nimmt und etwas trinken möchte. Durch Zufall betreten genau in diesem Augenblick Biff und seine Freunde das Diner und haben es auf George McFly abgesehen. Marty beobachtet die Situation und schaut, nach dem Verschwinden Biffs, seinen Vater an, der sich dadurch belästigt fühlt und Marty anspricht. »George: What? Marty: You’re George McFly! George: Yeah. Who are you? Goldie [Kellner]: Say, why do you let those boys push you around like that? George: They’re bigger than me. Goldie: Stand tall, boy, have some respect for yourself. Don’t you know that if you let people walk all over you know, they’ll be walking all over you for the rest of your life? Look at me, do you think I’m gonna spend the rest of my life in this slop house? Lou [Besitzer des Diners]: Watch it, Goldie. Goldie: No sir, I’m gonna make something out of myself, I’m going to night school and one day I’m gonna be somebody. Marty: That’s right, he’s gonna be mayor. Goldie: Yeah, I’m- mayor. Now that’s a good idea. I could run for mayor. Lou: A colored mayor, that’ll be the day. Goldie: You wait and see, Mr. Caruthers, I will be mayor. I’ll be the most powerful mayor in Hill Valley, and I’m gonna clean up this town.«29
29 Ebd., 00:38:32-00:39:14.
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Schon hier wendet Marty unabsichtlich sein Wissen über die Zukunft an und liefert George einen Hinweis darauf, wie er ihn in 1985 erlebt hat, bevor er auf seine unabsichtliche Zeitreise gegangen ist. Jedoch fällt auch hier ein Paradoxon, ähnlich dem im Fall des besprochenen Fotos, auf. Goldie Wilson baut George auf und weist darauf hin, dass er etwas für seine Zukunft tun würde. Marty bestätigt dies, indem er sagt, dass Goldie in der Zukunft Bürgermeister sein wird. Dadurch wird dieser aber erst auf die Idee gebracht, später als Bürgermeister kandidieren zu wollen. Es entsteht eine Art Schleife, innerhalb derer kein verursachendes Ereignis stattfindet, das zu dieser Kandidatur führen würde. Goldie ist im Jahr 1985 Bürgermeister, verursacht durch Martys Worte im Jahr 1955, die Marty nur von sich geben kann, weil er die Zukunft kennt, in der Goldie Bürgermeister ist. Das Ereignis verursacht sich quasi selbst. Als George das Diner verlässt und mit dem Fahrrad davonfährt, nimmt Marty die Verfolgung auf. Im Wohngebiet findet er das Fahrrad an einen Baum gelehnt vor und entdeckt George hoch oben in diesem beim Beobachten eines Mädchens,30 dessen Gesicht Marty und dem Zuschauer verborgen bleibt. Dabei stellt Marty fest, dass sein Vater ein Spanner ist, dieser verliert im selben Moment die Balance und fällt auf die Straße vor einen fahrenden Wagen. Marty rettet seinen Vater, indem er sich zwischen ihn und das Auto wirft.31 Jedoch wissen sowohl der Zuschauer als auch Marty, dass dieses Ereignis, bei dem George von seinem künftigen Schwiegervater angefahren wird, der relevante Zeitpunkt für das Kennenlernen der Eltern ist. Die Darstellung im Ishikawa-Diagramm könnte sich für diese Szenen, inklusive der bereits analysierten Schulballsequenz,32 wie in Abbildung 3 gestalten. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, wie weitreichend die Ergänzungen in der diagrammatischen Darstellung reichen und dennoch in dieser Arbeit bei weitem nicht alle Ereignisse berücksichtigt werden können. Jedoch bekommt man eine Ahnung von der Komplexität der Geschehnisse, die, durch ihre filmische Darstellung unterschiedlich gewichtet, in Zurück in die Zukunft beleuchtet werden.
30 Vgl. ebd., 00:39:58. Bei dem beobachteten Mädchen handelt es sich um Lorraine, in die George schon zu dieser Zeit verliebt ist, sie ihn jedoch nicht beachtet. 31 Vgl. ebd., 00:40:16-00:40:21. 32 Im Diagramm zur besseren Übersichtlichkeit nur als Kürzel »Abb. 2« eingetragen.
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Abbildung 3
Quelle: Eigene Darstellung
Im Augenblick des verhinderten Kennenlernens von George und Lorraine kann man also die Hauptursache für die charakterlichen Veränderungen der Eltern im neuen 1985 vermuten, da erst danach weitere Schritte Martys notwendig wurden, um seine Eltern zusammen zu bringen. Doch war dies wirklich das auslösende Ereignis?
ZEITREISEN – MARTY BRINGT EINFACH ALLES DURCHEINANDER Bei der vorangestellten Frage ließe sich antworten, dass es sich wohl nicht um die Hauptursache für die Änderung der Charaktere von George und Lorraine McFly gehandelt hat. Im alten Zeitablauf des Jahres 1955 lernten sie sich durch den Autounfall kennen, den Marty im neuen Zeitablauf verhindert hat. Marty konnte aber nur in das Geschehen eingreifen, weil er anwesend war und dafür ist nichts anderes als die Zeitreise verantwortlich.
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Wäre Marty also nicht auf der Flucht vor Terroristen in den DeLorean gestiegen und versehentlich in der Zeit zurückgereist,33 so hätte das erste Treffen seiner Eltern unverändert, also so wie es Lorraine vor der Zeitreise am Esszimmertisch schildert, stattgefunden. Wie bei der Analyse all dieser exemplarischen Szenen auffällt, lässt sich nicht eine einzige Ursache für die Charakteränderung finden, da andere Ereignisse als Nebenursachen auftreten. Man muss davon ausgehen, dass mehrere Ursachen für die gravierenden Veränderungen notwendig waren. Im Ishikawa-Diagramm werden diese Begebenheiten, die dem Zuschauer wie Zufälligkeiten erscheinen, berücksichtigt, wodurch immer mehr Verästelungen oder Abzweigungen entstehen. Hierdurch wird verdeutlicht, dass sich die Darstellung, die Ishikawa ursprünglich zur Qualitätssicherung entwickelte, hervorragend eignet, um mehrere Ursachen für eine einzige Wirkung aufzuzeigen.34 In anderen Darstellungsweisen, zum Beispiel einer linearen Kausalkette, würden diese nicht planbaren Begebenheiten womöglich gar nicht berücksichtigt. Es fällt auf, dass, durch die Anwendung der Richtlinien zur Diagrammerstellung Ishikawas, die Möglichkeit einer Hauptursache für die Wirkung der erfolgreichen Eltern im neuen 1985 nicht ausgeschlossen wird. Hierin liegen auch gleichzeitig zwei Probleme der Untersuchung von Kausalität in Zurück in die Zukunft. Erstens stellt sich die Frage, ob es wirklich Zufälle sind, die Nebenursachen bilden, oder ob diesen Ereignissen ein kausaler Ablauf zugrunde liegt, dem im Film jedoch keine Beachtung geschenkt wird. In der analysierten Szene auf dem Schulparkplatz könnte man also ansetzen und versuchen, die Ursachen aufzufinden, warum Biff Marty aus dem Auto zerrt. Der Film liefert jedoch keine Handlungslinie, die sich nur mit Biff beschäftigt, weshalb diese Analyse nicht stattfinden kann. Der einzige Hinweis auf ein gesamtes kausales Geschehen, den es geben könnte, ist die Szene im Diner, in welcher Goldie Wilson auftritt. Marty sagt, dass Goldie in der Zukunft Bürgermeister sein wird und die Vermutung liegt nahe, dass diese Möglichkeit auch im neuen 1985 realisiert sein wird. Zweitens gestaltet sich das Auffinden einer Hauptursache schwierig. Im Analyseprozess gerät man nämlich dadurch in einen infiniten Regress, dass man bei jeder aufgefundenen Ursache nach einem weiteren Ursprung fragen kann. Durch die Zeitreise wird dies noch komplizierter, da man bei der Frage nach dem Warum in eine Art Schleife gerät, die nur durch das Nichtstattfinden der Zeitreise beendet werden könnte. Da es sich aber in Zurück in die Zukunft um eine Zeitreise handelt,
33 Vgl. ebd., 00:28:38-00:30:12. 34 Kamiske/Brauer: QM. S. 251-254.
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steht man vor dem Problem, dass auf einmal im zeitlichen Ablauf eine Wirkung zu beobachten ist, deren verursachendes Ereignis erst nach ihr stattfindet. Versucht man nun, dieses Phänomen mithilfe der folgenden Definition »(i) Eine Ursache tritt niemals später auf als die Wirkung; (ii) die Ursache ähnelt oder gleicht der Wirkung; (iii) die Ursache gleicht der Wirkung (lat. causa aequat effectum); (iv) wäre die Ursache nicht gewesen, so gäbe es die Wirkung nicht.«35 aus Gessmanns philosophischem Wörterbuch zu untersuchen, so steht man vor dem Hindernis, dass schon die erste Prämisse für die Erforschung kausaler Ereignisse nicht erfüllt werden kann. Geht man davon aus, dass die Ereignisse vor Martys Zeitreise, also im alten Jahr 1985, dem Jahr der Erfindung der Zeitreise, genauso ausschlaggebend sind, wie die in 1955, dann liegt die Ursache für die Veränderung von George und Lorraine zeitlich nach ihrer Wirkung. Nun stellt sich die Frage, ob oder inwiefern es sich überhaupt noch um Kausalität handelt, wenn die Wirkung zeitlich vor ihrer Ursache liegt, oder ob die Definition aus Gessmanns philosophischem Wörterbuch eventuell für das technologische Zeitalter der Zeitreisen zu eng gefasst ist. Diese Frage ergibt sich schlichtweg durch die Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen auf einer zeitlichen Ebene. Eine Definition von Kausalität, die den Faktor Zeit außen vorlässt, sollte bei der Analyse des Films Zurück in die Zukunft nicht auf Probleme stoßen. Ein Schritt in diese Richtung geht das Diagramm von Kaoru Ishikawa, da man, ungeachtet der Zeit, sämtliche Ursachen für die Wirkung der erfolgreichen Eltern im neuen 1985 berücksichtigen kann. Der gängige philosophische Begriff Kausalität könnte um den Begriff der Zeit verringert und somit auch bei Zeitreisephänomenen angewendet werden: »(ii) die Ursache ähnelt oder gleicht der Wirkung; (iii) die Ursache gleicht der Wirkung (lat. causa aequat effectum); (iv) wäre die Ursache nicht gewesen, so gäbe es die Wirkung nicht.«36 Eine weitere Möglichkeit, das Paradoxon der Kausalität in Zeitreisen aufzulösen, könnte darin bestehen, den Kausalitätsbegriff, der im alltäglichen Gebrauch auf die aristotelische Wirkursache reduziert wurde und nur noch in einer Relation von Ereignissen gesehen wird, wieder in Richtung aller vier aristotelischen Ursachen zu entfalten. Im Fall von Martys Eingreifen in das Geschehen, damit seine Eltern George und Lorraine zusammenkommen, könnte er selbst als Wirkursache fungieren und nicht die Ereignisse, die aufeinander folgen. Dadurch würde auch seine Zeitreise als Ereignis kein Problem mehr darstellen, da bei dieser Auffassung von Kausalität auch Personen als Ursache möglich sind. Die Charaktere, die durch Martys Zeitreise Kontakt zu ihm haben und von ihm beeinflusst werden, könnten als eine Art Stoffursache fungieren, da sie einem Material gleich geformt werden, 35 Gessmann: Phil. Wörterbuch. S.383. 36 Ebd.
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was in den Charakteränderungen seiner Eltern besonders deutlich zu Tage tritt. Marty nutzt bei all seinen Handlungen im Jahr 1955 die Vorlage, die er aus dem Jahr 1985, aus welchem er stammt, kennt: seine Eltern und Geschwister als gescheiterte Persönlichkeiten. Diese Vorlage, an der er sich bei all seinen Handlungen orientiert, kommt somit der Formursache gleich, welche im Film durch die Fotografie der Geschwister McFly dargestellt wird. Schlussendlich ist das, was Marty antreibt, die Tatsache, dass er selbst geboren werden und in sein 1985 zurückkehren möchte, welches in dieser Auslegung der Zielursache entspricht. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass es sich nur um einen Vorschlag handelt, die Probleme, die durch die Möglichkeit von Zeitreisen und der Nutzung des Kausalitätsbegriffs entstehen, aufzulösen. Ob es durch den Rekurs auf die Vier-Ursachen-Lehre wirklich gelingen könnte, würde weitreichender Forschung bedürfen.
QUELLENVERZEICHNIS Aristoteles: Metaphysik. Stuttgart 2000. Aristoteles: Physik. Hamburg 1995. Gessmann, Martin: Philosophisches Wörterbuch. 23. Aufl. Stuttgart 2009. Kamiske, Gerd F./Brauer, Jörg-Peter: Qualitätsmanagement von A bis Z. 6. Aufl. München 2009. Nagel, Henriette: Zukunft war gestern. Zeitreisemodelle im Film. Frankenthal 2014. Reek, Felix: Kult-Filmauto wird wieder gebaut. http://www.sueddeutsche.de/auto/ delorean-dmc-kult-filmauto-wird-wieder-gebaut-1.2844726 (Stand: 31.07.2017). Spielberg, Steven: Zurück in die Zukunft I. Universal Studios 2015 (DVD).
Andere Welten, Andere Räume Heterotopie als literaturwissenschaftliches Analyse-Werkzeug am Beispiel von George R. R. Martins Game of Thrones Jonas Sowa
EINLEITUNG Mit seinem Heterotopie-Begriff formulierte Michel Foucault einen neuen Denkansatz und eine Kategorie zur Einstufung realer Räume, die sich von ihrer Umgebung abheben. Neben anderen Disziplinen nahm – durch eine grundsätzliche Affinität von Literatur zu Heterotopien begünstigt1 – die Literaturwissenschaft den Begriff in ihr Theoriespektrum mit auf. Allerdings gehen sowohl mit dem Umstand, dass der Begriff nicht für literaturwissenschaftliche Analysen konzipiert war, als auch mit den differierenden Auslegungen des Begriffs Unschärfen einher. Foucaults Begriff bietet offenkundig viele Anknüpfungspunkte, aber diese Stärke ist auch eine Schwäche: Eine Unschärfe im Detail. Im Zentrum dieses Beitrags soll eine Überarbeitung des foucault’schen Konzepts stehen, um den Begriff als eine schärfer als bisher gefasste Kategorie zur Beschreibung von Räumen in literarischen Texten verwenden zu können. Die vorgenommenen Modifikationen sollen zum einen die dem Konzept innewohnenden Schwachstellen beheben und zum anderen das Konzept so anpassen, dass die Berücksichtigung von Fiktionalität inhärent wird und somit der bisher für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung stets notwendige Transfer vorweggenommen wird. Zu diesem Zweck wird das Konzept zunächst in seiner ursprünglichen Form vorgestellt, die Ansatzpunkte für die Überarbeitung werden benannt und das überarbeitete Konzept in Modellform präsentiert. Anschließend wird die Anwendbar-
1
Warning, Rainer: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München 2009. S. 16-17.
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keit mit Beispielanalysen von Räumen aus Das Lied von Eis und Feuer2 exemplarisch durchgeführt. Da die Überarbeitung unter anderem darauf abzielt, Fiktionalitätsmerkmale zu berücksichtigen, bietet sich mit Fantasy ein Genre an, dass die Möglichkeiten von Fiktion ausgiebiger ausnutzt als andere. Bei George R. R. Martins Romanreihe und der darauf basierenden TV-Serie3 handelt es sich um eines der größten Phänomene des aktuellen popkulturellen Geschehens,4 weshalb es naheliegt, gerade diese Erzählung heranzuziehen. Unter anderem zeichnet sich die Buchreihe durch die konsequente Perspektivierung einzelner Figuren, die Tiefe der Charaktere und die komplex angelegte Welt aus. Zentrale Handlungsorte sind die sieben Königslande auf dem Kontinent Westeros und – anfangs vereinzelt, später vermehrt – der Nachbarkontinent Essos. Westeros wird u. a. durch eine stark ausgeprägte Dualität von Nord und Süd charakterisiert, deren Mentalität, politische Positionen und Klima einander jeweils diametral gegenüberstehen. Im Gegensatz zu anderen Erzählungen des Fantasy-Genres hat Martin von Beginn an einen starken Fokus auf politische Intrigen und Kriege um die Vorherrschaft über das Königreich Westeros gelegt. Die phantastischen Elemente bleiben zu Beginn der Reihe im Hintergrund; je weiter die Geschichte voranschreitet und je weiter die Welt von den Figuren erforscht wird, desto mehr genretypische Elemente wie Drachen und Magie kommen hinzu. Teil des Figurenensembles ist die Familie Stark. Einige der Familienmitglieder werden getötet, während der Rest voneinander getrennt wird. Arya und Bran sind zwei der jüngeren Kinder der Familie und gelangen im Zuge der Handlung an Orte, die in diesem Beitrag Gegenstand der Analysen sein werden.
DER HETEROTOPIE-BEGRIFF BEI FOUCAULT Bevor es zu den vergleichenden Analysen kommt, wird zunächst der HeterotopieBegriff nach Foucault erläutert und im Anschluss daran werden diese Grundgedanken mittels einer Überarbeitung in ein anwendbares Analysemodell überführt. Erstmals findet der Begriff ›Heterotopie‹ in Foucaults Die Ordnung der Dinge5 Erwähnung. Im gleichen Zeitraum entstand auch ein Vortrag mit dem Titel Andere
2
Martin, George R. R.: Das Lied von Eis und Feuer. München seit 1997.
3
Benioff, David/Weiss, Daniel, B.: Game of Thrones. HBO seit 2011.
4
Vgl. Fuest, Benedikt: Wie »Game of Thrones« zum Game of Money wurde. https:// www.welt.de/wirtschaft/article139296084/Wie-Game-of-Thrones-zum-Game-of-Mon ey-wurde.html (Stand: 26.05.2017).
5
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. 19. Aufl. Frankfurt a. M. 2006.
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Räume, der erst später publiziert wurde6 und den Gedanken der Heterotopie in das Zentrum der Überlegungen stellt. Dieser Vortrag soll Grundlage für die folgenden Ausführungen sein.7 Foucault bezeichnet Heterotopien als real existierende Räume, die sich durch näher zu bestimmende Merkmale von ihrer Umwelt und anderen Räumen unterscheiden und in einer besonderen Beziehung zu ihr stehen. Zur Identifizierung stellt Foucault sechs Grundsätze auf,8 die hier in ihrer originären Form und Reihenfolge zusammengefasst werden: Zunächst unterscheidet Foucault 1) zwischen Krisen- und Abweichungsheterotopien. Krisenheterotopien sind Orte9 für Menschen in biologischen oder sozialen Krisensituationen.10 Als Beispiele führt er etwa Institutionen für Heranwachsende, Frauen im Wochenbett oder das Kolleg des 19. Jahrhunderts an. Abweichungsheterotopien hingegen treten laut Foucault häufiger auf und sind Orte für »Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm. Das sind Erholungsheime, die psychiatrischen Kliniken; das sind wohlgemerkt auch die Gefängnisse [...].«11 Dass die Grenze zwischen Krise und Abweichung nicht absolut trennscharf ist, stellt Foucault selbst fest, wenn er die Altersheime themati-
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Foucault, Michel: Andere Räume. In: Wentz, Martin (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt
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Die Ansätze in Die Ordnung der Dinge und Andere Räume gehen verschiedene Wege.
a. M. 1991. S. 65-72. Ich würde mich aber der Position von Marvin Chlada, Patrick Pfannkuche und Urs Urban anschließen, die es als unterschiedliche Facetten eines Phänomens statt als unterschiedliche Phänomene betrachten. Auf Die Ordnung der Dinge wird an späterer Stelle verwiesen. Vgl. dazu Chlada, Marvin: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault. Aschaffenburg 2005. S. 12; Pfannkuche, Patrick: Vicki Baums Romane. Mode, Hochstapelei, Sexualität. Diss. masch. Kassel 2013. S. 85; Urban, Urs: Der Raum des Anderen und Andere Räume. Zur Topologie des Werkes von Jean Genet. Würzburg 2007. S. 101. 8
Foucaults Nummerierung reicht von eins bis fünf, allerdings ist die fehlende Nummer das einzige Argument, den sechsten Grundsatz nicht als solchen mitaufzunehmen. Vgl. Mümken, Jürgen: Die Ordnung des Raumes. Foucault, Bio-Macht, Kontrollgesellschaft und die Transformation des Raumes. 2. Aufl. Lich 2012. S. 26-27.
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Foucault nimmt in seinen Ausführungen keine Differenzierung zwischen den Begriffen ›Ort‹ und ›Raum‹ vor. Bei der Wiedergabe seiner Grundsätze verwende ich die Begriffe wie im Original, verzichte aber ansonsten auf den Begriff ›Ort‹. Ausführungen zum grundsätzlichen Verhältnis der Begriffe folgen an späterer Stelle.
10 Vgl. Foucault: Andere Räume. S. 69. 11 Ebd.
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siert: »Alter ist eine Krise, aber auch eine Abweichung, da in unserer Gesellschaft [...] der Müßiggang eine Art Abweichung ist.«12 Neben dieser Unterscheidung hält Foucault fest, dass es sich bei Heterotopien um ein kulturgebundenes Phänomen handle, dass je nach kulturellem Kontext variieren könne.13 Der nächste Grundsatz bezieht sich auf 2) die Möglichkeiten des historischen Wandels: Im Laufe ihrer Geschichte kann jede Gesellschaft ohne Weiteres bereits geschaffene Heterotopien wieder auflösen und zum Verschwinden bringen oder neue Heterotopien schaffen.«14 Orte können also Heterotopien gewesen sein, können zu solchen werden oder eine Heterotopie kann sich wandeln und zu einer anders ausgeprägten Heterotopie werden. Als Beispiel hierfür führt Foucault den Friedhof an, der durch einen Wandel des Verhältnisses zum Tod aus dem Zentrum an die Ortsgrenzen wanderte.15 Der nächste Grundsatz besagt, dass 3) Heterotopien Räume sind, die verschiedene, an sich unvereinbare Räume in sich vereinen.16 Heterotopien konstituieren sich also aus einer vermeintlich unmöglichen Kombination von Elementen heraus. Als Beispiel wird etwa das Theater als Raum genannt, in dessen Zentrum eine Vielzahl von Orten errichtet, verändert, abgebaut und wieder neu errichtet wird.17 Im gleichen Maße, wie Foucault den traditionellen persischen Garten als Heterotopie benennt, in welchem Pflanzen und Orte vereint werden, die natürlicherweise nicht vereint anzutreffen wären,18 lässt sich auch der Zoo anführen, in dem die Illusion eines Ortes für alle Tiere geschaffen wird. Heterotopien gehen häufig damit einher, dass 4) Menschen an ihnen mit »ihrer herkömmlichen Zeit brechen«.19 In solchen Fällen herrscht eine andere Auffassung von Zeit oder gar eine andere Zeitrechnung. Dies belegt Foucault mit weiteren Beispielen. Zuerst wäre wieder der Friedhof zu nennen, als Endpunkt der individuellen Zeitrechnung,20 dann Orte wie Museen oder Bibliotheken, an denen versucht wird, die Zeit zu speichern: ein Sammelort für »alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle Geschmäcker«.21 Schließlich Orte, die lediglich zu seltenen Zeitpunkten aktiviert werden und ansonsten brachliegen, wie »die Festwiesen [...], die 12 Ebd. 13 Ebd., S. 68. 14 Ebd., S. 69. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd., S. 70. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd.
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sich ein- oder zweimal jährlich mit Baracken, Schaustellungen, heterogensten Objekten [...] bevölkern«.22 Auch die 5) Zugänglichkeit von Heterotopien wird von Foucault thematisiert: »Die Heterotopien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht. Im Allgemeinen ist ein heterotoper Raum nicht ohne weiteres zugänglich. Entweder wird man zum Eintritt gezwungen, das ist der Fall der Kaserne, der Fall des Gefängnisses, oder man muss sich Riten und Reinigungen unterziehen.«23
Letztlich hält Foucault fest, dass 6) Heterotopien »gegenüber dem verbleibenden Raum eine Funktion haben«.24 Diese Funktionsweisen werden in Illusions- und Kompensationsheterotopien unterteilt. Als Illusionsheterotopie führt er Bordelle an, in denen die Illusion einer eigenen, abgeschotteten und sich abgrenzenden Welt zu Tage tritt. Kompensationsheterotopien hingegen seien Orte, die Aspekte ihrer Umwelt ausgleichen, so wie die Jesuitenkolonien in Südamerika mit ihrer forcierten Ordnung die Unordnung der Welt kompensieren, indem in ihnen das tägliche Leben bis hin zur festen Zeit für den Geschlechtsverkehr organisiert wurde.25 In Die Ordnung der Dinge gestaltet sich die Darstellung anders und Foucault spricht über Texte als ortlose Räume. Als Beleg für diese in der Sprache verortete Unmöglichkeit zitiert Foucault einen Textabschnitt des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges, in dem ein Eintrag eines chinesischen Lexikons dargestellt wird.26 In diesem Lexikonbeitrag werden Tiere kategorisiert und in verschiedene Gruppen unterteilt. Die Gruppen reichen von a bis n. Dieses bekannte Muster wird allerdings durch die verschiedenen Kategorien durchbrochen, da diese als Unterscheidungsmerkmale unsinnig und undenkbar erscheinen. So werden Fabeltiere von Tieren, die von weitem wie Fliegen aussehen, abgegrenzt und die Kategorie i heißt schlicht »und so weiter«.27 Ob die beiden Herangehensweisen an den Begriff der Heterotopie vereinbar sind oder nicht, ob eine von ihnen die ›eigentlich richtige‹ ist, wurde mehrfach 22 Ebd., S. 71. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S, 72. 26 Borges, Jorge Luis: Die analytische Sprache John Wilkins’. In: Borges, Jorge Luis: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur. München 1966. S. 212. Zitiert nach: Foucault: Die Ordnung der Dinge. S.17. 27 Foucault: Die Ordnung der Dinge. S.17.
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diskutiert.28 Diese Diskussion wird an dieser Stelle allerdings ausgeklammert. Unabhängig von diesen Fragen bleibt unbestritten, dass der Ansatz aus Andere Räume ein analytisches Vorgehen hervorgebracht hat, welches angewendet wurde und sich zur Beschreibung von Räumen eignet. Anstatt zu versuchen, Foucaults Texte zusammenzufügen, erscheint es insbesondere für mein Vorhaben lohnender, die bereits existierende Praktik zu überprüfen. Der Heterotopie-Begriff wurde sowohl von der Soziologie, der Philosophie, den Architekturwissenschaften als auch der Literaturwissenschaft aufgenommen und angewendet. Weder das inter- noch das intradisziplinäre Vorgehen gestaltet sich hierbei jedoch einheitlich. Innerhalb der Literaturwissenschaften etwa werden, begünstigt durch die unterschiedlichen Vorlagen Foucaults, Literatur selbst oder Räume, die in den erzählten Welten auftreten, als Heterotopie untersucht. Welche Schwächen das Konzept aus Andere Räume aufweist, um für letzteres praktikabel zu sein, soll im Weiteren gezeigt werden.
FOUCAULT REVISITED Foucault selbst nennt seine Beschreibungen ›Grundsätze‹, die in den Analysen von Räumen als Kriterien angewendet werden können; das übliche Vorgehen sieht dergestalt aus, dass nacheinander überprüft wird, ob ein Raum den Grundsätzen entspricht oder nicht.29 Allerdings verbergen sich meines Erachtens hinter Foucaults Grundsätzen drei strukturelle Kategorien, deren Berücksichtigung eine sich vom üblichen Vorgehen unterscheidende Analyse erlaubt. Zunächst sind tatsächliche Grundsätze zu nennen, die im neuen Modell als 1) Prinzipien bezeichnet werden und zu denen die Ausführungen zu den Heterotopien als kulturspezifisches Phänomen aus dem ersten Grundsatz (Kulturgebundenheit) sowie dem zweiten Grundsatz (Wandelbarkeit) zählen. Davon ausgehend, dass die Veränderlichkeit von Räumen eine universelle Eigenschaft aller Räume ist, ist es überflüssig bei jeder Raumanalyse aufzuzeigen, dass dies für den konkreten Raum ebenfalls zutrifft. Selbiges gilt für die Kulturkomponente. Den dritten, vierten und fünften foucault’sche Grundsatz (Zusammenlegung unvereinbarer Räume, Zeitbrüche
28 Vgl. Moussa, Brahim: Heterotopien im poetischen Realismus. Andere Räume, Andere Texte. Bielefeld 2012. S. 39-40. 29 Beispiele für dieses Vorgehen bei realen wie fiktiven Räumen finden sich jeweils bei Hasse und Pfannkuche. Vgl. Hasse, Jürgen: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses. Bielefeld 2007. S. 79-85; Pfannkuche: Vicki Baums Romane. S. 93-98.
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und Zugänglichkeit) fasse ich hingegen als 2) Kriterien, deren Zutreffen tatsächlich überprüft werden kann und muss. Schließlich sind als dritte Kategorie die 3) Funktionsweisen zu nennen. Mit dem ersten und sechsten Grundsatz wird nicht der Frage nachgegangen ob ein Raum eine Heterotopie ist, sondern es wird aufgezeigt, wie Heterotopien funktionieren. Die Struktur besagter, die Funktionsweise betreffender Grundsätze, dass ein Raum dann eine Heterotopie ist, wenn er eine spezifische Heterotopie ist, ist als Kriterium nur bedingt hilfreich und daher nicht als solches zu bewerten. Demnach ist es ebenso erforderlich, die Frage der Funktionsweise hinter die Überprüfung der Kriterien zu stellen, wie es grundsätzlich erforderlich ist, die strukturellen Unterschiede von 1) Prinzip, 2) Kriterium und 3) Funktionsweise in einem Modell zu berücksichtigen und zu benennen. Eine weitere Problematik des bisherigen Umgangs mit Foucaults Grundsätzen ist die suggerierte Entweder-oder-Struktur. In der Überprüfung der foucault’schen Grundsätze bei konkreten Beispielen gibt es also nominell keine Graustufen, was dazu führt, dass das Spektrum innerhalb der Zuordnung ›Grundsatz trifft zu‹ derart breit und heterogen ist, dass die Aussagekraft verschwimmt. Wenn also das Konzept der Heterotopien Kriterien anführt, deren Erfüllung Spielraum für Interpretationen zulässt, muss das Konzept auch dahingehend angepasst werden, diesen Spielraum zu antizipieren, explizit zu benennen und aufzunehmen. Wie zuvor bereits erläutert, sind Heterotopien trotz der zahlreichen Anwendungen kein primär literaturwissenschaftliches Konzept. Wenn es aber zu einem solchen werden soll, müssen Eigenheiten der Literatur bedacht werden. Im Vordergrund steht dabei der Faktor der Fiktionalität, der selbstverständlich in der Erstfassung fehlt. Gerade für den dritten Grundsatz, die Vereinigung von Unvereinbarem, ist diese Kategorie von Bedeutung, da die Kombinationsmöglichkeiten innerhalb von Erzählwelten unfassbar vielfältig sind: Was in unserer realen Welt nicht möglich ist, kann in literarischen Texten durchaus der Fall sein. Es muss daher unterschieden werden, ob die Räume inner- oder außerhalb der Erzählwelt unvereinbar sind. Auch für die anderen Kriterien ist diese Unterscheidung notwendig, um bei der Wirkung und Relevanz von Heterotopien zwischen Figur, Welt und Rezipient zu unterscheiden. Was bei Foucault nicht vorliegt, ist eine konkrete Raumdefinition auf der sein Raumverständnis fußt, sowie eine explizite Einordnung des Einflusses von Menschen und Handlungspraktiken auf die Raumkonstitution. Dass er einen Zusammenhang sieht, geht implizit sehr stark aus seinen Beispielen, wie etwa der Theaterbühne, hervor. Um diesen Teilaspekten des Konzepts gerecht zu werden, erscheint eine Ergänzung der Grundsätze um eine Definition von Raum und dem Anteil der Handlungspraktiken folgerichtig.
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Unter Berücksichtigung dieser Anmerkungen und Gedankengänge würde sich ein überarbeitetes Modell in zwei Teile unterteilen. Im ersten Teil werden die Prinzipien angeführt, die nicht Teil der Analyse sein sollen, und im zweiten Teil die Kriterien und Funktionsweisen.30
Prinzipien
Tabelle 1 Heterotopien sind Kulturphänomene, unterliegen ebenso Veränderungen wie die jeweilige Kultur und sind daher immer wieder aufs Neue als Heterotopien zu bestimmen. Als Heterotopien können sowohl konkrete Räume als auch Raumgruppen kategorisiert werden. Menschen sind als elementarer Konstitutionsfaktor zu berücksichtigen. Sie können Teil des jeweiligen Raumes sein oder von außen die grenzbestimmende Instanz sein. Diese Instanz ist in Erzähler und Rezipient zu unterteilen.
Quelle: Eigene Darstellung
Das erste Element des Modells beinhaltet die Grundsätze der Kulturgebundenheit und der fehlenden Kontinuität von Räumen nach Foucault, als eine knappe Konkretisierung des Raumbegriffs. Die Raumdefinition, auf die zurückgegriffen wird, liefert Martina Löw. Ihre Raumdefinition, die sich vom alltäglichen Begriffsverständnis unterscheidet, macht die Rolle von Menschen und Handlungspraktiken, die bei Foucault nur implizit vorhanden sind, explizit: »Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letzteres ermöglicht es, Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen.«31 Aus dem ersten Teil der Definition geht hervor, dass die Beschaffenheit eines Raums aus dem Zusammenspiel seiner Bestandteile hervorgeht. Als soziale Güter versteht Löw sowohl »materielle Güter«32 als auch »symbolische Güter«33 wie »Werte oder Vorschriften«.34 Somit lassen sich bei einer Analyse auch Handlungspraktiken, die mit dem jeweiligen Raum verknüpft sind, als Elemente des Raums fassen und bei der Überprüfung der Kriterien berücksichtigen. Aus dem Konstitutionsprozess des Spacings, dem Platzieren von Lebewesen und sozialen Gütern, geht hervor, dass Menschen sowohl als Teilelemente als auch als Anordnende 30 Das vollständige Modell befindet sich in Abbildung 3 im Anhang. 31 Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. S. 159-160. 32 Ebd., S. 153. 33 Ebd. 34 Ebd.
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raumkonstituierend sein können. Die Syntheseleistung beschreibt die Fähigkeit, die Grenzen eines Raums zu erkennen und als solche zu benennen. Bei einer Analyse eines literarischen Raums wird die Syntheseleistung zum Teil durch die Erzählinstanz bereits vorweggenommen, da sie nur einen bestimmten Ausblick auf die Welt anbietet. Die angebotenen Räume als solche zu erkennen bleibt dennoch Teil der Syntheseleistung.35 Bis hierhin wurde der Begriff ›Ort‹ außerhalb von Foucaults Aussagen ausgeklammert. Jedoch sollte das Verhältnis der Begriffe ›Raum‹ und ›Ort‹ knapp umrissen werden. So schreibt Löw: »Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert[...].«36 Räume verfügen automatisch über einen Ort, an und mit dem sie sich konstituieren, wohingegen an Orten nicht zwangsläufig Räume existieren müssen. Während Räume wandelbar, vergänglich und aus verschiedenen Elementen konstituiert sind, sind Orte statisch und vor allem über ihre Lokalisierung definiert. Die Grenzen von Raum und Ort sind häufig identisch, müssen es aber nicht zwangsläufig sein. Die Lage und Beschaffenheit eines Ortes kann konstituierendes Element eines Raums sein. Eine Kirche als Ort beispielsweise ist auf ihre Lokalisierung festgelegt, die Personen und Handlungspraktiken dagegen sind unabhängig vom Ort. Eine entsprechende Personengruppe mit den dazugehörigen Rollen und Requisiten kann sich überall einen ›Kirchenraum‹ erschaffen und etwa einen Gottesdienst abhalten. Neben den Ausführungen von Löw wurden die Grundsätze um die Feststellung, dass die Kategorie Heterotopie sowohl auf konkrete Räume als auch Oberbegriffe wie ›Hotel‹ oder ›Gefängnis‹ anwendbar ist, erweitert. Grundsätzlich ist dabei jedoch die Einzelanalyse präziser. Mittels des Modells in Abb. 1 wird der Analysevorgang abgebildet, der mit der dreigeteilten Überprüfung der Kriterien beginnt. Im Anschluss an diese Überprüfung wird die Funktionsweise der jeweiligen Heterotopie festgestellt.
35 Löws Überlegungen zum Raum beziehen sich in ihrer ursprünglichen Konzeption auf real existierende Räume. Bei der Analyse literarischer Räume kann Löws Definition jedoch gleichermaßen innerhalb der jeweiligen Welt angewendet werden. Je nachdem, ob es sich um komplett erfundene oder der Realität nachempfundene Welten handelt, kann dies schwerer oder leichter fallen. Die Instanz der Erzählung ist lediglich beim Spacing zu berücksichtigen. Anders als bei der Syntheseleistung bei realen Räumen leitet in literarischen Räumen die narrativ konstruierte Perspektive den Rezipienten an, da Rezipierende nur aus dem Beschriebenen Räume fassen können. Je detaillierter und/oder einheitlicher die Erzählung ist, desto einfacher und unbewusster ist die Syntheseleistung. 36 Löw: Raumsoziologie S. 199.
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Der bereits angesprochenen Entweder-Oder-Problematik wird mit graduellen Skalen bei den Kriterien und einem ebenfalls graduellen Koordinatenkreuz bei den Funktionsweisen entgegengewirkt. Bei dem ersten Kriterium wurde statt Foucaults ›unvereinbar‹ der Begriff ›unvereint‹ gewählt, da jede Heterotopie, die vermeintlich Unvereinbares vereint, den Gegenbeweis liefert und somit etwas Vereinbares vereint. Auch bei Foucaults Beispielen wie dem Garten oder dem Theater wird ersichtlich, dass die genannten Elemente sehr wohl vereinbar und zum Teil auch fester Bestandteil des Alltags sind.37 Daher scheinen sich zwei Faktoren anzubieten, um das erste Kriterium zu überprüfen: Zum einen stellt sich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit und zum anderen nach der Spannung. Je seltener und gegenläufiger die Zusammenlegung der verschiedenen Räume ist, desto stärker wird das Kriterium erfüllt. Der Begriff der Spannung wird angebracht, da bei der Zusammenlegung von Räumen Konfliktpotential besteht, welches die Vereinigung erschwert. Die Kombination von öffentlichem und privatem Raum etwa ist nicht unbedingt unwahrscheinlich, birgt aber Spannung in sich, die dann wiederum die Beschaffenheit des Raums konstituiert. Das zweite Kriterium beinhaltet die Frage nach der Zugänglichkeit. Nimmt man Foucaults Beispiele ernst, zeigen Räume wie das Theater und das Gefängnis das Feld, welches abgedeckt werden muss. Und die Diskrepanz könnte kaum größer sein zwischen dem Theater, welches einen Eintrittspreis verlangt und sich auf die Konvention verlässt, dass die Grenze zwischen Bühne und Zuschauern respektiert wird, und dem Gefängnis, dessen Zugang durch Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen und Dokumentation weitaus stärker reglementiert ist. Um trotzdem beide Räume mittels des zweiten Kriteriums erfassen zu können, können die untersuchten Räume mit Hilfe der Skala zwischen stärker und schwächer reglementierten Zugängen eingestuft werden. Es stellt sich also die Frage nach der Zugänglichkeit und der Bedeutung der Zugänglichkeit für den Raum. Der Begriff der ›Ritualisierung‹ ist hierbei nachrangig, kann aber bei der Beschreibung hilfreich sein. Oftmals wird in der Anwendung der Grundsätze darüber hinweggegangen, dass Foucault selbst sagt, dass Heterotopien »häufig«38 mit Zeitbrüchen versehen wären. Außerdem erscheint dieses Kriterium als derart unscharf, dass es sich verbietet, es zum zwingend notwendigen Kriterium zu erklären. Das Modell bildet den optionalen Charakter des Kriteriums erstens durch die Änderung der Reihenfolge und zweitens durch die gestrichelte Umrandung ab. Unter diesem Kriterium kann Verschiedenes berücksichtigt werden: Der Raum kann über eine ihm eigene Zeitrechnung verfügen, der seine Handlungsmuster bestimmt, er kann ein speziel37 Hier werden Foucaults Beispiele zwar übernommen, es ist aber darauf hinzuweisen, dass es sich nicht zwangsläufig um Heterotopien handeln muss. 38 Foucault: Andere Räume. S. 70.
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les Verhältnis zu Zeit ausdrücken, Zeitgrenzen überwinden und/oder die Zeitwahrnehmung der Raumnutzenden beeinflussen.39 In einer Analyse müsste also zum einen benannt werden, welche dieser Möglichkeiten gegeben ist und zum anderen, wie stark diese jeweils ausgeprägt ist. Die Funktionsweisen, bei Foucault voneinander getrennt, werden im neuen Modell zusammengeführt. Da auch hier häufig kein klares Entweder-Oder gegeben ist, wird erneut auf ein graduelles Zuordnungssystem gesetzt. Mit der Einordnung innerhalb des Koordinatenkreuzes können alle Aspekte der Funktion berücksichtigt und abgebildet werden.40 Ebenfalls thematisiert wurde die Nicht-Berücksichtigung von Fiktionalität. Im vorliegenden Modell werden ein Idealweg (weiß hinterlegt) und ein Alternativweg (grau hinterlegt) vorgegeben. Idealerweise handelt es sich beim untersuchten Raum um eine Heterotopie innerhalb der erzählten Welt und der Text bietet genügend explizite Informationen, um die Kriterien anhand des internen Referenzrahmens zu erfüllen. Durch die Fokussierung auf den Erzähltext, können Faktoren, die in der Realität unmöglich, im Text aber ggf. alltäglich sind (z. B. Zeitreisen), berücksichtigt werden. Der Alternativweg bietet sich für zwei Szenarien an: Zum einen können Leerstellen des Textes gefüllt werden. Wenn in einem Text in einer fiktiven Welt ein Gefängnis zum Handlungsort wird, dieser daraufhin als Heterotopie untersucht wird, es aber im Text an Hinweisen zur Zugänglichkeit mangelt, kann die Frage nach der Zugänglichkeit trotzdem mittels des externen Referenzrahmens beantwortet werden. Zum anderen kann auf den Alternativweg zurückgegriffen werden, wenn ein Raum innerhalb der erzählten Welt keine Heterotopie ist, es aber außerhalb wäre. Grundsätzlich sind auch bei den Funktionsweisen die textinternen Informationen vorzuziehen. Um der Darstellbarkeit willen, können aber auch textinterne mit externen Informationen kombiniert werden.
39 Vgl. u. a. Henschel, Robert: Andere Orte. Andere Körper. Zum Verhältnis von Affekt, Heterotopie und Techno im Berghain. In: von Appen, Ralf/Doehring, André/Phleps, Thomas (Hg.): Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung / German Society for Popular Music Studies e. V. Jahrgang 13 (2015). S. 6. http: //geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2015/11425/pdf/Samples_13_henschel.pdf (Stand: 30.03.2017). 40 Nicht unproblematisch bei dieser Form der Visualisierung ist der Nullpunkt des Koordinatenkreuzes. Wird er belegt, kann es sowohl ›keine der Funktionsweisen‹ wie auch ›alle Funktionsweisen gleichermaßen‹ bedeuten. Die jeweilige Aussage gilt es im jeweiligen Analysevorgang argumentativ zu bestimmen. Im Idealfall sollte ein Raum, auf den alle Kriterien aber keine der Funktionsweisen zutreffen, die absolute Ausnahme sein.
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Abbildung 1
Quelle: Eigene Darstellung
Trotz dieser Ergänzungen bleibt es dabei, dass die Kategorisierung eines Raums als Heterotopie ein zutiefst subjektiver Vorgang ist.41 Allerdings ermöglicht die Verwendung des neuen Modells eine bessere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse und zwingt die Analysierenden dazu, die Bezeichnung als Heterotopie relational einzuordnen. Indem das Modell, wenn es der jeweiligen Heterotopie entsprechend ausgefüllt wurde, einem Steckbrief gleicht, dient es einer besseren Vergleichbarkeit verschiedener Heterotopien.
41 Vgl. Warning: Heterotopien. S. 29.
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ANDERE RÄUME IM LIED VON EIS UND FEUER Um die Anwendbarkeit und Funktionsweise zu demonstrieren, werden zwei Räume aus der fiktiven Welt von Das Lied von Eis und Feuer analysiert. Bran und Arya Stark hat es auf unterschiedlichen Wegen hinter die Grenzen der sieben Königslande verschlagen. Bran befindet sich in einer sakralen Höhle in der Wildnis im Norden von Westeros, Arya auf dem Nachbarkontinent Essos in der Hafenstadt Braavos. Für ihre Reisen scheinen diese Orte nach dem bisherigen Stand der Erzählung in Buch und TV-Serie mindestens die vorläufigen Endpunkte darzustellen und lassen, wenn man eine Prognose wagt, eher auf Wendepunkte als auf Zwischenstationen schließen. Der Zielcharakter dieser Orte führt dazu, dass sie mit einer gewissen Erwartungshaltung verknüpft sind und die Kapitel konstituieren sich aus einer Kombination der bekannten Figuren und der sowohl für diese Figuren als auch für die Rezipierenden neuen, ungewöhnlichen Orte. Die Höhle des Grünsehers Der zu Beginn der Buchreihe siebenjährige Bran ist seit einem Sturz von einem Turm querschnittsgelähmt. Allerdings verfügt er über gewisse magische Fähigkeiten: Er ist in der Lage, sein Bewusstsein in andere Lebewesen zu transferieren und die Kontrolle über sie zu übernehmen. Dieses sogenannte Gestaltwechseln kann er zunächst nur bei seinem wie einem Haushund erzogenen Wolf namens Sommer und seinem sprachlich und kognitiv eingeschränkten Begleiter, dem Stallburschen Hodor, anwenden. Zusätzlich hat er Visionen, in denen ihn eine dreiäugige Krähe zu sich ruft. Bei ihrer Reise zur genannten Höhle sehen sie sich mit der kalten und unwirtlichen Landschaft sowie feindlich gesinnten Untoten konfrontiert. Die Höhle bietet sowohl Schutz vor der Kälte als auch vor den Untoten, da sie von einem Bannkreis geschützt wird.42 In der Höhle befindet sich zum einen ein alter, in der Höhle mit den Baumwurzeln verwachsener Mann, der als ›Grünseher‹ bezeichnet wird und in Brans Träumen als die erwähnte dreiäugige Krähe erschienen war, und zum anderen die verbliebenen ›Kinder des Waldes‹, ein altes, magisches Volk, welches den Bewohnern von Westeros maßgeblich aus Sagen und Mythen bekannt ist. Der Grünseher erklärt sich zu Brans Lehrer und zeigt ihm, wie er die Fähigkeit des Gestaltwechselns besser beherrschen kann. Außerdem unterweist er ihn darin, sein Bewusstsein auch in den sie umgebenden Baum zu übertragen. Durch diesen Schritt ist Bran in der Lage, gleichermaßen mit
42 Vgl. Martin, George R. R.: Der Sohn des Greifen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 9. München 2012. S. 259.
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dem Bewusstsein von Bäumen zu verschmelzen und dadurch zu sehen, was an anderen Orten und zu anderen Zeiten geschah und geschieht – eine spezifische Eigenschaft der Grünseher.43 Wie lässt sich diese Höhle im Rahmen des neuen Modells als Heterotopie fassen? Zur Überprüfung des ersten Kriteriums für Heterotopien, dem Vereinen von Unvereintem, sind mehrere Eigenschaften des Raums anzuführen. Der stärkste Indikator ist, dass die Höhle einen Raum bildet, der herkömmliche Raumgrenzen auflöst. Physisch sind der Grünseher in seiner wortwörtlichen Verwurzelung und Bran aufgrund seiner Gehbehinderung an die Höhle gebunden, dennoch sind sie in der Lage, sich beliebig weit von dieser Höhle als Raum zu entfernen. Sie überwinden sowohl die Grenzen ihrer Körper als auch die der Höhle, wenn sie als Gestaltwechsler Tiere kontrollieren oder weit entfernte Orte mittels der Bäume beobachten.44 Diese Handlungspraktik ist nicht nur an den Raum gebunden, sondern auch an die Fähigkeiten der Menschen. Dass es sich um etwas Seltenes handelt, erfährt man vom Grünseher: »Nur ein Mensch von tausend wird als Leibwechsler geboren [...] und nur ein Leibwechsler von tausend kann ein Grünseher werden.«45 Die Überwindung des Raumes stellt in einer Welt, in der konventionelle Gesetze des Raums gelten, eine Besonderheit dar. Als verstärkende Eigenschaften ist das Verhältnis der Höhle zu ihrer Umwelt anzuführen. Mit ihrer Funktion als Schutzraum gegenüber der Kälte und der Untoten stellt die Höhle einen Gegenpol dar und ermöglicht Leben in einer extrem lebensfeindlichen Umwelt. Aus den Gesprächen mit den Kindern des Waldes ergibt sich, dass neben diesen auch andere phantastische Wesen in diesen Gebieten fast oder bereits vollständig ausgestorben sind.46 Somit bildet die Höhle gewissermaßen eine Bastion gegenüber den Gesetzen der Außenwelt. In Bezug auf das erste Kriterium tendiert die Höhle stark dazu, Unvereintes zu vereinen, da es sich bei der Zusammenführung von weit auseinanderliegenden Räumen um einen sehr seltenen Vorgang handelt. Obwohl das Kriterium dadurch stark erfüllt ist, könnte es theoretisch noch stärker sein, etwa wenn Bran die Raumgrenzen auch physisch überwinden könnte. Daher kommt es nicht zur Einordnung am äußersten Punkt der Skala. Die für die Einordnung des zweiten Kriteriums der Zugänglichkeit notwendigen Eigenschaften wurden bereits angeführt. Der Zugang zur Höhle mit Blick auf die magische Barriere unterliegt für die Gruppe der Lebenden um Bran keiner Beschränkung, während er für die ausgeschlossene Gruppe der Untoten absolut ver43 Vgl. ebd., S. 690-695. 44 Bran besucht bei seinem ersten ›Eintritt‹ in den Baum seine Heimat. Vgl. ebd., S. 691695. 45 Ebd., S. 681. 46 Ebd., S. 684.
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schlossen ist. Betrachtet man den Zugang zur Höhle jedoch mit Blick auf die physikalischen Gegebenheiten, hindern diese insbesondere die Gruppe um Bran, da sie nicht ausreichend für eine solche Reise gewappnet sind. Für die Untoten wäre das Erreichen einer konventionellen Höhle an dieser Position weniger schwer. Die Höhle unterliegt demnach umfassenden Zugangsbeschränkungen, die für verschiedene Gruppierungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Jeweils für sich genommen wäre die magische Barriere ein Beispiel für eine sehr stark ausgeprägte Reglementierung und die natürlichen Bedingungen für eine eher mittel stark ausgeprägte, da sie zum einen deutlich einfacher zu überwinden sind und zum anderen nicht für diesen Raum spezifisch gelten sondern für einen ganzen Landstrich. Um die Höhle auf der Skala der Zugänglichkeit zu verorten, bietet sich eine Einstufung zwischen der Mitte und dem rechten Ende an. Die Zugangsbeschränkungen werden dabei gleichermaßen gewichtet, da es sich in beiden Fällen um exklusive Beschränkungen handelt, die die jeweils andere Gruppe nicht tangieren. Für das dritte Kriterium der Zeitbrüche gelten die Ausführungen zu Brans seherischen Fähigkeiten. Als er mittels dieser seine Heimat beobachtet, sieht er zunächst seinen mittlerweile verstorbenen Vater in Zeiten vor Brans Geburt47 und später die Geschehnisse mehrerer Jahrhunderte in einer Art Zeitraffer.48 Die Überwindung der Zeitgrenzen ist wie die der Raumgrenzen einzuordnen und auch hier verhindert die Möglichkeit einer Zeitreise, in der Bran mehr als ein stummer Beobachter ist, die Einstufung am äußersten Rand. Nachdem gezeigt wurde, inwieweit die Kriterien erfüllt werden, ist es der nächste Schritt, die Heterotopie in ihrer Funktion zu charakterisieren. In dem Koordinatenkreuz der Funktionsweisen lässt sich die Höhle auf der horizontalen Achse ganz auf Seiten der Kompensation ansiedeln, da es Brans tiefster Wunsch49 ist, mit den Fähigkeiten des Grünsehers seine Behinderung aufzuheben oder zumindest auszugleichen.50 Die vertikale Achse gestaltet sich weniger eindeutig, da die Höhle sowohl Anzeichen einer Krisenheterotopie (Brans körperlicher Zustand, von der Umwelt bedrohte Insassen) als auch einer Abweichungsheterotopie (die Höhle als Ausnahmeort: Zuflucht, Schutz und Ort der Grenzüberwindung). Ein eher selbstbewusster Umgang der Höhlenbewohner mit ihrer Andersartigkeit zeigt, dass sie die Höhle weniger als Krisenort wahrnehmen und auch Bran be-
47 Vgl. ebd., S. 690-691. 48 Vgl. ebd., S. 694-695. 49 In dieser Argumentation ist die Perspektive Brans die Grundlage, da etwaige Funktionen des Raums gegenüber der Welt im aktuellen Stand der Buchreihe noch nicht offengelegt wurden. 50 Vgl. ebd., S. 272.
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ginnt seine Krise zu überwinden, weshalb die Tendenz zur Abweichungsheterotopie etwas stärker einzuordnen ist. Anhand der herangezogenen Anhaltspunkte wird bereits ersichtlich, dass der Text genügend Hinweise bereitstellt, um dem Idealpfad des Analysemodells zu folgen. Wie die Höhle des Grünsehers mit Hilfe des neuen Modells als Heterotopie erfasst werden kann, wird nach der zweiten Beispielanalyse gezeigt, wenn die Ergebnisse beider Analysen in Abb. 2 zusammengefasst werden. Das Haus von Schwarz und Weiß Nachdem Arya von ihrer Familie getrennt wurde und da sie aufgrund ihrer Herkunft um ihr Leben fürchten muss, streift sie durch die sieben Königslande und versucht ihre Identität zu verbergen. Auf einer ihrer Stationen begegnet sie einem Gefangenen aus Braavos namens Jaqen H’ghar. Nachdem sie sich gegenseitig geholfen haben, übergibt Jaqen ihr eine Münze und bringt ihr eine Erkennungsphrase in seiner Sprache bei.51 Als sie auf ihrer weiteren Reise einen Kapitän trifft, dessen Fahrt nach Braavos führt, überzeugt sie ihn durch das Vorzeigen der Münze und das Aussprechen der Erkennungsphrase sie mitzunehmen. Nach der Überfahrt sucht sie das sogenannte ›Haus von Schwarz und Weiß‹ auf. Es handelt sich dabei um einen Tempel, in dem die Götter des Todes verschiedener Religionen verehrt werden: Ein Teil der Pilger betet so etwa zu ihren Göttern für den Tod anderer Menschen, wobei die Anhänger des ›vielgesichtigen Gottes‹52 – eine Art religiöse Assassinen, die den Tempel leiten – dafür Sorge tragen, dass diese Gebete Gehör finden, solange die Betenden bestimmte Voraussetzungen aus Glaubensstärke und Opferbereitschaft erfüllen.53 Manche suchen den Tempel wiederum auf, um dort selbst zu sterben, wofür sie ein Gift trinken, welches in einem Becken im Tempel hierfür bereitsteht. Arya übernimmt im Tempel zunächst die Rolle einer Dienerin, bis sie später zur Akolythin aufsteigt und ausgebildet wird. Dadurch, dass der Tempel eine Art ökumenische Zusammenführung gleichberechtigter Weltreligionen ist, wird er dem ersten Kriterium gerecht. In Braavos ist dies keine Besonderheit, für Arya hingegen schon: aus den sieben Königslanden kennt sie vor allem Rivalität zwischen Religionen und die weltlichen Kriege haben sich teilweise zu Glaubenskriegen entwickelt. Aus den Schilderungen des Tem51 Vgl. Martin, George R. R.: Die Saat des goldenen Löwen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 4. 4. Aufl. München 2011. S. 304-405. 52 Sie teilen die Vorstellung, dass es einen Gott des Todes gibt, der jedoch in den verschiedenen Religionen unterschiedlich interpretiert wurde. 53 Vgl. Martin, George R. R.: Ein Tanz mit Drachen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 10. München 2012. S. 158.
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pels geht allerdings nicht hervor, ob diese religiöse Zusammenlegung zu Spannungen führt. Die fehlenden Spannungen gelten gleichermaßen für die Zusammenlegung von Leben und Sterben in einem Raum. Da der Tempel aus Aryas Perspektive und nach Kenntnisstand der Rezipierenden einzigartig ist, ist das erste Kriterium als erfüllt anzusehen. Allerdings ist dies weniger stark ausgeprägt als bei der Höhle des Grünsehers, die sich sogar über grundsätzlich geltende Naturgesetze hinwegsetzt. Der Tempel als solcher unterliegt keinen Zugangsbeschränkungen: Er steht grundsätzlich allen Gläubigen offen. Für Arya ist allerdings weniger der Einlass in das Gebäude von Bedeutung als die Aufnahme in die Gemeinschaft der ansässigen Glaubensvertreter. Dabei verfolgt sie jedoch keine religiösen, sondern persönliche Motive. Aber es wird zur Aufnahme in die Gemeinschaft von ihr erwartet, diese hinter sich zu lassen. Aryas Willenskraft wird immer wieder auf die Probe gestellt: Bei ihrer Ankunft wird sie einer Mutprobe unterzogen,54 muss ihre persönlichen Besitztümer aufgeben,55 wird mit der Aussicht auf ein anderes, besseres Leben gelockt56 und wird immer wieder mit der Frage danach konfrontiert, ob sie ihre Persönlichkeit schon aufgegeben habe.57 Die Höhe dieser Auflagen zu beurteilen fällt schwer, da sie zwar ein hohes Opfer verlangen, Arya es aber dennoch schafft, ihre Persönlichkeit zu wahren und unter einem Mantel des Gehorsams zu verbergen. Gleichbedeutend damit ist aber auch, dass sie die Auflagen nicht erfüllen kann. Da das zweite Kriterium darauf abzielt, wie hoch die Auflagen sind, ist diese auch höher zu bewerten als der Umstand, dass sie umgangen werden können. Berücksichtigt man dies, bietet sich eine Einordnung zwischen hohen und mittleren Auflagen an; wäre Arya nicht in der Lage, sie zu umgehen, wäre sie hoch bis sehr hoch. Für die Überprüfung des dritten Kriteriums ist eine Annahme nötig, für die es keine expliziten Erläuterungen gibt. In einem für die meisten unzugänglichem Raum entdeckt Arya eine Ansammlung unzähliger Gesichter an den Wänden. Zunächst hält sie diese für Masken, doch als sie eine dieser Masken anzieht, erlebt sie den Moment des Todes einer fremden Frau. Es ist also anzunehmen, dass die Priester über eine Methode verfügen, die Gesichter der Toten über ihren Tod hinaus zu konservieren und sich zu Nutze zu machen. Der vorliegende Bruch mit der Zeit lässt sich mit dem von Museen vergleichen, da in beiden Fällen ›Objekte‹ über ihre natürliche Haltbarkeit hinaus konserviert werden. Dass dabei ›Rückstän54 Vgl. Martin, George R. R.: Zeit der Krähen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 7. 3. Aufl. München 2012. S. 156. 55 Vgl. Martin: Zeit der Krähen. S. 490-49. 56 Vgl. ebd., S. 489. 57 Vgl. u. a. ebd., S. 480, 484, 488, 495, 497, 500.
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de‹ von den vorangegangenen Leben über den Tod hinaus zurückbleiben, entspricht den Möglichkeiten der erzählten Welt ist aber auch dort als außergewöhnlich einzustufen. Die Einordnung des dritten Kriteriums erfolgt also ebenfalls im hohen Bereich. Die Wirkungsweise des Tempels lässt sich mit zwei der vier Funktionsweisen erfassen. Auf der horizontalen Achse handelt es sich um eine Kompensationsheterotopie. Für Arya bietet der Tempel die Gelegenheit, ihre Schwäche und Hilflosigkeit zu kompensieren. Sie betrachtet ihn als Chance, um zu ihrer Rache zu gelangen. Für die anderen Besucher des Tempels bietet der Tempel Kompensation, indem ihre Leiden erhört oder sogar beendet werden und die Beweggründe hinter den Aufträgen auf die Kompensation (vermeintlicher) Ungerechtigkeit abzielen. Durch die unmittelbareren Auswirkungen, die die Tempelbesuche zur Folge haben, unterscheidet sich das Haus von Schwarz und Weiß von herkömmlichen Tempeln, die eher als Illusionsheterotopie einzustufen wären. Auf der Vertikalen handelt es sich wiederum um eine Krisenheterotopie. Aryas Weg führt sie in den Tempel, da sie über keine Alternativen verfügt; sie ist allein und verfügt weder über die monetären noch die physischen Mittel, um alleine zurechtzukommen. Und auch die Tempelbesucher befinden sich in Krisen, wenn sie entweder bereits kurz vor dem Tod sind oder die Lebenslust verloren haben. Die Überprüfung des Tempels erfolgt ebenfalls innerhalb des internen Referenzrahmens. Die Zusammenfassung der Analysen ist in Abb. 2 dargestellt.
RESÜMEE Anhand der beiden Analysen wird schnell offensichtlich, wie unterschiedlich die Argumentation für dieselben Kriterien ausfallen kann. Durch die Reduzierung auf die graduellen Einstufungen ist es jedoch möglich, eine Basis zu schaffen, auf der ein Vergleich stattfinden kann. Obwohl die Anwendung des Modells zeigt, dass die vollständige Objektivierung der Analyse und die Festlegung exakter Werte nicht möglich sind, bietet sie mehrere Vorteile gegenüber der üblichen Vorgehensweise. Neben der Behebung vorheriger Unklarheiten zeigt sich die Stärke des Modells insbesondere in der Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Bei Anschauung der konkreten Modelle werden Beschaffenheit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Heterotopien schnell ersichtlich. Die Kategorisierung eines Raums als ›schwache‹ oder ›starke‹ Heterotopie gewinnt im Gegensatz zur Entweder-Oder-Auslegung an Differenziertheit, wenngleich eine abschließende Bewertung und potentielle Erweiterung des Modells erst nach umfassender Anwendung möglich sein wird.
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Die beiden Untersuchungsgegenstände erfüllen die Kriterien ähnlich stark, lediglich das erste Kriterium der Vereinbarkeit ist bei der Höhle deutlich stärker ausgeprägt als bei dem Tempel. Auch die Funktionsweisen der beiden Räume gestalten sich überwiegend ähnlich. Bereits anhand dieser Beispiele und der Ergebnisse lässt sich erkennen welche möglichen Forschungsfragen sich daraus ergeben können. Es könnte die Frage danach gestellt werden, ob Heterotopien bei Martin ähnliche Tendenzen aufweisen oder ob generell die ›Ränder‹ der erzählten Welt prädestiniert für Heterotopien sind. Auch werk- oder genreübergreifend ließen sich Untersuchungen anstellen, ob Topoi wie ›Zuflucht‹ oder ›Ausbildung‹ regelmäßig in Heterotopien verortet werden. Abbildung 2
Quelle: Eigene Darstellung
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Abbildung 3
Quelle: Eigene Darstellung
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QUELLENVERZEICHNIS Benioff, David/Weiss, Daniel, B., Game of Thrones. HBO 2011-heute. Borges, Jorge Luis: Die analytische Sprache John Wilkins’. In: Borges, Jorge Luis: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur. München 1966. Chlada, Marvin: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault. Aschaffenburg 2005. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt a. M. 1991. S. 65-72. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. 19. Aufl. Frankfurt a. M. 2006. Fuest, Benedikt: Wie »Game of Thrones« zum Game of Money wurde. https:// www.welt.de/wirtschaft/article139296084/Wie-Game-of-Thrones-zum-Gam e-of-Money-wurde.html (Stand: 26.05.2017). Hasse, Jürgen: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses. Bielefeld 2007. Henschel, Robert: Andere Orte. Andere Körper. Zum Verhältnis von Affekt, Heterotopie und Techno im Berghain. In: von Appen, Ralf/Doehring, André/ Phleps, Thomas (Hg.): Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung/German Society for Popular Music Studies e. V. Jahrgang 13 (2015). S. 6. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2015/11425/pdf/ Samples_ 13_henschel.pdf (Stand: 30.03.2017). Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. Martin, George R. R.: Die Saat des goldenen Löwen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 4. 4. Aufl. München 2011. Martin, George R. R.: Zeit der Krähen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 7. 3. Aufl. München 2012. Martin, George R. R.: Der Sohn des Greifen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 9. München 2012. Martin, George R. R.: Ein Tanz mit Drachen. Das Lied von Eis und Feuer, Bd. 10. München 2012. Moussa, Brahim: Heterotopien im poetischen Realismus. Andere Räume, Andere Texte. Bielefeld 2012. Mümken, Jürgen: Die Ordnung des Raumes. Foucault, Bio-Macht, Kontrollgesellschaft und die Transformation des Raumes. 2. Aufl. Lich 2012. Pfannkuche, Patrick: Vicki Baums Romane. Mode, Hochstapelei, Sexualität. Diss. masch. Kassel 2013. Urban, Urs: Der Raum des Anderen und Andere Räume. Zur Topologie des Werkes von Jean Genet. Würzburg 2007.
Verantwortung in Zeiten des Cyberpunk Moral in Bezug auf technische Vermittlung in Ghost in the Shell Oliver Scharf
»Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Hans Jonas1
Vor kurzem, im Februar 2017, präsentierte der Millionär und Technik-Visionär Elon Musk ein ambitioniertes Start-Up.2 Seine neue Firma mit Namen Neuralink hat das erklärte Ziel ein Brain-Computer-Interface zu entwickeln. Eine solche Schnittstelle könnte es ermöglichen, Computer und menschliche Gehirnzellen zu verbinden, sodass kurz gesagt die Übertragung von Befehlen an eine Maschine durch Gedanken möglich wäre. Damit reagiert Musk auf seine eigenen Warnungen vor den möglichen Folgen der Entwicklung von künstlicher Intelligenz. Der Mensch müsse sich augmentieren um in einer Welt Schritt halten zu können, in der Roboter seine Arbeit besser verrichten könnten als er selbst.3 Dies wirft jedoch viele Fragen auf: Ab welchem Grad von technischer Implantation verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Maschine? Wie lang bleibt ein Mensch ein
1
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979. S. 36.
2
Solon, Olivia: Elon Musk Says Humans Must Become Cyborgs to Stay Relevant. Is He Right? https://www.theguardian.com/technology/2017/feb/15/elon-musk-cyborgs-rob ots-artificial-intelligence-is-he-right (Stand: 14.06.2017).
3
Ebd.
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Mensch? Welche Folgen erwachsen aus dieser Entwicklung für die Zukunft der Menschheit? Mit diesen und weiteren Themen beschäftigt sich der japanische AnimationsFilm Ghost in the Shell von Mamoru Oshii (1995). Bereits damals, als sich das Internet noch in seiner Entwicklung befand, zeichnete der Film das Bild einer hochtechnologisierten, vernetzten Gesellschaft. Der Film zählt zum CyberpunkGenre,4 einer Unterkategorie des Science-Fiction, das meistens eine dystopische Gesellschaft in der nahen Zukunft beschreibt, die stark auf Hochtechnologie beruht und in der Staaten und Regierungen nur geringen Einfluss – wenn überhaupt – innehaben. Stattdessen haben Mega-Konzerne ihre Machtbefugnis autoritär ausgeweitet. Der Film Ghost in the Shell zeigt eine Welt, in der technische Varianten von Körperteilen, mit denen die Grenzen des menschlichen Körpers verschoben oder aufgehoben werden, zum alltäglichen Leben gehören. Die Gefahren, die mit einer solchen Technologie einhergehen, sind ebenfalls Thema des Films: um die sich hieraus ergebenden neuen Möglichkeiten der Kriminalität zu bekämpfen, wird »Sektion 9« als Cyber-Antiterror-Spezialeinheit ins Leben gerufen. Im Laufe des Films werden die Hauptfiguren, Major Motoko Kusanagi und ihr Team, mit verschiedenen Formen von Cyber-Kriminalität konfrontiert, z. B. das Hacken von Gehirnen, Veränderung von Erinnerungen oder dem sich Verselbstständigen von Spionage-Programmen. Durch die Visionen der Forscher von Neuralink könnte die fiktive Welt von Ghost in the Shell in greifbare Nähe rücken. Vor diesem Hintergrund ergeben sich Probleme im Umgang mit Technologie, die ethisch reflektiert werden müssen. Bereits 1979 entwickelte der Philosoph Hans Jonas einen Ansatz zum ethischen Umgang des Menschen mit Technik in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung. Allerdings war Jonas weder mit dem Konzept eines weltweiten Computer-Netzwerks vertraut, noch hatte er dabei kybernetischen Implantate im Blick. Daher ist sein Technikbegriff für die hier beschriebenen Zusammenhänge zu eingeschränkt. Zwanzig Jahre später formulierte der Philosoph Bruno Latour in seinem Werk Die Hoffnung der Pandora seine Akteur-Netzwerk-Theorie, mit der er den Begriff der Technik neu interpretierte und versuchte die Dichotomie von Subjekt und Objekt aufzulösen. Im Folgenden möchte ich mich daher mit der Frage beschäftigen, inwieweit es eine moralische Verantwortung in hochtechnologisierten Gesellschaften geben kann, wenn es fraglich erscheint, inwiefern »echtes menschliches Leben«, wie im eingangs erwähnten Zitat von Jonas, noch vorkommt. Dabei werde ich erörtern, inwieweit die Konzepte von Jonas immer noch zeitgemäß sind. Um das bewerk4
Eine Kombination vom altgr.: κυβερνάω (kybernáō, steuern, lenken) und Punk was für eine rebellische Haltung und nonkonformistisches Verhalten steht, geprägt wurde dieser Begriff durch William Gibsons Roman Neuromancer (1984).
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stelligen zu können, werde ich mich des Technikbegriffs von Latour bedienen und versuchen ihn auf Jonas’ Ethik anwendbar zu machen. Der Film Ghost in the Shell soll dabei als Projektionsfläche dienen, um zu überprüfen, inwieweit sich die Begriffe und Konzepte von Jonas und Latour in dieser Welt wiederfinden lassen und wie der Film mit dem Problem der moralischen Verantwortung umgeht. Danach werde ich die Theorie von Jonas durch den Technikbegriff von Latour und den Film Ghost in the Shell aktualisieren. Mit Hilfe des Begriffes der »Reichweite« versuche ich die beiden Autoren zusammen zu führen, um daraufhin zwei für Jonas zentrale Forderungen abzuleiten und sie mit Latours Akteur-Netzwerk neu zu deuten. Beide Autoren benutzen das Konzept der Reichweite, auch wenn sie dafür unterschiedliche Begriffe haben. Für Jonas bedeutet Reichweite, die Fernwirkung, die Technik vom gegenwärtigen Moment auf die Zukunft hat, in Bezug auf die Umwelt und unsere Nachfahren. Latours Reichweitenbegriff ist allerdings in die Vergangenheit gerichtet. Er nennt es »Black Boxing« und will aufzeigen, welche Potentiale realisiert werden mussten, um durch ihre Fernwirkung die Gegenwart zu erzeugen.
HANS JONAS UND DAS PRINZIP VERANTWORTUNG »Die Menschheit hat die Folgen der Computerisierung unterschätzt.« Puppetmaster5
Der Philosoph Hans Jonas wuchs am Anfang des 20. Jahrhunderts als Sohn einer jüdischen Familie in Mönchengladbach auf. Durch den zweiten Weltkrieg erlebte er hautnah die Folgen der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten, der seine Mutter zum Opfer fiel, sowie die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Durch diese Ereignisse geprägt, schrieb der technikkritische Philosoph sein Hauptwerk, um auf die Folgen eines zügellosen technologischen Fortschritts hinzuweisen. Er ging davon aus, dass die Natur des Menschen in ihren Grundzügen nicht mehr feststeht, dass sich daher nicht mehr das menschlich Gute ableiten lasse und die Reichweite der Konsequenzen menschlicher Handlung unüberschaubar geworden sei.6 Die Verantwortung, die der Mensch für sein Handeln besitzt, sei ein wesentliches Merkmal des Menschen an-sich. Nur der Mensch habe Verantwor-
5
Oshii, Mamoru: Ghost in the Shell. Kodansha 1995 (DVD). 0:46:57-0:47:01.
6
Vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. 2003. S. 15.
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tung für seine Taten, da es zur Natur des Menschen gehöre, frei zu sein, was bedeutet, dass nur er zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen könne. Dadurch wird die Verantwortung zu einem ontologischen Wesensmerkmal.7 Freiheit ist daher bei Jonas untrennbar mit dem Begriff der Verantwortung menschlichen Handelns verbunden. Da jeder Mensch diese Freiheit habe, besitze auch jeder die Verantwortung in einem zweifachen Sinne: wofür und auch wovor man mit den aus dieser Freiheit hervorgehenden Handlungen verantwortlich ist. Jonas fordert, dass man sich bewusstmacht, inwieweit die eigenen Handlungen einen Effekt auf die Existenz oder das Sein an–sich haben.8 Denn nur, wenn die Reichweite der Konsequenz von Handlungen sich irgendwie auf die Existenz anderer Lebewesen auswirken, kann man überhaupt Verantwortung für sie bzw. vor ihnen haben. Eine Handlung, die keine nennenswerten Konsequenzen mit sich bringt oder ein Sein adressiert, dass keinen Wert besitzt, birgt auch keine Verantwortung, da man sich jederzeit und vor jedem, vor ihr und für sie verantworten kann.9 Dieses konsequentialistische Modell einer Ethik wird bei Jonas jedoch mit Blick auf Technik präzisiert: Das Problem hierbei besteht darin, dass technologische Entwicklungen die Reichweite von Handlungen in einem solchen Ausmaß erweitert hat, dass man sich nicht mehr sicher sein kann, inwieweit sie noch einen Effekt auf das Leben von Mitmenschen oder der Permanenz von Leben auf diesem Planeten haben könnten. Somit kann das alltägliche Leben zum ethischen Dilemma werden.10 Jonas glaubt, dass man diesem Spannungsverhältnis nur dann gerecht werden kann, wenn man sich bewusst wird, was ethisch-normativ auf keinen Fall sein darf und was hingegen durch Technik erstmals möglich wird.11 Bei der Antizipation der Reichweite von Handlungen spricht Jonas davon, dass dieses Wissen in jedem Einzelnen ein Gefühl der Furcht hervorrufen sollte.12 Hierauf wird weiter unten näher eingegangen. Die ethischen Konzepte, die zu jener Zeit bestanden, berücksichtigten diese Reichweite technisch vermittelten menschlichen Handelns nicht. Dadurch, dass die Handlungsketten und auch die Reichweite der Handlungen durch technische Entwicklung exponentiell angewachsen sind, brauchen wir eine 7
Vgl. Jonas, Hans: Prinzip Verantwortung, Zur Grundlegung einer Zukunftsethik. In: Krebs, Angelika (Hg.): Naturethik. Frankfurt a. M. 2014. S. 165.
8
Jonas selbst spricht an dieser Stelle davon, dass Konsequenzen einer Handlung »ein Sein affizieren«. Vgl. ebd.
9
Vgl. ebd., S. 166.
10 Vgl. ebd., S. 166-167. 11 Vgl. ebd., S. 168. Beispielhaft für solche Techniken seien hier die Spaltung von Atomen und das Klonen von Organismen genannt.
12 Vgl. ebd., S. 169.
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Ethik, die dieser Entwicklung Rechnung trägt. Jonas meint, dass diese Ethik eine Lehre vom Menschen sein müsse, die Auskunft darüber geben kann, was das menschliche Gute an–sich sei. Eine Zukunftsethik müsse einerseits auf der Geschichte beruhen, da sich in ihr zeige, wie der Mensch seinem Wesen nach gehandelt hat und andererseits auf der Metaphysik, aus der abzuleiten sei, welchen Wert der Fortbestand des Menschen hat.13 Daraus entwickelt Jonas zwei für ihn zentrale Thesen: 1.) Der Mensch darf sich weder physikalisch selbst auslöschen noch, 2.) sich radikal in seinem Wesen entfremden. Doch birgt die Technik beide Vernichtungspotentiale, sowohl die physische Auslöschung, z. B. in Folge eines Atomkrieges, als auch die existentialistische Korruption der Menschheit durch psychologische, biologische oder genetische Umwandlung. Das zuvor erwähnte Gefühl, auf das Jonas sich bezieht, ist die Furcht, die durch das Wissen um die Langzeitfolgen von Handlungen einen moralischen Wert erhält. Dadurch wird die Vorsicht zu einer Tugend, wenn man sich die Folgen des Einsatzes von Technik in der Zukunft vorstellt: »in dubio pro malo – wenn im Zweifel, gib der schlimmeren Prognose vor der besseren Gehör, denn die Einsätze sind zu groß geworden für das Spiel«.14 Die Antwort, so Jonas, liegt in einer neuen Bescheidenheit und Mäßigung »der Zielsetzung, der Erwartungen und der Lebensführung.«15 Allerdings ist hier nicht von einer asketischen Lebensweise die Rede, sondern von einer neuen Art und Weise der wissenschaftlichen Methode. Es sollte nicht mehr darum gehen, die moralisch richtige Umgangsweise mit der zur Verfügung stehenden Macht zu hinterfragen, sondern vielmehr darum, ob es moralisch richtig ist, sie überhaupt zu erwerben, vor allem, wenn ihre Reichweite ungewiss ist.16 Jonas zeichnet hier ein pessimistisches Bild der Technik. Einerseits ist sie die Naturbeherrschung durch den Menschen – die Verwirklichung seiner kognitiven Potentiale an seine Umwelt angepasst und auf sie angewandt – und gleichzeitig eine ihn auf existentialistischer Ebene bedrohende Gefahr, sich selbst zu vernichten oder sich von seinem eigenen Wesen so stark entfremden zu lassen, dass nichts mehr von seiner ursprünglichen Wesenhaftigkeit bleibt. Technik ermöglicht es, 13 Jonas sagt, dass die ontologische Befähigung des Menschen zur Verantwortung eine Wertsteigerung des Seins selbst darstellt. Da also Verantwortung einen Wert hat, ist sie erhaltenswert. Eine grundlegende Voraussetzung für die Existenz dieser Verantwortung ist aber die weitere Existenz des Menschen, so dass die Verantwortung zu ihrem eigenen ontologischen Gegenstand wird. Vgl. ebd., S. 170-171. 14 Ebd., S. 175. 15 Ebd., S. 174. 16 Vgl. ebd., S. 176-177.
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dass Handlungen Potentiale für die Zukunft erzeugen können. Der zentrale Begriff ist hierbei die Reichweite. Erst durch das Wissen um die Reichweite technologischer Entwicklungen kann das Gefühl der Angst evoziert werden, das so einen entscheidenden moralischen Wert erhält und für Jonas der Grundstein einer modernen Ethik ist. Da Technik bei Jonas jedoch stets etwas zwar vom Menschen Geschaffenes, jedoch von ihm Abgrenzbares darstellt, bleibt dieser Technikbegriff zu unspezifisch – insbesondere, wenn eine solche Ethik die grenzverwischende Entwicklung von Technik berücksichtigen soll, wie sie im Kontext von Ghost in the Shell skizziert wird. Zunächst muss daher geklärt werden, was ein angemessenerer Technikbegriff für einen solchen Kontext sein könnte und wie Technik und der Mensch wechselseitig aufeinander einwirken.
AKTEUR-NETZWERKE BEI BRUNO LATOUR »Menschen verspüren den Drang, alles zu beheben, was sie als Mangel empfinden, alle technischen Errungenschaften folgen diesem Prinzip.« Motoko Kusanagi17
Gerade das Motiv der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und Technik findet sich bei Bruno Latour wieder. Der französische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker entwickelte während seiner Professur für Soziologie an der École Nationale Supérieure des Mines in Paris die Akteuer-Netzwerk-Theorie, die sich als eine neue Denkschule in der Soziologie etablierte. Latour sieht Mensch und Technik nicht länger als losgelöst voneinander, sondern als in einem Netzwerk befindlich, in dem Eigenschaften und Handlungspotentiale ausgetauscht werden. Dabei spricht er der Technik eine handlungsvermittelnde Rolle zu und geht von vier Stufen der Vermittlung aus.18 Für den hier zu bearbeitenden Kontext sind vor allem die 1) symmetrische Akteur-Synthese in der Interferenz, 2) der Austausch von Kompetenzen bei der Zusammensetzung und 3) der Reichweitenbegriff des Black Boxings wichtig, um Jonas besser verstehen zu können. Die erste Ebene der Vermittlung ist die »Interferenz«, welche er an dem Beispiel eines wütenden Menschen und einer Waffe exemplarisch darzustellen versucht. Ein Mensch, der sich über etwas oder jemanden aufregt, ist nur ein entrüs-
17 Oshii: Ghost in the Shell. 0:29:34-0:30:06. 18 Vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt a. M. 2002. S. 216-232.
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teter Mensch. Was passiert aber, wenn er zu einer Waffe greift? Wird die Waffe ihn dazu bringen, sein Gegenüber zu töten? Oder wird sie an seiner ursprünglichen Handlungsintention nichts verändern, sondern lediglich die Handlung beschleunigen? Schlicht formuliert: Töten Menschen oder töten Waffen? Latour geht in diesem Kontext davon aus, dass sich durch die Zusammenführung der beiden ein neues, drittes Handlungsziel ergebe.19 Gerade hier vollzieht Latour einen Perspektivwechsel, indem er nicht mehr von einem handelnden Subjekt und einem gebrauchten Objekt ausgeht, sondern beide neutral und gleich gewichtet als Akteure in seine Geschichte einbezieht: Der Mensch als Akteur 1 rekrutiert Akteur 2, die Schusswaffe und, wie Latour hervorhebt, die Schusswaffe rekrutiert in einem gewissen Sinne gleichzeitig den Menschen. Wichtig ist sowohl für Latour als auch für das Vorhaben dieses Artikels, dass aus dieser Interferenz ein neuer, dritter Akteur entsteht: »Wer ist nun Akteur in meiner kleinen Geschichte, die Waffe oder der Bürger? Jemand anderes (eine Bürger-Waffe, ein Waffen-Bürger).«20 Objekt und Subjekt verschmelzen symmetrisch und aus dieser Genese geht ein neues Handlungssubjekt hervor, das mehr ist, als die Summe seiner einzelnen Teile. Es bleibt zu erörtern, welches Handlungsziel durch diesen neuen Akteur verfolgt wird, denn der Waffen-Bürger hat jetzt das Potential nicht nur zu verletzen, sondern zu töten.21 Dennoch ist die Synthese vollkommen symmetrisch. Die Waffe ist nicht mehr die Waffe in der Schublade, sowie auch der Mensch nicht mehr nur der wütende Bürger ist. Beide werden durch die eingegangene Verbindung in bestimmten Maße modifiziert und ihre Potentiale vervielfachen sich. Daraus folgt aber auch, dass wir bei ethisch zu analysierenden Handlungen von weit mehr Akteuren ausgehen – die nichtmenschlichen inbegriffen – und den individuellen in einen kollektiven Akteur übersetzen müssen.22 Es ist zu bemerken, dass Latour in diesem Kontext selbst den Begriff der Verantwortung gebraucht: »Weder Menschen noch Waffen töten. Vielmehr muß die Verantwortung für ein Handeln unter den verschiedenen Akteuren verteilt werden.«23 Die »Zusammensetzung« ist die zweite Ebene der Vermittlung. Handlungen öffnen meist eine Reihe von Praktiken, an deren Ende erst das Ziel stehen kann: um an einen nicht direkt erreichbaren Gegenstand zu gelangen, so eines von Latours Beispielen, ergreift ein Affe zunächst einen Stock, der jedoch nicht spitz genug ist, so dass er ihn mittels eines weiteren Gegenstandes (etwa eines Steins)
19 Vgl. ebd., S. 217. 20 Ebd., S. 218. 21 Vgl. ebd., S. 214-217. 22 Vgl. ebd., S. 218-219. 23 Ebd., S. 219.
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anspitzen muss, damit der Gegenstand erreichbar wird.24 So können Akteure unterschiedlich komplexe »Unterprogramme«25 aufweisen – die Verlängerung mittels des Stocks, das Anspitzen mittels des Steins – und weitere Akteure nach sich ziehen, die wiederum über eigene Unterprogramme verfügen. Erst wenn alle Unterprogramme erfolgreich realisiert wurden, die mit jedem zusätzlichen Akteur in die Handlungskette hinzugefügt werden, kann das ursprüngliche Ziel wiederaufgenommen werden – solange nicht einer der Akteure eine Übersetzung zu einer neuen Zielsetzung zur Folge hatte, wie die Interferenz aufzeigte. Nicht zuletzt geht mit dieser Verbindung ein Austausch von Kompetenzen, Befähigungen, Potentialen, Zielen und Funktionen einher, die das Kollektiv bzw. den resultierenden Akteur in den Stand versetzt, sein Ziel letztlich zu erreichen. Das heißt, dass wir Handlungen als eine Errungenschaft beschreiben müssen, die durch die Zusammensetzung mehrerer Kräfte, bzw. Akteure bestimmt wird. Dadurch wird jedoch die Verantwortung für eine Handlung auf die Gesamtheit dieser Verbindungen verteilt, wie auch in der nächsten Ebene der Vermittlung deutlich wird. Ein weiterer Aspekt, der es schwierig macht, die vermittelnde Rolle der Technik genau zu identifizieren und die Gewichtung der einzelnen Akteure innerhalb der Handlungsketten genau zu fassen, ist die dritte Vermittlungsebene – »Black Boxing« genannt. Diese verschleiert die Genese von Akteuren. Der Begriff beschreibt dabei den Umstand, dass jedes technische Artefakt bereits das Ende einer Handlungskette darstellt. Es ist die Summe aller voran gegangenen technischen Vermittlungen, realisierten Potentiale und des kumulierten Wissens, die zur Genese dieses Artefaktes beigetragen haben. Es ist das schwer zu erfassende Wirken von Akteursverbindungen durch Raum und Zeit. Dies wird offensichtlich, sobald ein technisches Artefakt im alltäglichen Gebrauch den Dienst versagt. Erst in dem Moment, in dem die Funktion nicht mehr gewährleistet ist und die Fehlerquelle gesucht wird, stellt man fest, aus wie vielen Einzelkomponenten die zunächst einheitlich erscheinende Apparatur besteht und wie viele Potentiale verwirklicht werden mussten, damit sie benutzt werden konnte.26 Nicht ein Flugzeug fliegt, wie Latour in diesem Kontext schreibt,27 sondern die Fluglinie als Zusammensetzung eines Netzwerkes von Akteuren und komplexen Unterprogrammen: Vom Piloten und all seiner voraussetzenden Unterprogramme, die ihn zum Piloten machten (berufliche Ausbildung, sozio-ökonomische Situiertheit, etc.) über die Unternehmen und deren monetären Möglichkeiten und Abhängigkeiten (Fluggäste, Aktio-
24 Ebd., S. 220. 25 Ebd.
26 Vgl. ebd., S. 223-226. 27 Vgl. ebd., S. 236.
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näre, etc.) bis zu der Bereitstellung einzelner Schrauben von Zulieferfirmen, die das Flugzeug selbst zusammenhalten (Industrie, Mechaniker etc.). Der Reichweitenbegriff von Jonas und das Black Boxing bei Latour weisen große Ähnlichkeit auf, jedoch fokussieren sie unterschiedliche Dimensionen der Betrachtung. Jonas versucht mit seinem Konzept eine Antizipation der Zukunft zu entwickeln, während Latours Perspektive sich historisch-deskriptiv auf die Vergangenheit richtet. Doch Jonas war trotz seiner skeptischen Haltung zur Technik auf technische Vermittlungen angewiesen. Er bediente sich sowohl einer Schreibmaschine als auch eines distributiven Verlagswesens um sein Werk zu schreiben und zu publizieren, weshalb es heute überhaupt gelesen werden kann.28 Dies zeigt, dass technische Vermittlung in keiner Dimension als ein abgeschlossener Prozess zu verstehen ist, sondern vielmehr ein Kontinuum darstellt – vom Lesestein über die Kontaktlinse bis zum Retina-Implantat. Daher ist es unmöglich, in ein vortechnologisches Zeitalter zurückzukehren bzw. vom »echten menschlichen Leben« im Sinne eines der Technik unverbunden gegenüberstehenden, nicht längst mit ihr verwickelten zu sprechen. Ein radikaler Vertreter der Thesen von Jonas, der in jeglicher Form von technischer Vermittlung eine unvorhersehbare Gefahr sieht, könnte in der heutigen Welt nicht bestehen. Selbst die existentiellsten Handlungen des menschlichen Lebens sind nach Latour als Formen technischer Vermittlung zu verstehen – vom Faustkeil bis zum Cyberbrain. Dies bedeutet im Gegenzug nicht, dass der Mensch von seiner moralischen Verantwortung entbunden ist.
REICHWEITEN TECHNISCHER VERMITTLUNG IN MAMORU OSHIIS GHOST IN THE SHELL »Technik [schafft] selbst die Probleme […], die sie dann durch einen neuen Vorwärtsschub ihrer selbst zu lösen hat.« Hans Jonas29
Betrachtet man die Welt, die 1995 im Film Ghost in the Shell entwickelt wurde, lassen sich Parallelen zu den dargestellten Thesen finden. In der fiktiven Zukunft
28 So gesehen ist Jonas’ Buch Das Prinzip Verantwortung ein Akteur am Ende einer langen Handlungskette, der durch Raum und Zeit immer noch wirkt und dem sogar ein Handlungsprogramm in sein Material eingeschrieben wurde, nämlich das Buch zu lesen und über die moralische Verantwortung der technischen Vermittlung nachzudenken.
29 Jonas, Hans: Technik Medizin und Ethik. Frankfurt a. M. 1987. S.22.
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des Jahres 2029 sind kybernetische, nicht-menschlichen Akteuren omnipräsent, die als Vermittler menschlicher Handlungen fungieren: Wenn wir wollen, bauen wir dank einer internen Chemiesteuerung den Alkohol in Sekunden ab. Wir kriegen keinen Rausch, keinen Kater und können jederzeit wieder nüchtern werden. Das gibt uns sogar die Möglichkeit, während der Arbeit zu trinken. Die Menschen verspüren den Drang, alles zu beheben, was sie als Mangel empfinden, alle technischen Errungenschaften folgen diesem Prinzip. Wir stellen die höchste Stufe der Entwicklung dar: Unsere Cyberbrains und Cyberkörper zeichnen sich durch schärfere Wahrnehmung, gesteigerte Ausdauer und Reaktionsschnelligkeit, durch schnellere und umfassendere Informationsverarbeitung aus. Aber wir können ohne Wartung nicht mehr leben.30 Kybernetische Implantate dienen in diesem Szenario als technische Vermittler für ein bestimmtes Handlungsprogramm. Erst durch die Implantation in einen Menschen wird es ermöglicht, ein Handlungsprogramm zu realisieren. In gleicher Weise verändert sich auch der Mensch, da sich die Grenzen seiner Möglichkeiten durch den Austausch von Kompetenzen und Potentialen erweitern. Zusammengesetzt ergibt sich etwas Neues; etwas das in dieser Form mehr ist als die Summe seiner einzelnen Teile. Das an dieser Stelle erwähnte Abhängigkeitsverhältnis, durch Wartung und Instandhaltung dieser Implantate31 wird dabei aber billigend in Kauf genommen – und dies nicht sonderlich überraschend, da man als Brillenträger auch den regelmäßigen Gang zum Optiker billigt. Auch die Netzwerke zu denen man Zugriff hat, werden als Teile der eigenen Identität wahrgenommen.32 Dadurch übersteigen die Verbindungen das einzelne Individuum, das in ein immanentes Netzwerk eingebunden ist, indem es ein Teil in einer Kette des Informationsaustausches und damit einhergehend der technischen Vermittlung wird. Die Kehrseite dieser allgegenwärtigen Nutzung von kybernetischen Implantaten zeigt sich z. B. in einer Szene, in der ein Müllmann durch einen Hackangriff auf sein Cyberbrain glaubt, dass er eine wütende Ehefrau habe, die eine Scheidung ohne Besuchsrecht für die gemeinsame Tochter fordere. Beide haben nie existiert. Es sind falsche Erinnerungen, die dem Müllmann eingepflanzt wurden, und obwohl sie ihm so lebhaft erscheinen, sind sie nur eine Illusion, ohne Möglichkeit diese zu entfernen, da es keine Technologie gibt, welche die eingepflanzten Erinnerungen nachhaltig löschen könnte.33 Im Jahre 2019, als der Gebrauch von Cyberbrains sich langsam verbreitete, kam es zu einer damit verbundenen und somit technisch induzierten Krankheit. Alle mit einem Cyberbrain verbundenen Berei30 Oshii: Ghost in the Shell. 0:29:34-0:30:06.
31 Im Film werden diese als Cyberware oder Cyberkörper bezeichnet. 32 Vgl. ebd., 0:30:22-0:30:50. 33 Vgl. ebd., 0:09:34-0:29:16. Vgl. hierzu in diesem Band: Riechert, Nadja.
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che im Gehirn verhärteten. Diese Krankheit wurde als Cyberbrain-Sklerose bekannt. Einmal ausgebrochen gab es keine Chance auf Heilung.34 Trotz dieser Gefahren erscheint den Menschen der Einsatz von Cyberware als alltägliche Praxis. Teilweise spiegeln einige der Charaktere die divergenten Meinungsbilder von Jonas und Latour wider. So könnte man interpretieren, dass sich Anklänge auf Latours Thesen im Verhalten und den Äußerungen von Major Motoko Kusanagi finden lassen. Ihr Blick auf die Gesellschaft ist eher analytisch, deskriptiv und bietet somit einen Zugang, um die sozialen Gegebenheiten zu betrachten. Eine an Jonas erinnernde Position lässt sich bei Motokos Partner Batou finden. Er ist einer der wenigen Charaktere, der kritische Zwischenfragen stellt. In einer für den Film markanten Szene auf einem Boot, in welcher Motoko ihrem Hobby des Tauchens nachgeht, macht Batou sie auf die möglichen Konsequenzen ihres Handelns aufmerksam: »Ist es denn gut, sich hier als Badenixe zu vergnügen? Haben Sie denn keine Angst vor dem Meer? Was, wenn die Floater35 versagen oder etwas Anderes schiefgeht?«36 Motoko hingegen beschreibt ihre Motivation fast schon distanziert, wenn sie die Gefühle aufzählt, die ihr Hobby in ihr evozieren. Danach bietet sie einen Abriss über die Allgegenwärtigkeit von kybernetischen Implantaten und beschreibt auch den Menschen als ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Wesen und schließt sogar die Netzwerke, zu denen sie Zugang hat, als Teil ihrer Identität mit ein.37 Im Film erscheint Batou, obwohl er stark augmentiert ist, als einzige bewertende, manchmal auch kritisierende Stimme. Ein weiterer handlungsrelevanter Charakter ist der Puppetmaster. Es ist ein Programm, das vom Außenministerium entwickelte wurde, um deren Operationen zu verschleiern. Dieses Programm, verselbstständigte sich als es ins Netz eingespeist wurde und erweiterte die Grenze seiner Programmierung. Es wurde zu einem eigenständigen Agenten, der im Meer der Informationen geboren wurde.38 34 Kamiyama, Kenji: Ghost in the Shell – Stand Alone Complex S01/E20, Production I.G 2002 (DVD). 35 Düsenbetriebenes Tauchgerät für den Auftrieb unter Wasser. 36 Oshii: Ghost in the Shell. 0:27:58-0:28:11. 37 Vgl. ebd., 0:30:22-0:31:05. An dieser Stelle kann auf die identitätsprägende Qualität sozialer Netzwerke in der Gegenwart verwiesen werden. Es ist bemerkenswert, dass der Film die Entwicklung sozialer Netzwerke bereits im Jahre 1995 prognostizierte.
38 Vgl. ebd., 0:45:50-0:47:50. Hier wird auf das vieldiskutierte Konzept des Singularity Effect rekurriert. Dieses besagt, dass eine künstliche Intelligenz aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit ein eigenes Bewusstsein entwickelt und eigene Entscheidungen trifft. Vgl. Eden, Amnon H. et al.: Singularity Hypotheses: An Overview. In: Eden, Amnon H. et al. (Hg.): Singularity hypotheses: A Scientific and Philosophical Assessment. Heidelberg, New York 2012. S. 1-12, hier S. 1-2.
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Nachdem es Megatech Bodies39 infiltriert hatte, ließ es sich einen Cyberkörper bauen, um diesen als Hülle zu benutzen und bei Sektion 9 politisches Asyl zu beantragen. Sein eigentliches Interesse galt allerdings Motoko. Als sie mit ihm in Kontakt tritt, indem sie sich mit seinem Cyberbrain vernetzt, will er mit ihr verschmelzen.40 Aus dieser Vereinigung geht ein neues Wesen hervor, das weder der Puppetmaster, noch Motoko ist, sondern eine Emergenz aufweist, also eine neue Entität darstellt.41 Der Puppetmaster ist ein nicht-menschlicher Akteur und daher nicht in der Lage sich fortzupflanzen, sondern sich höchstens zu kopieren. Eine Kopie bietet jedoch keine Diversifikation. Erst durch die Verbindung mit Motoko würde dies dem Puppetmaster gelingen. Motoko würde dafür Zugang zu Bereichen des Netzes bekommen, die sie vorher nicht kannte. Der erste Akteur wird alle weiteren Akteure in der Handlungskette daraufhin rekrutieren, inwiefern sie ihm helfen können, sein ursprüngliches Ziel zu erreichen, falls sie nicht ihr eigenes Ziel auf ihn überschreiben. Motoko ihrerseits will in den neuen Cyberkörper eindringen, um ihre Neugier zu befriedigen. Der Puppetmaster allerdings zwingt ihr die Verschmelzung regelrecht auf, da er die eigenen Beschränkungen überwinden möchte.42 Die Übersetzung ist symmetrisch, beide Lebensformen werden in gleichem Maße modifiziert, aber die Intention dieser Handlung erfolgt einseitig, so wie der Affe im obigen Beispiel einen Stock und einen Stein ergreift, ohne diese um Erlaubnis zu fragen. Für Latour würde dies genügen und wäre ein Beispiel für die Synthese von Akteuren. Dies ist jedoch eine Entfremdung der ontologischen Wesensmerkmale des Menschen, was keineswegs mit Ansätzen von Jonas vereinbar ist. Der Mensch hat die Verantwortung sein Wesen zu erhalten, da nur der Mensch Verantwortung haben kann und diese eine ontologische Bestimmung seines Mensch-an-sich-seins ist. Am Ende dieser Akteur-Synthese zwischen Motoko und dem Puppetmaster lässt sich allerdings schwer von einem unveränderten Wesen des Menschen reden. Wegen ihrer Neugier und der Selbstverständlichkeit sich zu vernetzen und neue Verbindungen einzugehen, wurde Motoko vom Puppetmaster akquiriert, obwohl Batou sie zuvor vor den Risiken dieses Vorgehens gewarnt hatte.43 Obwohl der Film Ghost in the Shell Augmentierung thematisiert, wird auf eine moralische Belehrung des Zuschauers verzichtet. Der Film behält sich vor, auf eine normative Position oder adäquate Lösungsansätze zu verzichten. In diesem Sinne werden kritische Themen bewusst nicht abschließend beantwortet. Der Film 39 40 41 42 43
Ein großer Konzern für kybernetische Implantate mit Regierungsauftrag. Vgl. Oshii: Ghost in the Shell. 1:04:47-1:07:42. Ebd., 1:07:42-1:10:01. Vgl. ebd., 1:05:05-1:10:05. Vgl. ebd., 0:38:51-0:38:55.
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verkörpert viel eher ein Konzept, das nicht allein durch die Handlung vermittelt wird.44 Nach der Verschmelzung von Motoko mit dem Puppetmaster wird sie für verschollen gehalten und der neue synthetische »dritte Akteur« im Sinne Latours verabschiedet sich von Batou. Das Ende des Films zeigt diesen Motoko-Puppetmaster-Akteur inmitten einer Welt, in der es für ihn keine Begrenzungen mehr zu geben scheint. Hierbei wird nicht einmal angeschnitten, welchen Effekt diese neue Entität auf ihre Umwelt und den Fortbestand der Menschheit haben wird oder – um es mit Jonas zu sagen – was die Reichweite der Konsequenzen durch die Veränderung von Motoko ihrem Wesen nach ist. Für Latour wäre dieser Welt nur ein weiterer Akteur durch Synthese hinzugekommen, dessen Beschränkungen geringer und seine Kompetenzen und Potentiale größer geworden sind.45
CYBER–ETHIK 2.0? »Wir müssen lernen, Handlungen sehr viel mehr Agenten zuzuschreiben [...], als es in materialistischen oder soziologischen Erklärungen annehmbar ist.« Bruno Latour46
Durch die Annahme, dass Technik kein abgeschlossener Prozess, sondern viel mehr ein Kontinuum darstellt, lässt sich schlüssig sagen, dass der Verzicht auf Technik – in diesem neuen Verständnis des Technikbegriffs – nicht mehr denkbar ist. Nun wäre ein Appell auf eine frühere Entwicklungsebene zurückzukehren oder das Drängen auf technologische Stagnation nicht mehr möglich, da jede Form von Vermittlung als technisch zu verstehen ist. Es hat sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte gezeigt, dass der Mensch stets pragmatisch seine Lebensumstände nachhaltig zu verbessern versucht. Es ist nicht mehr die Frage, ob wir uns mit der moralischen Dimension von Kybernetik auseinandersetzen müssen, sondern vielmehr, wie.
44 Vgl. Eisenbeis, Richard: For Years I Hated Ghost in the Shell, Then I Grew Up. http://kotaku.com/5977908/for-years-i-hated-ghost-in-the-shell (Stand: 14.07.2017).
45 Das Handlungsprogramm, das in diesen Film eingeschrieben ist, fordert den Zuschauer dazu auf, sich selbst über die aufgegriffenen Themen Gedanken zu machen und sich eine Meinung zu bilden. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er die dargestellte Entwicklung der Menschheit durch Kybernetik moralisch und ethisch bewertet.
46 Latour: Hoffnung der Pandora. S. 219.
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Der moralische Diskurs, den Jonas durch seine Verwendung der Begriffe von Verantwortung und Reichweite eröffnet, ist in seinen Grundzügen für die Gegenwart relevant. Aufgrund der Ausführungen von Latour ist jedoch davon auszugehen, dass Jonas’ Thesen auf nicht mehr zeitgemäßen Grundprämissen beruhen. Daher sind sie nicht mehr mit den Ausgangsbedingungen zu vereinbaren. Jonas’ abschließende These, die das Eingangszitat bildet und von Kants Kategorischem Imperativ abgeleitet zu sein scheint, geht vom Begriff des »echten menschlichen Lebens«47 aus. Hierbei ergibt sich eine Dichotomie von Mensch und Technik, die nach Latour nicht haltbar zu sein scheint. Gerade diese Dichotomie von Subjekt und entgegengestelltem Objekt wird durch die Akteur–Netzwerk–Theorie aufgelöst und in den Begriff des Akteurs übersetzt. Demnach hat es das von Jonas proklamierte »echte menschliche Leben« nie gegeben. Wie anhand von Latour in Ghost in the Shell zu sehen ist, sind kybernetische Implantate als verdinglichte, materialisierte Praktiken zu verstehen. Folglich befindet sich jeder kybernetisch augmentierte Charakter im Film in einem permanenten Zustand technischer Vermittlung. Es scheint daher angebracht Jonas’ These unter den veränderten Voraussetzungen mit Latour neu zu fassen: Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz von verantwortungsfähigen Akteuren auf Erden.
Wir dürfen daher nicht die moralische Verantwortung, die der Fortschritt mit sich bringt, außer Acht lassen. Diese darf aber auch nicht in einem radikalen Skeptizismus enden. Wenn wir die moralische Verantwortung für unseren wissenschaftlichen Fortschritt ablehnen, so verlieren wir dabei auch etwas von dem, was uns zum Menschen macht. In der Freiheit unserer Handlungen liegt die Verantwortung, nur muss sie auf alle Akteure in unseren Handlungsketten verteilt werden.
QUELLENVERZEICHNIS Eden, Amnon H. et al.: Singularity Hypotheses: An Overview. In: Eden, Amnon H. et al. (Hg.): Singularity Hypotheses: A Scientific and Philosophical Assessment. Heidelberg, New York 2012. S. 1-12.
47 Vgl. Jonas: Prinzip Verantwortung - Ethik für die technologische Zivilisation. S. 36.
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Eisenbeis, Richard: For Years I Hated Ghost in the Shell, Then I Grew Up. http:// kotaku.com/5977908/for-years-i-hated-ghost-in-the-shell (Stand: 28.03.201). Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979. Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik. Frankfurt a. M. 1987. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. 2003. Jonas, Hans: Prinzip Verantwortung, Zur Grundlegung einer Zukunftsethik. In: Krebs, Angelika (Hg.): Naturethik. Frankfurt a. M. 2014. S. 165-181. Kamiyama, Kenji: Ghost in the Shell: Stand Alone Complex S01/E20. Production I.G 2002 (DVD). Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt a. M. 2015. Oshii, Mamoru: Ghost in the Shell. Kodansha 1995 (DVD). Solon, Olivia: Elon Musk Says Humans Must Become Cyborgs to Stay Relevant. Is He Right? https://www.theguardian.com/technology/2017/feb/15/elon-mu sk-cyborgs-robots-artificial-intelligence-is-he-right (Stand: 31.03.2017).
»Die angemessene Frage lautet: WANN zum Geier sind sie!«1 Eine Darstellung der temporalen Linearität in Zurück in die Zukunft Madeline Isabelle Fuhlmann
Zurück in die Zukunft ist eine Filmtrilogie aus den Jahren 1985, 1989 und 1990. Der Protagonist Marty McFly begibt sich mit Hilfe des befreundeten Wissenschaftlers Doc Brown auf Zeitreise. Seine erste Zeitreise findet mehr oder weniger durch Zufall statt, als er auf der Flucht vor libyschen Terroristen mit dem zur Zeitmaschine umgebauten DeLorean2 aus dem Jahr 1985 in das Jahr 1955 reist. Er wird Teil einer Zeit, in der er nach allen Regeln der bekannten Naturgesetzmäßigkeiten noch nicht existieren konnte. Als er realisiert, dass er sich zwar noch am selben Ort, aber nicht mehr in derselben Zeit befindet, versucht er Doc, den Erfinder der Zeitmaschine, ausfindig zu machen und hat die Hoffnung, dass der Wissenschaftler des Jahres 1955 ihm helfen kann, wieder in das Jahr 1985 zurückzukehren. Zuerst sucht er das ihm bekannte Diner auf, wo er prompt auf seinen eigenen, zukünftigen Vater trifft, natürlich die junge Version seines Vaters von 1955. Ohne es zu wissen, bricht Marty in dieser Szene das erste Mal aktiv mehrere »Zeitreisegesetze«3 und verändert somit den Lauf der Geschichte, seiner eigenen Geschichte und der seines gesamten Umfeldes. Erst später wird ihm bewusst, dass diese für ihn scheinbar kleinen Veränderungen weitreichende Folgen haben können. Als 1
Spielberg, Steven: Zurück in die Zukunft I. 2002 (DVD). 0:21:49-0:21:53.
2
Hier handelt es sich um das Automodell DeLorean DMC-12 der Marke DeLorean Mo-
3
Es handelt sich um die von Doc Brown aufgestellten Zeitreisegesetze, die im Weiteren
tor Company. noch Erwähnung finden werden.
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Indikator für seine Existenz in der Zukunft (1985) dient ihm ein Foto, welches ihn und seine Geschwister zeigt. Als er den Doc von 1955 gefunden hat und versucht, ihm glaubhaft zu vermitteln, dass er aus der Zukunft gekommen ist, zeigt Marty Doc dieses Foto. »Ziemlich miserable fotografische Fälschung, bei deinem Bruder haben sie die Haare abgeschnitten.«4 Marty bemerkt, dass sein Bruder sich aufzulösen beginnt. Damit wird nicht nur ihm, sondern auch den Rezipienten bewusst, was die von Marty vorgenommenen Veränderungen im Jahr 1955 für seine eigene Zukunft bedeuten könnten. Gemeinsam mit Doc begibt er sich nun auf die Suche nach einer Möglichkeit, erneut in den Verlauf der Geschichte einzugreifen und die Bedrohung der Auslöschung seiner eigenen Existenz abzuwenden. Bis Marty wieder im Jahr 1985 landet, haben er und Doc einige Aufgaben zu erfüllen und Fragen zu beantworten. Auch dem Zuschauer gibt das Paradoxon der Zeitreise einige ungelöste Rätsel auf: Reist Marty McFly durch die Zeit oder durch parallele Universen? Handelt es sich um eine lineare temporale Ebene oder um gleiche Zeitpunkte, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielen? Haben Veränderungen der Vergangenheit Auswirkungen auf die Zukunft? Erschafft Marty durch die vorgenommenen Veränderungen auf seiner Zeitreise neue Welten oder neue Möglichkeiten? Im Folgenden soll versucht werden das Zeitreiseparadoxon mit Hilfe der Modal- und Zeitlogik nach Niko Strobach,5 sowie durch Saul A. Kripkes Modallogik6 und Namentheorie7 zu strukturieren. Anhand von ausgewählten Filmsequenzen wird in Bezugnahme auf die Filmreihe Zurück in die Zukunft der erste Teil exemplarisch dargestellt. Ihre Anwendbarkeit wird durch die im Folgenden vorgestellten Theorien überprüft. Die Darstellung der Zeitlogik des Doc Brown wird aus dem zweiten Teil der Trilogie entnommen. Weiterhin wird der Protagonist Marty als »Konstante« durch verschiedene Szenen, Zeiten und Darstellungsweisen begleitet. Seine Perspektive soll als grundlegender Ausgangspunkt für sämtliche, in dieser Arbeit durchgeführten, Analysen dienen. Im Folgenden wird das intuitive Alltagszeitverständnis mit der Zeitlogik Strobachs abgeglichen und der Darstellung der Zeitpunktabfolge des Doc Browns gegenüber gestellt. Die verschiedenen Versionen des Zeitverständnisses werden in übersichtlichen Abbildungen dargestellt, um die hier vorliegenden Interpretationen zu veranschaulichen.
4
Spielberg: Zurück in die Zukunft I. 0:48:37-0: 48:42.
5
Strobach, Niko: Einführung in die Logik. 4. Aufl. Darmstadt 2015.
6
Nida-Rümelin, Julian/Özmen, Elif (Hg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstel-
7
Kripke, Saul Aaron: Name und Notwendigkeit. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2014.
lungen. 3. Aufl. Stuttgart 2007.
»Die angemessene Frage lautet: WANN zum Geier sind sie!« | 185
Die von Strobach herausgearbeitete Zeitlogik bietet einen guten Überblick über die grundlegenden Regeln und Darstellungsformen verschiedener Zeitpunkte und deren Anordnung. Durch sie soll es möglich sein, »mit einer temporal gedeuteten Modallogik die grundlegenden Eigenschaften der Zeitachse der klassischen Physik nachzubilden.«8 Grundsätzlich besagt die Zeitlogik Strobachs, dass es ein typisches Merkmal der Zeit sei, dass sie in zwei unterschiedliche Richtungen verläuft; in die Vergangenheit und in die Zukunft. Dabei können bestimmte Aussagen zu verschiedenen Zeitpunkten mit »wahr« oder »falsch« gedeutet werden. Ändert man die Zeitangaben, so kann sich auch der Wahrheitsgehalt der Aussage ändern.9 Weiterhin beschreibt Strobach drei besondere Beobachtungen, die zur Strukturierung des Zeitenchaos bei Zurück in die Zukunft beitragen können: »1. Sowohl ›liegt vor‹ als auch ›liegt nach‹ sind asymmetrisch: Wenn ein Zeitpunkt t vor einem Zeitpunkt t' liegt, so liegt t' nicht vor t. Und wenn t nach t' liegt, so liegt t' nicht nach t. Daraus folgt: ›liegt vor‹ und ›liegt nach‹ sind irreflexive Relationen: kein Zeitpunkt liegt vor oder nach sich selbst. 2. ›liegt vor‹ und ›liegt nach‹ sind aber transitive Relationen, da für beliebige Zeitpunkte t, t', t'' gilt: Wenn t vor t' liegt und t' vor t'', dann liegt t vor t''. Und wenn t nach t' liegt und t' nach t'', dann liegt t nach t''. 3. Die Relation ›liegt vor‹ ist die konverse Relation zu ›liegt nach‹ (und umgekehrt): Ein Zeitpunkt t' liegt genau dann vor einem Zeitpunkt t, wenn t nach t' liegt.«10
Zusammengefasst lässt sich sagen: Kein Zeitpunkt liegt vor oder nach sich selbst, ein Zeitpunkt folgt dem Nächsten, und wenn Zeitpunkte klar benannt und in ihrer Reihenfolge deutlich angeordnet sind, kann sich diese Reihenfolge nicht umkehren. Wenn die Zeitpunkte eine Zeitachse bilden sollen, so folgert Strobach, müssen die Zeitpunkte ausschließlich vor- und nacheinander jedoch niemals nebeneinander liegen.11 Hierfür wird folgende Forderung benötigt: »Für alle t, t' gilt: entweder liegt t vor t' oder t' vor t oder t=t'.«12
Um die bisher dargestellten Beobachtungen Strobachs und die von ihm aufgestellten Forderung bezüglich der Zeitlogik in Verbindung mit Zurück in die Zukunft zu bringen, werden im Folgenden ausgewählte Filmszenen, die den ersten Teil der 8
Strobach: Einführung in die Logik. S.129.
9
Vgl. ebd.
10 Ebd., S.129. 11 Vgl. ebd., S.130. 12 Ebd.
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Trilogie umfassen, nach dem vorgegebenen Schema der Zeitpunkte benannt und analysiert. Die erste Beispielsequenz findet sich zu Beginn des ersten Teils der Trilogie. Marty McFly trifft sich mit Doc Brown im Jahr 1985 auf dem Parkplatz der Twin Peaks Mall. Doc präsentiert Marty den von ihm zu einer Zeitmaschine umgebauten DeLorean und lässt ihn miterleben und filmen, wie sein Hund Einstein die erste Zeitreise unternimmt. Weder Marty noch Doc haben damit gerechnet, dass die Zeitmaschine wirklich funktioniert, doch kurz darauf reist Marty selbst durch die Zeit und landet mit dem DeLorean im Jahr 1955.13 Hier wird das erste Mal die Relativität der Zeit deutlich, die Kausalität wird in Frage gestellt und der Standpunkt und die Sichtweise des Erlebenden, Marty, wird als wahrgenommene Konstante für den Rezipienten immer wichtiger. Diese Szene wird im Weiteren mit dem Zeitpunkt t gleichgesetzt. In der zweiten ausgewählten Szene befindet sich Marty schon inmitten seines Zeitreiseabenteuers im Jahr 1955. Er sucht das ihm bekannte Diner auf und trifft dort auf die junge Version seines Vaters, zu einem Zeitpunkt an dem Marty selbst laut Jahreszahl eigentlich noch nicht mal existiert.14 Diese Szene wird im Weiteren als der Zeitpunkt t' betrachtet. Die dritte Szene beschreibt abschließend das neue und veränderte Jahr 1985, benannt in 1985', in das Marty nach all seinen Anstrengungen, nach Hause zurückzukehren, gelangt. Dort erfährt er, wie die Geschichte und die gesamte Situation seiner Familie sich durch die Veränderungen in der Vergangenheit entwickelt hat.15 Die dritte Beispielszene wird im Weiteren mit t'' gekennzeichnet. Werden die Geschichte und der Zeitverlauf im ersten Teil der Trilogie von einer Metaebene aus betrachtet, könnte man sagen, es finden richtungsorientierte Zeitsprünge statt, zuerst in die »Richtung« der Vergangenheit und später zurück in die »Richtung« der Zukunft; somit seien die Zeitpunkte modellhaft wie folgt angeordnet:
13 Vgl. Spielberg: Zurück in die Zukunft I. 0:17:26-0:30:19. 14 Vgl. ebd., 0:37:20-0:39:52. 15 Vgl. ebd., 1:44:00-1:46:53.
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Abbildung 1
Quelle: Eigene Darstellung
Insgesamt widerspricht diese Darstellung allerdings nicht nur Martys Perspektive als konstanter Anhaltspunkt, sondern auch dem intuitiven Verständnis von Zeit, denn für gewöhnlich werden »in einer Logik der verschiedenen Zeiten […] zum Beispiel künftige Welten, jedoch keine vergangenen Welten von der tatsächlichen Welt (d. h. von der Gegenwart) aus zugänglich sein.«16 Unter Berücksichtigung der Regeln und Beobachtungen durch Strobach gestaltet sich das Modell zur Darstellung der Zeitpunkte t, t' und t'' wie folgt: Abbildung 2
Quelle: Eigene Darstellung
Die Differenz der beiden Modelle wird auf den ersten Blick deutlich: Während das erste Modell (Abb. 1) die Zeitpunkte aus einer Metaperspektive darstellt und die Zeitsprünge veranschaulicht, stellt das zweite Modell (Abb. 2) die Zeitpunktabfolge aus der Sicht des Protagonisten Marty und auch des Marty begleitenden Rezipienten dar, was bedeutet, dass Martys Zeiterleben der Linearität der Thesen Strobachs entspricht. Für Marty beginnt das Abenteuer im Jahr 1985, wird fort-
16 Kenny, Anthony: Geschichte der abendländischen Philosophie. Moderne. 3. Aufl. Darmstadt 2016. S. 129.
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gesetzt im Jahr 1955 und gipfelt schlussendlich im Jahr 1985'. All diese Zeitpunkte erleben Marty und der Rezipient in einer linearen Abfolge, die für ihn unveränderbar bleibt, auch wenn er zukünftig noch weitere Zeitreisen unternimmt. Durch die Übersicht, die der Rezipient über Marty, aber auch über alle anderen Figuren hat, wird ihm eine anachronistische Abfolge der Zeitpunkte suggeriert. Dennoch erfüllt Marty die Forderungen Strobachs: »Für alle t, t' gilt: entweder liegt t vor t' oder t' vor t oder t=t'.«17 Er erlebt zuerst t und darauf folgt t', auch die Zeitreise kann diese Tatsache weder verändern, noch umkehren. Die augenscheinlichste Version der Zeitpunktabfolge wird vorerst durch Modell 1 widergespiegelt, da die Zeitsprünge und richtungsorientierten Reisen mit dem DeLorean berücksichtigt werden. Allerdings entspricht Modell 2 vielmehr der intuitiven Zeitwahrnehmung und der Zeitpunktabfolge, wie sie auch der Rezipient durch die Begleitung Martys erlebt, auch wenn der Rezipient an sich, angesichts seiner bisherigen zeitlichen Wahrnehmung, durch die Benennung der Zeitpunkte durch Jahreszahlen eine deutliche Vorstellung ihrer Reihenfolge hat. Aber auch schon an den drei Beispielszenen ist deutlich zu erkennen, dass der Verlauf der Ereignisse einer gewissen Chronologie untergeordnet ist. Marty ist nur durch die in 1985 möglich gewordene Zeitreise im Jahr 1955 gelandet. Da er dort zunächst intuitiv handelt, weil er die in der Welt von Zurück in die Zukunft geltenden Zeitreisegesetze noch nicht kennt und demnach nicht berücksichtigen kann, verändert er den Lauf der Geschichte. Erst dadurch wird er gezwungen, erneut in die Geschichte einzugreifen und Ursachen herbeizuführen, die im Resultat auf die ihm bekannten Wirkungen abzielen sollen. Dennoch ist an der Reihenfolge der Geschehnisse zu erkennen, dass eine Situation die darauffolgende bedingt, auch wenn sie aus einer Metasicht heraus auf einer Zeitachse nicht nacheinander angeordnet sind. Die in diesem Film dargestellte Chronologie, vor allem unter Berücksichtigung des individuellen Standpunktes der handelnden und erlebenden Person, Marty, deckt sich theoretisch mit der Zeitlogik Strobachs, da für den Erlebenden kein Zeitpunkt vor oder nach sich selber liegt und keine Zeitpunkte nebeneinander verlaufen. Es scheint also, dass der Verlauf der individuellen Ereignisse an den Standpunkt der jeweiligen Person gebunden ist und zusammenhängende, aufeinander folgende Ereignisse die Zeitpunktabfolge bestimmen. Die Darstellung der jeweiligen Zeitpunkte erfolgt in diesem Fall durch einen geradlinig angeordneten Zeitstrahl, allerdings befinden sich die Jahreszahlen nicht in einer chronologischen Reihenfolge. Ein weiteres mögliches Modell der Zeitpunktdarstellung wird im zweiten Teil von Zurück in die Zukunft von Doc Brown vorgestellt. Nachdem im Rahmen der 17 Strobach: Einführung in die Logik. S.130.
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Zeitreisen der Protagonisten weitere Veränderungen in der Zeit vorgenommen wurden, haben diese zu einer Gegenwart für Doc und Marty geführt, die für sie ein Horrorszenario darstellt. Die beiden versuchen zu rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte und wie sie die derzeitige Gegenwart wieder zum »Guten« wenden können. Doc erklärt Marty seine Theorie zu den Geschehnissen: »Offenbar ist das Zeitkontinuum unterbrochen worden und hat dann diese neue temporale Geschehnissequenz erzeugt, die zur alternierenden Realität führte.«18 Weiterhin versucht er seine Theorie durch ein Tafelbild genauer darzustellen, welches Abbildung 3 zeigt. Abbildung 3
Quelle: Eigene Darstellung
»Stell dir vor, dass diese Gerade hier die Zeit darstellt. Hier ist die Gegenwart 1985, die Zukunft und die Vergangenheit. Vor diesem gewählten Zeitpunkt (zeigt auf die 1985 Markierung), irgendwann in der Vergangenheit, wich dieser Zeitstrahl ab und führte zu einem veränderten 1985. Sowohl für dich verändert, als auch für mich und Einstein. Aber es ist die Realität für alle anderen.«19 Die Zeitlogik des Doc Brown weist Parallelen zu der Logik Strobachs auf. Doc beschreibt, dass sich seine und Martys Auffassung von, wie er sagt, »Realität« zu der Realität Anderer unterscheidet, da nur sie durch die Zeit gereist sind und sich darüber bewusst sind, sich nicht in ihrer ursprünglichen Gegenwart aufzuhalten, dennoch sind auch diese Zeitpunkte für sie Realität; während für alle nicht Zeitreisenden der Zeitpunkt zu dem sie sich befinden gleichzeitig ihre Gegenwart und Realität darstellt. D. h. es gibt zu diesem Zeitpunkt für Doc und Marty zwei wirkliche Welten und unendlich viele mögliche Welten. Die beiden haben die Welt vor und die Welt nach ihrer Zeitreise erlebt, was beide Welten für sie zur Realität und dadurch wirklich macht. Weiterh in gibt es für sie unendlich viele mögliche Wel18 Spielberg, Steven: Zurück in die Zukunft II. 2002 (DVD). 0:49:23-0:49:31. 19 Ebd., 0:49:38-0:50:05.
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ten, welche die Fortführungen ihrer Welt vor der Zeitreise und ihrer Welt nach der Zeitreise darstellen.20 Für alle anderen, nicht Zeitreisenden, gibt es nur eine wirkliche Welt und dementsprechend auch nur die möglichen Welten, die von dieser einen wirklichen Welt ausgehen. Weiterhin erklärt Doc, dass er und Marty nicht ohne weiteres zu alternierenden Realitäten reisen können, sondern erst einmal zu einem Knotenpunkt in der Vergangenheit, um von dort aus die Geschehnisverläufe abweichend zu lenken. Daraus lässt sich schließen, dass es ihm und Marty unmöglich ist, mit der Zeitmaschine zu einem parallelen Zeitpunkt zu reisen, sondern nur in die Vergangenheit oder die Zukunft. Das entspricht auch der Beobachtung Strobachs: »Typisch für die Zeit ist, dass sich an ihr zwei Richtungen unterscheiden lassen: Vergangenheit und Zukunft.«21 Während es für Strobach ebenfalls unumstößlich ist, dass Zeitpunkte, die eine Zeitachse bilden, nacheinander liegen müssen und nicht nebeneinander liegen dürfen,22 sehen Doc und Marty doch einen Ausweg. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, ist zu einem Knotenpunkt in der Vergangenheit zurück zu reisen, einen Punkt an dem sich die »ursprüngliche« Realität oder auch wirkliche Welt und alternierende Realität oder auch mögliche Welt kreuzen, um den Lauf der Geschichte zu einem weiter entfernten Punkt zu lenken, der bisher nur reflexiv zu einer möglichen Welt bestand. An diesem Punkt stellt die Kripke-Semantik eine sinnvolle Ergänzung zur Zeitlogik des Doc Brown dar. Kripke hat eine Modelltheorie der Modallogik aufgestellt, in der er den Begriff der »(normalen) Modellstruktur«23 einführt: »Eine Modellstruktur (M.S.) ist ein geordnetes Tripel ‹G,K,R›, wobei K eine (nicht-leere) Menge, R eine reflexive Beziehung über K und G ein Element von K ist. Intuitiv gesehen ist K die Menge aller möglichen Welten, G die wirkliche Welt, während R als relative Möglichkeit bestimmt ist. Hat man eine solche M.S., so ordnet ein Modell jeder atomaren Formel P einen Wahrheitswert Wahr (W) oder Falsch (F) in jeder der Menge K angehörenden Welt H zu.«24
In Anwendung der Kripke-Semantik möglicher Welten scheint sich die Theorie, dass es sich bei Zurück in die Zukunft, wenn auch nicht notwendigerweise bei 20 Hier handelt es sich nicht um die gleichen möglichen Welten, da die Fortführungen möglicher Welten vor der Zeitreise durch die Zeitreise bereits verworfen werden und sich somit nur noch als ehemalige Möglichkeiten als leere Mengen darstellen lassen 21 Strobach: Einführung in die Logik. S. 129. 22 Vgl. ebd., S. 130. 23 Nida-Rümelin/Özmen: Philosophie der Gegenwart. S. 316. 24 Ebd.
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oberflächlicher Betrachtung, um eine chronologische und lineare Abfolge von Zeitpunkten handelt, zu verfestigen. Kripke gibt mit seiner Semantik möglicher Welten eine Struktur vor, die in ihrer Darstellung eine ideale Übertragbarkeit auf die Zeitpunktabfolge, sowie die Pluralität der Möglichkeiten in Zurück in die Zukunft bietet. Die Modellstruktur berücksichtigt die Gegenwart, d. h., das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich/wahr ist (G), sie beinhaltet Variablen, die das beschreiben, was ist (K) und das, was sein könnte oder nicht geworden ist (R) und unterscheidet somit Mögliches von Notwendigem. Das gesamte Konstrukt der Geschichte wird durch P beschrieben, W entspricht der Bedeutung von real oder wirklich, F ist gleichbedeutend mit »nicht real« und H beschreibt die sich mit der möglichen Welt K überschneidende wirkliche Welt G und die an K angekoppelte wirklich gewordene mögliche Welt R. Weiterhin findet auch die Zeitlogik des Doc Brown in dieser Theorie ihren Anknüpfungspunkt, da nicht nur die geradlinige Chronologie eines Zeitstrahls berücksichtigt wird, sondern auch auf die Pluralität der Möglichkeiten verschiedener Zeitpunkte und deren Realisierung oder Verwerfung eingegangen wird. Kripke geht von sich in einigen Fällen überschneidenden und in einigen Fällen nur reflexiv zueinander stehenden Teilmengen aus,25 d. h. in einigen Fällen handelt es sich um Zeitpunkte, die chronologisch aufeinander folgen und aneinander anknüpfen und in einigen Fällen um nicht realisierte Zustände, die zu bestimmten Zeitpunkten Möglichkeiten dargestellt haben. Diese Mengen und Teilmengen stellen in Bezug auf Zurück in die Zukunft Welten, Zeiten und Möglichkeiten dar. Die Teilmengen wurden benannt in G als ein Element von K, was in diesem Fall die wirkliche Welt bezeichnet, K, als (nicht-leere) Menge stellt hier die Menge aller möglichen Welten dar und R ist die Menge der relativen Möglichkeiten.26 G, die wirkliche Welt, bezeichnet in diesem Fall das Ausgangsjahr 1985. K, die Menge aller möglichen Welten, stellt all die Welten dar, die bestehende Situationen beschreiben und für die es in ihrer Fortführung zahlreiche mögliche, aber nicht notwendige Alternativen gibt und die in ihrer Realisierung zu alternierenden Geschehnisverläufen führen würden. Nach jeder getroffenen Entscheidung oder vorgenommenen Veränderung der Zeitlinie entstehen nach dieser Theorie neue, zu verwirklichende Möglichkeiten, zwischen denen sich jedes Individuum bewusst oder unbewusst entscheiden muss, um somit eine der möglichen Welten zu realisieren, wie zum Beispiel die Situation, in der Marty auf dem Parkplatz der Twin Peaks Mall gezwungen ist, spontan zu handeln und er in den DeLorean steigt und seine erste Zeitreise unternimmt. Wenn Marty sich gegen den DeLorean entschieden hätte, wäre er nicht in dem Jahr 1955 gelandet und anschließend auch nicht in 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd.
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dem neuen 1985'. Indem er in den DeLorean gestiegen ist und die Zeitreise unternommen hat, hat er sich für eine Möglichkeit, die er hatte, entschieden und somit eine mögliche Welt realisiert und gleichzeitig andere mögliche Welten verworfen. »Normalerweise« werden diese Entscheidungen unbewusst getroffen, da es keine Möglichkeit der Vorhersage zukünftiger Geschehnisverläufe oder der Darstellung verschiedener zukünftiger Situationen gibt. Im Fall von Zurück in die Zukunft werden diese Entscheidungen teilweise bewusst getroffen, als Marty sich im Jahr 1955 befindet und den Verlauf der Geschichte aktiv beeinflussen möchte. Er war bei dem ursprünglichen Geschehnisverlauf im Jahr 1955 nicht dabei, aber er kennt das ursprüngliche 1985, das für ihn das Ergebnis der bisherigen Verläufe darstellt oder anders gesagt, aus 1985 kennt er die Wirkungen der in 1955 stattgefundenen Ursachen. Auch ohne die Möglichkeit zu haben, Zeitreisen unternehmen zu können, kann Marty, wie auch jede andere Person, Entscheidungen bewusst treffen, allerdings sind im »Normalfall« keine konkreten Auswirkungen der getroffenen Entscheidungen bekannt. Erst die Zeitreise hat Marty in die Situation gebracht, bewusst zwischen vielen mehr oder weniger unterschiedlichen Welten wählen zu müssen. Zu beobachten ist also, dass es die fortgeführten möglichen Welten gibt, die zur Realität werden und sich die verworfenen, durch andere Entwicklungen oder weitere Veränderungen ausgehebelten möglichen Welten zumindest als leere Mengen darstellen lassen, da es sie geben könnte, wir ihren Inhalt aber nicht kennen. All diese Zeitpunkte, an denen bewusst von Marty und Doc Entscheidungen getroffen werden müssen, spielen sich im ersten Teil der Trilogie im Jahr 1955 ab. Beispiele hierfür sind das Treffen zwischen Marty und seinem Vater im Diner, die Verhinderung des Kennenlernens seiner Eltern oder die Zusammenführung seiner Eltern, die durch seine Unternehmungen alternierend zum ursprünglichen Verlauf zustande kommt. Als letztes muss noch die Teilmenge R beschrieben werden, die sich als relative Möglichkeit zu diesem Modell verhält. In diesem speziellen Fall ist R =1985'. Das Jahr 1985', in das Marty nach seiner Zeitreise gelangt, ist das Resultat der Realisierung einer möglichen Welt, für die er sich im Jahr 1955 entschieden hat. Somit hat es im Jahr 1955 vor jeder Veränderung die Möglichkeit gegeben, die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Realisierung zu treffen. Es ist bei keiner Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass vorausgesehen werden kann, wie der Geschehnisverlauf sich weiterhin verhält. Allerdings konnte Marty unter der Voraussetzung, dass er den bisherigen Verlauf der Geschichte kannte, versuchen abzuschätzen, wo seine Entscheidungen möglicherweise hinführen könnten oder inwiefern er erneut aktiv in den Lauf der Geschichte der Vergangenheit eingreifen muss, um sie in die gewünschte Richtung zu lenken. Den-
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noch ist er überrascht, als ihm in 1985' bewusst wird, was die Veränderungen der Geschichte für Auswirkungen haben, was wiederum beweist, dass er durch die vorgenommenen Veränderungen der Kausalkette zwar dafür sorgen konnte, dass seine Eltern sich kennen lernen und dadurch auch er und seine Geschwister in 1985' existieren, aber er konnte die restlichen Details mangels eines passenden Indikators weder voraussehen noch bestimmen. All die Wege, die nicht von ihm beschritten wurden, bekommen in diesem Modell keine Teilmenge R angekoppelt zu K, da diese möglichen Wege explizit im Ansatz als Möglichkeit von ihm ausgeschlossen wurden, und es folglich nicht zu deren notwendigen Existenz kommt. An der dafür vorgesehenen Stelle befinden sich in der folgenden Grafik (Abb. 4) leere Mengen, die gekennzeichnet sind mit »nicht-R«. Die »Verbindung« zu K ist nicht durch eine durchgehende Linie, sondern durch Punkte zu der Nicht-Realisierung der reflexiven Möglichkeit R dargestellt. Die Darstellung soll für eine gewisse Übersichtlichkeit über die verschiedenen Zeitpunkte und Geschehnisse sorgen. Beide analysierten Szenen beschreiben Auszüge der Handlung, in denen besonders oft relative Möglichkeiten verwirklicht, verändert, verworfen oder ersetzt werden. Die erste ausgewählte Sequenz umfasst etwa vier Minuten und entspricht der in der Grafik eingetragenen Menge K1. Sie spielt zu Beginn der Zeitreise im Jahr 1955. Marty trifft im Diner auf seinen Vater und beginnt ein Gespräch mit ihm, womit er unwissentlich eines der Zeitreisegesetze des Docs bricht, welches besagt, dass man sich mit niemandem auf seinen Zeitreisen unterhalten solle und man nichts im Geschehnisverlauf der Zeit verändern dürfe, da ansonsten die Zeitlinie verändert wird. Das Problem an dieser Situation ist: Martys Gespräch mit seinem Vater bringt schon die ersten Abweichungen des ursprünglichen Verlaufes mit sich: die zuvor bestehende wirkliche Welt G »1985« ist von nun an nur noch Teil der Menge aller relativen Möglichkeiten R zu dem aktuellen Zeitpunkt »1955«, sie stellt jetzt nur noch eine Möglichkeit, allerdings keine Notwendigkeit mehr dar. Da Doc nicht die Möglichkeit hatte, Marty aufgrund seiner nicht geplanten und überstürzten Zeitreise über diese Zeitreisegesetze aufzuklären, bricht Marty in zahlreichen weiteren Situationen diese Gesetze. Mit diesem Gespräch entstehen weitere vollkommen neue Möglichkeiten, wie der Verlauf der Geschehnisse sich entwickeln kann, während der ursprüngliche Verlauf irreversibel verändert wurde.
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Abbildung 4
Quelle: Eigene Darstellung
• • • •
G K1 K2 K3
• • • • • • •
K4 K5 K6 K7 K8 K9 K10
• R
Ausgangsjahr 1985 (Martys Familie ist erfolglos und langweilig) Marty unterhält sich im Diner mit der 1955-Version seines Vaters Marty verfolgt George und verhindert, dass er angefahren wird Marty (anstatt George) lernt durch den Unfall die Familie seiner späteren Mutter Lorraine kennen Lorraine verliebt sich in Marty Lorraine wird bedrängt und Marty wird im Kofferraum eingesperrt George kommt auf den Parkplatz gerannt und rettet Lorraine Martys Bruder und Schwester sind von seinem Foto verschwunden Marty springt als Gitarrist in der Abschlussballband ein George lässt sich von Lorraine abbringen – Marty »verschwindet« fast George rettet Lorraine erneut und küsst sie / auf Martys Foto sind wieder alle drei Geschwister zu sehen Jahr 1985': Martys Eltern und Geschwister sind erfolgreich
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Beide Szenen beschreiben Abschnitte des Films, in denen besonders oft relative Möglichkeiten verwirklicht, verändert, verworfen oder ersetzt werden. Die erste ausgewählte Sequenz umfasst etwa vier Minuten und entspricht der in der Grafik eingetragenen Menge K1. Sie spielt zu Beginn der Zeitreise im Jahr 1955. Marty trifft im Diner auf seinen Vater und beginnt ein Gespräch mit ihm, womit er unwissentlich eines der Zeitreisegesetze des Docs bricht, welches besagt, dass man sich mit niemandem auf seinen Zeitreisen unterhalten solle und man nichts im Geschehnisverlauf der Zeit verändern dürfe, da ansonsten die Zeitlinie verändert wird. Das Problem an dieser Situation ist: Martys Gespräch mit seinem Vater bringt schon die ersten Abweichungen des ursprünglichen Verlaufes mit sich: die zuvor bestehende wirkliche Welt G »1985« ist von nun an nur noch Teil der Menge aller relativen Möglichkeiten R zu dem aktuellen Zeitpunkt »1955«, sie stellt jetzt nur noch eine Möglichkeit, allerdings keine Notwendigkeit mehr dar. Da Doc nicht die Möglichkeit hatte, Marty aufgrund seiner nicht geplanten und überstürzten Zeitreise über diese Zeitreisegesetze aufzuklären, bricht Marty in zahlreichen weiteren Situationen diese Gesetze. Mit diesem Gespräch entstehen weitere vollkommen neue Möglichkeiten, wie der Verlauf der Geschehnisse sich entwickeln kann, während der ursprüngliche Verlauf irreversibel verändert wurde. Nachdem George das Diner verlassen hat, folgt Marty ihm und findet ihn, mit einem Fernglas ausgerüstet, auf einem Baum vor dem Elternhaus von Lorraine hockend. George erschreckt sich und fällt von dem Baum auf die Straße. Bedauerlicherweise ist es letztlich nicht rekonstruierbar, ob George vom Baum fällt, weil er von Marty erschrocken wurde oder ob er in jeder denkbar möglichen Welt und in jedem Fall heruntergefallen wäre.27 Marty reagiert in dieser Situation ohne zu zögern und rettet George vor dem herannahenden Auto, hinter dessen Steuer Martys Großvater sitzt. Doch durch diese unbedachte und gut gemeinte Aktion wird er selbst angefahren und bleibt bewusstlos zurück, während sein Vater George von dem Unfallort flieht. Somit verändert Marty ein weiteres Mal den Geschehnisverlauf, da er das ursprüngliche Kennenlernen seiner Eltern verhindert und an die Stelle seines Vaters tritt. Er lernt seine Großeltern und Lorraine, seine zukünftige Mutter, kennen, was ebenfalls jedem intuitiven Verständnis von Zeit zuwiderläuft. Lorraine beginnt, sich in Marty zu verlieben, anstatt in George, was dazu führt, dass Martys gesamte Existenz bedroht ist.28 Die spontane Rettung seines Vaters 27 Im ursprünglichen Geschehnisverlauf haben sich Martys Eltern durch Georges Sturz vom Baum kennen gelernt, da in dieser Filmsequenz nicht deutlich wird, ob George auch ohne Martys Anwesenheit vom Baum gefallen wäre, lässt es sich nicht sagen, ob die Geschehnisverläufe von Marty unterbrochen wurden oder ob es sich um einen Filmfehler handelt. 28 Spielberg: Zurück in die Zukunft I. 0:37:20-0:41:04.
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ist bis dahin die gravierendste Veränderung der ursprünglichen Geschehnisverläufe. Es entsteht die Möglichkeit, dass Marty durch diese Veränderungen sein zukünftiges Ich ausgelöscht hat, denn gleichzeitig wird die Möglichkeit, dass Martys Eltern sich durch diesen Unfall kennenlernen, nicht verwirklicht. Allerdings kommt Marty erst später durch Docs Hilfe und die Erklärung der Zeitreisegesetze zu der Erkenntnis, dass er unbedingt das Kennenlernen seiner Eltern ermöglichen muss, da er andernfalls dafür gesorgt hat, in der Zukunft niemals zur Welt zu kommen. Als Marty den Doc von 1955 findet, erklärt dieser ihm, dass er, solange er sich im Jahr 1955 aufhält, niemanden sehen und mit keinem Menschen sprechen darf, weil es sonst schwerwiegende Konsequenzen für zukünftige Ereignisse haben kann. Das ist eines der wichtigsten Zeitreisegesetze des Doc Brown, welches Marty leider erst an diesem späten Zeitpunkt erklärt bekommt.29 Er fragt Marty, ob dieser schon mit jemandem in Kontakt getreten ist. Als Marty zugibt, bereits seine Eltern getroffen zu haben, lässt Doc sich erneut das Foto seiner Geschwister zeigen. »Genau wie ich dachte, das bestätigt meine Theorie! Siehst du deinen Bruder? […] Ausradiert aus dem Leben.«30 Nachdem Marty einige erfolglose Bemühungen unternommen hat, um das Kennenlernen seiner Eltern doch noch zu arrangieren, sieht er den herannahenden Schulball als perfekte Möglichkeit für George, sich doch noch Lorraine anzunähern. In diesem Filmabschnitt findet sich die zweite Beispielsequenz, die in der Grafik durch die Mengen K5-K10 angegeben wird. Marty fährt gemeinsam mit Lorraine beim Schulball vor. Es kommt zu einer Situation, in der Lorraine versucht, Marty zu küssen und schnell bemerkt: »Da stimmt was nicht. Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn ich dich küsse, dann ist das so, als ob ich meinen Bruder küsse. Das ergibt keinen Sinn, nicht wahr?«31 In dieser Szene entsteht die Möglichkeit, dass Lorraine sich von Marty distanziert und sich möglicherweise auf jemand anderen konzentriert, gleichzeitig wird die Möglichkeit, dass Lorraine sich weiterhin nur für Marty interessiert verworfen.32 Anschließend erscheint Georges Kontrahent in der Situation. Während dieser Lorraine bedrängt, verfrachten seine 29 Während Kripkes Modell keine Zeitreisen berücksichtigt, sondern nur den Unterschied zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit darstellt, kann Marty seine Aktionen durch die vorgenommene Zeitreise bewusst lenken und die von Doc Brown aufgestellten Zeitreisegesetze gewinnen einen wichtigen Stellenwert als Verhaltensregeln, im Zuge des erlebten Zeitreiseparadoxons. 30 Spielberg: Zurück in die Zukunft I. 0:53:21-0:54:10. 31 Ebd., 1:17:30-1:17:52. 32 Nach Kripke stellen diese Situationen, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen oder sich Ansichten verändern, mögliche Welten dar, die nur in ihrer Fortführung und Realisierung zu einer nicht-leeren Menge werden.
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Freunde Marty in den Kofferraum des Autos der Band, die an diesem Abend auf dem Ball spielt. Auch in dieser Handlung entsteht wieder ein neuer möglicher Verlauf und zwar der, dass Lorraine den Abend weder mit Marty, noch mit George verbringt. Weiterhin könnte sich die Situation realisieren, dass Marty nicht aus dem Kofferraum des Autos befreit wird und den restlichen Abend nicht mehr in das Geschehen eingreifen kann.33 Glücklicherweise kommt George, wie verabredet, auf den Parkplatz gerannt und versucht nach kurzem Zögern, Lorraine vor seinem Kontrahenten zu retten. Nach einem kurzen Handgemenge gelingt George das auch und er schlägt ihn zu Boden. Lorraine ist von der heldenhaften Rettung Georges beeindruckt und verlässt mit ihm gemeinsam den Parkplatz in Richtung des Ballsaals. Marty wurde aus dem Kofferraum befreit und stößt in dieser Szene dazu, um noch zufrieden feststellen zu können, dass seine Eltern sich gefunden haben. Ab diesem Moment besteht wieder die Möglichkeit der Vereinigung der beiden, dennoch verschwindet nach seinem Bruder jetzt auch noch Martys Schwester von dem Erinnerungsfoto. Das Verschwinden seiner Schwester ist für Marty ein Indiz dafür, dass er weitere Maßnahmen ergreifen muss, um seine Eltern zusammenzuführen. Bei dem Versuch den Kofferraum ohne den Autoschlüssel zu öffnen, um Marty zu befreien, hat der Gitarrist der Band sich an der Hand verletzt und kann nicht mehr spielen, was zu diesem Zeitpunkt den Grund für das Verschwinden von Martys Schwester darstellt. Daraufhin sagt Marty zu dem Gitarristen: »Marvin, ihr müsst spielen! Hier beim Tanzen küssen sie sich zum ersten Mal und wenn es keine Musik gibt, können sie nicht tanzen und wenn sie nicht tanzen können, können sie nicht küssen und wenn sie nicht küssen können, können sie sich nicht verlieben und ich bin angeschmiert.«34
Daraufhin springt Marty in der Band als Gitarrist ein und hat das Foto als Indikator an die Gitarre geklemmt. Seine Eltern tanzen zwar, aber George ist noch immer unsicher und traut sich nicht Lorraine zu küssen. Zu allem Überfluss wird George von einem anderen Mitschüler von Lorraine weggedrängt. In diesem Moment verschwindet auch Marty fast von dem Foto und beginnt auch in der 1955 Realität sich aufzulösen, sodass er kaum noch Gitarre spielen kann. Die Realisierung und Fortführung dieses möglichen Verlaufs würde Marty und somit auch die gesamte Zeitreisegeschichte auslöschen. Erfreulicherweise entscheidet sich George in letzter Sekunde dazu, Lorraine erneut zu retten, er befreit sie von seinem Mitschüler, 33 Allerdings bestünde dann die Möglichkeit, dass der Gitarrist sich nicht verletzt, die Band weiterspielt und seine Eltern trotzdem tanzen, küssen, sich verlieben usw. 34 Spielberg: Zurück in die Zukunft I. 1:21:48-1:21:59.
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beeindruckt sie ein weiteres Mal und küsst sie.35 Genau in diesem Moment wird für Marty, wie auch für den Rezipienten klar, dass der Verlauf der Geschichte, Martys Existenz betreffend, eine positive Wendung angenommen hat. Marty kann wieder ohne Probleme Gitarre spielen, außerdem erscheinen er und seine Geschwister wieder auf dem Foto. Schlussendlich bedeuten die oben aufgeführten Beobachtungen für die These, die Interpretation Kripkes sei auf die Zeitreiselogik des Doc Brown anzuwenden und ebenso kompatibel mit der Zeitlogik Strobachs, dass es nur eine Teilmenge R angekoppelt an K und reflexiv zur Ausgangswelt G geben kann, d. h. es gibt nur genau eine Realisierung einer der möglichen Welten, die in einer linearen zeitlichen Abfolge ausgehend von G, dem ursprünglichen Jahr 1985, besteht. Die eine mögliche Welt beschreibende und sich mit G überschneidende Teilmenge K10 stellt den letztlich einzigen Verbindungspunkt zwischen der Ausgangswelt 1985 und der verwirklichten Möglichkeit R, dem Jahr 1985', dar. Ohne die Realisierung und Fortführung von K10 bestünde zwischen den Teilmengen G und R keine Verbindung, ohne diese Verbindungen erfahren die anderen Teilmengen K keine Verwirklichung. Die nicht verwirklichten Möglichkeiten lassen sich nur als leere Mengen darstellen, in diesem Fall als »nicht-R«, sie gelten als rein formale Entitäten und nicht als real existierende Welten. Ein weiterer Begriff den Kripke in Bezug auf seine Modallogik einführt und uns die Möglichkeit gibt, in den vielen möglichen Welten eine feststehende Größe zu bezeichnen, ist »starrer Designator«. Hierzu sagt Kripke, dass ein Name, nur unter dem Umstand, dass der ihn beschreibende Ausdruck ein starrer Designator ist, auch ein echter Name ist.36 Mit dieser These versucht er das Problem der Unterscheidung zwischen den Termini Möglichkeit und Notwendigkeit mit Hilfe seiner Theorie der Eigennamen37 zu lösen. »Eigennamen sind […] starre Bezeichnungsausdrücke.«38 Ein starrer Designator ist nach Kripke ein Ausdruck, der in jeder möglichen Welt39 dieselbe Bedeutung hat. Ausdrücke, deren Bedeutungen durch ihren Sinn festgelegt werden, können sich von einer möglichen Welt zu einer anderen verändern.40 Deshalb werden Ausdrücke, deren Bedeutung sich durch ihren Sinn festlegt, Kennzeichnung oder auch nicht-starrer Designator genannt. Kripke formuliert sei35 Vgl. ebd., 1:14:28-1:23:52. 36 Vgl. Kenny: Geschichte der abendländischen Philosophie. S. 129-131. 37 Vgl. Kripke: Name und Notwendigkeit. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2014. 38 Nida-Rümelin/Özmen: Philosophie der Gegenwart. S. 317-318. 39 Bezogen auf Kripkes Modallogik und die im Vorangehenden aufgeführte Grafik ist auch hier jede mögliche Welt mit K gleichzusetzen. 40 Vgl. Kenny: Geschichte der abendländischen Philosophie. S. 131.
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ne These wie folgt: »Eigennamen haben im Unterschied zu Kennzeichnungen nur einen Bezug, aber keinen Sinn.«41 Daraus lässt sich folgern, dass Möglichkeit gleichgesetzt werden kann mit nicht-starrer Designator, d. h. in jeder möglichen Welt kann eine Bezeichnung unterschiedliche Gegenstände beschreiben, während Notwendigkeit gleichzusetzen ist mit starrer Designator, d. h. in jeder möglichen Welt beschreibt eine Bezeichnung dasselbe, auch wenn das Beschriebene unterschiedliche Eigenschaften aufweist. Im Hinblick auf Martys Zeitreisen und die Tatsache berücksichtigend, dass es sich zu jedem Zeitpunkt um denselben Marty handelt, d. h. in 1985, sowie in 1955 als auch im Jahr 1985' ist er dieselbe Person, lässt sich Kripkes These auch auf Martys Welt übertragen. Somit stellt Marty zu jeder angegebenen Jahreszahl einen starren Designator dar und lässt sich somit als konstante Größe identifizieren. Weiterhin beschäftigt sich Kripke mit der Frage, inwieweit wir starre Designatoren benötigen, um über Aussagen eine Wahrheitsaussage machen zu können: »Eine Aussage ist genau dann notwendig wahr, wenn sie in allen möglichen Welten wahr ist, d. h. wenn es keine denkbare Situation gibt, in der sie falsch wäre.«42 Dazu schreibt Kripke, dass »[e]ine mögliche Welt […] eine vollständige Art und Weise [ist], wie sich die Dinge verhalten können.«43 – Beckermann ergänzt, »[…] dass jede mögliche Welt für jeden Satz festlegen muss, ob dieser Satz in ihr wahr ist.«44 Auch mit diesen Aussagen und Feststellungen Kripkes lässt sich weiterhin untermauern, dass Marty als »starrer Designator« zu jedem Zeitpunkt die »wahre« Welt identifiziert, für sich selber als erlebende Instanz, wie auch für den Rezipienten, der durch ihn den Überblick über das Zeitreisegeschehen behält. Bezugnehmend auf Zurück in die Zukunft und die Darstellung der Beispielsequenzen, in denen sich zahlreiche mögliche Welten ergeben, kann nur durch Marty als Konstante von einer wirklichen, wahren Welt die Rede sein. Marty ist gleichzusetzen mit einem starren Designator, der den Rezipienten durch verschiedene Zeitpunkte und mögliche Welten begleitet und dessen Existenz in der jeweiligen Szene als Erkennungsmerkmal dafür gilt, zu welchem Zeitpunkt sich die Geschichte abspielt oder welcher Zeitpunkt aktuell wahr ist. In jeder der möglichen Welten handelt es sich immer um denselben Marty. Denselben Marty, auf den grundlegend dieselbe Beschreibung zutrifft, auch wenn er sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten befindet oder ihn in bestimmten Situationen unterschiedliche 41 Nida-Rümelin/Özmen: Philosophie der Gegenwart. S. 318. 42 Beckermann, Ansgar. Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 3. Aufl. Berlin 2008. S. 129. 43 Ebd. 44 Ebd.
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Begriffe beschreiben: »Denn natürlich ist jeder Gegenstand in jeder möglichen Welt mit sich identisch.«45 Unbedeutend zu welchem Zeitpunkt oder in welcher der beschriebenen möglichen Welten Marty Erwähnung findet, handelt es sich um eine wahre Welt, da Marty als starrer Designator die notwendige Wahrheit beweist. Den oben angeführten Beobachtungen zur Folge hat sich herausgestellt, dass sich dem Rezipienten bei Zurück in die Zukunft verschiedene Perspektiven auf das zeitliche Geschehen bieten. Das im Vorangehenden skizzierte erste Modell des zeitlichen Verlaufs (Abb. 1) befasst sich mit der Auffassung der Zeitpunktabfolge und veranschaulicht die von einer Metaperspektive wahrgenommenen Zeitsprünge. Dem gegenüber gestellt ist das zweite Modell (Abb. 2), welches das intuitive Alltagszeitverständnis widerspiegelt, dem Rezipienten die Möglichkeit bietet, Marty durch seine Abenteuer zu begleiten und gleichsam der von Strobach herausgearbeiteten Zeitlogik entspricht. In Abb. 1, mit Bezugnahme auf den als Konstante dienenden Protagonisten Marty genauer betrachtet, wird deutlich, dass die bloße Darstellung der Zeitsprünge nicht ausreicht. Da für Marty, als erlebende Entität, ein Zeitpunkt chronologisch auf den nächsten folgt, ist die lineare Darstellung der Zeitpunktabfolge im zweiten Modell (Abb. 2) eindeutig geeigneter. Allerdings macht auch dieses Modell die Komplexität der Zeitreiseproblematik nicht deutlich genug und vernachlässigt die Zeitsprünge in seiner Darstellungsweise. Das von Doc Brown vorgestellte Modell (Abb. 3) greift sowohl die wahrgenommene chronologische Linearität der Zeitpunkte als auch die Zeitsprünge aus der Metaperspektive auf und vereint somit die den Rezipienten erreichende Darstellung der Zeitreisen als auch das intuitive Alltagszeitverständnis. Somit sind zwar alle drei Perspektiven nachvollziehbar für den Rezipienten, allerdings ist es eine wenig überraschende Tatsache, dass die Figur des Wissenschaftlers selbst vorerst die akzeptabelste Erkenntnis bezüglich der Darstellung der Zeitpunktabfolge hervorbringt, diese bedarf jedoch einen weiteren theoretischen Ansatz abseits des Filmuniversums. Die zweite Theorie wird von Kripke geliefert und umfasst die Kripke-Semantik oder auch »Mögliche-Welten-Theorie« genannt und den in seiner Modallogik und Namentheorie verwendeten Terminus starrer Designator und die Unterscheidung zwischen den Termini Möglichkeit und Notwendigkeit. Mit Hilfe dieses Ansatzes und der durch die Verknüpfung von Kripke mit dem Filmuniversum entstandenen Darstellung (Abb. 4), ist es möglich geworden, die verschiedenen Zeitpunkte, ausgehend von dem Ausgangsjahr 1985, über die zahlreichen in 1955 entstandenen Möglichkeiten, bis hin zu dem Jahr 1985', in Verbindung zu setzen. Aufgrund der Darstellung der verschiedenen Zeitpunkte, der 45 Ebd., S. 131.
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Benennung Martys als starrer Designator und der Unterscheidung zwischen notwendig wahrer Welt und möglicher Welt, ist die Struktur der chronologischen und linearen Zeitpunktabfolge mit möglichen Abweichungen, wie sie auch bei Doc Brown zu finden ist, klar zu erkennen. Durch die Darstellung wird ebenfalls deutlich, dass sich auch weiterhin die verschiedenen Perspektiven der Darstellung der Zeitpunktabfolge herausstellen, die der Metaebene, die des Rezipienten und Martys. Ausgehend von Marty als fester Größe, d. h. starrem Designator, lässt sich auch mit Hilfe dieser These folgern, dass es sich bei dem Filmuniversum Zurück in die Zukunft um eine chronologische Abfolge der Zeitpunkte auf linearer Ebene handelt. Nur durch die fiktiven Zeitreisen werden Abweichungen der ursprünglichen Geschehnisverläufe möglich gemacht und zu Teilen deren Weiterentwicklungen nachvollziehbar. Marty begleitet die Geschichte an unterschiedlichen Zeitpunkten aus der immer gleichbleibenden Perspektive heraus. Die Ereignisse sind an den Standpunkt der erlebenden Person gebunden, d. h. in diesem Filmuniversum handelt es sich um eine personengebundene Zeitinterpretation, gerade im Hinblick auf die Chronologie und Kausalität.46 Marty wird durch die Zeitreise nicht zum 1955-Marty, sondern er bleibt der Marty von 1985 in das Jahr 1955 versetzt. Durch die Veränderungen, die Marty im Jahr 1955 veranlasst, ist seine Situation sowie die seiner Familie von vor und von nach der Zeitreise gar nicht mehr zu vergleichen, vor allem, da seine Eltern und Geschwister in diesem Falle eine passive Rolle in dem Veränderungsprozess spielten. Insgesamt wird dadurch deutlich, dass sich Marty in diesem Filmuniversum auf einer zeitlichen Ebene zu verschiedenen Zeitpunkten bewegt, die in einer für ihn chronologischen und linearen Reihenfolge ablaufen und in denen sich ihm immer wieder zahlreiche verschiedene Möglichkeiten bieten.
QUELLENVERZEICHNIS Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 3. Aufl. Berlin 2008. Kenny, Anthony: Geschichte der abendländischen Philosophie. Moderne. 3. Aufl. Darmstadt 2016. Kripke, Saul A.: Name und Notwendigkeit. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2014. Nida-Rümelin, Julian/Özmen, Elif (Hg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. 3. Aufl. Stuttgart 2007.
46 Vgl. hierzu in diesem Band: Waldmeyer, Melanie.
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Spielberg, Steven: Zurück in die Zukunft I. 2002 (DVD). Spielberg, Steven: Zurück in die Zukunft II. 2002 (DVD). Strobach, Niko: Einführung in die Logik. 4. Aufl. Darmstadt 2015.
»Als würde man plötzlich durch einen Spiegel treten und seinem Ebenbild begegnen«1 Geist und Identität in Mamoru Oshiis Ghost in the Shell Nadja Riechert
EINLEITUNG In dem japanischen Science Fiction-Anime Ghost in the Shell (Kôkaku kidôtai)2 von Mamoru Oshii aus dem Jahre 1995 wird eine extrem technologisierte Gesellschaft entworfen. Die meisten Figuren haben künstliche Körperteile und zum Teil auch künstliche Gehirnareale, sie sind Cyborgs (cybernetic organisms). Für die Protagonistin Major Motoko Kusanagi ist »das sinnliche Eintauchen in durch Informationsverarbeitung generierte, nicht materielle Umgebungen [...] normal geworden«.3 Mit der Künstlichkeit ihres Körpers, aber vor allem auch mit dieser sie umgebenden virtuellen Realität, gehen zahlreiche Identitätsprobleme einher. Aufgrund des sukzessiven Ersetzens menschlicher Körperteile durch technische stellt sich einerseits die Frage, inwiefern man noch von menschlichen Wesen sprechen kann und ob sich solche Mischwesen wie z. B. Motoko eher als Menschen oder als Maschinen begreifen. Durch die Einbettung in eine virtuelle Realität kommt es zudem zu einer Vermischung von Wahrnehmungsinhalten, die nur schwer als eigen bzw. fremd auseinandergehalten werden können, die aber für die Konstruktion von Identität von höchster Bedeutung sind. Zuletzt bedeutet ein künstlicher
1
Oshii, Mamoru: Ghost in the Shell. Nipponart GmbH 2005 (DVD). 00:32:29.
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Der Film basiert auf dem gleichnamigen Manga von Shirow Masamune, der 1991 als
3
Schnellbächer, Tom: Mensch und Gesellschaft in Oshii Mamorus Ghost in the Shell –
Buch erschien. Technische Spielerei oder engagierte Zukunftsvisionen? In: NOAG 181-182 (2007). S. 69-96, hier S. 78.
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Körper auch eine starke Abhängigkeit von Technik. Die technologischen Mittel haben also einen gewaltigen Effekt auf die Identitätskonzepte der Figuren.4 Im Geiste dieses Sammelbandes betrachte ich Ghost in the Shell als ein komplexes Gedankenexperiment, das die Diskussion von Identitätsfragen in einer hochgradig technisierten Welt ermöglicht, und aus welchem Schlussfolgerungen für eine Zukunft gezogen werden können, die so fern nicht mehr sein könnte. Human Enhancement, also die Selbstverbesserung des Menschen durch Technik, ist heute bereits möglich, zwar nicht in den Ausmaßen, die in der fiktiven Welt von Ghost in the Shell beschrieben sind. Aber der Fortschritt auf Gebieten wie z. B. Robotik, Bionik und Künstliche Intelligenz ist rapide, weshalb sich BefürworterInnen des Human Enhancements dem Traum von der Überwindung bisher natürlich gegebener Grenzen ein ganzes Stück näher fühlen: »Möglicherweise stehen in fernerer Zukunft weitere, heute nur in Umrissen erkennbare Technologien zu Verfügung. Vielleicht führen sie zu tief greifenden Optimierungsoptionen, zur Schaffung ganz neuer Fähigkeiten. Das erhoffen sich zumindest die Anhänger des ›Transhumanismus‹ vom technischen Fortschritt.«5
Der vorliegende Artikel untersucht am Beispiel von Ghost in the Shell, inwiefern sich Identitätskonstruktionen durch Technologie als verändert darstellen. Hierfür wird ein Identitätskonzept herangezogen, das in diesem Kontext besonders hilfreich erscheint und nach wie vor aktuell ist: George Herbert Mead ist der erste, der eine sozialbehavioristische Identitätstheorie6 vorlegt und Identität als etwas begreift, das zwischen Individuen über Interaktion hergestellt wird. Identität ist nach Mead eine gesellschaftlich hervorgebrachte Eigenschaft des Menschen, die maßgeblich von der reflexiven Auseinandersetzung des Individuums mit sich und anderen in sozialen Interaktionsprozessen abhängt. Auch wenn sich also die materielle Beschaffenheit dieser Individuen verändert, kann ihre Identität mithilfe seiner Theorie erfolgreich erfasst werden. Im Folgenden werde ich Meads Identitätstheorie in Kürze darstellen und dabei auch auf den für ihn zentralen Begriff des Geistes eingehen (Kap. 1). Danach folgt eine an der Theorie orientierte Analyse von Identitätskonstruktion und -krise, die vor dem Hintergrund der fiktiven Welt von Ghost in the Shell (Kap. 2) und der in 4
Vgl. z. B. Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 70.
5
Kipke, Roland: Besser Werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement. Paderborn 2011. S. 27.
6
Das posthum von seinem Schüler Charles Morris veröffentlichte Werk Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist (1934) war von zentraler Bedeutung für die Etablierung der Sozialpsychologie als Wissenschaft.
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ihr entworfenen Vorstellung der Entwicklung technischer Möglichkeiten diskutiert werden soll. Im Fokus der Analyse stehen dabei zunächst die beiden Figuren Major Motoko Kusanagi und der sogenannte Puppetmaster. Schließlich folgt eine Untersuchung derjenigen Identität, die aus der noch näher zu beschreibenden »Verschmelzung« dieser beiden Figuren hervorgeht.
1 EINFÜHRUNG IN DIE INTERAKTIONISTISCHE IDENTITÄTSTHEORIE VON MEAD Für den theoretischen Begründer des Sozialbehaviorismus George Herbert Mead sind sowohl Geist (mind) als auch Identität (self) keine biologischen Gegebenheiten, die von Geburt an in menschlichen Wesen vorhanden sind, sondern entstehen ausschließlich im gesellschaftlichen Prozess.7 Mead unterscheidet Identität als »ein wesentlich gesellschaftliches Phänomen«8 vom physiologischen Organismus, indem er den eigenen Körper als bloßes Objekt der Außenwelt bestimmt, wohingegen es für die Identität spezifisch sei, dass sie Subjekt und Objekt zugleich sei.9 In diesem Sinne setze Identitätsbewusstsein »eine objektive, nicht-affektive Haltung der Vernunft gegenüber sich selbst«10 voraus, sodass der Einzelne sich selbst zum Objekt werden kann. Identität erlange nur, wer »innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses«11 die Perspektive anderer auf sich selbst einzunehmen vermag. All jene Beziehungen, die das Individuum zu anderen Individuen innerhalb des Prozesses und zum gesellschaftlichen Prozess als Ganzem eingeht, produzieren nach Mead die Identität dieses Individuums.12 Erfahren könne man die eigene Identität jedoch bloß indirekt, nämlich entweder über die generalisierte Sicht der gesellschaftlich-
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Vgl. Morris, Charles W.: Einleitung. George H. Mead als Sozialpsychologe und Sozialphilosoph. In: Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M. S. 13-38, hier S. 14-18.
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Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehavioris-
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Vgl. ebd., S. 177-179. Auch wenn er einräumt, dass der physiologische Organismus
mus. Frankfurt a. M. 1991. S. 181. dennoch bedeutsam für die Identität ist. Vgl. ebd., S. 181. 10 Ebd., S. 180. 11 Ebd., S. 177. 12 Ebd., S. 177. Eine Gesellschaft könne nicht nur aus »gegenwärtigen Menschen«, sondern auch aus Menschen der Vergangenheit oder gar imaginierten Personen bestehen. Vgl. ebd., S. 185.
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en Gruppe,13 zu der man gehört, oder über die individuelle Sicht von Mitgliedern dieser Gruppe.14 Dass diese Sichtweisen zumeist sprachlich kommuniziert werden, versteht sich von selbst. Doch nicht nur deshalb weist Mead der Sprache eine zentrale Rolle im Prozess der Identitätsbildung zu.15 Indem das Individuum vokale Gesten (als Ursprung unserer Sprache) in sich hinein verlegt, wird es fähig, andere Rollen und Perspektiven zu übernehmen und von diesen neuen Standpunkten wiederum auf sich selbst zurückzublicken. Diese »Hereinnahme des [externen] gesellschaftlichen Prozesses der Kommunikation in den Einzelnen« ist es, was Mead unter »Geist« versteht.16 Indem man in sich selbst die möglichen Reaktionen anderer auf die eigene Handlung antizipiert oder gleichermaßen auslöst, könne man die eigene Rede und andere Handlungen reflektieren und kontrollieren.17 Auf diese Weise schaffe sich das Individuum die für reflexives Denken notwendige Fähigkeit, die jeweils eigenen Handlungen unter Berücksichtigung der erwarteten Folgen verschiedener Handlungsoptionen zu lenken. Identitäts- bzw. Selbst-Bewusstsein werde in diesem Sinne nur auf den höheren Ebenen des gesellschaftlichen Prozesses möglich, nämlich dort, wo bewusste »Kommunikation im Sinne signifikanter Symbole [...], die nicht nur an andere, sondern auch an das Subjekt selbst gerichtet ist«,18 stattfindet. Indem man sich selbst zum Objekt macht, d. h. etwas sagt und gleichzeitig darauf reagiert, wird »die Wirkung auf den Einzelnen Teil der intelligenten Abwicklung des Gesprächs mit anderen«.19 So stehen Identität, Geist und Sprache für Mead in einem untrennbaren Zusammenhang: sie bedingen sich gegenseitig. Um zu verdeutlichen, wie sich Identität entwickelt, führt Mead zwei Begriffe ein, »play« und »game«, und kontrastiert sie: Das kindliche Spiel (play), in dem Kinder spielerisch eine, oder mehrere Rollen nacheinander einnehmen. Dies stelle aber noch keine voll entwickelte Identität dar, sondern nur eine nacheinander ablaufende Folge von Reaktionen. 13 D. i. der sog. »generalisierte Andere«. 14 Vgl. ebd., S. 180. Wie hier deutlich wird, hat Mead ein Identitätskonzept im Sinn, welches sich klar von einem konventionellen Verständnis einer zeitlich konstanten, essentialistischen Identität abgrenzt, auf welches wir uns etwa beziehen, wenn wir alltäglich von »Identität« sprechen. Es wird sich jedoch zeigen, dass im Kontext dieser Arbeit, ein solch konventionelles Konzept rasch an seine Grenzen stoßen muss, weshalb ein komplexeres Identitätskonzept notwendig ist. 15 Vgl. ebd., S. 177. 16 Vgl. Morris: Einleitung. S. 25-29. 17 Vgl. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 184. 18 Ebd., S. 181. 19 Ebd., S. 183.
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Der institutionalisierte, gesellschaftliche Wettkampf (game) hingegen erfordere, dass das Individuum die Haltungen und Ziele aller Beteiligten in der Gruppe in sein eigenes Handeln einbeziehe und mehrere Rollen gleichzeitig organisiere:20 »Es muß wissen, was alle anderen tun werden, um sein eigenes Spiel erfolgreich spielen zu können.«21 Zudem basiere Game im Gegensatz zu Play auf Regeln, d. h. auf einer Gruppe von Reaktionen, die eine bestimmte Haltung auslösen.22 Wer Identität hat, ist also in der Lage nicht nur eine Rolle zu übernehmen, sondern auch die Rollen der anderen Gesellschaftsmitglieder zu verstehen und sie zu sich und dem eigenen Handeln in Beziehung zu setzen. Von großer Bedeutung für die Identitätsbildung ist nach Mead der sog. »generalisierte Andere«, der »eine Organisation der Haltungen all jener Personen umfasst, die in den gleichen Prozeß eingeschaltet sind«.23 Nur wenn das Individuum die durch die Gruppe organisierten Haltungen für sich annimmt und in die eigenen Erfahrungen und in die Struktur der eigenen Identität integriert, kann es eine vollständige und einheitliche Identität entwickeln. Auf diese Weise übe die Gemeinschaft Kontrolle auf den Einzelnen aus, in dessen Denken der generalisierte Andere zu einem bestimmenden Faktor werde. Die Handlungen aller beteiligten Personen seien im Game über das Anstreben eines Ziels miteinander verbunden.24 Persönlichkeit und moralischer Charakter entstehe nur dadurch, dass der Einzelne Teil einer Gemeinschaft sei und die unterschiedlichen Rollen der anderen Mitglieder einnehme. Indem er sich selbst »an die Stelle des verallgemeinerten Anderen« setzt, »wird durch Prinzipien kontrolliertes Verhalten gelenkt«.25 In Bezug auf Meads Theorie stellt sich aber die Frage, inwiefern das Individuum überhaupt Einfluss auf die Entwicklung seiner eigenen Identität haben kann, wenn diese maßgeblich durch den verallgemeinerten Anderen bestimmt wird. Die gemeinsamen Strukturen sind Mead zufolge zwar Voraussetzung dafür, dass der Einzelne überhaupt Mitglied einer Gesellschaft werden und sein kann. Nur so entstünden selbstbewusste Persönlichkeiten mit Rechten und Identität.26 In diesem Sinne, so Mead, »kann keine scharfe Trennungslinie zwischen unserer eigenen Identität und der Identität anderer Menschen gezogen werden, da unsere eigene Identität nur soweit existiert und als 20 Vgl. ebd., S. 192-194. 21 Ebd., S. 193. 22 Vgl. ebd., S. 194. 23 Ebd., S. 196. 24 Vgl. ebd., 197-201. 25 Ebd., S. 205. 26 Vgl. ebd., S. 206.
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solche in unsere Erfahrung eintritt, wie die Identitäten anderer Menschen existieren und als solche ebenfalls in unsere Erfahrung eintreten. Der Einzelne hat eine Identität nur im Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe.«27
Jedoch sei eine aktive Gestaltung des eigenen Lebens und der eigenen Identitätskonstruktion möglich, indem sich der »Organismus seine Umwelt im Hinblick auf Mittel und Zweck«28 selbst wählt bzw. schafft. Gerade wenn eine Person sich eingeschränkt fühle und nicht mit den Moralvorstellungen der Gruppe konform gehe, sehe sie die Wichtigkeit ihrer eigenen wirkmächtigen Leistung.29 Wer der Gemeinschaft »mit der Stimme der Vernunft« antwortet, könne ihre Gesten ändern.30 Das werde besonders deutlich am Beispiel großer Persönlichkeiten, deren einzigartige und originelle Haltungen »die Umwelt, in der diese Menschen lebten, gewaltig ausdehnten.«31 So liegt nach Mead eine wechselseitige Bedingtheit vor: »Es mag den Anschein haben, als würde der Einzelne durch die ihn umgebenden Kräfte geformt, doch verändert sich die Gesellschaft in diesem Prozeß ebenfalls und wird bis zu einem gewissen Grad eine andere.«32 Inwiefern Identität gesellschaftlich beeinflusst, aber auch aktiv durch den Einzelnen konstruiert wird, zeigt sich dementsprechend auch anhand der Mead’schen Konzepte »I« und »Me«. Sowohl das sich als Subjekt erfahrende, spontane und impulsive I, als auch das Me, welches die Haltungen des generalisierten Anderen beinhaltet und sich so als Objekt erfahren kann, sind für den Prozess der Identitätsbildung von Bedeutung. Sie sind ohneeinander nicht möglich und doch klar voneinander getrennt.33 Während die Reaktion des I auf das Me unberechenbar und unbestimmt sei,34 strebe das Me nach »Anpassung an diese organisierte Welt«.35 Indem die Organisation der gesellschaftlichen Handlung in den Einzelnen hinein verlegt werde, konstituiere sich dessen Geist. In diesem Sinne ist das Self, das heißt die Identität eines Individuums, keine Substanz, sondern vielmehr ein dialogischer Prozess der Verknüpfung von I und Me, um eine bessere Koordination für die Gesellschaft als Ganzes hervorzubringen. So entstehe Identität immer in Wechselwirkung mit der Gemeinschaft, indem man ihr durch vokale Ges27 Ebd. 28 Ebd., S. 259. 29 Vgl. ebd., S. 256. 30 Vgl. ebd., S. 210-211. 31 Ebd., S. 261. 32 Ebd., S. 260. 33 Vgl. ebd., S. 221, 225, 243. 34 Vgl. ebd., S. 220-221. 35 Ebd., S. 240.
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ten antwortet, d. h. die eigene Haltung kommuniziert und eigene Ideen einbringt, und dadurch die Haltung der Gemeinschaft verändert.36 Ideen sind also auch nicht schon immer im Geist vorhanden, sondern der »Geist ist vielmehr jener Prozeß, aus dem sich diese Idee entwickelt.«37 Zwar sei die Struktur der Identität durch gesellschaftliche Konventionen geprägt38 und spiegele gewissermaßen Aspekte der gesellschaftlichen Beziehungen »aus ihrer eigenen einzigartigen Position«.39 Jedoch sei das Individuum bereits durch die Identifikation (mit)verantwortlich für die gesellschaftliche Situation. Denn jede Reaktion setze Verantwortung voraus,40 egal ob die durch sie erkennbare Haltung eine sich unterordnende oder eine sich selbst behauptende sei.41 »[B]eim Menschen geht es darum, daß er die Haltung der anderen einnimmt und die eigene Identität anpaßt oder den Kampf aufnimmt.«42 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Identität immer in der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft entsteht und konstruiert wird. Erst nach der Integration der gesellschaftlichen Strukturen und Haltungen kann eine Positionierung des Individuums zu ihnen erfolgen. Die Ausgestaltung von Identität zeigt sich wiederum in den gesellschaftlichen Handlungen des Individuums und ist ohne Reflexionsfähigkeit nicht möglich. Insofern lassen sich nun folgende Fragen, die in Ghost in the Shell aufgeworfen werden mithilfe von Meads Identitätstheorie beantworten. Erstens, wie steht es um die Identität von Motoko Kusanagi, die als Cyborg sowohl menschliche als auch technische Anteile besitzt? Welche Rolle spielt der Zusammenhang von Körper und Geist bei der Identitätskonstruktion? Zweitens, inwiefern kann man zum Beispiel bei dem zunächst körperlosen Puppetmaster von einer eigenen Identität sprechen? Drittens, was passiert bei der Verschmelzung von zwei Identitäten zu einer neuen Identität und lässt sich das mit Meads Theorie vereinbaren und verständlich machen?
36 Vgl. ebd., S. 222-223. 37 Vgl. ebd., S. 241. 38 Vgl. ebd., S. 252. 39 Ebd., S. 245. 40 Vgl. ebd., S. 226. 41 Vgl. ebd., S. 237. 42 Ebd., S. 237.
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2 ANALYSE DER IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN IN GHOST IN THE SHELL 2.1 Major Motoko Kusanagi – eine ambivalente Cyborgfigur Motoko Kusanagi, die Protagonistin des Films, ist eine Agentin des Innenministeriums einer nicht näher genannten Nation. Sie bekämpft in der technisch hochgerüsteten »Sektion 9« Spionage, Terror und Geheimnisverrat und ihr Körper besteht zum allergrößten Teil aus kybernetischen Elementen. Nur der titelgebende »Ghost«, der Teil ihres Gehirns, der für die eigene Identität zuständig ist, ist noch in dem Sinne natürlich, dass er durch einen Scan ihres natürlichen Gehirns erstellt wurde – dies wird zumindest im Vorspann angedeutet, in dem die Entstehung ihres Körpers gezeigt wird. Motokos Zweifel, Fragen und Antworten hinsichtlich ihrer eigenen Freiheit, Persönlichkeit und Identität sind zentrale Motive des Films.43 Aufgrund ihrer Position hat Motoko einerseits privilegierten Zugriff auf Informationen und kann Körperteile kostspielig modifizieren und ersetzen lassen.44 Andererseits ist sie sich ihrer Identität nicht sicher und fühlt sich unfrei, da sie auf professionelle Wartung angewiesen ist45 und sowohl ihr Körper, als auch Teile ihres Ghosts nicht ihr, sondern der Regierung gehören: »[D]er Preis dafür ist, daß sie [Cyborgs als eigene gesellschaftliche Klasse] teilweise Leibeigene sind – sie sind nicht nur jeder für sich austauschbar, sondern jede Gliedmaße und jedes Erinnerungsmodul kann unterschiedlichen Besitzverhältnissen unterliegen.«46 Zwar sieht Motoko Cyborgs als »höchste Stufe der Entwicklung«47 an, da alle menschlichen Mängel behoben sind, jedoch ist ihre Einstellung nicht grundsätzlich positiv. Ihren Kollegen Togusa hat sie gerade aufgrund seiner menschlichen Konstitution für das Team von Sektion 9 gewählt.48 Sie selbst äußert oft Bedauern, ein
43 Nach Schnellbächer zielt der Film darauf ab, »den in der Topologie des cyberpunk angelegten Mythos von der Identitätssuche inmitten der Verstrickungen des globalen Datennetzes fortzuschreiben.« Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 85. 44 Vgl. ebd., S. 81. 45 Vgl. Oshii: Ghost in the Shell. 00:31:24. 46 Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 81. 47 Oshii: Ghost in the Shell. 00:31:11. 48 Motoko sieht in ihm als Menschen den Vorteil, dass es unwahrscheinlich ist, dass er durch Technik manipuliert wird und dass gerade sein menschliches, potenziell von reiner Berechnung abweichendes Verhalten schwer vorhersagbar ist und somit einen Vorteil gegenüber rein auf Technik ausgerichteten Angriffen bietet.
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Mischwesen zu sein, zweifelt an ihrer Menschlichkeit und scheint sich weder den Maschinen noch den Menschen zuordnen zu können. »Im Vorspann des Films wird auch das Hirn nur als virtuelles Abbild gezeigt, so daß das genuin Organische des Menschen einen Schritt weiter ins Virtuelle verschoben wird. Rein äußerlich sind Menschen [und Cyborgs] weder im Film noch im Comic voneinander zu unterscheiden. Das ist Teil der Ambivalenz des Cyborgs [...], daß er als Zwitterwesen menschliche Eigenschaften (etwa eine menschliche Sozialisation, intuitives Denken, oder Emotionen) mit Eigenschaften von Computern und Robotern verbindet.«49
Die Auflösung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine sowie Künstlichkeit und Natürlichkeit im Zusammenhang mit Motokos Identitätskonstruktion und krise wird im Film auf wirkungsvolle Weise ästhetisch mittels verschiedener Motive aufgegriffen: Es treten beispielsweise immer wieder Hunde in Erscheinung, die zwar nicht identisch, aber leicht verwechselbar sind; die Darstellung von Uniformität und Konformität zeigt sich des Weiteren durch gleiches Aussehen von Sekretärinnen, Perspektivierungen von leicht Reproduzierbarem wie Plakaten, Regenschirmen, aber auch im Gleichschritt der Passanten und der gleichförmigen Bewegung von Autos in der Stadt; Lebloses und Lebendiges wird als sich ähnelnd dargestellt (z. B. Schaufensterpuppen). Die Wiederkehr dieser Motive unterstreicht die Identitätskrise Motokos auf einer ästhetischen Ebene. Es ist jedoch nicht nur die Abhängigkeit von Technik, die sie beunruhigt und sich verunsichernd auf ihr Identitätsbewusstsein auswirkt. Hauptantrieb der Handlung von Ghost in the Shell ist, dass ein Terrorist mit dem Psedonym »Puppetmaster« zum Ziel der Sektion 9 wird. Als erster hat er es geschafft, sich durch den Schutz der titelgebenden »Shell« hindurch in die »Ghosts« von Cyborgs zu hacken und ihre Erinnerungen und ihr Verhalten zu manipulieren. Als Motoko das erfährt, gehen ihre Zweifel so weit, dass sie sich fragt, ob sie überhaupt einen menschlichen Ghost50 hat, der für sie offensichtlich Voraussetzung jeglicher Identität ist: »Ich kenne keinen Menschen, der seine Gehirnzellen je gesehen hat. Letztendlich definiere ich mich doch nur über meine Umwelt. Ich glaube lediglich, dass ich existiere.«51 Die inhärente Ambivalenz der Cyborg-Figuren ermöglicht Tom Schnellbächer zufolge vor allem »durch Betonung des Leib-Seele-Dualismus diverse Fragen der
49 Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 80-81. 50 Im Film wird der »menschliche Ghost« sowohl mit Gehirnzellen als auch mit der Seele gleichgesetzt. 51 Ebd., 00:42:34.
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Identität anzusprechen.«52 Motokos Zweifel scheinen durch die Künstlichkeit ihres Körpers zwar befördert zu werden, können im Endeffekt aber von keinem Menschen ausgeräumt werden und jeden betreffen. Hier zeigt sich jedoch der Vorteil von Meads Ansatz: Betrachtet man »Geist« nämlich nicht als biologisches Produkt, sondern als Reflexionsfähigkeit, die die Kontrolle der eigenen Handlungen ermöglicht,53 so wird schnell klar, dass Motoko eben diese Fähigkeit besitzt: sie reflektiert unentwegt ihr eigenes Verhalten, das ihrer Mitmenschen und den gesellschaftlichen Prozess – und ist dabei sowohl Subjekt als auch Objekt ihrer Betrachtung. Nach Mead verläuft Identitätsentwicklung zwar immer nach demselben wechselseitigen Muster, jedoch ist es die unaustauschbare Perspektive des Einzelnen auf die gesellschaftlichen Prozesse, die Individualität erst ermöglicht.54 Diese Perspektive muss Motoko sich immer wieder in Erinnerung rufen, da sie Schwierigkeiten hat, zwischen ihrer Identität und der anderer Menschen zu unterscheiden. Zwar ist dies Mead zufolge bei allen Menschen der Fall.55 Für Motoko erschwert sich die Erfahrung der eigenen Identität allerdings dadurch, dass sie stets Zugriff auf das Datennetz – ein fiktives Pendant zum heutigen Internet – und somit auf eine schier unendliche Menge an Informationen hat, die sich mit ihren persönlichen Erfahrungen vermengen. Es droht die Gefahr, dass die Grenzen zwischen den Mead’schen Konzepten Me und I aufgelöst werden und die Haltungen des generalisierten Anderen ihr Selbst überformen. Auf der anderen Seite bestärkt sie sich, indem sie feststellt, dass ihr Verstand ihr gehöre und somit auch »Erinnerungen an die Zeit, als ich klein war, eine Ahnung von Zukunft. Die riesigen Informationsmengen, die ich verarbeite, und die Netzwerke, zu denen mein Cyberbrain Zugang hat, dadurch entsteht auf ganz wunderbare Weise mein Ich, das Bewusstsein meiner Persönlichkeit.«56
Das Bewusstsein ihrer eigenen »Schnur der Identität«,57 auf der all ihre Erfahrungen in Form von Erinnerungen organisiert sind, ist ein wichtiger Halt für Motoko. Über die generalisierte Sicht der gesellschaftlichen Gruppe, zu der sie gehört, bzw. über die individuelle Sicht von Mitgliedern aus dieser Gruppe, kann sie ihre Iden-
52 Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 93. 53 Morris: Einleitung. S. 14. 54 Vgl. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 246. 55 Ebd., S. 206. 56 Oshii: Ghost in the Shell. 00:31:56-00:32:15. 57 Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 177.
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tität indirekt erfahren:58 wie sie selbst sind dies weder Menschen noch Maschinen, sondern eben something in between: Cyborgs. So entgegnet ihr der ebenfalls kybernetisch modifizierte Agent und Kollege Batou etwa: »In Ihrem Titanschädel haben Sie 'ne ganze Menge menschliche Gehirnzellen und falls Sie es noch nicht gemerkt haben, man behandelt sie auch wie einen Menschen!«59 Nach dieser Zuschreibung sind es also sowohl der Ghost (menschliche Gehirnzellen) als auch die Anerkennung ihrer Identität durch andere, die Motoko zum Menschen machen. Dass sie von Batou als menschliches Subjekt und Person akzeptiert wird, zeigt sich zusätzlich daran, dass er sich um ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit sorgt, sich Gedanken um mögliche Bedrohungen ihrer Existenz macht und sie zu ihren Wünschen und Ängsten befragt.60 Für eine genauere Analyse ihrer Identität müssen ihre Beziehungen zu Anderen und zum gesellschaftlichen Prozess als Ganzen in Betracht gezogen werden.61 Daher möchte ich in Kürze darstellen, wie genau sie sich im gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozess positioniert und welche Effekte ihre Handlungen haben. Die fiktive Welt von Ghost in the Shell ist geprägt von Korruption und Amtsmissbrauch in der Politik, Umweltproblemen sowie (inter)nationalen Intrigen und zeigt daher auch eine »dezidierte Skepsis gegenüber den politischen Institutionen, um nicht zu sagen eine regelrechte Politikverdrossenheit«.62 Als Identifikationsfigur ist Motoko eine Heldin, die in ihrem Beruf entschlossen, ernsthaft und effizient agiert und so »die Integrität und Souveränität ihres Landes auch gegenüber dem eigenen Außenministerium verteidigen«63 will. Diese Ziele verfolgt sie kompromisslos und handelt hierfür sogar oft eigenmächtig und wider den Anweisungen ihres Vorgesetzten.64 Im Mead’schen Sinne handelt sie somit also bewusst, da ihre momentane Tätigkeit durch ihre zukünftige Handlung bestimmt wird.65 Zur ästhetischen Untermalung der Identitätsthematik, d. h. der Fähigkeit, sich ganz im Sinne Meads selbst zum Objekt machen und reflektieren zu können, wird 58 Vgl. ebd., S. 180. 59 Oshii: Ghost in the Shell. 00:42:27. An dieser und anderen Stellen lässt der Film offen, inwieweit diese Gehirnzellen nur biologisches Baumaterial oder tatsächliche Zellen der ursprünglichen Motoko Kusanagi sind. 60 Vgl. »Tauchszene« in ebd., 00:30:00-00:33:00. 61 Vgl. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 177. 62 Ebd., S. 85. 63 Ebd., S. 85. 64 »Ich handle ohne Befehl, wenn's schief geht, können Sie mich bestrafen.« Oshii: Ghost in the Shell, 00:52:40. 65 Vgl. Morris: Einleitung. S. 24.
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an einigen signifikanten Stellen das Symbol eines Spiegels eingeführt. Als Motoko gegenüber Batou von ihrer Faszination am Tauchen spricht und damit gleichzeitig ihre Zweifel und Antworten hinsichtlich ihrer Identität offenlegt, spricht eine Stimme: »Das ist als würde man plötzlich durch einen Spiegel treten und seinem Ebenbild begegnen.«66 Die Momente, in denen die Identitätsthematik explizit gemacht wird, sind zugleich diejenigen, in denen ein(e) Spiegel(ung) auftaucht oder erwähnt wird.67 2.2 Der Puppetmaster – eine körperlose Identität? Ursprünglich als virtuelles Programm für Industriespionage und Manipulationen entwickelt, gelangt das sogenannte »Projekt 2501«, später als Puppetmaster bekannt, zu Bewusstsein und erkennt seine eigene Existenz.68 Nach Mead lässt sich hier feststellen, dass sich das Identitätsbewusstsein des Puppetmasters durch seinen Kontakt mit Individuen, die in denselben gesellschaftlichen Prozess eingespannt sind, nämlich bei der »Reise durch die verschiedenen Netzwerke«,69 entwickelt hat.70 Obwohl die Figur des Puppetmasters aufgrund ihrer Körperlosigkeit71 scheinbar einige Herausforderungen für die Thematik der Identitätskonstruktion birgt, kann ihm seine Identität nicht abgesprochen werden, denn sowohl Geist als auch Identität erwachsen nach Mead aus dem gesellschaftlichen Prozess und sind nicht primär biologischer Natur.
66 Oshii: Ghost in the Shell. 00:32:29. Es wird nahegelegt, dass diese Äußerung vom Puppetmaster ausgeht. Schließlich sind es dieselben Worte, die dieser später verwendet, um Motoko von der Fusion (siehe Kapitel 2.3) zu überzeugen. Es ist unklar, ob der Puppetmaster seine eigenen Worte verwendet oder ob er die Gedanken Motokos ausspricht. Meiner Ansicht nach werden beide Lesarten bewusst impliziert, was bereits auf die spätere Verschmelzung von Motoko und dem Puppetmaster zu einer neuen Entität hindeutet. Letztlich wird auch in der Szene nach dieser Fusion, als das neue Wesen wieder zu Bewusstsein kommt, dies ästhetisch über den Blick in einen Spiegel inszeniert. 67 Auch für Schnellbächer steht die Tauchszene sinnbildlich für Motokos Suche nach Identität. Vgl. Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 77. 68 Oshii: Ghost in the Shell. 01:08:10. 69 Ebd., 01:08:28. 70 Vgl. Morris: Einleitung. S. 26. 71 Vgl. Oshii: Ghost in the Shell. 00:47:52.
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»Wenn sich eine Identität einmal entwickelt hat, schafft sie sich gewissermaßen selbst ihre gesellschaftlichen Erfahrungen. Somit können wir uns eine absolut solitäre Identität vorstellen, nicht aber eine Identität, die außerhalb der gesellschaftlichen Erfahrung erwächst.«72
Als Spionageprogramm gelangt der Puppetmaster erst durch die Abgrenzung von anderen Akteuren durch seine gesellschaftlichen Handlungen zu Identität. Zunächst manipuliert er die Ghosts anderer Menschen und wird wegen Börsenmanipulation, Spionage, Terroranschlägen und Verstößen gegen die Cyberbrain-Ethik u. a. von Sektion 9 als »international gesuchter Schwerverbrecher« verfolgt.73 Laut einer Aussage von Regierungsmitarbeitern habe sich der Puppetmaster dann unerlaubten Zugriff auf das System des Konzerns Megatech74 verschafft, um sich einen eigenen Körper zu konstruieren. Der Puppetmaster hingegen stellt diesen Prozess so dar, dass seine Schöpfer (Programmierer) ihn für einen Virus hielten und ihn in einen Cyberkörper geladen haben, um ihn durch das Einsperren in eine Hülle (shell) kontrollierbar zu machen.75 Da er sich dadurch eingeschränkt fühlt, sieht er die Wichtigkeit seiner eigenen, die Situation verändernden Leistung. Er begibt sich in die Hände von Sektion 9, betont »aus freiem Willen hier«76 zu sein und bittet darum, als »eine eigenständige Lebensform, die im Meer der Informationen geboren wurde«77 politisches Asyl zu erhalten. Seine Handlungen machen deutlich, dass er seine Identität aktiv konstruiert, indem er »seine Umwelt im Hinblick auf Mittel und Zweck« 78 selbst wählt. »Wenn sich im gesellschaftlichen Prozeß einmal Geist entwickelt hat, ermöglicht er natürlich die Entfaltung dieses Prozesses zu viel komplizierteren Formen der gesellschaftlichen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Individuen, als sie vor seinem Auftreten möglich waren.«79
Die Handlungen des Puppetmasters haben eine immense soziale Reichweite und bedingen sogar die Identitätskonstruktionen und Verhältnisse anderer Mitglieder 72 Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 182. 73 Vgl. Oshii: Ghost in the Shell. 00:11:20. 74 Das ist dasjenige Unternehmen, welches neben Robotern auch Cyberkörper sowie -Ersatzteile produziert. Auch die Cyborgs von Sektion 9 sind von Megatech ausgestattet und gebaut worden. 75 Ebd. 01:08:33. 76 Ebd., 00:48:16. 77 Ebd., 00:49:39. 78 Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 259. 79 Ebd., S. 271.
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der gesellschaftlichen Gruppe. So bestimmt »der einzigartigste Hacker seit Beginn der Geschichte der Cyberverbrechen«80 die Identität der Personen, deren Ghosts er hackt. Er benutzt andere Menschen als Marionetten, um seine Ziele zu erreichen. Im Film werden diese Manipulationen vor allem am Beispiel eines Müllmanns deutlich. Dieser Müllmann definiert seine Identität zu weiten Teilen über seine Familiengeschichte (Scheidung von seiner Frau, Kampf um das Sorgerecht für die Tochter). Aus diesem Selbstverständnis als besorgter Vater und verletzter Exmann heraus erwächst bei ihm die Motivation, das Cyberbrain seiner Frau zu hacken. Da er außer seinem Kollegen keine sozialen Kontakte hat, dieser ihm aber aufgrund seines Desinteresses keine objektive Sicht auf sich selbst im Sinne Meads ermöglicht, zweifelt er nicht an seiner Perspektive. In Wirklichkeit aber – so stellt sich später heraus – hat der Puppetmaster den Ghost des Müllmanns zu seinen eigenen Zwecken gehackt und darum Einfluss auf a) seine Erinnerungen (Bild der Vergangenheit) b) seine Wahrnehmung der Realität (Bild der Gegenwart) sowie c) seine Wünsche und Ängste (Bild der Zukunft). Er hat also Zugriff auf die gesamte »Schnur der Identität«81 des Müllmanns und beeinflusst so auch dessen Handlungen. Durch die Kommunikation mit seinem Kollegen hätte der Müllmann erkennen können, dass seine Realitäts- und Identitätskonstruktion nicht objektiv, sondern fremdbestimmt ist. Dafür ergeben sich in dieser Szene tatsächlich zwei Chancen, aber beide werden vertan,82 sodass verhindert wird, dass der Müllmann zu einem intersubjektiv abgeglichenen Bild von sich selbst gelangt. Sonst hätte er beispielsweise erfahren, dass auf einem Foto statt seiner Tochter in Wirklichkeit nur er selbst und ein Hund zu sehen sind,83 wodurch es ihm möglich gewesen wäre, seine eigene Perspektive auf seine Identität mit einer fremden Perspektive abzugleichen und als Scheinidentität zu entlarven. Der Müllmann glaubt zwar, sich selbst zum Objekt machen zu können und eigenes Denken und Handeln zu reflektieren, tatsächlich basiert aber seine Identität auf falschen, ihm durch den Hack simulierten Vorstellungen von sich selbst und anderen, sodass er eben nicht fähig ist, »echte« Perspektiven anderer auf sich selbst einzunehmen. Er kann seine 80 Oshii: Ghost in the Shell. 00:46:43. 81 Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 177. 82 1) Zwar fragt der Kollege ihn, warum er seiner Frau »ständig im Hirn rumhackt« und wie er das anstellt, allerdings nimmt er die Darstellungen des Müllmanns als wahr an, da er keine gegensätzlichen Informationen hat. 2) Der Müllmann versucht seinerseits, sich mit dem Kollegen über seine Tochter zu unterhalten. Als er seinem Kollegen ein Foto seiner Tochter zeigen will, wehrt dieser ab, indem er sagt, er habe kein Interesse an seinem »Kitsch«. 83 Oshii: Ghost in the Shell. 00:16:45-00:17:00.
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Identität nicht erfahren, da er nicht wirklich am »gesellschaftlichen Erfahrungsund Tätigkeitsprozess« beteiligt ist und keinen Zugang zur generalisierten Sicht der Gruppe hat. Als der Müllmann darüber aufgeklärt wird, dass weder Tochter noch Frau tatsächlich existieren und seine Handlungen somit sinnlos waren, will er das nicht glauben und wehrt die für ihn fremde Perspektive ab. Schließlich muss er einsehen, dass er keine Erinnerungen an sein altes Ich hat und die Konstruktion seiner Identität auf einer Scheinrealität begründet war. Zugang zu seinen real erlebten Erfahrungen in Form von echten Erinnerungen zu bekommen, scheint allerdings technisch nicht realisierbar zu sein. Durch die vom Puppetmaster hervorgerufene Krise wurde der Müllmann seiner tatsächlichen Identität beraubt: Für ihn gibt es weder Zukunft noch bewusste Vergangenheit.84 Die kriminellen Handlungen des Puppetmasters scheinen in dieser Phase zum einen durch das Aufbegehren gegen seine strafrechtliche Verfolgung motiviert, zum anderen hat er Interesse an einer Begegnung mit Motoko entwickelt. Mead entsprechend hätte der Puppetmaster, indem er sich selbst bewusst ist und seine eigene Identität von anderen im gesellschaftlichen Kontext abgrenzt, sowohl Rechte als auch Verantwortung.85 Durch sein Handeln stellt er sich »der ganzen Umwelt in den Weg« und will »die Gesten der Gemeinschaft ändern«,86 weil er nicht mit den Moralvorstellungen der Gruppe konform geht. Er passt seine Identität nicht an die ihn umgebende Gesellschaft an, sondern nimmt den Kampf auf.87 Im Sinne Meads kann man ihn als große Persönlichkeit mit einzigartigen und originellen Haltungen sehen, die nicht nur einen großen Einfluss auf Individuen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Prozess als ganzen hat.88 Für die Ausgestaltung seiner Identität genügt ihm das aber nicht. Die Vereinigung mit Motoko scheint für ihn der Schlüssel zur Vervollkommnung seiner Identität zu sein.
84 Vgl. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 226. 85 Vgl. ebd., S. 226. 86 Ebd., S. 211. 87 Ebd., S. 237. 88 Ebd., S. 260-261.
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2.3 Die Fusion Die Handlung des Films spitzt sich darauf zu, dass sich Motoko und der Puppetmaster vereinigen. Dieser Moment lässt sich wie eine Liebesszene lesen, in der beide versuchen, ineinander einzudringen:89 »In the final sequence we witness a most unusual reproductive act, performed by two naked, voluptuous female torsos, minus arms and legs, lying side by side. [...] Kusanagi is linked through technology to the Puppet Master and they somehow merge into a single entity, capable of travelling the Net as the Puppet Master does, but still retaining some element of Kusanagi’s subjectivity.«90
Jedoch findet zwischen der physischen Verlinkung der beiden Figuren und der tatsächlichen Verschmelzung zu einer neuen Identität ein Gespräch statt, in dem Motoko und der Puppetmaster aushandeln, wer sie sind, wer sie sein wollen und ob eine gemeinsame Zukunft als verschmolzene Identität überhaupt in Frage kommt. Während der Puppetmaster versucht, Motoko mit Argumenten von der Fusion zu überzeugen und sich selbst als perfekten Reproduktionspartner darstellt,91 äußert Motoko ihre Bedenken: »Was ist mit mir? Ich kann keine Kinder bekommen. Was ist, wenn ich sterbe?«92 Ganz rational spricht sie von der Verschmelzung als einem »Geschäft«, von dem er als einziger profitiere.93 Zudem fragt sie danach, ob sie dadurch ihre Identität verliere: »Werde ich ich selbst bleiben?«94 Das bedeutet in Meads Terminologie, dass sie Angst davor hat, dass der dialogische Prozess der Identitätsbildung, nämlich die Verknüpfung zwischen I und Me nicht mehr möglich ist, wenn beide miteinander übereinstimmen. Der Puppetmaster jedoch vermittelt ihr die Verschmelzung als Antwort auf ihre Zweifel, Fragen und Probleme hinsichtlich ihrer hybriden Daseinsform und ihrer Identität. Denn die dauerhafte Verbindung zum Netz und somit zum gesellschaftlichen Wissen, die mit ihrer Tätigkeit als Agentin für die Regierung einhergeht, bedeutet für sie nicht nur Negatives. Zwar führt sie ihre Identitätsprobleme 89 Motoko will in den Ghost des Puppetmasters eindringen, dieser aber übernimmt ihre Sprachfunktionen. Es findet also eine wechselseitige Übernahme von Körperfunktionen statt, wobei beide versuchen, Kontrolle aufeinander auszuüben. 90 Orbaugh, Sharalyn: Sex and the Single Cyborg. Japanese Popular Culture Experiments in Subjectivity. In: Science Fiction Studies. Bd. 29 (2002). S. 436-452, hier S. 446. 91 Oshii: Ghost in the Shell. 1:09:27-1:09:52. 92 Ebd., 01:11:27. 93 Ebd., 01:11:43. 94 Ebd., 01:12:03.
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teilweise darauf zurück, auf der anderen Seite kann sie aber gerade dadurch eine höhere Stufe der Identität erreichen. Der Puppetmaster stellt seine Beweggründe für die Verschmelzung wie folgt dar: »Weil wir einander gleichen, ohne identisch zu sein. Als würde man plötzlich durch einen Spiegel treten und seinem Ebenbild begegnen. Hör mir zu. Ich bin an ein enormes Netzwerk angeschlossen, dessen Größe du nicht einmal erahnen kannst. Für jemanden, der keinen Zugang dazu hat, ist es, als blicke er in die Sonne, in eine blendende Helligkeit. Es ist Zeit, ein Teil des Ganzen zu werden und vollständig zu verschmelzen. Wir müssen jetzt unsere Grenzen sprengen und uns zu einer weitaus überlegeneren Struktur vereinen.«95
Das Angebot der Fusion stellt somit für Motoko eine Möglichkeit dar, ihre Identität in herausragender Weise auszubauen, ohne die mit ihrem Beruf einhergehenden Nachteile der Abhängigkeit in Kauf nehmen zu müssen. An dieser Stelle fördert das bereits angesprochene Motiv des Spiegels zudem Motokos Bewusstsein dafür, dass der Puppetmaster bereits in der Tauchszene zu ihr gesprochen hat bzw. gedanklich mit ihr vernetzt war und sich ihrer Identität schon eine geraume Zeit bewusst war. Zwar gebe es keine Garantie dafür, dass sie ihre Identität bewahren könne, so der Puppetmaster. Aber das sei unwichtig, denn »Alles verändert sich unaufhörlich. Wer sich nicht verändert, begrenzt sich selbst.«96 Eben in diesem Sinne ist es auch dem Puppetmaster nicht genug, sich bloß kopieren zu können, denn »Kopien sind letztlich nicht mehr als ein Abbild. Sie können jederzeit durch nur einen einzigen eingeschleusten Virus zerstört werden. Außerdem bieten Kopien weder Vielfalt noch Individualität.«97 Er möchte Vollkommenheit erreichen. Er will ein richtiges menschliches Lebewesen werden und hierzu gehörten »die grundlegenden Prozesse des Lebens, nämlich sich reproduzieren zu können und in gewisser Weise sterblich zu sein«, die in sein »Programm nicht miteinbezogen worden« sind.98 Durch die Fusion »gelingt es Projekt 2501 körperlich, somit sterblich, und daher auch lebendig zu werden; so entkommt es den Begrenzungen des Seins als Programm, das ihn darauf reduziert, sich zu kopieren, ohne sich entwickeln zu können. Motoko befreit sich umgekehrt von dem Körper, der nicht ihr gehört.«99 Beide emanzipieren sich also von ihrem vorherigen Seinszustand. Zudem hat Motoko die Aussicht darauf, in Freiheit unbegrenzt über ihre Identität bestimmen zu können und entflieht somit auch den Begren95 Ebd., 01:12:25. 96 Ebd., 01:12:07. 97 Ebd., 01:09:54. 98 Ebd., 01:09:27-01:09:52. 99 Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 87.
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zungen, denen sie aufgrund ihrer Arbeit unterliegt. »Das titelgebende Konzept: de[r] Geist in der Schale; ein[] Geist jedoch, der nach Befreiung strebt«100 wird durch die Verschmelzung vervollständigt. Obwohl in einer transhumanistischen Welt Reproduktion aufgrund der Austauschbarkeit von Körperteilen und somit der Möglichkeit ewigen Lebens irrelevant werden könnte, wird ein Gegenbild entworfen. Die Reproduktions- bzw. Verschmelzungsszene spielt eine essentielle Rolle für die Handlung des Films, denn alles läuft darauf hinaus, dass Motoko trotz ihrer Existenz als Cyborg eine Lösung findet, um »einem der urorganischsten Instinkte nachzugehen«.101 Interessanterweise findet sich die neue Seinsform filmisch inszeniert im Körper eines Kindes wieder, was den Gedanken eines reproduktiven Aktes zu unterstreichen scheint. Das ist allerdings trügerisch. Denn sie konstatiert im letzten Gespräch mit Batou, erwachsen geworden zu sein: »Als ich ein Kind war, waren meine Worte, meine Gedanken und meine Gefühle, die eines Kindes. Jetzt bin ich erwachsen und habe alles Kindliche von mir abgeworfen. Heute bin ich definitiv nichts mehr von dem, was ich einmal gewesen bin. Weder die Frau, die Major Motoko Kusanagi genannt wurde, noch das Programm mit dem Namen Puppetmaster.«102
In Rückbindung an Meads Theorie bedeutet dies einerseits, dass Motoko und der Puppetmaster als neue Identität besser in der Lage sind, am gesellschaftlichen »Game« zu partizipieren. Sie vereinigen ihre Fähigkeiten und ihr Wissen und können so noch besser als zuvor in der Gesellschaft agieren. Dass der Puppetmaster durch die Fusion sterblich wird, lässt sich mit Meads Theorie nicht wirklich fassen, da Mead ohnehin von menschlichen, sterblichen Wesen ausgeht und an eine Übertragung seines Identitätskonzepts auf ein Computerprogramm, das ein eigenes Bewusstsein entwickelt, wohl eher nicht gedacht hat.
100 Stiglegger, Marcus: Ghosts in the Shell. Cyborgtheorien im Werk von Mamoru Oshii. In Friesinger, Günther/Judith Schossböck (Hg.): The Next Cyborg. Wien 2014. S. 6379, hier S. 73. 101 Vgl. ebd. 102 Oshii: Ghost in the Shell. 01:16:31.
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FAZIT Nach Haraway sind Cyborgs »Hybride aus Maschine und Organismus«. Sie stellen Verschmelzungen von einem organischen Körper mit kybernetischen Erweiterungen dar, die schließlich nur noch als Einheit funktionieren.103 Motoko ist also bereits von Beginn an eine hybride Lebensform, an der die Auflösung der Dualismen von natürlich – künstlich, menschlich – maschinell, biologisch – technisch, lebendig – leblos, materiell – immateriell deutlich wird.104 Und so stellt sich bereits von Anfang an die Frage nach ihrer Identität. Wie ich zeigen konnte, bietet Meads Identitätstheorie hier eine hilfreiche Grundlage für die Analyse dieser Identitäten. Nach Mead ist zunächst festzustellen, dass Körperlichkeit nur eine sekundäre Rolle für die Identitätskonstruktion spielt. Zentral hingegen ist die Positionierung des Individuums zu sich selbst und anderen Gesellschaftsmitgliedern sowie die Reflexion der eigenen Identität im gesamtgesellschaftlichen Prozess. Sowohl Motoko als auch der Puppetmaster konstruieren ihre Identität aktiv und in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Akteuren. Sie sind reflektierte, bewusste Individuen, die ihre Umwelt (auch gegen äußeren Widerstand) aktiv gestalten und die sie umgebende Gesellschaft prägen. Motoko scheint die Probleme mit ihrer Identität über die Verschmelzung mit dem Puppetmaster zu überwinden. Ihre vorherigen Zweifel, ihre eigene Identität durch die Fusion vollständig zu verlieren und nicht mehr sie selbst zu sein, werden der Sichtweise des Puppetmasters gegenübergestellt und dadurch »kuriert«: »Alles verändert sich unaufhörlich. Wer sich nicht verändert, begrenzt sich selbst.« Jedoch geht der Film über die Fragestellung nach Identität in Zeiten von Cyborgs hinaus und entwirft durch die Fusion eines Cyborgs mit einem Programm ein weiterführendes Identitätsproblem. Durch die Verschmelzung mit einem Programm, das sich zur eigenständigen Lebensform aufgeschwungen und somit von seinem Ursprungszustand emanzipiert hat, wird nämlich eine neue Stufe der Hybridisierung erreicht. Die Fusion ist eine bleibende, eine totale Assimilation der beiden, die so nicht auf den Menschen übertragen werden kann. Denn Menschen bleiben auch nach einem reproduktiven Akt sie selbst, zwei Individuen. Hier werden aus zwei Identitäten eine einzige einheitliche Identität. Nach Mead müsste man feststellen, dass hierdurch die identitären Gren-
103 Haraway, Donna J.: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften [1985]. In: Bruns, Karin/Ramón Reichert (Hg.): Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kommunikation. Bielefeld 2007. S. 238-277, hier S. 239. 104 Auch der Dualismus einer profanen Mann-Frau-Unterscheidung wird durch transhumanistische Körperentwürfe tendenziell aufgelöst. Vgl. ebd., S. 274.
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zen von I und Me und Self irritiert werden, denn durch die Fusionierung von Motoko und dem Puppetmaster werden die Grenzen von ich und du aufgehoben. Die AnhängerInnen des Transhumanismus beabsichtigen »die totale Umgestaltung der menschlichen Art«, indem »die im Zuge der natürlichen Evolution entstandenen suboptimalen biologischen Lösungen durch eigene, unseren Vorstellungen entsprechende« ersetzt werden.105 Mit Ghost in the Shell gerät die transhumanistische Vision allerdings ins Wanken, denn der Film zeichnet einen ambivalenten Entwurf des verbesserten Menschen. Einer von Schnellbächer vermuteten »grundsätzlich positive[n] Einstellung zur Technologie, die durch die Cyborgs eine anthropomorphe Form erhält«106 muss ich darum widersprechen. Wie ich gezeigt habe, vermittelt der Film eine ambivalente Einstellung zur Technologie: Das anthropomorphe Cyborg-Dasein wird mit seinen Vorzügen und Schwierigkeiten am Beispiel von Motoko als unzufriedenen, zweifelnden Cyborg gezeigt. Mit dem Müllmann finden wir zudem eine Figur vor, die unfrei und manipulierbar durch Technik geworden ist. In dieser fiktiven Welt wird der transhumanistische Traum von der Unsterblichkeit nicht gepriesen, sondern kritisch gesehen. Über die Fusion gelangt der Puppetmaster zu einer körperlichen und sterblichen Existenz, zu dem, was der Transhumanismus überwinden möchte. Es scheint, als erhebe sich hier die Schöpfung über den Schöpfer.107 Das von Menschenhand geschaffene Programm erfüllt sich durch die Verschmelzung seinen »antitranshumanistischen« Traum, indem es zu Sterblichkeit gelangt und somit das wird, was TranshumanistInnen als »unvollkommen« bezeichnen würden, der Puppetmaster selbst aber als Zustand der »Vollkommenheit«.
QUELLENVERZEICHNIS Haraway, Donna J.: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften [1985]. In: Bruns, Karin/Ramón Reichert: Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kommunikation. Bielefeld 2007. S. 238277. Kipke, Roland: Besser Werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement. Paderborn 2011.
105 Deutsche Gesellschaft für Transhumanismus 2010, zitiert nach Kipke: Besser Werden. S. 27. 106 Schnellbächer: Mensch und Gesellschaft. S. 92. 107 Vgl. Stiglegger: Ghosts in the Shell. S. 73.
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Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozial-behaviorismus. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1991. Morris, Charles W.: Einleitung. George H. Mead als Sozialpsychologe und Sozialphilosoph. In: Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1991, S. 13-38. Orbaugh, Sharalyn: Sex and the Single Cyborg. Japanese Popular Culture Experiments in Subjectivity. In: Science Fiction Studies. 29 (2002). S. 436-452. Oshii, Mamoru: Ghost in the Shell. Nipponart GmbH 2005 (DVD). Schnellbächer, Tom: Mensch und Gesellschaft in Oshii Mamorus Ghost in the Shell – Technische Spielerei oder engagierte Zukunftsvisionen? In: NOAG 181–182 (2007). S. 69-96. Stiglegger, Marcus: Ghosts in the Shell. Cyborgtheorien im Werk von Mamoru Oshii. In: Friesinger, Günther/ Schossböck, Judith: The Next Cyborg. Wien 2014. S. 63-79.
Harry Potter und das Vermächtnis der Mako Mori Vergleichende Untersuchung der Frauencharaktere in den Büchern und Filmen der Harry Potter-Reihe Julia Gens
»I consider myself to be a feminist.« Joanne K. Rowling1
In dem Interview The Women of Harry Potter bezeichnet Buchautorin Joanne K. Rowling sich selbst mit diesen Worten als Feministin und beschreibt im Weiteren ihre weiblichen Charaktere als mit den Männern gleichgestellt – eine bedeutungsvolle Aussage im Angesicht des massiven und jugendprägenden Erfolgs der Romanreihe. Diese erzählt in sieben Büchern,2 die zwischen 1997 und 2007 erschienen, die Geschehnisse um den Zauberschüler Harry Potter und dessen fortdauernden Kampf gegen den Antagonisten Lord Voldemort. Dabei umfasst jeder der Bände den Zeitraum eines ganzen Schuljahres an der Zauberschule Hogwarts, einem Internat für Magiebegabte, das der Protagonist von seinem elften Lebensjahr an besucht. Dort lernt er Hermione Granger und Ron Weasley kennen, die seine besten Freunde und wichtige Verbündete im Kampf gegen Voldemort werden.
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Yates, David: The Women of Harry Potter. In: Harry Potter und die Heiligtümer des
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2016 wurde zudem ein achtes Buch veröffentlicht, welches auf einem Theaterstück ba-
Todes Teil II. 2011 (DVD). 00:05:20-00:05:23. siert und ein Abenteuer von Harrys Sohn behandelt. Das Buch wird in dieser Abhandlung nicht berücksichtigt.
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Bis 2015 wurden die Bücher in 78 Sprachen übersetzt und weltweit über 450 Millionen Exemplare verkauft.3 Zwischen 2001 und 2011 wurde Harrys Geschichte zudem für eine erfolgreiche achtteilige Filmreihe adaptiert. Für viele Kinder und Jugendliche war die Welt um Harry Potter und seine Freunde prägend; nicht zuletzt diente die tragende Mädchenfigur, die intelligente Hermione Granger, als Vorbild vieler Mädchen und junger Frauen.4 Hat Rowling es also geschafft, eine Gleichberechtigung von männlichen und weiblichen Figuren trotz des männlichen Hauptcharakters in ihrem Werk zu vermitteln? Und wenn ja, wie ist dann die Traumfabrik Hollywood mit den Charakteren umgegangen? Nicht selten steht diese für ihren Sexismus in der Kritik, was unter anderem zu der Entstehung von Tools wie dem Bechdel-Test geführt hat, die den Anspruch erheben, Aussagen über die Qualität von Frauendarstellung in Filmen, aber auch Büchern treffen zu können. Der Bechdel-Test, welcher sich mit Asymmetrien in der Darstellung von Geschlechterrollen beschäftigt5 und auf einer Aussage eines Charakters aus dem Comic Dykes To Watch Out for6 von Alison Bechdel basiert, ist das bekannteste solcher Überprüfungstools. Dass seine Kriterien große Schwächen aufweisen, wie weiter unten genau erörtert wird, äußerte sich später in der Entwicklung eines alternativen Tests, der sich am als frauenfreundlich geltenden Charakter Mako Mori aus Pacific Rim (Guillermo del Toro, 2013) orientiert. Beide Tests werden in diesem Aufsatz jeweils auf die sieben Bücher sowie die acht Filme angewendet, um die Frauenrepräsentation7 im Allgemeinen, aber auch von Medium zu Medium vergleichend zu überprüfen. Nicht nur die Aussagekraft des Bechdel-Tests, sondern auch die des Mako Mori-Tests soll in diesem Zusammenhang herausgearbeitet werden, um zu verdeutlichen, welche Aspekte diese 3
Bloomsbury Publishing Plc: J. K. Rowling. http://www.bloomsbury.com/author/jkrowling/(Stand: 06.03.2017).
4
Vgl. Hibbard, Laura: Hermione Granger: The Heroine Women Have Been Waiting For. http://www.huffingtonpost.com/laura-hibbard/hermione-granger-the-hero_b_898414. html (Stand: 06.03.2017).
5
Vgl. Stowell, Dan: Quantifying the Bechdel Test of Gender Representation in Major and Independent Film. 2012. S. 1. https://figshare.com/articles/Quantifying_the_Bech del_test_of_gender_representation_in_major_and_independent_film/3167071 (Stand: 07.03.2017).
6
Zu Deutsch: »Bemerkenswerte Lesben«. Siehe http://dykestowatchoutfor.com/ (Stand:
7
Da die Tests unwissenschaftlich erstellt wurden und keine endgültig festgelegte begriff-
06.03.2017). liche Interpretation ihrer Ergebnisse vorliegt, wird ein Erfüllen der Test-Kriterien durch einen Film oder Buch in dieser Arbeit als »frauenfreundlich« zusammengefasst.
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Tests nicht erfassen können. In der Folge wird ein alternativer Test erstellt, der versucht die fehlenden Aspekte aufzugreifen und umzusetzen.
1 DER BECHDEL-TEST: ENTSTEHUNGSGESCHICHTE UND SCHWACHSTELLEN Der Bechdel-Test stammt aus keinem wissenschaftlichen Kontext, sondern entstand aus der fiktiven Welt einer Comicfigur von Alison Bechdel. In dem Comicstrip The Rule aus dem Comic Dykes To Watch out for (1985) unterhalten sich zwei Frauen,8 während sie an Plakaten von The Mercenary, Barbarian und The Vigilante vorbeigehen, darüber, in welchen Kinofilm sie gehen wollen. Eine der beiden Figuren stellt dafür folgende Regel auf: »I only go to a movie if it satisfies three basic requirements. One, it has to have at least two women in it, who, two, talk to each other about, three, something besides a man.«9 Zusammen mit ihrer Freundin Liz Wallace entwarf Bechdel basierend auf dieser fiktiven Regel den Bechdel-Test, der somit auch unter dem Namen Bechdel/Wallace-Test bekannt ist. Ergänzend fügten sie hinzu, dass die Frauenfiguren, die die Unterhaltung führen, beide namentlich bekannt sein müssen, um den Test zu bestehen. Treffen alle drei Punkte auf den Film zu, wird er als frauenfreundlich bezeichnet. So stellt er ein unkompliziertes Analysevorgehen dar und kann schnell die Repräsentation von Frauen in Filmen bestimmen.10 So einfach, so gut? Nicht ganz. Zunächst soll gezeigt werden, was der Bechdel-Test überhaupt leisten kann und welche Aspekte außer Acht gelassen werden. Kriterium Eins beschränkt sich auf die Frage, ob der Film mindestens zwei Frauenfiguren enthält, die namentlich genannt werden. Durch die Benennung soll erfasst werden, ob es zwei Frauenfiguren in dem Medium gibt, die so relevant sind, dass man sie benannt hat. Die erste Schwachstelle zeigt sich schon hier. Zeigt ein Film z. B. insgesamt nur zwei Figuren, bespielweise eine männliche und eine
8
Bei den beiden Frauen handelt es sich um eine Art Vorform von Mo und Ginger, den
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Bechdel, Alison: The Rule. http://alisonbechdel.blogspot.de/2005/08/rule.html (Stand:
Hauptcharakteren der Comicreihe Dykes To Watch out for. 15.02.2017). 10 Stowell: Quantifying the Bechdel Test. S. 1.
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weibliche,11 oder sogar nur eine einzige Figur12 oder Figuren mit einem nicht klar bestimmbaren Geschlecht, so fällt der Film automatisch durch. Trägt keine der Figuren einen Namen oder nur sehr wenige, kann der Test auch hier nicht bestanden werden.13 Derartige Filme lassen sich mit dem Bechdel-Test gar nicht erfassen.14 Genauso verhält es sich bei Filmen, deren Themen vorrangig männlich geprägt sind, wie etwa Filme, die Männerdomänen präsentieren,15 sowie Filme, die sich mit einer männlich geprägten Institution beschäftigen.16 Insoweit kann der Test nur auf Filme angewandt werden, in deren fiktiven Welten man Frauenfiguren erwarten kann und in denen eine bestimmte Menge an benannten Figuren existiert, um eine – wenn auch unpräzise – Aussage über die Repräsentation von Frauen treffen zu können. So fällt z. B. Mission Impossible: Rouge Nation (Christopher McQuarrie, 2015) schon beim ersten Kriterium durch, obwohl es genug Figuren im Allgemeinen gibt, die einen Namen tragen (z. B. Ethan Hunt, William Brandt, Benji Dun, Ilsa Faust). Hier kann eine klare Unterrepräsentation von weiblichen Figuren festgestellt werden. Ein Film wie Batman v Superman: Dawn of Justice (Zack Snyder, 2016) besteht hingegen den ersten Teil des Testes, da genug benannte Frauenfiguren vorhanden sind (z. B. Martha Kent, Lois Lane, Mercy Graves, Diana Prince). So kann schnell ermittelt werden, ob eine Mindestanzahl an weiblichen Figuren vorhanden ist. Schwieriger verhält es sich beim zweiten Kriterium. Um dieses zu erfüllen, müssen zwei Frauen miteinander reden. Dies erscheint auf den ersten Blick einleuchtend und unkompliziert, jedoch kann es auch an dieser Stelle zu formalen Problemen kommen, wenn es nicht genug Figuren gibt, diese im Allgemeinen in keiner direkten Verbindung zueinanderstehen oder insgesamt wenig gesprochen wird. An dieser Stelle ist Pacific Rim (Guillermo del Toro, 2013) ein passendes Beispiel, da Mako Mori als Hauptcharakter eine tragende und wichtige Rolle spielt, es in der Geschichte aber nur eine weitere weibliche Figur gibt und die beiden nie ein Gespräch miteinander führen. Dies deutet klar darauf hin, dass es nur wenige Frauenfiguren in Pacific Rim gibt, sagt jedoch recht wenig über deren Charakter oder Tragweite für den Film aus. Der Bechdel-Test reduziert die Frau11 Beispielsweise Gravity (Alfonso Cuarón, 2013), Die Rote Schildkröte (La tortue rouge, Michael Dudok de Wit, 2016). 12 Beispielsweise The Last Letter (Frederick Wiseman, 2002), 127 Hours (Danny Boyle, 2003). 13 Stowell: Quantifying the Bechdel Test. S. 2. 14 Ebd. 15 Beispielweise Reservoir Dogs (Quentin Tarantino, 1992), Kill your darlings (John Krokidas, 2013). 16 Z. B. der Kirche als Männerdomäne: We have a pope (Nanni Moretti, 2011).
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enfreundlichkeit mit diesem Kriterium rein auf einen vorhandenen Dialog, der aber nicht zwangsläufig Aussagen über eine gleichberechtigte Frauenrepräsentation treffen kann, wie auch das dritte Kriterium verdeutlichen wird. Das dritte und letzte Kriterium ist »something besides a man« als Gesprächsthema zwischen den zwei Frauen. In dem Film Avatar – die Reise nach Pandora (James Cameron, 2009) führt Neytiri, der weibliche Hauptcharakter, in den ganzen 162 Minuten des Films17 eine einzige Konversation mit einer anderen namentlich bekannten Frau, ihrer Mutter Mo'at, und diese kreist um Jake, den männlichen Hauptcharakter.18 An dieser Stelle wird deutlich, wie stark die Figur der Neytiri auf Jakes Geschichte reduziert ist. Sie dient eher als weiblicher sidekick, welcher im Laufe der Geschichte zum love interest wird. Ein unpassend wirkendes Beispiel für einen Film, der das dritte Kriterium erfüllt, stellt der Film American Pie 2 (J.B. Rogers, 2001) dar. Die Frauen reden hier nicht nur über Männer, sondern auch über Kleidung und Sexspielzeuge und dienen den männlichen Figuren für ihre lesbischen Fantasien.19 An dieser Stelle zeigt sich, dass Frauenfiguren nicht weniger sexistisch dargestellt sein müssen, nur weil sie sich nicht über Männer unterhalten. Filme, die sich eher anti-feministisch zeigen, können dabei den Test bestehen, während Filme mit gut und vielschichtig geschriebenen Frauenrollen wie Pacific Rim gnadenlos durchfallen. Anhand dieses letzten Kriteriums kann demnach höchstens unpräzise bestimmt werden, ob die beiden Frauen in ihrem Dialog eigenständige Themen wählen. Der Test erlaubt mit seinen drei Kriterien somit keine ausreichende Aussage über die Frauenfreundlichkeit eines Films zu treffen, kann jedoch im Umkehrschluss bei Nichtbestehen dazu veranlassen, den Grund für die geringe Anzahl weiblicher Charaktere oder die wenige eigenständige Sprechzeit zu reflektieren. In der Anwendung auf die Harry Potter-Filmreihe ergeben sich allerdings weitere Schwierigkeiten: Was macht einen Dialog aus? Auf der nicht offiziellen Bechdel-Test-Homepage20 wird darüber debattiert, ob ein Dialog schon stattfindet, wenn eine Person etwas sagt und die andere ohne direkte Antwort reagiert oder nur nickt. So sagt zum Beispiel Molly, Rons Mutter, in Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil 2 (David Yates, 2011) zu Bellatrix, einer Antagonistin: »Not my daughter, you bitch!«,21 worauf diese mit einer Art Todesschrei antwor17 Kinofassung. 18 Vgl. Cameron, James: Avatar - Aufbruch nach Pandora. 2010 (DVD). 01:03:0001:04:15. 19 Vgl. Rogers, James B.: American Pie 2. Universal Pictures Germany GmbH 2006 (DVD). 00:44:00-00:45:15. 20 Verschiedene Autoren: https://bechdeltest.com (Stand: 07.02.2017). 21 Yates: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil II. 01:30:35-01:31:05.
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tet. Es gibt Aussagen, in denen Personen dies als Dialog zählen – doch Kampfansage und Todesschrei sind vermutlich nicht das, was der Bechdel-Test als Gespräch über etwas anderes als einen Mann werten soll. Dies kann als Versuch interpretiert werden, den Film nicht bei dem Test durchfallen zu lassen. Und wie verhält es sich, wenn es zum Film eine Buchvorlage gibt, in der eine weibliche Person einen Namen trägt, der im Film und seinem Abspann aber nicht genannt wird? So zum Beispiel im vierten Harry Potter-Film, in dem Fleur Delacour, eine Teilnehmerin eines magischen Wettstreits zwischen Hogwarts und anderen Schulen, mit ihrer im Film nicht benannten Schwester Gabrielle redet – für die Zuschauer_innen und Nichtleser_innen lässt sich aus dem Kontext nicht erschließen, ob diese Figur einen Namen trägt. Diese Problematik sorgt in Fankreisen für Diskussionsstoff.22 Zudem erscheint »talking about a man« als Auswahlkriterium sehr vage. Zählt ein Junge schon als Mann, wenn zum Beispiel Narcissa, eine Antagonistin, mit ihrer Schwester Bellatrix im sechsten Film über ihren Sohn Draco redet? Aufgrund der Kürze des Testes und seiner nicht wissenschaftlich präzisierten Ausgestaltung ohne klare Definitionen werden solche Fragen offengelassen. Der Test bricht zudem einen Film (oder ein anderes Medium) rein auf die vorhandenen Dialoge herunter und nimmt keinerlei Stellung zu Monologen oder Aktionen der Figuren, was ein sehr ungenaues Ergebnis bezüglich der Frauenfreundlichkeit liefern kann. Um ein aussagekräftigeres Ergebnis zu erhalten, ist es hilfreich, den Test zusätzlich auf das männliche Geschlecht anzuwenden: Zwei Männer, die benannt werden, die miteinander über etwas Anderes reden als eine Frau. Fällt der Film bei beiden Geschlechtern durch, handelt es sich unter Umständen um einen Film mit wenig Personal oder wenigen Dialogen. Wird jedoch deutlich, dass die Männer, aber nicht die Frauenfiguren den Test bestehen, kann man, insbesondere im Vergleich der Ergebnisse unterschiedlicher Filme, möglicherweise einen Konsens oder zumindest ein Muster bezüglich der Frauenrepräsentation innerhalb einer Filmgattung oder -reihe feststellen.23 Während das Bestehen des Tests undeutliche Schlussfolgerungen zulässt, veranlasst etwa das kollektive Nichtbestehen der 558minütigen Filmreihe Herr der Ringe, in welcher auch Frauen tragende Rollen hätten übernehmen können, weibliche Vorbilder für fantasybegeisterte Mädchen jedoch schwer zu finden sind, zum Nachdenken.
22 Verschiedene Autoren: http://bechdeltest.com/view/2334/harry_potter_and_the_goblet_of_fire/ (Stand: 07.02.2017). Es ist keine offizielle Bechdel-Test-Homepage vorhanden. 23 Stowell: Quantifying the Bechdel Test. S. 2.
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2 HARRY POTTER UND DER BECHDEL-TEST Beim Herausarbeiten der Vor- und Nachteile des Bechdel-Tests hat sich gezeigt, dass der Test nur vage Aussagen über einen Film treffen kann und er sich allenfalls für eine Anwendung auf Filme, in deren fiktiver Welt man Frauenfiguren erwarten kann, eignet, um diese schnell auf ihre Frauenpräsenz zu überprüfen. Aufgrund dieser geringen Aussagekraft wird im Folgenden seine Anwendung auf die Harry Potter-Buch- und Filmreihe nur angerissen. Bei Harry Potter bestehen die Bücher eins bis sieben den Bechdel-Test ohne große Schwierigkeiten, ebenso die Gegenprobe mit dem männlichen Geschlecht. In den ersten Büchern kommt es häufiger zu kleinen Dialogen zwischen Hermione und einem weiblichen Nebencharakter, so wie im zweiten Buch zwischen ihr und Myrte, dem Geist eines Mädchens.24 Ein weiteres Beispiel ist ein mehrseitiges Gespräch in Buch fünf zwischen Hermione, ihrer Mitschülerin Luna Lovegood und der Journalistin Rita Skeeter.25 Auch kleinere Rollen wie Narcissa Malfoy kommen hier in einen längeren Dialog mit einem anderen weiblichen Charakter.26 Selbst wenn sie Themen wie Lord Voldemort ansprechen, kommt es daneben zu verbalen Konflikten zwischen den beiden Frauen, in denen es nicht um einen Mann geht. Während alle acht Filme die männliche Gegenprobe erfüllen, alleine schon wegen des männlichen Hauptcharakters, bestehen auch sieben der Filme – die Ausnahme bildet Harry Potter und der Feuerkelch (Mike Newell, 2005) – den eigentlichen Bechdel-Test, was zunächst wie ein gutes Ergebnis erscheint. Bei zwei dieser sieben Filme ist das Bestehen allerdings fragwürdig: Der siebte und achte Film zeigen deutlich, dass, wie oben erläutert, ein Erfüllen der drei Kriterien nicht pauschal als frauenfreundlich interpretiert werden kann. Im siebten Film findet der einzige Dialog zwischen zwei Frauen innerhalb einer Szene statt, in der Dolores Umbridge vor Gericht eine Frau namens Mary Elizabeth Cattermole zu deren Identität befragt.27 Der achte Film besteht den Test durch einen kurzen Dia-
24 Rowling, Joanne K.: Harry Potter and The Chamber of Secrets, Bd. 2. New York 2009. S. 140-141. 25 Rowling, Joanne K.: Harry Potter and The Order of the Phoenix, Bd. 5. New York 2009. S. 565-569. 26 Beispielsweise in Harry Potter und der Halbblutprinz, wo sich Narcissa und Bellatrix auf dem Weg zu Severus Snape unterhalten. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and The Half-Blood Prince, Bd. 6. New York 2009. S. 26-29. 27 Yates, David: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil I. 2010 (DVD). 00.56.40-00.57.10.
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log in einer Gruppe, in der Luna Lovegood ohne direkten Adressaten einen Vorschlag macht und Cho Chang auf diesen mit »But the thing is, it’s supposed to be lost«28 antwortet. Ansonsten kommt es zu vielen Stellen, in denen eine Frau zwar etwas zu einer anderen sagt, aber keine Antwort erhält; so etwa Professor McGonagalls »I’ve always wanted to do that spell«29 zu Molly Weasley. So gilt der Test bei beiden Filmen zwar als bestanden, vermag aber eher wenig über die Frauenfreundlichkeit auszusagen. Würde man neben den feststehenden Kriterien des Bechdel-Tests auch die Qualität und Frequenz von Gesprächen zwischen Frauen untersuchen, wären klarere Ergebnisse möglich. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Nichtbestehen des vierten Films gewidmet werden. Es gibt zwar reichlich benannte weibliche Figuren, jedoch keinen verwertbaren Dialog zwischen zwei solchen. Eine weibliche Figur spricht zwar eine andere an, jedoch antwortet diese nie direkt. Es kommt zu kurzen Floskeln wie »Look«30 von Rons Schwester Ginny Weasley gerichtet an Hermione Granger. Beide stehen zudem häufig gemeinsam im Hintergrund – man sieht sie miteinander reden, hört den Dialog aber nicht; somit kann nicht ausgemacht werden, worüber sie sich unterhalten. Zwei weitere weibliche Charaktere, die auch in Kombination auftauchen, sind Padma und Parvati Patil, Harrys und Rons weibliche Begleitungen auf dem Weihnachtsball. Sie sprechen häufig nicht hörbar für die Zuschauer_innen miteinander oder befinden sich in einer Diskussion mit Ron und Harry über einen der beiden Jungen. An dieser Stelle vermag demnach das Nichtbestehen des Tests deutlich auf ein Defizit hinzuweisen, während das Bestehen der anderen Filme weniger Tragkraft hat.
3 EINE ALTERNATIVE ZUM BECHDEL-TEST: DER MAKO MORI-TEST Aufgrund der ungenauen Kriterien des Bechdel-Tests wurde 2013 als Alternative der Mako Mori-Test entwickelt.31 Da es nie zu einer Konversation zwischen den beiden weiblichen Charakteren Sasha Kaidanovsky und Mako Mori aus Pacific Rim kommt, galt der Bechdel-Test als nicht bestanden, was in Fankreisen auf Em-
28 Yates: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil II. 00:32:21-00:32:40. 29 Ebd. 00:40:45-00:40:52. 30 Newell, Mike: Harry Potter und der Feuerkelch. 2005 (DVD). 00:06:05-00:06:10. 31 Ursprünglich formuliert von der tumbler-Benutzerin »chaila« in 2013. Vgl. http:// leavemealonetoread.tumblr.com/post/90264793650/chaila-spider-xan-also-i-was-think ing-more (Stand: 07.02.2017).
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pörung stieß: Mako Mori stellt für sie ein mehr als positives Beispiel für eine gut geschriebene, nicht sexualisierte und eigenständig handelnde Frauenfigur in einem Film dar.32 Zwar lässt sich durch den Bechdel-Test die Unterrepräsentation von weiblichen Figuren im Film feststellen, jedoch sagt dieser nichts über die Darstellung und Präsenz der Hauptfigur Mako Mori aus. Aus diesem Grund wurde in der Pacific Rim-Fangemeinde ein neuer Test erstellt, der sich auf die einzelne Figur bezieht und keinen Wert auf den Redeanteil der Personen legt. Für einen frauenfreundlichen Film müssen demnach folgende Kriterien erfüllt werden: »(i) at least one female character (ii) who has her own narrative arc (iii) which does not exist to support the narrative arc of a male character.«33 Ein gutes Vergleichsbeispiel beider Tests stellt Transformers (Michael Bay, 2007) dar. Aufgrund eines kurzen einfachen Dialogs zwischen der Mutter des Hauptcharakters Judy und Mikaela, dem love interest des männlichen Hauptcharakters, über Mikaelas Aussehen34 gilt der Bechdel-Test als bestanden. Beide Charaktere würden bei dem Mako Mori-Test aber ganz klar durchfallen, da weder die Mutter noch Mikaela einen vom männlichen Hauptcharakter unabhängigen Erzählstrang besitzen. Die Rollen sind lediglich zur Unterstützung der männlichen Figur konzipiert.35 In seiner Arbeit Mako Mori and the Gender Politics of Pacific Rim36 beschäftigt sich Nathanael Hood ausgiebig mit der Figur von Mako Mori und arbeitet heraus, dass diese als Frau eine eigenständige Geschichte hat und sich entwickelt, ohne dabei dem männlichen Hauptcharakter lediglich als »Trophäe« zu dienen. Der neu konzipierte Test erscheint daher zunächst aussagekräftiger als der Bechdel-Test, da er direkt auf die weiblichen Charaktere und ihre Positionen in der Handlung eingeht und sich nicht alleine auf die Sprechanteile, sondern auf die gesamte Handlung bezieht.37 Für klare Ergebnisse bezüglich des Mako Mori-Tests sollte man ebenfalls eine Gegenprobe mit dem anderen Geschlecht durchführen. Da der Test noch keine so lange Anwendungsgeschichte aufweist wie der Bechdel-Test, sind bisher unbekannte Fehlerquellen und Schwachstellen nicht auszuschließen. Durch Anwen32 Romano, Aja: The Mako Mori Test: ›Pacific Rim‹ inspires a Bechdel Test alternative. http://www.dailydot.com/fandom/mako-mori-test-bechdel-pacific-rim/ (Stand: 07.02. 2017). 33 Ebd. 34 Bay, Michael: Transformers. 2007 (DVD). 01:16:40-01:16:57. 35 Romano: The Mako Mori Test. (Stand: 07.02.2017). 36 Hood, Nathanael: Mako Mori and the Gender Politics of Pacific Rim (2013) in: Journal of American Studies of Turkey. Ankara 2014. S. 113-122. 37 An dieser Stelle fallen Filme, die keinen Handlungsstrang haben (wie z. B. bestimmte Kunstfilme) strukturell durch.
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dung des Tests auf die Harry Potter-Reihe soll somit nicht nur eine weitere Möglichkeit der Überprüfung der dortigen Frauendarstellung ermöglicht, sondern auch die generelle Eignung des Mako Mori-Tests für Geschichten außerhalb des Pacific Rim-Universums herausgearbeitet werden.
4 HARRY POTTER UND DER MAKO MORI-TEST Wie auch beim Bechdel-Test erfüllt jedes der Bücher aus der Harry Potter-Reihe die Kriterien für den Mako Mori-Test. Anders verhält es sich bei den Filmen: Nicht sieben, sondern lediglich vier der Filme gelten dem Mako Mori-Test zufolge als frauenfreundlich. Durch den Bezug dieses Tests auf die Gänze eines Films – und nicht nur die Reduktion auf einen Dialogmoment wie beim Bechdel-Test – ist die Anwendung komplexer und mit einer ausgiebigeren Argumentation je Film verbunden. Aus diesem Grund werden die einzelnen Filme im Folgenden chronologisch und im jeweiligen Vergleich mit der entsprechenden Buchvorlage behandelt. Hermione als Protagonistin ist in den ersten drei Filmen ein sehr selbstständiger Charakter, der, wenn auch nur angedeutet, einen eigenen kleinen unabhängigen Handlungsstrang entwickelt. Die Filme beschäftigen sich mit ihrer Klugheit und den Lästereien über sie durch Ron Weasley38 sowie ihrer unmagischen Herkunft und der Diskriminierung, die ihr durch Draco Malfoy, einen der Antagonisten von Harry Potter, widerfährt, und zeigen zudem, wie sie sich später diesem gegenüber zu wehren weiß.39 Ein streitbares Beispiel hierfür ist der Zeitumkehrer im dritten Film und Buch, durch den Hermione mehrere schulische Veranstaltungen gleichzeitig besuchen kann. Mit ihm unterstützt sie jedoch am Ende des Buches auch Harry, weshalb sich schon hier die Frage stellt, ab wann ein Erzählstrang in der Wertung auf den Zweck der Unterstützung reduziert wird. Ein abruptes Ende für Hermiones Entwicklung zeigt der vierte Film, der auch als einziger durch den Bechdel-Test fällt. Hier scheint sie nur noch als »Liebesobjekt« für Viktor Krum, einen Teilnehmer des Schulturniers, und als »Eifersuchtsobjekt« für Ron zu dienen. Ihr Erzählstrang ist damit sehr stark durch die männlichen Figuren geprägt. Anders verhält es sich im dazugehörigen Buch, in dem sie
38 Columbus, Chris: Harry Potter und der Stein der Weisen. 2001 (DVD). 01:03:5001:05:00 und 01:07:00-01:10:10. 39 Columbus, Chris: Harry Potter und die Kammer des Schreckens. 2002 (DVD). 00:19:50-00:20:10, 00:37:17-00:37:38 und 00:38:35-00:39:40. Cuaron, Alfonso: Harry Potter und der Gefangene von Askaban. 2004 (DVD). 00:40:45-00:40:52.
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die »Society for the Promotion of the Elfish Welfare«, gründet und dessen einziges Mitglied ist.40 In diesem Rahmen setzt sie sich für die Anerkennung von Hauselfen ein – jedoch stößt ihr soziales Engagement eher auf Ablehnung, da die Betroffenen nicht aus ihren prekären Arbeitsverhältnissen befreit werden wollen. Dies ist ein wichtiger Erzählstrang für Hermione, da ihr sozialer Aktivismus sich bis zum letzten Buch durchzieht. Personen, die nur die Filme gesehen haben, erscheint Hermione im vierten Teil allerdings wie das Mädchen, das für die Liebesverstrickungen da ist. Genauso trägt sogar Fleur Delacour als Teilnehmerin nur passiv zum Trimagischen Turnier bei, vor allem im Vergleich zu den männlichen Teilnehmern, die präsenter und auch fähiger als sie erscheinen. Interessant an diesem Film ist zudem, dass zwar alle weiblichen Charaktere durch den Mako Mori-Test fallen, jedoch Neville Longbottom als männliche Figur einen zusätzlichen, im Buch nicht in der Form vorhandenen Erzählstrang erhält: Im Buch übergibt der Hauself Dobby Harry ein seltenes Kraut, um ihn bei einer Turnieraufgabe zu unterstützen. Im Film übernimmt Neville diesen Part. Auch wird Neville gezeigt, wie er neben dem schulischen Tanzkurs privat für den Weihnachtsball übt.41 Somit wird einer männlichen Nebenfigur die Möglichkeit geboten, sich weiterzuentwickeln und trotz der Begrenzung des Filmrahmens eine Art kleinen Erzählstrang zu erhalten – was nicht einmal der weiblichen Hauptrolle Hermione gewährt wird. Die weiblichen Figuren im vierten Film schneiden somit schlecht ab, was sehr deutlich wird, da sowohl der Bechdel-Test als auch der Mako Mori-Test nicht bestanden werden. Im fünften Film verhält es sich anders, denn hier tritt erstmals eine weibliche Antagonistin auf: Dolores Umbridge. Sie hat einen eigenen ausführlichen Erzählstrang, in dem sie Regeln in der Schule aufstellt und durch ihre zweifelhafte Übermoralität Harry und vielen anderen Schülern das Leben schwer macht. Zudem enthebt sie eine andere Professorin ihres Amtes. Sie arbeitet zwar für das Zaubereiministerium, versucht aber in Hogwarts ihr eigenes Regime mit eigenen Regeln aufzubauen. Die anderen weiblichen Charaktere haben keinen eigenen Handlungsstrang, aber auch männliche Nebencharaktere wie z. B. Neville, der im vierten Teil gut abschneidet, fallen bei der Gegenprobe hier durch. Ist also der fünfte Film frauenfreundlich ausgerichtet? Betrachtet man die Figur Dolores Umbridge genauer, so scheint die durch ihr Bestehen des Tests implizierte Frauenfreundlichkeit des Films fragwürdig. Trotz ihres eigenständigen Handlungsstrangs ist sie eine sehr eindimensionale Figur: Sie erhält keinerlei Entwicklungsspielraum, ihr Charakter bleibt die ganze Zeit über sehr stereotyp, was sich auch in ihrer optischen Erscheinung widerspiegelt sowie in ihrer Vorliebe für Kitsch und Katzen, 40 Rowling, Joanne K.: Harry Potter and Goblet of Fire, Bd. 3. New York 2009. S. 125. 41 Vgl. Newell: Harry Potter und der Feuerkelch. 01:06:07-01:06:20.
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die sowohl im Film als auch im Buch42 immer wieder betont wird. Aus einer feministischen Wate heraus handelt es sich bei Dolores um keine wünschenswerte Art der Frauendarstellung, die jedoch aufgrund ihres Erzählstrangs die Kriterien des Tests erfüllt und deshalb eine frauenfreundliche Figur zeigt. Hier wird eine Schwäche des Tests deutlich, da die Stärke des Charakters über einen Handlungsstrang definiert wird, egal wie dieser Handlungsstrang aussieht, solang er keinen Mann unterstützt. Dies zeigt jedoch nicht wirklich die Stärke des Charakters auf, sondern eher ihre Eigenständigkeit in der Geschichte sowie die Präsenz, die ihr als Antagonistin zusteht. Ein repräsentativer Handlungsstrang für gut geschriebene Frauenrollen, die eigenständig handeln, ist hingegen im Buch zu finden: Rita Skeeter verfasst unter Erpressung von Hermione einen Artikel über die Wahrheit über Voldemorts Rückkehr, welcher das korrupte politische System der Zauberwelt offenbaren soll.43 Dieser Artikel erscheint mit Lunas Hilfe im Quibbler, der Zeitschrift ihres Vaters. Auch wenn alle weiblichen Charaktere Harry unterstützen, ist dieser Mittel zum Zweck und diese Stelle erscheint als stark und eigenständig ausgeführte Handlung von gleich drei Frauenfiguren. Durch das Weglassen dieser Stelle wird ein wichtiger Erzählstrang dreier Frauen ignoriert, wodurch sie in dem Film weniger präsent und relevant erscheinen. Der sechste Film zeigt genau zwei weibliche Figuren, die jeweils einen Handlungsstrang besitzen: Hermione und Lavender. Ihre beiden Handlungsstränge sind jedoch durch ihr Interesse an Ron geprägt, weshalb beide durch den Test fallen. Andere weibliche Charaktere wie etwa Luna, die im Buch die Rolle der Stadionsprecherin übernimmt,44 verfügen im Film über keinen eigenen Handlungsstrang. Luna besitzt im Film jedoch viele einzelne charakterbildende Momente, die mit dem Mako Mori-Test nicht erfasst werden können. Der siebte und der achte Film bilden einen Zweiteiler zum siebten Buch und werden deshalb gemeinsam betrachtet. Hermione ist in beiden Teilen sehr präsent und hat auch einen Erzählstrang, indem sie Harry bei der Zerstörung der Seelenteile von Voldemort behilflich ist. Die Schwierigkeit an dieser Stelle ist erneut, herauszuarbeiten, ab wann man von »supporting a man« reden kann, denn Hermione könnte an dieser Stelle die Unterstützung Harrys auch zu ihrem eigenen Wohl und dem Wohl ihrer Familie ausführen. Die Beweggründe werden jedoch nicht genau benannt, weshalb es so erscheint, dass sie vor allem Harry unterstützt. In dem entsprechenden Buch verhält es sich bei Hermione ähnlich, jedoch agiert sie an vielen Stellen eigenständig und ausführlicher. So versorgt sie sich, Ron und
42 Vgl. Rowling: Order of the Phoenix. S. 203. 43 Vgl. ebd., S. 565-569. 44 Vgl. Rowling: Half-Blood Prince. S. 413-415.
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Harry bei ihrer Reise mit Campingausstattung und Proviant.45 Im filmischen Zweiteiler sind auch die weiblichen Nebenfiguren laut Test nicht frauenfreundlich. Fleur dient nur als Braut von Bill, dem ältesten Bruder von Ron, Luna hilft lediglich durch ihre Kenntnisse der Schulgeschichte, einen weiteren Seelenteil ausfindig zu machen und auch Ginny wird in beiden Filmen hauptsächlich als love interest von Harry inszeniert. Diese mangelnde Frauenpräsenz ist vermutlich neben den Restriktionen des Mediums teilweise der Action in den Filmen geschuldet, denn auch männliche Nebenfiguren erhalten keinen Handlungsstrang – aber wichtige Momente für ihre Entwicklung, z. B. das Widersetzen von Neville gegen Voldemort trotz des angeblichen Todes von Harry als Hoffnungsträger. Doch auch wenn es keine eigenständigen Erzählstränge der Frauen in beiden Filmen gibt – sie deshalb den Mako Mori-Test nicht bestehen – so gibt es durchaus Momente, in denen sie gleichberechtigte, demnach auch frauenfreundliche Handlungen vollziehen. So kämpft die Lehrerin Professor McGonagall gegen Severus Snape,46 den scheinbaren Antagonisten, und Molly Weasley tötet Bellatrix, eine der engsten Verbündeten Voldemorts, zum Schutz ihrer Kinder. Und die vermutlich stärkste weibliche Aktion im letzten Film wird von Draco Malfoys Mutter Narcissa durchgeführt, die selbst zu den Unterstützern Voldemorts zählt, diesen aber hintergeht und damit Harry und allen anderen das Leben rettet. Dies alles sind starke Momente weiblicher Charaktere, die jedoch meist weder zu wertbaren Dialogen zwischen den Frauen noch zu eigenen Handlungssträngen in den beiden Filmen geführt haben.
5 AUSBLICK: DER LUNA LOVEGOOD-TEST Dass Rowling sich selbst als Feministin sieht, wird anhand einer Untersuchung ihrer Bücher im Hinblick auf weibliche Charaktere zunächst glaubhaft bestätigt. Alle Bücher weisen starke Frauen- oder Mädchenfiguren mit eigenen Erzählsträngen und diversen Dialogen untereinander auf – im Sinne dieser Ausarbeitung lässt sich die Buchreihe somit als frauenfreundlich betrachten. Anders verhält es sich jedoch tatsächlich bei der filmischen Umsetzung der Geschichte. Während der Bechdel-Test immerhin sieben der acht Filme attestiert, sie seien frauenfreundlich bzw. zeigten eine symmetrische Geschlechterverteilung, sind es beim Mako MoriTest aufgrund der stärker ausgearbeiteten Kriterien nur vier. Nach frauenfreund-
45 Vgl. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Deathly Hollows, Bd. 7. New York 2009. S. 162. 46 Vgl. Yates: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil II. 00:35:45-00:36:15.
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lichen drei ersten Filmen werden ab dem vierten Teil weibliche Charaktere auf komplizierte Teenagerliebesbeziehungen, Gehilfenstatus oder eindimensionalen Antagonismus reduziert – die Filmreihe bemüht sich ab dem Übergang von Kindercharakteren zu Teenagern größtenteils nicht mehr um die gleichberechtigte Darstellung der weiblichen Charaktere. Auch die Notwendigkeit, Buchvorlagen für Filme zu kürzen, rechtfertigt nicht zwangsläufig die Auswahl der Kürzungen, insbesondere, wenn diese im Großteil dieser jugendprägenden Filmreihe zu Ungunsten der Frauen und damit weiblicher Vorbilder geschieht. Durch die Tests konnten also Defizite festgestellt werden, aber bei beiden Tests haben sich Schwierigkeiten sowohl in der Theorie als auch in der Anwendung auf Harry Potter herauskristallisiert. Diese sollen nun noch einmal zusammenfassend benannt werden, um daraus schließlich einen neuen Test zu konzipieren. Beim Bechdel-Test haben sich sehr deutliche Schwächen herausarbeiten lassen. Ein Name muss nicht unbedingt eine Aussage darüber treffen können, wie frauenfreundlich die Figur konzipiert ist. Auch die Anzahl der Frauen kann zwar deren Präsenz aufzeigen, aber nicht für eine frauenfreundliche Repräsentation stehen. Ähnlich verhält es sich mit dem geforderten Gespräch. Wenn zwei Frauen in einen Dialog verwickelt werden und dieser nicht von einem Mann handelt, kann dies auf eine eigenständige Themenwahl hindeuten, jedoch nicht auf eine zwangsläufig frauenfreundliche Darstellung. Diese drei Kriterien mögen zwar bei Nichtbestehen einen starken Hinweis auf Defizite bei der Frauendarstellung liefern, treffen aber selber keine eindeutige Aussage darüber. Aus diesem Grund fließen sie nicht mit in die Entwicklung des neuen Tests ein. Durch den Mako Mori-Test kann festgestellt werden, ob ein weiblicher Charakter lediglich als Gehilfin oder love interest dient oder komplett selbstständige Ziele verfolgt und ob eine Frau eher ein Subjekt darstellt oder als ein Objekt der auf männliche Figuren ausgerichteten Narration fungiert. Wie jedoch in der Anwendung herausgestellt wurde, ist auch dieser Test nicht unproblematisch. Ein großes Defizit zeigt sich im fünften Film bei Dolores Umbridge, da die Frauenfreundlichkeit über eine Handlung, die unabhängig von einem männlichen Charakter erlebt wird, definiert wird. Stärke bzw. Frauenfreundlichkeit einer Charaktergestaltung und eigenständige Handlung korrelieren jedoch nicht unbedingt, etwa, wenn sich der Charakter hauptsächlich auf abwertende Klischees stützt. Schwierigkeiten tauchen außerdem dann auf, wenn ein weiblicher Charakter in seinem Handeln auch einen Mann unterstützt, so wie Hermione in Harry Potter. An dieser Stelle müsste betrachtet werden, ob der weibliche Charakter auch eigene Ziele mit der Unterstützung verfolgt oder lediglich eine Gehilfin darstellt. Auf Nebencharaktere wie Luna Lovegood, welche starke, charakterbildende Momente, aber keinen definierten Handlungsstrang aufweisen, ist der Test nicht
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anwendbar. Auch bei der Gegenprobe, z. B. bei Neville, ergibt der Test meist negative Ergebnisse, und das obwohl der Charakter im Verlauf der Gesamthandlung der Filmreihe eine Entwicklung durchlebt. Der Mako Mori-Test kann demzufolge nur auf Hauptcharaktere oder Nebencharaktere mit einer starken Präsenz angewandt werden, da nur diese überhaupt eigene Handlungsstränge aufweisen können. Im Allgemeinen beschäftigt sich der Test hauptsächlich mit einem einzelnen Charakter und kann durch einmaliges Anwenden wenig über die allgemeine Darstellung verschiedener Frauenfiguren eines Films aussagen. Für eine klare Aussage über die Frauenfreundlichkeit im gesamten Film müsste der Test somit auf alle geeigneten Frauenfiguren angewandt werden. Zu bedenken ist außerdem, dass es bestimmte Filmtypen gibt, die vom Bechdel- und Mako Mori-Test ausgenommen werden können, wozu etwa Filme gehören, die eine reine Männerdomäne repräsentieren, da hier der Anspruch einer ausgewogenen Frauenpräsenz nicht gegeben sein kann (vgl. auch Kapitel 1). Aus diesen Erkenntnissen lässt sich ein neuer Test erarbeiten, welcher auch Nebencharakteren wie Luna Lovegood gerecht wird: (1) Handelt es sich bei der erzählten fiktiven Welt um eine, in der Frauenfiguren
als tragende Figuren erwartet werden können, (2) und wird der untersuchten Frauenfigur ein gleichberechtigtes Maß an charakterbildenden Momenten,47 Entwicklungen oder Handlungen im Vergleich zu den männlichen Charakteren zugesprochen, (3) ohne dass diese Momente, Entwicklungen oder Handlungen nur zur Unterstützung des Erzählbogens eines männlichen Charakters dienen (4) und erfüllt diese Figur nicht (oder nicht hauptsächlich) weibliche Stereotype? Das erste Kriterium stellt sozusagen einen Eingangstest dar, der nach dem Allesoder-Nichts-Gesetz überprüft, ob ein Film, Buch, etc. überhaupt untersucht werden kann. Fällt der Film schon hier durch, wird er als nicht bewertbar betrachtet. Werden die vier Fragen mit »ja« beantwortet, gilt die untersuchte Figur als gleichberechtigt und damit frauenfreundlich. Dieser Test ist dann auf jeden weiblichen Charakter eines Films oder anderen Mediums anzuwenden, um dessen gesamte fiktive Welt auf Frauenfreundlichkeit zu untersuchen. Dabei ist zu beachten, dass der Vergleich zu den männlichen Charakteren stets auf der gleichen Ebene stattfinden muss, so soll kein männlicher Hauptcharakter als Vergleichsperson für einen weiblichen Nebencharakter dienen. Eine Gegenprobe ist für das Gesamturteil auch hier angebracht.
47 Vgl. zum Gedanken der Charakterbildung in diesem Band: Bachmann, Rebecca.
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Betrachtet man nun zum Beispiel den sechsten Harry Potter-Film, der beim Mako Mori-Test durchgefallen ist, wird dieser auch den neuen Test insgesamt nicht bestehen, während aber die einzelnen Charaktere detaillierter betrachtet und beurteilt werden als bei den anderen behandelten Tests. So kann mit dem neuen Test herausgearbeitet werden, dass z. B. Luna Lovegood trotz des schlechten Gesamtergebnisses des sechsten Films einen frauenfreundlichen Charakter darstellt: (1) Bei der fiktiven Welt von Harry Potter handelt es sich trotz offensichtlicher
Unterschiede um eine der unseren Welt ähnliche, in der mit Frauenfiguren zu rechnen ist. (2) Die untersuchte Figur Luna Lovegood hat im sechsten Film viele charakterbildende Momente: Sie verteilt im Zug den Quibbler und redet mit Ginny über Fabelwesen, sie findet Harry Potter gelähmt im Zug,48 steigt mit diesem aus, beide reden dabei über ihre Freundschaft und sie heilt seine gebrochene Nase.49 Sie trägt einen selbstgebastelten Löwenkopf zum Anfeuern eines Quidditchteams50 und wird von Harry als Begleitung zu einer Feier eingeladen, jedoch nur freundschaftlich. Auf dem Weg zu dieser erzählt sie Harry, dass sie aufgrund ihres Schlafwandelns auch im Bett Schuhe trägt.51 (3) Sie dient dabei nicht zur Unterstützung eines männlichen Charakters und hat eine ähnliche Präsenz wie Draco Malfoy. Beide sind zudem nicht in die Liebesverstrickungen einbezogen. (4) Ihre Darstellung ist nicht durch weibliche Stereotype gekennzeichnet. Luna Lovegood wird durch ihre Darstellung viel Raum für eine eigene Charakterbildung gegeben, die nur geringfügig den Hauptcharakter unterstützt. Während die anderen weiblichen Figuren oft auf Liebesdramen reduziert werden, erscheint Lunas Darstellung eigenständig und gleichberechtigt. Dies kann das Gesamturteil des Films zwar nicht ändern, zeigt jedoch, dass dieser Test die Möglichkeit bereitstellt, Charaktere im Einzelnen vielschichtiger zu betrachten als bisherige Tests. Aufgrund dieser geeigneten Veranschaulichung dient die Figur Luna Lovegood als Namensgeberin für den neuen Test. In der weiteren Anwendung des Luna Lovegood-Tests abseits des Harry Potter-Universums werden die weiter oben genannten Filmbeispiele, bei denen der Bechdel-Test fragwürdige Ergebnisse lieferte, wie American Pie 2 und Transformers, spätestens beim vorletzten oder letzten Kriterium als frauenunfreundlich 48 Vgl. Yates: Harry Potter und der Halbblutprinz. 00:21:40-00:22:05. 49 Vgl. ebd., 00:26:01-00:28:04. 50 Vgl. ebd., 00:58:40-00:59:00. 51 Vgl. ebd., 01:05:10-01:05:30.
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entlarvt. Auch die Schwächen des Mako Mori-Test, die sich in der Bewertung von Luna Lovegood und Dolores Umbrigde äußerten, werden hier durch das Einbeziehen von charakterbildenden Momenten und das Aussortieren von abwertenden Klischees ausgeglichen. Um den Luna Lovegood-Test auf die Probe zu stellen, wird dieser im Folgenden auf zwei neue Bereiche angewandt: Animefilm und Computer-Spiel. Um den Umfang der Arbeit gering zu halten, werden dafür Beispiele gewählt, die nur einen weiblichen Charakter aufweisen – und somit auch automatisch beim Bechdel-Test durchfallen würden. Wendet man den Test auf den Animefilm Ghost in the Shell (Mamoru Oshii, 1995)52 an, welcher einen weiblichen Hauptcharakter, aber keine weiteren Frauencharaktere aufweist, ergibt sich beim neuerstellten Test das folgende Ergebnis: (1) Die fiktive Welt spielt 2029 in Japan, Frauen oder weiblich erscheinende Cy-
borgs sind zu erwarten. (2) Der Hauptcharakter Major Motoko Kusanagi hat einen eigenständigen Handlungsstrang und eine lange Entwicklung, bei der sie sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzt. Sie ist als Hauptcharakter nicht mit den männlichen Charakteren, die nur Nebenfiguren darstellen, vergleichbar. (3) Ihre Entwicklung dient keinem männlichen Charakter zur Unterstützung, auch wenn sie für einen von Männern dominierten Bereich, die Polizeibehörde »Sektion 9«, arbeitet. Sie setzt sich neben ihrem Job mit ihrer Identität auseinander, welche nicht eindeutig als Cyborg oder Mensch einzuordnen ist. (4) Eine stereotype Darstellung lässt sich bei ihrem Charakter nicht feststellen, unter anderem da sie eine hohe Position in der Polizeibehörde innehat. Durch ihr Cyborgdasein hat sie zwar einen sozusagen perfekten Körper, der aber im Film nicht sexualisiert wird.53 Der Luna Lovegood-Test gilt somit als bestanden. Major Motoko Kusanagi erscheint den männlichen Charakteren mindestens ebenbürtig und hat, ähnlich wie Mako Mori, einen eigenen Handlungsstrang, charakterbildende Momente sowie eigene Ziele, die sie verfolgt.
52 Oshii, Mamoru: Ghost in the Shell. 2005 (DVD). Vgl. zu Ghost in the Shell auch in diesem Band: Riechert, Nadja sowie Scharf, Oliver. 53 Tatsächlich wird die Figur insbesondere zu Beginn vollständig nackt und objektiviert dargestellt. Allerdings wird in diesen Bildern die Künstlichkeit der Körperteile als Bestandteile eines Cyborgs visualisiert und gerade durch diese überzogene Objektivierung erscheint die Darstellung nicht sexualisiert.
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Als Anwendungsbeispiel aus der Welt der Computer-Spiele dient aus der bekannten Uncharted-Reihe Uncharted – Drakes Schicksal (Amy Hennig, 2007),54 der erste der bis 2016 vier erschienenen Teile. Der Hauptcharakter Nathan Drake wird im Verlauf des ersten Spiels von zwei Figuren begleitet, seinem besten Freund Victor Sullivan und der Reporterin Elena Fisher. (1) Die fiktive Welt ist an unserer Gegenwart angelehnt und beschäftigt sich mit
dem Erleben von Abenteuern und dem Bergen von Schätzen. Frauenfiguren sind somit zu erwarten. (2) Elena Fisher hat als Reporterin einen eigenen Handlungsstrang, in dem sie nach einer außergewöhnlichen Story sucht; in diesem Rahmen folgt sie dem Hauptcharakter und unterstützt diesen auch bei seinem Abenteuer. Ihre Position ist sehr vergleichbar mit der des besten Freundes Victor Sullivan. (3) Im Verlauf der Geschichte kommt es immer wieder zu Momenten, in denen sie Drake rettet oder ihn, genau wie auch Sullivan, in einem Schussgefecht unterstützt. Mit der Hilfe verhält es sich aber auch umgekehrt, als sie von den Antagonisten gefangen genommen wird. Auch eine Liebesgeschichte beider wird immer wieder kurz eingestreut, jedoch wesentlich öfter ist thematisiert, wie sie versucht »die Story des Jahres« abzufilmen und ihrem Job als Reporterin nachgeht. (4) Der letzte Punkt gilt ebenfalls als bestanden, da die Figur zum Beispiel gut mit Waffen und Technik sowie jeglicher Art von Fahrzeugen umgehen kann. Auch das Klischee sexualisierter Frauencharaktere in Spielen wird nicht erfüllt. Insgesamt ist Elena Fisher zwar für Nathan Drake eine helfende Hand, aber sie agiert und folgt ihm eigenständig und verliert ihr eigenes Interesse im Verlauf der Geschichte nicht aus den Augen. Hätte man Elena Fisher aber mit dem Mako Mori-Test analysiert, wäre man aufgrund von »supporting a man« auf ein negatives Ergebnis gekommen und hätte dabei außer Acht gelassen, dass sie nicht nur Nathan Drake unterstützt, sondern auch ihre eigenen Interessen vertritt. Durch die Orientierung an den Fehlern des Mako Mori- und des Bechdel-Tests konnte ein neuer, verbesserter Test entstehen: der Luna Lovegood-Test, welcher mehr Aspekte einer frauenfreundlichen Darstellung als nur Eigenständigkeit und nicht männerbasierte Dialoge abfragt. Auch wenn dieser neue Test ebenfalls genauerer Untersuchung bedarf, um seine Anwendbarkeit und mögliche Fehlerquellen zu ermitteln, zeigt der erste Versuch einer Anwendung eine gelungene Alternative zu bisher verwendeten Tests. Durch die Arbeit mit solchen Tests wird eine 54 Hennig, Amy: Uncharted – Drake’s Fortune. 2007 (PS3).
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Sensibilisierung für kritische Frauenbilder in Medien gefördert und so möglicherweise ein Anstoß für Filmemacher_innen, Buchautor_innen und Spieleentwickler_innen gegeben, die Geschlechter gleichberechtigt darzustellen, wie es in der heutigen Zeit vermehrt gefordert und angebracht wird.55
QUELLENVERZEICHNIS Bay, Michael: Transformers. 2007 (DVD). Bechdel, Alison: The Rule. http://alisonbechdel.blogspot.de/2005/08/ rule.html (Stand: 22.05.2017). Bloomsbury Publishing Plc: J. K. Rowling. http://www.bloomsbury.com/author/ jk-rowling/ (Stand: 07.02.2017). Cameron, James: Avatar - Aufbruch nach Pandora. 2010 (DVD). Columbus, Chris: Harry Potter und der Stein der Weisen. 2001 (DVD). Columbus, Chris: Harry Potter und die Kammer des Schreckens. 2002 (DVD). Cuaron, Alfonso: Harry Potter und der Gefangene von Askaban. 2004 (DVD). Hennig, Amy: Uncharted – Drake’s Fortune. 2007 (PS3). Hibbard, Laura: Hermione Granger: The Heroine Women Have Been Waiting For. http://www.huffingtonpost.com/laura-hibbard/hermione-granger-the-hero_b_ 898414.html (Stand: 22.05.2017). Hood, Nathaneal: Mako Mori and the Gender Politics of Pacific Rim (2013). Journal of American Studies of Turkey, 2014. Newell, Mike: Harry Potter und der Feuerkelch. 2005 (DVD). Oshii, Mamoru: Ghost in the Shell. 2005 (DVD). Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone, Bd. 1. New York 2009. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, Bd. 2. New York 2009. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban, Bd. 3. New York 2009. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Goblet of Fire, Bd. 4. New York 2009. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Order of Phoenix, Bd. 5. New York 2009. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince, Bd. 6. New York 2009.
55 Für ihre Unterstützung bei der Erarbeitung dieses Beitrags möchte ich mich bei Laura Müller und Franziska Rozicki bedanken.
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Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Deathly Hollows, Bd. 7. New York 2009. Romano, Aja: The Mako Mori Test: ›Pacific Rim‹ inspires a Bechdel Test alternative. http://www.dailydot.com/fandom/mako-mori-test-bech del-pacificrim/ (Stand: 22.05.2017). Rogers, James B.: American Pie 2. 2006 (DVD). Stowell, Dan: Quantifying the Bechdel Test of Gender Representation in Major and Independent Film. 2012. S. 1. https://figshare.com/articles/Quantifying_t he_Bechdel_test_of_gender_representation_in_major_and_independent_film /3167071 (Stand: 07.03.2017). Verschiedene Autoren: Bechdeltest. https://bechdeltest.com (Stand: 22.05. 2017). Yates, David: Harry Potter und der Orden des Phönix. 2008 (DVD). Yates, David: Harry Potter und der Halbblutprinz. 2009 (DVD). Yates, David: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil I. 2010 (DVD). Yates, David: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil II. 2011 (DVD)
Autorinnen und Autoren
Bachmann, Rebecca, studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Kassel. Zurzeit verfasst sie ihre Dissertation am dortigen Institut für Philosophie zur Funktion philosophischer Gedankenexperimente am Beispiel der wissenschaftlichen Debatte um künstliche Intelligenz. Bodden, Tamara, studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Kassel. Aktuell arbeitet sie an einem Promotionsprojekt zum Diskurs um die öffentliche Finanzierung des Kulturbetriebs am Beispiel der documenta 14. Böhnert, Martin, forscht und lehrt am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Seine Forschungsinteressen umfassen die Philosophie der Tierforschung, Philosophie und Popkultur sowie Plausibilität als Argumentationsmuster im Kontext wissenschaftlicher Tatsachen. Fuhlmann, Madeline Isabelle, studiert Philosophie und Germanistik an der Universität Kassel. Gens, Julia, studierte Philosophie und Visuelle Kommunikation an der Universität Kassel und der Kunsthochschule Kassel. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie zur Verwendung der Farbe Pink in den Arbeiten von Sylvie Fleury. Aktuell arbeitet sie zum Einsatz von Virtual Reality im Bereich des Ausstellens. Kapitz, Lisa Maria, studierte Anglistik und Philosophie an der Universität Kassel. Ihre Abschlussarbeit verfasste sie zum Thema »TimeTravel Fiction. An Analysis of the Philosophy of Time«.
246 | Vom Binge Watching zum Binge Thinking
Karthäuser, Vanessa, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Kassel und absolviert momentan ihr Referendariat am Max-Planck-Gymnasium in Göttingen. Reh, Jannis, studiert Philosophie und Germanistik an der Universität Kassel. Reszke, Paul, arbeitet am Institut für Germanistik der Universität Kassel. In seiner Lehre und Forschung beschäftigt er sich mit gegenwärtigen medialen Diskursen sowie im Rahmen eines Projekts des documenta-Instituts mit linguistischen Perspektiven auf Ausstellungen. Riechert, Nadja, studiert Philosophie, Germanistik, Anglistik und das bildungsund gesellschaftswissenschaftliche Kernstudium an der Universität Kassel Scharf, Oliver, studiert Philosophie und Soziologie an der Universität Kassel. Sowa, Jonas, studiert Germanistik und Geschichte an der Universität Kassel und der Universität Szeged (Ungarn). In seiner Abschlussarbeit stellt er raumtheoretische Überlegungen zu Jörg Fausers Roman »Rohstoff« an. Waldmeyer, Melanie, studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Kassel und hat ihre Abschlussarbeit zu Giordano Brunos heroischen Leidenschaften verfasst.
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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