Vom Bauen und Wohnen: 20 Jahre Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung in der DDR [Reprint 2021 ed.] 9783112485088, 9783112485071


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German Pages 412 [433] Year 1983

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Vom Bauen und Wohnen: 20 Jahre Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung in der DDR [Reprint 2021 ed.]
 9783112485088, 9783112485071

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Vom Bauen und Wohnen

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE

Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte BAND 71

Vom Bauen und Wohnen 20 Jahre Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung in der DDR

Herausgegeben von Hans-Jürgen Räch Unter Mitarbeit von Lotar Balke, Karl Baumgarten und Hermann Wirth

Mit 147 Abbildungen, 4 Tabellen und 65 Bildern auf 32 Kunstdrucktafeln

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1982

Redaktion: MARGIT PERSDOTTER

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Lektorin: Hildegard Palm © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 • 100/147/82 Einband und Schutzumschlag: Annemarie Wagner Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer 753 883 6 (2034/71) • LSV 0705 • P 218/80 Printed in G D R DDR 42,- M

Inhalt

Vorwert

7

Chronik des Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung RÄCH) hauen und Wohnen

in den Dörfern

der

(HANS-JÜRGEN 10

Feudalzeit

K A R L B A U M G A R T E N : Das mecklenburgische Bauernhaus vor dem Dreißigjährigen Krieg W E R N E R R A D I G : Die Oberlauben an Stallgebäuden in Brandenburg . . . . A L F R E D F I E D L E R : Zur Frage der Reglementierung des ländlichen Bauwesens in Sachsen im 17./18. Jahrhundert K A R L B A U M G A R T E N : Zur Frage der Reglementierung ländlichen Bauens im Mecklenburg des 18. Jahrhunderts A D E L H E I D S C H E N D E L : Veränderungen traditioneller Bauformen durch obrigkeitliche Einflüsse in Brandenburg um 1800 Wohn- und Wirtsebaftsbauten

in den Städten der

im Prozeß der bürgerlichen

82 86 93

Feudalzeit

F R A N K - D I E T R I C H J A C O B : Die Görlitzer bürgerliche Hausanlage der Spätgotik und Frührenaissance H E I N R I C H M A G I R I U S : Archäologische Untersuchungen am Haus Untermarkt 5 in Görlitz - Ein Beitrag zur Hausforschung A L F R E D F I E D L E R : Abriß zur Geschichte der Ackerbürgerstädte in Sachsen . K A R L B A U M G A R T E N : Einige Bemerkungen zur Entwicklung des Ackerbürgerhauses in Mecklenburg Bauen und Wohnen

49 61

Umwälzung

und im

109 126 141 151

Kapitalismus

B E R N D S C H Ö N E : Haus und Wohnweise der Bandweber in der Westlausitz . . K A R L B A U M G A R T E N : Die Auswirkungen der Agrarreformen des 19. Jahrhunderts auf das domaniale Bauernhaus Mecklenburgs H A N S - J Ü R G E N R Ä C H : Bauen und Wohnen der werktätigen Dorfbevölkerung im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Magdeburger Börde A L F R E D F I E D L E R : Vom Entwicklungsprozeß des dörflichen Bauens und Wohnens in Sachsen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1918

159 172 181 200

6

Inhalt

P E T E R F I S C H E R : Die Veränderungen der Haus-, Hof- und Siedlungsformen in der nordwestlichen Altmark während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus R U D O L F S K O D A : Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut vor 1850 . . . J O A C H I M SCHULZ: Zum Einfluß der deutschen Arbeiterbewegung auf die Entwicklung des Wohnungswesens und Städtebaus im 19. und 20. Jahrhundert . . . W O L F G A N G R U D O L P H : Kulturkontaktbereiche in den Hafenstädten der südlichen Ostseeküste (1600 bis 1900) Bauen und Wohnen im gegenwärtigen

und Betreuung

233 259

Dorf

W A L T E R N I E M K E : Die schrittweise Umgestaltung des Dorfes zur Schaffung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen L O T AR B A L K E : Zu Veränderungen der Bau- und Wohnweise in einigen Dörfern des Bezirkes Cottbus Erschließung Wohnkultur

206 223

des kulturellen

Erbes in der überlieferten

275 284

Bau- und

H E R M A N N W I R T H : Historische Faktoren in der baulich-räumlichen Planung, dargestellt am Beispiel archäologischer Denkmale K O N R A D P Ü S C H E L : Werterhaltung - Erhaltungswerte J O C H E N H E L B I G : Die Volksarchitektur in Sachsen und Probleme ihrer denkmalpflegerischen Betreuung K A R L B A U M G A R T E N / H A N S - J Ü R G E N R Ä C H : Zur Notwendigkeit und kulturpolitischen Bedeutung der Errichtung von volkskundlichen Freilichtmuseen . . K A R L B A U M G A R T E N / H A N S - J Ü R G E N R Ä C H : Vorlage des Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung zur Schaffung und zum Ausbau volkskundlicher Freilichtmuseen in der Deutschen Demokratischen Republik

291 298 305 320

324

Zum Entwicklungsstand der Freilichtmuseen in der D D R

341

KARL B A U M G A R T E N : Das Material der Wände des bäuerlichen Wohnhauses - Erläuterungen zum Kartenausschnitt Deutsche Demokratische Republik des „Ethnologischen Atlas Europas" (Vorauspublikation)

367

Abbildungsnachweise

376

Tafelnachweise

377

Autorenverzeichnis

378

Vorwort

Mit dem vorliegenden Sammelband, der anläßlich des 20jährigen Bestehens des Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR erscheint, legen wir eine Auswahl von Studien zur Geschichte von Bauen und Wohnen der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes vor. Anliegen der Herausgeber ist es, einen möglichst repräsentativen Überblick über die vom Arbeitskreis geleistete wissenschaftliche und kulturpolitische Arbeit zu geben und einen Teil der zumeist unveröffentlichten, auf den Jahrestagungen vorgetragenen Referate bzw. von den Mitgliedern erarbeiteten Materialien zur Diskussion zu stellen. Die Studien sind - gemäß der Zielstellung des vorrangig von Volkskundlern und Denkmalpflegern getragenen Arbeitskreises - sowohl der Untersuchung der Ursachen und Triebkräfte für den Wandel der konkret-historischen Erscheinungsformen in der Geschichte von Bauen und Wohnen der werktätigen Klassen und Schichten als auch der Erschließung, Bewahrung und Pflege des kulturellen Erbes in der überlieferten Bauund Wohnkultur gewidmet. Die Auswahl ist historisch-chronologisch gegliedert und schließt mit mehreren Beiträgen zur Erbebetreuung ab. Referate, die sich auf die ur- und frühgeschichtliche Entwicklung bzw. auf Verhältnisse außerhalb des Territoriums der D D R bezogen, bleiben unberücksichtigt. Die Referenten der Tagungen setzten sich zumeist aus Vertretern unterschiedlicher Disziplinen zusammen. Neben den Volkskundlern waren es vor allem Bau- und Kunsthistoriker, Architekten und Städteplaner, Denkmalpfleger und Museologen. Sie bilden demzufolge die Mehrzahl der Autoren dieses Bandes. Daraus ergeben sich durchaus unterschiedliche Betrachtungsweisen, die jedoch alle auf das gemeinsame Ziel gerichtet sind, mit den wissenschaftlichen Untersuchungen zu historischen und gegenwärtigen Entwicklungsprozessen in der Bau- und Wohnkultur das Verständnis für die Wertigkeit älterer Bausubstanz zu erwecken, tiefere Einblicke in die Wesenszüge gesellschaftlich bedingter historischer Zustände zu erlangen und nicht zuletzt zur Nutzbarmachung überlieferter Erscheinungsformen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beizutragen. Wie notwendig es ist, sich das kulturelle Erbe kritisch anzueignen, unterstrich einmal B E R T O L T BRECHT mit den Worten: „Niemand kann doch erwarten, daß es sich bei diesem Erben um ein friedliches fleißiges Hereinschaffen herrenlos im Regen stehengelassener Güter handeln könnte." 1 Voraussetzung muß eine eingehende Prüfung aller Zeugnisse der Vergangenheit sein, wobei es Anliegen unserer Gesellschaft ist, die Leistungen - und dabei natürlich auch die durch die Klassengesellschaft gezogenen Grenzen - der werktätigen Klassen und Schichten besonders herauszustellen. 1

B E R T O L T BRECHT, Schriften zur Politik und Gesellschaft, Bd. 1, Berlin-Weimar 1 8 6 8 , S. 1 4 2 .

Räch

8

Dieser Orientierung galten die Bemühungen des Arbeitskreises seit Anbeginn. Zunächst widmete er sich - dem traditionellen Schwerpunkt volkskundlicher Hausforschung folgend - vorrangig den wertvollen baukulturellen Zeugnissen ländlicher Volksarchitektur, zu deren intensiver Dokumentation und Erforschung er anregte. D a b e i wurde besonderes Augenmerk auf die konkret-historische Betrachtungsweise, die sozialökonomische Einbettung und die Ursachen regionaler Differenziertheit gelegt. Neben den Methoden der Dokumentation erhalten gebliebener Bauten (Auswahlkriterien, Vermessungstechniken, Darstellungs- und Rekonstruktionsprinzipien u. a.), der Altersbestimmung der vermessenen Gebäude (z. B . anhand einzelner K o n s t r u k t i o n - und Schmuckelemente) und der Nutzung archivalischer und ikonographischer Quellen standen stets Probleme der B e wahrung und Pflege dieser Baudenkmale im Mittelpunkt der Beratungen. Zunehmend wurden neben dem bäuerlichen Wohnhaus auch die bäuerlichen Wirtschaftsgebäude und die Unterkünfte des dörflichen Land- und Manufakturproletariats in die Betrachtung einbezogen. Im Verlaufe des Bestehens des Arbeitskreises wurde jedoch nicht nur der Mitglieder- und Teilnehmerkreis ständig erweitert, es gelang auch, das Themenspektrum wesentlich zu verbreitern. So wurden Fragen der Entwicklung städtischer proletarischer Wohnverhältnisse, des feudalzeitlichen Bürgerhauses, der kleinstädtischen Siedlungen (einschließlich der spezifischen Form der Ackerbürgerstädte) u. a. behandelt. E s konnten Teilnehmerzahl 66, 6V 60-Volkskundler -Denkmalpfleger 3-Geographen 50Bau-und Kunsthistoriker E l - Architekten, Statt-und Dorf planer -Museologen - Historiker, Wirtschaftshistoriker -Prähistoriker S -Sprachwissenschaftler O - Kulturhistoriker 35- • n - Heimatforscher, Kulturfunktionäre und andere 30• Interessenten 55

25 20 15 10 5 1 2 3 4 5 67 Abb. 1

8 3 10 11 12 13 % 15 15 17 'S 19 20 Jahrestagung

Zahl und Beruf der Teilnehmer an den Jahrestagungen des Arbeitskreises

von 1961 bis 1979.

9

Vorwort

diesbezügliche Forschungen angeregt bzw. erste Forschungsergebnisse einem größeren Interessentenkreis zugänglich gemacht werden. 2 Die Tatsache, daß in den letzten Jahren, insbesondere seitdem sich die Diskussion um Tradition und Erbe sowie um die Ausweitung der kulturhistorischen Forschung belebt hat, die Zahl der Teilnehmer und der vertretenen Disziplinen kontinuierlich zugenommen hat, unterstreicht die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Das wird auch durch die zunehmende Beteiligung interessierter Laienforscher und Kulturfunktionäre deutlich (Abb. 1). Dennoch muß eingestanden werden, daß wesentliche Bereiche der Haus- und Siedlungsgeschichte noch nicht berücksichtigt werden konnten. Es wird Aufgabe der weiteren Tätigkeit des Arbeitskreises sein, auch solche Probleme wie die Wohnweise der herrschenden Klassen und Schichten im Feudalismus und Kapitalismus, das Bauen und Wohnen der plebejischen Schichten, das Wechselverhältnis zwischen bürgerlicher und proletarischer Wohnkultur und die Herausbildung neuer Wohngewohnheiten in den sozialistischen Großstädten in den Mittelpunkt der Beratungen zu stellen. Die in Form dieses Studienbandes vorgenommene Zwischenbilanz wäre unvollständig, wenn nicht auf die besonderen Verdienste einiger Mitglieder ausdrücklich verwiesen würde. Seit der Gründung des Arbeitskreises haben Prof. Dr. W E R N E R R A D I G und Dr. K A R L B A U M G A R T E N (beide vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R ) als langjährige Vorsitzende die thematischen und methodischen Akzente gesetzt und sich unermüdlich für die Erhöhung des Niveaus und die Verbindung mit der denkmalpflegerischen Praxis eingesetzt. Ferner haben zahlreiche Mitglieder bei der inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitung der Jahrestagungen mitgewirkt, zumeist unentgeltlich Exkursionsführer erarbeitet und gemeinsam mit weiteren regionalen Kräften wesentlich zum Gelingen der Veranstaltungen beigetragen. Stellvertretend für alle Mitwirkenden seien die Kollegen PETER FISCHER (Salzwedel), Dr. J O C H E N HELBIG (Dresden), SERAFIM POLENZ (Schwerin) und H A R T M U T W E N Z E L (Weimar) genannt. Ihnen allen, einschließlich M A R G I T P E R S D O T T E R und GÜNTHER GROSS (beide Berlin), die seit etlichen Jahren in bewährter Weise die Tagungsorganisation übernahmen, sei ausdrücklich gedankt. Dieser Dank gebührt in gleicher Weise allen Autoren dieses Bandes, die größtenteils ihre vor Jahren gehaltenen Beiträge speziell für diesen Zweck noch einmal redigierten oder bearbeiteten bzw. neu schrieben. So faßte J O C H E N HELBIG die Ergebnisse etlicher Tagungsbeiträge zu einem Aufsatz zusammen. PETER FISCHER erarbeitete einen Beitrag, der weit über die im Jahre 1973 gegebenen Kommentare zur Sonderausstellung anläßlich der 14. Jahrestagung hinausgeht. Dr. H E R M A N N W I R T H (Weimar) steuerte einen aus zahlreichen Diskussionsbeiträgen erwachsenen Aufsatz bei. Ferner sei noch der verstorbenen Mitglieder des Arbeitskreises, der Kollegen W A L TER V O N FRITSCHEN, Dr. OSKAR SCHMOLITZKY und Prof. Dr. Dr. HERM A N N W E I D H A A S , gedacht, die tatkräftig in diesem Gremium mitgewirkt und den wissenschaftlichen Meinungsstreit wesentlich mitgetragen haben. Abschließend sei dem Akademie-Verlag und besonders der Leiterin des Lektorats Ethnographie, H I L D E G A R D PALM, gedankt für die Möglichkeit der Drucklegung und die großzügige Ausstattung dieses Bandes. Berlin, Oktober 1979 2

HANS-JÜRGEN RÄCH

Das wichtigste Medium waren die jährlich durchgeführten Arbeitstagungen, von denen seit 1 9 7 3 zudem im Manuskriptdruck vervielfältigte Protokollbände angefertigt wurden.

Chronik des Arbeitskreises f ü r Haus- und Siedlungsforschung

Der Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung (AHS) betrachtet es seit seiner Gründung vor 20 Jahren als eine seiner wichtigsten Aufgaben, durch die Zusammenführung von Vertretern möglichst vieler Disziplinen, die sich mit der Geschichte von Bauen und Wohnen befassen, die Effektivität der Forschungen auf diesem Sachgebiet zu erhöhen. Gilt es doch, durch die wissenschaftliche Untersuchung dieses wichtigen kulturhistorischen Bereiches einen Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung unseres marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes zu leisten. Auf das engste mit dieser Aufgabenstellung verbunden ist das Bemühen, das in der überlieferten Bausubstanz enthaltene kulturelle Erbe zu erschließen, zu bewahren und für die entwickelte sozialistische Gesellschaft nutzbar zu machen. Bis zum Jahre 1960 gab es jedoch lediglich einige, von Mitarbeitern verschiedener Institutionen (z. B. von dem Institut für Theorie und Geschichte der Baukunst an der Deutschen Bauakademie, dem Institut für Denkmalpflege, der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar und dem Institut für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin) getragene und zumeist isoliert voneinander betriebene Forschungen, die im Interesse einer Effektivitätssteigerung möglichst abzustimmen und zu koordinieren waren. Auf Initiative der „Kommission für Heimatforschung" an der Akademie der Wissenschaften wurde deshalb am 16. März 1961 ein „Ausschuß für Hausforschung" gegründet, der es sich zur Aufgabe stellte, durch kontinuierlich durchzuführende Arbeitsberatungen und Tagungen den Austausch von Forschungsergebnissen zu erleichtern und zu beschleunigen, den wissenschaftlichen Meinungsstreit zu beleben, neue Forschungen anzuregen und möglicherweise zu koordinieren sowie die Nutzbarmachung der Forschungsergebnisse für die gesellschaftliche Praxis zu unterstützen. Angesichts der Bedeutung, die der überlieferten Bausubstanz als historischer Quelle und als Zeugnis der Schöpferkraft des werktätigen Volkes zukommt, galt das Interesse zunächst jenen wertvollen Beispielen traditioneller Volksarchitektur, deren Erhaltung besonders gefährdet war. Dazu gehörten gerade in jenen Jahren vor allem die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, die durch den Übergang zur genossenschaftlichen Wirtschaftsführung in der Landwirtschaft immer weniger den aktuellen ökonomischen und wohnkulturellen Ansprüchen genügten. Aus kulturpolitischer Verantwortung wurde darum bereits auf der Gründungsveranstaltung beschlossen, die Terrainforschung „vor allem im Hinblick auf eine verstärkte Dokumentation sowie aut eine sinnvolle Denkmalpflege" zu aktivieren 1 und dabei auch die diesbezüglichen Bemühungen des Kulturbundes der DDR einzubeziehen und zu unterstützen. 1

K A R L BAUMGARTEN/WERNER

RADIG,

Fünf Jahre Ausschuß für Hausforschung in

D D R . In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, Bd. 13, Berlin 1 9 6 7 . S. 4 2 5 .

der

Chronik des Arbeitskreises f ü r Haus- und Siedlungsforschung

Der Arbeitskreis für Haus- und Siedlungsforschung (AHS) betrachtet es seit seiner Gründung vor 20 Jahren als eine seiner wichtigsten Aufgaben, durch die Zusammenführung von Vertretern möglichst vieler Disziplinen, die sich mit der Geschichte von Bauen und Wohnen befassen, die Effektivität der Forschungen auf diesem Sachgebiet zu erhöhen. Gilt es doch, durch die wissenschaftliche Untersuchung dieses wichtigen kulturhistorischen Bereiches einen Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung unseres marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes zu leisten. Auf das engste mit dieser Aufgabenstellung verbunden ist das Bemühen, das in der überlieferten Bausubstanz enthaltene kulturelle Erbe zu erschließen, zu bewahren und für die entwickelte sozialistische Gesellschaft nutzbar zu machen. Bis zum Jahre 1960 gab es jedoch lediglich einige, von Mitarbeitern verschiedener Institutionen (z. B. von dem Institut für Theorie und Geschichte der Baukunst an der Deutschen Bauakademie, dem Institut für Denkmalpflege, der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar und dem Institut für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin) getragene und zumeist isoliert voneinander betriebene Forschungen, die im Interesse einer Effektivitätssteigerung möglichst abzustimmen und zu koordinieren waren. Auf Initiative der „Kommission für Heimatforschung" an der Akademie der Wissenschaften wurde deshalb am 16. März 1961 ein „Ausschuß für Hausforschung" gegründet, der es sich zur Aufgabe stellte, durch kontinuierlich durchzuführende Arbeitsberatungen und Tagungen den Austausch von Forschungsergebnissen zu erleichtern und zu beschleunigen, den wissenschaftlichen Meinungsstreit zu beleben, neue Forschungen anzuregen und möglicherweise zu koordinieren sowie die Nutzbarmachung der Forschungsergebnisse für die gesellschaftliche Praxis zu unterstützen. Angesichts der Bedeutung, die der überlieferten Bausubstanz als historischer Quelle und als Zeugnis der Schöpferkraft des werktätigen Volkes zukommt, galt das Interesse zunächst jenen wertvollen Beispielen traditioneller Volksarchitektur, deren Erhaltung besonders gefährdet war. Dazu gehörten gerade in jenen Jahren vor allem die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, die durch den Übergang zur genossenschaftlichen Wirtschaftsführung in der Landwirtschaft immer weniger den aktuellen ökonomischen und wohnkulturellen Ansprüchen genügten. Aus kulturpolitischer Verantwortung wurde darum bereits auf der Gründungsveranstaltung beschlossen, die Terrainforschung „vor allem im Hinblick auf eine verstärkte Dokumentation sowie aut eine sinnvolle Denkmalpflege" zu aktivieren 1 und dabei auch die diesbezüglichen Bemühungen des Kulturbundes der DDR einzubeziehen und zu unterstützen. 1

K A R L BAUMGARTEN/WERNER

RADIG,

Fünf Jahre Ausschuß für Hausforschung in

D D R . In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, Bd. 13, Berlin 1 9 6 7 . S. 4 2 5 .

der

Chronik

Abb. 2

Bäuerlicher

Hof, sogenannter

Guishoftyp,

11

in Lichtenhagen,

Kr. Bad

Doberan.

Auf der ersten, nur wenige Volkskundler und Denkmalpfleger zusammenführenden Arbeitstagung in Rostock (16. bis 19. April 1961) informierte K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) zunächst über den Stand der Hausforschung in Mecklenburg, wobei er insbesondere auf die Vorzüge der von ihm angewandten Gefügeanalyse für die Dokumentation und Rekonstruktion historischer Bauten verwies. D i e stratigraphische Methode ermögliche erst, „die innerhalb einer Hausformenlandschaft einander ablösenden Formenschichten zu erfassen und die sie bedingenden natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren zu bestimmen". 2 Während einer Exkursion konnten am Beispiel verschiedener Wohn- und Wirtschaftsbauten in Klockenhagen (Kr. Ribnitz-Damgarten), Lichtenhagen (Kr. Rostock) und Bartenshagen (Kr. Bad Doberan) Möglichkeiten und Grenzen dieser Untersuchungsmethode demonstriert werden 3 (Abb. 2). Die folgende, vom 23. bis 25. Oktober 1961 in Dresden durchgeführte Tagung wurde eingeleitet von W E R N E R R A D I G (Berlin) mit einem Referat über Stand und Aufgaben der Bauernhausforschung in Thüringen, Sachsen und Brandenburg/' D e r darin anhand der vorliegenden Literatur zu Recht festgestellte Forschungsrückstand, insbesondere hinsichtlich der Fixierung von Datierungskriterien und der Bestimmung von Formenschichten, stand in einem eklatanten Widerspruch zu den umfangreichen älteren und neueren Bauaufnahmen im anschließend besichtigten Planarchiv des Instituts für Denkmalpflege, Arbeitsstelle Dresden. Der Vortrag von A L F R E D F I E D L E R (Dresden) und J O C H E N H E L B I G (Dresden) über die 2

E b e n d a S. 426. Vgl. K A R L B A U M G A R T E N , Wesen und Aufgabe der Gefügeforschung. I n : Letopis, Reihe C, 6/7, Bautzen 1963/64, S. 2 5 6 - 2 6 0 .

4

Überarbeitete Fassung veröffentlicht im Deutschen Jahrbuch für Volkskunde, Bd. 10, Berlin 1964, S. 1 4 7 - 1 6 2 .

Räch

12

Abb.

3

Umgebindehäuser

in Poslelwitz

(Ortsteil

von Bad

Schandau),

Kr.

Pirna.

Volksarchitektur im Elbsandsteinbzw. Osterzgebirge unterstrich jedoch, daß auch die Forschungen viel weitet gediehen waren, als es die publizierten Arbeiten auswiesen. Während der Exkursionen nach Krietzschwitz, Postelwitz (beide Kr. Pirna), Hinterhermsdorf (Kr. Sebnitz) u. a. Orten im Elbsandsteingebirge sowie nach Siirssen (Kr. Pirna), Lauenstein, Löwenhain, Altenberg und Zinnwald-Georgenfeld (alle Kr. Dippoldiswalde) im Osterzgebirge konnte nicht nur die regionale Spezifik im Haus- und Siedlungsbestand verdeutlicht werden (Abb. 3 und 4). Der zum Teil recht desolate Zustand einiger wertvoller Denkmale ländlicher Baukunst ebenso wie die unter großen Anstrengungen erhaltenen und teilweise als Museum genutzten Technischen Denkmale (wie z. B. die „Zinnwäsche I V " in Altenberg) verwiesen die Teilnehmer immer wieder auch auf die Probleme der denkmalpflegerischen Praxis bzw. der verstärkt notwendigen Dokumentation. Es wurde daher beschlossen, einen Fragebogen zur Erfassung historischer Siedlungen und Bauten auf dem Lande für das Zentrale Aktiv „Bauten im Dorf" im Zentralerr Fachausschuß Volkskunde beim Kulturbund der D D R zu erarbeiten (Federführung:

13

Chronik

Wasstrhaus

0 100

1

1

1

i

500m

1 1

Flurplan von Alt- und Nleugeorgmfetd 1635 ffAW. 4

Wohnhaus

und Lageplan

N E U G E O R G E N FELD E ine kurfürstliche Verordnung aus dem J a h r e 1731 wies 29 Exulanten/Evangelischen aus dem. n a h e n Böh.wisch-Z. m^ivvold/einen SieOeiptaiL neben dem 1671-1717 e n t s t a n d n e n Altgeonjenfefcl a n //mix kern; saurem irndfeudatem Orte" z.U.. Ceder Siedler erhielt exn»Haasfos''fur die Wohnstatte und den Gnwgarteri (Flurstück«Die. Stadt") u n d ein «Feldlos' (»Die alten Loser") von je 1 Scheffel. Größe/ 1826 zur Ablösung derHutungsrechte CmAmtshoih einen dritten Scheffel ('/Die neuen Loser".?, insgesamt besaß schließlich jeder /Icker = 0-625 haDie Heuser wurden kleiner als in Alfacorgenfeld i n einheitlicher Grö|ki20 Ellen lang und 14 Ellen weit" a n d in gleiche Form ausgeführt. Man mußte jedoch nzur trsparwy des Holtes den unterm Stock ¡Las a m t der Stube steinern aufführen.'' der Exttlantensiedlung

Neu-Georgenfeld,

Kr.

Dippoldiswalde.

J O C H E N H E L B I G [Dresden]), die ehrenamtlichen Bundesfreunde auf vielfältige Weise anzuleiten und regionale Patenschaften zu übernehmen. 5 D i e dritte Tagung des AHS vom 7. bis 9. Mai 1962 in Jena konzentrierte sich erneut auf entwicklungsgeschichtliche Probleme ländlichen Bauens. OSKAR S C H M O L I T Z K Y (Jena) charakterisierte an ausgewählten Beispielen, und zwar an den Entwicklungen vom lockeren zum geschlossenen Mehrseitgehöft, vom Wohnstallhaus zum Nur-Wohnhaus sowie vom Holzbau zum Steinbau, die Wandlungen des Bauernhauses in Thüringen. Die Exkursionen führten zu interessanten Einzelbeispielen, so u. a. zu einem „vertikalen Wohnstallhaus" (gestelztes Wohnhaus) in Ammerbach (Kr. Jena), zu einer Durchfahrtsscheune im Blockbau in Stanau (Kr. Pößneck), zu einem der westlichsten Umgebindehäuser in Bremsnitz (Kr. Stadtroda) und dem beachtlichen Umgebindehaus mit Bohlenstube in Hohlstedt (Kr. Jena) sowie dem Freilichtmuseum „Thüringer Bauernhäuser" in Rudolstadt (Abb. 5). Die sich auch im Verlaufe dieser Exkursion immer wieder zeigende J O C H E N H E L B I G , Die Erfassung historischer Siedlungen und Bauten auf dem Lande. Volkskundliche Informationen, Berlin 1967, S. 2 0 - 2 7 .

In:

14

Räch

Dringlichkeit einer umfassenden Dokumentation führte zu dem Beschluß, zusätzlich zu den beiden bereits 1961 in Oybin ( K r . Zittau) durchgeführten mehrtägigen Seminaren für die ehrenamtlichen Helfer des Kulturbundes weitere Anleitungsmaterialien zu erarbeiten. Neben den beiden vom Kulturbund der D D R herausgegebenen Broschüren Alte Bauten im neuen Dorf,6 in denen u. a. J O C H E N H E L B I G (Dresden) Die Maßaufnahme eines Bauernhauses,7 K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) unter dem T i t e l Nur ein alter Katen den kulturhistorischen W e r t der überlieferten Bausubstanz 8 und K O N R A D P Ü S C H E L (Weimar) die Beziehungen zwischen Dorfplanung und Denkmalpflege'

Abb. 5 Wohnhaus eines Kleinbauern, ehemals in Birkenheide, Kr. Rudolstadt, erbaut um 1700, jetzt im Volkskundemusettm „Thüringer Bauernhäuser" Rudolstadt, Grundriß und rechte Traufseile im ursprünglichen Zustand. erläuterten, war dabei vor allem an vier regionale Übersichtsdarstellungen gedacht. D i e daraufhin eingeleiteten Untersuchungen führten dank der Initiative und kollegialen Unterstützung durch R E I N H A R D P E E S C H (Berlin) seit 1 9 6 5 schließlich zur Veröffentlichung diesbezüglicher Arbeiten, die die Bauernhausformen in Mecklenburg, 1 0 in Brandenburg und im Mittelelbegebiet, 1 1 in Sachsen 12 und Thüringen 1 3 vorstellten. Auf der vierten Jahrestagung des A H S in Berlin und Potsdam (7. bis 9. M a i 1963) konnte W E R N E R R A D I G (Berlin) mit seinem Beitrag Das Bauernhaus in Brandenburg - Entwicklung und Stand seiner Erforschung über die Vorarbeiten für eine dieser Übersichtsdarstellungen informieren, die sich weitgehend auf jüngst durchgeführte D o k u mentationen stützten. N e b e n terminologischen Fragen standen daher die Methoden der 0

7 8 9 10 11 12 13

Alte Bauten im neuen Dorf, hg. vom Deutschen Kulturbund, Zentrale Kommission Natur und Heimat des Präsidialrates, Zentrales Aktiv „Bauten im Dorf", Teil 1, o. O. (Berlin) 1963, und Teil 2, o. O. (Berlin) 1964. Ebenda, Teil 1, S. 60-71. Ebenda, Teil 1, S. 9 - 1 9 . Ebenda, Teil 2, S. 47-52. KARL BAUMGARTEN, Das Bauernhaus in Mecklenburg, Berlin 1965. WERNER RADIG, Das Bauernhaus in Brandenburg und im Mittelelbegebiet, Berlin 1966. ALFRED FIEDLER/JOCHEN HELBIG, Das Bauernhaus in Sachsen, Berlin 1967. OSKAR SCHMOLITZKY, Das Bauernhaus in Thüringen, Berlin 1968.

Chronik

15

Abb. 6 Scheune eines großen Bauern, aus Facbwerk mit Bohlengefachen, erbaut in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Bad Saarow-Pieskow, Kr. Fürstenwalde: a — Traufansicht, b = Giebelansicht, c = Querschnitt. Aufmaßerfassung im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Als entscheidend für die Wahl der Dokumentationsform wurde damals der jeweilige Zweck der Erfassung herausgestellt: „Bauliche Neugestaltungen oder denkmalpflegerische Maßnahmen werden stets vom derzeitigen Zustand eines Gebäudes ausgehen - für sie reicht daher im allgemeinen das Aufmaß des Vorhandenen vollkommen aus. Untersuchungen für eine historisch ausgerichtete Hausforschung müssen demgegenüber jedoch in jedem Falle bestrebt sein, darüber hinaus, soweit möglich, vorhergehende Stadien zeichnerisch zu erfassen, um die Genese des Gebäudes zu gewinnen."1'* Gelegentlich des Besuches mehrerer Wohnund Wirtschaftsgebäude in Michendorf (Kr. Potsdam), Blankensee, Frankenförde, Kemnitz und Lühsdorf (alle Kr. Luckenwalde) sowie in Bad Saarow-Pieskow und Pillgram (beide Kr. Fürstenwalde), Lüdersdorf (Kr. Eberswalde) und in anderen Orten konnte verdeutlicht werden, daß die jetzt auch im brandenburgischen Raum angewandte Methode der Gefügeanalyse eine wesentliche Voraussetzung für das Erkennen von Bau- und Umbauetappen der einzelnen Gebäude und damit letztlich von historisch bedingten Formenschichten bildet (Abb. 6). Im Mittelpunkt der fünften Jahrestagung des AHS, die vom 31. Mai bis 2. Juni 1964 in Dresden und Lübbenau (Kr. Calau) durchgeführt wurde, standen Probleme, die mit ''' BAUMGARTEN/RADIG, a. a. O., S. 426.

16

Räch

Abb. 7

Perfert

(Wehrspeicher)

in Pulsnitz, Kr. Bischof sizerda,

ehemals

Weitziiannsches

Gut.

dem Aufbau von volkskundlichen Freilichtmuseen als einer geeigneten Möglichkeit, besonders wertvolle Zeugnisse der Volksarchitektur zu bewahren und der Bevölkerung zu erschließen, verbunden sind. Grundlage war ein Referat von JOCHEN HELBIG (Dresden) über die Entstehungsgeschichte des Freilichtmuseumsgedankens, über die ersten diesbezüglichen Versuche in Sachsen (1896 wurden im Rahmen der Ausstellung des sächsischen Handweirks und Kunstgewerbes für drei Monate sorbische Holzbauten unter dem Titel „Das Wendische Dorf" aufgebaut) und über den Stand der Realisierung des Freilichtmuseums in Lehde (Kr. Lübbenau). Die Exkursion führte einerseits in das Einzugsgebiet dieser vor allem die sorbische Volksarchitektur repräsentierenden Anlage und in das Museum selbst, andererseits zu wertvollen, zumeist von der Arbeitsstelle Dresden des Instituts für Denkmalpflege restaurierten Einzelgebäuden. So konnten die Tagungsteilnehmer den wohl einzigen in der DDR noch erhaltenen Wehrspeicher, den „Perfert" iii Pulsnitz (Kr. Bischofswerda) auf einem Bühl (Motte) mit den Resten des Ringgrabens (Abb. 7), und die wiederhergestellte Bockwindmühle in Dörgenhausen (Kr. Hoyerswerda) sowie einige Wohn- und Wirtschaftsgebäude im selben Ort und u. a. auch in Sollschwitz (Kr. Hoyerswerda), Suschow (Kr. Calau), Burg-Kauper, Burg-Dorf (beide Kr. Cottbus) und Sprey (Kr. Weißwasser) studieren (Abb. 8). Wesentliches Ergebnis der Exkursion war neben dem Kennenlernen regionalspezifischer Haus- und Siedlungsfor-

Chronik

17

DÖRGENHAUSEN NR..16

TOR.HAUS

GIE6ELANS|CHT

NK.25 SCHEUTE

Abb. 8

•S E1TE N ANS ICH T

Torhäuser in Sollscbwitz und Dörgenhausen,

beide Kr.

Hoyerswerda.

men und der weiteren Klärung hauskundlicher Terminologie vor allem der Nachweis, d a ß die bei der Gefügeanalyse verwendeten Datierungskriterien wie z. B . Verzimmerungstechniken, Konstruktionsprinzipien, Materialien und Dimensionen auch in der D D R nur landschaftlich begrenzt verwendet, also keineswegs ohne G e f a h r von einer Region auf eine andere übertragen werden dürfen. Erwähnt sei, daß seit dieser Tagung Exkursionsführer erarbeitet wurden. Auf Grund der Tatsache, daß die Leitung des Arbeitskreises aus Mitarbeitern des damaligen Instituts für deutsche Volkskunde (heute Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde im Zentralinstitut für Geschichte) bestand, wurde der Arbeitskreis am 19. Oktober 1 9 6 4 auch wissenschaftsorganisatorisch dieser Forschungseinrichtung angegliedert. D a s Hauptreferat auf der sechsten Jahrestagung des A H S vom 30. M a i bis 1. Juni 1965 in Schwerin hielt der Leiter der Arbeitsstelle Schwerin des Instituts für Denkmalpflege, S E R A F I M P O L E N Z . E r sprach über Stand und Aufgaben der denkmalpflegerischen Betreuung der ländlichen Volksarchitektur in Mecklenburg,15 bezog jedoch auch Probleme der Erhaltung und Pflege städtischer Bauten und Ensembles mit ein, die bereits während der vorangegangenen Stadtführung diskutiert worden waren. In diesem Zusammenhang informierte G E R D B A I E R (Schwerin) über den Forschungsstand zur Entstehung und Entwicklung der frühen Hallenkirchen in Mecklenburg, K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) erläuterte die Spezifik des Ratzeburger Landes, das am darauffolgenden T a g besucht wurde. Anhand verschiedener, zum T e i l noch bis ins 17. Jahrhundert zurückreichender Niederdeutscher Hallenhäuser in Roduchelsdorf, Lockwisch, Petersberg (alle K r . Grevesmühlen) und Bühlow ( K r . Gadebusch) konnten typische Erscheinungsformen und lr '

Vgl. Protokoll der 6. Jahrestagung des AHS vom 3 0 . Mai bis 1. Juni 1 9 6 5 , S. 2, (Ms.).

2 Bauen und Wohnen

18

Radi

Abb. 9 Kossatenhaus in Roduchelsdorf, Kr. Grevesmühlen. Links: Zustand um 1600, rechts Zustand um 1800. Raumangaben: 1 = Diele, 2 = Lucht (Wohnnische), 3 = Stube, 4 = Kammer, 5 = Küche, 6 = Stall. Umbauphasen dörflichen Bauens und Wohnens dieser bis 1646 zum Bistum Ratzeburg gehörenden und bis ins 19. Jahrhundert von der N ä h e zu Lübeck ökonomisch und kulturell profitierenden Landschaft studiert werden (Abb. 9). Einen Höhepunkt bildete das von K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) den Teilnehmern erläuterte Gehöft des Bechelsdorfer Schulzen mit dem Hallenhaus und der Scheune aus dem 16. Jahrhundert, die gerade nach Schönberg (Kr. Gresvesmühlen) umgesetzt wurden und dort später museal genutzt werden sollten. 16 Die siebente Jahrestagung führte die Teilnehmer vom 22. bis 24. M a i 1966 auf der Wartburg bei Eisenach zusammen, wo O S K A R S C H M O L I T Z K Y ( J e n a ) n a c h einer Füh10

Vgl. K A R L

B A U M G A R T E N , Das Bechelsdorfer Schulzenhaus.

In: Mitteilungen des Instituts

für Denkmalpflege - Arbeitsstelle Schwerin, 1 5 . Juni 1 9 6 3 , S. 3 7 - 4 7 ; siehe auch den Bericht von V I T E N S E in diesem Band, S. 3 6 5 .

19

Chronik

4 2 und 4-0 (v.l.n.r) AM. JO

Ackerbürgerhäuser

in Wasungen, Kr. Meiningen,

Untere Hauptstraße

40 und 42.

rung durch die ältesten Teile der Burg sein Referat über Das Fachwerk der Wartburg hielt,17 in dem er u. a. nachweisen konnte, „daß die Wartburg in dem Wohnbau von 1319 das älteste bisher näher bekannte Fachwerkhaus Deutschlands besessen hat und daß dessen Brüstungsgestalüung durch fünf Jahrhunderte hindurch typenbildend gewirkt hat." 18 In einem weiteren Beitrag Zum Verhältnis von Dorfplanung und, Werterhaltung ländlicher Siedlungen in Thüringen wies K O N R A D PÜSCHEL (Weimar) auf die hohe Verantwortung der Architekten und Dorfplaner bei der Umgestaltung dieser auch in Zukunft weitgehend agrarisch genutzten Gebiete hin. A D E L H A R D ZIPPELIUS (Kommern) schließlich informierte über den Stand des Aufbaus eines Rheinischen Freilichtmuseums in Kommern in der BRD. Die Exkursion ins Werratal wurde im Rathaus von Wasungen (Kr. Meiningen) eingeleitet mit einem Lichtbildervortrag von SERAFIM P O L E N Z (Schwerin) über Die architektonische Entwicklung der Bürgerbauten und Ackerbürgerhöfe von Wasungen (Abb. 10). Auf der Grundlage umfangreicher, leider bisher noch nicht abgeschlossener Untersuchungen konnten Eigenheit und Schönheit südwestthüringischer Fachwerkarchitektur nachgewiesen werden, die sich den Tagungsteilnehmern sowohl in der Stadt Wasungen als auch in den Dörfern, wie z. B. in der Gemeinde Schwarzbach (Kr. Meiningen), offenbarten und immer wieder Fragen nach der Dokumentation sowie der Pflege und Bewahrung ausgewählter Beispiele hervorriefen.

17

IB

2

Abgedruckt bei OSKAR SCHMOLITZKY, Das Fachwerk der Wartburg. Volkskundlich-baugeschichtliche Untersuchungen. In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, Bd. 10, S. 1 - 2 4 . Ebenda, S. 23.

20

Räch

STAU UNO 5 C H U " i l l SODOST-ANSICHT

Abb. 11

Bäuerlicher

QUERSCHNITT

Hof aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Dennewitz, Nr. 41, Stall von 1838, (nach KARL BRUNNE).

Kr.

TORFAHRT

Jüterbog,

Die achte Jahrestagung des AHS vom 29. bis 31. Mai 1967 in Jüterbog wurde eingeleitet mit einem Beitrag von W E R N E R R A D I G (Berlin) über Die Brücke vom archäologischen Haus- und Siedlungsmaterial des Mittelalters zum ältesten Bestand der ländlichen Volksbauweise in der DDR.i9 Es folgten Überlegungen Zur volkskundlichen Fra111

Veröffentlicht unter bauten.

Zum

S. 2 7 1 - 2 9 1 .

dem

Titel:

Forschungsstand.

Frühgeschichtlichc Grabungsbefunde und rezente ländliche I n : Deutsches

Jahrbuch

für

Volkskunde,

B d . 14,

Berlin

Alt1968,

21

Chronik

gestellung in der Hausforsckung von HANS-JÜRGEN RÄCH (Berlin), in denen sowohl die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit unterstrichen als auch die spezifisch volkskundlichen Probleme herausgestellt wurden. Anhand diesbezüglicher Untersuchungen in Sieversdorf (Kr. Kyritz) 20 und Illinersdorf (Kr. Jüterbog) konnte gezeigt werden, daß das Erkennen typischer Erscheinungsformen und Wandlungen zwar ein wichtiges Forschungsergebnis ist, daß darüber hinaus aber von der Volkskunde nach den agrar- und bauökonomischen Ursachen, der sozialen Bedingtheit, dem wohnkulturellen Bedürfniswandel, dem Anteil der Bauherren und der Bauausführenden an Tradition und Novation usw. zu fragen ist. Auf der Grundlage von seit 1965 durchgeführten Erfassungen und Dokumentationen in den Kreisen Jüterbog und Luckenwalde erläuterte dann WERNER RADIG (Berlin) Die überlieferte Volksarchitektur im Niederen Fläming, wobei er besonderes Gewicht auf die Stallgebäude des 18. und 19. Jahrhunderts legte. 21 Die Exkursionen dienten einerseits dem genaueren Kennenlernen wichtiger Beispiele der überlieferten Stallgebäude mit Oberlauben in Neumarkt, 'Lichterfelde, Illmersdorf und Weißen (alle Kr. Jüterbog) sowie des in Dennewitz (Kr. Jüterbog) erhaltenen Mittelflurhauses und anderer Denkmale der Volksarchitektur (Abb. 11), andererseits der Diskussion der in den letzten Jahren verstärkt betriebenen Gefügestudien in Brandenburg?1 Der Besuch von Dorf und Kloster Zinna (Kr. Jüterbog) regte erneut eingehende Beratungen praktischer denkmalpflegerischer Aufgaben an. Die neunte Jahrestagung des AHS führte Mitglieder und Gäste vom 16. bis 18. Juni 1968 in Karl-Marx-Stadt zusammen, wo zunächst ALFRED FIEDLER (Dresden) über Erfahrungen, Probleme und Aufgaben hauskundlicher Archivforschung in Sachsen sprach.23 Auf eine weitere Quelle verwies JOSEF VAREKA (Prag) in seinem Beitrag Die Bedeutung der Ikonographie für die historische Hausforschung. Der Besuch einer Ausstellung mit Gemälden und Grafiken regionaler Landschafts- und Hausdarstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts im Stadtmuseum veranschaulichte Möglichkeiten und Grenzen dieser Quellengruppe. In weiteren Beiträgen erläuterten ALFRED FIEDLER (Dresden) und JOCHEN HELBIG (Dresden) Siedlungsgeschichte und Grundzüge dörflicher Hausentwicklung im mittelsächsischen Berg- und Hügelland zwischen Karl-Marx-Stadt und Glauchau, jenes Gebietes, das am darauffolgenden Tag Gegenstand der Exkursion war. Neben der Besichtigung des als Technisches Denkmal hergerichteten Kalkofens in Rabenstein (Ortsteil von Karl-Marx-Stadt) und weiterer Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Oberfrohna, Niederfrohna, Bräunsdorf (alle Kr. Karl-Marx-Stadt), Sankt Egidien, Jerisau, Wickersdorf und Schönberg (alle Kr. Glauchau) interessierten vor allem die Erhaltung und mögliche Nutzung des in Niederlungwitz (Kr. Glauchau) gelegenen Gehöftes in der Waldenburger Str. 15. Der bisher noch recht gut erhaltene Vierseithof verfügt nämlich nicht nur über eine geschlossene Bebauung aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert, sondern enthält auch noch den einzigen bewahrten Blockspeicher Sachsens aus dem 16. Jahrhundert2'' (Abb. 12). Die eingehende Beratung ergab, daß dieses einmalige Denkmal von 20

Vgl. dazu auch H A N S - J Ü R G E N RÄCH, Mitteldeutsche Ernhäuser mit einer Abseite in Brandenburg. In: Ebenda, S. 2 6 1 - 2 7 0 .

21

Vgl. dazu den Beitrag von W E R N E R R A D I G in diesem Band.

22

Vgl.

dazu derselbe,

Gefügestudien

in Brandenburg. In:

Deutsches Jahrbuch

für Volkskunde,

Bd. 1 1 , Berlin 1 9 6 5 , S. 1 5 6 - 1 7 2 . 23

A L F R E D FIEDLER, Hauskundliche Archivforschung in Sachsen. Erfahrungen, Probleme,

Auf-

gaben. In: Deutsches Jahrbuch f ü r Volkskunde, Bd. 13, S. 4 1 9 - 4 2 5 . Ders., Der Blockspeicher zu Niederlungwitz. In: Sächsische Heimatblätter, 17, 1 9 7 1 , S. 1 8 0 - 1 8 1 .

22

0

Räch

5

1i i i i i

Abb. 12

10 l

Vierseithof

20 m

_J

mit Blockspeicber

aus dem 16. Jahrhundert Waldenburger Str. 15.

in ISiiederlungwitz,

Kr.

Glauchau,

überregionaler Bedeutung unbedingt zu erhalten, möglicherweise in ein Freilichtmuseum zu überführen und in jedem Falle der Bevölkerung zugänglich zu machen sei, w i e dies auch in einem mit Unterstützung aller AHS-Mitglieder von W E R N E R R A D I G (Berlin) verfaßten Gutachten zum Ausdruck gebracht wurde. Den Abschluß der Exkursion bildete der Besuch der „Bühlernen Stube" im Gasthof von Schönberg (Kr. Glauchau), die weitgehend den „Bauernstuben" der Altenburger Bauern im 18. und 19. Jahrhundert entspricht. Die Abb. 13 zeigt den bis 1968 weitgehend erhaltenen Zustand, wie er auch im Exkursionsführer von 1968 dargestellt ist. Die zehnte, vom 15. bis 17. Juni 1969 in Ludwigslust durchgeführte Jahrestagung des AHS wurde von der Leitung des Arbeitskreises zum A n l a ß genommen, Die Aufgaben der Hausforschung in der DDR nach dem Abschluß der (1968/69 e r f o l g t e n ) Akademiereform zu erörtern. K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) wies in seinem einleitenden Referat darauf hin, d a ß es trotz beachtlicher Fortschritte in den letzten Jahren noch immer

Chronik

23

außerordentlich schwierig sei, die für die geplante mehrbändige Geschichte des deutschen Volkes von der Hausforschung erwartete wissenschaftlich fundierte Überschau über die Geschichte des volkstümlichen Bauens und Wohnens der letzten 1 000 Jahre zu erarbeiten. Zwar gäbe es eine umfangreiche ältere, zum Teil noch heute verwertbare Literatur, doch sei allein dadurch, daß bei früheren Dokumentationen vielfach nur das äußere Erscheinungsbild (die Fassaden), nicht aber der Wandel in der Raumordnung (,,die innere Schichtung") verzeichnet worden ist, der Aussagewert erheblich eingeschränkt. Hinzu komme die ungenügende Beachtung der sozialen Differenzierung, die zu einer weitgehenden Vernachlässigung der Erforschung der Wohnweise der nichtbäuerlichen werktätigen Klassen und Schichten geführt habe. Als Grundlage für das Herausschälen von Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung unserer volkstümlichen Bau- und Wohnformen seien daher u. a. verstärkt zu untersuchen: die Entwicklung, Variation und Verbreitung der Haustypen, der bauliche Ausdruck sozialer Differenzierung, die Beziehungen zwischen Bürgerhaus und Bauernhaus, der Anteil der behördlichen Reglementierung, der Zusammenhang zwischen quantitativen und qualitativen Veränderungen einerseits und den jeweiligen ökonomischen und sozialen Bedingungen andererseits. D a die überkommenen Altbauten allein wegen ihres besonderen Urkundencharakters noch immer zu den wertvollsten Quellen der zurückliegenden Jahrhunderte zu rechnen sind, gehören auch in Zukunft die Inventarisation und Dokumentation zu den wichtigsten Aufgaben volkskundlicher Hausforschung, die jedoch weitgehend in zentrale Forschungsprojekte eingebunden und von deren Zielstellung mit bestimmt sein müssen. Über den Erfolg der auch im Bezirk Schwerin angestrebten Erfassung und Dokumentation historischer Bauten auf dem Lande durch ehrenamtliche Helfer des Kulturbundes der D D R berichtete S E R A F I M P O L E N Z (Schwerin): In den Jahren 1965 bis 1967 wurden durch 10 Bundesfreunde 16 Niederdeutsche Hallenhäuser in Südwestmecklenbu,rg und 10 Mitteldeutsche Ernhäuser in der Westprignitz vermessen und dokumentiert. Über das Bemühen, die Kultur und Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung im Spätfeudalismus zu veranschaulichen, informierte H I L D E G A R D S C H W E I K E R T (Schwerin) in ihrem Bericht Über den Aufbau des Freilichtmuseums in Schwerin-Muess.2l Die Grundzüge der Siedlungsentwicklung in 2,1

Vgl. dazu den Bericht in diesem Band, S. 3 4 9 .

24

Räch

-Ansicht •Cru/eiterum des späten 18.Mhrk.

Garten

von U)

XämmerX

Jtube

XernbaiL aus dem frühen 1f. Jk.

Umbauten im 18. und •tg.iahrh.

leplan , J m n e r e i _!s Bauern, Heinrich Oarber, b 14. erbaut im R M.1-500 1. Viertel des 173k. Zweifache €meaerwrg u. Umbau im 18.3hAbb. 14

Kleinbauernstelle Hagenow.

frmitenmn im 18.Hi?

6rundriss

M.IZoo

(Büdnerei) aus dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts in Bennin, Links: Lageplan, rechts: Wohnhaus (Zustand von 1968).

Kr.

Südwestmecklenburg, dem Exkursionsgebiet des darauffolgenden Tages, erläuterte B R U N O B E N T H I E N (Greifswald). Zu den interessantesten besichtigten Bauten gehörten neben der 1820 errichteten Reithalle im Gestüt Redefin (Kr. Hagenow) die Büdnerei „B 14" in Bennin (Abb. 14), die Vollbauernstelle „XIV" in Groß-Bengersdorf und die Büdnerei „B 1" in Probst-Jesar (alle Kr. Hagenow) sowie das Bauernhaus „XIII" in Tews Woos und die Büdnerei „B 2" als eines der letzten noch als „Rauchhaus" erkennbaren Gebäude in Raddenfort (beide Kr. Ludwigslust). 2 5 3 Anhand aller dieser besuchten Objekte des 17. bzw. 18. Jahrhunderts, die in der Vergangenheit mehrfach erheblichen baulichen Veränderungen unterlagen, konnten die immer wieder geforderte Beachtung der einzelnen Formenschichten und die Erklärung ihrer sozialen und ökonomischen Hintergründe anschaulich demonstriert werden. 25a

Seit der 2. H ä l f t e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s

w u r d e n in Mecklenburg

offiziell die Häuslerstellen

H. die Büdnereien mit B und die Bauernstellen mit römischen Z i f f e r n gekennzeichnet.

mit

25

Chronik

D i e elfte Jahrestagung des A H S vom 14 bis 16. Juni 1970 in Weimar wurde eingeleitet durch einen kurzen von W E R N E R R A D I G (Berlin) gegebenen Rückblick auf die Aktivitäten des Arbeitskreises in den vergangenen 10 Jahren. Dem Bemühen, stärker aiuch die Frühformen der Hausentwicklung im deutschen Raum zu berücksichtigen, entsprach die erste Gruppe der Vorträge. G Ü N T E R B E H M - B L A N C K E (Weimar) erläuterte den Hausbefund älterer und neuerer Ausgrabungen west- und ostgermanischer Siedlungen der Kaiserzeit, W E R N E R T I M P E L (Weimar) die Ergebnisse des Befundes an Wohn- und Wirtschaftsbauten aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die in der Wüstung Gommerstedt bei Bösleben (Kr. Arnstadt) ausgegraben wurden. K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) widmete sich in seinem Beitrag Das mecklenburgische Bauernhaus vor dem Dreißigjährigen Krieg der Herkunft und den frühen Entwicklungsstufen des Niederdeutschen Hallenhauses in Mecklenburg. 26 Eine weitere Gruppe von Referaten wandte sich siedlungsagrar- und bauökonomischen Ursachen, der sozialen Bedingtheit, den wohnkulturellen historischen Problemen zu. So vertrat H E R M A N N W I R T H (Weimar) in seinem Vortrag Die Siedlungsform als planungsgeschicbtlicbes Problem u a. die These, daß planmäßiges Vorgehen bei der Siedlungstätigkeit in unserem Gebiet bereits seit der fränkischen Kolo-

Abb terung

15

Sackgassendorf auj

der

rechten

Buchfahrt, Seite

des

Kr. Weimar, Flusses.

Nach

Kernstedlung einer

am

Flurkarte

linken aus

der

Ilmufer; ersten

jüngere Hälfte

Dorferwetdes

18.

Jahr-

hunderts.

nisation ein wesentliches Element gewesen sei und daß die Dominanz planmäßiger gegenüber den planlosen Formen sich daraus ergeben habe, daß die Menschen sich in Übereinstimmung und in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen weitgehend bewußt formationsspezifische Wohn- und Arbeitsplätze (Lebensräume) schaffen, die sich infolge ihrer Persistenz jedoch nur mühsam für die Belange einer anderen Gesellschaftsordnung verwenden bzw. umgestalten lassen. 27 2(1

Abgedruckt im vorliegenden Band, S. 49 ff.

27

Vgl. H E R M A N

W I R T H , D i e Siedlungsform als planungsgeschichtliches Problem.

schaftliche Zeitschrift der S

423-429

Hochschule für

Architektur

und

Bauwesen

Weimar,

In: 20,

Wissen1973,

4,

26

Räch

HARTMUT WENZEL (Weimar) bestätigte in seinem Beitrag über Planmäßig angelegte Siedlungen im Landkreis Weimar die These, daß sich die Vielzahl der vorhandenen heutigen Dorfformen auf eine geringe Anzahl von planmäßigen Grundformen reduzieren läßt. Am Beispiel der Sackgassendörfer wurde anschaulich nachgewiesen, daß die heute zu beobachtenden Variationen entweder als Ergebnis der Anpassung einer Idealform oder -Vorstellung an d i e natürlichen G e g e b e n h e i t e n d e s g e w ä h l t e n Wohnplatzes oder der

Anbindung weiterer Formenelemente an die Ausgangsform entstanden sind (Abb. 15). HERMANN WEIDHAAS (Weimar) ging in seinen Ausführungen über Die Bedeutung historischer Tatbestände für die Gebietsplanung zwat ebenfalls von den planmäßig angelegten bzw. historisch gewachsenen Siedlungsstrukturen aus, konzentrierte sich dann jedoch vornehmlich auf die Verantwortung der Gebietsplaner und Architekten, die diese überlieferten Strukturelemente - insbesondere Proportion, Größe und Kontur - innerhalb einer Siedlung zu berücksichtigen hätten. Der ästhetische Reiz einer Ortsphysiognomie habe auch eine neurotherapeutische Bedeutung, die für das Erholungswesen, das Wohlbefinden der Menschen, die Erhaltung und Steigerung der Arbeitsproduktivität von Belang sei und damit mittelbar auch in wirtschaftlicher Hinsicht wirksam werde. Über den Einfluß der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Entwicklung ländlicher Gebiete und Siedlungen referierte KONRAD PÜSCHEL (Weimar). Sein Anliegen war, die Größe der Aufgaben bei der Umgestaltung der zumeist noch auf mittelalterlicher Basis beruhenden und von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen relativ geringfügig modifizierten dörflichen Wohn- und Arbeitswelt zu verdeutlichen und alle am Dorf und seiner Zukunft interessierten Kräfte zur Mitarbeit aufzufordern. Der klaren Einsicht entsprechend, daß ein großer Teil der wertvollen Bausubstanz entweder gar nicht oder nur unter gravierenden Eingriffen neuen Nutzungsformen zugeführt werden kann, damit aber bedeutende kulturhistorische Zeugnisse unwiederbringlich verlorengingen, standen erneut Fragen des Aufbaus von Freilichtmuseen in der DDR zur Debatte. JOCHEN HELBIG (Dresden) informierte über diesbezügliche Bemühungen in' den sozialistischen Ländern und über den Fortgang des unter seiner maßgeblichen Mitwirkung erfolgten Ausbaus im Freilichtmuseum Lehde (Kr. Calau). KONRAD PÜSCHEL (Weimar) und HARTMUT WENZEL (Weimar) erläuterten den unter ihrer Leitung erarbeiteten Ideenentwurf eines „Thüringischen Bauernhausmuseums", der Anlaß war, eine der nächsten Jahrestagungen ausschließlich der Problematik des Freilichtmuseums zu widmen. - Die Exkursion nach Buchfahrt, Mechelroda, Tonndorf und Tiefengruben sowie Eichelborn und Buttelstedt (alle Kr. Weimar) diente der Veranschaulichung einmal der Planmäßigkeit in der Ausbildung der Dorfgrundrisse und zum anderen der Dringlichkeit der Rettung wertvoller Wohn- und Wirtschaftsbauten (Abb. 16). Mit der zwölften Jahrestagung des AHS, die vom 6. bis 8. Juni 1971 in Magdeburg und Hohenwarsleben (Kr. Wolmirstedt) stattfand, wurden zwei Neuerungen im Durchführungsmodus eingeführt: Am Anreisetag treffen sich die Mitglieder des Arbeitskreises zu einer Besprechung, um technische und wissenschaftsorganisatorische Fragen zu beraten. Die Tagungen konzentrieren sich nicht mehr so sehr auf regional bestimmte Themen, sondern werden unter ein generelles Sachthema gestellt, das allerdings anhand einer Exkursion im Tagungsgebiet veranschaulicht werden soll. Einleitend würdigte BERNHARD WEISSEL (Berlin), Leiter des Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde im Zentralinstitut für Geschichte, das Wirken des Arbeitskreises, der durch seinen kooperativ-interdisziplinären Charakter und die gute Ausstrahlung in die Praxis der entwickelten sozialistischen Gesellschaft als Modellfall

Chronik

27

für ein Fachgremium in der DDR zu betrachten sei. In Anerkennung der besonderen Verdienste um den Aufbau und die langjährige Leitung des AHS wurde WERNER RADIG (Berlin) zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Den Vorsitz übernahm nunmehr K A R L B A U M G A R T E N (Rostock). Anschließend resümierte W E R N E R R A D I G (Berlin) Entwicklung und. Gegenwartslage des Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung, welcher sich erfolgreich um die Kooperation aller Spezialisten der DDR, um die Diskussion theoretischer und methodologischer Fragen und um die Aktivierung des wissenschaftlichen Meinungsstreites bemüht hatte. Maßgeblich war dieses Gremium ferner an der wissenschaftlichen Betreuung der vom Kulturbund gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften organisierten Erfassungsaktion historischer ländlicher Bauten und Siedlungen beteiligt, deren Ergebnisse jedoch noch aufgearbeitet und der Forschung ebenso wie der gesellschaftlichen Praxis zugänglich gemacht werden müßten. K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) schließlich erläuterte die zukünftigen Aufgaben des AHS, die u. a. darin bestünden, aus der Thematik der Tagungen heraus Studien und Territorialuntersuchungen anzuregen, deren Ergebnisse in eine angestrebte Gesamtdarstellung zur Geschichte der Lebensweise und Kultur der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes einfließen, sowie weitere Bestandsaufnahmen durch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Institu-

Räch

28

Abb. 11

Wohnhaus

eines Großbauern, erbaut 1885/86, in Olvenstedt, Kr.Wolmirstedt. der straßenseitigen Traufansicht, B = Erdgeschoßgrundriß.

A — Skizze

tionen anzuregen und zu koordinieren und die Erfassung kulturhistorisch wichtiger ländlicher Bauten durch interessierte Laien anzuleiten und zu betreuen, ferner einen K a t a l o g wertvoller Altbausubstanz zu schaffen, der Grundlage für eine gezielte Auswahl der zu schützenden G e b ä u d e ist, und schließlich, in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Museumswesen beim Ministerium für Kultur, konzeptionelle Vorlagen für die Schaffung von Freilichtmuseen zu erarbeiten sowie die örtlichen Staatsorgane beim Aufbau derartiger Anlagen zu beraten. D i e wissenschaftliche Tagung selbst widmete sich vorrangig der Entwicklung von Bauen und Wohnen der werktätigen Dorfbevölkerung unter den Bedingungen der Herausbildung und Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. D a diese Problematik schwerpunktmäßig anhand der Entwicklung in der Magdeburger B ö r d e behandelt wurde, erläuterte zunächst L O T H A R G U M P E R T (Magdeburg) Das geographische Bild der Magdeburger Börde (einschließlich der natürlichen Gesteinsvorkommen und deren Nutzbarkeit für das örtliche Baugeschehen). S I E G L I N D E B A N D O L Y (Haldensleben) und H E I N Z N O W A K (Ummendorf) interpretierten Die Entwicklung der Sozialstruktur von 1789 bis 1917/18, W O L F G A N G J A C O B E I T (Berlin) sprach Zu Grundfragen und Erfahrungen beim Forschungsunternehmen 7jtr Geschichte der Lebensweise

29

Chronik

und Kultur der Bevölkerung

in der Magdeburger

Bördel

HANS-HEINRICH MÜL-

L E R (Berlin) referierte über Industrielle Revolution und Landwirtschaft. Nach dem Hauptreferat von H A N S - J Ü R G E N RÄCH (Berlin) über das Bauen

Wohnen der ländlichen AgrarProduzenten in der Magdeburger

wirkungen

Börde20

der Agrarreformen

unter kapitalistischen

erläuterten K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) Die

des 19. Jahrhunderts

auf das domaniale

und A L F R E D F I E D L E R (Dresden) den Entwicklungsprozeß

Mecklenburgs30

und

Produktionsverhältnissen

lichen Bauens und Wohnens in Sachsen vom Ende des 18. Jahrhunderts

Aus-

Bauernhaus des

dörf-

bis 1918.31 CHRI-

S T E L H E I N R I C H (Berlin) verwies in ihrem Diskussionsbeitrag anhand einiger Beispiele aus dem Familienleben (Hochzeits- und Weihnachtsfeiern) auf die tiefgreifenden Veränderungen auch in anderen Bereichen der Lebensweise. H E L M U T S C H Ö N F E L D (Berlin) bestätigte diesen Prozeß am Beispiel des Sprachwandels in der Magdeburger Börde. Die Exkursion verdeutlichte, in welch großem Maße und auf welch vielfältige Weise sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf das Ortsbild der Bördedörfer ausgewirkt haben. Neben den zahlreichen (wenn auch z. T . seit geraumer Zeit nicht mehr in Funktion befindlichen) Zuckerfabriken, Zichoriendarren, Molkereien usw. und dem für ein Agrargebiet ungewöhnlich dichten Eisenbahn- und Straßennetz beeindruckten u. a. 1. die gediegenen, frühen Reichtum verkörpernden Wohnhäuser der Großbauern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (z. B. in Hohenwarsleben, Kr. Wolmirstedt, und in Welsleben, K r . Schönebeck), 2. die aufwendigen und vielfach protzigen Wohnhäuser („Zuckerrübenpaläste") der Groß- und Mittelbauern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (z. B . in Hohenwarsleben, Irxleben und Olvenstedt, alle K r . Wolmirstedt), aber auch 3. die noch relativ zahlreich erhaltenen traditionellen Wohnhäuser aus Lehm-Fachwerk der kleineren Bauern, die unter dem Druck des kapitalistischen Konkurrenzkampfes zwischen 1830 und 1945 kaum Neubauten errichten konnten (z. B . in Niederndodeleben und Klein Rodensieben, beide Kr. Wolmirstedt) sowie 4. die Vielzahl der - oft ganze Dorfviertel bildenden - kleinen Häuslerstellen der „freien" Landarbeiter bzw. der „Industriependler" (z. B . in Welsleben, Kr. Schönebeck, und Bottmersdorf, K r . Wanzleben), 5. die zahlreichen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts von den Gütern und Großbauernwirtschaften entweder direkt als Landarbeiterkaten errichteten oder nachträglich für diesen Zweck (z. B . in „gelegten" Bauernhöfen und gekauften Pfarrwitwenhäusern) genutzen Bauten (z. B . in Hohenwarsleben, Kr. Wolmirstedt, Bottmersdorf, K r . Wanzleben, und Großmühlingen, Kr. Schönebeck) und nicht zuletzt 6. die besonders menschenunwürdigen ehemaligen Schnitter-(„Polen"-)Kasernen für die zumeist ausländischen Saisonarbeiter (z. B . in Welsleben und Großmühli'ngen, beide Kr. Schönebeck). (Vgl. Abb. 17 und Abb. 18) 28

Vgl.

dazu

u. a. H A N S - J Ü R G E N

Kapitalismus

in der

RACH/BERNHARD

Magdeburger Börde,

1979. 29

Vgl. S. 181 ff. in diesem Band.

31

Vgl. S. 2 0 0 ff. in diesem Band.

Vgl. S. 1 7 2 ff. in diesem Band.

1. Halbband,

WEISSEL Berlin

(Hg.),

1 9 7 8 , und

Landwirtschaft 2. Halbband,

und

Berlin

Radi

30

.M-;-»^ V - y

Abb.

18

Wohnhaus

-r-y-w-Ti-*;

für Deputatarbeiter Wolmirstedt.

r ,'

eines

Großbauern,

Geringfügig

erbaut

um 1800,

in Hohenwarsleben,

Kr.

rekonstruiert.

Ausdruck der verstärkten Orientierung auf die praktischen gesellschaftlichen Bedürfnisse beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der D D R war das Thema der dreizehnten Jahrestagung des AHS vom 4. bis 6. Juni 1972 in Rodewisch/ Vogtland (Kr. Auerbach). Erstmalig wurden auf dieser Veranstaltung unter dem Thema

Die Bewahrung der VOlksarchitektur als kulturelles Erbe des werktätigen Volkes durch die Anlage von Freilichtmuseen vom Arbeitskreis vor einem größeren Gremium Möglichkeiten einer direkten Umsetzung wissenschaftlich-hauskundlicher Forschungsergebnisse in die gesellschaftliche Praxis zur Diskussion gestellt. Dabei war insbesondere an Bemühungen gedacht, die aktuelle kulturpolitische Aufgabe solcher Museen zu verdeutlichen, die Auseinandersetzung über die Prinzipien der Gestaltung von Freilichtmuseen und über die Koordinierung wissenschaftlicher Vorarbeiten anzuregen, die Zusammenarbeit der zuständigen staatlichen Institutionen mit wissenschaftlichen Gremien organisieren zu helfen sowie schließlich die Aufstellung eines zentralen Plans für die Errichtung von Freilichtmuseen in der D D R vorzubereiten. Entsprechend standen im Verlauf der Tagung, an der Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen (Ethnographen, Historiker, Geographen, Architekturhistoriker) und staatlicher Institutionen (Institut für Denkmalpflege, Museen, Räte der Kreise und Bezirke) teilnahmen, insbesondere folgende Fragen zur Debatte: Warum errichten wir in der D D R Freilichtmuseen? Bleiben in Freilichtmuseen umgesetzte Bauten Denkmale? Was ist vom Dorfreservat hinsichtlich der Bewahrung

31

Chronik

Abb. 19

Wohnstallhaus

eines kleinen Bauern, erbaut um 1700, in Wildenau, Nr. 18.

Kr Auerbauch,

Gehöft

traditioneller Volksarchitektur zu erwarten ? Worin unterscheiden sich Freilichtmuseen in Ländern mit sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaftsordnung? Zwei längere Referate eröffneten die Diskussion. Anhand zahlreicher Bilder informierte J O C H E N H E L B I G (Dresden) über die Geschichte der Skansen-Idee in Europa sowie über die unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien bestehender bzw. im Aufbau befindlicher Anlagen dieser Art. K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) ergänzte diese Darlegungen durch Ausführungen zur Praxis des Aufbaus von Freilichtmuseen unter besonderer Berücksichtigung der dafür erforderlichen Mithilfe hauskundlich versierter Wissenschaftler. Behandelt wurden dabei von ihm im einzelnen - unter Bezugnahme auf die Konzeption des Freilichtmuseums in Klockenhagen (Kr. Ribnitz-Damgarten) - Fragen der Größe des Einzugsbereichs derartiger Anlagen, der Auswahlprinzipien für umzusetzende Bauten, der Standortbestimmung für Freilichtmuseen sowie deren Profilierung. Anschließend wurden die Teilnehmer durch eine Reihe kürzerer Beiträge - gehalten von H E L M U T BILZ (Seiften), A L F R E D F I E D L E R (Dresden), W E R N E R H E Y F E L D E R (Schwerin), W E R N E R R A D I G (Berlin), H I L D E G A R D S C H W E I K E R T (Schwerin), H E L M U T S T E L Z E R (Berlin) - über die zur Zeit im Aufbau befindlichen bzw. projektierten Freilichtmuseen in den einzelnen Gebieten der D D R informiert, wobei wiederholt deutlich wurde, w i e unerläßlich eine wissenschaftliche Beratung bereits im Stadium der Konzipierung derartiger Anlagen ist. In diesem Zusammenhang gewinnt daher das Vorhaben eines wissenschaftlich fundierten Planes für ein Netz zukünftig innerhalb der D D R

32

Abb. 20

Räch

W ohnstallhaus eines größeren Bauern, erbaut 1789, in Schiibach (Ortsteil von Schöneck), Kr. Klingenthal.

Chronik DIESDORF • X. Getaiffc, 17. tjcüw+ionderb I "Tofhaos 1600 2. 4-laUenhaus 1697 3 Spetchei4- Scheune.

=



33 t

Ä

^

5 knien.

6 ftfaafstaU/ I. CeMffc, 16. 'Jahrhundert; 7 Halierahims 1787 6 Speicheif9 Boudchaus 10 Scheune. II Bienenhaus IE.QäTiä{t, um 18oo 12 "Torhaus 1821 11 Wohnhaus 1+ Sehetine. 15 "Töucjjelt5hnfi»-haus H.Oeh.. 1 6 Tot+ICLUS

17 Stall. 18 \X/bkuaha«s 19 Scheune. V londo»beiber+xujs 20 Wohnhaus 21 O "R.T

Vorschlag für die Erweiterung und Umgestaltung des Freilichtmuseums in Diesdorf, Kr. Salzwedel, (Stand 1973).

zu errichtender Freilichtmuseen besonderen Wert. Mit den verschiedenartigen Hauslandschaften der einzelnen Bezirke vertraute Mitglieder wurden beauftragt, mit entsprechenden Vorarbeiten zu beginnen, so daß baldmöglichst den zuständigen zentralen Dienststellen ein Katalog übergeben werden könne, dem u. a. eine Liste der vorgeschlagenen Standorte der Museen, deren jeweilige Begründung, der als notwendig erachtete Umfang der einzelnen Anlage sowie deren spezielle Aufgabenstellung (Profilierung) entnommen werden könnten. Mit dieser vom AHS zu erarbeitenden Studie würde insbesondere das Ministerium für Kultur erstmalig konkrete Unterlagen für die perspektivische Planung regionaler Freilichtmuseen erhalten. Die abschließende Exkursion führte zu einer Reihe für ein Vogtländisches Freilichtmuseum vorgesehener Bauten. Im einzelnen wurden ein Wohnstallhaus in Wildenau und ein Blockhaus in Neustadt (beide Kr. Auerbach), ein Umgebindehaus in Zaulsdorf, ein weiteres Blockhaus in Leubetha und ein Stall in Wohlbach (alle Kr. Oelsnitz) sowie mehrere Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Eschenbauch und Schiibach (beide K r . Klingenthal) besichtigt (Abb. 19 und 20). Gleichzeitig wurde das vom Leibnizpreisträger W A L T E R W U N D E R L I C H in Landwiist (Kr. Klingenthal) geleitete Bauernmuseum besucht. Die vierzehnte Jahrestagung des AHS führte die Mitglieder und Gäste des Arbeitskreises vom 4. bis 7. Juni 1973 in Salzwedel zusammen, wo einmal die Beratung der Freilichtmuseumsproblematik fortgesetzt und zum anderen Der Einfluß der Reglementierung auf das ländliche Bauwesen erörtert wurde. Nach dem Besuch der von P E T E R F I S C H E R (Salzwedel) organisierten Sonderaus3

Bauen

und

Wohnen

Räch

34

C

D

Abb. 22 Giebelansicht von 4 Niederdeutschen Hallenhäusern. A — Püggen, Kr. Salzwedel, 1697; B = Tylsen, Kr. Salzwedel, erbaut 1731; C = Winkelstedt, Kr. Salzwedel, erbaut D = Kuhfelde, Kr. Salzwedel, erbaut 178i.

erbaut 1746;

Stellung „Zum Wandel des altmärkischen Dorfbildes" 3 2 im Johann-Friedrich-Danneil-Museum führte zunächst eine Exkursion zu dem im Ausbau befindlichen Freilichtmuseum Diesdorf (Kr. Salzwedel) und zu weiteren für die Umsetzung vorgesehenen oder als Denkmalhof zu bewahrenden Bauten. Museumsleiter P E T E R FISCHER (Salzwedel) erläuterte den Vorschlag für die Erweiterung und Umgestaltung der bisher nur aus drei Gebäuden bestehenden Freilichtanlage, die später die Entwicklung der Kultur, Arbeitsund Lebensweise der altmärkischen Dorfbevölkerung vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Ausblick bis in die Gegenwart veranschaulichen soll (Abb. 21). D e r Besuch eines Niederdeutschen Hallenhauses von 1746 in Winkelstedt (Kr. Kalbe/Milde), verschiedener Torhäuser in Bierstedt und weiterer Hallenhäuser in Püggen, Kuhfelde und Tylsen (alle Kr. Salzwedel) unterstrich zugleich Möglichkeit und Dringlichkeit der Umsetzung in das Freilichtmuseum (Abb. 22 und 23). ri

Wissenschaftliche Grundlage bildeten von P E T E R FISCHER angestellte Untersuchungen, die weitgehend in die 1976 als Diplomarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Geschichte, Bereich Ethnographie, eingereichte Studie „Die Entwicklung von Haus-, Hof- und Siedlungsform in der nordwestlichen Altmark als Widerspiegelung der durch den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus veränderten Lebensweise der ländlichen Bevölkerung" einflössen und die in Auszügen in diesem Band, S. 206 ff., veröffentlicht werden.

Chronik

35

In Auswertung und Fortführung der auf der dreizehnten Jahrestagung des AHS (1972) durchgeführten Beratungen über den Auf- und Ausbau von Freilichtmuseen legten K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) und H A N S - J Ü R G E N R Ä C H (Berlin) einen mit Unterstützung von J O C H E N HELBIG (Dresden), W E R N E R R A D I G (Berlin), H E L M U T STELZER (Berlin), H A R T M U T W E N Z E L (Weimar), H E R M A N N W I R T H (Weimar) u. a. fertiggestellten Entwurf des Standortplanes der Freilichtmuseen in der D D R vor. Ziel war die Schaffung einer wissenschaftlich begründeten Vorlage, die den staatlichen Organen die Aktualität und kulturpolitische Notwendigkeit verdeutlichen, die spezifischen Aufgaben und Möglichkeiten der Freilichtmuseen gegenüber anderen Formen der Bewahrung und Pflege wertvoller Zeugnisse der Volksarchitektur erläutern, 33 den Umfang und die Profilierung der Anlagen begründen und zur Koordinierung der vielfältigen Initiativen und Aktivitäten beitragen sollte. Mit der Diskussion und der endgültigen Verabschiedung der Vorlage, 34 die anschließend den verschiedenen zentralen und regionalen staatlichen Organen als Empfehlung zugesandt wurde, fand die Beratung dieser Thematik zunächst einen gewissen Abschluß. In den folgenden Jahren ging es nunmehr vor allem darum, durch die wissenschaftliche Beratung und Unterstützung der Spezialisten in den einzelnen Landschaften den Auf- und Ausbau der Freilichtmuseen sichern zu helfen. 33

Vgl. dazu S. 3 2 0 ff. in diesem Band.

34

Siehe S. 3 2 4 ff. in diesem Band.

Räch

36

Abb. 24

Lageplan des mittelalterlichen

Stadtkerns

von

Sömmerda.

D a s verstärkte Bemühen um eine konkret-historische Betrachtungsweise in der volkskundlichen Hausforschung und die bei regionalen Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse über den Einfluß der Reglementierungen auf die Volkskultur veranlaßten die Leitung des AHS, diesen Problemkreis einmal zum thematischen Schwerpunkt einer Tagung zu wählen. D e n Einfluß der Reglementierung auf das ländliche Bauwesen im Spätfeudalismus behandelten A L F R E D F I E D L E R (Dresden) am Beispiel Sachsen, 35 K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) für Mecklenburg 36 und A D E L H E I D S C H E N D E L (Potsdam) am Beispiel Brandenburg. 3 7 Während sich W E R N E R R A D I G (Berlin) mit seinem Beitrag über den indirekten Einfluß der - nach besonders strengen Reglementierungen angelegten - preußischen Kolonistendörfer des 18. Jahrhunderts auf das traditionelle ländliche Bauwesen Brandenburgs ebenfalls noch auf spätfeudale Verhältnisse bezog, 38 erläuterte H A N S - J Ü R G E N R Ä C H (Berlin) an einigen Beispielen aus dem preußischen Regierungsbezirk Magdeburg Bedeutung und Auswirkungen der Bauordnungen unter den 35 36 37 ss

Siehe S. 82 ff. in diesem Band. Siehe S. 86 ff. in diesem Band. Siehe S. 93 ff. in diesem Band. W E R N E R RADIG, Einfluß des Beispiels der preußischen Kolonistendörfer im 18. Jh. auf das traditionelle ländliche Bauwesen in Brandenburg. In: Protokoll der 14. Jahrestagung des AHS, Berlin 1974, S. 80-85.

37

Chronik

Bedingungen des Übergangs und der vollen Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse.'19 Mit der fünfzehnten Jahrestagung des AHS vom 16. bis 19. Juni 1974 in Weimar wandte sich der Arbeitskreis erstmals ausschließlich einer städtischen Thematik zu, und zwar dem Problemkreis Ackerbürgerstadt - Ackerbürgerhaus. Das große Interesse an diesbezüglichen Fragen, das sowohl in der hohen Teilnehmerzahl als auch in der Vielzahl der Referate zum Ausdruck kam, erklärte sich gleichermaßen aus der historischen Bedeutung dieses Stadttyps als auch aus der Aktualität von Umgestaltungsfragen. Auf diese wies dann auch JOACHIM BACH, Direktor der Sektion Gebietsplanung und Städtebau an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, als Gastgeber in seinen einführenden Bemerkungen besonders hin/' 0 Zur Entstehung, Entwicklung und Funktion der Ackerbürgerstädte in Thüringen, Sachsen und Brandenburg referierten HANS E B E R H A R D T (Weimar),7,1 H E R M A N N W E I D H A A S (Weimar), 42 A L F R E D F I E D L E R (Dresden) 43 und KLAUS VETTER (Berlin)/' 4 zu Problemen der Umgestaltung in der Gegenwart äußerten sich W I L F R I E D S T A L L K N E C H T (Berlin) 45 und K O N R A D PÜSCHEL (Weimar). 46 Probleme der Entstehung und Entwicklung des Ackerbürgerhauses in Mecklenburg behandelte KARL B A U M G A R T E N (Rostock).47 In weiteren Diskussionsbeiträgen informierten W E R N E R R A D I G (Berlin), P E T E R FISCHER (Salzwedel) und H E I N R I C H - V O L K E R SCHLEIFF (Erfurt) über die Geschichte und den noch erhaltenen Bestand ehemaliger Ackerbürgerhöfe in ausgewählten Städten Brandenburgs, der Altmark und des Harzvorlandes/' 8 Von den diesmal in größerer Zahl vertretenen Kolleginnen und Kollegen aus den befreundeten sozialistischen Staaten berichteten ANTAL FILEP (Budapest) über Die Erforschung der Ackerbürgerstädte in Ungarn und die Rolle des Ackerbürgertums in der Entwicklung der Wohnkultur Ungarns,m ISTVÄN TÄLASI (Budapest) über Eine spe:l!)

HANS-JÜRGEN

RÄCH,

Bauordnungen des

19. Jahrhunderts für den

Reg.-Bez.

Magdeburg.

Beispiele, Bedeutung und Auswirkungen. In: Ebenda, S. 8 7 - 1 0 4 . 40

JOACHIM

BACH,

Begrüßung

zur 15. Jahrestagung

lungsforschung der A d W der D D R

des Arbeitskreises

für Haus- und Sied-

in Weimar. In: Protokoll der 15. Jahrestagung des

AHS,

Berlin 1975, S. 3 9 - 4 2 . 41

HANS

E B E R H A R D T , Entstehung und Entwicklung Thüringer Ackerbürgerstädte. In: Ebenda,

S. 9 6 - 1 2 0 . 42

H E R M A N N W E I D H A A S , Bemerkungen zu Strukturen von Ackerbürgerstädten in Thüringen. In: Ebenda, S. 1 2 1 - 1 2 4 .

43

Siehe S. 141 ff. in diesem Band.

44

KLAUS

VETTER,

Verfassung, soziale

Struktur

und

wirtschaftliche Verhältnisse

brandenbur-

gischer Ackerbürgerstädte im 17./18. Jahrhundert. In: Protokoll der 15. Jahrestagung, S. 4 3 - 6 1 . 45

WILFRIED

S T A L L K N E C H T , Zur Umgestaltung

des

Stadtkernes

von

Bernau.

In:

Ebenda,

S. 8 3 - 9 5 . KONRAD

PÜSCHEL, Einfluß der sozialistischen Landwirtschaft auf die Entwicklung und Ge-

staltung ländlicher Gebiete und Siedlungen. In: Ebenda, S. 1 2 5 - 1 2 9 . 47 48

Siehe S. 151 ff. in diesem Band. WERNER

R A D I G , Agrarisch bestimmte H ö f e in Kleinstädten der Mittelmark

und Beispiele. In; Protokoll

der 15. Jahrestagung,

S. 6 2 - 8 2 ;

-

Problematik

P E T E R FISCHER, Ackerbürger

und Ackerbürgerhäuser in Salzwedel. In: Ebenda, S. 1 5 8 - 1 6 3 ; H E I N R I C H - V O L K E R SCHLEIFF, Ackerbürgerstadt und Ackerbürgerhaus - Einige Bemerkungen zur Problematik am Beispiel der Städte Osterwieck und Quedlinburg. In: Ebenda, S. 1 6 4 - 1 7 3 . 4U

In: Ebenda, S. 1 7 4 - 1 9 2 .

38

Räch

Marktplatz 18

\

A,

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W § 1

m I T Abb. 25

Wohnhaus

I eines Ackerbürgers,

erbaut

1716. in Weißensee,

Kr.

Sömmerda.

zifische Siedlungsart der Bauernstädte in der Großen Ungarischen Tiefebene (Die SzälläshofSiedlung),™ TERESA ZAREBSKA (Warschau) über The „Agricultural Town" in Poland in the 16-18th centuries,51 A N N A PITTEROVA (Prag) über Hof Situationen und Hausdispositionen der Ackerbürgerhäuser in einer kleinen Agrarstadt des mittlereh Elbgebietesm und MARINA M. CERKEZOVA (Sofia) über Sozialistische Umgestaltungen des Hauses und der Hauseinrichtung des bulgarischen Bauern,5J Die Exkursion in einige thüringische Städte trug wesentlich zur Verdeutlichung und Vertiefung der behandelten Problematik bei. So entwickelten sich lebhafte Diskussionen z. B. in Neumark (Kr. Weimar) zu Fragen der Siedlungsstruktur und der - in diesem heute weniger als 700 Einwohner zählenden Orte offenbar erfolgten - Desurbanisierung, in Sömmerda und Weißensee (Kr. Sömmerda) zur Spezifik von Ackerbürgerhäusern und -höfen (Abb. 24 und 25), in Greußen (Kr. Sondershausen) zur Soziotopographie von Ackerbürgerstädten, in Clingen (Kr. Sondershausen) und Buttstädt (Kr. Sömmerda) zur 30

Ebenda, Ebenda, r 2 > Ebenda, M Ebenda, 51

S. S. S. S.

193-207. 208-220. 225-232. 225-232.

39

Chronik

unterschiedlichen Herausbildung von Scheunenvierteln usw. Permanenter Gegenstand der Beratungen war ferner, auf welche Weise, trotz des eindeutigen und zum Teil bereits vor Jahrhunderten eingetretenen Funktionsverlustes, diese zumeist wertvollen städtebaulichen Ensembles und Einzelbauwerke - Gestalt gewordene Geschichte unseres Volkes - erhalten werden können, ohne sie zu Museen machen zu wollen oder den sozialen Fortschritt zu hemmen. Auf jeden Fall, so wurde einhellig festgestellt, müßte eine über die von den Bauhochschulen und sonstigen praxisorientierten Gremien betriebene Dokumentation hinausgehende, den ökonomischen und sozialen Hintergrund einbeziehende Erfassung dieser kulturhistorischen Zeugnisse angestrebt werden. Die im Zusammenhang mit der Tagung durchgeführte Arbeitsbesprechung bot u. a. Gelegenheit, auf verschiedene, bisher noch nicht veröffentlichte hauskundliche Arbeiten zu verweisen, deren Drucklegung - mindestens auszugsweise - der Arbeitskreis unterstützen solle. 54 Weiterhin wurden Ziel und Zweck des Ethnographischen Atlas Europas

und der darin enthaltenen Karte Das Material der Wände des bäuerlichen

Wohnhauses

erläutert und die Kollegen zur Unterstützung des DDR-Beauftragten K A R L B A U M G A R T E N (Rostock) aufgerufen. 53 Abschließend informierte H A N S - J Ü R G E N RÄCH (Berlin) über die Aktivierungsbemühungen des Zentralen Fachausschusses „Denkmalpflege" im Kulturbund der DDR und die angestrebte Veröffentlichung der inzwischen abgeschlossenen Erfassungsaktion historischer Bauten und Siedlungen. Die am 9. Juni 1975 in Berlin durchgeführte sechzehnte Jahrestagung des AHS stand

unter dem Motto Stand und Aufgaben der Erforschung der Wohnverhältnisse

und Wohn-

weise der Proletariats. Sie setzte damit die in den letzten Jahren verstärkte Orientierung auf Probleme des Bauens und Wohnens in der Stadt fort und griff dabei ein wesentliches, von der marxistischen Volkskunde bzw. Hausforschung in der DDR aber bisher noch ungenügend bearbeitetes Teilproblem heraus. Ziel der Veranstaltung war es, überhaupt erst einmal einen Überblick über den Stand der Forschungen zu erlangen, Hauptprobleme und Forschungsdesiderata zu erkennen und herauszustellen sowie weitere Haus- und Siedlungsspezialisten zur Beschäftigung mit der genannten Thematik anzuregen und damit gleichzeitig eine größere, mehrtägige Veranstaltung zum Thema Proletarische Wohnverhältnisse - Wohnweise des Proletariats vorzubereiten. Nach einleitenden Bemerkun-

gen von HANS-JÜRGEN RÄCH (Berlin) zu Stand und Aufgaben der Erforschung der Wohnverhältnisse und Wohnweise des Proletariats im 19. und 20. Jahrhundert56 referierte R U D O L F S K O D A (Leipzig) über die Wohnverhältnisse

der Berliner

Stadtarmut

Inzwischen erfolgte die Veröffentlichung von Auszügen aus den Dissertationen

von

vor

RUDOLF

S K O D A unter dem Titel „Wohnhäuser und Wohnverhältnisse der Stadtarmut (ca. 1 7 5 0 bis 1 8 5 0 ) Erläutert anhand von Beispielen aus Quedlinburg, Halle, Hamburg und Berlin", in Volkskunde und Kulturgeschichte, N F

Jahrbuch für

Bd 2, Berlin 1 9 7 5 , S. 1 3 9 - 1 7 0 , und von H A N S - H A R T -

M U T S C H A U E R unter dem Titel „Kellergewölbe in Merseburg. Neue Materialien und Erkenntnisse zur Frühgeschichte der Stadt", in 4, Berlin 1 9 7 7 , S 55

Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, N. F

Bd.

109-134.

Die inzwischen mit Unterstützung von L O T A R B A L K E , J O C H E N HELBIG, R U D O L F PRIEMER,

HANS-JÜRGEN RÄCH,

RICH-VOLKER

WERNER

RADIG, HANS-HARTMUT SCHAUER,

HEIN-

SCHLEIFF und H E R M A N N W I R T H durch K A R L B A U M G A R T E N fertig-

gestellte K a r t e und der dazugehörige Erläuterungsbericht sind als Vorauspublikation in den vorliegenden Band übernommen worden. Vgl S 3 6 7 ff In Protokoll der 16 und 17 Jahrestagung des AHS, Berlin 1 9 7 7 , S 1 8 - 2 7

40

Räch

1850." Zum Einfluß der deutschen Arbeiterbewegung auf die Entwicklung des Wohnungswesens und Städtebaus im 19. und 20. Jahrhundert sprach JOACHIM SCHULZ (Berlin). 58 W E R N E R RADIG (Berlin) schließlich plädierte in seinem Beitrag über Stadtrandsiedlungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Eberswalde und Fürstenwalde''J für die stärkere Einbeziehung auch dieser ,,Randzonen" in die anzustrebenden Ortsmonographien, wobei es durchaus sinnvoll wäre, auch „vom rezenten Baubestand und von den real existierenden Siedlungen auszugehen". Im Rahmen der Arbeitsbesprechung informierte KARL BAUMGARTEN (Rostock) über die Tagung des Verbandes Europäischer Freilichtmuseen in Graz 60 und über den Stand der Erarbeitung der Karte „Hauswände". Abschließend wurde dem infolge seiner Emeritierung aus dem Vorsitz scheidenden KARL BAUMGARTEN (Rostock) für seine langjährige verdienstvolle Tätigkeit gedankt und HANS-JÜRGEN RÄCH (Berlin) zum neuen Vorsitzenden berufen. Die siebzehnte Jahrestagung des AHS wurde vom 13. bis 16. Juni 1976 in Görlitz durchgeführt. Sie war mehreren, für den Arbeitskreis neuartigen Themen gewidmet. So konzentrierten sich die Referate des ersten Veranstaltungstages auf die bisher lediglich in der Variante „Ackerbürgerhaus" behandelte Problematik des Bürgerhauses, dargestellt am Görlitzer Beispiel. Einleitend interpretierte ERNST-HEINZ LEMPER (Görlitz) Geographische, wirtschaftsgeschichtliche und historische Fakten der Stadtwerdung und -entwicklung von Görlitz-(il Es folgten der Beitrag von FRANK-DIETRICH JACOB (Leipzig) über Die Görlitzer bürgerliche Hausanlage der Spätgotik und Frührenaissance62 und der Bericht über Archäologische Untersuchungen am Haus Untermarkt 5 in Görlitz von HEINRICH MAGIRIUS (Dresden). 63 Die im Anschluß an die Referate eingeleitete Diskussion wurde während der Stadtbesichtigung weitergeführt, wobei sowohl theoretische und typologische Fragen als auch denkmalpflegerische Probleme beraten wurden. Der zweite Veranstaltungstag war dem dörflichen Bauen und Wohnen unter den Bedingungen des Manufakturkapitalismus bis zum Beginn der industriellen Revolution gewidmet. Während sich BERND SCHÖNE (Dresden) in seinem Beitrag Haus und Wohnweise der Bandweber in der Westlausitz auf eine spezifische Schicht des dörflichen Frühproletariats konzentrierte, M bezog JOCHEN HELBIG (Dresden) in seinem Referat Zur Volksbauweise und Denkmalpflege in der südöstlichen Oberlausitz, fast alle dörflichen Bevölkerungsgruppen und deren spezielle Haus- und Hofformen mit ein. Eine auf beide Themen abgestimmte Exkursion führte zunächst zu einem der ältesten, erhaltenen Fachwerkbauten der Oberlausitz, dem aus dem 16./17. Jahrhundert stammenden Herrenhaus in Hagenwerder (Kr. Görlitz), wo - wie bei den folgenden Objekten neben historischen Fragen auch Probleme der denkmalpflegerischen Betreuung diskutiert wurden (Abb. 26). In Marienthal (Kr. Görlitz) interessierten neben dem Dorfkrug aus dem 17. Jahrhundert die Restaurierung der Klosterkirche, in Rosenthal (Kr. Zittau) die j7

Siehe S. 2 2 3 ff. in diesem Band.

58

Siehe S. 2 3 3 ff. in diesem Band.

59

In: Protokoll der 16. und 17. Jahrestagung des AHS, S. 6 6 - 7 5 .

(i0

Ebenda, S. 7 8 - 8 0 .

01

Ebenda, S. 8 1 - 9 3 .

62

Siehe S. 1 0 9 ff. in diesem Band.

03

Siehe S. 1 2 6 ff. in diesem Band.

6,1

Siehe S. 1 5 9 ff. in diesem Band.

Chronik

41

S Ü D O S T - UND WE5TO E>ER. LAUSITZ, AI H A N S

TSCHARNKE,

Mecklenburgs

B a u e r n t u m im

C R U L L , Mecklenburg. B i e l e f e l d - L e i p z i g 1 9 4 0 , S. 1 2 1 .

19.

und 2 0 . Jahrhundert. I n :

RICHARD

Auswirkungen der Agrarreformen

o ^ ^ a ^ j Abb. 69

173

r |

Auf Grund der Agrarreform E.nde des 18. Jahrhunderts entstandene Hallenhausvarianten: a = Dreiständer, b = Niederdeutsches Querdielenhaus, c = Werderhaus.

und Ackerstreifen und damit für die meisten Bauern die Zerstückelung ihres Besitzes in eine Unzahl kleiner Teile die Regel gewesen. Eine Betriebsführung war unter diesen Verhältnissen nur mit Hilfe des Flurzwangs möglich gewesen, 5 was über Jahrhunderte •' Gleichen Flurzwang kannten im übrigen auch die D ö r f e r mit Hägerflur, da in ihnen die abgeernteten Felder als gemeinschaftliche Viehweide genutzt wurden. Vgl. dazu H A N S W I T T E , Kulturbilder aus Alt-Mecklenburg, Stuttgart 1912, S. 128.

174

Baumgatten

eine individuelle Wirtschaftsweise unmöglich gemacht hatte und schließlich unter der veränderten Situation des 19. Jahrhunderts zu einem Hindernis für eine Steigerung der Produktivität und Rentabilität bäuerlicher Betriebe geworden war. Hier Abhilfe zu schaffen, war die domaniale Verwaltung nunmehr bemüht, mit Hilfe einer Vermessung der Hufen die weithin über die Dorfflur verstreuten Ackerflächen der einzelnen Höfe jeweils zusammenzulegen und so den bäuerlichen Besitz zu „arrondieren", um fortab dessen Bewirtschaftung ohne Flurzwang zu ermöglichen. Aus der mittelalterlichen Gewannflur der Dörfer entstand so die für die jüngere Zeit bezeichnende Blockflur, ein Vorgang, der - wie auch die Vererbpachtung - oft gegen den Willen der Bauern erfolgen mußte und sich daher über Jahrzehnte hinschleppte. Eine solche bäuerliche Haltung gegenüber diesen progressiven Maßnahmen mag zunächst erstaunen. Sie verwundert jedoch nicht, wenn man bedenkt, daß die Vererbpachtung dem Bauern erhebliche finanzielle Lasten aufbürdete - insgesamt gelangten durch den damit verbundenen Verkauf der Gebäude und des Inventars an die jetzigen Erbpächter 24 Millionen Reichstaler in die Hände der domanialen Verwaltung. Und nicht ohne Bedeutung in dieser Hinsicht dürfte weiter gewesen sein, daß der Bauer mit der Verkopplung seiner Ackerflächen, d. h. mit der Arrondierung seines Besitzes, eine zunehmende Lockerung des bisherigen engen Zusammenhalts in der traditionellen Dorfgemeinschaft befürchtete und sich damit, was für ihn als Hauswirt bislang unbekannt gewesen war, mehr und mehr in seiner Wirtschaft auf sich selbst gestellt sah. Niederschlag fand das letztere fortab auch im Siedlungsbild etlicher, von dieser Maßnahme betroffener Dörfer. D a nämlich die arrondierten Felder häufig nicht unmittelbaren Anschluß ans Dorf besaßen, schien es aus betriebstechnischen Gründen des öfteren geraten, einzelne Höfe aus dem Dorfverband heraus auf den abseits befindlichen Besitz zu verlegen. Das Resultat eines solchen Vorganges waren die mehr oder minder starke Auflösung der ursprünglichen Dorfanlage, das Entstehen der „ausgebauten" Höfe und damit die Ausbildung der bislang für Mecklenburg so gut wie unbekannten Streusiedlungen (Abb. 70). Dem Ausbau der 'Gehöfte aus dem Dorf ging - beginnend etwa mit der Mitte des 19. Jahrhunderts - in der Regel auch eine grundlegende Veränderung der Hofbilder parallel. W a r in älterer Zeit die bäuerliche Hofanlage in Mecklenburg - abgesehen vom Südosten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - ausschließlich vom Niederdeutschen Hallenhaus geprägt gewesen, trat an dessen Stelle nunmehr, zu Beginn auf behördliche Administration zurückgehend, ein offenes Dreiseitgehöft, das zunächst seiner Eigenart nach von der Forschung nicht richtig interpretiert wurde. Galt doch diese zuvor auf dem mecklenburgischen Bauernhof nicht beobachtete Anlage bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts als aus mitteldeutscher Hauslandschaft entlehnt. In Wahrheit jedoch ist sie, wie 1925 von J O H A N N ULRICH F O L K E R S richtig gesehen wurde, 6 nichts anderes als eine Kopie des für viele Dörfer Mecklenburgs charakteristischen feudalen Gutshofes. Er bezeichnete sie daher treffend als „Gutshoftyp". Ähnlich der adeligen Anlage bestand auch die bäuerliche aus einem an drei Seiten von Gebäuden umgebenen, rechteckigen Hofraum, der an der Rückseite von einem stallosen Wohnhaus, rechts und links von je einem zunächst meist gieblig aufgeschlossenen Wirtschaftsgebäude, von einer Scheune und einein Stallgebäude, begrenzt wurde (Abb. 71). Da dieser Gehöfttyp au6

JOHANN ULRICH FOLKERS, Das mecklenburgische Dorf. In: OTTO SCHMIDT, Mecklenburg - ein Heimatbuch, Wismar 1925, S. 118.

Auswirkungen der Agrarreformen

175

Lebende Gemarkungsyenxe Wecje PorFr A u s g e b a u t e -Hofe

Abb. 70

Dorf Kavelstorf

bei Rostock: Restdorf mit ausgebauten

Höfen.

genscheinlich dem gewachsenen Selbstbewußtsein, den neuen wirtschaftlichen E r f o r d e r nissen und den wohnkulturellen Wünschen der zu Erbpächtern aufgestiegenen Hauswirte mehr entsprach als das traditionelle Hallenhaus, wurde er seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - nunmehr aber auf Grund bäuerlicher Initiative - zunehmend in den Dörfern bzw. in den Dorfresten verwendet und verdrängte hier die bisherigen älteren Hofformen. D e r Gutshoftyp, das mecklenburgisch-niederdeutsche Dreiseitgehöft, hat seine eigene Geschichte. Karten des 16. Jahrhunderts belegen erstmals diesen Prototyp bei mehreren Hofanlagen. D a b e i handelt es sich u. a. um ein bäuerliches Dreiseitgehöft, das an seiner Rückseite jedoch noch nicht - wie es später üblich wurde - ein Nur-Wohnhaus, sondern ein Hallenhaus besaß (Abb. 72). Selbst im 18. Jahrhundert wurden, wie der gegenwärtige Bestand ausweist, bäuerliche Höfe noch in dieser Form errichtet. Im Gegensatz dazu zeigen Karten des 16. Jahrhunderts für den adeligen H o f noch immer, mehr oder weniger ausgeprägt, ungeordnete Anlagen (Abb. 7 3 ) . Im 17. Jahrhundert vom Bauern-

176

Abb. 11

Baumgarten

Gutshoftyp,

Lichtenhagen

bei Rostock, (Rekonstruktionen): Süden, c -— Blick von

Osten.

a — Grundriß,

b = Blick

von

Auswirkungen der Agrarreformen

Abb. 12

Bauernhöfe, von links nach rechts: eih Dreiseithof,

Abb. 73

Bauen und

ein Zweiseithof,

ein

Möderitz bei Parchim 1589: Der adelige Gutshof - eine ungeordnete

Abb. 14 1?

177

Wohn

Langen Brütz bei Schwerin 1661: Der adelige Cutshof

- ein

Kossatenhof.

Anlage.

Dreiseithof.

Baumgarten

178

Crn^ausformen We rde r fpa U6 fo rmen 75

Dreiteilung

der Ende

des 19. Jahrhunderts

errichteten

Bauernhäuser

in

Mecklenburg.

hof auf den Gutshof übernommen, erhielt das Dreiseitgehöft hier nunmehr durch Einfügen eines Nur-Wohnhauses anstelle des Hallenhauses sein endgültiges Gesicht (Abb. 74). Im 19. Jahrhundert schließlich gelangte die so veränderte Anlage als Gutshoftyp wieder auf den bäuerlichen Hof zurück.7 Gutshoftypen sind noch heute vornehmlich im östlichen, nördlichen und mittleren Mecklenburg relativ häufig, im westlichen Mecklenburg hingegen recht selten vorhanden. Hier blieb auch jetzt noch in den Dörfern das vom Hallenhaus geprägte bäuerliche Gehöft dominierend, wobei allerdings in der Regel das Hallenhaus hier noch immer, wie bereits seit etwa 1800, in der abgewandelten Form des Werderhauses, d. h. mit wegzugewandter Wohnung, anzutreffen ist. Dabei werden für das im westlichen Mecklenburg bezeichnende Verharren beim Hallenhaus fraglos mehrere Ursachen verantwortlich gemacht werden müssen. So bestand zunächst einmal hier, wie die älteren Gebäude bereits ausweisen, schon immer eine besonders enge Beziehung zu den westelbischen Kernlandschaften des Hallenhauses, im Südwesten vornehmlich zum niedersächischen, ' K A R L B A U M G A R T E N , Die Widerspiegelung der Agrarreformen des 18. und 19. Jahrhunderts in der Gestaltung des mecklenburgischen Bauernhauses. In: Probleme der Agrargeschichte des Feudalismus und des Kapitalismus, Rostock 1977, S. 146.

Auswirkungen der Agrarreformen

Abb. 76

Typische

Querbüdnerei

des 19.

179

Jahrhunderts.

irrr Nordwesten zum holsteinischen Raum. Daneben vermochte der adelige Gutshof weit weniger Vorbild zu sein, w a r doch gerade in den westlichen Ämtern der bäuerliche Hof bis ins 20. Jahrhundert dominierend geblieben. Schließlich aber errichtete man augenscheinlich hier nicht in dem M a ß e wie im übrigen Mecklenburg Abbauten, bei deren Anlage in der Regel der Gutshoftyp zur Anwendung gekommen w a r . Und da zu dieser Zeit im Südosten - w i e bereits dargelegt - Gehöfte mit ernhausartigen Gebäuden das Dorfbild beherrschten, erscheint die für das späte 19. Jahrhundert charakteristische Hausformenlandschaft Mecklenburgs nunmehr mit dem Hallenhaus im Westen, mit den ernhausartigen Formen im Südosten sowie mit dem Gutshoftyp in den übrigen Landesteilen weitgehend dreigeteilt (Abb. 75). Sie erfuhr damit zugleich ihre letzte durch traditionelle Hausformen gebildete Ausgestaltung. Auswirkungen der Agrarreformen des 19. Jahrhunderts sind jedoch nicht nur - wie gezeigt - in den Häusern der größeren Bauern, sondern ebenso bei denen kleinerer Besitzer zu beobachten. So hatten zunächst die Büdner - die seit 1753 auf Grund des Patents des Herzogs C H R I S T I A N L U D W I G 6 angesetzt worden waren, um die Flucht der ländlichen Bevölkerung in die benachbarten brandenburg-preußischen Länder einzudämmen - ihre Häuser allgemein ebenfalls als Hallenhäuser errichtet. Dabei unterschieden sich ihre Gebäude in der Regel von denen der größeren Bauern vor allem durch ihre geringeren Abmessungen, vornehmlich in ihrem Wirtschaftsteil, so d a ß ihre Grundflächen sich durchweg dem Quadrat näherten. Besondere ökonomische Bedeutung erlangte die im 19. Jahrhundert durchgeführte Agrarreform, und zwar insbesondere die Vererbpachtung, für die Büdner dadurch, d a ß dabei die ihnen im 18. Jahrhundert zugestandene Weidefreiheit für ein Kalb und eine Kuh auf der gemeinsamen Dorfweide fortab für sie entfiel. Um sie dafür zu entschädis

12

M A G E R , a. a. O., S. 249 f.

180

Baumgarten

gen, wurden ihnen aus dem Gemeindeland Ackerflächen zugewiesen, so daß seitdem die ursprünglich nur mit 22 a ausgestatteten Büdnereien zunächst auf etwa 2 bis 3 ha, später durch weitere Zupachtungen durchschnittlich sogar auf 5 bis 9 ha anwuchsen. Damit waren jetzt Betriebe entstanden, die groß genug waren, um als selbständige Wirtschaften geführt werden zu können. Dieser wirtschaftlichen Aufstockung der Büdnerbetriebe ging im 19. Jahrhundert in vielen Dörfern Mecklenburgs ein grundlegender Wandel im Typus des Büdnerhauses parallel. Von der Regierung als „Normform" entwickelt, entstanden auf den Büdnereien fortab zunehmend queraufgeschlossene Gebäude. In ihrem Inneren zweifluchtig aufgeteilt, unterschieden sie sich in ihrem Raumbild von den ihnen sehr ähnlichen älteren Ernhäusern nur durch die zwischen Wohn- und Stallteil eingeschobene Diele (Abb. 76). Wie das Hallenhaus ist somit auch diese im 19. Jahrhundert entwickelte „Querbüdnerei" ein Einheitshaus. Gewisse Ähnlichkeit mit diesem Büdnerhaus besaßen schließlich auch die Gebäude der seit 1846 geschaffenen „Häuslereien" Mecklenburgs. In der ersten Zeit - wie die älteren Büdnereien - mit nur geringem Gartenland ausgestattet und als Ansiedlung für dörfliche Handwerker oder Forst- und Landarbeiter gedacht, besaßen auch diese von Beginn an nur queraufgeschlossene Häuser. Nur wenn Häusler durch Zupachtung in den Besitz zusätzlicher Ländereien gelangt waren, sind auch bei deren Gebäuden Dielen zu finden. Andernfalls enthielten sie nur Wohnraum - kleine Stallungen befanden sich in der Regel dann in Nebengebäuden hinter den zumeist entlang der Zufahrtsstraße zum alten Dorfkern aufgereihten Häuslereien. Büdnerei und Häuslerei prägten damit vor allem im Westen Mecklenburgs, hier insbesondere in dem bislang einzig durch Hallenhäuser geprägten Südwesten, mit ihren queraufgeschlossenen Gebäuden erstmalig einen landschaftsfremden Zug. Sie trugen aber gleichzeitig auch mit bei zum Variantenreichtum der mecklenburgischen Hausformenlandschaft des 19. Jahrhunderts. 12. Jahrestagung des A H S , 1971

H A N S - J Ü R G E N RÄCH Bauen und Wohnen der werktätigen Dorfbevölkerung im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Magdeburger Börde

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte die Zeitschrift für Kulturgeschichte einen Artikel, 1 in dem darauf verwiesen wurde, daß sich in dieser Zeit „eine neue Bewegung, welche die jahrhundertelang pietätvoll gewahrten Formen" dörflichen Lebens sprengen will, herausgebildet habe Vielerorts sei jedoch noch „das Patriarchalische, das Altväterliche, das Urgermanische im Haushalt des deutschen Landmannes" als ein „Stück echter deutscher Lebensweise . . . noch friedlich und freundlich beschützt von den guten deutschen Göttern" erhalten geblieben: „Der große Kachelofen summt, die Leuchte mit pechigem Kienholz flammt, die Spinnräder summen und schnurren, alte Volkslieder erklingen, man neckt sich in schneidigen Vierzeilern oder Gstanzeln, oder erzählt sich die uralten Sagen und Märchen, welche die Gebrüder Grimm gesammelt, mit gruseligem Behagen." In Festzeiten werden „die alten Götter . . . wieder lebendig, Wotan und Freya wachen auf, man . . . vergißt auch die Thiere nicht, diese getreuesten Kulturbegleiter aus arischer Urzeit, mit denen der deutsche Bauer sogar sein Wohnhaus theilt. . ." Vollkommen zu Recht verwies der Autor dieses Artikels auf die großen Veränderungen, die mit dem Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft verbunden waren. Es stimmte, daß auf Grund der ökonomischen, sozialen und politischen Wandlungen auch alle Bereiche dörflicher Lebensweise sich veränderten, daß das Verhältnis zwischen Bauer und Gesinde sich wandelte, daß viel Städtisches, z. B. bei der Einrichtung der Wohnstiuben, ins Dorf kam, daß Tracht, Sitten und Gebräuche usw. „von dem modernen jungen Landwirth als ,bäuerisch' abgethan und als alter Aberglaube abgeschafft" wurde. Die romantisierende Schilderung des Dorfes als „der friedlichsten, sonnig behäbigsten Idylle" für die vorangegangene Zeit des Spätfeudalismus und die Periode des Übergangs zum Kapitalismus war jedoch mehr oder weniger bewußt irreführend, Ausdruck einer kleinbürgerlich-reaktionären Kapitalismuskritik. Sie entsprach weder der vergangenen dörflichen Realität, noch wurde sie dem - allerdings zwiespältigen - Kulturfortschritt in den Dörfern des 19. Jahrhunderts gerecht. Im folgenden soll nun versucht werden, ein reales Bild der Veränderungen in einem Teilbereich dörflicher Kultur und Lebensweise, nämlich dem Komplex Bauen und Wohnen, unter den Bedingungen der Heiausbildung und Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft zu zeichnen. Gewissermaßen als Modell wurde dafür die Magdeburger Börde 2 - eine etwa 150 Dörfer umfassende, natur- und 1

A L O I S JOHN, Dorf und Bauernhof in Deutschland sonst und jetzt. In: Zeitschrift für Deutsche Kulturgeschichte, N. F. Bd. 1, 1 8 9 1 , S. 4 3 7 , 4 3 8 , 4 6 1 f , 4 6 6 .

2

Vgl. H A N S - J Ü R G E N R A C H / B E R N H A R D W E I S S E L (Hg.), Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen

und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom

Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges, Berlin 1978/79

H A N S - J Ü R G E N RÄCH Bauen und Wohnen der werktätigen Dorfbevölkerung im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Magdeburger Börde

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte die Zeitschrift für Kulturgeschichte einen Artikel, 1 in dem darauf verwiesen wurde, daß sich in dieser Zeit „eine neue Bewegung, welche die jahrhundertelang pietätvoll gewahrten Formen" dörflichen Lebens sprengen will, herausgebildet habe Vielerorts sei jedoch noch „das Patriarchalische, das Altväterliche, das Urgermanische im Haushalt des deutschen Landmannes" als ein „Stück echter deutscher Lebensweise . . . noch friedlich und freundlich beschützt von den guten deutschen Göttern" erhalten geblieben: „Der große Kachelofen summt, die Leuchte mit pechigem Kienholz flammt, die Spinnräder summen und schnurren, alte Volkslieder erklingen, man neckt sich in schneidigen Vierzeilern oder Gstanzeln, oder erzählt sich die uralten Sagen und Märchen, welche die Gebrüder Grimm gesammelt, mit gruseligem Behagen." In Festzeiten werden „die alten Götter . . . wieder lebendig, Wotan und Freya wachen auf, man . . . vergißt auch die Thiere nicht, diese getreuesten Kulturbegleiter aus arischer Urzeit, mit denen der deutsche Bauer sogar sein Wohnhaus theilt. . ." Vollkommen zu Recht verwies der Autor dieses Artikels auf die großen Veränderungen, die mit dem Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft verbunden waren. Es stimmte, daß auf Grund der ökonomischen, sozialen und politischen Wandlungen auch alle Bereiche dörflicher Lebensweise sich veränderten, daß das Verhältnis zwischen Bauer und Gesinde sich wandelte, daß viel Städtisches, z. B. bei der Einrichtung der Wohnstiuben, ins Dorf kam, daß Tracht, Sitten und Gebräuche usw. „von dem modernen jungen Landwirth als ,bäuerisch' abgethan und als alter Aberglaube abgeschafft" wurde. Die romantisierende Schilderung des Dorfes als „der friedlichsten, sonnig behäbigsten Idylle" für die vorangegangene Zeit des Spätfeudalismus und die Periode des Übergangs zum Kapitalismus war jedoch mehr oder weniger bewußt irreführend, Ausdruck einer kleinbürgerlich-reaktionären Kapitalismuskritik. Sie entsprach weder der vergangenen dörflichen Realität, noch wurde sie dem - allerdings zwiespältigen - Kulturfortschritt in den Dörfern des 19. Jahrhunderts gerecht. Im folgenden soll nun versucht werden, ein reales Bild der Veränderungen in einem Teilbereich dörflicher Kultur und Lebensweise, nämlich dem Komplex Bauen und Wohnen, unter den Bedingungen der Heiausbildung und Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft zu zeichnen. Gewissermaßen als Modell wurde dafür die Magdeburger Börde 2 - eine etwa 150 Dörfer umfassende, natur- und 1

A L O I S JOHN, Dorf und Bauernhof in Deutschland sonst und jetzt. In: Zeitschrift für Deutsche Kulturgeschichte, N. F. Bd. 1, 1 8 9 1 , S. 4 3 7 , 4 3 8 , 4 6 1 f , 4 6 6 .

2

Vgl. H A N S - J Ü R G E N R A C H / B E R N H A R D W E I S S E L (Hg.), Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen

und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom

Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges, Berlin 1978/79

182

Räch

kulturräumlich in sich geschlossene Region westlich Magdeburgs - ausgewählt, die mindestens seit der M i t t e des 18. Jahrhunderts zum Verbreitungsgebiet des

Mitteldeut-

schen Ernhauses gehörte. 3 In der größtenteils 4 zum Königreich Preußen gehörenden Magdeburger B ö r d e hatten sich bereits in der zweiten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts die spätfeudalen Produktionsverhältnisse aufzulösen begonnen. Dennoch kann für die Zeit bis 1815 erst vom Beginn der bürgerlichen Umgestaltung der Landwirtschaft gesprochen werden, wenngleich die Sozialstruktur in den B ö r d e d ö r f e r n bereits gegen E n d e des 18. Jahrhunderts eine weit in das 19. Jahrhundert hineinweisende Stufe erreicht hatte: K l a s s e der Bauern -

große Bauern (Ackerleute, Halbspänner)

21

-

kleine Bauern ( G r o ß - K o s s a t e n )

13

Prozent

Schicht der Landarmen -

mit Haus- und kleinem Landbesitz ( K l e i n - K o s s a t e n , Häusler)

-

ohne Haus- und Landbesitz ( D e p u t a t a r b e i t e r , E i n l i e g e r )

38 16

-

ohne eigene Wohnung ( G e s i n d e )

12

Mit Ausnahme des Gesindes, das vielfach im Stallgebäude untergebracht war, wohnten im Zeitraum von 1 7 8 9 bis 1 8 1 5 alle Bevölkerungsgruppen in speziellen Wohnhäusern des Typs Mitteldeutsches Ernhaus, das fast ausnahmslos als reines Wohnhaus und nur selten (nämlich bei der hausbesitzenden Landarmut) als Wohnstallhaus errichtet wurde. Formal stimmte die für diese Hausform typische Raumordnung bei allen Wohnbauten weitgehend überein. E i n e Vielzahl von Varianten existierte jedoch im äußeren Erscheinungsbild und bei der Innenausstattung der G e b ä u d e . Erhebliche Unterschiede, die auf den jeweiligen sozialen Status des Eigentümers bzw. der Nutzer verwiesen, traten z. B . in der G e b ä u d e g r ö ß e (bebaute Grundfläche,

Etagenzahl),

bei der Verwendung

von

Baumaterial (Bruch- und Ziegelstein, Holz, Lehm, Stroh . . .), in der A r t und Qualität des Innenausbaus ( F u ß b ö d e n , Decken, Fenster, Türen, Treppen usw.) und in den For-

STRASSENSE1TIGE

_ANSICH

T QUERSCHNITT

Abb. 77 3

Wohnhaus eines großen Bauern, erbaut um 1800, Welsleben,

Kr. Schönebeck,

H A N S - J Ü R G E N R Ä C H , Bauernhaus, Landarbeiterkaten und Schnitterkaserne von

Bauen

und Wohnen

der

ländlichen

Agrarproduzenten

in

der

Lange Str. 37. Zur Geschichte

Magdeburger

Börde

19. Jahrhunderts, Berlin 1 9 7 4 , S. 12. 11

Lediglich die Orte Großmühlingen und Klein Mühlingen bildeten eine anhaltinische E x k l a v e .

des

183

Bauen und Wohnen im 19. Jahrhundert

STALL

STALL

STALL

STALL

VERANDA FUTTERKAMMER

FLUR

PFERDE-STALL

KAMMER

- STRASSE-

Abb. 78

Wohnhaus

KÜCHE

STUBE

GRUNDRISS

eines großen Bauern, erbaut um 1800, Weisleben,

Kr. Schönebeck,

Lange Str. 37.

men sowie in der Häufigkeit und Qualität der kunsthandwerklichen Verarbeitung des Materials und der verwendeten Schmuckelemente (Inschriften, Tafeln, Fenster- und Türgewände, Firstbekrönungen u. a.) auf. Ein durchaus repräsentatives Beispiel für die Wohnsituation eines großen Bauern stellt folgendes um 1800 errichtete, bis heute erhalten gebliebene und nur in seinem Innern geringfügig veränderte Wohnhaus aus Welsleben, Kr. Schönebeck, dar (Abb. 77). Auffallend ist - neben der für den Bördebauernhof dieser Zeit charakteristischen Anlage eines Torbogens - besonders die schon frühzeitige Verwendung von Bruchstein als W a n d baumaterial, das voll ausgebaute Obergeschoß und die ungewöhnliche Übernahme eines aufwendigen Mansard-Daches. Hervorhebenswert sind ferner die tonnengewölbten Keller, das hofseitige Haustürgewände aus Bruchstein, die Sandsteinkugeln auf den Hausgiebeln, das hölzerne Geländer der Innentreppe und die schmuckvollen Zimmertüren. D e r Grundriß (Abb. 78) hingegen zeigt die bescheidene traditionelle Gliederung in drei Zonen mit dem Flur-Küchen-Trakt in der Mitte. Selbst der über mehrere Etagen hinwegführende offene Schornstein über der Schwarzen Küche ist erhalten geblieben, lediglich durch eine massive Decke nachträglich geschlossen.

184

Räch

FLUR,

#

ERDGESCHOSS Abb. 79

Wohnhaus

=

GIPSBODEN

- GRUNDRISS eines kleinen Bauern, erbaut um 1770, Drackenstedt, Str. 52, (1969

abgerissen).

Kr. Wanzleben,

Kleine

Bauen und Wohnen im 19. Jahrhundert

185

Obwohl einige der großen Bauern bereits in dieser Zeit zum Massivbau übergegangen waren, ließen die meisten doch noch zweistöckige Fachwerkbauten errichten. Die kleinen Bauern blieben sogar generell bei dieser Konstruktionsmethode, wenn auch die überlieferten Bauten durch das zumeist nachträgliche unterfangene Erdgeschoß nicht mehr ausreichend diesen Zustand widerspiegeln. Ein dafür charakteristisches Beispiel konnte in Drackenstedt, Kr. Wanzleben, dokumentiert werden (Abb. 79). Zwar zeigte der Grundriß des um 1770 errichteten Gebäudes ebenfalls die für das Mitteldeutsche Ernhaus typische Gliederung, doch unterschied sich das Gebäude im Aussehen und inneren Ausbau erheblich von denen der großen Bauern. So bestanden - bis auf den offenen Schornstein - ursprünglich alle Wände aus Lehmfachwerk. Selbst die ornamental gestalteten Ziegelsetzungen an den Schauseiten (Straßengiebel und Hoffront) wurden nachträglich eingebracht. Es fehlte ein Keller, die Treppen bestanden aus einfachen, in Wangen eingelassenen Trittstufen usw. Noch deutlicher zeigt sich die Abstufung, wenn man die Bauten der landarmen Bevölkerungsschichten einbezieht. Ihre Unterkünfte wurden zwar meistens ebenfalls in Fachwerk errichtet, dann jedoch überwiegend einstöckig. In etlichen Fällen ging man aber bereits zu weniger kostbaren Baustoffen über. Besonders häufig wurde der reine Lehmbau verwendet. Als Beispiel für diese - im Volksmund „Drecksbauten" genannten Häuser sei das 1810 errichtete Wohnhaus eines „Häuslers" aus Atzendorf, Kr. Staßfurt, vorgestellt (Abb. 80). Der Grundriß zeigt wieder die übliche Raumordnung mit Flur und Küche im Mitteltrakt. Lediglich die Kammern neben den Stuben fehlen. Die etwa 60 cm starken Außenwände aus gestampftem Lehm (Pise-Bauweise) tragen ein einfaches, mit Windrispen versteiftes Sparrendach. Der einzige Schmuck ist die Jahreszahl im Türsturz und die Haustür mit Oberlichtfenster. Die Wohnbauten für die auf den Gütern und - in der Magdeburger Börde auch schon Ende des 18. Jahrhunderts - bei den großen Bauern beschäftigten Deputatarbeiter waren meistens durch die Aneinanderreihung von mehreren Mitteldeutschen Ernhäusern gekennzeichnet. Der Grundriß eines 1789 errichteten Deputatarbeiterhauses für 4 Familien aus Dahlenwarsleben, Kr. Wolmirstedt, zeigt z. B. zwei nebeneinandergesetzte Grundtypen (Abb. 81), wobei je zwei Familien Flur und Küche (mit offenem Schornstein) gemeinsam nutzen mußten, Stube und Kammer jedoch individuell bewohnt werden konnten. Die nach der geschilderten Vielfalt der Erscheinungsformen an sich nicht zu erwartende Tatsache, daß bei allen sozialen Gruppen der Dorfbevölkerung eine relativ einheitliche Grundrißgestaltung aller Wohnhäuser zu verzeichnen ist, bedarf eines Kommentars. Ursache dieses Phänomens ist offenbar nicht der Stand der Entwicklung in den landwirtschaftlichen Produktionsverhältnissen, kann auch nicht in der - gegenüber dem voll entfalteten Kapitalismus - noch geringen sozialen Differenzierung liegen. Ursache ist allein die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte im Baugewerbe, der Zustand in der Baupraxis: Zwar war die für den Feudalismus bestimmende Form des gemeinschaftlichen Hausbaus aller Dorfbewohner (Nachbarschaftshilfe) nicht mehr generell gültig, vielmehr wurde bei den verschiedenen sozialen Gruppen eine durchaus unterschiedliche Baupraxis geübt, doch standen noch alle Bauausführenden voll in der Bautradition. Sowohl die in immer größerer Zahl auf dem Lande vorhandenen Zimmerleute und Maurer, die vorrangig die Bauten der Bauern errichteten, als auch die restlichen Bevölkerungsgruppen, die ihre Häuser weitgehend selbst bauten, erlangten ihre Kenntnisse vornehmlich bei Meistern, die ausschließlich durch mehrere Generationen überliefertes und eigenes empi-

186

Räch

HOFSEITIGE

~

S TRASSENGIEBEL

ANSICHT r-VA

V

V.

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.

KELLER

'

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GRUNDRISS

Abb. 80

1—1>8

-HOF-

Wohnhaus eines landarmen Dorfbewohners

(„Häusler"), erbaut 1810, Atzendorf,

Kr. Staß-

furt, Fabrikstr. 6.

Abb. 81

Wohnhaus

für 4 Deputatarbeiterfamilien eines Großbauern, erbaut leben, Kr. Wolmirstedt, Lange Str. 88, (Grundriß).

1789.

Dahlenwars-

187

Bauen und Wohnen im 19. Jahrhundert

risches Wissensgut vermittelten, oder durch „Abgucken" bei älteren Kollegen (z. B. während der Erfüllung der Baudienste). Das allgemein niedrige Bildungsniveau der Bauausführenden verwehrte zudem die Kenntnisnahme der Ende des 18. Jahrhunderts schon zahlreichen Fachliteratur, so daß die überlieferten Formen - zumal sie den entsprechenden Bedürfnissen nicht widersprachen und den gesetzlich geforderten Bedingungen durchaus gerecht wurden - immer noch als verbindlich angesehen wurden. Der soziale Status k o n n t e sich nur in den - allerdings beachtlichen - Modifikationen der allgemein üblichen und konstruktiv möglichen Bauformen ausdrücken. Die wesentlichsten Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Klassen und Schichten offenbaren sich jedoch erst bei der Betrachtung der Nutzung der Wohnbauten. So ist für die großen Bauern charakteristisch, daß in ihrem Gebäude lediglich die eigene Familie, die Eltern (die sogenannten Altsitzer oder Altenteiler) und die Mägde untergebracht wurden. Die Knechte hausten im Stall, die bei ihnen beschäftigten Drescher, die meistens verheiratet waren, wohnten als „Häusler" oder „Einlieger" im Ort. C A R S T E D schreibt in seiner Chronik von Atzendorf (1765): „Die Arbeitsleute sind hier die Dröscher; jeder Bauer hat deren 2, die großen Cothsassen aber nur einen . . . Die Arbeitsleute haben keine eigene Häuser, sondern wohnen bey den Cothsassen zur Miethe. Ein jeder miethet ein und bezieht um Michaelas] [ = 29. September] aus seine eigene Cammer. Stuben verlangen sie nicht besonders zu haben. Im Winter gehen alle Miethsleute in eine Stube, da hat jede Familie ihren Disch, brennt ihre eigene Lampe und heizet den Winter wochenweise mit den andern die Stube von den Stroh, so sie in der Erndte verdient, oder mit Schütte, wiewohl sie die Schütte, i. e. die Stoppeln, die sie von den Acker im Frühjahr harcken und in große Haufen zusammen legen, zum Eingruden lieber als zum Heizen brauchen. Auch sammeln sie zur Feuerung die Kohlstrünke vom Kohlacker, drocken sie und kochen damit im Sommer . . . Auf dem Hofe hat er seinen Kofen, so d a ß man aus der Anzahl dieser transportablen Schweinekofen gleich sehen kan, wieviel Miethleute in einem Hause." 5 Die Bauern mit kleinem Landbesitz (etwa 1 Hufe = 30 Morgen), die in den zeitgenössischen Quellen zumeist Groß-Kossaten genannt werden, und die schon zur Landarmut zu rechnenden Klein-Kossaten, beherbergten in ihren ohnehin kleineren Wohnhäusern also neben ihren Eltern die Hauptzahl der „Einlieger", die jedoch nicht alle als Drescher bei den großen Bauern arbeiteten. Selbst große Teile der Landarmut mit Hausbesitz, die „Häusler", vermieteten vielfach einzelne Räume, um sich eine zusätzliche Einnahmequelle zu sichern, obwohl häufig der eigene Wohnraum dadurch sehr, oft sogar zu sehr verringert wurde. Meistens blieben nur Stube und Kammer (außer Flur und Küche) für die vermietende Häuslerfamilie, so daß der zur Verfügung stehende Wohnraum etwa dem der DeputatarbeiterWohnungen entsprach. Bei einer durchschnittlichen Größe der Wohnstube von etwa 16 m ? und der Kammer von etwa 8 m2, den zumeist von 2 bis 4 Familien gemeinsam zu nutzenden kleinen Küchen und Hausfluren war selbst bei einer nur aus 4 Mitgliedern bestehenden Familie absolute Platznot gegeben. Die großen und mittleren Bauern konnten in ihrem Hause die verschiedenen Tätigkeitsbereiche auf mehrere Räume verteilen. Die kleinen Bauern und die hausbesitzende Landarmut mußten zahlreiche Tätigkeiten in wenigen Räumen zusammendrängen. So 5

S A M U E L B E N E D I K T C A R S T E D , Atzendorfer Chronik, hg. von der Historischen Kommission für

die

S. 95 ff.

Provinz

Sachsen und

Anhalt. Bearbeitet

von

Eduard

Stegmann,

Magdeburg

1928.

188

Räch

diente die Stube vielfach etlichen Hausarbeiten (z. B. Spinnen, Weben), mußte aber auch als Schlafplatz genutzt werden, da die Kammern - trotz mehrschläfriger Betten - für Eltern, Kinder und zum Teil Großeltern nicht ausreichten. In den Deputatarbeiterwohnungen kam häufig - in Ermangelung eines Kellers oder sonstiger Nebengelasse - noch die Vorratslagerung hinzu. Die soziale Differenzierung E n d e des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts machte sich also kaum in der Grundrißgestaltung der Wohnbauten, wohl aber in ihrer inneren und äußeren Ausgestaltung und vor allem in den Realisierungsmöglichkeiten der Wohnansprüche bemerkbar. Zwar waren diese selbst nicht über die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, wie Schlafen, Kochen und Essen, Kinderaufziehen usw., hinausgekommen, doch konnten sie immerhin von den größeren Bauern voll erfüllt werden, während die kleinen Bauern und die Landarmut, die aber den größten Bevölkerungsanteil stellten, nur unter größten Schwierigkeiten dazu in der Lage waren. Mit der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft auf preußischem Wege in den Jahren von etwa 1815 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen zunehmenden sozialen Differenzierung begann sich ein Wandel anzubahnen. Insbesondere die großen Bauern, die ihre Feudallasten durch Geldabfindungen ablösen und dadurch ihren Besitzstand erhalten konnten, die nun als kapitalistisch wirtschaftende Großbauern zur ländlichen Bourgeoisie gehörten, sonderten sich immer mehr von allen anderen Klassen und Schichten der werktätigen Dorfbevölkerung ab. Dem Übergangscharakter der Epoche entsprach es jedoch durchaus, daß selbst die Wohnbauten der Großbauern zunächst noch Vertreter der traditionellen Hausformen waren. Das Mitteldeutsche Ernhaus erlebte in der Magdeburger Börde sogar - obwohl als Typ im Feudalismus entstanden - erst jetzt unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen seine letzte und höchste Entwicklungsstufe. Gleichzeitig aber wurde bei den Wohnhäusern der Großbauern neben der im Vergleich zur vorangegangenen Zeit noch zunehmenden Differenzierung in den Gebäudegrößen, den verwendeten Baumaterialien, der Qualität und dem Umfang des Innenausbaus und der Schmuckelemente die Sonderstellung auch schon in den veränderten Raumordnungen sichtbar. Während die Wohnbauten aller anderen werktätigen Klassen und Schichten formal noch übereinstimmend und eindeutig die einheitliche traditionelle Grundrißkonzeption aufwiesen, waren die der Goßbauern durch die Aufgabe der Küchen mit dem „offenen" Schornstein und der damit verbundenen zentralen Lage des Herdraumes gekennzeichnet. Die erhöhte Geldakkumulation und die Tatsache, daß nur sie ausgebildete Meister beim Wohnhausbau beschäftigen konnten, erlaubte lediglich den Großbauern die kostspieligere Anlage von senkrechten weiten Schornsteinrohren und separaten Räucherkammern. D i e Auflösung der traditionellen Raumordnung setzte bei ihnen, da finanzielle und bautechnische Gründe sie nicht mehr zur überlieferten Form zwangen, als erstes ein. Relativ deutlich zeigt sich dieser Prozeß bereits bei einem 1820 entstandenen Wohnhaus aus Welsleben, Kr. Schönebeck, (Abb. 82). Zwar wurden nur das Erdgeschoß und die Giebelwände aus Bruchsteinen, das Obergeschoß und die Innenwände aber noch aus Lehm-Fachwerk errichtet - damit gleichsam eine gewisse traditionelle Gebundenheit demonstrierend - , doch zeigt der Grundriß bereits die konsequente Verlagerung der Küche aus dem Mittel- in einen Seitentrakt. Auf den offenen Schornstein wurde verzichtet, dafür aber ein - inzwischen abgerissener - Rauchfang über dem Herd angelegt und an einen engen Schornstein angeschlossen. Der Mitteltrakt wurde zu einem repräsen-

Bauen und Wohnen im 1 9 . Jahrhundert

J89

-HOF—

STALL

1 g 1

wmrnmt GRUNDRISS Abb. 82

-STRASSE -

Wohnhaus eines Mittelbauern, erbaut 1820, Welsleben, Kr. Schönebeck, Lange Sir. 32.

tativen Hausflur, der lediglich die Treppen (zum Keller bzw. ins Obergeschoß) aufzunehmen hatte. Gekoppelt mit dieser Veränderung in der Grundrißgestaltung war häufig eine stärkere künstlerische Ausgestaltung der straßenseitigen Traufansicht, wie es ein - inzwischen abgerissenes - G e b ä u d e eines Großbauern aus Hohenwarsleben, K r . Wolmirstedt, demonstriert (Abb. 83). D i e K l e i n - und selbst die Mittelbauern dagegen verblieben zunächst noch weitgehend bei den traditionellen Formen. Sie ließen zwar vielfach ein massives Erdgeschoß anlegen, blieben ansonsten aber beim Fachwerk und eben beim alten Grundriß. E i n typisches Beispiel dafür stellt das Wohnhaus eines Großkossaten aus Niederndodeleben, K r . Wolmirstedt, dar (Abb. 8 4 ) . D i e Wohnhäuser des dörflichen Proletariats - unabhängig, ob die G e b ä u d e Eigentum der Arbeiter waren oder als Deputat den kontraktgebundenen Landarbeitern vom Gutsherrn bzw. Großbauern zur Verfügung gestellt wurden - waren stets dem traditionellen Grundriß des Mitteldeutschen Ernhauses verpflichtet. Auffallend ist jedoch, d a ß die

190

Räch

QUERSCHNITT

Abb. 83

Wohnhaus

GIEBELANSICHT

eines Großbauern,

erbaut 1835, Hobenwarsleben,

Kr. Wolmirstedt,

Kirchstr.

6/7.

Eigentumsbauten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig aus Stampflehmwänden errichtet wurden und nur maximal zwei Wohnungen enthielten. Als durchaus charakteristisches Beispiel kann das zwischen 1816 und 1824 errichtete Gebäude eines „Arbeitsmannes" in Bottmersdorf, Kr. Wanzleben, Nr. 35, gelten (Abb. 85). Die Arbeiterhäuser der Güter bzw. Großbauernstellen wurden dagegen fast ausschließlich aus Bruchoder Ziegelstein errichtet. Sie waren zudem durch die Aneinanderreihung mehrerer „traditioneller" Grundrisse gekennzeichnet, so daß die typischen „Zeilen" entstanden. Ein

Bauen und Wohnen im 19. Jahrhundert

191

= L J =

ii

nr

81. M/_ |



STRASSENSEITIGE

an

mm TRAUFANSICHT

1 linWM '



ERP-

Abb. 84

Wohnhaus

eines

Kleinbauern Wolmirstedt,

FLUR

KAMMER

D

STUBE

UND

(Großkossaten),

1 1|

M1

Btema

KAMMER

|

i

KAMMER

H'.'/i-B •

ISI

OBERGESCHOSS-GRUNDRISS

erbaut

Walter-Rathenau-Str.

1836,

Niederndodeleben,

Kr.

22.

um 1835 errichtetes Arbeiterhaus für 6 Familien in Großmühlingen, Kr. Schönebeck, demonstriert diese Tendenz relativ deutlich, wenngleich durch die Versetzung der Eingänge und die Trennung der Küche in zwei Teile bereits eine spätere Entwicklungsstufe vorweggenommen wird (Abb. 86). Eine wesentliche Ursache für die Erscheinung, daß nur in den Wohnhäusern der Großbauern ein Wandel in der Grundrißgestaltung auftrat, stellten zwar letztendlich die finanziellen Verhältnisse dar. Die für diese Schicht relativ leichte Möglichkeit der Geld-

Räch

192

QUERSCHNITT -HOF-

JT

STALL-SCHEUNE GRUNDRISS Abb. 85

-STRASSE-

Wohnhaus eines „freien" Landarbeiters, erbaut 1816/24, Nr. 35.

KAMMER,

KÜCHEj KÜCHE,

KAMMER,

Abb. 86

FWR,

Wohnhaus

KAMMER-

Bottmersdorf, Kr. Wanzleben,

FLUR,

KÜCHE,

KAMMER,

KAMMER,

für 6 Landarbeiterfamilien eines Gutes, erbaut um Kr. Schönebeck, Am Anger 1-3, (Grundriß).

1835,

Großmühlingen,

akkumulation, die durch den Anbau besonders gewinnbringender Kulturen, wie Zichorie, T a b a k , Runkel und ab 1 8 1 5 auch Zuckerrüben, begünstigt wurde, genügt jedoch allein nicht zur Erklärung dieses Prozesses. Von ebenfalls entscheidender Bedeutung sind die W a n d lungen im Baugewerbe. D i e 1810 in Preußen eingeführte Gewerbefreiheit ermöglichte, daß sich in dem seit 1815 wieder zu Preußen gehörenden Territorium der Magdeburgei

Bauen und Wohnen im 19. Jahrhundert

193

Börde auch auf dem Lande das Bauhandwerk weiterentwickeln konnte. Meister, Gesellen, Lehrlinge und sogenannte Flickarbeiter waren in großer Zahl tätig, wobei jedoch das Zahlenverhältnis und die Aufgabenverteilung besondere Beachtung verdienen. Meister gab es sehr wenige; in großer Zahl dagegen traten die Gesellen auf, die häufig durch den Erwerb eines sogenannten Meisterscheins oder Bezahlen des sogenannten Meistergroschens relativ selbständig bauen durften. Flickarbeiter, die meistens ihren Beruf als Nebengewerbe ausübten, waren ebenfalls zahlreich vorhanden. Die Meister, die nun die im vermehrten Umfange auftretenden aufwendigen Bauten, wie Darren, Ziegeleien, Zuckerfabriken u. a., übernahmen, waren zumeist durch Bauschulen und -literatur ausreichend qualifiziert, um diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden. Sie wurden aber - da die Großbauern in der Lage waren, sie zu bezahlen - auch zum ländlichen Wohnungsbau herangezogen. Die Gesellen mit Meisterschein haben in der Mehrzahl alle anderen Bauten, also auch die meisten Wohnhäuser der „kleinen Leute", ausgeführt, während die Flickarbeiter nur bei Stampflehm-Bauten, also vorrangig für das ländliche Proletariat, als Bauausführende bei Wohnhäusern auftraten. Die Tatsache, daß nur die Wohnbauten der Großbauern von zum Teil schulisch oder durch die Literatur ausgebildeten Handwerksmeistern errichtet wurden, erklärt den auffallend geringen Einfluß der zeitgenössischen Bestrebungen auf die Bauten dieser Zeit. Die in den Bauzeitschriften und Vorlege-Blättern propagierten Neuerungen drangen nur in den seltensten Fällen bis zu den Gesellen, so daß insbesondere die technischen und modisch-künstlerischen Vorschläge nicht wirksam werden konnten. Anklänge sind lediglich bei den Wohnbauten der Großbauern zu erkennen. Die Polarisierung auch der Dorfbevölkerung in die beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft, Bourgeoisie und Proletariat, tritt jedoch nicht nur in der steigenden Absonderung der Großbauern von der restlichen Dorfbevölkerung hervor, sie offenbart sich auch im unverhältnismäßig großen Anwachsen der Zahl des ländlichen Proletariats. Im Gegensatz z. B. zu den ostelbischen Provinzen, wo sich dieser Prozeß in der enormen Vergrößerung der junkerlichen Gutswirtschaften und der sprunghaften Zunahme der dort beschäftigten kontraktgebundenen Landarbeiter äußerte, stieg in der Magdeburger Börde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Zahl der „freien" Landarbeiter, die als „Häusler" oder „Einlieger" im Ort wohnten und ihre Arbeitskraft zum Teil auch schon an die frühzeitig vorhandenen ländlichen Industrien und Gewerbe verkaufen mußten. Sie bauten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die meisten neuen Wohnhäuser, die sie unter Heranziehung der Bauhandwerks-Gesellen mit „Meisterschein" gewöhnlich selbständig (unterstützt von Freunden und Bekannten) errichteten. Dies war möglich, da lediglich eine Baugenehmigung des Landrats, nicht aber eine Bauzeichnung vorliegen mußte und als Baumaterial weitgehend Stampflehm verwendet wurde. Die dafür kaum nötige fachliche Qualifikation der Gesellen und die geringen finanziellen Mittel der Arbeiter bewirkten, daß diese Bauten noch besonders stark den traditionellen Hausformen entsprachen. Dennoch gehört die Errichtung dieser Vielzahl von Wohnbauten zu den großartigen Leistungen des Proletariats auf dem Lande unter den Bedingungen des sich herausbildenden Kapitalismus in der Landwirtschaft. Obwohl sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lediglich in den Wohnhäusern der Großbauern eine immer deutlicher werdende Wandlung auch in typologischer Hinsicht abzeichnete, waren die Veränderungen in den Wohnverhältnissen bei den meisten Klassen und Schichten ganz erheblich: So konnten in den Wohnhäusern der Großbauern durch die Verbesserung der Feue13

Bauen und Wohnen

194

Räch

rungsanlagen zum einen die Küche als Aufenthalts- und Essenraum für das Gesinde und zum anderen das Obergeschoß voll als Wohnraum genutzt werden. Durch die seit dieser Zeit fast generell übliche gesonderte Anlage einer Altenteil-Wohnung (am Straßengiebel des Stalles oder als eigenes kleines Gebäiude) wurden die Bauern - bis auf eine kleine Kammer für die Mägde - Alleinbenutzer des Hauses. Es war möglich, die verschiedenen häuslichen Tätigkeiten, wie Kochen, Essen, Schlafen, Wohnen usw., auf verschiedene Räume zu verteilen. Die Mittel- und Kleinbauern bewohnten zwar im wesentlichen Häuser gleichen Typs wie früher, doch drängten sie die ehemals häufig bei ihnen untergebrachten „Einlieger" aus dem Haus und konnten daduich eine ausreichende Altenteil-Wohnung schaffen. Das Gesinde hielt sich weiterhin zum großen Teil mit in der Stube des Wohnhauses (z. B. bei den Mahlzeiten) auf. Die landarmen und landlosen Hausbesitzer, deren Zahl sich vor allem durch die Zunahme der proletarischen Schichten erheblich vergrößerte, nutzten in ihren kleinen, oft in mangelhafter Qualität errichteten Gebäuden nur einen Teil der Räume (Stube, Kammer, Küche) selbst, um durch Vermieten der restlichen Räume (2. Stube, 2. Kammer) einen finanziellen Zuschuß zum eigenen Etat zu gewinnen. Allerdings waren sie nicht wie die kontraktgebundenen Landarbeiter auch noch durch die Wohnung außerökonomisch an den Gutsbesitzer oder Großbauern gebunden, sondern konnten, wenn auch nur unter großen Entbehrungen und bei eigener Mithilfe, allmählich die Wohnbedingungen verbessern. Den schwersten Stand hatten die kontraktgebundenen Landarbeiter, die mit den zur Verfügung gestellten Unterkünften, die oft noch schlechter und kleiner als die früheren der Deputatarbeiter waren, in den Katen auskommen mußten. Sie waren auf die „Gnade" der „Herrschaft" angewiesen und mußten - sich erst allmählich ihrer Kraft bewußt werdend - jede Verbesserung in den Wohnverhältnissen mühsam erkämpfen. Seit dem vollentfalteten Kapitalismus in der Landwirtschaft der Magdeburger Börde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schritt die Polarisierung der Dorfbevölkerung in die beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft in außergewöhnlichem Tempo voran. Während die zum festen Bestandteil der Ausbeuterklasse gehörende Schicht der Großbauern im Bunde mit den Gutsbesitzern immer mehr ökonomische und regionalpolitische Macht in ihren Händen konzentrierte, wurde die Klasse der werktätigen Bauern (der Klein- und Mittelbauern) zunehmend ruiniert und näherte sich dem zahlenmäßig gewaltig anwachsenden Landproletariat an. Lediglich unter aufopferungsvollem Einsatz und durch „Mehrarbeit" konnten zunächst noch beachtliche Teile der werktätigen Bauern ihre Existenz bewahren. Die industrielle Revolution und der Stand der Produktivkräfte im Baugewerbe ermöglichten es weit mehr als früher, daß der soziale Status nun auch bautechnisch noch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden konnte, so daß den Wohnbauten als Widerspiegelung der Klassenunterschiede geradezu Symbolbedeutung zukam. Die kennzeichnenden Wohnhaus-Neubauten der Zeit nach 1848 waren die Paläste der Großbauern, die bescheidenen Wohnhäuser der Klein- und Mittelbauern und die elenden Kasernen der Landarbeiter (der einheimischen und der Saisonarbeiter), wobei die Häufigkeit des Bauens bei den verschiedenen sozialen Klassen und Schichten zu einem charakteristischen Merkmal für die Klassensituation auf dem Lande wurde. Die Großbauern, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig und durchaus ausreichende, gediegene Wohnbauten hatten errichten lassen, ließen sich nun noch größere, überwiegend der Repräsentation dienende Wohnbauten, die sogenannten „Zuk-

Bauen und Wohnen im 1 9 Jahrhundert

195

kerrübenpaläste", erbauen. Diese wurden - dem Vorbild der Bauten der bürgerlichen Gutsbesitzer folgend - in Ausmaß, Raumordnung und Schmuckgestaltung vorrangig auf diesen Zweck orientiert. Durch das inzwischen erheblich gestiegene Bildungsniveau der zumeist schulisch ausgebildeten Werkmeister und die Verwendung neuer, nicht mehr ortsgebundener Baumaterialien waren diese Bemühungen auch bautechnisch realisierbar. In der Gestaltung der Fassaden und zum Teil auch der Innenräume mit „städtischem", eklektizistischem Zierat konnte der Repräsentationswille ebenso zum Ausdruck gebracht werden wie in den neuartigen Grundrißformen, bei denen ein „Festsaal" und mehrere Salons in den Mittelpunkt der Anlage gestellt wurden. Die Küche und andere Wirtschaftsräume - aber auch die Aufenthaltsräume des an die Stelle des Gesindes getretenen „Personals" - wurden in das seit dieser Zeit generell übliche Kellergeschoß verbannt, das durch einen separaten Eingang betreten werden konnte bzw. mußte (Abb. 87). Das Gebäude, das häufig nicht mehr direkt im Hofverband, sondern etwas abseits davon angelegt wurde, war vielfach von Vorgärten und einem kleinen Park umgeben. Alle diese Elemente kennzeichnen den eindeutigen Bruch mit der Tradition, die Aufgabe der überlieferten bäuerlichen Hausform, der man sogar bewußt entgegentrat (nannte man sich doch Gutsbesitzer oder mindestens „Oeconom", nicht aber mehr Bauer oder Ackermann). Die Klein- und Mittelbauern bauten wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts selten neue Wohnhäuser. Sie hatten unter dem Druck des Konkurrenzkampfes Mühe, überhaupt ihre bäuerliche Existenz zu sichern, und waren höchstens bereit, unbedingt erforderliche Wirtschaftsgebäude zu errichten. Ihre fast immer noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden Bauten wurden jedoch vielfach umgebaut, allerdings nur durch „Unterfangen" des Erdgeschosses (Ersetzen der Lehm-Fachwerkwände durch Ziegelsteinwände) und Herausnahme des „offenen" Schornsteins. Zwar versuchten auch sie wie die Handwerker, Gewerbetreibenden und einige Halbproletarier - sich mit entsprechenden „Repräsentationsmitteln" auszuweisen, doch war dies bei den zumeist geringen finanziellen Möglichkeiten nur selten mit den verwendeten Baumaterialien, der Gebäudegröße, dem Aufwand für die Fassadengestaltung u. a. möglich. Charakteristisch für diese sozialen Gruppen wurde vielmehr die Anlage einer „guten Stube", die in Nachahmung großbürgerlicher und großbäuerlicher Festsäle und Salons ein allgemein übliches kleinbürgerliches Ideal darstellte. Realisierbar wurde diese vor allem dadurch, daß die Feuerungsanlagen nun auch in den Häusern dieser sozialen Gruppen derart verbessert wurden, daß die Küchen zu „Wohnküchen" und damit etwa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Hauptaufenthaltsraum der Familie werden konnten. Die Zahl der landarmen und landlosen Hausbesitzer, die anfangs vorwiegend in der Landwirtschaft, zunehmend aber in den aufblühenden ländlichen und städtischen Industrien arbeiteten, zum Teil aber auch Handwerker und Gewerbetreibende waren, vergrößerte sich in diesem Zeitraum weiterhin stark, was sich auch in dem vermehrten Bau von Wohnhäusern dieser Bevölkerungsgruppe äußerte. Die bereits vor 1848 errichteten Gebäude wurden jedoch nie durch neue ersetzt, bestenfalls hier und da umgebaut oder verändert. Da aber die Besitzer dieser Häuser ganz unterschiedlichen Klassen und Schichten (Proletariat, Kleinbürgertum, Intelligenz u. a.) angehörten, trat eine entsprechende Vielfalt auf, die sich sowohl auf die Form als auch vor allem auf die Qualität der Ausführung bezog. Mit der zunehmenden Intensivierung der Landwirtschaft und der durch die kapitalistische Wirtschaftsweise verursachten Auflösung der Gesindeverhältnisse, bei gleichzeitiger Abwanderung der freien Lohnarbeiter in die Industrie, stieg der Bedarf an kon13»

196

Räch

-PARK-

DAMEN ZIMMER

SPEISEZIMMER

ZIMMER DER TOCHTER

CHLAFIM.D. XHTER

LEUTESTUBE

KORRIDOR

HERRENZIMMER

WOHNZIMMERViSCHLAFZIMER

ZIMMER DER [1 GESELLSCh

ERDGESCH0SS-GRUNDRIS5 -HOF-

I i

Str.

traktgebundenen Landarbeitern, die bald ausschließlich in Mietwohnungen der Großbauern und Gutsbesitzer untergebracht wurden. Diese Unterkünfte konnten in den ehemaligen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden „gelegter" Bauern und anderer Kleinbesitzer liegen, befanden sich jedoch überwiegend in eigens für diesen Zweck errichteten Wohn-

Bauen und Wohnen im 19. Jahrhundert

ERDGESCHOSS-GRUNDRISS Abb. 88

Wohnhaus

für

- STRASSE —

6 Landarbeiterfamilien warsieben,

197

Kr. Wolmirsledt,

eines

Großbauern,

Karl-Marx-Slr.

erbaut

um

1850,

Hohena

7 a.

häusern, die bis etwa 1900 als sogenannte ..Kasernen" angelegt wurden. D a b e i blieben als Wohnungsstandard je Familie eine Stube und eine K a m m e r sowie Flur und Küche (teilweise von mehreren Familien gemeinsam zu nutzen) erhalten, so daß die bisherigen aus dem Mitteldeutschen Ernhaus entwickelten Grundrißformen von den Großbauern und Gutsbesitzern weiterhin als ausreichend angesehen wurden. Zwar ließen sie nun nicht mehr viele kleine einzelne Häuser anlegen, sondern zahlreiche dieser Einzelformen neben- und zum T e i l übereinandersetzen, wodurch lange Gebäudezeilen entstanden, die

Räch

198

auf G r u n d der G l e i c h f ö r m i g k e i t der G e s t a l t und d e r U n t e r b r i n g u n g so zahlreicher F a m i lien (mindestens 4 , meistens a b e r 8 , 1 0 , 16 und mehr) „ K a s e r n e n " genannt w u r d e n , doch ist der nur geringfügig v e r ä n d e r t e G r u n d t y p u s der R a u m o r d n u n g , der noch bis zum E n d e der 19. J a h r h u n d e r t s a n g e w a n d t w u r d e , stets e r h a l t e n g e b l i e b e n ( A b b 8 8 ) . E r s t als unter dem z u n e h m e n d e n D r u c k der A r b e i t e r b e w e g u n g und des i m m e r deutlicheren Protestes der L a n d a r b e i t e r gegen d i e schlechten W o h n v e r h ä l t n i s s e

(u. a. durch A b w a n d e r u n g in

die städtische und ländliche

und G r o ß b a u e r n

Industrie)

die G u t s b e s i t z e r

gezwungen

waren, wenigstens einem T e i l der einheimischen L a n d a r b e i t e r bessere W o h n u n g e n (mindestens zwei W o h n r ä u m e und eine g e r ä u m i g e K ü c h e ) zu g e b e n , b e g a n n d i e Suche nach anderen G r u n d r i ß f o r m e n , die dann nach 1 9 0 0 auch z u n e h m e n d anzutreffen sind und von Architekten entwickelt wurden ( A b b . 8 9 ) . E r s t zu diesem Z e i t p u n k t setzte der U m b a u der zahlreichen älteren A r b e i t e r h ä u s e r ein, wenngleich auch zögernd und oft erst durch den Protest d e r L a n d a r b e i t e r v e r a n l a ß t . B e t r a c h t e t m a n z u s a m m e n f a s s e n d d i e E n t w i c k l u n g der G r u n d r i ß f o r m e n aller

Wohn-

bauten - m i t A u s n a h m e der K a s e r n e n für die S a i s o n a r b e i t e r -, ( > so f ä l l t der unterschiedliche Z e i t p u n k t des Abbruchs der T r a d i t i o n bei d e n verschiedenen sozialen K l a s s e n und Schichten auf. W ä h r e n d bei den G r o ß b a u e r n - W o h n h ä u s e r n d i e A u f l ö s u n g der t r a d i t i o nellen R a u m o r d n u n g schon im ersten D r i t t e l des 19. J a h r h u n d e r t s sichtbar w i r d , seit der

GIEBELANSICHT

GRUNDRISS

1 GR STUBE1

STUBE) GR.STUBE2 1

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L



1WOHNKÜCHE s 7 - c / e £

WOHNKÜCHE ' GIEBELANSICHT

GRUNDRISS Abb

89

Arbeiterwohnhäuser

eines Gutes für ]e zwei Familien, ieben, Kr.

" Vgl

dazu HANS-JÜRGEN

erbaut 1908 bis 1911, Groß

Ammens-

Wolmirstedt

RÄCH, Schnitterkasernen in der Magdeburger Börde. Die Unter-

künfte der landwirtschaftlichen Saisonarbeiter in der zweiten Hälfte des 19 und zu Beginn des 20 Jahrhunderts. In Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, N. F. Bd. 2, Berlin 1975, S 171-192.

Bauen unci Wohnen im 19. Jahrhundert

199

Mitte des 19. Jahrhunderts dann ganz deutlich zutage tritt und um 1870 gänzlich vollzogen ist, bleiben die kleinen Bauern und landlosen oder landarmen Dorfbewohner mit Hausbesitz bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch ganz und bis Ende des 19. Jahrhunderts noch erstaunlich stark dem traditionellen Grundriß verbunden. Am stärksten und längsten allerdings entspricht die Raumordnung in dem Gebäude mit den Unterkünften der kontraktgebundenen Landarbeiter der des ursprünglich generell dominierenden Mitteldeutschen Ernhauses. Nicht aber unterschiedliche Traditionsgläubigkeit oder gar Konservativismus der Bauherren bzw. Bewohner bestimmten diese Entwicklung, sondern die sozialökonomischen Verhältnisse, die finanziellen und materiellen Voraussetzungen waren ausschlaggebend. Nur solange die Situation im Baugewerbe bzw. in der Baupraxis die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der einzelnen sozialen Gruppen noch nicht voll - also auch in der Raumordnung - wirksam werden ließ, nur so lange entstanden formal gleiche Grundrißlösungen. Dies ändert sich eindeutig seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die zunehmende wissenschaftliche Durchdringung des Bauens und die damit einhergehende notwendige Qualifizierung der Bauhandwerksmeister (Ausbildung auf Fachschulen), die Entwicklung und Bereitstellung neuartiger Baumaterialien und Konstruktionselemente (Eisenträger, Zinkbleche, Beton, Kunststein, Teerprodukte sowie Aufzüge, transportable Herde und Öfen u. a.), die wesentlich verbesserten Bedingungen für den Antransport dieser Baumaterialien und auch die Zunahme der städtischen Spezialhandwerker (z. B. Stukkateure, Terrazzo- und Fliesenleger) und die damit verbundene Herausbildung neuer Bautechniken (z. B. im Schornsteinbau und bei der Anlage von Decken mit Hilfe der „preußischen Kappen") boten für die Realisierung der Bauvorhaben, sowohl hinsichtlich der Konstruktion als auch der Raumordnung, ganz neuartige Möglichkeiten. Diese konnten zunächst nur von den Großbauern genutzt werden. Erst später folgten im Rahmen ihrer Möglichkeiten die kleineren Bauern, die Handwerker und Gewerbetreibenden und schließlich in bescheidenem Maße, d. h. vor allem dann, wenn dadurch Geld gespart werden konnte, auch das Land- und Industrieproletariat. Sie mußten aus finanziellen Gründen größtenteils auf viele Neuerungen verzichten. So verwendeten sie weit länger als die Großbauern die alten, traditionellen Baumaterialien, ließen ihre Bauten von wenig qualifizierten Handwerkern ausführen oder errichteten ihre Häuser selbst. Notgedrungen mußte man deshalb auf die primitiveren traditionellen Formen zurückgreifen bzw. sie weiterhin anwenden. Den kontraktgebundenen Landarbeitern, denen eine Wohnung als Bestandteil des Lohnes zur Verfügung gestellt wurde, billigte man sogar bis etwa 1900 nur diese traditionelle Wohnungsform zu. Sie mußten einen Wandel erst durch Protest und Widerstand mühsam erkämpfen. 12. Jahrestagung des AHS, 1971

A L F R E D FIEDLER Vom Entwicklungsprozeß des dörflichen Bauens und Wohnens in Sachsen vom E n d e des 18. Jahrhunderts bis 1918

Der seit dem 16. Jahrhundert in Sachsen stark in Erscheinung tretende Waldschwund, den besonders die frühkapitalistische Entwicklung des sächsischen Montanwesens, aber auch die zahlreichen Feuersbrünste im Lande verursachten, drängte mit Notwendigkeit auf eine Reglementierung des ländlichen Bauens. In der Phase der bürgerlichen Umgestaltung der Landwirtschaft vom Ende des Siebenjährigen Krieges bis 1815 gipfelten die zahlreichen Verordnungen über Holzsparmaßnahmen in dem 1775 erlassenen Mandat, das kurz Dorffeuerordnung genannt wurde. 1 In ihrer beachtlichen Ausführlichkeit spiegelt diese mannigfaltige, im dörflichen Leben bestehende Möglichkeiten wider, die Feuersgefahren miteinbegriffen. Sie vermochte zumindest nur bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Gültigkeit zu behaupten, und zwar aus dem bemerkenswerten Umstände, daß viele ihrer Anordnungen - so die Abschaffung der mit Stroh und Schindeln gedeckten Dächer, der sogenannten Klöppelessen (d. h. der mit Holz, Stroh und Lehm gefertigten Schornsteine), der individuellen Backöfen, die aus Gründen der Ersparung von Heizmaterial in kommunale umgewandelt werden sollten, ferner die Aufgabe der Block- und Umgebindebauweise und ihr Ersatz durch Fachwerkoder Massivbau usw. - wenig Beachtung gefunden hatten. 2 Gründe dafür waren die fortbestehende Verarmung der unteren dörflichen Klassen und Schichten, ihre Erschöpfung durch Lasten und Dienste im bestehenden feudalabsolutistischen Herrschaftssystem, die weiteren Kriege, die Seuchen und Mißernten, schließlich eine klassenkämpferische Renitenz der Bauern wie Häusler in Fragen der Abschaffung der Strohdächer und der individuellen Backöfen. 3 Hinzu kam, daß die industrielle Produktion auf dem Gebiete der Dachziegelherstellung noch nicht ausreichend entwickelt war. So waren zahlreiche Ausnahmebestimmungen hinsichtlich der Bedachungsfrage auf Grund sozialer wie auch geographisch-klimatischer Verhältnisse schließlich nicht vermeidbar. Nicht übersehen werden konnte, daß auf Grund einer agrarischen Produktionssteigerung (Abschaffung der Dreifelderwirtschaft, Einführung der Stallfütterung bei Anbau neuer Futtermittel sowie der Kartoffel, Übergang zur künstlichen Düngung) ein weiterer Wirtschaftsraumbedarf, vor allem an Kellern und Ställen, erwuchs. 1

Codex

Augusteus,

2. Fortsetzung Abt. 1, Sp. 7 1 1 ff.;

Kursachsen 1 7 6 2 - 1 7 6 3 ; A L F R E D

FIEDLER,

H. SCHLECHTE,

Kursächsische

Die Staatsreform in

Landesverordnungen

des

16. bis

18. Jahrhunderts und ihre Einwirkung auf die ländliche Bauweise. In: Deutsches Jahrbuch

für

Volkskunde, Bd. 1 1 , Berlin 1 9 6 5 , S. 4 6 - 5 8 . 2

A L F R E D F I E D L E R , Von Dach und Fach. Beiträge zur sächsischen Bauernhausforschung. In: Sächsische Heimatblätter, 6, 1 9 6 0 , S. 5 5 4 - 5 6 4 , (Teil 1, V o m Stroh- und Schindeldach zum harten Dach); ebenda, 7, 1 9 6 1 , S. 5 3 9 - 5 4 5 , (Teil 2, Vom Blockbau zum steinernen Ganzmassivbau, insbesondere vom Fachwerkbau in Sachsen).

A L F R E D FIEDLER Vom Entwicklungsprozeß des dörflichen Bauens und Wohnens in Sachsen vom E n d e des 18. Jahrhunderts bis 1918

Der seit dem 16. Jahrhundert in Sachsen stark in Erscheinung tretende Waldschwund, den besonders die frühkapitalistische Entwicklung des sächsischen Montanwesens, aber auch die zahlreichen Feuersbrünste im Lande verursachten, drängte mit Notwendigkeit auf eine Reglementierung des ländlichen Bauens. In der Phase der bürgerlichen Umgestaltung der Landwirtschaft vom Ende des Siebenjährigen Krieges bis 1815 gipfelten die zahlreichen Verordnungen über Holzsparmaßnahmen in dem 1775 erlassenen Mandat, das kurz Dorffeuerordnung genannt wurde. 1 In ihrer beachtlichen Ausführlichkeit spiegelt diese mannigfaltige, im dörflichen Leben bestehende Möglichkeiten wider, die Feuersgefahren miteinbegriffen. Sie vermochte zumindest nur bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Gültigkeit zu behaupten, und zwar aus dem bemerkenswerten Umstände, daß viele ihrer Anordnungen - so die Abschaffung der mit Stroh und Schindeln gedeckten Dächer, der sogenannten Klöppelessen (d. h. der mit Holz, Stroh und Lehm gefertigten Schornsteine), der individuellen Backöfen, die aus Gründen der Ersparung von Heizmaterial in kommunale umgewandelt werden sollten, ferner die Aufgabe der Block- und Umgebindebauweise und ihr Ersatz durch Fachwerkoder Massivbau usw. - wenig Beachtung gefunden hatten. 2 Gründe dafür waren die fortbestehende Verarmung der unteren dörflichen Klassen und Schichten, ihre Erschöpfung durch Lasten und Dienste im bestehenden feudalabsolutistischen Herrschaftssystem, die weiteren Kriege, die Seuchen und Mißernten, schließlich eine klassenkämpferische Renitenz der Bauern wie Häusler in Fragen der Abschaffung der Strohdächer und der individuellen Backöfen. 3 Hinzu kam, daß die industrielle Produktion auf dem Gebiete der Dachziegelherstellung noch nicht ausreichend entwickelt war. So waren zahlreiche Ausnahmebestimmungen hinsichtlich der Bedachungsfrage auf Grund sozialer wie auch geographisch-klimatischer Verhältnisse schließlich nicht vermeidbar. Nicht übersehen werden konnte, daß auf Grund einer agrarischen Produktionssteigerung (Abschaffung der Dreifelderwirtschaft, Einführung der Stallfütterung bei Anbau neuer Futtermittel sowie der Kartoffel, Übergang zur künstlichen Düngung) ein weiterer Wirtschaftsraumbedarf, vor allem an Kellern und Ställen, erwuchs. 1

Codex

Augusteus,

2. Fortsetzung Abt. 1, Sp. 7 1 1 ff.;

Kursachsen 1 7 6 2 - 1 7 6 3 ; A L F R E D

FIEDLER,

H. SCHLECHTE,

Kursächsische

Die Staatsreform in

Landesverordnungen

des

16. bis

18. Jahrhunderts und ihre Einwirkung auf die ländliche Bauweise. In: Deutsches Jahrbuch

für

Volkskunde, Bd. 1 1 , Berlin 1 9 6 5 , S. 4 6 - 5 8 . 2

A L F R E D F I E D L E R , Von Dach und Fach. Beiträge zur sächsischen Bauernhausforschung. In: Sächsische Heimatblätter, 6, 1 9 6 0 , S. 5 5 4 - 5 6 4 , (Teil 1, V o m Stroh- und Schindeldach zum harten Dach); ebenda, 7, 1 9 6 1 , S. 5 3 9 - 5 4 5 , (Teil 2, Vom Blockbau zum steinernen Ganzmassivbau, insbesondere vom Fachwerkbau in Sachsen).

Bauen und Wohnen in Sachsen

201

Dem in der Dorffeuerordnung geforderten Massivbau war man in den Dörfern dadurch nachgekommen, daß hier bislang Bruch- und Ziegelsteine Verwendung fanden, während der Sandstein als fürstliches Regal bislang nur dem Feudal- und Klerikalbau vorbehalten gewesen war. Jetzt konnte es auch geschehen, daß Großbauern sich sandsteinerne Tore mit Torbögen und mit ihrem bäuerlichen Wappen erbauen, ebenso ihre Rinderställe entsprechend in Gewölbebau auf sandsteinernen Säulen errichten ließen. Das ländliche Bauwesen lag nach alter Tradition in den Händen der sogenannten Baugewerke, der Zimmer- und Maurermeister. Das Decken des Strohdaches oder die Ausfüllung der Gefache vermochte meist der Bauer mit seinem Gesinde selbst zu besorgen. Auch gingen nichtzünftige Handwerker, sogenannte Pfuscher, zur Hand. Der Fachwerkbau, der im Zusammenhang mit den Holzsparverordnungen gegenüber kompletten Holzbauten allenthalben angeordnet wurde, konnte weitestgehend als bekannt vorausgesetzt werden. Er war in den Städten verbreitet, vornehmlich aber auch in den Dörfern des Niederlandes, so in der Leipziger Tieflandsbucht, üblich. Hier traf man auch Wandbauten in Lehmstampfwerk und Mauern aus luftgetrockneten Ziegeln an. Im Spreewald fehlten allerdings auf Grund der Bodenverhältnisse die Voraussetzungen für eine dauerhafte Fachwerkkonstruktion, 4 bei der es im übrigen Land im Laufe der Zeit zu zwei verschiedenen Formen gekommen war. Bei der einen verwandte man ganze Baumlängen als senkrechte Pfosten. Es handelte sich hierbei um den sogenannten Geschoßbau. Die andere, zweifellos jüngere war der sogenannte Stockwerksbau. Bei ihm zimmerte man die Stockwerke als selbständige Baukörper jeweils für sich und setzte sie aufeinander, oder man hängte die Gefache des Obergeschosses von oben her ein. Im allgemeinen war die Fachwerkbauweise in der Verwendung der konstruktiven Hölzer, in welcher Weise man diese auch untereinander v e r b a n d - b i s ins 17. Jahrhundert geschah dies durch Verblattung, danach durch Verzapfung - , bemerkenswert holzsparend. Doch beließ man es vielfach nicht bei der bloßen Zweckform, sondern schuf, so z. B. im Vogtland, im Westerzgebirge und auch in der Lausitz, allerlei Schmuckformen. So waren die Fachwerkgiebel und -wände von Häusern vermögender Bauern mit Andreaskreuzen, durchkreuzten Rauten und anderen Elementen verziert. Weitverbreitet begegnet uns das Fachwerk größtenteils nur in den Obergeschossen. Die Untergeschosse sind meist massiv errichtet (Taf. 10 a) oder bestehen auch heute noch in Blockumgebinde- oder Schrotholzbau. Nicht zu übersehen ist es, daß die Gewerke auch imstande waren, die regional unterschiedliche Grund- und Aufrißgestaltung von Haus und Hof zu bewältigen. Vorherrschend hatte sich der Typus des Mitteldeutschen Wohnstallhauses mit seiner Untergliederung in Wohn-, Flur- und Stallteil durchgesetzt, als es galt, den Haufen- bzw. Vielhof, der die Feuerbekämpfung erschwerte, aufzugeben. Doch war es in der Niederlausitz auch zur Ausbildung des Wohnspeicherhauses, im Spreewald zu der des Mitteltennbaues gekommen. Die Hofformen betreffend, konnte man um 1800 auf einer Reise von Dresden nach

Derselbe, Zur Frage des privaten und kommunalen Backens in den Dörfern Sachsens während des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden, Bd. 22, Berlin 1 9 6 3 , S. 1 8 1 - 1 9 6 . 4

E B E R H A R D D E U T S C H M A N N , Lausitzer Holzbaukunst unter besonderer Würdigung des sorbischen Anteils, Bautzen 1 9 5 9 (•= Schriftenreihe des Instituts für sorbische Volksforschung, Bd. 1 1 ) .

202

Fiedler

Altenberg eine höhenmäßig gegliederte Folge von Dreiseit- und Zweiseithöfen antreffen, die das Einhaus der Kammhöhe abschloß. 5 i Was die Wirtschaftsräume, die Ställe, Scheunen und Speicher betraf, so entsprach ihre Gestaltung zu gleicher Zeit dem Status einer noch weitgehend extensiven Agrarwirtschaft mit regional freilich schon gekennzeichneter Fortschrittlichkeit. Doch im Spreewald kannte man damals noch keine Scheunen. Erst als sich auch hier der Ackerbau weiter entwickelte, kam es zu ihrer Errichtung. Von besonderer Bedeutung war es, daß ausgangs des 18. Jahrhunderts infolge eines voranschreitenden Bevölkerungswachstums regional besondere Wohnraumfragen aktuell wurden. Da die Ortslagenbebauung nicht erweitert werden durfte, sah man sich vielfach genötigt, die Wohnhäuser aufzustocken. Auch die Häusler machten davon Gebrauch. Um ihre Einkünfte zu erhöhen, nahmen sie meist noch Tagelöhner als Mieter auf. Im bäuerlichen Bereich kam es zu einer Verbesserung des sogenannten Ausgedinges, in welchem die Altbauern außer einer freien Verpflegung auch eine freie Herberge mit den Nachbesitzern vereinbart hatten. Es gab darum viele Mißhelhgkeiten, besonders wegen der Ofenfrage, da man zunächst nur eine Feuerstätte im Hause hatte. J e nach der Betriebsgröße der bäuerlichen Wirtschaften kam es zu unterschiedlichen Lösungen bei der Unterbringung der Altbauern. Das geschah in ausgebauten Kammern des Obergeschosses, in selbständigen Wohnungen im Seitengebäude oder gar in eigens errichteten Ausgedingehäuschen.0 Im Nahbereich der größeren Städte vollzog sich um 1800 in der dörflichen Bevölkerung ein Strukturwandel. Er bestand in der Zunahme der proletarischen und plebejischen Schichten. Das geschah vornehmlich dort, wo die Grundherren an der gewerblichen und industriellen Produktion teilzuhaben gedachten und etwa Landparzellen für Häusleransiedlungen ausgaben. Dadurch kam es zur Entstehung von Industriedörfern, besonders in der Oberlausitz und im Westerzgebirge. Einen anderen Charakter besaßen die Dörfer, in denen die Junker eine eigene Gutswirtschaft betrieben. Sie brauchten für ihre landwirtschaftliche Marktproduktion Land und Arbeitskräfte. Für letztere errichteten sie einfachste Tagelöhnerkaten, meist im Stil der Doppelstubenbauweise, was besonders in der Lausitz der Fall war. Entscheidende Bedeutung für den weiteren vielschichtigen dörflichen Umformungsprozeß hatte 1835 die Staatsreform mit ihren spezifischen Gesetzen, einschließlich der Dekrete über die Ablösung und Gemeinheitsteilungen (1832), über die Zusammenlegung der Grundstücke (1834) und zur Begründung einer Landesrentenbank (1834). Auf Grund dieser Gesetze blieben im Gegensatz zu den Vorgängen in Preußen die bäuerlichen Grundstücke wirtschaftsfähig. Wichtig waren ferner die Landgemeindeordnung von 1838 und die allgemeine Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit auf Grund der Justizreform von 1855. 7 Damit wurde eine liberale, aber immer stärker sich entfaltende kapitalistische * C. F

M O S C H , Sachsen, historisch-topographisch-statistisch und mit naturhistorischen

Bemerkungen,

Bd. 1, D r e s d e n - L e i p z i g 1 8 1 6 , S 6 5 " A L F R E D FIEDLER, Vom

dörflichen A u s g e d i n g e in den K r e i s e n Bautzen und K a m e n z

und beginnenden 1 9 . J a h r h u n d e r t ' R

GROSS,

Letopis, R e i h e C, 1 1 / 1 2 , 1 9 6 8 / 6 9 , S

D i e bürgerliche A g r a r r e f o r m

Untersuchungen wirtschaft,

In

zum P r o b l e m

Weimar

1968,

Sachsen, Remagen 1 9 5 3

in Sachsen

des Übergangs

RUDOLF

in der ersten

v o m Feudalismus

KÖTZSCHKE,

H ä l f t e des

19

18

Jahrhunderts.

zum Kapitalismus in d e r

Ländliche

im

72-79

Siedlung

und

Land-

Agrarwesen

in

Bauen und Wohnen in Sachsen

203

Wirtschaftsentwicklung auf dem Lande verwirklicht, bei der mit einem Dreiklassenwahltecht der dörflichen Klassenlage entsprochen werden sollte. Die Zunahme der Gesamtbevölkerung, besonders in den Städten und den entstehenden Industriedörfern, nötigte die Landwirtschaft zu stärkerer Intensivierung ihrer Produktion und weiterem Wirtschaftsraumbedarf. Die um 1850 auf Zweidrittel des Fleischverbrauchs der Bevölkerung angewachsene Fleischeinfuhr 8 zwang dazu, die Bauern besonders zur Veränderung der bisherigen Schweinezucht anzuhalten und anstelle der üblichen Landschweine englische Schweinerassen einzuführen und deren Aufzucht in neu zu errichtenden Schweineställen statt in niedrigen Koben, Hütten oder Verschlägen zu betreiben. Diese und andere Anliegen des dörflichen Baugeschehens veranlassen wiederum, die bäuerlichen Bereiche zu verfolgen. Hier hatte die Intensivierung der Landwirtschaft durch die neue Verfassung nunmehr die Möglichkeit erhalten, landwirtschaftliche Vereine zu begründen, in denen - mit ähnlichen Institutionen bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus vergleichbar - es nicht mehr an nötiger Bewegungsfreiheit fehlte, um der landwirtschaftlichen Theorie und Praxis zu „dienen".' J Die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise versetzte die Landwirtschaft in den Stand, größere finanzielle Gewinne zu erzielen. Diese verleiteten aber namentlich die Mittel- und Großbauern zu ausgedehnter und teilweise uneffektiver Bautätigkeit. Während die Kleinbauern im allgemeinen in herkömmlicher Weise sparsam bauten, übernahmen sich vielfach vermögendere Bauern in Erweiterungsbauten, in der Aufstockung ihrer neu errichteten Wohnstallgebäude, in der Schaffung vielfach ganz nutzloser Räume und übermäßiger Fensterfluchten. Konkret wies um 1850 der Generalsekretär der landwirtschaftlichen Vereine, THEODOR REUNING, seit 1843 ihnen vorstehend, auf bedenkliche Unzweckmäßigkeiten dieses Bauens und auf die daraus folgende Verschuldung hin. 10 Angesichts der steigenden landwirtschaftlichen Produktion und des damit verbundenen wachsenden Baubedarfs sowie dessen Raum- und Kostenberechnung bei dem zugleich geforderten Massivbau hatte er zu bemerken, daß die Baugewerke nicht mehr ausreichend imstande seien, dem Landwirt entsprechend zu „dienen". Die Bauschulen müßten sich des neuen landwirtschaftlichen Baubedürfnisses annehmen. Dies war indes leichter gesagt als getan. In der Ermittlung geeigneter Fachkräfte gab es unerfreuliche Zwischenfälle, und über geraume Zeit verblieb nach Lage der Dinge das ländliche Bauwesen weiterhin in den Händen der Baugewerke. Diese versuchten, gewiß unter den kritischen Augen der landwirtschaftlichen Vereine und unter Beachtung der neuen Baugesetze, das Ihrige zu tun, was vornehmlich in der Abwendung von Feuersgefahren, wie bereits die Dorffeuerordnung von 1775 zum Ziele hatte, bestand. Es kam zur weiteren Abschaffung der Stroh- und Schindelbedachung sowie der Klöppelessen.' 1 Auch schritt der Massivbau voran. Gemäß der Verordnungen vom 14. Mai 1824, vom 18. Mai 1832 und vom 27. Juli 1833 waren bei Bauanträgen Handzeichnungen oder Risse vorzulegen, aus denen die Bauausführung eindeutig erkennbar sein mußte. Um 1840 wurde der Katalog der dörflichen Bauten um einige neue Typen erweitert, derfen Errichtung auch noch weitestgehend von den Gewerken verwirklicht wurde. Ein 8 4 1(1

H. G E B A U E R , Die Volkswirtschaft im Königreich Sachsen, Bd. 1, Leipzig 1 8 9 3 , S. 61 und 1 2 2 . G R O S S , a. a. O., S. 1 5 1 . Staatsarchiv Dresden, Ministerium des Innern, Nr. 1 6 3 3 4 , Landwirtschaftliches Bauwesen, Bd. 1, Bl. 1 ff.

11

ALFRED

FIEDLER, Die Abschaffung der mit Holz gefertigten Schornsteine in Sachsen.

Letopis, Reihe C, 8, Bautzen 1 9 6 5 , S. 7 3 - 9 7 .

In:

204

Fiedler

Beispiel war das dörfliche Schulhaus, das zugleich eine Lehrerwohnung besitzen sollte. Mit der Verwirklichung dieses Baues wurde der Reihumschulung in bäuerlichen Wohnstuben, wie sie vielfach seit Anfang des 18. Jahrhunderts üblich war, ein Ende gesetzt. Ein anderer Typus war das seit 1840 vielfach errichtete Armenhaus für verschuldete und verarmte dörfliche Plebejer. Man vermag es vielerorts am Ortsausgang anzutreffen. Es spiegelt die im 19. Jahrhundert voranschreitende weitere soziale Differenzierung in den Dörfern wider. 12 Sie erfolgte auch auf andere Weise. So wurde u. a. bis ins Mittelbauertum herab das ländliche Gesinde zu Mahlzeiten und zum Aufenthalt in sogenannte Gesindestuben verwiesen, während man ehedem gemeinsam zu Tisch gesessen hatte. Man folgte dabei großbäuerlichen, wenn nicht sogar großbourgeoisen Vorstellungen in Fragen der Wohnkultur, bei der es auch dazu kam, bemalte Bauernschränke und -truhen zugunsten städtischer Möbelkonfektion auszumerzen. Bei dem freilich gleichzeitig eintretenden Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft konnte man nicht umhin, für das verbleibende Gesinde und die kontraktgebundenen Tagelöhner eine Verbesserung der Unterkünfte vorzunehmen, um eine weitere Abwanderung zu verhindern. Auch galt es, durch Entwicklung spezifischer technischer Anlagen die Landarbeit zu erleichtern. Das geschah z. B. nicht nur durch die Anbringung von Greifern für den Garben- oder Heuaufzug in den Scheunen, sondern u. a. auch weitverbreitet - und nicht nur in Gebirgs- und Hügellandschaften - durch die Schaffung von Hocheinfahrten. 13 Indem man diese vornehmlich an der Giebelseite anlegte, über eine Brücke in den Dachraum der quergeteilten Unterscheune fuhr und den Dachraum manchmal sogar als „Oberscheune" abdielte, kam es zu einer ähnlichen Raumeischließung wie beim Niederdeutschen Hallenhaus. Es dauerte nicht lange, bis man dergleichen Hocheinfahrten auch über Ställen erbaute, bei denen man die Viehhaltung aus dem Wohnstallhaus in das Seitengebäude verlagert hatte. Als die sächsische Baugesetzgebung des 19. Jahrhunderts strenger als zuvor auf die endliche Durchführung der Dorffeuerordnung von 1775 auch hinsichtlich des Massivbaues drängte - ein Anliegen, das auch die gegründeten Brandversicherungsgesellschaften vertraten wurde diese Bauweise das Hauptthema in den Dörfern der Gebirgsbereiche. Dabei nötigte man z. B. die Dörfler der Sächsischen Schweiz mittels besonderer Geldangebote, alte Waldnutzungsrechte, besonders alte Holzbezugsrechte, zu verkaufen, was schließlich das Ende des Blockumgebindebaues bedeutete. 1896 versuchte das Sächsische Ministerium des Innern in Verbindung mit dem Landeskulturrat, durch ein Preisausschreiben den Steinbau zu fördern. 14 Nicht weniger als 65 Bewerbungen gingen dazu ein. Die preisgekrönten Entwürfe des Wettbewerbs zeigten die zeitliche Befangenheit der bürgerlichen Architekten, die ökonomische Lage der verschiedenen landwirtschaftlichen Betriebe richtig einzuschätzen. Nur wenige waren imstande, einen angemessenen ländlichen Baustil zu vertreten und nicht in Anschauungen

12

K A R L H E I N Z B L A S C H K E , Soziale Gliederung und Entwicklung der sächsischen Landbevölkerung im 16. bis 1 8 . Jahrhundert. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 4, 1 9 5 6 , 2, S. 1 4 4 - 1 5 5 .

u

ALFRED

F I E D L E R , Die Hocheinfahrt. Zum Formenwandel

sächsischer Scheunen in

neuerer

Zeit. In: Letopis, Reihe C, 6/7, 1 9 6 4 , S. 2 6 1 - 2 7 1 ; derselbe, Die Hocheinfahrt über Ställen. In: Sächsische Heimatblätter, 3, 1 9 6 4 . v'

Staatsarchiv Dresden, a. a. O., Bl. 1 3 5 ff.

Bauen und Wohnen in Sachsen

205

der bürgerlichen Neuromantik zu verfallen, die selbst aus Kleinbetrieben Burgen mit Erkern und übermäßigen Dachgestaltungen zu machen gedachte. Eine scharfe Kritik auch von auswärts erfolgte, und der damalige sächsische Landbaumeister K A R L S C H M I D T hatte es schwer, die Grundabsichten des Wettbewerbs zu verteidigen. Da zu gleicher Zeit außer an der Verteuerung des ländlichen Bauens auch am Lehrplan und an den Lehrkräften der bestehenden Baugewerkeschulen heftig Kritik geübt wurde, daß sie nämlich die Ziele der Ausbildung für Architekten zu hoch steckten, kam es zu einer ernsthaften Rückbesinnung auf die guten Leistungen der alten Gewerke. Besonders verdient machte sich in dieser Beziehung der Regierungsbaumeister und Architekt OTTO GRUNER. 1 " Er wandte sich gegen die in sächsischen Dörfern um sich greifende kapitalistische „Unkultur" des Bauens, gegen die einseitige Betonung der Feuersicherheit, d. h. den überwiegenden Einfluß des Brandversicherungswesens, und empfahl mit den Worten: „Unsere Lausitzer Bauernhäuser mit Holzwänden und Bohlenstühlen, die erzgebirgischen Giebel mit gemusterter Schindel- und Schieferverkleidung, ja selbst die Lehmwellerwände mit eingeritzten Linienmustern wären eines derartigen liebevollen Studiums nicht unwert . . ." eine eingehende Beschäftigung mit den heimatlichen Bauweisen, vornehmlich gegenüber der geforderten Kenntnis der griechischen Baukunst. Neben diesen beherzten Kritiker traten andere, und eine Gegenbewegung entstand. Es kam zu einer Besinnung auf die Altbausubstanz deutscher Bauernhäuser in dem großangelegten „Bauernhauswerk" (1906), das in Fragen seiner Auswertbarkeit für „neuzeitliches Bauen" problematisch, jedoch besonders imstande war, die Gedanken der Pflege heimatlicher Kunst und Bauweise zu wecken und zu fördern. Es geschah dies u. a, ab 1908 im sogenannten „Sächsischen Heimatschutz", der aus dem „Ausschuß zur Pflege heimatlicher Kunst und Bauweise in Sachsen und Thüringen" erwuchs, wie auch schließlich in der Errichtung eines Lehrstuhles für Konstruktion und Entwurf landwirtschaftlicher Bauwerke an der Technischen Hochschule Dresden im Jahre 1910 unter dem Architekten ERNST KÜHN, der 1903 ein beachtliches Vorlagenwerk mit dem Titel „Der neuzeitliche Dorfbau" herausgegeben hatte. Daß im übrigen das Fachwerk bei der notwendigen Pflege seiner Lehmwellerwände regional bereits im Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht nur in den Wetterseiten durch Verbreiterung, sondern vielfach auch durch ornamentalen Schieferbeschlag (Taf. 10 b) gesichert wurde, gehört dem beachtenswerten Thema „Volkskunst am Bauernhaus" an. 12. Jahrestagung des AHS, 1971 O. G R U N E R , Beiträge zur Erforschung volkstümlicher Nordböhmen, Leipzig 1 8 9 3 ; derselbe, Weitere Beiträge . .

Bauweise im Königreich Leipzig 1 8 9 4 , S. 12.

Sachsen und

P E T E R FISCHER D i e Veränderungen der Haus-, Hof- und Siedlungsformen in der nordwestlichen A l t m a r k während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus

Die nordwestliche Altmark als Teil einer preußischen Provinz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Im 18. Jahrhundert war die gesamte Altmark Bestandteil der Mark Brandenburg, die als sogenannte Kurmark Brandenburg den Kern Lind ältesten Teil des preußischen Territorialstaates darstellte. Fast zwei Drittel der Altmark, die im Unterschied zum anderen, größeren Teil der Kurmark westlich der E l b e - also im sogenannten Altsiedelgebiet gelegen waren, gehörten damals zum Landkreis Salzwedel. Dieser erstreckte sich von der noch heute gültigen Nordgrenze bis zur Magdeburger Börde im Süden. 1 E r wurde 1806 in das Königreich Westfalen einbezogen, kam aber 1815 mit einer neuen Umgrenzung wieder an Preußen, wo er den größten Landkreis der Provinz Sachsen bildete. Seit der 1952 durchgeführten Verwaltungsreform umfaßt der Kreis Salzwedel nur noch 70 Gemeinden (mit über 100 Dörfern; ohne Berücksichtigung der jüngst erfolgten Gemeindezusammenlegungen) . Der im folgenden untersuchte nordwestliche Teil der Altmark umfaßt heute die Kreise Salzwedel und Klötze im Bezirk Magdeburg. Der westliche Teil des Kreises Salzwedel und der sich südlich daran anschließende Teil des Kreises Klötze wurde im 18. Jahrhundert durch folgende Ämter und Herrschaften verwaltet und ausgebeutet: das Domänenamt Diesdorf; die Adelsgüter derer V O N D E R S C H U L E N B U R G zu Beetzendorf, Wolfsburg, Apenburg, Osterwohle und Salzwedel; das kurmärkische Schulamt Kloster Dambeck; das Amt Salzwedel sowie den Rat der Stadt Salzwedel und das Besitzbürgertum der Stadt Salzwedel. 2 Hinzu kam noch die Exklave des hannoverschen Amtes Klötze. Die Bodenverhältnisse waren - besonders im Bereich des Amtes Diesdorf - schlecht. Der Boden bestand zum größten Teil nur aus Sand. Entsprechend der extensiven Bewirtschaftung des Bodens fielen die Ernten noch am E n d e des 18. Jahrhunderts äußerst gering aus. Mißernten hatten zumeist katastrophale Auswirkungen. Der Kartoffelanbau steckte in der Altmark noch in den Anfängen. Die ländliche und auch die städtische Bevölkerung der nordwestlichen Altmark lebte nicht unmaßgeblich vom Handel mit dem benachbarten Land Hannover. Bauern, die in den Dörfern an der sogenannten Frachtstraße von Magdeburg nach Lüneburg und Hamburg oder in Grenznähe wohnten, hatten oft einen guten Nebenverdienst durch den Ausleih von Pferden und Fuhrwerken sowie durch Schmuggel. Im Gegensatz zum Amtsbereich Diesdorf, ist der Boden in der IJm-

1

F. W

A. B R A T R I N G , Statistisch-topographische Beschreibung der gesammten Mark Brandenburg,

Bd. 1, Berlin 1 8 0 4 2

M A N F R E D K O B U C H / A N N I S C H E I B N E R , Ortsverzeichnis der Ämter, der Patrimonialgerichte und der Stadtgerichte der in der späteren preußischen Provinz Sachsen vereinigten Gebiete 1800, Halle/Saale 1 9 6 1

um

P E T E R FISCHER D i e Veränderungen der Haus-, Hof- und Siedlungsformen in der nordwestlichen A l t m a r k während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus

Die nordwestliche Altmark als Teil einer preußischen Provinz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Im 18. Jahrhundert war die gesamte Altmark Bestandteil der Mark Brandenburg, die als sogenannte Kurmark Brandenburg den Kern Lind ältesten Teil des preußischen Territorialstaates darstellte. Fast zwei Drittel der Altmark, die im Unterschied zum anderen, größeren Teil der Kurmark westlich der E l b e - also im sogenannten Altsiedelgebiet gelegen waren, gehörten damals zum Landkreis Salzwedel. Dieser erstreckte sich von der noch heute gültigen Nordgrenze bis zur Magdeburger Börde im Süden. 1 E r wurde 1806 in das Königreich Westfalen einbezogen, kam aber 1815 mit einer neuen Umgrenzung wieder an Preußen, wo er den größten Landkreis der Provinz Sachsen bildete. Seit der 1952 durchgeführten Verwaltungsreform umfaßt der Kreis Salzwedel nur noch 70 Gemeinden (mit über 100 Dörfern; ohne Berücksichtigung der jüngst erfolgten Gemeindezusammenlegungen) . Der im folgenden untersuchte nordwestliche Teil der Altmark umfaßt heute die Kreise Salzwedel und Klötze im Bezirk Magdeburg. Der westliche Teil des Kreises Salzwedel und der sich südlich daran anschließende Teil des Kreises Klötze wurde im 18. Jahrhundert durch folgende Ämter und Herrschaften verwaltet und ausgebeutet: das Domänenamt Diesdorf; die Adelsgüter derer V O N D E R S C H U L E N B U R G zu Beetzendorf, Wolfsburg, Apenburg, Osterwohle und Salzwedel; das kurmärkische Schulamt Kloster Dambeck; das Amt Salzwedel sowie den Rat der Stadt Salzwedel und das Besitzbürgertum der Stadt Salzwedel. 2 Hinzu kam noch die Exklave des hannoverschen Amtes Klötze. Die Bodenverhältnisse waren - besonders im Bereich des Amtes Diesdorf - schlecht. Der Boden bestand zum größten Teil nur aus Sand. Entsprechend der extensiven Bewirtschaftung des Bodens fielen die Ernten noch am E n d e des 18. Jahrhunderts äußerst gering aus. Mißernten hatten zumeist katastrophale Auswirkungen. Der Kartoffelanbau steckte in der Altmark noch in den Anfängen. Die ländliche und auch die städtische Bevölkerung der nordwestlichen Altmark lebte nicht unmaßgeblich vom Handel mit dem benachbarten Land Hannover. Bauern, die in den Dörfern an der sogenannten Frachtstraße von Magdeburg nach Lüneburg und Hamburg oder in Grenznähe wohnten, hatten oft einen guten Nebenverdienst durch den Ausleih von Pferden und Fuhrwerken sowie durch Schmuggel. Im Gegensatz zum Amtsbereich Diesdorf, ist der Boden in der IJm-

1

F. W

A. B R A T R I N G , Statistisch-topographische Beschreibung der gesammten Mark Brandenburg,

Bd. 1, Berlin 1 8 0 4 2

M A N F R E D K O B U C H / A N N I S C H E I B N E R , Ortsverzeichnis der Ämter, der Patrimonialgerichte und der Stadtgerichte der in der späteren preußischen Provinz Sachsen vereinigten Gebiete 1800, Halle/Saale 1 9 6 1

um

Haus und Hof in der Altmark gebung S a l z w e d e l s feucht und sumpfig.

Die

Stadt Salzwedel

207 w a r der ö k o n o m i s c h e ,

politische und gesellschaftliche M i t t e l p u n k t der g e s a m t e n nordwestlichen A l t m a r k und galt um 1 8 0 0 als die w o h l h a b e n d s t e S t a d t der A l t m a r k

3

Soziale Gliederung der Landbevölkerung, ihr sozialökonomischer Zustand und ihre rechtliche Stellung D i e L a n d b e v ö l k e r u n g - g e m e i n t sind die sogenannten bäuerlichen U n t e r t a n e n - waren k e i n e s f a l l s eine h o m o g e n e M a s s e , sondern in sich stark strukturiert und differenziert

-

wenn auch noch nicht in dem M a ß e , wie später unter den B e d i n g u n g e n des K a p i t a l i s m u s . D i e „ U n t e r t a n e n " auf dem L a n d e setzten sich, e n t s p r e c h e n d ihren

Besitzverhältnissen,

g e k o p p e l t m i t ihrem rechtlichen Status,, wie f o l g t z u s a m m e n : 1. D i e Schulzen.

Sie - vor a l l e m die Lehnschulzen - h a t t e n eine bevorzugte S t e l l u n g in-

n e r h a l b der B a u e r n s c h a f t inne. Ihre Z a h l n a h m b e s t ä n d i g a b . D a n e b e n s t a n d e n

die

Setzschulzen, die jedoch bereits in g r ö ß e r e m M a ß e v o n den G r u n d h e r r s c h a f t e n

ab-

hängig w a r e n . 2 . D i e Bauern.

Sie wurden in der A l t m a r k w ä h r e n d des 1 8 . und zum T e i l auch noch

w ä h r e n d des 1 9 . J a h r h u n d e r t s Ackerleute Besitzes an

A c k e r l a n d und W i e s e n

genannt und entsprechend der G r ö ß e

( m a ß g e b e n d w a r die A n z a h l

der H u f e n

des bzw.

H u f e n a n t e i l e ) in V o l l - , H a l b - , V i e r t e l - und D r e i v i e r t e l b a u e r n untergliedert. E i n V o l l b a u e r b e s a ß n o r m a l e r w e i s e zwei H u f e n A c k e r l a n d . 3. D i e Kossäten.

Sie b e s a ß e n stets ein eigenes H a u s und m e h r o d e r weniger ausreichend

A c k e r - o d e r G a r t e n l a n d (zum T e i l g e p a c h t e t ) . Sie hielten r e l a t i v wenig G r o ß v i e h (oft nur ein o d e r zwei R i n d e r ) und m u ß t e n ihren L e b e n s u n t e r h a l t vielfach als T a g e l ö h n e r , z. B . bei den großen B a u e r n ( A c k e r l e u t e n ) , v e r d i e n e n . K o s s ä t e n galten a b e r noch als „ H o f b e s i t z e r " und standen gesellschaftlich o f t m a l s nicht weit unter den „kleinen A k k e r l e u t e n " . V i e l e w a r e n gleichzeitig H a n d w e r k e r und übten besonders solche B e r u f e aus, bei deren Ausübung sie das G r u n d s t ü c k nicht zu verlassen brauchten ( S c h n e i d e r , S t e l l m a c h e r , S c h m i e d e ) . E i n i g e b e s a ß e n derart geringen G r u n d b e s i t z , d a ß sie m a n c h m a l zu der nächsttieferen Schicht der G r u n d s i t z e r gerechnet und in den zeitgenössischen Q u e l l e n o f t m a l s auch nicht von diesen unterschieden w u r d e n . 4 . D i e Grundsitzer.

Sie w u r d e n , d a sie gewöhnlich nur ein kleines H a u s , eine K a t e b z w .

eine B u d e , und fast nie L a n d b e s a ß e n , v i e l f a c h auch Büdner

o d e r Kätner

genannt.

V o m E r t r a g des - vielfach auch noch gepachteten - G a r t e n l a n d e s k o n n t e n sie nicht l e b e n . Sie a r b e i t e t e n e b e n f a l l s gegen T a g e l o h n

bei den B a u e r n o d e r b e t r i e b e n ein

H a n d w e r k . H ä u f i g w e r d e n L e i n e w e b e r , Schneider, S c h m i e d e , S t e l l m a c h e r und Z i m m e r l e u t e , a b e r auch K l e i n h ä n d l e r und a n d e r e B e r u f e g e n a n n t . I m 17. und 1 8 . J a h r hundert w a r die Z a h l der G r u n d s i t z e r noch k l e i n . E i n e starke Z u n a h m e e r f o l g t e erst im V e r l a u f e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s als F o l g e der z u n e h m e n d e n K a p i t a l i s i e r u n g in der L a n d w i r t s c h a f t . In der dörflichen R a n g o r d n u n g r a n g i e r t e n die G r u n d s i t z e r hinter den K o s s ä t e n , n a h m e n a b e r oft auch eine geachtete S t e l l u n g ein, besonders wenn sie einen entsprechenden B e r u f ausübten ( z . B . Z i m m e r m a n n ) . gehörten zur Dorfarmiut.

3

BRATRING, a. a. O , S. 356.

Andere Grundsitzer

wiederum

208

Fischer

5. Die Dorfarmut. Sie setzte sich aus den Eirtliegern und dem Gesinde zusammen. Die Angehörigen der Dorfarmut hatten weder Land- noch Hausbesitz. Einlieger, die im Dorf „zur Miete wohnten", arbeiteten gegen Tagelohn bei den Bauern oder bei der Gemeinde (z. B. als Hirte). Das Gesinde wohnte und lebte weitgehend im Hause der Bauern. Es wurde ganzjährig „gemietet". Eine Sonderstellung nahm es ein, wenn es zur angeheirateten oder Blutsverwandtschaft des Bauern gehörte, da dies dann vielfach nur ein „Durchgangsstadium" darstellte. Zur Dorfarmut gehörten ferner die invaliden oder verarmten Bewohner des Gemeindehauses (des sogenannten Armenhauses), der Nachtwächter, der Gemeindediener usw. Hirten und Tagelöhner wohnten oft in einem Katen, der der Gemeinde oder einem Bauern gehörte. Die Zahl der Einlieger war im 17. und 18. Jahrhundert ebenfalls noch gering und nahm erst mit der Kapitalisierung der Landwirtschaft zu. Die Größe des Landbesitzes war nicht nur bestimmend für den sozialen Status innerhalb der dörflichen Gemeinde, sondern auch von entscheidender rechtlicher Bedeutung. So hatte z. B. ein Ackermann mit dem Gespann Dienste beim Amt oder bei der Grundherrschaft zu verrichten, während Kossäten mit der Hand dienen mußten/1 Eine voll ausgebildete Leibeigenschaft hat es in der nordwestlichen Altmark nicht gegeben. Zur sozialökonomischen Stellung der Bauern heißt es im Provinzialrecht der Altmark von 1836: „Die Bauern waren von jeher dort [in der Altmark] nicht an die Scholle gebunden; sie waren persönlich frei und besaßen ihr Gut als freies Eigentum, so daß sie dasselbe unverhindert verkaufen konnten." Es folgen aber sogleich Beschränkungen wie: „Nur mußte das Gut im Interesse des Landesherren, der Gutsherrschaft und der Gemeinde in Würden gehalten werden. Deshalb konnte es nicht dismembriert und nicht an einen untüchtigen Wirth veräußert werden, es mußte in dem Käufer ein tüchtiger G e währsmann' gestellt werden, bei einem nicht tüchtigen widersprach die Herrschaft mit Recht . . . " und „Ein liederlicher und wiederspenstiger Wirth konnte seines EigentumsRechts ungeachtet auch in der Altmark des Besitzes entsetzt und zum Verkaufe genötigt werden." 5 Der bürgerliche Verfasser des Provinzialrechtes und des Entwurfes zum Provinzialrecht der Altmark, der die Rechtsverhältnisse der spätfeudalen Zeit aufzeichnete, um sie im neuen Provinzialrecht zu berücksichtigen, mußte aber auch zugeben: „Bei reinen Bauerngütern hatte nach richtiger Ansicht der Bauer wirklich ganz vollständiges Eigentum, nur war dies gehalten, umstellt und beschränkt durch eine Menge Rechte des Landesherrn, des Grundherrn und der Gemeinde, so daß also eine sehr freie Bewegung allerdings nicht möglich war." Auch bedurfte der Bauer zur Heirat „die Genehmigung der Herrschaft und seine Kinder waren zwangsdienstpflichtig" und „die Herrschaft hatte sonst von den Höfen Abgaben zu erheben und Dienste zu fordern, wenn diese letzteren nicht definitiv in ein Dienstgeld verwandelt waren." 6 Dienste und Abgaben waren recht unterschiedlich, oft aber durchaus beträchtlich, ohne jedoch etwa mecklenburgische Dimensionen zu erreichen.7 4

A . W . G O E T Z E , Das Provinzial-Recht der Altmark, nach seinem Standpunkte im Jahre

5

1. Teil, 1. Abteilung, Magdeburg 1 8 3 6 . Ebenda, 1. Teil, 2. Abteilung, S. 2 0 - 2 1 .

6

Ebenda, S. 2 1 - 2 2 und 53 u. a.

7

Beispiele f ü r Abgaben und Dienste in

1835,

Rotulus Aktorum des Knesebeckschen Archivs in dem

Gewölbe zu Tylsen. Aufgerichtet durch Thomas von dem Knesebeck Anno 1 6 7 1 und weiter in

209

Haus und Hof in der Altmark

Haus-, Hof- und Siedlungsformr im Spätfeudalismus als Ausdruck der der ländlichen Bevölkerung in der nordwestlichen Altmark

Lebensweise

Als 1748/49 auf Veranlassung des preußischen JfCönigs FRIEDRICH II. und unter der Regie des Domänenamtes Diesdorf pfälzische Kolonisten auf dem Gelände der Wüstung Hohengrieben im Kr. Salzwedel angesiedelt wurden, war es deren ausgesprochener Wunsch, „daß sie lieber ihre Wohnungen, Scheunen und Stallungen separat erbauet sehen, als die Häuser nach hiesiger Gewohnweit also errichtet haben mögten" 8 (Abb. 90). Diesem Wunsche wurde auch entsprochen, jedoch nicht den Kolonisten zuliebe, sondern aus Gründen der Holzersparnis. Noch bis in das Ende des 18 Jahrhunderts und darüber hinaus blieben das Straßendorf Hohengrieben und die Gestalt der Häuser dieses Ortes eine Ausnahme im Bereich des Amtes Diesdorf. Das veranlaßte den Amtsverweser SCHÄFER in seinem Bericht von 1792 zu folgender Äußerung: „Hier sind die Häuser blos Hauß, und nicht wie die hiesige Bauart ist, mit vorliegenden Rindviehställen, Dresch-Diele, und darüber Futter und ungedroschenen Rocken-Behältnis, auch mit Schornsteinen versehen, und Scheunen und Viehställen separat." 9 Damit gab uns SCHÄFER auch gleich eine knappe Beschreibung des landesüblichen Bauernhauses, das dem Typ des Niederdeutschen Hallenhauses entsprach. Das Hallenhaus war einst im gesamten norddeutschen Raum und in den westlich angrenzenden Ländern beheimatet. Die nordwestliche Altmark bildete einen südöstlichen Zipfel im Verbreitungsgebiet dieser Hausform, die vermutlich immer nur in den an Niedersachsen angrenzenden Teilen und nicht im Südosten der Altmark vorkam 10 (Abb. 91). Für die Bewohner der östlichen Altmark war bereits in früherer Zeit das Niederdeutsche Hallenhaus in der nordwestlichen Altmark ein interessantes und für sie fremdartig erscheinendes Phänomen. So berichtete z. B. ein Altmärker aus der Gegend von Stendal anläßlich eines Besuches in Diesdorf 1808: „Ich lief noch gegen Abend nach Schadewohl, um die eigenthümliche Bauart dieser Leute kennen zu lernen. Es schaudert einem, wenn man in das große Tor der Giebelseite des Hauses eintritt, nun in einem großen schwarzgeräucherten Raum steht, unter sich die Scheunendiele, über sich die Getreidescheune sieht, zur rechten und linken vom Vieh angeschnoben wird, und im Hintergrunde die lichte Flamme auf dem niedrigen Feuerheerde erblickt. Die Wohnstube Ordnung fortgesetzt durch

Wilhelm

Ludwig von dem Knesebeck Anno

1 7 3 0 , Handschrift im

Danneil-Museum Salzwedel, (sogenanntes rotes Hausbuch der Familie von dem Knesebeck zu Tylsen). 8

H A R T M U T B O C K , D i e Auswirkungen der „Peuplierungspolitik" FRIEDRICH II.

(1740-1789)

in Brandenburg-Preußen im Bereich der Domäne Diesdorf in der Altmark, Diplomarbeit, Universität Rostock, Sektion Geschichte, 1 9 7 1 , (Ms.), S. 140, Anm. 90. '' Staatsarchiv Potsdam, Rep. 2 D 7 7 5 1 , Bl. 16. 1(1

W I L L I PESSLER, Das altsächsische Bauernhaus in seiner geographischen Verbreitung, Braunschweig 1 9 0 6 . - Seit wann der Typ des Niederdeutschen Hallenhauses in der nordwestlichen Altmark beheimatet ist, konnte bisher archäologisch noch nicht nachgewiesen werden.

Durch das

Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/Saale ergrabene sächsische Hausgrundrisse des 8./9. Jahrhunderts bei Rohrberg

(Kr. Klötze)

1975/76 ergaben einfache, rechteckige, eingetiefte Häuser

kleiner Abmessungen. Siehe J O H A N N E S SCHNEIDER, Sächsische Siedlungsfunde bei Rohrberg. In

Ausgrabungen und Funde, 1 9 7 7 , 5. E ß E L I N G erwähnt ein Hallenhaus von 1 5 1 1 in Bösdorf

( K r Haldensleben), siehe M A X E ß E L I N G , Blicke in vergessene Winkel - Geschichte-, Kulturstudien und Charakterbilder, ein Beitrag zur Volkskunde, Bd. 2, Leipzig 1 8 8 9 , S. 73 14

Bauen und Wohnen

210

Fischer

'/c? Abb. 90

Bauzeichnung

eines Kolonistenhofes

30-

in Hohengrieben,

Kr. Salzwedel,

aus dem Jahre

1748.

211

Haus und H o f in der Altmark

Einfahrtsgiebel

Abb.

91

Niederdeutsches

Hallenhaus,

erbaut stand

1780, von

Maxdorf,

Kr. Salzwedel,

Hof

Nr. 3,

(Zu-

1912).

an der Gegenseite des Giebels ist niedrig, dunstig und hat auf der Seite einige noch niedrigere Nischen, in welchen die Menschen nach den Mühen des Tages auf unüberzogenen Betten Ruhe suchen, und finden."11 Nun hatte der Schreiber dieser Zeilen zwar eines der ärmsten Dörfer des Amtsbezirkes Diesdorf aufgesucht - mit einer Bausubstanz, die alt und sicher verfallen war, wie Berichte in den zeitgenössischen Akten beweisen. 12 Anscheinend war dem Berichterstatter von 1808 aber gerade daran gelegen, die besonders alten Häuser in Schadewohl (bei Diesdorf) zu sehen, sonst hätte er sich mit den Diesdorfer Häusern, die ja dem gleichen Haustyp entsprachen, begnügt. Das offene Herdfeuer war nämlich bereits zu dieser Zeit eine Seltenheit in der Altmark. D e r sogenannte Schwibbogen, aber auch Rauchfänge mit Kaminen hatten sich, nicht zuletzt auf Grund feuerpolizeilicher Verordnungen, Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt." Die Form des Niederdeutschen Hallenhauses wurde gleichermaßen von allen sozialen Schichten verwendet. Lediglich die Größe variierte entsprechend den ökonomischen Verhältnissen der Besitzer (Taf. I I a ) . Doch nicht nur an der Größe, sondern auch in der mehr oder minder reichen Gestaltung der Giebel kam die wirtschaftliche Stärke des B e sitzers zum Ausdruck. In fast jedem Falle wurde die Toreinfahrt mit geschnitzten und bemalten Ornamenten und Inschriften versehen, die dem Repräsentationsbedürfnis des 11

K u n d e aus der altern und neuern Vorzeit der Altmark. I n : Altmärkisches Intelligenz- und Leseblatt, Stendal 18. Juni 1 8 2 4 , S. 2 0 6 .

12

Staatsarchiv Potsdam, R e p . 2 D 7 7 5 1 , Bl. 32 r.

1:1

Staatsarchiv Potsdam, R e p . 2 D 7 7 5 1 , Bl. 8 3 r und 84.

14*

212

Fischer

J3

1.

a.

Abb. 92 Charakteristische Hofanlagen in der nordwestlichen Mtmark Kr. Salzwedel, Hof Schulz, B = Kuhfelde, Kr. Salzwedel, Hof Müller,

um 1800: A = Maxdorf, (Skizzen ohne Maßstab).

Besitzers zu genügen hatten. Entsprechende Verzierungen fehlten nur bei den Hirtenhäusern, den Grundsitzerhäusern und den Gemeindehäusern. Neben dem typischen Niederdeutschen Hallenhaus gab es in der nordwestlichen Altmark auch Mischtypen, wie z. B. das Querdielenhaus, das anscheinend aus dem südlichen Braunschweig übernommen wurde. Neben diesen Gebäuden, die Wohnung und Stall (sowie Bergeräume für Getreide und Futter) unter einem Dach vereinigten, gab es - wiederum entsprechend der Besitzgröße - jedoch noch weitere Gebäude, durch deren Vorhandensein es überhaupt erst zu einer Hofbildung kam. Mindestens seit dem 17. Jahrhundert wurden, wenn auch nicht immer, folgende Bauten errichtet: Scheune, Stall, Speicher (Stall und Speicher oft in einem Gebäude), Backhaus und Torhaus (Abb. 92).

213

Haus und Hof in d e r A l t m a r k

Das sogenannte Torhaus war charakteristisch für die gesamte Altmark: und auch die südlich angrenzenden Landschaften. Im Gegensatz zum Niederdeutschen Hallenhaus war es jedoch quer gegliedert. Es stand stets mit der Traufseite zur Straße bzw. zum Dorfplatz. Vermutlich hat es sich im späten Mittelalter von Mitteldeutschland her bis in die Altmark ausgebreitet. Es läßt sich anhand originaler Bausubstanz bis 1600 zurückverfolgen. M Das Torhaus mit dem dahinterliegenden Hallenhaus war für die nordwestliche Altmark einst durchaus charakteristisch - damit gleichzeitig den Übergangscharakter zwischen Mittel- und Norddeutschland auch in baulicher Hinsicht bezeichnend. Im 18. Jahrhundert gehörten zu fast jedem „Ackerhof" ein dem Dorfplatz bzw. der Dorfstaße zugekehrtes Torhaus mit großem Einfahrtstor und einem Fußgängereingang daneben sowie manchmal ein oder zwei Scheuneneinfahrten (Taf. 11 b). Der Hof war also zum Dorfplatz hin abgeschlossen wie die Höfe in Mitteldeutschland. Manche Höfe von Bauern, besonders aber solche von Kossäten und selbstverständlich die der Grundsitzer, besaßen jedoch keine Torhäuser. Die Giebel ihrer Hallenhäuser standen direkt am Dorfplatz oder etwas zurück. 15 Die Hofform war nicht geschlossen und ließ keine besondere Regel der Anordnung der Gebäude erkennen. Im allgemeinen war der Besitzer jedoch bemüht, die Giebeleinfahrt des Hallenhauses mit der Einfahrt des Torhauses in Übereinstimmung zu bringen, so daß keine großen Wendemanöver notwendig waren. Ställe und Scheunen wurden rechts und links des Wohnhauses plaziert nach mitteldeutschem Vorbild. Das Backhaus hatte wegen der Feuergefährlichkeit seinen Platz im Garten, hinter dem Wohnende des Hallenhauses. Falls ein Speicher vorhanden war, stand er meist, um gegen Brand gesichert zu sein, isoliert, ohne Verband zu den übrigen Gebäuden am Hofrand, seltener in der Hofmitte und manchmal im Garten. 16 Die verbreitetste Siedlungsform in der nordwestlichen Altmark war noch im 18. Jahrhundert das Rundplatzdorf mit" seinen Abarten. Diese Siedlungsform entsprach den Erfordernissen der landwirtschaftlichen Produktion unter feudalen Bedingungen. 17 Auf engstem Raum wurden die Höfe, sich der Dorfmitte fächerförmig zuwendend, in ovaler, runder oder halbrunder Form aneinandergebaut. Von der bürgerlichen Lokalforschung wurde die Entstehung dieser Siedlungsform weit in die Frühzeit zurückverlegt und mit der Verteidigungsfunktion begründet. Bewiesen ist lediglich, daß die Rundplatzdörfer in der Hauptsache dazu dienten, nachts das Vieh aufzunehmen. Sie dürften kaum vor dem hohen Mittelalter entstanden sein (Abb. 93). In diesen Rundplatzdörfern waren es auch bereits im 18. Jahrhundert die Torhäuser, die in charakteristischer Weise einen fast geschlossenen Ring - bis zu der aus dem Ort w

Torhaus v o n 1 6 0 0 aus Vissum, K r . S a l z w e d e l , heute im Freilichtmuseum D i e s d o r f / A l t m a r k .

,fi

Ü b e r das Aussehen dieser f ü r die nordwestliche A l t m a r k im 1 8 . J a h r h u n d e r t typischen H ö f e be-

E r h a l t e n e Beispiele in A b b e n d o r f , Schmölau und Hilmsen (alle K r . S a l z w e d e l ) . sitzen w i r keine zeitgenössischen Abbildungen. U m die M i t t e des 1 9 . Jahrhunderts hat jedoch d e r Berliner

Landschaftsmaler

28. 09. 1 9 0 3 Teil

HERMANN

SCHMIDT

(geb.

17. 04. 1 8 1 9

in

Magdeburg,

gest.

in Berlin) einige H ö f e und D ö r f e r in der Umgebung S a l z w e d e l s skizziert und zum

auch gemalt. E r

H ö f e ausgesucht, um

hatte aus seiner Sicht als sie im B i l d e

festzuhalten.

Spätromantiker

besonders

alte

und

malerische

Seine A r b e i t e n widerspiegeln deshalb durchaus

den Eindruck, den die H ö f e auch noch im 1 8 . J a h r h u n d e r t v e r m i t t e l t e n ,

und sind f ü r uns

eine

wertvolle Quelle. 17

WERNER

RADIG,

Berlin 1 9 5 5 , S. 9 5 .

Die

Siedlungstypen

in

Deutschland

und

ihre frühgeschichtlichen

Wurzeln,

214

Fischer

herausführenden „Dorfstraße" - bildeten. Die Giebel an Giebel gebauten, traufseitig zur Dorfmitte ausgerichteten Torhäuser mit ihren Strohdächern leisteten Großbränden Vorschub und waren in dieser Hinsicht eine G e f a h r für den O r t . Meist befanden sich in der Mitte des Dorfes auf dem Dorpfplatz die Kirche und die gemeindeeigenen Gebäude, wie Gemeindehaus, Spritzenhaus (meist gleichzeitig Leichenhalle), Hirtenhaus und später auch noch die Schule. Straßendörfer waren noch im 18. Jahrhundert sehr selten. Wenn solche vorhanden waren, hatten sie sich entweder aus einem Rundplatzdorf heraus entwickelt, waren nach einem Brand neu entstanden oder nach Plänen der preußischen Regierung, wie z. B. das Kolonistendorf Hohengrieben, Kr. Salzwedel, neugegründet worden. Der Standort der einzelnen Gehöfte widerspiegelte in der Regel auch die soziale dörfliche Rangordnung. Um die Kirche herum lagen die Höfe der Ackerleute und am weitesten entfernt die der Kossäten. Am Dorfausgang lagen die Katen der Grundsitzer, zumeist außerhalb des eigentlichen „Rundlings". O f t bildeten sie den Kern des sich später unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen herausbildenden Straßendorfes. In der Dorfmitte befanden sich, wie bereits erwähnt, die gemeindeeigenen Gebäude.

Der Etnfluß der staatlichen Reglementierung auf Haus-, Hof- und Siedlungsform um 1800 in der nordwestlichen

Altmark

Den allgemeinen Dorf- und Feuerordnungen des brandenburgisch-preußischen Staates aus dem 17. Jahrhundert und besonders denen seit Beginn des 18. Jahrhunderts folgten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmalig ernstgemeinte Eingriffe in die tradi-

215

Haus und Hof in der Altmark

tionellen Bauweisen. Wie das Beispiel Hohengrieben zeigt, wurden die unter staatlicher Aufsicht gebauten Häuser nicht in der traditionellen heimischen Art errichtet. Das hatte sowohl ökonomische als auch feuerpolizeiliche Gründe.18 Es wurde so billig wie möglich gebaut, und als Folge davon stürzten tatsächlich einige der kurz nach 1750 gebauten Häuser in Hohengrieben nach wenigen Jahren wieder ein.19 Der große Holzverbrauch beim Bau der Niederdeutschen Hallenhäuser ging zu Lasten der königlichen Wälder, aus denen nach den Gewohnheitsrechten der Altmark die Holzlieferungen erfolgten.20 Gleichermaßen großen Einfluß hatten feuerpolizeiliche Erfahrungen, um gegen die traditionelle Bauweise einzuschreiten. Immerhin befanden sich Menschen, Vieh und Getreidevorräte bei offenem Herdfeuer unter einem Dach aus Stroh. - Zwar richteten sich die staatlichen Reglemente zunächst noch nicht gegen die Form des Hauses, sondern als erstes nur gegen den offenen Herd.21 Seit dem Edikt wegen des Auseinanderbauens der Unterthanen-Gehöfte in der Kurmark vom 15. Juli 1795 und nach einer weiteren Bekräftigung und Konkretisierung, die sich unmittelbar auf die Hausform bezog, richteten die preußischen Behörden ihr Augenmerk jedoch auch auf die traditionelle Hausform und bemühten sich - zunächst einmal vergeblich - um ihre Ausrottung.22 Während die preußischen Baubehörden für das Auseinanderbauen der Gehöfte eintraten (bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie das Beispiel Hohengrieben zeigte, seit 1795 aber mit Gesetzeskraft), wurden noch 1791 nach einem Brand alle Häuser des Dorfes Lockstedt, Kr. Klötze, in der hannoverschen Exklave des Amtes Klötze nach hannoverscher Bauvorschrift als Niederdeutsche Hallenhäuser errichtet.23 Dieses Beispiel zeigt, wie die Zersplitterung Deutschlands sich auch auf die traditionellen Hausformen auswirken konnte. Wie bereits erwähnt, war aber auch das quer aufgeschlossene mitteldeusche Haus in der nordwestlichen Altmark trotz des dominierenden Niederdeutschen Hallenhauses nicht unbekannt; und es gab auch Mischformen (Mittertennhaus, Querdielenhaus).24 Daß es dem preußischen Staat beim Verbot des Hallenhauses u. a. um Einsparung des wertvollen Eichenholzes ging, wird wiederum an der Siedlung Hohengrieben deutlich. Hier wurden die Gebäude weitgehend aus Kiefernfachwerk erbaut. Die von den preußischen

18

B O C K , S. 4 2 .

111

Staatsarchiv Potsdam,

Rep

2 D 7 7 5 1 , B1 15, (fünf aus „Kiehnenholz"

erbaute Häuser

mußten

1 7 9 2 neu erbaut werden) iu

A. CH. S T E I N H A R T ,

Über die Altmark, Bd. 1, Stendal

1 8 0 0 , S. 153

„So beträchtlich auch

die Altmärkischen Forsten sind, so können sie doch nicht so viel Holz liefern, als verlangt wird, weil die Städte und Communen nichts haben. Freilich hat man die Kunst in der Altmark noch nicht gelernt, so haushälterisch mit dem Holz umzugehen, wie in der Börde, es wird immer gar zu viel verbaut

Im Magdeburgischen, vorzüglich im Saalkreise, verfertigen die Leute ihre Häuser,

wie die Schwalben, sie halten freilich nicht für die Ewigkeit, kleckst

sind aber auch sehr leicht hinge-

Die königlichen Unterthanen bekommen in der Altmark ihr Bauholz gewöhnlich zu 2 / 3

umsonst, und man sieht es ihren Höfen an, daß sie weder mit dem Boden, noch mit den Bäumen geizen, wie die Magdeburger, die ihre Häuser dicht in einander schieben, um ihren ergiebigen Acker nicht zu schmälern." 21

Staatsarchiv Potsdam, Rep

22

G O E T Z E , 2 Teil, S. 2, (Betr

2 D 7 7 5 1 , Bl. 10, ( 1 7 9 2 )

2;1

PESSLER, S 202

2''

Insbesondere Pfarrhäuser und Gemeindehäuser wurden als Mitteldeutsche Ernhäuser errichtet

28 August 1 7 9 6 )

216

Fischer

Behörden besonders propagierte Pise-Bauweise wurde aber nur in Einzelfällen angewandt. 25 Trotz Strafandrohungen und ständiger Beaufsichtigung von Neubauten verstanden es die Bauern, die zu Neubauten Veranlassung hatten, die Bauvorschriften zu umgehen, und es wurden weiterhin Niederdeutsche Hallenhäuser errichtet.26 Lediglich massive Wände zwischen Wohnteil und Diele sowie massive Schornsteine setzten sich diurch. Gleichzeitig mit dem Verbot der Neuerrichtung des Hallenhauses wurde auch die Siedlungsform des Rundplatzdorfes bei Neuanlage eines Dorfes, beispielsweise nach einem Brand, gesetzlich untersagt. Während der Zugehörigkeit der Altmark zum Königreich Westfalen schränkten keine maßgeblichen Gesetze die Baufreiheit ein. Die traditionelle Bauweise und damit auch der Bau des Niederdeutschen Hallenhauses blühten erneut auf.27 Für die Landbevölkerung brachte die französische Fremdherrschaft neben Belastungen aber auch bedeutende Erleichterungen, die einer kapitalistischen Entwicklung Vorschub leisteten. Beispiele besonders repräsentativer und großzügiger Bauausführungen lassen einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung erkennen, von dem aber nur die großen Bauern besonders profitierten.28 Trotzdem bestand anscheinend noch kein Anlaß, von der traditionellen Bauform abzugehen. Das Hallenhaus genügte offenbar nach wie vor den wirtschaftlichen Ansprüchen auch großer Bauern. Die Veränderungen von Haus-, Hof- und Siedlungsform als Folge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in der nordwestlichen Altmark Nach der Wiedereingliederung der Altmark in Preußen (1815) wurde dieses Gebiet Bestandteil der Provinz Sachsen. Hier aber hatte das Edikt wegen des Auseinanderbauens der JJnterthanen-Gehöfte und Gebäude in der Kur mark von 1795 vorerst keine Gültigkeit, denn die Altmark gehörte ja nun ab 1815 nicht mehr zur Kurmark.29 Wenn jetzt aber besonders und zuerst die großen Bauern trotzdem von der alten Haus- und Hofform abgingen, wie an Beispielen belegt werden kann, beweist das sehr deutlich, daß der „Untergang" des Niederdeutschen Hallenhauses nicht allein auf die preußischen Bauvorschriften zurückzuführen ist, sondern in der Hauptsache ökonomische und wohnkulturelle Gründe hatte.1*1 i 25

Staatsarchiv Potsdam, Rep. 2 D 7 7 5 1 , Bl. 84, sowie Rep. D 8 0 2 5 , betr. 1 7 9 8 und 1 7 9 7 (Neubau der Kossatenstelle Westhusen in Diesdorf/Altmark).

26 27

Staatsarchiv Potsdam, Rep. D 8 0 2 2 , 8 0 2 4 , 8 0 2 5 , 8 0 2 7 und 8 0 3 2 . Beispiele von nachweislich zur Zeit der westfälischen Regierung erbauten Niederdeutschen Hallenhäusern in der nordwestlichen Altmark befinden sich z. B. in Drebenstedt, K r . Salzwedel, Nr. 1 7 ( 1 8 0 6 ) , Vitzke, K r . Salzwedel, Nr. 7 ( 1 8 0 7 ) , Ahlum, K r . Klötze, Nr. 4 0 ( 1 8 0 7 ) , in Püggen, Kr. Salzwedel, Hallenhaus des Grundsitzers und Schmiedemeisters Johann Joachim Tepelmann

(mit

Schmiede im Hause), ( 1 8 0 9 ) , in Winkelstedt, Kr. Salzwedel, Nr. 6 ( 1 8 1 1 ) , Lagendorf, K r . Salzwedel, Hof Mumme ( 1 8 1 4 ) , und in Fahrendorf, K r . Salzwedel, Hof Nieber ( 1 8 1 5 ) . 2R

Hof Wernecke in Eversdorf, K r . Salzwedel.

29

A L F R E D K I R C H H O F F , D i e territoriale Zusammensetzung der Provinz Sachsen -

Karte

und

Begleitworte, Halle 1 8 9 1 . 30

Zum Beispiel wurden im Hof des Bauern W E R N E C K E in Eversdorf, K r . Salzwedel, die Wirtschaftsgebäude 1 8 1 2 / 1 3 und das Wohnhaus 1 8 2 0 als Mitteldeutsches Ernhaus erbaut.

Haus und Hof in der Altmark

217

Hofse-ite Cftard)

dorf, Kr. Salzwedel,

Hof Nr. 24, (Zustand

1976).

Für Kossäten und mittlere Bauern jedoch blieb die alte Form des Hallenhauses noch eine Zeitlang durchaus üblich, wie einige erhaltene oder quellenkundlich ermittelte N e u bauten von Hallenhäusern nach 1815 zeigen. 31 31

Haus Tölke in Lagendorf, 1822 (Kossat); Hof Nr. 8 in Drebenstedt, Kr. Salzwedel, 1824; Hof Schulz in Lüdelsen, Kr. Klötze, 1864 (Auswahl).

218

Abb. 95

Fischer

Querdielenbaus

eine

Mittelbauern,

erbaut

(Zustand

von

1849,

Hilmsen,

Kr.

Salzwedel,

Hof

Scbnobel,

1972).

D i e Zeit des Niederdeutschen Hallenhauses, das den feudalen Wohn- und Wirtschaftsverhältnissen entsprach, war in der Altmark bereits vorbei, als 1830 das obengenannte Edikt von 1795 auch für die Provinz Sachsen Gültigkeit erhielt. 32 Trotzdem wurden die baupolizeilichen Bestimmungen 1842 noch einmal in scharfer Form mit Strafandrohungen wiederholt. 33 Mit der Übernahme des Mitteldeutschen Ernhauses (Abb. 94) als „Nur-Wohnhaus" veränderte sich zwangsläufig auch die Hofform. Durch die neue Produktionsweise unter beginnenden kapitalistischen Bedingungen reichte die in feudaler Zeit zur Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes genügende Ausstattung an Gebäuden für Menschen, Vieh und die Ernte nicht mehr aus und verlangte nach einer Veränderung. In der nordwestlichen Altmark war es naheliegend, die schon jahrhundertelang bewährte Haus- und Hofform der östlichen Altmark, des benachbarten Magdeburger Holzlandes und der Magdeburger Börde, nämlich den Vierseithof mit dem Mitteldeutschen Ernhaus, zu übernehmen. Dies war eine der möglichen Formen der Anpassung an kapitalistische Produktionsverhältnisse. Sie bot die Möglichkeit, das durch intensivere Bodenbearbeitung, Düngung usw. sich jetzt ständig vergrößernde Agrarprodukt unterzubringen, zu verarbeiten und aufzubereiten. In anderen Landschaften griff der Bauer zu anderen Möglichkeiten, die recht verschieden waren. Als ein solcher Versuch, eine andere Möglichkeit der Anpassung zu suchen, mag auch der Bau von Mittertenn- und Querdielenhäusern gelten 34 (Abb. 95). Kennzeichnend für die kapitalistische Entwicklung waren die endgültige Ablösung der Frondienste und die Separation, die in der Altmark zwischen 1821 und 1850 durchgeführt wurden. Von der Separation profitierten zumeist die Gutsbesitzer und die großen 32

Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Magdeburg, 10. Juli 1830, S. 178.

33

Ebenda, 30. April 1 8 4 2 , S. 176.

34

Als Beispiel das Mittertennhaus des großen Bauern S C H N O B B E L 1849.

in Hilmsen, Kr.

Salzwedel,

219

Haus und Hof in der Altmark

Bauern, die gestärkt aus diesem Prozeß hervorgingen, weil auch das Gemeindeland, soweit das nicht bereits unter westfälischer Regierung geschehen war, anteilmäßig nach jeweils bereits vorhandener Besitzgröße aufgeteilt wurde. Die ohnehin wenig oder nichts besitzenden Schichten auf dem Lande erhielten dadurch wenig oder nichts. Sie verloren sogar noch den Weideplatz für das wenige Vieh, das sie halten konnten, und waren daher jetzt teilweise gezwungen, nur noch als Tagelöhner zu arbeiten. Die besitzlose Landarmut rekrutierte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend aus ruinierten Klein- und Mittelbauern, aus Familienangehörigen von Bauern, die nichts oder nur eine geringe Geldsumme geerbt hatten, sowie aus Handwerkern, denen durch die Gewerbefreiheit die Ausübung ihres Berufes jetzt auch auf dem Lande gestattet war, 16 Nach wie vor gehörten zur Landarmut überdies die Hirten, die es in der Altmark noch bis um 1900 gab, die Amtsdiener usw. Mit der auch in der Altmark auf „preußischem Wege" vollzogenen Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft entstand auf dem Lande der doppelt freie Lohnarbeiter, das Landproletariat, das für die kapitalistische Produktion auf dem Lande notwendig war. Auch innerhalb der einzelnen Bauernwirtschaften änderte sich schrittweise das bisherige patriarchalische Verhältnis des Bauern zum Gesinde. Während bisher im überwiegenden Maße Familienmitglieder das Gesinde stellten, wurde jetzt mehr und mehr das Gesinde gemietet. Die nicht erbberechtigten Familienmitglieder bzw. solche, die ihren Erbteil ausgezahlt erhielten, vermieteten sich jetzt lieber bei einem fremden Bauern als Gesinde, um Geld zu verdienen, und arbeiteten nicht mehr nur für Speise, Trank und Kleidung auf dem Hofe des blutsverwandten Bauern. Dieses Gesinde lebte in der ständigen Hoffnung, durch das gesparte Geld selbst einmal in den Besitz eines Hofes zu kommen. Während das Gesinde früher, in der Periode des Spätfeudalismus, in den meisten Fällen mit dem Bauern im Haus wohnte, kamen jetzt, zuerst bei den großen Bauern, bereits besondere Gesindestuben auf, und das Gesinde schlief meist in den Ställen. Diese Entwicklung hing eng mit der Veränderung der Hausform zusammen. Im Niederdeutschen Hallenhaus hatte das Gesinde zwangsläufig mit im Haus gewohnt, manchmal aber auch im Speicher oder im Backhaus. 37 In seltenen Fällen hatte ein Tagelöhner eine eigene Wohnung oder gar ein Haus, das ihm der Bauer zur Verfügung stellte. Durch die Aufgliederung des Hofes in mehrere Gebäude und das „Nur-Wohnhaus" des Bauern veränderte sich dieses Verhältnis. Nur selten fand sich jetzt noch Platz für eine Gesindestube im Wohnhaus des Bauern. 18 Damit im Zusammenhang veränderten sich auch die Tischsitten. Im Hallenhaus befand sich der traditionelle Eßplatz im Sommer im Flett (falls es die entsprechende Größe dazu hatte) und im Winter in der Stube des Bauern. Die Bauernfamilie und 35

K A R L O B E R M A N N , Deutschland 1 8 1 5 - 1 8 4 9 , Berlin 1967, S. 57 Vor der Deklarierung der Gewerbefreiheit war nur ganz bestimmten Handwerkern

(Schneidern,

Zimmerleuten, Schreinern, Schmieden und Leinewebern) die Ausübung ihres Berufes auf dem Lande gestattet. 17

H A N S - J O S K A PINTSCHOVIUS, Die „Kleinen Leute" Häuslinge - Handwerker -

Tagelöhner

In. Harburger Jahrbuch, 1973/74, Hamburg-Harburg 1 9 7 5 , S. 1 0 0 f 38

So z. B. auf dem Hof Wernecke in Eversdorf, Kr. Salzwedel. Auf dem Hof Schulz, Nr. 3, in Maxdorf, K r Salzwedel,

dagegen

durch eine Tür von diesem getrennt.

befand

sich die Tagelöhnerwohnung

im Schweinestall,

nur

220

Fischer

das Gesinde saßen an einem Tisch und nahmen das Essen gemeinsam ein. Bei der „neuen" Hausform aßen der Bauer und seine Familienangehörigen entweder in der großen Küche oder in einer der Stuben und das Gesinde, jetzt meist getrennt vom Bauern, in der Gesindestube. Diese Entwicklung zeigte sich zuerst bei den großen Bauern, während bei den kleinen und mittleren Bauern länger an traditionellen Gewohnheiten festgehalten wurde. 39

Haus, Hof und Siedlung in der nordwestlichen Altmark in der Zeit des entwickelten Kapitalismus Im allgemeinen war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Vierseithof mit dem Mitteldeutschen Ernhaus als „Nur-Wohnhaus" voll ausgebildet, besonders bei den großen Bauern. Seine volle Durchsetzung erfolgte allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie die Separationskarten mit Ortslageplänen und die Meßtischblätter dieser Zeit aussagen. Oft wurde noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem bei den wenig Land besitzenden bäuerlichen Schichten, das alte Hallenhaus weiter benutzt und bewohnt. 40 In der Regel wurde als erstes der Hof vergrößert, d. h. die Ställe und Scheunen wurden in entsprechend großzügiger Weise neu gebaut, und erst dann das Hallenhaus durch einen Neubau ersetzt, wenn der Bauer dazu finanziell in der Lage war. D a s geschah auf vielen Höfen erst am Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In vielen Fällen begnügte man sich aber auch mit einem Umbau und einer Umfunktionierung des alten Hallenhauses zum reinen Wohnhaus. Mehrfach wurde auch ein neues Wohnhaus am Dorfplatz bzw. an der Dorfstraße errichtet und das alte, auf dem Hof stehende Hallenhaus sodann als Stall, Holzlager, Rumpelkammer oder Werkstatt genutzt. Meist erhielt jedoch das neue Wohnhaus seinen Platz auf dem Hof unmittelbar dem straßenseitig gelegenen Torhaus gegenüber (Taf. I I b ) . D a s Dorfbild der nordwestlichen, ja der gesamten Altmark wird noch heute von diesen Vierseithöfen geprägt. Während der große Bauer finanziell in der Lage war, das alte Wohnstallhaus niederzureißen und einen Neubau zu errichten, war das in den wenigsten Fällen den kleinen Bauern, Kossäten, Grundsitzern oder gar Tagelöhnern möglich (Taf. 12 a). Diese bewohnten meist nach wie vor das alte Hallenhaus. Grundsitzer, die ab etwa 1820 neu in die Dörfer zogen, bauten jedoch jetzt auch von vornherein Wohnhäuser vom Typ des Mitteldeutschen Ernhauses. Auch Tagelöhnerhäuser, die seit dieser Zeit neu errichtet wurden, erhielten die Form des Mitteldeutschen Hauses. D a s war schon darin begründet, daß diese landarmen und landlosen Schichten kein Großvieh besaßen und Diele und Abseiten (Ställe) von ihnen nicht benötigt wurden. Ein Stall für Kleinvieh und Holz wurde separat hinter den Häusern erbaut. Die Wandlung von Haus und Hof zog nun wiederum zwangsläufig die Veränderung auch der Siedlungsform und des Siedlungsbildes nach sich. Diese Wandlung konnte recht unterschiedlich sein. E s kam dabei nämlich ganz darauf an, ob eine Siedlung im Verlaufe der Zeit, also nach und nach, verändert wurde oder ob ein gewaltsamer Eingriff die 39

O. M E R T E N S ,

Etwas von Knechten zu Nutz und Frommen von Großknechten,

Kleinknechten

und Kuhjungen. In: Altmärkischer Hausfreund, Stendal 1 9 1 1 , derselbe, Etwas von Mädchen . . . In: Altmärkischer Hausfreund, Stendal 1914 ''" Dies geschieht zum Teil sogar noch bis in die Gegenwart hinein.

221

Haus und Hof in der Altmark

Möglichkeit bot, die Siedlungsform in relativ kurzer Zeit, dafür aber um so gründlicher zu verändern. Ein solcher Anlaß bot sich durch die - in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders häufig auftretenden - Großbrände, die ganze Dörfer einäscherten. Schuld daran war hauptsächlich die enge Bebauung in Form des in der nordwestlichen Altmark beheimateten Rundplatzdorfes, auf das bereits eingegangen wurde. Selbstverständlich gab es auch vorher Großbrände, wie viele Quellen belegen. Bezeichnenderweise wurde z. B. das 1770 abgebrannte Dorf Holzhausen, Kr. Salzwedel, wieder in der alten Form als Rundplatzdorf aufgebaut/' 1 In feudaler Zeit entsprach eben diese Siedlungsform den wirtschaftlichen Ansprüchen, selbst noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wistedt, Kr. Salzwedel, aber wurde bereits nach einem Brand um 1800 „auseinandergebaut". Sicher haben in solchen Fällen die preußischen Behörden eingegriffen und auf eine Veränderung der Siedlungsform (nach dem bereits erwähnten Edikt von 1795) bestanden, aber mehr und mehr verlangten vor allem die wirtschaftlichen Belange diese Veränderung. D a s Dorf Ziethnitz, K r . Salzwedel, weist noch auf der Separationskarte von 1849 einen winzigen Dorfplatz auf. Innerhalb von zehn Jahren wurden jedoch bis auf einen

41

J O H A N N F R I E D R I C H D A N N E I L , D i e Altmark von den Wenden angebaut. In: Dreizehnter Jahresbericht

des Altmärkischen Vereins . . ., Salzwedel

1863,

S. 2 1 - 8 2 . Dieser in bezug

seinen Titel veraltete und überholte Beitrag enthält eine Fülle von brauchbarem zur Ortsgeschichte altmärkischer Dörfer.

auf

Faktenmaterial

222

Fischer

Hof (alte N r . 1, neue N r . 7) alle G e h ö f t e weiter in die Grundstücke hineingebaut, so daß wohl die Rundplatzdorfform und auch noch eine enge Bebauung erhalten blieb, die Höfe aber wesentlich vergrößert werden konnten und auch ein größerer Dorfplatz bzw. Platz für Vorgärten entstanden war. Während bei diesem Dorf die alte Siedlungsform im Prinzip erhalten blieb, wurde bei anderen Orten auch diese völlig verändert, wie z. B. nach dem Brand des Dorfes Groß-Bierstedt, Kr. Salzwedel, 1850 (Abb. 96). Dieses vollständig bis auf den Ortseingang geschlossene, typische Rundplatzdorf wurde nach dem Brande nicht wieder an der alten Dorfstelle aufgebaut. Hier verblieben nur einige Gehöfte und die Grundsitzer am ehemaligen Dorfausgang. Die großen Bauern aber verließen die alte Dorfstelle und bauten große Vierseithöfe in lockerem Abstand an der Straße nach Rohrberg/' 2 Diese Wandlung vom Rundplatzdorf zum Straßendorf war geradezu typisch, aber nicht nur für den nordwestlichen Teil der Altmark/' 3 Als Beispiele nannte D A N N E I L : Andorf (seit den Bränden von 1832 und 1835), Brietz (seit 1845), Dülseberg (seit 1852), Klein-Gischau und Henningen (seit 1854), Hestedt (seit 1826), Immekath (seit 1831), Peckensen (seit 1825), Rockenthin und Wallstawe (seit 1854), Groß-Wieblitz (seit 1850) und Klein-Wiebljitz (seit 1837) - um nur einige Orte aus dem damaligen Kr. Salzwedel (heute in den Kreisen Salzwedel und Klötze) zu nennen, die in diesen Jahrzehnten vom Rundplatzdorf zum Straßendorf umgewandelt wurden (Taf 12 b).Vi Merkwürdig ist heute die Gestalt des Ortes Gieseritz, Kr. Salzwedel, dessen Bewohner ihre Höfe nach dem Brand von 1852 weit bis in das E n d e ihrer Gartengrundstücke hinein verlegten und sie vom alten Dorfplatz abkehrten. Das hatte in diesem Fall den Vorteil, daß sie ihre H ö f e großzügiger bauen konnten, wegkamen von der Enge des Dorfplatzes und genügend Raum für H o f - und Scheuneneinfahrten erhielten. Bei etlichen Orten, wie beispielsweise Bornsen, Eversdorf und Hilmsen (alle Kr. Salzwedel), waren es nicht Großbrände, die Anlaß zur Veränderung gaben. Die räumliche Enge zwang einige Bauern, ihre H ö f e nach draußen, aus dem alten D o r f v e r b a n d hinaus, zu verlegen. Dieser Prozeß zog sich bis in das 20. Jahrhundert hinein. Das Tempo wurde wesentlich durch die soziale Stellung und die Finanzkraft der Bauern bestimmt. Einige Orte boten durch das Vorhandensein wüster Hofstellen infolge des Ruins einiger Bauern oder der „Dismembrierung" von Bauernstellen gute Möglichkeiten zur Ansiedlung von G r u n d sitzern. Solche Orte werden noch heute in bedeutendem M a ß e von diesen kleinen Höfen geprägt/' 6 Überarbeiteter Diskussionsbeitrag, unter Einbeziehung der Ergebnisse der Diplomarbeit des Autors; 14. Jahrestagung des AHS, 1973 ''2 Kreisarchiv Salzwedel, Separationskarte, Meßtischblatt Mitte 19. Jahrhundert; Rat des Kreises Salzwedel, Bestandsplan von ca. 1960. 41

D A N N E I L , a. a. O., FRITZ E B R U Y , Das „Reihendorf" Rathsleben - ursprünglich ein „Rundling", Hausarbeit an der Fachschule für Heimatmuseen in Weißenfels, Osterburg 1957, ( M s )

44 45

D A N N E I L , a. a. O. Nach 1850 wurden z. B. in Drebenstedt drei Bauernstellen „dismembriert" Siehe F R I E D R I C H KAYSER,

Chronik

von Drebenstedt und Bornsen, vorgelegt zur 600-Jahrfeier 1975, Bornsen

1975, S. 114, (Ms.)

„Durch die Parzellierung von fünf Acker- und drei Kossatenhöfen sind 1824

bis 1888 schon 52 Grundsitzerstellen entstanden Heimatgeschichte von Wallstawe, o. J. (um 1930), S. 5.

", siehe

(Ohne Verfasser), Bilder aus der

RUDOLF SKODA Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut vor 1850

Die folgenden Ausführungen 1 befassen sich nur mit e i n e m allerdings besonders prägnanten Beispiel von Wohnelend in Berlin. Es zeigt, daß bereits um 1830 der Wohnungsbau in den Bereich der kapitalistischen Warenproduktion eingetreten war. In Berlin veranlaßte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der immer stärker werdende Andrang von armen Menschen den Kammerherrn Baron VON W Ü L K N I T Z zu einer großen Grundstücksspekulation. Er kaufte einen Bauplatz in der Rosenthaler Vorstadt unmittelbar am Hamburger Tor auf der Westseite der Gartenstraße. Auf diesem Gelände ließ er - nach KUNTZE 2 - in den Jahren 1820 bis 1824 5 Häuser errichten, die wenig später unter der Bezeichnung „Wülknitz'sche Familienhäuser" und ab 1831 auch als „Wiesecke'sche Familienhäuser" 3 bekannt wurden. Im Volksmund hießen die Wohnhäuser bald „die Mücken". Da Lagepläne fehlen und die vorhandenen Stadtpläne unzuverlässig sind, konnten die Familienhäuser nicht exakt lokalisiert werden. In den leider unvollständigen Grundstücksakten sind Unterlagen von nur 4 Familienhäusern vorhanden. Nach den Zeichnungen, die mit dem 4. 6. 1822 datiert sind, wurde vermutlich nicht gebaut, da offensichtlich der Grundriß (Vierspänner) für die beabsichtigte massenweise Unterbringung der armen Bevölkerung ungeeignet erschien/' Bei den weiteren Ausführungen werden die Familienhäuser - entsprechend der Auswertung der Grundstücksakte - von 1 bis 4 durchnumeriert. Die Abmessungen der Baukörper sind in der Tabelle 1 zusammengestellt. Die Wülknitz'schen Familienhäuser sind in den Jahren 1881/82 abgerissen worden, das Gelände wurde parzelliert. Einem zeitgenössischen Bericht ist zu entnehmen, daß „an Stelle der 5 baufälligen Baracken, welche in den 61 Jahren ihres Bestehens zum Glück von jedem größeren Brande, der dort hätte namenloses Unglück anrichten können, verschont geblieben sind", jetzt moderne Mietshäuser gebaut werden." 1

Sie sind die verkürzte Fassung eines Abschnittes der Dissertation von R U D O L F S K O D A , Wohnhäuser und Wohnverhältnisse der Stadtarmut, dargestellt insbesondere an der Rosenthaler Vorstadt von Berlin zwischen

1750

und

1 8 5 0 , Diss . Hochchule

für Architektur und

Bauwesen

Weimar, 1 9 6 8 , (Ms.). 2

E. K U N T Z E , Das Jubiläum vom Vogtland, Berlin 1 8 5 5 , S. 18 So benannt

nach dem

späteren Eigentümer H F W I E S E C K E .

In folgendem wird

stets

die

ursprüngliche Bezeichnung „Wülknitz'sche Familienhäuser" gebraucht. 4

Die Annahme wird erhärtet durch den Bericht des Polizeipräsidiums vom 16. 9. 1 8 2 4 , in dem die Abmessungen der damals stehenden Häuser mit 50 X 1 0 0 Zeichnung jedoch nur 50 X

5

Fuß angegeben sind, die auf o

70 Fuß betragen.

Illustrierte Berliner Wochenschrift „Der Bär", Nr

21. Berlin 1 8 8 2 , S. 286.

g.

RUDOLF SKODA Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut vor 1850

Die folgenden Ausführungen 1 befassen sich nur mit e i n e m allerdings besonders prägnanten Beispiel von Wohnelend in Berlin. Es zeigt, daß bereits um 1830 der Wohnungsbau in den Bereich der kapitalistischen Warenproduktion eingetreten war. In Berlin veranlaßte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der immer stärker werdende Andrang von armen Menschen den Kammerherrn Baron VON W Ü L K N I T Z zu einer großen Grundstücksspekulation. Er kaufte einen Bauplatz in der Rosenthaler Vorstadt unmittelbar am Hamburger Tor auf der Westseite der Gartenstraße. Auf diesem Gelände ließ er - nach KUNTZE 2 - in den Jahren 1820 bis 1824 5 Häuser errichten, die wenig später unter der Bezeichnung „Wülknitz'sche Familienhäuser" und ab 1831 auch als „Wiesecke'sche Familienhäuser" 3 bekannt wurden. Im Volksmund hießen die Wohnhäuser bald „die Mücken". Da Lagepläne fehlen und die vorhandenen Stadtpläne unzuverlässig sind, konnten die Familienhäuser nicht exakt lokalisiert werden. In den leider unvollständigen Grundstücksakten sind Unterlagen von nur 4 Familienhäusern vorhanden. Nach den Zeichnungen, die mit dem 4. 6. 1822 datiert sind, wurde vermutlich nicht gebaut, da offensichtlich der Grundriß (Vierspänner) für die beabsichtigte massenweise Unterbringung der armen Bevölkerung ungeeignet erschien/' Bei den weiteren Ausführungen werden die Familienhäuser - entsprechend der Auswertung der Grundstücksakte - von 1 bis 4 durchnumeriert. Die Abmessungen der Baukörper sind in der Tabelle 1 zusammengestellt. Die Wülknitz'schen Familienhäuser sind in den Jahren 1881/82 abgerissen worden, das Gelände wurde parzelliert. Einem zeitgenössischen Bericht ist zu entnehmen, daß „an Stelle der 5 baufälligen Baracken, welche in den 61 Jahren ihres Bestehens zum Glück von jedem größeren Brande, der dort hätte namenloses Unglück anrichten können, verschont geblieben sind", jetzt moderne Mietshäuser gebaut werden." 1

Sie sind die verkürzte Fassung eines Abschnittes der Dissertation von R U D O L F S K O D A , Wohnhäuser und Wohnverhältnisse der Stadtarmut, dargestellt insbesondere an der Rosenthaler Vorstadt von Berlin zwischen

1750

und

1 8 5 0 , Diss . Hochchule

für Architektur und

Bauwesen

Weimar, 1 9 6 8 , (Ms.). 2

E. K U N T Z E , Das Jubiläum vom Vogtland, Berlin 1 8 5 5 , S. 18 So benannt

nach dem

späteren Eigentümer H F W I E S E C K E .

In folgendem wird

stets

die

ursprüngliche Bezeichnung „Wülknitz'sche Familienhäuser" gebraucht. 4

Die Annahme wird erhärtet durch den Bericht des Polizeipräsidiums vom 16. 9. 1 8 2 4 , in dem die Abmessungen der damals stehenden Häuser mit 50 X 1 0 0 Zeichnung jedoch nur 50 X

5

Fuß angegeben sind, die auf o

70 Fuß betragen.

Illustrierte Berliner Wochenschrift „Der Bär", Nr

21. Berlin 1 8 8 2 , S. 286.

g.

Skoda

224

Tabelle Abmessungen Gebäude

Fuß 1. Famihenhaus

_ 1822 (?)

Familtenhäuser"

Breite

Baujahr

2. Familienhaus

1

der 4 „Wülknitz'sehen

in Berlin

Tiefe (m)

Geschosse

Fuß

(m)

70

(21,99)

50

(15,70)

6 (K, E, 1, 2, M, D)

100

(31,40)

50

(15,70)

6 (S, E, 1, M, D, D)

3. Familienhaus

1822 (?)

100

(31,40)

50

(15,70)

5 (6) (S, E, 1, M, D)

4. Famihenhaus

1823 (?)

100

(31,40)

50

(15,70)

4 IS, E,

(K =

Keller, E =

Erdgeschoß, 1 = D =

1. Obergeschoß, 2 = Dachgeschoß, S =

2. Obergeschoß, M =

1, M)

Mansardengeschoß,

Souterrain)

Was die gesamte Rosenthaler Vorstadt hinsichtlich der Zusammenbellung der Berliner Stadtarmut darstellt, das waren die Wülknitz'schen Familienhäuser für die Rosenthaler Vorstadt: eine Agglomeration der Ärmsten der Armen, deren zum Teil unmenschliche Wohnverhältnisse kaum noch zu unterbieten waren. E s wundert daher nicht, daß sämtliche zeitgenössischen und späteren Veröffentlichungen - soweit sie überhaupt das Wohnungswesen der Stadtarmut tangieren - diese Häuser erwähnten. Diese Hinweise in Verbindung mit den Angaben aus den bisher noch nicht bearbeiteten Grundstücksakten sollen nun analysiert werden. Während das Raumgefüge im 2., 3. und 4. Familienhaus nur wenige Unterschiede zeigt, weicht das 1. - vermutlich nicht gebaute - erheblich von den vorgenannten ab. Bei diesem Familienhaus war die rechteckige Grundrißform wie folgt aufgeteilt: in der Mitte, quer zum Gebäude, der Flur mit der einläufigen, geraden Treppe; zu beiden Seiten des Flures je zwei Wohnungen, bestehend aus zwei Stuben, einer fensterlosen Kammer und einer kleinen Küche (2,7 m 2 ); neben der Küche ein kleiner Abstellraum; der Flur war auf der der Treppe entgegengesetzten Seite nochmals abgeteilt; das ergab im Erdgeschoß den Windfang, in den übrigen Geschossen je eine kleine Kammer; gleiches Raumgefüge in sämtlichen Geschossen, d. h. es waren insgesamt 24 Wohnungen geplant. Einem ganz anderen Grundrißtypus gehörten die 3 gebauten Familienhäuser an, von denen Unterlagen vorhanden sind. Hier gab es folgendes Raumgefüge: D i e rechteckigen Grundrisse besaßen je einen Mittelgang, zu dessen Seiten sich einzelne Stuben aneinanderreihten - jede vom Gang aus erschlossen, keine untereinander verbunden. Auf einer Seite erweiterte sich der Gang - etwa in der Mitte - bis zur Außenwand. Hier war die einläufige gerade Treppe angeordnet, neben der im 3. und 4. Familienhaus in jeder Etage - mit Ausnahme der Dachgeschosse - eine Etagenküche lag (Abb. 97 a und 97 b). Im 2. Familienhaus läßt sich eine solche Küche nicht nachweisen - eine Feststellung, die wegen der Unvollständigkeit der vorhandenen Unterlagen ihr Vorhandensein nicht ausschließen muß. In sämtlichen Geschossen war die gleiche Raumaufteilung, mit Ausnahme des Mansarden- und des Dachgeschosses im 3. Familienhaus. Während man beim Mansardengeschoß die Stuben an einem Giebel durch Einziehen von 2 Trennwänden in je eine kleine Stube (11,8 m 2 ) und eine kleine Kammer (11,8 m 2 ) geteilt hatte, war im Dachgeschoß durch Einziehen von Trennwänden die doppelte Anzahl von Kammern geschaffen worden. Was die Raumgrößen anbetrifft, so muß hinsichtlich der Beurteilung der Flächen da-

Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut

225

SOUTERRAIN!

Abb. 91 a . Erd- und Keller gescboßgrundriß Berlin,

Gartenstraße

92 b, (1882

des 4. „Wülknitz'schen abgerissen),

ST =

Familtenhauses",

Stube, EK =

erbaut

1820124,

Etagenküche.

von ausgegangen werden, daß es sich nur beim 1. Familienhaus um Wohnungen, bei den übrigen 3 Wohnhäusern jedoch lediglich um Einzelräume handelte. Die folgende Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die Raumgrößen in den Familienhäusern. Die Übersicht zeigt, daß die Raumgrößen in den einzelnen Familienhäusern relativ geringe Unterschiede aufwiesen. Auf Grund der unterschiedlichen Dicke der Umfassungs- und Innenwände waren die Räume jeweils im 1. Obergeschoß am größten. Auch die Geschoßhöhen zeigten nur geringe Unterschiede. Die Mehrzahl der Normalgeschosse wies eine Höhe von 9 Va Fuß 15

B a u e n und W o h n e n

226

Skoda

1. OE.ER5E.SCHOSS Abb. 97 b Ober- und Dachgeschoßgrundriß des 4. „Wülknitz'schen Familienhauses", erbaut 24, Berlin Gartenstraße 92 b, (1882 abgerissen), ST = Stube, EK = Etagenküche.

1820/

(2,98 m) auf, während Souterrain, K e l l e r - und Dachgeschosse 1 bis 2 F u ß niedriger angelegt waren. D a m i t unterschieden sich die Fatnilienhäuser in dieser Hinsicht nicht von den Vordergebäuden der Rosenthaler Vorstadt. D i e 4 untersuchten Familienhäuser zeigten hinsichtlich der Umfassungswände einen unterschiedlichen Aufbau. Souterrain, K e l l e r - und Erdgeschoß waren massiv in Ziegelbauweise errichtet. I m 1. Obergeschoß hatte man jeweils die Holzfachwerkwände mit Ziegeln verkleidet, während die darüberliegenden Dachgeschosse sämtlich Holzfachwerkwände mit Strohlehmfachung besaßen.

Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut Tabelle Raumgrößen

Stube

1. Familienhaus

2. Familienhaus

3. Familienhaus

Küche

Geschoßhöhe

m2

Fuß

(m)

17,0

2,4"

8

(2,51)

19,4

11,0

2,7"

10

(3,14)

1

19,4

11,0/6,2

2,7"

11

2

19,4

11,0/7,0

2,7"

9 6"

(2,98)

M

17,6

11,2/5,5

2,7"

9 6"

(2,98)

D

14,0

11,2/3,8

2,7"

8

(2,51)

S

21,5/20,8

_

_

8 6"

(2,67)

E

-

-

9 6"

(2,98)

1

22,0 22,8

-

-

9 6"

(2,98)

M

22,0

-

-

(2,98)

D

16,4

-

-

9 6" 8 6"

D

9,2

-

-

7 6"

(2,35)

S E

16,4/21,0

_

26,Oy

8 6"

(2,67)

21,5

-

26,5y

9

(2,98)

1

22,0

-

27,Oy

9 6"

(2,98)

11,8

29,Oy

9 b"

(2,98)

-

8 6"

(2,67)

11,0/23,5 8,3^

9,2/5,5

in Berlin

E

D

haus

Kammer m2

Familienhäusern"

K

M

4. Famihen-

1

in den 4 „Wülknitz'sehen

m2

227

8,3/12,5z

(3,45)

6"

(2,67)

S

19,8/21,8

_

23,5

8 6"

(2,67)

E

21,5/22,2

-

24,0

10 6"

(3,30)

1

22,4/22,6

-

25,3

9 6"

(2,98)

M

22,2/23,4

-

25,3

9 6"

(2,98)

22,6/22,8 * abgeschlossene Kochstelle; y Annahme, daß dieser Raum als gemeinschaftlich genutzte Etagenküche diente;

z

nicht nachweisbar, ob Stuben oder Kammern. Vermutlich Kammern, da im Grundriß keine

Öfen eingetragen sind.

Die Mansarddächer der Familienhäuser waren stets als Kehlbalkendächer mit vierfach stehendem Stuhl oder liegendem Stuhl ausgebildet. Sämtliche Familienhäuser besassen eine Ziegeldeckung. Die Innenwände waren - soweit es sich um die Längswände handelte - konstruktiv tragende Bauteile und in den unteren Geschossen (K, S, E ) massiv ausgebildet. In den übrigen Geschossen waren die Längs- und die Querwände vornehmlich als Holzfachwerkkonstruktion ausgeführt worden. Im unmittelbaren Bereich der Schornsteine wurde die Holzkonstruktion stets durch massive Wandteile ersetzt oder - wie beim 3. Familienhaus - durch Ziegelwände ergänzt. D a ß bei diesen relativ großen Wohngebäuden vornehmlich Holz verbaut wurde, dürfte eine M a ß n a h m e gewesen sein, Kosten einzusparen. Dabei wurden auch hier feuerpolizeiliche Forderungen ignoriert, denn die Treppenhauswände waren weder bei dem 2. noch bei dem 3. Familienhaus massiv ausgeführt worden. Die zeichnerischen Unterlagen vom 4. Familienhaus zeigen wenigstens eine Treppenhauslängswand - nämlich die, an der 15*

228

Skoda

die einläufige gerade Treppe liegt - in Ziegelbauweise. Bei dem 1. Familienhaus waren sämtliche Treppenhauswände massiv geplant. Sämtliche Geschoßdecken - also auch die über Keller oder Souterrain - bestanden aus Holzbalken mit Strohlehmstakung. Die Deckenbalken überspannten das Gebäude stets quer, d. h. von Traufseite zu Trauf seite. Ob als Wand- und Deckenputz, wie bei den meisten Häusern der Rosenthaler Vorstadt, Kalkmörtel (als Putzträger Berührung und Schalung) verwandt wurde, ist zwar für den größten Teil der Flächen anzunehmen, aber nicht nachzuweisen. Ein Hinweis existiert jedoch auf die Decken des Souterrains im 3. Familienhaus. Diese waren „nicht geschalt und geröhrt, sondern mit Lehmstroh angefertigt und überweißt" '' Als Fußbodenbelag hatte man auch bei den Wülkmtz'schcn Familienhäusern Holzdielen verwendet, wie aus einem Gutachten aus dem Jahre 1823 hervorgeht. 7 In jedem Familienhaus gab es eine einläufige gerade Holztreppe. Also auch hier wurde die konstruktiv einfachste Form gewählt, obwohl man aus Gründen der Raumeinsparung zu dieser Zeit (1822/23) bereits bei anderen Wohnhäusern der Rosenthaler Vorstadt oft zweiläufige und zum Teil gewendelte Treppen eingebaut hatte. Die Laufbreite der Treppen betrug zwischen 1 000 und 1 100 mm. Wie bei den anderen Wohnhäusern der Rosenthaler Vorstadt lassen die vorhandenen zeichnerischen Unterlagen eine exakte Ermittlung des Steigungsverhältnisses nicht zu. Weder in den Grundstücksakten noch in den wenigen Veröffentlichungen, welche die Wülknitz'schen Familienhäuser erwähnen, sind exakte Angaben über die architektonische Gestaltung zu finden. Sicher ist, daß sich die Familienhäuser auf Grund ihrer Abmessungen von den übrigen Wohnbauten der Rosenthaler Vorstadt stark abgehoben haben. Die vom Verfasser durchgeführten zeichnerischen Rekonstruktionsversuche (Abb. 98) zeigen, daß es sich bei den Wülknitz'schen Familienhäusern um Gebäude handelt, deren Fassaden durch besondere Einfachheit und Schmucklosigkeit gekennzeichnet sind. Diese Annahme wird unterstützt durch eine Bemerkung aus dem Jahre 1882 - dem Jahr des Abbruches der Häuser - , in der von „5 baufälligen Baracken" die Rede ist. 8 An der lieblosen Kasernenarchitektur ist also leicht erkennbar, daß diese Häuser zum reinen Spekulationsgegenstand geworden waren. Die Hinweise auf den baulichen Zustand der Wülknitz'schen Familienhäuser sind dürftig und lassen eine exakte Einschätzung nicht zu. Ohne Zweifel wird sich das bei dem Bau der Wülknitz'schen Familienhäuser verwandte minderwertige Material in starkem Maße auf den baulichen Zustand ausgewirkt haben. Auf die Baustoffe wies auch G U T hin, der „von Häusern aus schlechten Steinen und schlechtem Holz mit Lehmstaken" berichtet. 9 Auch die im Folgenden näher untersuchte Überbelegung der Räume wird sich negativ auf den baulichen Zustand der Familienhäuser ausgewirkt haben. Für eine Analyse der Wohnverhältnisse der Wülknitz'schen Familienhäuser ist die Quellenlage relativ günstig. Die Wohnverhältnisse in den Familienhäusern müssen von Anfang an schlecht und zeitweilig sogar katastrophal gewesen sein. So wurde das Souterrain des 3. Familienhauses bereits vermietet, obgleich das Gebäude noch im Bau war - man arbeitete noch am Stadtarchiv Berlin, Grundstücksakte Rep. 2 2 6 2 5 , Anmerkung zur Anzeige vom 3 7. 1 8 2 3 7

Ebenda, Gutachten vom 2 5 7. 1 8 2 3 .

8

„Der Bär", N r 21, Berlin 1 8 8 2 , S 2 8 6 .

9

A. G U T , Das Berliner Wohnhaus, Beiträge zu seiner Entwicklung in der Zeit der landesfürstlichen Bautätigkeit, Berlin 1 9 1 7 , Sp. 1 5 8 .

Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut

229

230

Skoda

ersten Obergeschoß. Das Ergebnis einer durch eine Anzeige erwirkten Besichtigung der Baustelle hielt man in einem Vermerk fest, in dem es u. a. heißt: „In dem noch unvollendeten von Wülknitz'schen Gebäude wohnen in der That in den Kellern [gemeint ist das Souterrain] schon eine bedeutende Anzahl von Familien. - Die Kellerdecke ist auch jetzt so naß, daß das Wasser herabtropft, wenn die Fenster nachts zugehalten werden." 10 Es war für die Rosenthaler Vorstadt ein durchaus ungewöhnlicher Vorfall, daß die Behörden veranlaßt wurden, sich an Ort und Stelle von den Verhältnissen zu informieren. In dem obengenannten Vermerk wies man weiter auf die eventuellen Folgen des frühen Einzuges in die Wohnungen wie folgt hin: „Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß diese W . vor dem Austrocknen der Decken nicht hätten beziehen werden müssen und daß dieselben sich für die Gesundheit der Bewohner sehr nachtheilig auswirken müssen, umso mehr, da die Öfen in den weißen Gemächern wegen der noch unvollendeten Schornsteine ganz unerträglich rauchen, wodurch außer dem Wasserdunst, auch noch Rauch in den Wohnungen vorhanden ist." Hieraus ist zu erkennen, daß nicht etwa der Einzug in ein Wohnhaus während der Bauzeit, sondern lediglich der Umstand, daß die Decke unmittelbar über dem bewohnten Geschoß noch zu feucht war, Anlaß für die am 9 . 7 . 1823 erlassene Verfügung, daß die Zimmer innerhalb von 24 Stunden zu räumen seien, bot. Sicher stützte man sich dabei auf Überlegungen, die dann 1853 in der neuen Bauordnung - welche die aus dem Jahre 1641 ablöste - wie folgt formuliert wurden: „Wohnungen in neuen Häusern oder in neu erbauten Stockwerken dürfen erst nach Ablauf von 9 Monaten nach Vollendung des Rohbaues bezogen werden." 11 Das Eingreifen der Behörden hatte, wie sich sehr schnell herausstellte, mehr formalen Charakter und richtete sich letzten Endes gegen die Mieter selbst. Denn diese waren, wie aus einem Schreiben des vom Baron V O N W Ü L K N I T Z eingesetzten Verwalters hervorgeht, mit der Begründung in ihren Stuben geblieben, daß sie schließlich bereits Miete gezahlt hätten. Dieses Verhalten unterstreicht das Elend dieser dort wohnenden 140 Personen. Die ihnen nunmehr als Schlafstellen angewiesenen Remisen, Holzställe und Böden in nicht näher bezeichneten Hintergebäuden blieben leer. Die Menschen waren jedoch so vorsichtig und hatten - um nach außen der Verfügung zu entsprechen - tagsüber das Souterrain verlassen. Von besonderer Bedeutung ist ferner die Tatsache, daß von Anfang an die Räume in dem noch im Bau befindlichen Haus überbelegt worden waren, wie dem Schreiben eines sogenannten Gesundheitsbeamten an die Armendirektion zu entnehmen ist. 12 Darin wird u. a. erwähnt, daß auf Grund der hohen Miete oft mehrere Familien in einer Stube wohnen mußten. Man war sich dabei durchaus der gesundheitlichen Gefahren bewußt, die eine solche Menschensammlung auf kleinstem Räume (16,4m 2 !) implizierte; denn obgleich die Menschen erst einige Tage in den noch feuchten Räumen hausten, mußten bereits mehrere kranke Personen besucht werden, und die Anzahl der Kranken vergrößerte sich „mit jedem Tage". 1:1 Auch der damalige Armenarzt Dr. M E Y E R äußerte Bedenken, indem er in einem Schreiben feststellte, „daß zu befürchten steht, das eine bösartige Krankheit ausbricht",1'* da inzwischen sogar neue Mieter eingezogen waren. 10

Stadtarchiv Berlin, Grundstücksakte Rep. 2 2 6 2 5 , Anzeige vom 3. 7. 1 8 2 3 .

11

J. A L B U , Die öffentliche Gesundheitspflege in Berlin, Berlin 1 8 7 7 , S. 2 0 1 .

13

Stadtarchiv Berlin, Grundstücksakte Rep. 2 2 6 2 5 , Schreiben vom 1 1 . 7. 1823.

13

Ebenda.

''' Ebenda, Schreiben vom Juli 1 8 2 3 (ohne exakte Datumsangabe).

Wohnverhältnisse der Berliner Stadtarmut

231

D a s einzige „Ergebnis" des Schriftwechsels der Behörden in dieser Angelegenheit war, daß Zeit verstrich und damit das Souterrain tatsächlich inzwischen fast austrocknete. Schon ein Blick auf das Grundrißgefüge der Wülknitz'schen Familienhäuser überzeugt den Betrachter von der Primitivität der Wohnverhältnisse. E s handelte sich bei den 3 Familienhäusern nicht um Wohnungen, sondern lediglich um eine Aneinanderreihung von Einzelräumen, die eine Trennung der Wohnfunktionen ausschlössen. Die Gesamtzahl der in den Wülknitz'schen Familienhäusern untergebrachten Menschen wird in der Literatur unterschiedlich hoch angegeben, was nicht unbedingt auf fehlerhafte Angaben, sondern auf Zählungen oder eventuell nur auf Schätzungen zu verschiedenen Zeitpunkten zurückzuführen ist. Während R E I C H 1 5 für die dreißiger Jahre „2 300 Seelen" nennt, erwähnt D R O N K E 1 6 2 500 Menschen ohne die Angabe einer Jahreszahl. Nach einer Berliner Wochenschrift wohnten am 24. 4.1827 „in diesen Häusern 496 Familien mit 2 197 Seelen, bald darauf sogar 2 300 Seelen". 17 B E T T I N A V O N A R N I M erwähnte 2 500 Menschen, die vermutlich Anfang der vierziger Jahre in den Häusern lebten, 18 und B E T A weiß von „beinahe dreitausend Bewohnern" etwa um 1845 zu berichten.19 Nach D R O N K E 3 0 soll es etwa 400 „Gemächer" in den Familienhäusern gegeben haben. D a s ist ein Anhaltspunkt, um ungefähr die durchschnittliche Anzahl der Bewohner eines Raumes zu ermitteln. Danach kämen bei 2 300 Bewohnern 5,8 Personen auf einen Raum, bei 2 500 Bewohnern 6,2 Personen auf einen Raum und bei 3 000 Bewohnern 7,5 Personen auf einen Raum. Nachteilig auf die Wohnverhältnisse hat sich zweifellos auch die Tatsache ausgewirkt, daß etliche Bewohner, vor allem die Weber, ihren Beruf in den Stuben ausübten, wodurch sich die ohnehin geringe Wohnfläche auch noch um die Standfläche für den Webstuhl verringerte. Aus den Niederschriften der Besuche B E T T I N A V O N A R N I M s ist zu ersehen, daß ein großer Teil der männlichen Bewohner von Beruf Weber war, der seine Arbeit in den Stuben ausführte. In 5 Fällen wurde das Vorhandensein von Webstühlen direkt erwähnt. Unter anderem wird besonders darauf hingewiesen, daß die Stube nicht nur zum Schlafen und als Küche, sondern auch zum Erwerb dient. 21 In einigen Stuben hausten meist mehr als eine Familie, die sich den Raum durch gespannte Seile oder auch nur durch auf den Fußboden gezogene Kreidestriche aufgeteilt hatten. Dafür gibt es in der Literatur mehrere Angaben. B E T T I N A V O N A R N I M erwähnte in diesem Zusammenhang: „Kreuzweise wird durch die Stube ein Seil gespannt, in jeder Ecke haust eine Familie, wo die Seile sich kreuzen, steht ein Bett für den noch Ärmeren, den sie gemeinschaftlich pflegen." 22 Hieraus kann entnommen wer15

16 17 18

1S 20 21 22

E. REICH, Der Wohnungsmarkt in Berlin von 1840 bis 1910. In Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, München-Leipzig 1912, 164, S. 80. E. D R O N K E , Berlin, Bd. 1, Frankfurt/M. 1846, S. 44 „Der Bär", Nr 21, Berlin 1882, S. 286. B. V O N ARNIM, Dies Buch gehört dem König. In Gesammelte Werke, Bd. 6, Berlin 1843, S. 456. H. B E T A , Physiologie Berlins, Berlin 1846, 1, S. 54 D R O N K E , S. 44. V O N ARNIM, a. a. O , S. 456. Ebenda, S. 454.

232

Skoda

den, d a ß 4 Familien in einer Stube leben mußten! W O L L H E I M berichtete von „meist 2 oder 3 Familien, die sich mit einem gemeinschaftlichen Zimmer nebst Küche behalfen". 2 ' 1 Bei der hier erwähnten Küche kann es sich nur um eine der gemeinsam benutzten Etagenküchen gehandelt haben. Nach D R O N K E „wohnten in vielen solcher Stuben zwei Familien beisammen". 2 '' Auch er erwähnte ein quer durch die Stube gezogenes Seil, welches die beiden „Inwohner" trennte. Die erwähnten Angaben der zeitgenössischen Literatur zusammenfassend, schrieb im Jahre 1912 R E I C H von den Wülknitz'schen Familienhäusern: „Die Besetzung war immer eine außerordentlich große, manchmal teilten sich zwei, drei auch vier Familien in eine Stube, die sie durch einen Kreidestrich teilten." 25 Auch die relativ niedrigen Mieten waren von der Mehrzahl der Bewohner nur unter großen Opfern aufzubringen. Wenn BAAR von in diesen Häusern lebenden Arbeiterfamilien berichtete, „die ein Gesamteinkommen von 6 Vi Talern im Monat hatten, wobei Frau und Kinder mitarbeiteten", 3 6 so betraf das ohne Zweifel den glücklich zu nennenden Teil der Bewohner, selbst wenn man bedenkt, d a ß dabei - die Miete abgezogen - lediglich 3 V2 Taler für Kartoffeln und 1 Taler für alle anderen Nahrungsbedürfnisse sowie für Holz zum Heizen und Kochen übrigblieben. Das genannte Einkommen täuscht insofern über die wirkliche Situation in den Wülknitz'schen Familienhäusern hinweg, als den Bewohnern in den meisten Fällen keine festen Einnahmen zur Verfügung standen, da Krankheit und Arbeitslosigkeit fast alle Menschen heimsuchten. Auch von medizinischer Seite aus machte man auf die gefährliche Situation in den Wülknitz'schen Familienhäusern aufmerksam. Die Bedenken eines Armenarztes hinsichtlich des Wohnens in dem feuchten, noch nicht fertig gebauten Familienhaus sind schon erwähnt worden. Im Jahre 1828 faßte man eine vom damaligen Armenarzt D r T H Ü M M E L ausgearbeitete Schrift zunächst lediglich als einen Vorwurf gegen die Polizeibehörden auf, versuchte aber dann, dem bestehenden IJbelstand wenigstens zum Teil abzuhelfen. So sollte künftig nur noch eine Familie in einem Raum wohnen dürfen - eine Verordnung, die man auf Grund der bestehenden Notlage vieler Bewohner nicht immer einhalten konnte; denn noch im Jahre 1855 waren zwei Familien in einer Stube keine Seltenheit. Hierbei erkennt man die besondere Tragik im Schicksal dieser Menschen: Ihre Not war zu groß, als d a ß sie Nutznießer der wenigen, an sich zur Erleichterung ihres Lebens erlassenen Anordnungen werden konnten. Die Anfang der dreißiger Jahre in den Wülknitz'schen Familienhäusern im Zusammenhang mit der Cholera-Epidemie entstandene Lage war zu einer Gefahr für die gesamte Berliner Bevölkerung geworden. Sie veranlaßte die Obrigkeit, die sich nunmehr selbst bedroht sah, sich mit den Wohnverhältnissen der Stadtarmut etwas intensiver als bisher zu beschäftigen und damit wenigstens die extremsten Fälle des von ihr produzierten Wohnungselends zu beseitigen oder zumindest in ihren Auswirkungen zu mildern. 16. Jahrestagung des AHS, 1975 23

H W O L L H E I M , Versuch einer medicinischen T o p o g r a p h i e und Statistik von Berlin, Berlin

1844,

S. 1 6 4 2

'' D R O N K E , S 4 4 .

2:

> R E I C H , a. a O , S. 8 0

2(i

L. B A A R ,

Die

Entwicklung der Berliner Industrie in der Periode der

Diss., Berlin 1960, S. 4 9 0

industriellen

Revolution,

JOACHIM SCHULZ Zum E i n f l u ß der deutschen A r b e i t e r b e w e g u n g auf d i e E n t w i c k l u n g des W o h n u n g s w e s e n s und S t ä d t e b a u s im 19. und 2 0 . J a h r h u n d e r t

Diese Studie beruht auf einer Quellensammlung, 1 mit der eine umfassendere Beurteilung auch des sozialen Wohnungsbaus aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ermöglicht werden sollte (Taf. 15). Dabei kam es besonders darauf an, die revolutionäre Linie in der Wohnungspolitik der deutschen Arbeiterbewegung von den opportunistischen Strömungen, aber auch gegenüber den Prinzipien der bürgerlichen Wohnungsreformer abzugrenzen (Abb. 100 a und 100 b). Hierzu w a r es erforderlich, die speziellen theoretischen Hinweise der Klassiker des Marxismus-Leninismus zu sozialpolitischen Problemen zu beachten und sie auch der Beurteilung jener Ansätze der Wohnungspolitik der Arbeiterbewegung zugrunde zu legen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland herauskristallisierten. Deshalb mußte die Untersuchung zeitlich bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts ausgedehnt und gleichzeitig auch um internationale Beispiele und Vorbilder erweitert werden; denn in diesem Jahrzehnt erschienen nicht nur von F O U R I E R und O W E N die letzten großen Projekte der utopischen Sozialisten (Abb. 99), sondern damals begannen auch E N G E L S und M A R X mit der konkreten Beschreibung der Lage des Proletariats, mit der Darstellung seiner Hoffnungen und Kämpfe. 2,ur Wohnungspolitik

der deutschen

Arbeiterbewegung

Als M A R X und E N G E L S in ihrer mehr zur Selbstverständigung verfaßten Arbeit „Die deutsche Ideologie" in den Jahren 1845 bis 1847 einen wichtigen Schritt von der Feuerbachschen Auflösung der Hegeischen Spekulation zu einer wirklich dialektischmaterialistischen Geschichtsauffassung vollzogen, äußerten sie sich über die elementarsten Existenzbedingungen der Menschen wie folgt: „Wir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen, d a ß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Voraussetzung, d a ß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um .Geschichte machen' zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere." 2 Für die Bestimmung des Stellenwertes der Wohnungspolitik innerhalb der Gesamtpolitik der Arbeiterbewegung kommt es bereits bei diesem frühen Zitat auf den Rang der elemen1

Grundlage

dieser Studie aus dem

Jahre 1 9 7 5

war eine

Forschungsarbeit

des Verfassers

seit

1 9 7 1 zum Thema „Dokumente und Materialien der deutschen Arbeiterbewegung zum Wohnungswesen und Städtebau - 1900/1933", (Ms.), die K U R T J U N G H A N N S angeregt hat, verwendet wurden auch Materialien von ERNST G R Ü N E R , Halle. 2

K A R L MARX/FRIEDRICH ENGELS, Die deutsche Ideologie. In: M E W , Bd. 3, Berlin 1 9 5 9 , S. 28

JOACHIM SCHULZ Zum E i n f l u ß der deutschen A r b e i t e r b e w e g u n g auf d i e E n t w i c k l u n g des W o h n u n g s w e s e n s und S t ä d t e b a u s im 19. und 2 0 . J a h r h u n d e r t

Diese Studie beruht auf einer Quellensammlung, 1 mit der eine umfassendere Beurteilung auch des sozialen Wohnungsbaus aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ermöglicht werden sollte (Taf. 15). Dabei kam es besonders darauf an, die revolutionäre Linie in der Wohnungspolitik der deutschen Arbeiterbewegung von den opportunistischen Strömungen, aber auch gegenüber den Prinzipien der bürgerlichen Wohnungsreformer abzugrenzen (Abb. 100 a und 100 b). Hierzu w a r es erforderlich, die speziellen theoretischen Hinweise der Klassiker des Marxismus-Leninismus zu sozialpolitischen Problemen zu beachten und sie auch der Beurteilung jener Ansätze der Wohnungspolitik der Arbeiterbewegung zugrunde zu legen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland herauskristallisierten. Deshalb mußte die Untersuchung zeitlich bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts ausgedehnt und gleichzeitig auch um internationale Beispiele und Vorbilder erweitert werden; denn in diesem Jahrzehnt erschienen nicht nur von F O U R I E R und O W E N die letzten großen Projekte der utopischen Sozialisten (Abb. 99), sondern damals begannen auch E N G E L S und M A R X mit der konkreten Beschreibung der Lage des Proletariats, mit der Darstellung seiner Hoffnungen und Kämpfe. 2,ur Wohnungspolitik

der deutschen

Arbeiterbewegung

Als M A R X und E N G E L S in ihrer mehr zur Selbstverständigung verfaßten Arbeit „Die deutsche Ideologie" in den Jahren 1845 bis 1847 einen wichtigen Schritt von der Feuerbachschen Auflösung der Hegeischen Spekulation zu einer wirklich dialektischmaterialistischen Geschichtsauffassung vollzogen, äußerten sie sich über die elementarsten Existenzbedingungen der Menschen wie folgt: „Wir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen, d a ß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Voraussetzung, d a ß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um .Geschichte machen' zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere." 2 Für die Bestimmung des Stellenwertes der Wohnungspolitik innerhalb der Gesamtpolitik der Arbeiterbewegung kommt es bereits bei diesem frühen Zitat auf den Rang der elemen1

Grundlage

dieser Studie aus dem

Jahre 1 9 7 5

war eine

Forschungsarbeit

des Verfassers

seit

1 9 7 1 zum Thema „Dokumente und Materialien der deutschen Arbeiterbewegung zum Wohnungswesen und Städtebau - 1900/1933", (Ms.), die K U R T J U N G H A N N S angeregt hat, verwendet wurden auch Materialien von ERNST G R Ü N E R , Halle. 2

K A R L MARX/FRIEDRICH ENGELS, Die deutsche Ideologie. In: M E W , Bd. 3, Berlin 1 9 5 9 , S. 28

234

Schub

Abb. 99 Besiedlungsplan der sich selbst versorgenden Wohnsiedlungen des utopischen Sozialisten ROBERT OWEN in England, 1817. In den Hauptgebäuden vergesellschaftete Haushaltsfunktionen: Kindererziehung, Speisung, Heizung, Reinigung, Schulen n. a.; Grundlage für ein umfassenderes Projekt, die Idealstadt „New Harmony", des Architekten T. STEDMAN WHITWELL von 1825, das 1841 durch OWEN publiziert wurde. tarsten Bedürfnisse a n : Nach dem „Essen und Trinken" erst steht die Frage der „Wohnung und Kleidung". Auch in den spontanen 6 Forderungen der Fabrikarbeiter in und um Magdeburg vom 31. März 1848 - während der bürgerlich-demokratischen Revolution - standen die Verkürzung der Arbeitszeit auf 12 Stunden und die Steigerung des Lohnes, um dadurch den gesamten Lebensunterhalt, so auch die Miete besser bestreiten zu können, an erster Stelle. 3 In den Forderungen der kleinbürgerlichen Demokraten vom 18. April des gleichen Jahres, mit denen die Forderungen der Arbeiter entschärft werden sollten, erschien dagegen die Wohnungsfrage an erster Stelle, wurden Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung erst unter Punkt 6 und 7 behandelt. 4 In dieser Unterschiedlichkeit des Ranges bestimmter elementarer sozialpolitischer Forderungen unterschieden sich die Ziele bürgerlicher Sozialreformer von den Auffassungen der Arbeiter, die sich in dieser Zeit weder auf eine eigene Arbeitsorganisation noch auf eine ausgereifte Theorie des Klassenkampfes stützen konnten. Den Arbeitern wurde der Stellenwert der Wohnungsfrage in ihren täglichen Kämpfen stets neu diktiert, und so hielt sich auch B E B E L in seinem Bericht über den Aufschwung der Arbeiterbewegung in den siebziger Jahren nicht zufällig an diese Reihenfolge: „Es ist nicht eine Berufsklasse von Arbeitern in Berlin, in der man nicht die Frage um Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, Wohnungsnot, rapide Verteuerung aller Lebensbedürfnisse lebhaft v e n t i l i e r t . . Aber nicht nur hinsichtlich des Stellenwertes der Wohnungsfrage, sondern auch in bezug auf die politische Strategie unterschieden sich die wohnungspolitischen Ziele der bürgerlichen Reformer von denen der Arbeiter. Der christlich-konservative Sozialreformer 3 4 5

Magdeburgische Zeitung, Nr. 78, vom 1. 4. 1848. Ebenda, Nr. 94, vom 19. 4. 1848. Volksstaat Leipzig, Nr. 36, vom 4. 5. 1872.

Wiederverwendungsprojekte der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft, die durch Mitwirkung des christlich-konservativen Sozialreformers V . A . H U B E R unter dem Eindruck der englischen Genossenschaften gegründet wurde.

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Ansicht eines Wohngebäudes 85-87,

Abb. 100 b

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aus der Bauakte errichtet

für 21 Kleinwohnungen in der Hollmannstraße,

W

1

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Wo 11 ankst r a s s e N?8.u.9. 1

für die heutige

Wilhelm-Pieck-Straße

1849/50.

sowie 8 Werkstätten um 1865.

für kleine

Hand-werker

236

Schulz

V. A. H U B E R hielt den Bau von Arbeiterwohnungen und die Verteilung von Kleinaktien in Frankreich für eine m i t w i r k e n d e Ursache beim Mißlingen des Juliaufstandes 1849 in Paris. 0 A u ß e r d e m wollte er durch Genossenschaften verschiedener Art „der allmählichen Auflösung des kleinen selbständigen Besitzes und Geschäftes in ein unselbständig arbeitendes Proletariat Grenzen setzten". 7 In der von ihm mitbegründeten Berliner gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaft sollten laut Statut nur „solche kleineren Leute aufgenommen werden, die die letzte Stufe der Besitzenden vor d e m Proletariat einnehmen". 8 Und auf dem Verbandstag deutscher Arbeitervereine 1864 propagierte der bürgerliche Referent den Bau billig zu errichtender Kleinhäuser, weil die unteren Schichten durch nichts so gehoben würden, w i e durch den „Erwerb eines Stückes E r d e mit einem Hause, das sie ihr Eigen nennen können". 9 W i e sehr auch die bürgerlichen Demokraten im angeblichen Interesse der Arbeiter die Wohnungsfrage zur Lösung der sozialen Probleme in den Vordergrund zu schieben versuchten, es mußte nach den englischen Erfahrungen von M A R X und E N G E L S für das Proletariat dabei bleiben: Abknappung des Wohnraums, Entblößung des Haushalts von allem materiellen Komfort, sogar die Dürftigkeit der Kleidung und Heizung können eher ertragen werden als das Herabsinken der Nahrungsmittel auf ein entsprechendes Minimum. 1 0 Und auch das wußte die Bourgeoisie in dieser Periode, „ d a ß weder obszönste Wohnlichkeit noch faulstes Trinkwasser jemals A n l a ß zu einem Streik liefern". 1 1 D i e Wohnungsnot stand im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts nicht im Vordergrund des sozialpolitischen Kampfes der Arbeiterbewegung. Der Schutz der zur W a r e gewordenen Arbeitskraft und der Kampf um die Erhaltung und Verbesserung der ökonomischen Bedingungen des Verkaufs dieser W a r e an den Fabrikbesitzer, über dessen Erlös der Arbeiter das Gesamtbudget zur Befriedigung seiner elementaren Lebensbedürfnisse bestreiten mußte, kurz, die K ä m p f e um Arbeiterschutzgesetzgebung und Lohnerhöhung setzten die Prioritäten in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen und sind die entscheidenden Ansätze für die Koalitionen des Proletariats. Zu Beginn der siebziger J a h r e stand dann der akute Wohnungsmangel in den deutschen Großstädten plötzlich im Vordergrund auch des politischen Alltags. So gab es in den Jahren von 1871 bis 1873 in H a l l e , M a g d e b u r g und Berlin große Volksversammlungen mit mehreren tausend Personen. Sie wurden einberufen von Sozialdemokraten Eisenachern wie Lassalleanern - und den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen, um Maßnahmen zur Linderiung der Wohnungsnot zu beraten, gleichzeitig w i e d e r u m aber auch, um Mitglieder für ihre Organisation zu gewinnen, zur Stärkung des ökonomischen und politischen Emanzipationskampfes des Proletariats. In H a l l e schälte sich bei den Auseinandersetzungen mit dem M a g i s t r a t die spätere revolutionäre Linie der proletarischen Wohnungspolitik, von den Arbeitern spontan ent15

VIKTOR

AIMÉ

HUBER, Reisebriefe

aus Belgien

und Frankreich

im Sommer 1 8 5 4 , Bd. 1

(Genossenschaftliche Briefe), Hamburg 1 8 5 5 , S. 1 2 8 . 7

Ebenda, S. XIX.

8

K . B R Ä M E R , Über Häuserbaugenossenschaften. In

Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Zentral-

vereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, hg. von B R Ä M E R , 2, Berlin 1 8 6 4 , S. 2 1 6 . 9

D. B R E D E H O R S T , Über Arbeiterwohnungen. Bericht für den zweiten Vereinstag der deutschen Arbeitervereine, o. O. (Bremen) o. J. ( 1 8 6 4 ) , S 3.

10

K A R L M A R X , Das Kapital, Bd. I. In M E W , Bd. 23, Berlin 1 9 6 8 , S. 686.

" Ebenda, S. 6 9 7 .

Arbeiterbewegung und Wohnungswesen

237

A k t i v i t ä t e n der halleschen A r b e i t e r zur L i n d e r u n g d e r W o h n u n g s n o t 1871/72 ( A b b . 101 bis 1 0 4 )

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Abb. 101 Gesuch eines von Arbeitern und Handwerkern am 29. Juli 1871 gewählten Komitees eines Vereins (des späteren Halleschen an den Magistrat von Halle mit der Bitte um Unterstützung Wohnungs-Vereins), ¿«r sieb die Aufgabe stellte, mit Hilfe der Behörden (durch Hergabe von Geld und Bauland) die Not der Wohnungsmieter zu lindern: a = 1. Seite, b — 4. Seite.

238

Schulz

®«r {wucftte S«fmn»iUi iwd> anttn|!rt n u » j nftattiicn, Mcifiti mftun, a m oon KM ®ti»jlmjc$aite Veto*» artft W f r t r a iteamis n t i m « , Wungen in . abgelegenen Straßen Durchschnitt aller fünf untersuchten Häuserklassen u'e "reisste'gerungen beruhen auf Srundrentenerhöhunger, und Stetten gleichzeitig Mielsteigerungen dar

"Verein für Sozialpolitik": Miquels Forderungen 1886

Reichswohnungs. vereine 1898

V -I

"Verein für Sozialpolitik" Engel: Vorschläge zur Wohnungsreform "Hallischer Wohnungsverein" baut Kleinhäuser mit

SfrWohnungpolitische Aktivitäten ^ der deutschen Bourgeoisie und ^ . der deutschen Arbeiterbewegung

Verband Deutscher Arbeitervereine Bredehorst über Arbeiterwohnungen Leipzig 1864

Wohnungsbauvereine Halle 1847 Berlin 1848

1830/33

18W-18W

1850-185S

0-1869

1870-1879

1880-1889

1890/95

Abb. 105 Wohnungspolitische Aktivitäten der bürgerlichen Reformer und der deutseben Arbeiterbewegung in Abhängigkeit von relativen Mietsteigerungen verschiedener sozialer Gruppen in zentral gelegenen Häusern der Stadt Halle, einer typischen deutseben Industriestadt, in den Jahren von 1830 bis 1895.

16

Bauen und Wohnen

242

Schulz

tervereine 1 8 6 4 in Leipzig und zu Beginn der siebziger Jahre durch die Behandlung der Wohnungsfrage bei der Gründung des Vereins für Sozialpolitik 1 8 7 2 durch E N G E L S . E s ist bezeichnend, daß in diesen Perioden in Halle die höchsten Bodenpreis- und damit Mietsteigerungen vor allem bei Häusern der Klasse I V eintraten, von denen vornehmlich niedere B e a m t e und kleinere Handwerker betroffen waren. 1 8 Konnten Arbeiter solche Mietsteigerungen bei gewisser Höhe und D a u e r durch Lohnerhöhungen und durch U m züge in kleinere Wohnungen - wenn auch unter Schwierigkeiten - ausgleichen, so wurde der niedrig bezahlte B e a m t e durch das seinem sozialen Status anhaftende Repräsentationsbedürfnis recht empfindlich getroffen. D e r kleine Handwerker

jedoch, an

seine

meist mit der Wohnung verbundene Produktionsstätte und gleichzeitig an den Kreis seiner einmal gewonnenen Kundschaft gefesselt, wurden sogar existentiell bedroht. D e r Blumenstraßenkrawall

1872

in Berlin

beispielsweise

wurde

durch

die

polizeiliche

Zwangsräumung eines Tischlers ausgelöst, nicht aber etwa durch eine jener zahlreichen Exmittierungen zur Zeit nicht zahlungsfähiger oder kinderreicher Arbeiterfamilien! 18

CARL

STEINBRÜCK,

besitzes zu Halle Abhandlungen

Die

Entwicklung der Preise des städtischen und ländlichen

Immobilar-

(Saale) und im Saalkreis ( = Sammlung nationalökonomischer und statistischer

des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. d. Saale, hg. von J O H .

CON-

R A D , B d . 1 0 ) , J e n a 1 9 0 0 , S. 2 2 . Untersucht wurden nur Grundstücke mit solchen Häusern, in ihrer Substanz diesen

möglichst

Preissteigerungen

fast

unverändert

geblieben

ausschließlich

waren", ebenda, S. 4 . Dadurch waren

Grundrentenerhöhungen

erfaßt,

die wiederum

„die mit nur

durch Mietsteigerungen erzielt werden konnten. D i e prozentualen Angaben über Preissteigerungen der Häuser sind damit relative Angaben über die jeweiligen Steigerungen der Mieten in diesen Häusern. Dargestellt sind in T a b e l l e I V auf S. 2 2 der Steinbrückschen Arbeit prozentuale Preissteigerungen für zentral

gelegene Häuser nach Jahrzehnten

von

1840

bis

1895

gegenüber

dem

Jahrzehnt

1 8 3 0 / 3 9 , differenziert in fünf Klassen und der jeweilige Durchschnitt aller Häuserklassen: Klasse

I : Häuser in bester Geschäftslage oder mit herrschaftlichen Wohnungen; ( I I : Häuser in guter Geschäftslage oder alte Häuser mit großen

,, „ „ ( D i e in

Wohnungen);

( I I I : Häuser mit kleinen Läden oder großen Beamtenwohnungen); I V : Häuser mit Wohnungen für niedere B e a m t e und kleine H a n d w e r k e r ; V : Häuser mit Arbeiterwohnungen in entlegenen Stadtteilen; Klammern stehenden Häuserklassen

sind in

diesem schematischen

Überblick

nicht be-

rücksichtigt.) Halle ist in diesen Jahrzehnten

des Kapitalismus

strebene Industriestadt, so daß die hier aufgeführten repräsentativ auch für andere deutsche Industriestädte

der freien Konkurrenz sozial differenzierten

eine typische

Mietsteigerungen

gelten können, zumal die

aufals

Schwankungen

in den Mietsteigerungen für Arbeiterwohnungen der achtziger und neunziger Jahre der Tendenz nach sogar mit denen in Barlin übereinstimmen;

siehe auch die beiden

folgenden Anmerkungen

dieses Beitrages.

Abb. 106 Entwicklung der Löhne, Mieten und Nahrungsmittelkosten in den Wirtschaftszyklen 1868/78 bis 1909/14 (1900 = 100), (nach JÜRGEN KUCZYNSKI, 1954). Die Übereinstimmung zwischen den Mietsteigerungen in Halle und in den anderen deutschen Industriestädten besteht im starken Anschwellen der Mieten für Arbeiterwohnungen zwischen 1879 und 1886 und dem AbRentabilität, damit zum Mangel an Kleinwohnungen führen und somit Aktivitäten der Arbeitersinken bzw. der absoluten oder relativen Stagnation von 1894 und 1900, die z" einer geringeren Organisationen

auslösen.

Arbeiterbewegung und Wohnungswesen

16»

243

244

Schulz

Die Aktivitäten der Arbeiterbewegung dagegen hatten ihrer zeitlichen Wiederkehr und ihrer Zielstellung nach einen gänzlich anderen Charakter. Die Gründung eines sozialen Reformvereins zur Linderung der Wohnungsnot in Halle 1872 unter Beteiligung von Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ( A D A V ) erfolgte in einem Jahrzehnt, in denen die Mietsteigerungen gegenüber anderen Klassen ein Minimum darstellten. Offensichtlich verwertete sich das Kapital in den Gründerjahren viel besser beim Ausbau von Geschäftshäusern, was im maximalen Auftrieb von Häusern der Klasse I zum Ausdruck kam (Abb. 105). In diesen Jahren herrschte daher ein unerträglicher Mangel an Kleinwohnungen. Aber diese Nachfrage regelte keineswegs die Produktion der W a r e Wohnung, da letztlich die Verteilung von investiertem Kapital im Kapitalismus unter dem Streben nach Maximalprofit erfolgte. Auch hinsichtlich der Zielsetzungen trugen die Forderungen der Arbeiter 1872 einen gänzlich anderen Charakter. Nicht die von den Anhängern der Manchesterlehre vertretene Selbsthilfe, sondern das Eingreifen der Kommune und die Ablösung des Dreiklassenwahlrechts wurden als wohnungspolitische Forderungen aufgestellt. In Jahrzehnten überdurchschnittlicher Mietsteigerungen von Arbeiterwohnungen gab es keine wohnungspolitischen Aktivitäten der Arbeiterorganisationen, wie auch bezeichnenderweise 1850 bis 1859 keine wesentlichen bürgerlichen Reformversuche zu verzeichnen waren. Erst als die Kathedersozialisten im Verein für Sozialpolitik 1886 im Interesse der herrschenden Klasse zur Minderung der sozialen Gegensätze im Kapitalismus der freien Konkurrenz die Ergebnisse ihrer Untersuchungen über „Die Wohnungsnot der ärmeren Klassen in den deutschen Großstädten" veröffentlichten, geschah dies zu einem Zeitpunkt, als die Mietsteigerungen für die von Arbeiterfamilien bevorzugten Kleinwohnungen in Berlin 1 9 und Halle ein Maximum erfuhren. Indirekt waren davon auch die Fabrikanten betroffen, da die höheren Mieten erneut Lohnforderungen nach sich ziehen mußten. Wohnungspolitisch wurde jetzt sogar durch die bürgerlichen Reformer eine reichsgesetzliche Regelung verlangt, um die Zustände in den Kommunen zu verändern. Die von den Arbeiterorganisationen in den neunziger Jahren eingeleiteten Aktivitäten, so die in Berlin 1892, in Stuttgart 1897, in Halle um 1900 und auch in anderen Städten betriebenen Erhebungen über die Lage der arbeitenden Klassen, besonders über die Wohnungsnot, fielen mit Perioden verschärften Wohnungsmangels zusammen, in denen die Zuwachsrate der Mieten für Arbeiterwohnungen sank oder stagnierte (Abb. 105 und 106). 2 0 w

E M M Y REICH,

D e r Berliner Wohnungsmarkt von 1 8 4 0 bis 1 9 1 0 , München 1 9 1 2 , S. 109.

Die

stärkste prozentuale Verteuerung der Mieten erfuhren in Berlin in der Periode von 1 8 8 0 bis 1 8 9 5 die Wohnungen mit einem und zwei heizbaren Zimmern, nämlich um 15 und 12 "/Q, die geringste aber die Wohnungen mittlerer Größe mit drei bis fünf Zimmern, nämlich nur 8 bis 7 % . Siehe hierzu auch J Ü R G E N K U C Z Y N S K I , Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1 7 8 9 bis in die Gegenwart, Bd. 1, Zweiter Teil, 1 8 7 1 - 1 9 3 2 , Berlin 1 9 5 4 , S. 1 5 5 - 1 5 6 . Der Mietindex deutscher Großstädte steigt vom Wirtschaftszyklus 1 8 6 8 / 7 8 zyklus

1 8 7 9 / 1 8 8 6 rapid um etwa 15 Punkte

(1900 =

100 % ) .

Somit

bis zum

Wirtschafts-

stimmen die Werte

von

S T E I N B R Ü C K für Halle, von R E I C H für Berlin mit den von K U C Z Y N S K I für deutsche Großstädte angegebenen überein. Siehe dazu folgende Anmerkungen - u Ebenda. Nach E . R E I C H

fällt die größte Steigerung von Wohnungsmieten für Ein- und Zwei-

zimmerwohnungen in die Jahre 1 8 8 5 bis 1 8 9 0 , und von Oktober 1 8 9 0 bis Oktober 1 8 9 5 ist dann wieder der Mietrückgang für die kleinsten Wohnungen am größten. Nach K U C Z Y N S K I , S. 3 3 0 , stimmen auch diese Daten

ebenda,

der Tendenz nach mit denen überein, die er für den

Miet-

245

Arbeiterbewegung und Wohnungswesen

Die Bourgeoisie wurden in den Jahrzehnten aktiv, in denen besonders das Kleinbürgertum unter Mietsteigerung zu leiden hatte ( 1 8 4 8 , 1 8 6 4 , 1 8 7 2 und 1898). Und sie wurde es mit der erklärten Zielstellung, jene Schichten vor der sozialen Deklassierung zu bewahren. Demgegenüber entwickelten die Arbeiterorganisationen ihre Aktivitäten in Zeiten, in denen infolge unterdurchschnittlicher Mietsteigerungen bei Arbeiterwohnungen und wegen zu geringer Rendite ein akuter Mangel an diesen Behausungen herrschte (1871/72 und 1892 sowie um 1900), und zwar mit dem Ziel, diesen Mangel durch Eingreifen der Kommunen zu lindern.

Zum Einfluß der Arbeiterklasse

auf Wohnungs-

und

Städtebau

Wenn man die Entwicklung von Theorie und Praxis des Wohnungs- und Städtebaus zwischen der Novemberrevolution und der Machtergreifung des Faschismus in Deutschland überblickt, so zeigt sich, daß diese Periode in drei verschiedene Phasen gegliedert ist, die zwar zeitlich ineinander übergehen, durch ihre Hauptcharakteristika jedoch eindeutig voneinander getrennt sind. 21 Der erste Abschnitt dieser Periode, der noch ganz unter dem Einfluß der vorkriegszeitlichen Gartenstadtidee stand, fiel bezeichnenderweise mit der revolutionären Nachkriegskrise zusammen. Der zweite und bedeutende Ab-

Abb. 101

Reaktionen

nanzministerium

des

„'¿entralblattes

„mit Nachrichten

politische Ereignisse, Inhaltsverzeichnis

besonders

von

Wohnungswesen,

1936

der Bauverwaltung",

der Reichs-

in der Weimarer (Anzahl

Siedlungswesen,

herausgegeben

und Staatsbehörden", Republik,

der Aufsätze

dargestellt

je Jahr)

Wohnungsbau,

und

an Einzelaktivitäten

zu den

Siedlungen

im Preußischen

auf revolutionäre Themen

in den Jahren

Fiandere

nach

dem

Arbeiterwohnhäuser, 1911

bis

1930.

index in den Großstädten der Jahre 1 8 8 8 bis 1 9 1 4 ermittelt hat. So stagniert die Steigerungstendenz

in den Jahren

1 8 8 9 bis

1893, und 1 8 9 9

bis

1901

gibt es eine

deutlich

geringere

Steigerungsrate. 21

Siehe hierzu und zum Folgenden J O A C H I M

SCHULZ,

architektonischen

Methodologische

Struktur,

1918

bis

1933.

Über die soziale Determiniertheit Versuche

Wohnungsbaues. In: Deutsche Architektur, 17, Berlin 1968, 2, S. 1 0 6 - 1 0 8 .

zur

Geschichte

der des

Schulz

246

schnitt, die Phase des Massenwohnungsbaues, der den deutschen Architekten weltweite Anerkennung brachte, deckte sich in etwa mit der Zeit der relativen Stabilisierung des Kapitalismus seit 1 9 2 4 , während der letzte Abschnitt, die Phase der Stadtrand- oder Erwerbslosensiedlung, deutlich die Auswirkungen der sich seit 1 9 2 9 ausbreitenden W e l t wirtschaftskrise offenbarte ( A b b . 1 0 7 ) . D e r Übergang von der ersten zur zweiten Phase, von der G a r t e n s t a d t mit ihren meist zweigeschossigen und gereihten Kleinhäusern und ihrer bewußten künstlerischen

An-

lehnung an das B a u e n um 1 8 0 0 zu den Siedlungen des mehrgeschossigen Mietwohnungsbaues mit neuen G r u n d r i ß - und Bebauungsstrukturen einerseits und einer völlig neuartigen architektonischen Haltung andererseits, stellt dabei eines der interessantesten und wichtigsten K a p i t e l der jüngeren Baugeschichte dar. D i e Gartenstadtidee w a r die fortschrittlichste Städtebaukonzeption, die die bürgerlichen Wohnungsreformer als Alternative zum Mietskasernenstädtebau des 19. J a h r h u n derts unter kapitalistischen Verhältnissen hervorzubringen und in Ansätzen auf außerstädtischen und damit preisgünstigen Terrains zwischen 1907 und 1 9 1 4 auch durchzusetzen vermochten. E s lag im W e s e n dieser Konzeption, nicht nur Angehörige der Mittelschichten, sondern auch Arbeiter aus dem Mietskasernenelend

herauszuführen

(Abb.

1 1 3 ) . D a h e r setzten sich selbst die linken K r ä f t e innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, unter ihnen K A R L L I E B K N E C H T ,

dafür ein, die Städte mehr zu G a r t e n -

städten zu entwickeln. 2 2 Auch die Kommunistische Partei propagierte in ihrem K o m m u Tabelle Anteil der Kleinhäuser

1

am Wohnungsneubau

(in

Prozent)

Deutschland ( 1 9 1 9 bis 1 9 2 6 ) Gemeinden, nach A . G U T , D e r Wohnungsbau in Deutschland nach dem (1.) W e l t kriege, München, 1 9 2 8 , S. 3 5 (EW) 1919

. 1920

1921

1922

1923

1924

1925

1926

bis

2 000

88,1

89,3

89,5

89,9

84,2

88,6

93,5

bis

5 000

89,6

92,2

92,1 91,9

92,5

87,5

89,5

92,8

97,3 95,2

bis

10 0 0 0

91,3

90,9

89,3

88,7

88,5

89,8

91,7

bis

20 000

84,2

88.7

86,8

80,8

82,8

83,1

84,3

bis

50 000

83,9

89,2 89,8

87,9

86,3

78,8

81,4

78,1

78,8

bis

100 000

87,1

84,6

82,3

75,4

70,5

71,4

69,8

über 1 0 0 0 0 0

83,6

84,0

87,6 84,0

82,6

77,0

73,6

72,0

63,7

Deutschland

87,5

88,7

89,2

88,1

82.5

84,9

86,9

86,8

Berlin ( 1 9 2 4 bis 1 9 3 0 , subventionierter Wohnungsbau)

22

1924

1925

1926

1927

1928

1930

22,3

37,3

17,4

8,3

7,7

4,8

Siehe hierzu K U R T J U N G H A N N S / J O A C H I M

S C H U L Z , D i e Gartenstadt im deutschen

bau. I n : Deutsche Architektur, 16, Berlin 1 9 6 7 , 1, S. 5 8 - 6 0 .

Städte-

p Arbeiterbewegung und Wohnungswesen

247

nalprogramm noch 1923 die Abkehr vom Massenmietskasernenbau und den Ü b e r g a n g zur Gartenstadtsiedlung mit frei stehenden Einzelhäusern oder Häusern in Reihenflachbau und mit größerer Wohnfläche. D i e K P D war sich bewußt, d a ß diese Konzeption nur auf der G r u n d l a g e einer kommunalisierten Baustoff- und Wohnungsproduktion durchzusetzen gewesen wäre. 2 3 Mit der erneuten Zunahme des Einflusses der bürgerlichen Parteien in den Parlamenten seit den Reichstagswahlen von 1920 und mit dem schrittweisen A b b a u der Baustoffrationierung durch die Regierungsstellen, mit der Reduzierung der staatlichen Baukostenzuschüsse auf Wohnungen unter 70 m 2 Wohnfläche seit etwa 1921, vor allem aber durch den energischen Widerstand der Bourgeoisie gegen die Kommunalisierung des Wohnungswesen wurden der Durchführung eines großzügigen Flachbauprogramms im Verlauf weniger Jahre die entscheidenden Voraussetzungen entzogen. D i e s e Entwicklung wurde begünstigt durch die def artistische Haltung der rechten Führung der S P D und ihre' inkonsequente Koalitionspolitik gegenüber den bürgerlichen Parteien. Durch die Wucherpreise der Baustofflieferanten, die unkontrollierten hohen Unternehmergewinne und H y pothekenzinssätze stiegen die Mieten für Neubauten so stark, daß Arbeiter im günstigsten F a l l trotz Inanspruchnahme staatlicher Zuschüsse nur Zweieinhalbzimmerwohnungen beziehen konnten. Solche Wohnungen ließen sich jedoch in Hochbauten preiswerter schaffen als im Flachbau, d a das Kleinhaus nur bei vierräumigen Wohnungen durch den A u s b a u des Dachgeschosses auf die D a u e r mit mehrgeschossigen Mietshäusern konkurrieren konnte (Tabelle 1). Als die privatkapitalistischen Großbetriebe zur Rationalisierung ihrer Produktion an den alten Standorten übergingen und damit die sinnvolle und planmäßige Verteilung und Dezentralisation der Produktivkräfte als die entscheidende G r u n d l a g e der Gartenstadtkonzeption dem gesellschaftlichen Zugriff entzogen wurde und als mit den stabilisierten wirtschaftlichen Verhältnissen die Nutzung eines Gartens als zusätzliche E r n ä h rungsquelle für viele Wohnungssuchende überflüssig zu werden begann, verlor die G a r tenstadtidee endgültig ihren unmittelbaren Einfluß auf die städtebauliche Praxis und wandelte sich zur Theorie der Trabanten- und Satellitenstadt (Abb. 108 a bis 108 c, T a f . 13 b). Unter all diesen Voraussetzungen nahm die T e n d e n z zum Hochbau mit Kleinwohnungen in mehrgeschossigen Mietshäusern gegenüber dem Kleinhausbau seit 1922 vor allem in den größeren Städten immer mehr zu (Tabelle 1). Obwohl Teile der Bourgeoisie das Wohungswesen wieder völlig auf privatwirtschaftlicher G r u n d l a g e zu reorganisieren und damit Verhältnisse der Vorkriegszeit zu restaurieren versuchten, gelang es den Wohnungsreformern unter dem Eindruck der sozialen Auseinandersetzung, die Richtlinien für die V e r g a b e von staatlichen Zuschüssen durch die Wohnungsfürsorgegesellschaften so auszugestalten, daß Baukomplexe entstehen konnten, die sich durch ausreichend quergelüftete Wohnungen in mehrgeschossiger R a n d b e b a u u n g ohne Hintergeb ä u d e und durch das Vorhandensein von Innentoiletten oder B ä d e r n generell von alten Mietskasernentypen unterschieden und bei denen Architekten an die besten E r g e b n i s s e des genossenschaftlichen Bauens aus der Zeit nach der Jahrhundertwende anknüpfen konnten (Abb. 109). Trotz der Unterbindung der krassesten Auswirkungen 2:!

Das

Siedlungs-, Bau-

Berlin 1922.

und Wohnungsprogramm.

In:

der Bodenspekulation blieb

Kommunalprogramm

der K P D ,

Teil

I,

Schulz

248

Stadtentwicklung durch Industriedezentralisation

.LEEDS I Brari^ird Money • »Halifa« Wakefield. •Mirfleld •Huddersfield

PRESTON

igan«

/

Bolton

^"^«Heywood .Middlton.. Oldham

MANCHESTER

Newton^

.LIVERPOOL

^Warrington

^-^Ashton f V L— StalybriSgs Stockport

Abb. 108 a Manchester, dezentralisiertes Siedlungssystem, nach ENGELS der klassische Typ der Industriestadt des 19. Jahrhunderts, dargestellt mit den von ihm 1845 erwähnten Großstädten und Industriedörfern, die untereinander und mit dem kommerziellen Zentrum durch Straßen, Eisenbahnen und Kanäle verbunden sind.

S i f f i g

Abb. 108 b HOWARD, städte mit

Diagramm

IV, dezentralisiertes

Siedlungsmodell

der Garlenstadtidee

von

EBENEZER

England 1898, um die Mittelstadt mit 58 000 Einwohnern sind selbständige Garten30 000 Einwohnern gruppiert; zwischen den Siedlungen sollen unbebaute Grünzonen erhalten bleiben, 1901 in Jena publiziert.

249

Arbeiterbewegung und Wohnungswesen

)U>f> 1. ilorfdjloo brr Stabt 'Breslau. »ic etobtermeiteruns 9lbb. 2. Sotfdrfag bes Ennbtretfes » M i l a n . ©ejentrali|otion burd) Stärlun« ber umIie9enAtn ¡tleinftäit« unb »emetnien unb rrfoicit blirrt) «ilbumi wn Suabonlmftäbteu im ftabtcigtncu «ojirt ber Stabt Breslau alsroirt|rf)aftlid)eriioiiptmittclpunft Abb. 108 c Vorschläge zur Stadterweiterung von Breslau um 1926. Da die Subventionierungsmittel jür den Wohnungsneubau seit 1924 vorwiegend den Groß- und Mittelstädten zuflössen, wurde die Idee der dezentralen Stadterweiterung seitens der Kommunen durch Wohnsiedlungen auf stadteigenem Bauland ersetzt. So wandelte sich die Idee der selbständigen Gartenstadt zur abhängigen Trabantenstadt. Die Landräte im vorliegenden Beispiel wollten die Kleinstädte noch auf Kosten der Großstädte

stärken.

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- - f t — »

Abb. 109 „Sonnenhof", Wohnblock in Berlin-Lichtenberg, heutige Marie-Curie-Allee, nach einem Entwurf von ERWIN GUTKIND 1925 bis 1928 errichtet; quer gelüftete 1 1/2- bis 2 l/Z-ZimmerWohnungen in mehrgeschossiger Randbebauung ohne Hinterhäuser ; im Wohnhof flacher Kindergarten und Spielplätze; Kammer, Küche, Bad und Loggia zum Hof, große Wohn- und Schlafzimmer zur Straße orientiert, (Objekt 22 der Tabelle 2).

250

Schulz

der „soziale" oder auch „gemeinnützige Wohnungsbau" für die Bourgeoisie nach wie vor ein erstrangiges Ausbeutungsobjekt und brachte vor allem den Banken und Baustoffproduzenten ansehnliche Profite. Alle diese Tatsachen und der opportunistische W e g der rechten Führung der SPD, die nach 1918 bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung des Wohnungs- und Städtebaues nehmen konnte, führten zu der Auffassung, daß der Massenwohnungsbau der zwanziger Jahre dem Charakter der Wohnungspolitik entsprechend als sozialreformistisch und staatsmonopolistisch zu bezeichnen sei. Nur andeutungsweise und vereinzelt wurde in Untersuchungen auf die wachsende Rolle der sozialen Auseinandersetzungen seit der Novemberrevolution als einer entscheidenden Triebkraft innerhalb dieses Entwicklungsprozesses verwiesen. 24 Außerhalb ist bei einer Charakterisierung des „sozialen Wohnungsbaues" zu beachten, daß K A R L L I E B K N E C H T bereits im Jahre 1918 die Bedeutung des Sozialreformismus als wesentliche Triebkraft bei der Durchsetzung von Reformen stark in Zweifel zog: „Was etwa an Reformen heute erzielt wird, wird es nicht durch, sondern trotz der Mehrheitspolitik; durch die Opposition gegen die Mehrheitspolitik und die Sorge vor ihrem Wachstum. Selbst diese kümmerlichen Federn, mit denen sich die Schneidemänner heute schmücken oder in Zukunft schmücken werden, sind fremde Federn" (Taf. 15) .°2 Eine Untersuchung der gebauten Substanz, eine Analyse der Veränderungen der Grundriß-, Fassaden- und Bebauungsstrukturen, schien daher geeignet zu sein, die bisherigen Auffassungen über den Charakter des Kleinwohnungsbaus als Massenprodukt dieser Zeit zu vertiefen. Es lag daher nahe, verschiedene strukturelle Elemente zu erfassen und durch eine systematische Analyse mit Hilfe einer statistischen Übersicht zur Darstellung zu bringen (Tabelle 2). Die Untersuchung umfaßt 24 Hausgruppen des subventionierten Wohnungsbaues in Berlin mit insgesamt 6 061 Wohneinheiten. Diese Summe entspricht etwa einer Anzahl von 2 2 % aller in Berlin zwischen 1925 und 1927 mit Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln gebauten Wohnungen und kann als repräsentativer Querschnitt gelten. Um eine soziale Graduierung zu erreichen, wurden die Objekte entsprechend ihrem Prozentanteil an Ein- bis Zweieinhalbzimmerwohnungen untereinander geordnet. Zunächst erfolgte eine Untersuchung der einzelnen Wohnhausgruppen, die von verschiedenen Architekten projektiert und von den unterschiedlichsten Baugesellschaftcn in den jeweiligen Berliner Stadtbezirken errichtet worden waren, auf ihre Dachform hin. Die Dachform, das heißt entweder Steil- oder Flachdach, war als Kriterium nicht nur leicht zu bestimmen, sondern konnte im Gegensatz zu anderen elementar bedingten Gebäudestrukturen in weit höherem Maße als Zeichen und Bedeutungsträger Auskunft über die künstlerischen Absichten des Architekten oder der Baugesellschaft geben. Aus der schematischen Übersicht ist zu entnehmen, daß mit wachsendem Kleinwohnungsanteil Architekt oder Baugesellschaft das flache Dach bevorzugten und vor allem in ausgesprochenen Arbeiterbezirken, wie Prenzlauer Berg, Wedding, Friedrichshain, Lichtenberg und Neukölln, diese Form durchzusetzen vermochten, während sich in mehr bürgerlichen Stadtbezirken, wie Wilmersdorf, Schöneberg, Steglitz und Tempelhof, und in Baukomplcxen 'mit geringem Kleinwohnungsanteil das Steildach weiter behaupten konnte. Ganz 2''

Siehe hierzu K U R T L E M B C K E , D e r soziale Wohnungsbau 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Diss., Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, 1 9 6 4 , (Ms.).

25

KARL

LIEBKNECHT,

1 9 2 1 , S. 18.

Politische

Aufzeichnungen aus seinem

Nachlaß

(1917-1918),

Berlin

251

Arbeiterbewegung und Wohnungswesen U318803

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