Volk - Nation - Vaterland 9783787311378

In den Studien zum achtzehnten Jahrhundert werden Monographien, Editionen und Aufsatzsammlungen veröffentlicht, die die

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German Pages 416 [409] Year 1996

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Einführung
Ulrich Herrmann (Ulm): Volk - Nation - Vaterland: ein Grundproblem deutscher Geschichte
Ursula A. J. Becher (Braunschweig): Nation und Lebenswelt. Zu einigen Grundlagen der Politisierung
II.Volk
Étienne François (Paris/Berlin): "Peuple" als politische Kategorie
Marita Gilli (Besançon): "Volk" bei Georg Forster und den deutschen Jakobinern
Janos Rathmann (Budapest): Die" Volks"-Konzeption bei Herder
Jürgen Konert (Bad Schönborn): Patriotismus in der deutschen Medizin des 18. Jahrhunderts
Heinrich Bosse (Freiburg i.Br.): Patriotismus und Öffentlichkeit
III. Nation und Nationalbewusstsein
Michael Maurer (Essen): Nationalcharakter und Nationalbewußtsein. England und Deutschland im Vergleich
Jürgen Heideking (Köln) Einheit aus Vielfalt: Die Entstehung eines amerikanischen Nationalbewußtseins in der Revolutionsepoche 1760-1820
Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken): Die Genese der "Grande Nation". Vom Soldat-Citoyen zur Idee des Empire
Ulrich Im Hof (Bern): "Volk - Nation - Vaterland" und ihre Symbolik in der Schweiz
Horst Steinmetz (Leiden): Idee und Wirklichkeit des Nationaltheaters. Enttäuschte Hoffnungen und falsche Erwartungen
Gonthier-Louis Fink (Strasbourg): Das Wechselspiel zwischen patriotischen und kosmopolitisch-universalen Bestrebungen in Frankreich und Deutschland (1750-1789)
Adrian von Buttlar (Kiel): Das "Nationale" als Thema der Gartenkunst
Ulrich Herrmann (Ulm): Von der "Staatserziehung" zur "Nationalbildung". Nationalerziehung, Menschenbildung und Nationalbildung um 1800 am Beispiel von Preußen
Werner Schneiders (Münster i. W.): Der Zwingherr zur Freiheit und das deutsche Urvolk. J. G. Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus
Monika Wagner (Hamburg): Germania und ihre Freier. Zur Herausbildung einer deutschen nationalen Ikonographieum 1800
Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld): Nationalismus, Nation und Nationalstaat in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
IV. Vaterland und Vaterlandsbegeisterung
Michael Jeismann (Frankfurt a. M.): "Feind" und " Vaterland" in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806-1815
Herbert Schneider (Frankfurt a.M.): Revolutionäre Lieder und vaterländische Gesänge. Zur Publikation französischer Revolutionslieder in Deutschland und zum politischen Lied in R.Z. Heckers "Mildheimischem Liederbuch"
Ernst Weber (München): Zwischen Emanzipation und Disziplinierung. Zur meinungs- und willensbildenden Funktion politischer Lyrik in Zeitungen zur Zeit der Befreiungskriege
Jürgen Wilke (Mainz): Der nationale Aufbruch der Befreiungskriege als Kommunikationsereignis
Christof Römer (Braunschweig): Die Bildwelt des Patriotismus und die Ikonographie seiner Helden in Deutschland (1806 - 1815)
V. Bibliographie
VI. Personenregister
Die Autoren dieses Bandes
Abbildungsnachweis
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Volk - Nation - Vaterland
 9783787311378

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VOLK- NATION- VATERLAND Herausgegeben von Ulrich Herrmann

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft

fiir die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 18

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

VOLK-NATION- VATERLAND Herausgegeben von Ulrich Herrmann

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1137-8 ISBN E-Book: 978-3-7873-2330-2 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1996. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

VORWORT ................................................................................

9

I. EINF ÜHRUNG Ulrich Herrmann (Ulm)

Volk - Nation - Vaterland: ein Grundproblem deutscher Geschichte .............

11

Ursula A. J. Becher (Braunschweig) Nation und Lebenswelt Zu einigen Grundlagen der Politisierung ...............

19

II. VOLK Etienne Franc:ois (Paris/Berlin)

"Peuple" als politische Kategorie ......................................................

35

Marita Gilli (Besanc:on)

"Volk" bei Georg Forster und den deutschen Jakobinern ..........................

46

Janos Rathmann (Budapest)

Die" Volks"-Konzeption bei Herder ...................................................

55

Jürgen Konert (Bad Schönborn)

Patriotismus in der deutschen Medizin des 18. Jahrhunderts ............. ...... .. .

62

Heinrich Bosse (Freiburg i.Br.)

Patriotismus und Öffentlichkeit .. .. ..... ... .. .... .. .... ... ...... ... .. ......... ..... ....

67

III. NATION UND NATIONALBEWUSSTSEIN Michael Maurer (Essen)

Nationalcharakter und Nationalbewußtsein. England und Deutschland im Vergleich ...................................................................................

89

Jürgen Heideking (Köln)

Einheit aus Vielfalt: Die Entstehung eines amerikanischen Nationalbewußtseins in der Revolutionsepoche 1760-1820 .... ... .... ........ .. ................ ... ... .... .. .

101

6

Inhalt

Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken) Die Genese der "Grande Nation". Vom Soldat-Citoyen zur Idee des Empire

..

118

Ulrich Im Hof (Bern) "Volk - Nation - Vaterland" und ihre Symbolik in der Schweiz ... ................

131

Horst Steinmetz (Leiden) Idee und Wirklichkeit des Nationaltheaters. Enttäuschte Hoffnungen und falsche Erwartungen .................................................................................

141

Gonthier-Louis Fink (Strasbourg) Das Wechselspiel zwischen patriotischen und kosmopolitisch-universalen Bestrebungen in Frankreich und Deutschland (1750-1789) ...........................

151

Adrian von Butt/ar (Kiel) Das "Nationale" als Thema der Gartenkunst .........................................

185

Ulrich Herrmann (Ulm) Von der "Staatserziehung" zur "Nationalbildung". Nationalerziehung, Men­ schenbildung und Nationalbildung um 1800 am Beispiel von Preußen ...........

207

Werner Schneiders (Münster i. W.) Der Zwingherr zur Freiheit und das deutsche Urvolk. .J G. Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus ...................................................

222

Monika Wagner (Hamburg) Germania und ihre Freier. Zur Herausbildung einer deutschen nationalen Ikonographie um 1800

244

Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld) Nationalismus, Nation und Nationalstaat in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ..... . .....................................................................

269

. . .

.

.

. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.

IV. VATERLAND UND VATERLANDSBEGEISTERUNG Michael Jeismann (Frankfurt a. M.) "Feind" und "Vaterland" in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806-1815

279

Herbert Schneider (Frankfurt a.M.) Revolutionäre Lieder und vaterländische Gesänge. Zur Publikation französischer Revolutionslieder in Deutschland und zum politischen Lied in R.Z. Heckers "Mildheimischem Liederbuch" .

291

Ernst Weber (München) Zwischen Emanzipation und Disziplinierung. Zur meinungs- und willensbildenden Funktion politischer Lyrik in Zeitungen zur Zeit der Befreiungskriege ....

325

. . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.

Inhalt

7

Jürgen Wilke (Mainz) Der nationale Aufbruch der Befreiungskriege als Kommunikationsereignis .....

353

Christo! Römer (Braunschweig) Die Bildwelt des Patriotismus und die Ikonographie seiner Helden in Deutschland (1806 - 1815).. .......................................................................

369

V. BIBLIOGRAPHIE....................................................................

391

VI. PERSONENREGISTER. ............................................................

397

DIE AUTOREN DIESES BANDES .....................................................

401

ABBILDUNGSNACHWEIS .............................................................

405

VORWORT

Als die Mitgliederversammlung der "Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts" anläßtich ihres Herder-Kongresses 1984 in Saarbrücken und später noch einmal in Trier auf meine Anregung hin beschloß, eine Jahrestagung - das Datum blieb offen- unter das Thema "Volk-Nation-Vaterland" zu stellen, konnte niemand ahnen, welche Aktualität eben dieses Thema dann seit 1989/90 - und bis heute! - haben würde. Denn die ursprüngliche Absicht war es, neben den vorwiegend literarhistori­ schen und kulturgeschichtlichen Themen der Jahrestagungen wieder einmal ein politi­ sches Grundthema des 18. Jahrhunderts zu präsentieren, und zwar mit der ausdrück­ lichen Perspektive, die Betrachtung des 18. ins 19. Jahrhundert hinein zu erweitern. Als die Tagung dann im November 1990 in Tübingen stattfand, war das geschicht­ liche unversehens ein Gegenwartsthema geworden: "die Deutschen" hatten viereinhalb Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und nach der territorialen Neuordnung in den Grenzen der Zonen und der zwei deutschen Staaten ihre national­ staatliche Einheit als "deutsches Volk" wiedergewonnen. Die Durchführung der Tagung wurde durch die finanzielle Unterstützung der Gesellschaft selber, vor allem aber durch Zuschüsse des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft (Essen), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Bonn) und des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst des Landes Baden-Württemberg ermöglicht. Der Bund der Freunde der Universität Tübingen hat - vertreten durch den damaligen Präsidenten der Tübinger Universität, Prof. e. h. Dr. h. c. A. Theis - eine größere Summe als Ausfallbürgschaft bereitgestellt und so den längeren Planungs- und Vorbereitungs­ prozeß erst ermöglicht. Allen Institutionen und ihren Repräsentanten sei auch hier noch einmal für ihre Unterstützung vielmals gedankt. Ein herzlicher Dank gilt vor allem auch den Kollegen und Helfern bei der Vor­ bereitung und Durchführung des Kongresses: Herrn Professor Dr. Frühsorge im Wolfenbütteler Sekretariat der 18.- Jahrhundert-Gesellschaft, Herrn Professor Dr. Voss (Deutsches Historisches Institut Paris) für Ratschläge und Kontakte, den Mitarbeite­ rinnen der Zentralen Verwaltung der Tübinger Universität bei der Bewirtschaftung und Abrechnung der Mittel, den Hilfskräften des Pädagogischen Seminars der Universität Tübingen im Tagungsbüro. Der Organisator der Jahrestagung und Herausgeber des vorliegenden Bandes muß sich bei den Autoren, beim Verlag und bei der Gesellschaft bedanken für die erwiesene Geduld, die durch immer neue Verzögerungen bei der Zusammenstellung, Bearbeitung und Herstellung dieser Kongreßdokumentation arg strapaziert wurde. Frau Elisabeth Winkler in Tübingen, Herrn Kopido im Meiner-Verlag und Herrn Herbert Hertramph in Ulm ist es zu danken, daß schließlich alle Probleme der Texterfassung und der Erstellung der Druckvorlagen bewältigt werden konnten. Ulm/Tübingen, im Herbst 1995

Ulrich Herrmann

I. EINFÜHRUNG

Ulrich Herrmann (Ulm) Volk- Nation- Vaterland: ein Grundproblem deutscher Geschichte

Das Deutsche Reich

Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu fmden, Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.

Deutscher Nationalcharakter Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus. Schillers und Goethes .Xenien", Nr. 95 und 96 .Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland"

Freiherr vom Stein, 1812

I

Für "die Deutschen " ist das Thema "Volk-Nation-Vaterland " eines der Themen ihrer geschichtlichen Selbstvergewisserung und demzufolge ihrer historischen Erinnerungs­ arbeit. Jede "deutsche " Geschichte, als Geschichtsbewußtsein, und jede "Deutsche Geschichte ", als Geschichtsdarstellung, muß sich mit der Frage auseinandersetzen, wo die Anfange und die Identität eines "deutschen Volkes " zu finden wären; wann und wie das Bewußtsein von "Nationalität " sich formuliert und artikuliert hat; ob und wie sich das Zugehörigkeitsgefühl zu einem "Vaterland " eingestellt hat. Vaterländische Gesinnung " mußte nicht identisch sein mit Volksgenossenschaft ", und "Nationalität " war in der deutschen - "deutschen "? - Geschichte nie eine stabile Zuschreibung zu staatlicher VerfaßtheiL 1 Streng genommen - darauf hat Hans-Ulrich Wehler hingewie­ sen - gibt es eine "deutsche Geschichte " eigentlich nur für die Zeit von 1871 bis 1945. •



1 Die Literatur zur Frage einer .deutschen Nation", eines deutschen .Nationalbewußtseins" und eines deutschen .Nationalstaats" ist unübersehbar. Statt vieler: Paul Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins, Göttingen 31956; Werner Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1963; Theodor Schieder, Nationalismus und National­ staat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hrsg. von Otto Dann und Hans-UlrichWehler, Göttingen 21992; U. Herrmann, Was ist .deutsche Geschichte"?, in: U. Dirlmeier u.a., Kleine deutsche Geschichte, Stuttgart 1995, S. 9-16.

12

I. Einführung Ulrich Herrmann ·

Jedenfalls wird "deutsche Geschichte" seit der bismarckschen Reichsgründung ein neues historiographisches Konzept. Das bemerkte schon ein sensibler Zeitgenosse - der Sprach(!)- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Scherer -, der 1882 notierte: "Der [Buch-]Titel 'Deutsche Geschichte' kommt endlich in Mode. "2 Daß die nachfolgende Reichsgründung im lnnern so erfolgreich verlief, hatte eine Vorbedingung: die Idee der Staatsnation vor dem Nationalstaat. 3 Immer wenn sich die Deutschen selber auf "Volk" und "Vaterland" berufen, beziehen sie sich nicht so sehr auf eine Realität, sie wollen vielmehr einem politischen Wunsch und einer Hoffnung Ausdruck geben. So war es am Anfang des 19. Jahr­ hunderts im Umfeld der Befreiungskriege, und so klang es am Ende des 20. Jahr­ hunderts in der dem Untergang preisgegebenen DDR, trotzig herausfordernd und als Fanfarenstoß für eine neue Zukunft: "Wir sind das Volk!" und "Deutschland einig Vaterland!"

II Damals wie heute bestehen und bestanden große Schwierigkeiten, die zeitgeschicht­ lichen Ereignisse sprachlich angemessen Zli artikulieren. Die Brockhaus-Enzyklopädie unserer Tage verweist unter dem Stichwort " Vaterland" (= patria, Land der Väter und der Vorfahren) umstandslos weiter auf "Vaterlandsliebe" mit einem Verweispfeil auf "Patriotismus" und von dort weiter nach "Nationalbewußtsein", was an der betreffen­ den Stelle als Stichwort jedoch interessanterweise gleichrangig geführt wird mit "Nationalgefühl". Schon dieser wiQZige, aber repräsentative lexikalische Befund ist charakteristisch für das Thema "Volk-Nation-Vaterland", wenn nämlich mit "Vater­ land" (patria) die emotional getönte Dimension der "Vaterlandsliebe" in Verbindung gebracht wird - was keineswegs zwingend ist -, die ihrerseits "Patriotismus" und "Nationalbewußtsein" nährt, so daß "Nationalgefühl" entsteht. Aber "Nationalbewußt­ sein" und "Nationalgefühl" können höchst unterschiedliche Inhalte und Funktionen, Intentionen und Folgen haben. Die Formulierungsschwierigkeiten sind bereits in der zeitgenössischen Literatur des 18. Jahrhunderts allenthalben mit Händen zu greifen.4 Nur eine Stelle sei zitiert, weil dieses Buch weiteste Verbreitung erfahren hat: Rudolf Zacharias Beckers "Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute" von 17885• Dort heißt es (Hervorheb. im Orig. und vom Vf., S . 398): "Ein alter Bauersmann, der in seiner Jugend Soldat gewesen, gab neulich seinen heranwachsenden Söhnen folgende Lehren.. .'Kinder, sagte er, ihr

2 Wilhelm Scherer, Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie, hrsg. von Konrad Burdach, Berlin 1893, S. 467; mit diesenWorten beginnt Scherer eine Besprechung von " Deutschen Geschichten" bis (sie!) auf Kar! den Großen bzw. für die fränkische Zeit! 3 Vgl. die ungewöhnlich anregende Studie von Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt a.M. 1993. 4 Die Belege sind zuletzt zusanunengestellt worden von Irmtraud Sahmland, Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patiotismus, Kosmopolitismus und Griechentum (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 108), Tübingen 1990, S. 8-127. 5 Ein Reprint erschien, hrsg. von Reinhart Siegert, Dortmund 1980. - Vgl. Reinhart Siegert, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an R.Z. Becker und seinem " Noth- und Hülfsbilchlein". Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, Frankfurt a.M. 1978.

Volk - Nation - Vaterland: ein Grundproblem deutscher Geschichte

13

werdet nun groß, und ich sterbe bald! Es sind eurer so viel, daß ihr von eurem Erbtheil nicht leben könnt. Ihr müßt dienen. Du Thomas, bist der größte und stärkste; ich dächte: du würdest Soldat, und du auch Joseph, wenn du aus der Schule kommst. Dienet eurem Vaterlande: dem seyd ihr euer Blut und Leben schuldig. Und wenn der Feind unser Deutsches Reich antastet[ ... ]: so waget euren lezten Blutstropfen daran. Denn darauf beruht auch die Wohlfahrt des Bauernstandes in Deutschland, daß das Reichbey seiner Ordnung und Freyheit erhalten werde."' In einem Text aus der "Gebrauchsliteratur", dem jede Propaganda-Absicht und jeder appellative Gestus fremd ist, klingt es am Beginn des 19. Jahrhunderts noch verwirren­ der. Es handelt sich um einen "Almanach der Ritter-Orden" von 1817 und die dort abgedruckten Erläuterungen zum Großherzoglich Sachsen-Weimarisch-Eisenach'schen Verdienstorden " Orden der Wachsamkeit oder Vom Weißen Falken", der am 18. Oktober 1815 erneuert worden war. Träger in der Stufe des Großkreuzes waren neben einigen Landesherren u.a. Fürst von Hardenberg, preußischer Staatskanzler in Berlin; Frhr. von Humboldt, preußischer Staatsminister; Frhr. von Gagern, niederländischer Staatsminister; von Voigt, Präsident des [großherzoglichen weimarischen] Staats­ ministeriums, Kanzler des Ordens in Weimar, gefolgt von "v. Göthe, Staatsminister daselbst". Über den Stiftungszweck des Ordens heißt es (Hervorhebungen vom Vf.)6: "Der Orden legt seinem Besitzer die Pflicht auf: gegen das gemeinsame deutsche Vaterland, und gegen die jedesmalige rechtmäßige höchste Nationalbehörde, treu und ergeben seyn, nach Maßgabe seines Standpunktes dahin zu wirken, daß vaterländische Gesinnung, daß deutsche Art und Kunst, Vervollkommnung der gesellschaftlichen Einrichtungen in der Gesetzgebung, Verwaltung, Staatsverfassung und Rechtspflege sich immer mehr entwickele, und daß auf eine gründliche und des Ernsts des deutschen Nationalkarakters würdige Weise sich Licht und Wahrheit verbreite." Das Ordens­ zeichen - der weiße Falke - fordert "zur Wachsamkeit für das Wohl der Deutschen" auf, das Ordensfest wird am 18. Oktober, - dem Tage des Festes aller Deutschen gefeiert. - Der 18. Oktober 1813 war in der Völkerschlacht von Leipzig der Tag der siegreichen Entscheidung über Napoleon. Was jeweils damit gemeint war oder gemeint gewesen sein könnte - "Vaterland", "die" bzw. "alle" Deutschen, "deutsche Art und Kunst" usw. -, ist so ohne weiteres nicht auszumachen. Das macht ein etwas früherer Text eines Autors deutlich, der gerade im Begriffe stand, die deutsche Sprache zu einem Instrument der "Deutschheit", als Ausdruck eines "deutschen Nationalcharakters" zu profilieren: Joachim Heinrich Campe. In seiner "Reise durch England und Frankreich" (1803) heißt es (Hervorheb. vom Vf_}7: "[ ... ]ach! wir armen Deutschen w.issen ja, als solche, kaum mehr, daß wir Deutsche Vaterlandsliebe und Deutschen Volksstolz jemahls gehabt haben. Nur als Braunschweiger, als Hessen, als Sachsen, als Preußen usw. haben wir noch ein Vater­ land, und machen einstweilen noch Völker oder Völkerehen aus; als Deutsche nicht, weil das gemeinschaftliche Band, welches uns einst, als solche, zusammenhielt - Dank sei der Selbst- und Habsucht mancher Deutschen Herrscher! - erschlafft und, einzelnen Strängen nach, so oft zerrissen ist, daß es nur noch zum Schein, nicht wirklich mehr, zusammenhängt."

6

1

Friedrich Gottschalck, Almanach der Ritter-Orden, l. Abt., Leipzig 1817, S. 335 f. Zit. aus Hans-Heino Ewers, Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung, Stuttgart 1980, S. 443 ff.

14

I. Einführung Ulrich Herrmann ·

Campe spielt offensichtlich auf den Dualismus Preußen-Österreich und den inneren Zustand des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation an. Die Verhältnisse bei den Engländern seien völlig anders: "Diese besitzen [...] eine eben so warme, als wohl­ gegründete Vaterlandsliebe, und einen Volksstolz, den Griechen und Römer zur Zeit, da ihre Macht und ihr Ruhm den höchsten Gipfel erreicht hatten ". In seinem Bericht über seinen Aufenthalt in Paris (1802) schreibt Campe, daß von dem Glühen für "Gemeingeist " und "Vaterlandsliebe " aus der Zeit der Revolution nichts übrig geblie­ ben sei: "überall die kälteste Gleichgültigkeit ". Jedoch: "Die Zeit und der Französische Volksgeist haben noch nicht aufgehört zu kreisen; stündlich kommen neue Wechselbäl­ ge zum Vorschein ". Man sagte nun in der Anrede nicht mehr "Bürger ", sondern "Mein Herr ". Im Wandel der Sprache wird mit dem "Volksgeist " der "Zeitgeist " faßbar. Die Sprache offenbart das politisch aktivierende emotionale Potential der verwendeten Begriffe, und der Sprachwandel bezeichnet präzise - wie Campe belegt - die geschicht­ liche Reichweite dieses Potentials. Der Historiker Niebuhr sprach in seinen Bonner Vorlesungen von 1829 rückblickend über das Zeitalter der Französischen Revolution als einer Epoche, die durch die "Herrschaft dunkler Worte " gekennzeichnet war (Hervorheb. vom Vf.): "Der Name 'Aristokrat' machte, wie früher 'Ketzer', zum Gegenstande des Hasses und der Verfolgung, ohne daß man nach den persönlichen Gesinnungen des einzelnen fragte. Auf der anderen Seite kamen auch die Worte 'peuple' und 'nation' auf und übten ihre berauschende Wirkung aus. Gerade durch den Zauber und die Ansteckung dieser dunklen Begriffe wurde die Revolution in Schwung gehalten. Die Berührung dieser Saiten verbreitete eine allgemeine Besessenheit. "8 Ein schöner Beleg dafür findet sich in einem Brief des Grafen Mirabeau vom 18. Juni 1789 (Hervorheb. im Orig. und vom Vf.)9: "in meinem eilften Briefe an meine Committenten finden[... Sie] meinen Vorschlag[... ], der bloß[sie!] darin bestand, uns zu Repräsentanten des französischen Volks zu erklären; nämlich zu dem, was wir ganz unstreitig sind, was uns niemand zu sein hindern kann; und dieses Fachwort, dies wirkliche Zauberwort, das sich allem anpassen ließ, niemanden in Schrecken setzte, brachte den großen Prozeß auf einen sehr einfachen Satz zurück: Ob nämlich das

französische Volk oder die hunderttausend Menschen, die sich für eine besondre Kaste halten, Gesetze für ganz Frankreich machen sollen? [...] Überlegen Sie, daß alle Umstände gegen einen ausschließenden und anmaßenden Namen stritten; und daß man in meinem ganzen Vorschlage [...] nichts weiter hat auszusetzen gefunden, als das Wort: Volk. Nachdem ich das Absurde bei allen andern Vorschlägen dargetan, habe ich das Wort: Volk, in meinem Schlusse auf die Art, wie Sie's hier finden werden, vertei­ digt. Darauf hätte man mich bald in Stücken zerrissen, und man hat überall herumge­ schrieen, ich wäre ein dem Hofe[!] ergebner Mensch. " In der Epoche der Französischen Revolution konnte höchst wirkungsvoll mit den "Zauberwörtern " Volk-Nation-Vaterland und ihrer mobilisierenden, emotionalisieren­ den und - vor allem - nationale Einheitsmythen stiftenden Wirkung operiert werden.

8 Zit. nach Horst Günther, .werden unsere Begriffe im Verborgenen gemacht?", in: Disiecta Membra. Studien - Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag, Basel 1989, S. 136-148, hier S. 137. 9 Zit. nach: Mirabeau, Preußische Monarchie und Französische Revolution. Briefe nach Deutschland und Kapitel aus der .Preußischen Monarchie", übers. von Jakob Mauvillon, hrsg. von Horst Günther, Frankfurt a.M. 1989, hier S. 258-260.

Volk - Nation - Vaterland: ein Grundproblem deutscher Geschichte

15

Wenn Gefühle der Stoff sind, aus dem Politik gemacht wird - wie Tocqueville sehr richtig sah -, dann dienten die "Zauberwörter " als Grundbegriffe einer nationalen Politisierung, besonders dann, wenn mit ihnen das revolutionäre Thema der "Wie­ dergeburt " oder der "Erneuerung " verknüpft wurde. Hans-Ulrich Wehler schreibt in seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte " über die Anfange des Nationalismus in Deutschland10: "In dem Maße, in dem ein zum Religionsersatz tendierender Nationalis­ mus jenes das Selbstbewußtsein kräftigende 'psychische Einkommen' verschaffte und das Anlehnungsbedürfnis der einzelnen befriedigte, durch kollektive nationale Er­ innerungen und Erfolge[...] individuelle Frustrationen zu kompensieren verstand, trat die Bindung an die Nation, allmählich die Identitätskrise überwindend, an die Stelle der älteren Determinanten des Gemeinschaftsgefühls[ ...] Auch und gerade in Deutschland war der Nationalismus als identitätsstiftende Bewegung und Kraft mit dem 'Mythos der nationalen Erneuerung' aufs engste verknüpft[...] Die Erinnerung an die von zahllosen Generationen geteilte Sprache, Kultur und Erfahrung alter Herrlichkeit, oft verknüpft mit der Forderung, zum Altbewährten zurückzukehren, sollte zur politischen Aktion, zur Nationsbildung stimulieren. " Fichtes "Reden an die deutsche Nation " von 1808 haben darin ihre historische Bedeutung - und Wirkung noch bis in die Kriegsbegeisterung von 1914! Fichte forderte den "Mut ", "daß man sich als Deutschen schlechtweg denke " 11• Wie kann das aber geschehen in einer "gesunkenen Nation "? Es muß ein "Bindungsmittel "12 gefunden werden, daß die Einzelnen zum Ganzen einer Nation zusammenfügt. Dieses Mittel ist ein "Rettungsmittel ": die "Bildung zu einem durchaus neuen, und bisher vielleicht als Ausnahme bei einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst, dagewese­ nen Selbst, und in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließendes Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andere kommen sollte, ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Teilung; mit Einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einzige Mittel, die deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe. "13 Dieses "allgemeine und nationale Selbst " aber ist das deutsche Volk als Träger der Nationalidee. Die "neue Erziehung " der Nation kann nichts anderes sein als die Erziehung des gesamten Volkes - und nicht nur der Gebildeten - für die Nation: "Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe Eine Angelegenheit [die Erhaltung des Daseins der Nation] [...] Es bleibt sonach uns nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, so daß dieselbe nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder derselben, werde, in welcher, in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten nämlich [was der Nation dient], aller Unterschied der Stände [...] völlig aufgehoben sei, und ver-

10

1. Bd., München 1987, S. 510. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), hrsg. von Reinhard Lauth, Philosophische Bibliothek, Bd. 204, Harnburg 1978, S. 16; Hervorheb. vom Vf. 12 Ebd. , s. 20. 13 Ebd. , S. 21. Über Fichtes Ausführung zur "neuen Erziehung" als einerneuen "Nationalerziehung" vgl. unten meinen Beitrag in diesem Band. 11

I. Einführung Ulrich Herrmann

16

·

schwinde; und daß auf diese Weise unter uns, keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche Nationalerziehung entstehe. "14 Neben Fichtes "Reden " wurde die programmatische Schrift von Friedrich Ludwig Jahn, "Das deutsche Volksthum " von 1810, einer der Basistexte eines neuen deutschen Nationalismus, eben durch die religiös gefärbte Thematisierung der Gedanken von Wiedergeburt und inneren Erneuerung des deutschen Volkes im Geiste der "Hoch­ gedanken " "Volk, Deutschheit und Vaterland ".15 Jahn schreibt in der Subskriptions­ Anzeige seines Buches (Hervorheb. im Orig.)16: "Welcher Deutsche sollte nicht ein vollendetes Werk über die Deutschheit wünschen, das niedergelegt werden könnte vor dem Thron und der Volksversammlung, auf dem Altar und dem Lehrstuhl, im häusli­ chen Zimmer und im Feldlager; was gelesen würde, so weit deutsche Sprache reichte und überall, wo Deutschheit als kein vergessenes Unding gilt? Eins ist not! Ein Aufruf zum Festhalten an dem, was noch unser geblieben; Ermunterung zum Ergreifen rechter Gelegenheit; eine Ermutigung sich nicht entreißen zu lassen, was angefochten wird; Hoffnungs-Erregung vom Wiederbeginn des gewaltsam Verlorenen und sorglos Aufge­ gebenen; Erinnerung an das Verkannte und Mißkannte; ein Wecker aus der schlafsüch­ tigen Ohnmacht! Allen, die noch für Deutschheil Lebensreste gerettet haben und sich erkühnen, für sie zu denken, träumen, fühlen, lehren und hoffen, sie zu ahnen und an sie zu glauben, fehlt - ein volkstümliches Bekenntnisbuch." Retten, erkühnen, träumen, fühlen, hoffen, ahnen, glauben - besser war der nationale Selbstakt der Wiedergeburt und der Auferstehung nicht zu formulieren! "In der ganzen Lebensgeschichte eines Volks ist sein heiligster Augenblick, wo es aus seiner Ohn­ macht erwacht, aus dem Scheintode auflebt, sich seiner zum ersten Mahle selbst bewußt wird[...] Es ist ein langersehnter Schöpfungsbeginn, wenn ein Volk nach dem Verlauf schrecklicher Jahre, sich selbst, der Zeitgenossenschaft, und der Nachwelt, laut und frei, und ohne Rückhalt offenbaren darf [...] Ein Volk, das mit Lust und Liebe die Ewigkeit seines Volksthums auffaßt, kann zu allen Zeiten sein Wiedergeburtsfest und seinen Auferstehungstag feiern. "17 Schöpfung, Wiedergeburt, Auferstehung sind zugleich die vertrauten Verweisungen auf den Prozeß der Sakralisierung von " Volk " und "Nation ". "Nationalbildung " wird ­ wie "Bildung " ganz allgemein - zur deutschen "Ersatzreligion " .18 Sakralisierung von "Hochgedanken " (Jahn) aber muß sich darstellen in Bildern und Symbolen, sie muß ihre mentalitätsbildende Wirkung entfalten in ästhetischen Inszenierungen, die die politische Programmatik nicht nur sinnenfällig machen, sondern in politische Optionen und Handlungspotentiale transformieren und aktualisierbar werden lassen.

14

Ebd. , S. 23 f. Zit. nach dem Reprint der Originalausgabe von 1810, Quellenbücher der Leibesübungen, Bd. 3, Dresden o.J. , S. 9. - Der Herausgeber der Neuausgabe Edmund Neuendorffwar einer der prominentesten Wandervogel-Führer, was ein bezeichnendes Licht auf die Zusammenhänge der "nationalen Erhebungen" 1813 - 19 14 wirft. 16 Ebd., S. 13 f. 17 Ebd., s. 307. 18 Karl-Ernst Jeismann, Zur Bedeutung der "Bildung" im 19. Jahrhundert, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 111: 1800-1870, hrsg. von Karl-Ernst Jeismann und Peter Lundgreen, München 1987, S. 1- 2 1. - Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis (Edition Pandora, Bd. 14), Frankfurt a.M. / New York 1993. - Die religiöse Dimension der Nationalbildung und Nationalkultur entwickelte Fichte in der 3. Rede an die deutsche Nation. 15

Volk - Nation - Vaterland: ein Grundproblem deutscher Geschichte

17

[[[

Zahlreiche Beiträge des vorliegenden Bandes können in dieser Hinsicht an frühere Forschungen anknüpfen.19 Die Erinnerung an die Französische Revolution von 1789 hat uns nicht nur deren Bildpublizistik in Erinnerung gerufen20, sondern auch auf die mentalitätsgeschichtlichen Langzeitwirkungen von nationalen"Bildern ", Mythen und Symbolisierungen aufmerksam gemacht.21 Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat folgerichtig auch eine aktuelle Besinnung auf nationale Symbole bewirkt22 und Fragen an die aktuelle Erinnerungsarbeit stimuliert23• Dabei kam zustatten, daß die ästhetische Inszenierung von Politik und Mentalitätsbeherrschung das Thema einer Geschichtsforschung und Historiographie geworden war, die sich besonders dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewußtsein zugewandt hatte .24 Nach der Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokra­ tischen Republik existiert wieder ein deutscher Nationalstaat in der Mitte Europas. Seinen historischen"Ort" hat er noch nicht gefunden: weder im erhofften Zusammen­ wachsen von"Ost " und"West ", noch im Kontext der Neuordnung Europas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, auch nicht hinsichtlich seiner Rolle innerhalb der Europäischen Union, schon gar nicht im Hinblick auf neue internationale Engagements und Verpflichtungen. Ein neuer Nationalismus und ein neuer" Verfassungs-Patriotis­ mus" (Wehler) kämpfen um ein neues Nationalbewußtsein"der Deutschen ". Es ist die Aufgabe der Erinnerungsarbeit, nicht nur auf die Gefahren alter Holzwege aufmerksam zu machen, sondern den Blick zu schärfen für die Macht und die Gefahren der Bilder und der symbolischen Selbstinszenierungen in den Beziehungen von Nach­ barn, die sich immer auch in ihren kulturellen Besonderheiten als Völker, Nationen und Vaterländer verstehen. Insofern ist die Beschäftigung mit dem ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert von überraschender Aktualität . Die Schwerpunkte des vorlie-

19 Statt vieler: Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 206 (1968), S. 529-585; Elisabeth Fehrenbach, Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat, in: Historische Zeitschrift, Bd. 213 (1971), S. 296-357; Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. I 08), Göttingen 1995. 20 Klaus Herding/ Ralf Reichardt, Die Bildpublizistik· der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989. 11 Gerhard Brunn, Germania und die Entstehung des deutschen Nationalstaates. Zum Zusammenhang von

Symbolen

und

Wir-Gefilhl,

in:

Rüdiger Voigt (Hrsg.), Symbole der Politik- Politik der Symbole, Opladen

1989, S. 101-122; Lothar Gall, Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert (Nachrichten der Akademie derWissenschaften in Göttingen, phil.-histor. Kl.), Jg. 1992, Göttingen 1992, S. 37 ff.; ders., Germania - Eine deutsche Marianne? Und Marianne allemande? Bonn 1993; Jürgen Link!WulfWülfmg (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (Sprache und Geschichte, Bd. 16), Stuttgart 1991. - Weitere Nachweise in den einschlägigen Beiträgen des vorliegen­ den Bandes. 22 Hans Hattenauer, Geschichte der deutschen Nationalsymbole. Zeichen und Bedeutung (Geschichte und Staat, Bd. 285), München 11990. 13 Michael Ieismann/Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus (Reclam Bibliothek, Bd. 1466), Leipzig 1993; Peter Reiche!, Politik mit der Erinnerung, München/Wien 1995. 14 Statt vieler: Peter Reiche!, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Dritten Reiches, München/Wien 1991; Ulrich Hemnann/Ulrich Nassen (Hrsg.), Formative Ästhetik im Nationalso­ zialismus, Weinheim/Basel 1994.- Etienne Fr�is u.a. (Hrsg.), Nation und Emotion (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 110), Göttingen 1995.

I. Einführung

18

·

Ulrich Herrmann

genden Bandes sind daher die Entstehung eines empotionalisierten und politisierten "Volks"-Begriffs, die Entstehung und Instrumentierung eines politisierten "Nation"­ Begriffs und schließlich die ästhetische Inszenierung der Begeisterung fürs "Vater­ land".

Marianne und Germania (1848)

Ein Staatenbund Eine deutsche Flotte Ein deutsches Heer

Kein Preußen und kein Oestreich mehr, Ein einig Deutschland, stark und her, So fest wie seine Berge. Mit Gott für Freiheit und Vaterland. 1848

Pressfreiheit Volksbewaffnung Associationsrecht

Ursula A. J. Becher (Braunschweig) Nation und Lebenswelt. Zu einigen Grundlagen der Politisierung

Der Begriff der Nation gewinnt im Laufe des 1 8. Jahrhunderts einen neuen Sinn . Ursprünglich durch Geburt und Abstammung definiert, durch gemeinsame Sprache und Sitte ausgezeichnet - im Verständnis der Enzyklopädie: "mot collectif dont on fait usage pour exprimer une quantite considerable de peuple, qui habite une certaine etendue du pays, renfermee dans de certaines limites et qui obeit au meme gouverne­ ment" 1 erhält Nation allmählich eine politische Bedeutung. Diese semantische Ver­ schiebung ist ein Indikator für Politisierung. In seiner "Anthropologie" scheint Kant dem alten Sprachgebrauch verpflichtet, wenn er Nation versteht als "diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt"2, aber er läßt einen gewissen Deu­ tungsspielraum in der Art und Weise, wie diese Verbindung aufgefaßt und als "bürger­ liches Ganzes" erkannt wird. Bruchstellen in der traditionellen Rezeption der societas civilis im Sinne des Aristoteles werden im Laufe des 1 8. Jahrhunderts sichtbar. Vor allem unter dem Einfluß der Französischen Revolution und ihrer Umdeutung des tiers etat zur Nation, die, entsprechend der "Declaration des droits de l'homme et du citoyen", alleiniger Träger der Souveränität ist,3 in Ansätzen aber durchaus eigen­ ständig, wird Nation zu einer politischen Handlungseinheit, als das wahre, weil legiti­ me Subjekt politischer Praxis. -

I

Ein solcher Wandel im Verständnis des althergebrachten Wortes verweist auf tiefer­ liegende Veränderungen. Das Alte Reich verlor zunehmend an Gestaltungskraft. Neue vorandrängende soziale Gruppen verweigerten ihm ihre - vormals selbstverständliche - Zustimmung. Sie gehörten vornehmlich zur neuen Schicht der Gebildeten, die als Be­ amte in die -politische Ordnung integriert waren und sich dennoch an den starren Grenzen eines ständisch gegliederten politischen Systems rieben. Andere, die als Journalisten und vielfach brotlose Schriftsteller den politischen Diskurs führten, fühlten schmerzhaft ihre - ohne wirkliche Partizipation - beschränkte politische Wirkung. Auch

1 Artikel . Nation•, in: Encyclopedie ou Dictionnaire raisomre des sciences des arts et des metiers, Nouvelle impression en facsimile de Ia premiere edition de 175 1 -1780, Bd. 1 1 , Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, s. 36. 2 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Textausgabe, Bd. VII, Berlin 1 %8, s. 3 1 1 . 3 Vgl. Artikel 3 : . Le principe de toute souverainete reside essentiellement dans Ia Nation. Nu! corps, nul individu ne peut exercer d'autorite qui n'en emane expressement. • Zit. nach: Stephane Rials (Ed.), Textes constitutionnels francais, Paris 1982, S. 5. -

20

I. Einführung Ursula A.J. Becher ·

diejenigen, die die allmählichen wirtschaftlichen Veränderungen hellsichtig erkannten und als Unternehmer nutzen wollten, sahen ihre Tätigkeit durch die primär fiskalisch bestimmte Wirtschaftspolitik der Fürsten gehemmt. Gegen die vielfach erlebten Ein­ grenzungen, Beschränkungen, Hemmnisse formierte sich Kritik - ein von der euphori­ schen Hoffnung auf Fortschritt, Expansion aus den engen Grenzen in die Weite der Welt, von der Überzeugung der eigenen Gestaltungskraft geprägtes Bewußtsein drängte vorwärts und war ein wichtiger Faktor der Politisierung neuer sozialer Schichten. Ihre politische Aktivität freilich war - läßt man die höchst unterschiedlich wirksa­ me, immer latent gefährdete Regierungs- und Verwaltungstätigkeit der Beamten, der "Fürstendiener" in den einzelnen Territorialstaaten außer acht - auf den Diskurs beschränkt, den Jürgen Habermas in seinem Standardwerk zum "Strukturwandel der Öffentlichkeit" als ein Forum "öffentlich diskutierender Privatleute" erkannt hatte.4 Die Organisation dieses Diskurses freilich in den zahlreich erscheinenden Zeitschriften, in den neu gegründeten privaten Gesellschaften der Zeit ist ein weiteres Indiz sozialer Veränderungen , weil hierdurch tendenziell ständeübergreifend neue Ausdrucksformen und Strategien sichtbar werden. In den sozialgeschichtlich orientierten Untersuchungen zum 1 8. Jahrhundert ist auf solche Zusammenhänge vielfach aufmerksam gemacht worden.5 Daß der Bedeutungs­ wandel des Nationenbegriffs auf zugrundeliegende und daraus folgende Politisierungs­ vorgänge hindeutet, die sich wiederum konkretisieren lassen, ist offenkundig. Es fragt sich, ob ein solcher Wandel nicht auf längerfristige und tieferliegende Veränderungen zurückgeht. Müssen wir nicht grundsätzlicher fragen und Entwicklungen in der Lebens­ welt in die Analyse und Interpretation einbeziehen? Setzt der Diskurs über Nation nicht lebensweltliche Grundlagen voraus, durch die ein solches Denken erst möglich wird? Spiegelt das neue Reden über Nation Veränderungen in der Lebenswelt? Lebenswelt wird - im Sinne von Alfred Schütz und Thomas Luckmann - als "alltägliche Lebens­ welt" , als "die vornehmliehe und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen" 6 ver­ standen. Um diese Hypothese zu überprüfen, müßte man untersuchen , ob und auf welche Weise im Reden über Nation interne Wandlungen in der Lebenswelt auf­ scheinen und sich zu erkennen geben.

II

Als Beispiel kann ein für das politische Denken in der Spätphase des Alten Reiches geradezu paradigmatischer Text gelten.7 Sein Autor - Friedrich Carl von Moser - ist selbst ein vorzüglicher Vertreter jener neuen Schicht der Gebildeten, die auf dem Forum der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit den Diskurs über die Normen

4 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1 962, S. 147. 5 Vgl. etwa die Darstellungen von RudolfVierhaus, Staaten und Stände.VomWestflilischen Frieden zum Hubertusburger Frieden (Propyläen Geschichte Deutschlands, 5. Bd.), Berlin 1984; ders., Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648-1763), Göttingen 1 978. 6 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 25. 7 Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen Nationalgeist, 1766. (Die Seitenzahlen der Zitate werden dem Text in Klammem hinzugefügt.)

21

Nation und Lebenswelt

führen, die das öffentliche Leben orientieren sollen. Als Reichsjurist, Beamter und Schriftsteller ist er integriert in eine politische Ordnung, die er kritisiert und die er ver­ ändern will; zugleich ist er immer wieder ausgeschlossen und in seinem tätigen Wirken für das Gemeinwohl gehemmt, wenn nicht ganz gehindert. Als Minister in Hes­ sen-Darmstadt verfügt er, da der Landgraf an der eigenen Regierungstätigkeit wenig interessiert war, zeitweilig über große Handlungsmöglichkeiten; er habe sich - so berichten Zeitgenossen - als "Mit- oder Vizeregent" betrachtet und betrachten können.8 Diese Wirksamkeit wurde jedoch abrupt abgebrochen, als der Landgraf ihm seine Gunst entzog und ihn unter Anklage stellte, die seine Lebenssituation verdüsterte. Solche Erfahrungen sind im 1 8. Jahrhundert nicht selten und zeigen, daß die Integra­ tion der Fürstendiener in das politische System des Alten Reiches nie vollständig war. Trotz ihrer funktionalen Einbindung standen sie am Rande einer politisch-gesell­ schaftlichen Ordnung, die sich nicht praktisch umgestalten ließ. Statt dessen versuchten sie, im öffentlichen Diskurs ein Konzept politischer Praxis zu entwerfen, das noch zu verwirklichen wäre.9 Ein solcher Entwurf ist Mosers Text "Von dem Deutschen Nationalgeist" . Er verfaßte ihn unter der erschütternden Erfahrung des verheerenden Siebenjährigen Krieges im Jahre 1766. In ihm beklagt er den traurigen Zustand, in den das Reich nach den Greueln des Krieges und der Entzweiung durch die konfessionelle Spaltung verfal­ len ist. "Es fehlt uns überall" , ist seine Diagnose. [...] geht man auf die weitere[n] Quellen, auf die erste[n] Ursprünge unseres matten, schmachtenden, entnervten Zustands zurück, deutsche Männer, in deren Brust noch der Nahme: VATERLAND lebet, ist es zu hart, ist es unwahr, wann man im Nahmen seines Volks bekennen muß: wir kennen UNS selbst nicht mehr; WIR sind UNS unter einander fremde geworden, UNSER Geist ist von UNS gewichen. (S. 7) Diesem traurigen Zustand des Verfalls, der Entfremdung, der Trennung soll durch die Erweckung des "deutschen Nationalgeists" entgegengewirkt werden. Aber mit diesem Nationalgeist scheint zunächst nichts gänzlich Neues gemeint, das auf veränderte Gegebenheiten antwortet - Rettung verspricht sich Moser von der Erneuerung der alten Reichsverfassung. Nationalgeist ist ihm der Geist der "Deutschen Freyheit" , als Grundlage dieser Reichsverfassung, die bestimmt ist von "der weisen Mäßigung in dem Gleichgewicht der befehlenden und vollziehenden Macht, von dem unschätzbaren Werth und Wichtigkeit unserer Gesetze, von dem allgemeinen Interesse aller Stände, über denselben zu halten, von dem Schutz, den sie auch dem schwächsten Glied des Reichs so gut, als dem mächtigsten Stand desselben gewähren, von der Glückseeligkeit

B ADB

22, 1 885, s. 778. A.J.

9 Vgl. hierzu: Ursula

Becher, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit

in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-P1anck-Instituts für Geschichte,

218.

59},

Göttingen

1978,

S.

206-

22

I. Einführung

·

Ursula

A.J.

Becher

eines deutschen Reichsstands in Verhältniß gegen andere Staaten, von der wechsel­ weisen Liebe, Ehrfurcht und Vertrauen zwischen Haupt und Gliedern, von dem eigenen Nutzen in Unterstützung des Ansehens der Reichsgerichte" (S. 13) . Geist und Inhalt dieser Reichsverfassung, so klagt Moser, seien zu wenig bekannt, als daß sie in die politischen Entscheidungen der Verantwortlichen Eingang finden. Den Geist dieser Verfassung zur alleinigen Richtschnur des politischen Handeins zu machen, ist die von Moser vorgeschlagene Therapie, dil. den erbärmlichen Zustand des Reiches beheben kann. Diese auf einen Ursprungsmythos bezogene Argumentation, die im Rückgang auf das gute alte Recht dem seitherigen Niedergang steuern will, ist freilich nur auf den ersten Blick rückwärtsgewandt Wie nicht anders möglich, kann die "Deutsche Frey­ heit" nicht in ihrer Ursprünglichkeit aufgesucht, sondern nur aus der Perspektive des späten 18 . Jahrhunderts, nach den Erfahrungen, die Moser beschreibt, und aus ihren vielfachen Deutungen und Brechungen erkannt werden. Daher kann die Schrift "Vom deutschen Nationalgeist" als ein Text gelesen werden, in dem Veränderungen der Se­ mantik, Veränderungen im politischen Denken, in den Wertvorstellungen, dem politi­ schen Bewußtsein, deutlich werden, sind doch in die Beschwörung der heilen Ursprungssituation die Erschütterungen der Lebensgrundlagen zeichenhaft einge­ schrieben. Als ein Beispiel können die positiven Erwähnungen der Schweizer Eidgenossenschaft in dieser kleinen Schrift gelten. Nicht deren Verfassung ist es, an der sich die Politik des Reiches orientieren sollte. Die Teilung des Landes in dreizehn Kantone könnte ganz im Gegenteil - zu Konflikten zwischen den Parteien und damit zu einer Schwä­ chung des Staates führen, die Moser im deutschen Reich nach den wechselnden Koali­ tionen des Krieges und der konfessionellen Spaltung analysiert und beklagt. Nicht die Verfassung, der gemeinschaftliche Geist ist es - "nur ein Geist wird die ganze Eidgenossenschaft beseelen, und folglich die wahre Glückseeligkeit ihr allgemeines Gut seyn" (S . 55) -, dem Moser auch im deutschen Reich Verbreitung wünscht. Zwar wendet er das Schweizer Beispiel - seiner Argumentation getreu - auf die Reichs­ verfassung an : "Sind wir doch, so gut als die Helvetier, ebenfalls Eyds- und Bundesge­ nossen. Uns allen hat der Kayser seinen Eyd vor die Hut und Erhaltung der Gesetze und Freyheiten des Vaterlands geschworen; wir alle leben unter dem Schutz des grossen politisch-religiösen Friedensbundes, welche in der Sprache der Gesetze [Wahl­ capitulation Art. II § 6] selbst das immerwährende Band zwischen Haupt und Gliedern, und dieser unter sich selbst, genennet wird" (S . 55)- aber da die jüngste Geschichte ihm zeigt, daß die beste Verfassung allein das Glück eines Staates nicht befördern kann, so appelliert er an das politische Bewußtsein, die Gemeinsamkeit im Staat zu befördern. In der Beschwörung eines deutschen Nationalgeistes liegt eine starke Sprengkraft: Vordergründig geht es darum, in ihm und durch ihn eine politische Ordnung zu erneuern, die durch Fehlverhalten in der Vergangenheit verfallen ist. Indem er aber den Nationalgeist im Rückbezug auf den reinen Ursprung legitimiert, als allein rettende Gesinnung, als politisches Programm ausruft, setzt er auf eine Politisie­ rung, deren Wirkungen nicht vorauszusehen sind. Wessen Politisierung? Fragt man nach den Adressaten der politischen Appelle Mosers, scheinen politische und soziale Veränderungen auf. Zunächst sind das die Reichsstände, die aufgerufen werden, ihre in der Verfassung begründeten Rechte und Pflichten gewissenhaft wahrzunehmen. Genauer, ausführlicher und auch hoffnungsvol­ ler, was die Realisierung seiner Reformvorstellungen betrifft, wendet er sich an die

Nation und Lebenswelt

23

Gelehrten und Beamten, von denen er einen fundierten öffentlichen Diskurs und eine am Nationalgeist orientierte politische Praxis erwartet : "Redliche, Einsichtsvolle, ihr Vaterland liebende, dessen Verfassung kennende und von dem Secten- und Partbiegeist unangesteckte, in würcklichen Staatsgeschäften und Landesregierungen stehende Män­ ner müssen sich dabey noch näher und unmittelbar würcksam erfinden lassen." (S. 45) Auf solche Männer zu hoffen, ist nicht unrealistisch, denn: "GottLob! unser Vaterland hat deren noch viele, noch mehrere, als man wohl glaubt, aufzuweisen." (ebenda) Die Hervorhebung der Beamten entspricht ihrer Bedeutung in den deutschen Territorialstaaten. Die normativen Voraussetzungen, die er an ihre Auswahl knüpft, ihre Orientierung an einer Staatsidee, macht aus ihnen eine politische Gruppe und prädestiniert sie zu potentiellen Teilnehmern am öffentlichen Diskurs. Zudem werden ständische Zugangssperren zu politischen Ämtern tendenziell reduziert und auf Dauer hin eingeebnet, wenn auch nicht in der radikalen Weise aufgehoben, daß Geburts­ privilegien prinzipiell negiert würden. So richtet Moser seine Hoffnungen auf "einen zu Geschäften durch Geburt bestimmten oder durch Talente fähigen Mann. " (S. 45) Mosers Text "Vom deutschen Nationalgeist" reflektiert die politische und ge­ sellschaftliche Situation Deutschlands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der eine Schicht der Gebildeten aus Beamten, Professoren, Pfarrern, Schriftstellern erkennbar wird, die den öffentlichen Diskurs führen, in ihm über den Zustand des Staates und der Gesellschaft diskutieren und Konzepte entwerfen, wie die politische und soziale Ordnung aussehen sollte und könnte. Friedrich Carl von Moser gehört zu ihnen. Seine Schrift "Vom deutschen Nationalgeist" ist von einem appellativen Sprach­ duktus geprägt, der die Intention des Autors verrät, die öffentliche Diskussion zu beeinflussen und eine politische Wirkung zu erzielen. Sie belegt, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Idee der Nation das politische Denken belebt und neu orientiert.

lii

Wo aber liegen die Ursachen für dieses neue Reden? Man könnte sie in dem Bedürfnis einer sozialen Schicht sehen, ihren Platz in einer in vielfacher Hinsicht obsolet gewor­ denen politischen Ordnung zu finden. Mit neuen Schlüsselbegriffen will sie die alte Ordnung aufbrechen und mit einer neuen Sprache auch eine neue Welt bezeichnen. Die Existenz dieser neuen sozialen Schicht freilich zeigt politische, wirtschaftliche, soziale, mentale Veränderungen an, die teilweise auf längerfristige Entwicklungen zurückge­ hen. Die bereits im Mittelalter einsetzende und nach den konfessionellen Bürgerkriegen verstärkte Machtstellung der Fürsten und die daraus folgende und damit verbundene Herausbildung des neuzeitlichen Territorialstaates schufen die Grundlagen für die zahlreich benötigten Beamten, die sich zunächst als Fürstendiener verstanden, aber besonders im 1 8. Jahrhundert in ihrem Selbstverständnis ihr Amt von der fürstlichen Person abgelöst, als Dienst am Gemeinwohl begriffen. In dieser Tätigkeit nahmen sie die ökonomischen und sozialen Entwicklungen früher als andere wahr. Erste Anzeichen eines Prozesses, den wir heute als Modernisierung kennzeichnen, konnten einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen. Ließ sich etwa die wirtschaftliche Tätigkeit allein oder überwiegend unter fiskalischen Erwägungen steuern? Konnte eine Wirt-

24

I. Einführung

·

Ursula A.J. Becher

Schaftspolitik als erfolgreich gelten, die über Privilegien und Monopolvergabe die in diesem Bereich aktiven Bürger an die Gunst des Fürsten band, oder sollte man sich staatlicher Eingriffe nicht eher enthalten und der wirtschaftlichen Tätigkeit einen weiten Spielraum zur eigenen Entfaltung überlassen? Andere Fragen, die sich Beamte stellen mußten, waren solche der rechtlichen Verfassung. Wie mußte sie ausgeformt werden, um den allmählichen gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden? Die Herausforderungen ihres jeweiligen Amtes waren es, die die Beamten für den öffentli­ chen Diskurs qualifizierten und zugleich prädestinierten. Die Universität war seit dem 16. Jahrhundert der Ort, an dem die Beamten ausgebil­ det wurden, aber nicht nur sie, sondern auch Geistliche, Ärzte, Professoren. Ein Studium wurde vielfach als Möglichkeit sozialen Aufstiegs begriffen und war im 1 8. Jahrhundert auch dann noch begehrt, als nach seinem erfolgreichen Abschluß für viele kein Amt mehr winkte und der materiellen Not begegnet werden mußte. Man könnte daher, wenn man die Situation der Schicht der Gebildeten analysierend zusammenfaßt, ein Bedürfnis annehmen, ihren Platz in der Gesellschaft über neue sprachliche Symbo­ le, im Reden über Nation zu definieren. Was aber ist ihnen Nation? So wie sie sich selbst als Bürger verstanden - nicht als Mitglied des städtischen Bürgertums, dem sie freilich oft entstammten, sondern als cives, der sich über die societas civilis defmiert, ist Nation für sie eine Gesellschaft von Staatsbürgern.10 Wenn dieses Verständnis auch noch lange traditionelle Elemente in sich enthielt und sich eine Deutung des cives als citoyen erst in der Erfahrung der Französischen Revolution durchsetzt, sind die Voraussetzungen eines solchen Begriffs früh gestellt, so etwa, wenn Kant den cives, d. i. Staatsbürger, als einen Untertan bezeichnet, der an der obersten Gewalt teilnimmt." Wenn aber Nation als Staatsbür­ gergesellschaft gedacht werden kann, muß einem solchen Denken ein Wandel in der Lebenswelt vorausgegangen sein. Denn eine Nation aus Staatsbürgern setzt eine Auflö­ sung der Ständegesellschaft mit ihren deutlichen, starren Zuordnungen zugunsten einer zumindest ansatzweisen Individualisierung voraus. Eine Staatsbürgergesellschaft kann ihre Mitglieder nur als einzelne und gleiche verbinden. Daß - um mit Kant zu sprechen - das Kriterium der "bürgerlichen Selbständigkeit" 12 zunächst noch ein bestimmendes Qualifikationsmerkmal blieb, das "ganze Haus" sich nicht für alle seine Insassen öff­ nete, widerspricht dieser Charakterisierung zwar in theoretischer, nicht aber in histori­ scher Hinsicht. Noch wirkte die aristotelische Tradition der selbständigen Hausväter lange nach. Noch ist die Ständegesellschaft nicht wirklich aufgelöst. Noch sind die Individuen als einzelne aus ihrer ständischen Gebundenheit nicht völlig hervorgehoben. Und dennoch - so als sei dieser Prozeß der Freisetzung des Individuums aus ständischer

10 Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648-1 763), Göttingen 1 978, S. 78. 1 1 Manfred Riede), Artikel.Bürger", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1 , Stuttgart 1972, S. 695. 12.Gesetzliche Freiheit", .Bürgerliche Gleichheit"

und.Bürgerliche Selbständigkeit" sind nach Kant die

Attribute des Staatsbürgers. Diese .bürgerliche Selbständigkeit" defmiert er so: .Seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied

des gemeinen Wesens verdanken

zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten

durch keinen vorgestellt werden zu können." Zur näheren Erläuterung: .Alles Frauenzimmer und überhaupt

jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer der des Staats)

genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit." Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, II. Teil, 1 . Abschn., § 46, Philosophische Bibliothek, Bd. 42,

Harnburg

1966,

S.

136.

Nation und Lebenswelt

25

Gebundenheit bereits abgeschlossen - ist das beherrschende Zeitgefühl ein Bewußtsein der Kontingenz, des Erwartungsbruchs, der Unangepaßtheit an gewandelte Verhält­ nisse, eine verbreitete Stimmung der Melancholie. In ihr spricht sich ein Leiden an Modernisierung aus, die - obgleich sie sich erst ankündigt - in die Lebenswelt der Menschen bereits eingezeichnet zu sein scheint.

IV

Lassen sich solche Stimmungen als Zeichen für grundlegende Wandlungsvorgänge deuten? Was die Melancholie betrifft, so ließe sie sich als ein Zustand begreifen , dem Menschen eigentümlich, der um seine Endlichkeit weiß. Seit der Antike bereits ver­ suchte man, diese merkwürdige Gemütsverfassung zu ergründen.13 Während sie einer­ seits als Krankheit galt, für die es keine Heilung zu geben schien, feierten andere sie als Ausdruck schöpferischen Geistes. Dürers berühmte Deutung in seinem Kupferstich "Melancholia I" aus dem Jahre 15 14 vereinigt das "allegorisierte Ideal einer schöpferi­ schen Geisteskraft" und "die schreckenerregende Vorstellung eines Zerstörerischen Seelenzustandes" und gibt dadurch dem Verständnis von Melancholie einen neuen Sinn14, der für die neuzeitliche Deutung wegweisend war. Für den Historiker freilich sind solche gemüthaften Befindlichkeiten in der Regel kein Gegenstand seiner Untersuchung. Erst wenn sich Stimmungen als dominantes Zeitgefühl zu erkennen geben, wird er ihre Erscheinungsformen analysieren und nach ihren Ursachen forschen. Eine solche Voraussetzung ist im 18 . Jahrhundert gegeben: Die verbreitete Mentalität ist dunkel eingefärbt, das ist verschiedentlich bemerkt und ausgeführt worden.15 Um sie als Ausdruck von lebensweltlichen Wandlungsprozessen zu deuten, müssen daher ihre Erscheinungsformen näher betrachtet werden. Es sind dies vor allem zwei - auf den ersten Blick widersprüchliche - Phänomene: ein auf­ fallender Rückzug des Individuums auf sich selbst und ein Drängen nach Kommunika­ tion mit anderen. In seiner trüben Stimmung ist der einzelne ganz auf sich selbst bezogen. Sein Denken und Fühlen kreist vornehmlich um seine eigene Person. Die Selbstbeobachtung wird so intensiv betrieben, daß sie für den Betrachter geradezu pathologische Züge annimmt. Die akribisch genauen Wahrnehmungen des eigenen Gemütszustandes werden in der Regel aufgezeichnet: Mit einer unverkennbaren Freude, die eigene Subjektivität artikulieren zu können, wird die vage diffus-schweifende Stimmung in einer literari­ schen Gestalt aufgefangen und dadurch erkennbar. Erst in dieser Formung als Text ­ sei es als elaboriertes oder eher fragmentarisches autobiographisches Zeugnis - kann

13 Wolfgang Weber, Im Kampf um Satum. Zur Bedeutung der Melancholie im anthropologischen

Modernisierungsprozeß des

1 6.

und

17.

Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung

17 (1 990),

s. 155-192. • • Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Satum

und Melancholie. Studien zur Geschichte der

Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M.

1 990,

S.

" Zunächst von Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a.M.

448. 1969.

- Ursula A.J.

Becher, Sozialgeschichte der Lebensformen als Forschungsproblem, in: Konrad Jarausch/Jöm Rüsen/ Hans Schleier (Hrsg.), Geschichtswissenschaft vor

2000.

Perspektiven der Historiographiegeschichte,

Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. lggers zum

1 99 1 , s. 391

ff.

65.

Geburtstag, Hagen

I. Einführung Ursula A.J. Becher

26

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der melancholische Einzelgänger seine Selbstwahrnehmungen analysieren und deuten, ohne sich allein krankhaft in Stimmungen zu verlieren. Die deutliche Bezogenheit auf die eigene Person freilich verhüllte dem einsamen Betrachter die Außenwelt. Sie wurde oft verzerrt oder gar nicht in ihrer Eigenheit bemerkt. Statt dessen verschmolzen ihm Innen- und Außenwelt. Die Natur etwa, die in Tagebüchern und Briefen emphatisch beschworen, angerufen und immer wieder beschrieben wurde, verlor gleichsam in dieser Selbstsicht ihre eigene,objektive Existenz. Sie verflachte zu einem Spiegel, der immer nur das Antlitz des Betrachters zurückwarf. Zuletzt wurde sie von ihm aufge­ nommen als ein Teil seiner selbst. Die oftmals dunkle Stimmungsfarbe dieser Selbstartikulationen darf freilich nicht über die Antinomien hinwegtäuschen,die sich in diesen Texten verbergen,und die als Charakteristik der Melancholie selbst gilt: nicht nur als Seelenkrankheit, auch als Auszeichnung menschlicher Kreativität ist sie gekennzeichnet worden. 16 Ähnliches läßt sich zum Zeitgefühl im 18. Jahrhundert sagen: Mit der Artikulation der eigenen Sub­ jektivität ist - nicht immer auf den ersten Blick offenbar - die Erkenntnis individueller Autonomie verbunden. Neben dem Leiden an einer Freisetzung aus vormaliger Gebor­ genheit gibt es die unverhohlene Euphorie,die aus der Gewißheit entsteht,über neue, ungeahnte Handlungsspielräume zu verfügen,das Bewußtsein,frei zu sein,die Hoff­ nung,Welt gestalten zu können. Diese beiden psychischen Dispositionen - melancholische Selbstversunkenheit und euphorische Selbstgewißheit - sind die Grundlage für die oben genannten, zunächst widersprüchlichen Ausdrucksformen der Mentalität: dem Rückzug des Individuums auf sich selbst und sein Verlangen nach Kommunikation mit anderen. Der Einsame sehnt sich nach einem Du,einem Freund,einem Partner,der das enge Gehäuse seiner Selbstbeschränkung öffnet, der ihn als den, der er ist und als den er sich erkannt hat, wahrnimmt und anerkennt und seinen endlosen Betrachtungen zuhört. Wenn auch viele Anzeichen darauf hindeuten, daß der Einzelgänger im Grunde ein Einzelgänger bleibt,·weil er nicht aufhört,in seinem Narzißmus immer um sich selbst zu kreisen und deshalb dem anderen kein wirkliches Eigenrecht zuzubilligen, ist der Wunsch,aus dieser Selbstversunkenheit aufzutauchen und einen Freund zu gewinnen, unverkennbar. Brief- und Freundschaftskult sind Medien einer solchen Verbindung. Auch ein verändertes Verständnis der Ehe, die - wie Niklas Luhmann es nennt "Intimität neu codiert"17,gehört in diesen Zusammenhang. Die "romantische Ehe" am Ende des Jahrhunderts verbindet zwei Individuen, die sich aus eigenem Entschluß aufgrund einer emotionalen Zugehörigkeit,einer Liebesbeziehung,für ein gemeinsames Leben entscheiden, das auf Partnerschaft angelegt ist. Läßt sich das Bedürfnis nach dem Miteinander aus dem Rückzug des Einsamen her erschließen, so ist auch die andere psychosoziale Disposition - die Hoffnung und der Wille zur Weltgestaltung - auf Kommunikation bezogen; denn nur wenn die einzelnen, die sich nun in ihrem Bewußtsein als einzelne in der Welt wiederfinden,nicht mehr in vorgegebene soziale Ordnungen eingebunden und von ihnen getragen,sich mit anderen einzelnen zu gemeinsamem Tun vereinigten, wären Veränderungen in Politik, Wirt­ schaft,Gesellschaft zu denken und zu realisieren. Solche Vereinigungen,Zirkel,Grup-

16 17

Vgl. Klibansky (Anm. 14). Nildas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 41984, S. 50 ff.

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penbildungen, Gesellschaften, die zahlreich und in vielfältigen Formen im 18. Jahrhun­ dert entstehen, sind Ausdruck des beschriebenen Wunsches nach Kommunikation und aktiver Weltgestaltung.18 Den unterschiedlichen Bedürfnissen entsprachen verschieden­ artige gesellige Verbindungen. Dem privaten Wunsch nach Selbsttindung dienten meist kleine Zirkel Gleichgesinnter, für die der Gedankenaustausch und das gesellige Bei­ sammensein wichtig waren und auch genügten. Wenn aber - wie es oft geschah - die persönliche Entfaltung durch Bildung erhofft und angestrebt wurde, ging die Wirkung solcher Vereinigungen über das private Erfülltsein hinaus. Bildung veränderte das Individuum, das die Möglichkeit gewann, mit neuer Kompetenz in seine unmittelbare Umgebung, ja: in die Öffentlichkeit hinein zu wirken. Die zahlreich entstehenden Lesegesellschaften sind ein gutes Beispiel für diesen Sachverhalt. Sie dienten zunächst einem praktischen Zweck,die teuren Bücher,die für viele Bürger privat unerschwing­ lich gewesen wären, einer größeren Zahl von Interessenten zugänglich zu machen. Diese konnten das jeweilige Buch entleihen oder in den Räumen der Gesellschaft lesen und sich durch die Lektüre bilden. Neben diesen individuellen Bedürfnissen wurden zugleich kommunikative Wirkungen erzielt: sowohl in der Verbreitung des erworbenen Wissens wie auch durch den gesellschaftlichen Diskurs. Die Lesegesellschaft schuf den Rahmen, der den Gedankenaustausch über die Lektüre ermöglichte und zu einer Dis­ kussion über alle Fragen des Zusammenlebens und der politisch-gesellschaftlichen Ordnung anregte. Die zahlreichen Zeitschriften, die hier gelesen, diskutiert und wiederum von Mitgliedern solcher Gesellschaften mit Beiträgen versorgt wurden,wur­ den immer mehr zu einem Forum eines aufgeklärten Diskurses. Auch in dieser Hinsicht wurden die Grenzen des Privaten immer wieder zur Öffentlichkeit hin geöffnet. Auch die praktischen Umgangsformen in den neuen Gesellschaften des 18. Jahrhun­ derts sind nicht ohne politische Folgen. Wenn auch den meisten Mitgliedern ein revolu­ tionärer Impuls fernlag und wohl die wenigsten von ihnen eine fundamentale Umge­ staltung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung auch nur imaginierten, wider­ sprach die Art ihres gesellschaftlichen Umgangs dem herrschenden ständischen System. Lesegesellschaften waren ständeübergreifend. Ein jedes Mitglied sprach für sich selbst und war als gleiches mit gleichen verbunden. Oft wechselte der Vorsitz der einzelnen Sitzungen. Über den Erwerb eines jeden Buches wurde abgestimmt. Eine solche Praxis konnte nicht ohne politisierende Wirkung bleiben: zum einen stellte sie ein Gegenbild zur bestehenden Ordnung dar, zum andern war sie ein vorzügliches Experiment, um Formen politischer Praxis,die einer funktionierenden Staatsbürgergesellschaft gemäß sind,einzuüben.

V

Wenn bereits Lesegesellschaften, die primär aus den privaten Bildungsbedürfnissen entstanden sind und der Selbsttindung dienten, eine politische Bedeutung hatten, wieviel mehr mußte das für jene Gesellschaften gelten, die ihre Gründung Reform­ bewegungen verdankten und von "Utopie" und "Reform" bestimmt waren19: die

18 Richard von Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und auf­ klärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986.

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I. Einführung Ursula A.J. Becher ·

wissenschaftlichen, gemeinnützigen,die ökonomisch-landwirtschaftlichen Gesellschaf­ ten. Ihnen ging es um unmittelbare praktische Verbesserungen der Gesellschaft,der sie umgebenden Lebenswelt. Zusammenfassend läßt sich die intensive Gesellschaftsbildung im 1 8. Jahrhundert als Indikator für Politisierung deuten. Ihr zugrunde lagen zwei Entwicklungen,die diese Veränderungen der Lebenswelt hervorriefen: eine Individualisierung,die oft als Ver­ einzelung erlebt wurde, und die Vereinigung einzelner Individuen zu gemeinschaftli­ cher Praxis. Ist die Individualisierung,indem sie Staatsbürger entläßt,Grundlage der Rede über die Nation,so ist die Gesellschaftsbildung als Assoziation einzelner Indivi­ duen Ausdruck und Voraussetzung von Politisierung. Die Schrift von Friedrich Carl von Moser über den "deutschen Nationalgeist" läßt sich als Dokument dieser Zusammenhänge lesen: Es handelt sich um einen politischen Text, in der Intention geschrieben,öffentliche Wirkung zu erzielen und eine Verbes­ serung der politischen Verhältnisse zu erreichen. Dieser politische Text spiegelt die Veränderungen der Lebenswelt wider. Die Melancholie des vereinzelten, einsamen Einzelgängers und der Wunsch nach Kommunikation als Voraussetzung wirksamer politischer Praxis sind in diesen Text mit vielen Zeichen eingeschrieben. Klage,Ver­ zweiflung,Resignation finden sich ebenso darin wie der leidenschaftliche,unbeugsame Wille zur Reform. In seiner Schrift "Vom deutschen Nationalgeist" beklagt er die trennende Isolierung: "Wir werden uns untereinander fremd,und die Gleichgültigkeit und der Kaltsinn in einer deutschen Provinz gegen die andere steigt immer höher" (S. 28), ein beklagenswerter Zustand,der einer Nation nicht günstig ist. Wie könnte man ihn überwinden? Zuerst müßte eine bessere Kenntnis unter den Bewohnern der deut­ schen Länder voneinander auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit beleben und stär­ ken. Eine bessere Kenntnis sollte sich möglichst durch Augenschein, durch eigene Erfahrung bilden. Man müßte sich an die Orte begeben. Solche Forderungen aber lassen sich nur durch Mobilität verwirklichen,die gerade dem Beharren in ständischer Gebundenheit widerstreitet. Mangelnde Mobilität, beharrende Gewohnheiten sind es daher,die Moser in seiner Analyse kritisiert. "Unsere junge Deutsche",so beklagt er ein Verhalten,das gleichwohl der Tradition entsprach, "halten Reisen nicht anders als junge Störche, sie besuchen nur das Nest, wo ihr Vater und Großvater war" (S. 50). Ein solches Verhalten hält sie in Unkenntnis befangen und hat fatale Folgen für ihre politische Bildung,vor allem dann,wenn es sich um Menschen handelt,die zu Regie­ rungsämtern bestimmt sind. "Was hilft es einem Rheinischen Edelmann,welcher der­ einst wohl Churfürst in einem der drey Erzstifte wird,daß er Rom,Wien und alle ca­ tholische(n) Höfe gesehen hat und nicht weiß, noch aus lebendiger Kenntniß erfährt, wie man in Berlin, Dresden, Hannover, Cassel und an andern Orten, wo doch auch noch Deutsche wohnen,denkt." (S. 50) Es ist die konfessionelle Spaltung, die die Aufmerksamkeit vom Gemeinwohl auf partikulare Interessen ablenkt,die die Bürger trennt und ein gemeinsames Verständnis unter ihnen erschwert; es ist die konfessionelle Spaltung, die der Ausbreitung eines deutschen Nationalgeistes im Wege steht. In vielen Schriften hat Moser wie hier diese religiöse Trennung beklagt und gezeigt, wie sehr sie seine Erfahrung geprägt hat.

19 U1rich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1 982, S. 75 ff.

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Wenn es auf absehbare Zeit auch nicht möglich zu sein scheint, diese Trennung aufzuheben, so sollte doch eine genauere Kenntnis ein besseres Zusammenleben fördern. Eine verbesserte Kommunikation kann Abhilfe schaffen. Moser rät, sich zu diesem Zweck an den Reisegewohnheiten eines jungen Malers zu orientieren: "Er muß alle Schulen besuchen, sich mit der Manier einer jeden bekanntmachen und dadurch selbst Kunstrichter und Künstler werden." (S. 50) Erst wenn er alle Schulen und alle Kunstrichtungen kennengelernt hat, so meint Moser, wird er den weiten Blick, den rechten Überblick über die Möglichkeiten und Wege bildnerischen Gestaltens zu seiner Zeit gewonnen haben. Vorschnelles Eingehen auf lange Gewohntes, Vernachlässigung des Fremden, Ausschluß des anderen, Denkverbote hindern den,der sich solcher Art beschränkt, an der vollen Kraft künstlerischer Kreativität. Auf der Grundlage dieses gewonnenen Wissens wird dieser Mensch ein guter Kunstkritiker sein - er wird die einzelnen Bilder genau zuordnen, ihre Gestaltung im einzelnen verfolgen, ihren Wert vergleichend reflektieren und beurteilen können. Er wird aufgrund eines solchen Bildungsweges ein Künstler werden können, der alle Kunstrichtungen kennengelernt hat, nicht um eine davon nachzuahmen, sondern um seinen eigenen Weg zu finden. Das Reisemodell des Künstlers soll dazu führen, über die genaue Kenntnis des Fremden das Eigene zu erkennen. Wie könnte ein solches Modell auf die öffentliche Ebene über­ tragen werden und zur Verbesserung der allgemeinen Kenntnis, der Ausbreitung eines Nationalgeists beitragen?

VI

Mosers Kritik an der Reiseroute der künftigen Fürsten und sein Vorschlag zu ihrer Erweiterung könnte auf eine Modifikation der obligaten Kavalierstour hinauslaufen. Doch enthalten seine Pläne grundlegendere Neuerungen. Er möchte den Kreis derjeni­ gen, die eine solche Tour unternehmen, erweitern. Sie soll nicht mehr allein den jungen Adeligen vorbehalten sein, die an fremden Höfen Bekanntschaften machen und Kennt­ nisse erwerben sollten, um sich dadurch auf ihr künftiges Regierungsamt vor­ zubereiten. Moser möchte vielmehr einen jeden "durch Talente fähigen jungen Mann" (S. 49) auf Reisen schicken. Sein Vorschlag hat nichts Revolutionäres: Der Adel soll nicht durch andere soziale Schichten in seiner politischen Bedeutung ersetzt werden, wohl aber könnte die soziale Basis der Regierungen erweitert werden. Da Moser wirksame Veränderungen von der Tätigkeit der Beamten erhofft, ist ihre Qualifizierung eine wichtige Voraussetzung seines Reformkonzepts. Sein Vorschlag stellt auch keine unrealisierbare Forderung auf. Er entspricht weitge­ hend Veränderungen in der Lebenswelt. Denn das Reisen hat im 1 8. Jahrhundert eine Entwicklung erfahren20: es hat eine andere Qualität gewonnen und neue soziale Grup­ pen in seinen Bann gezogen. Seit jeher waren Menschen auf der Wanderschaft: auf der Flucht aus politischen, militärischen, wirtschaftlichen, beruflichen, religiösen Motiven, vor Kriegen und Naturkatastrophen- Fürsten und Bischöfe, Landsknechte und Söldner, Kaufleute und Handwerksgesellen, Menschen auf Pilgerfahrt. Ihr Reisen war zweckge-

20 Ursula A.J. Becher, Geschichte des modernen Lebensstils. Essen, Wohnen, Freizeit, Reisen, München 1990, s. 196 ff.

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bunden,sie waren froh,am Ende des gefahrvollen Weges angekommen zu sein. Dank technischer und organisatorischer Verbesserungen wurde Reisen bequemer und verlor seinen einstmals bedrohlichen Charakter. Nicht mehr allein das Ziel der Fahrt, der Weg dorthin erhielt seinen Reiz. Diese Veränderungen ermöglichten immer mehr Menschen - auf die Gesamtheit der Bevölkerung bezogen freilich einer Minderheit -, sich auf Reisen zu begeben. Sie verließen die Enge ihres gebundenen, beschränkten Lebens und brachen in die Weite auf,in der Hoffnung auf Welterfahrung und Weltge­ winn. In der Durchmessung neuer unbekannter Räume suchten sie das ganz andere. Was konnte das andere sein? Für manche war es die von Menschen bis dahin unbe­ rührte,elementare,die ursprüngliche Natur - Saussure besteigt im Jahre 1787 als erster den Mont Blanc und leitet mit dieser Erstbesteigung die Epoche des Alpinismus ein. Das andere konnte auch als Fernstes gesucht werden. Wenn bei den großen Weltumsegelungen die Schiffe auf der West-Ost-Route nach gefährlicher Fahrt Tahiti erreichten,erschien den Europäern nach den überstandenen Gefahren diese Insel wie ein Paradies.2' Die fremden Menschen als "edle Wilde" idealisiert, schienen in einem glücklichen Naturzustand zu leben, den die Europäer unwiederbringlich verloren hatten. Indem die Reisenden die natürliche Welt des "edlen Wilden" beschrieben, entwarfen sie ein traumhaftes Gegenbild zu ihrer eigenen Welt, der Welt der europäischen Zivilisation,die als Entfremdung von der Natur erfahren wurde, ohne daß es ihnen möglich war, den reinen Ursprung zurückzugewinnen. Obgleich so die Fremde fremd blieb und sich in diesem Sinne den Reisenden verschloß, konnten die dort gewonnenen Erfahrungen dennoch Einfluß auf die nahe Lebenswelt haben, so etwa, wenn Georg Forster - sein Bericht "Reise um die Welt" enthält viele aussagekräftige Beispiele für eine solche Verarbeitungs- und Denkweise - in der Reflexion des Fremden ein Bewußtsein der europäischen, seiner Eigenheit gewann. Nicht allein das Fernste, auch das Nächste konnte durch die Bewegung im Raum in einem neuen Licht erscheinen. Mit der Gewöhnung an das Immergleiche verlor die bestehende und doch gewordene Lebenswelt den Charakter starrer Unabänderlichkeit. Auf Veränderung der Nähe war denn auch das Reisekonzept August Ludwig von Schlözers ausgerichtef2, der in seinen Vorlesungen seine Zuhörer ermunterte, das fremde Land genauestens zu erforschen und durch Beobachtung und Recherchen alle nur erreichbaren Nachrichten zu sammeln,nicht allein um Kenntnisse fremder Kultu­ ren anzuhäufen und gleichsam ethnologisches Wissen bereitzustellen,sondern um aus solchen Erfahrungen die heimische politische Praxis zu beeinflussen. Solche Motive waren es auch,die Friedrich Carl von Moser leiteten,wenn er sich von vermehrtem Reisen positive Wirkungen für die deutschen Verhältnisse versprach. In seiner Schrift erwähnte er die beliebten Badeorte der Epoche, die einen gesell­ schaftlichen Kosmos im Kleinen darstellten23,denn in ihnen bildete das gesellige Leben

21 Urs Bitterli, Die Wilden" und die .Zivilisierten" : Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976. Zu den tiefen Mißverständnissen in dieser Begegnung: Marshall Sahlins, Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreichs Hawaii, Berlin 1986. 22 August Ludwig von Schlözer, Vorlesungen über Land- und Seereisen (WS 1795/96), hrsg. von Wilhelm Ebe1, Göttingen 21964. 2 3 R.P. Kuhnert, Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhundert (Veröf­ fentlichungen des Max-Pianck-Instituts für Geschichte, 77) , Göttingen 1984. •

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den lockeren Rahmen für einen durchaus ernsthaften Diskurs über wissenschaftliche und politische Themen. Ein solcher Diskurs, der sehr unterschiedliche Menschen in freier Atmosphäre vereinte,konnte Konzepte für eine Neuordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens entwickeln,die anschließend in eine größere Öffentlichkeit hinein vermittelt werden konnten. Friedrich Carl von Moser erwartete viel von einem solchen Diskurs: "Wer weiß, ob nicht unserm Carls- oder Schlangenbad, unserm Schwalbach oder welch anderm Winkel deutscher Erde eine gleich heilbringende Erscheinung,als dem Helvetischen Schinznach aufgehoben ist!" (S. 46) Die Erwähnung von Schinznach hatte programmatischen Charakter.24 Bad Schinz­ nach war Tagungsort der dort 176 1 gegründeten Helvetischen Gesellschaft25, aus ähnlichen reformerischen Motiven gegründet wie viele andere Gesellschaften im 18. Jahrhundert. Die freie,ungebundene Atmosphäre des Badeortes war der Sammlung und der ruhigen,intensiven Erörterung günstig. Keine bürokratisch hemmende Organisa­ tion, keine drängende Tagespolitik störten die Diskussion dieser "Privatleute", die aus Magistratur und Patriziat, aus beiden Konfessionen, als Kaufleute, Gelehrte, Lehrer, Verwaltungsbeamte, Ärzte, einigen Künstlern und Handwerksmeistern - die Ober- und Mittelschicht der zeitgenössischen Schweizer Gesellschaft repräsentierten. Wie Friedrich Carl von Moser über den Zustand Deutschlands, so waren auch sie besorgt über die Krise ihres Landes und wollten sie durch Reformen überwinden. Ihre Klagen waren denen Mosers ähnlich: Die konfessionelle Spaltung und die Aufteilung des Landes in Kantone hatten Trennung bewirkt und gefahrdeten die Einheit des Landes. In der Helvetischen Gesellschaft nun - und darin lag für Moser ein nach­ ahmenswertes Programm - diskutierten Privatleute über alle Grenzen und Spaltungen hinweg, von Reformabsichten geleitet,auf eine helvetisch-nationale Ethik hin ausge­ richtet. Ihre langfristige Wirksamkeit hätte Moser auch im Deutschen Reich gerne verwirklicht gesehen,wenn er auch realistischerweise nicht daran denken konnte. "Die Helvetische Gesellschaft ist schließlich zu einer Art von inoffizieller Nationalver­ sammlung geworden. Eine ihrer großen Leistungen ist, daß sie in den Revolu­ tionsjahren die gegenseitige Verketzerung nicht mitmachte,sondern bis zum Schluß die Freiheit offener Aussprache erhalten konnte. "26 Für Friedrich Carl von Moser war an diesem Vorbild bedeutsam - und aus diesem Grunde erwähnte er Bad Schinznach -,daß hier Schweizer aus allen Landesteilen über konfessionelle Grenzen hinweg über politi­ sche und gesellschaftliche Themen diskutieren konnten,bewegt von einem allgemeinen, nicht provinziell verengten,eben Helvetischen Patriotismus und darin seinen Vorstel­ lungen vom "deutschen Nationalgeist" verwandt. Moser reflektiert mit der Aufnahme solcher positiver Beispiele in sein Programm politischer Erneuerung Veränderungen in der Lebenswelt,in diesem Falle den Wandel des Reisens,das immer mehr und andere Menschen als zuvor aus einem anderen Motiv als bisher üblich einschloß. Die politisierende Wirkung solcher Veränderungen läßt sich auch in anderen Bereichen nachweisen.

24 Ulrich Im Hof nennt sie freilich realistisch: "a utopian dream.• Dennoch verlangt Mosers Hinweis eine genauere Erörterung. Vgl. U. Im Hof, German Association and Politics in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Eckhart Hellmuth (Hrsg.), The Transformation of Political Culture. England and Germany in the Late Eighteenth Century, Oxford 1990, S. 209. 25 Vgl. Im Hof (Anm. 19), S. 1 60-1 63. 6 2 Ebd., S. 1 63.

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I. Einführung Ursula A.J. Becher ·

VII

Nicht nur die Bewegung im Raum, auch eine Bewegung in der Zeit, das heißt: eine produktive Weise der Erinnerung in der Aneignung historischen Wissens und seine öffentliche Verwendung ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts festzustellen. Die beginnende Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in der Aufklärungshistorie zeigt an,daß historische Erkenntnis einen wichtigen Ort im allgemeinen Diskurs fmdet. Voraussetzung dafür ist eine spezifische,methodisch-geregelte Betrachtungsweise der Vergangenheit. Nur in dieser überprüfbaren Form konnten die Ergebnisse ihrer For­ schung allgemeine Geltung erlangen. Nur eine präzisere Rekonstruktion vergangener Erfahrungen konnte ein historisches Wissen erzeugen, das die Grenzen einer präsenti­ stisch verengten Lebenswelt erweitern, die politische Praxis orientieren und den poli­ tisch-gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen und fundieren konnte. Diese praktische Wirkung ihrer Geschichtsschreibung war den zeitgenössischen Historikern wohl bewußt, und manche von ihnen waren bestrebt, mit den Ergebnissen ihrer Forschung in die Öffentlichkeit hineinzuwirken. August Ludwig von Schlözer war ein heraus­ ragender Repräsentant eines solchen politischen Engagements. Neben seinen wissen­ schaftlichen Veröffentlichungen, die in ihrem argumentierenden Stil die Leser in ihrem Mitdenken und Schlußfolgern aktivieren wollten, haben seine Zeitschriften, der "Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts" ( 1 776- 1782) und die "Stats­ anzeigen" ( 1782- 1793) ganz unmittelbar auf die politische Praxis eingewirkt,indem mit dem neu gewonnenen methodischen Instrumentarium - im Recherchieren,Überprüfen, Darlegen, in kommentierender Deutung - die Übelstände der Zeit aufgedeckt, an­ geprangert und diskutiert wurden,in der Absicht,über die Kritik an Bestehendem eine zukünftige bessere Ordnung entwerfen und begründen zu können. 27 Derartige öffentliche Wirkungen eines Sprechens über Nation waren aber erst mög­ lich geworden, weil sich Lebensformen verändert hatten,die zunächst nur den privaten Bereich berührten .. Dieser Zusammenhang läßt sich an den kulturellen Praktiken ablesen: Lektüre,Musik,Theater. 28 Das Lesen wird im 18. Jahrhundert zu einer wichtigen, beliebten Freizeitbeschäfti­ gung, und - mehr als das - es gilt als Medium von Weltdeutung und Weltgewinn. Bildung durch Lesen - das andere,Ferne, Fremde holt der Lesende in seine Gegenwart. Wie der Reisende auf seine Weise durchmißt auch der Lesende im Akt des Lesens weite Räume. Das Fremdeste wird ihm vertraut; das Nächste verliert den Anschein des Gewohnten, Immergleichen und daher Unabänderlichen und erscheint in dieser ver­ änderten Perspektive in die Zukunft hinein offen. Praktische Voraussetzungen dieses Wandels - die gesteigerte Buchproduktion, eine allmähliche Verschiebung der Thematik von einer primär theologischen zur belletristischen Literatur, die Entstehung und Differenzierung eines Buchmarktes, die Vermittlungsinstanz des Buchhändlers, ein aufnahmebereites Publikum - machen deutlich, daß eine Untersuchung der Praktiken wichtige Indikatoren des Wandels benennen wird. 27 Ursula A.J. Becher, August Ludwig von Schlözer - Analyse eines historischen Diskurses, in: H . E . Bödeker/0. lggers/J. KnudSen!P.H . Reill, Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichts­ wissenschaft im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Pianck-lnstituts für Geschichte, 81), Göttingen 1 986, s. 344-362. 28 Vgl . Becher (Anm. 20), S. 156-164.

Nation und Lebenswelt

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Auch die Lesepraxis weist Merkmale auf, die als grundlegende Phänomene festge­ stellt wurden: Hinweise auf Individualisierung und Kommunikation finden sich im Leseverhalten wieder. Neben den immer schon bestehenden gemeinschaftlichen Formen spielt nun das einsame Lesen eine wichtige Rolle. Ein Bedürfnis, sich zeitweilig in die private Intimität zurückzuziehen, wird realisierbar, weil sich Wertorientierungen und Lebensbedingungen verändert haben. Nicht länger wird ein solcher - nicht religiös motivierter - Rückzug ins Alleinsein als anstößig empfunden. Die Differenzierung der Wohnung: die Trennung in Gesellschafts- und Privaträume, mehrere kleine, vom Flur aus zugängliche Zimmer bieten dem Lesenden die Möglichkeit, sich vom Familienleben für eine Weile abzusondern. Hier ist der Leser oder die Leserin allein mit dem Buch und kann seinen Inhalt auf eigene Weise aufnehmen, deuten und für sich fruchtbar machen. Daneben gibt es das Bedürfnis nach Gedankenaustausch mit anderen Lesern und Leserinnen. Die Formen des gemeinsamen Lesens sind vielfältig: als Kontinuität aus althergebrachter Bibellektüre hält sich das Lesen im Familienkreis, bei dem die Frauen, oft die eifrigsten Leser, ihre Rolle in der kommunikativen Situation stabilisieren und neu definieren. Es gibt den Vorleser - bisweilen den Autor, der aus seinem Werk liest ­ oder die Vorleserin mit mehreren Zuhörern, das gemeinschaftliche Lesen unter Ge­ schwistern und Freunden, gelegentlich mit verteilten Rollen; schließlich Lektüre und Diskussion in der Lesegesellschaft. So wie diese Gesellschaften ihre Lektüre selb­ ständig organisierten, gab es andere Gruppen, die Konzerte und Theateraufführungen durch neuartige Abonnementverfahren ermöglichten. Gerade auf dem Gebiet der Kultur hat eine neue Schicht von Gebildeten den erfolgreichen Versuch unternommen, neue Praxisformen zu erproben und neben der höfischen Kultur eine eigene kulturelle Welt hervorzubringen, an der Bürgerliche und Adelige gleichermaßen teilhatten. Schon der Begriff des Nationaltheaters weist darauf hin, daß die beschriebenen vielfältigen Ver­ änderungen - auf der Ebene des Bewußtseins wie auf derjenigen der Lebensformen - in einen gemeinsamen·Kontext gehören.

Vlll

Friedrich Carl von Moser hat seiner Schrift "Vom deutschen Nationalgeist" einen Spruch des Schweizers Iselin vorangestellt: "Ein Patriot ist zu groß, eines anderen Sclave, er ist zu gerecht, eines andern Herr zu seyn. Er ist daher weder der Anhänger einer Parthie, noch das Haupt einer solchen. Er verabscheuet den Geist der Unruhen; Ihn leiten, ihn beherrschen nur das Gesez und der grosse Gedanke von der allgemeinen Wohlfahrth; diese allein erfüllen seine edle Seele; Diesen allein opfert er alle andere Triebe, alle andere Neigungen seines Herzens auf." Um Patriot zu sein, muß man keine besonderen politischen, sozialen, institutionellen Voraussetzungen erfüllen. Eine auf die allgemeine Wohlfahrt gerichtete Denkweise macht den Patrioten aus, das einzelne Individuum bezieht sich auf das Ganze. Die als Ergebnis lebensweltlicher Veränderungen konstatierbare Individualisierung ermöglicht die beginnende Modernisierung: Die Menschen werden aus ihren vor­ gegebenen Rollenruschreibungen gelöst, sie werden Individuen im modernen Ver­ ständnis, freigesetzt aus vormaligen Bindungen, neu definierbar und neu verfügbar. Es sind diese einzelnen, die sich als einzelne erkennen und diese Vereinzelung aushalten,

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I. Einführung Ursula A.J. Becher ·

die sich zu Assoziationen zusammenschließen und die Nation als Staatsbürgergesell­ schaft überhaupt erst imaginieren konnten. Wenn wir dem Begriff der Nation im Denken des 1 8. Jahrhunderts folgen, tun wir daher gut daran, seine Voraussetzung im Wandel der Lebenswelt mitzubedenken.

II . VOLK

Etienne Franfois (Paris/Berlin) "Peuple" als politische Kategorie'

/.

n Peuple " im Sprachgebrauch vor der Revolution: ein negativer und unscharfer Begriff

In den Texten, die unmittelbar vor der Revolution erscheinen, begegnet uns das Wort peuple als ein Begriff mit ungenauer und schwankender Bedeutung: es wechselt zwischen dem Singular le peuple und dem Plural les peuples (letzterer wird übrigens häufiger verwendet) , so als gelänge es der Sprache nicht, ihren gemeinten Gegenstand zu fixieren, oder richtiger: als wäre es unmöglich, den Gegenstand als eine Einheit zu fassen, und er müßte - im Gegenteil - in seine verschiedenen, nicht aufeinander rückführbaren grundlegenden Aspekte zerlegt werden . In den cahiers de doleances ebenso wie in den zeitgenössischen chansans und Flugblättern findet man häufiger les peuples als le peuple, und der König benutzt in seinen Ansprachen immer mes peuples . Das Wort peuple kann zudem - zweitens - nicht für sich allein stehen. Ihm muß immer noch ein Attribut beigegeben werden, das es präzisiert und ihm einen Sinn gibt, so als wäre es für sich genommen nur wie eine leere substanzlose Hülse: im Munde des Königs als mes peuples, in der Feder der zeitgenössischen Autoren menu peuple, petit peuple, bas peuple. Die Charakterisierungen, mit denen - drittens - vom Volk gesprochen wird, zeigen dieses immer definiert durch seine Minderwertigkeit, Abhängigkeit, Unterordnung , Schwäche und Armseligkeit - also immer durch negative Bezeichnungen und bezogen

1 Die vom Verfasser aulhorisierte Übersetzung dieses Textes aus dem Französischen besorgte Eva Marie Herrmann (Tübingen) . - Dieser Aufsatz stellt einen ersten Entwurf zu einer umfangreicheren Abhandlung zur Geschichte des Begriffs peuple dar, die in dem von Rolf Reichardt im Oldenbourg-Verlag München herausgegebenen .Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820" erscheinen wird; dort weitere detallierte Quellen- und Literatumachweise. Als bibliographische Einfilhrunge n ins Thema seien genannt:

Werner Bahner, Le mot et Ia notion de peuple dans l'oeuvre de Rousseau, in: Studies on Voltaire 55 (1967), S. 1 1 3- 1 27; Gerard Fritz, L' idee de peuple en France du XVIr au XIX" siecle, Strasbourg 1 988; Annie Geoffroy, Le peuple selon Saint-lust, in: Annales Historiques de Ia Revolution fr�e 40 ( 1968), 5 . 1 38144; Michel Glattigny/Jacques Guilhaumou (Hrsg.), Peuple et pouvoir. Etude de lexicologie politique, Lilie 198 1 ; Bemard Grosperrin, L'image historique du peuple dans Ia pensee de Brnave, in: Cahiers d'histoire 14 ( 1969), S. 2 1 1 -217. Roland Mortier, Dielerot et Ia notion de peuple, in: Europe, revue mensuelle 41 Qan.­ fevr. 1963), s . 78-88. .

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ll. Volk · Etienne Fran�is

auf ein positives Gegenteil, an dem das Volk keinen Anteil hat und das sein symme­ trisches Gegenbild darstellt: Gott, der König, die Adligen, die durch Reichtum, Wissen, Macht, öffentliche Bekanntheit usw. Privilegierten. Im Artikel peuple der "Encyclope­ die " heißt es zunächst, daß das Volk "den größten und wichtigsten Teil der Nation" bildet. Sogleich aber wird die negative und einschränkende Präzisierung hinzugefügt , die sehr wohl zeigt, daß das Volk charakterisiert ist durch dasjenige, woran es ihm mangelt: "die Arbeit ist sein einziges Gut", eine Definition, die der Publizist Linguet wenig später in detaillierterer Form, aber in ebenso negativem Sinne wieder aufnimmt: "das Volk umfaßt alle Menschen ohne Besitz und ohne Einkommen, ohne Renten und ohne Besoldung (revenu, rentes, gages) ; die von ihren Löhnen leben, wenn sie aus­ reichend sind, die Not leiden, wenn sie zu niedrig sind, und die Hungers sterben, wenn sie ausbleiben" . Schließlich werden mit dieser - im wesentlichen durch seine Mängel, seine Abhän­ gigkeit und seine Minderwertigkeit - negativ beschriebenen Lebenswirklichkeit des Volkes häufig Vorstellungen und negative Bewertungen in Form von Ablehnung und Verurteilung verbunden. So wie die Abgrenzung von Volk und sanior pars eindeutig ist, so durchlässig ist dazu im Unterschied diejenige von peuple und populace (Pöbel), von menu peuple (niederem Volk) und lie du peuple (Abschaum des Volkes) . Ablehnung und Verachtung artikulieren sich besonders heftig bei den Philosophen: "Unter Volk" , schreibt Voltaire, "verstehe ich den Pöbel (populace), der nur von seiner Hände Arbeit lebt. Ich bezweifle, daß diese Klasse von Bürgern (ordre de citoyens) jemals die Zeit oder die Fähigkeit hat, sich zu bilden. Es erscheint mit unabdingbar, daß es unwissende Bettler gibt. Nicht den Handlanger muß man unterrichten, sondern den guten Bürger (bon bourgeois) " . Die Encyclopedie steht dem in nichts nach: "Beim Volk sind die Fortschritte der Aufklärung begrenzt; sie kommen kaum über Anfänge hinaus; das Volk ist zu dumm; der große Haufen ist unwissend und stumpfsinnig. " Diese Art und Weise, le peuple bzw. les peuples zu betrachten, ist nicht nur eine Eigenheit derjenigen, die nicht "zum Volk" gehören, oder derjenigen - was auf das gleiche hinausläuft -, die glauben, nicht dazuzugehören. Sie wird auch in den volkstümlichen Milieus vollständig übernommen und findet ihren ausgeprägtesten Ausdruck in den cahiers de doteances , wo sich das Volk, wenn es sich als solches zu Wort meldet, jedesmal selber darstellt als schwach, abhängig, unaufgeklärt, unterjocht, unglücklich und unterdrückt und keinen anderen Ausweg aus seinem Unglück sieht, als sich dem König zu Füßen zu werfen: er weiß besser als das Volk, was dieses wirklich braucht; er allein kann ihm helfen, und er allein kann für das Glück des Volkes sorgen. Nur ein einziges Zeugnis in diesem Sinne - eines von vielen tausenden - möge hier als Beleg dienen, das cahier de doleances des Dorfes Lauris (an der Durance nördlich von Aix-en-Provence): "0 Ludwig XVI. [ ... ] Ihr gebt Eurem Volke (vos peuples) die Freiheit, die nationalen Steuern unter sich aufzuteilen; einige weise Männer Eurer Umgebung, und, mächtiger noch als Eure Weisheit, die Liebenswürdigkeit (charmes) und die Einfühlsamkeit Eurer Erlauchten Gemahlin haben Eure Majestät auf diesem Weg der Tugend unterstützt und Eurem Herzen die Wohltätigkeit und die Liebe zu Eurem Volk teuer gemacht. 0 großer König! Vollendet Euer Werk, steht dem Schwachen gegen den Mächtigen bei, zerstört den Rest der feudalen Sklaverei, befreit unser Hab und Gut von Dienstbarkeiten, so wie Ihr uns jüngst von der Leibeigenschaft befreit habt, und Euer Name wird von den Unglücklichen aller Nationen angerufen werden, und noch die

"Peuple" als politische Kategorie

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fernsten Geschlechter werden uns um das Glück beneiden, unter Euren Gesetzen gelebt haben; vollendet Euer Werk, uns glücklich zu machen; Euer Volk (vos peuples) , das Despoten ausgeliefert ist, flüchtet in großer Zahl an den Fuß Eures Thrones und sucht in Euch seinen Schutzgott, seinen Vater und seinen Verteidiger [ . . . ] Franzosen! Welch glückliche Zukunft öffnet sich vor uns. Feinde Frankreichs, erzittert: Wird das Volk glücklich, erstarkt sein Fürst! Fragt Ludwig, was Frankreich ihm wert ist, so wird er wie Henri IV . antworten: ,Wenn ich das Herz meines Volkes besitze, habe ich alles, was ich möchte. Ein von seinen Kindem geliebter Vater kann ihrer Hilfe getrost sicher sein. ' " 2 zu

II.

" Peuple " im Sprachgebrauch während der ersten Phase der Revolution: der Begriff nation triumphiert über peuple

Den verwandten und konkurrierenden Begriffen wie nation, patrie (Vaterland), citoyen (Bürger) und tiers-etat (Dritter Stand) ist peuple ganz offensichtlich unterlegen, und dies um so mehr, als ihm eine politische Nebenbedeutung fast vollständig fehlt. Schon vor der Revolution ist man sich über diesen Nachteil des Begriffs peuple im klaren, und es ist kaum erkennbar, wie dieser Mangel hätte wettgemacht werden können. So liest man in einem Wörterbuch des Jahres 1785: "La nation ist die Gemeinschaft der Bürger (le corps des citoyens) ; le peuple ist die Gesamtheit der im Reich Wohnenden (l 'ensemble des regnicoles) [ . . . ] Bei nation denkt man vor allem an die [politische] Macht, die Bürgerrechte, die bürgerlichen und die politischen Beziehungen. Bei peuple denkt man an Untertänigkeit, an das Bedürfnis vor allem nach Schutz, und an mannigfaltige [gesellschaftliche] Verbindungen aller Art. Ein König ist der Regent einer Nation (chef d 'une nation) und der Vater des Volkes (le pere du peuple) . " 3 Bei den Debatten i m Juni 1 789 beginnt die Politisierung des Wortes peuple, als die Abgeordneten des Dritten Standes, noch nicht ergänzt um die Überläufer aus den beiden anderen Ständen, auf der Suche nach einer Bezeichnung sind, die besser als der Ausdruck communes - die Angehörigen des "gemeinen Volkes" - ihrem politischen Vorhaben und dem, was sie sein wollen, entspricht. In den Debatten des 1 7 . Juni erscheint peuple noch zaghaft auf der politischen Bühne: dem Beispiel des Abgeordneten Target folgend - der die Abgeordneten des Dritten Standes als "die Repräsentanten fast des ganzen französischen Volkes" definieren will-, schlägt Mirabeau vor, die Abgeordneten als "Repräsentanten des französischen Volkes" zu definieren - eine Bezeichnung, die nicht nur einfacher und durchschlagender sei, sondern auch den Vorteil hätte, mit einer einzigen Formel die Vorstellung der nationalen Souveränität und der Souveränität des Volkes ineinander aufgehen zu lassen. Aber dieser ansonsten bescheidene Auftritt des Wortes bleibt von kurzer Dauer, da die meisten anderen vorgeschlagenen Definitionen sich auf nation (in dem vom Sieyes definierten Sinne) und nicht auf peuple beziehen. Peuple wird sogleich von dem Abgeordneten Thouret (aus Rouen) aus dem Felde geschlagen, indem er die Doppeldeu­ tigkeit dieses Wortes betont (meint es plebs oder populus?); deshalb kann sich peuple 2 Pierre Goubert/Michel Denis (Hrsg.}, 1789, les Francais ont Ia parole. Cahiers des Etats Generaux, Paris 1964, s. 4 1 f. 3 Abbe Pierre-Joseph-1\ndrC Roubaud, Nouveaux synonymes fr�is III (1785), S. 24 1 .

II. Volk Etienne Fran�ois

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·

trotz des leidenschaftlichen Plaidoyers und der kraftvollen Verteidigung durch Mirabeau nicht durchsetzen. Dieser erklärt, dem Wort peuple jenen Sinn beizulegen, den es in der englischen Gesetzessprache habe. Und er fügt hinzu: "[ ... ] man hat geglaubt, das schlimmste Dilemma bei mir geltend zu machen, wenn man mir sagt, das Wort peuple bedeute notwendigerweise zu viel oder zu wenig [. . . ] Es trifft sich außerordentlich glücklich, daß unsere Sprache, unproduktiv wie sie ist, uns ein Wort an die Hand gegeben hat, das andere Sprachen aufgrund ihrer reicheren Beschaffenheit nicht gewählt haben würden; ein Wort, das uns aufgrund seiner ausgesuchten Einfachheit bei unseren Mitstreitern schätzenswert machen möge, ohne dabei jene zu erschrecken, deren Hochmut und Dünkel wir zu bekämpfen haben; ein Wort, das sich zu allem eignet und das - heute noch bescheiden - unserer Existenz in dem Maße Größe verleihen kann, wie die Umstände es notwendig machen werden."4 Mit überwältigender Mehrheit nehmen die Abgeordneten schließlich den Vorschlag des unbekannten Abgeordneten Legrand aus dem Berry an und erklären sich mit 491 gegen 90 Stimmen zur Assemblee Nationale. Und als die Nationalversammlung zwei Monate später die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedet, erwähnt sie das Wort peuple nur ein einziges Mal, und zwar in der ersten Zeile, so als wolle sie sich seiner damit entledigen ("die Vertreter des französischen Volkes , die sich als Nationalversammlung konstituiert haben [. .. ] " ); denn was zählt, ist nur Ia nation, les citoyens, les hommes und Ia loi. Peuple ist nur der form- und ausdruckslose Rohstoff von nation, gewissermaßen deren vorheriger Zustand, solange sie nicht von ihren Vertretern als Nation konstituiert wird. "Le peuple" , schreibt Sieyes, "kann nur durch seine Vertreter sprechen und handeln. " Alles in allem bleibt der Begriff peuple als politischer Begriff zu Beginn der Revolution außergewöhnlich marginal. Aufgrund seiner negativen Konnotationen benachteiligt und seines mehrdeutigen Sinnes wegen wird peuple von seinen siegreichen Konkurrenten überlagert und führt in ihrem Schatten nurmehr eine kümmerliche Existenz. Kaum mehr als zwei Politiker sind auszumachen, die sich ausdrücklich auf diesen Begriff berufen. Der eine ist der Abgeordnete Maximilien Robespierre aus Arras, der im Oktober 1 789 bei den Debatten über die Verfassung die von der Mehrheit eingeführte Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Bürgern vehement ablehnt und - im Gegenteil! - die Sache des ganzen Volkes und seiner Einheit verteidigt. Der andere Politiker ist ein leidenschaftlicher Journalist und Polemiker mit sehr persönli­ chem Stil, Marat, dessen Zeitung "L ' Ami du Peuple" genau vom September 1 789 an zu erscheinen beginnt. Mißtrauisch im Hinblick auf jede Form von Stellvertretung, versteht sich Marat als "das Auge und das leidende Herz des Volkes "; eines Volkes, das er durch sein soziales und politisches Ausgeschlossensein, seine Leiden und seine Armut definiert; eines Volkes, mit dem er sich vollständig identifiziert und das er "aus seinem Schlaf aufwecken" will; eines Volkes, zu dessen Sprecher er sich macht, dessen Rechte er verteidigt und dessen Feinde er unermüdlich anprangert. Durch Marat, mehr noch als durch Robespierre, politisiert sich der Begriff peuple. Er befreit sich von der Vormundschaft von nation und orientiert sich zunehmend mehr und eindeutig in Richtung petit peuple, nunmehr eher im Sinne von plebs und weniger von populus. Durch Marat schließlich gewinnt peuple als politischer Begriff einen

4

Zitat nach Regine Robin, La societe fran�aise en 1 789: Semur en Auxois, Paris 1970, S. 324 f.

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spezifisch positiven Wert und füllt sich mit Emotionalität, in der doppelten Spannung von Ausschluß und Gemeinschaft: einerseits Ausschluß aller Feinde des Volkes (die Bösen, die Korrumpierten, die Aristokraten), um das Volk von allen ungesunden Elementen, die es verderben, zu "reinigen"; andererseits Gemeinschaft und Sammlungs­ bewegung all jener, die das "wirkliche" Volk darstellen und die gerade durch ihren Zusammenschluß die Kraft finden werden, die es ihnen erlaubt, über die sie umgeben­ den und von allen Seiten drohenden Feinde zu triumphieren.

II/.

" Peuple " im Sprachgebrauch der Jakobiner und der Bergpartei: eine defekte Emanzipation, doppeldeutig und von kurzer Dauer

Das neuerliche Erscheinen von peuple als politischem Begriff ist an die rapide Radi­ kalisierung des revolutionären Prozesses und die Verschärfung innerer Konflikte gebunden. Die Jakobiner und dann die Mitglieder der Bergpartei berufen sich immer häufiger auf "das Volk", betonen ihre Nähe zu ihm und beziehen daraus ihren Stolz und ihre Legitimation im Kampf gegen ihre Gegner. So beruht das politische Schicksal eines Danton ganz offensichtlich auf der Tatsache - um den Ausspruch von Condorcet aufzunehmen -, daß er ein Mann ist, "den das Volk liebt" . Dieses Volk - von nun an immer im Singular gebraucht und meist ohne zusätzliche Attribute - wird überdies überschwenglich verherrlicht ob seiner Tugenden, seiner Reinheit und seiner Kraft. Wie vor 1789, spielt der Gegensatz zu den herrschenden Klassen immer noch eine Rolle, nun aber im umgekehrten Sinne, da von nun an das Volk die positive Gegenseite darstellt, die Norm, auf die man sich bezieht und die dazu dient, die Spreu vom Weizen zu trennen . Robespierre schreibt: "Beim Volk finden wir, verborgen unter einem Äußeren, das wir als grob und ungeschliffen zu bezeichnen pflegen, aufrichtige und recht­ schaffene Gemüter, gesunden Menschenverstand und eine Tatkraft, wie man sie vergebens bei derjenigen Klasse suchen würde, die solche Tugenden gar nicht kennt . " Das Volk wird schließlich als höchste Instanz, als oberster Führer angerufen, in dessen Dienst sich die Regierung gänzlich stellen muß: "Die Bitten des Volkes sind Befehle" , ruft Boissy d' Anglas schon am 1 5 . Mai 1789 aus, "es ist in Wahrheit die Nation" , während Couthon fast vier Jahre später, am Tage der Hinrichtung Ludwigs XVI., im Konvent verkündet: "Kümmern wir uns um das Volk, und nur um das Volk" . Tatsächlich erscheint peuple, in dieser Form definiert und aufgewertet, in Aufsehen erregender Weise in den Texten zur Verfassung und zu den Institutionen in der Zeit, wo die Bergpartei den Konvent beherrscht. Robespierre erklärt : "Jede Institution ist fehlerhaft (vicieux), die nicht voraussetzt, daß das Volk gut und die Beamtenschaft (magistrat) bestechlich ist . " Indem man sich auf peuple ebenso wie auf nation beruft, kommt e s sogar vor, daß peuple an die Stelle von nation tritt: Im Gegensatz zur Behauptung in der Erklärung der Menschenrechte von 1789, daß der "Ursprung aller Souveränität seinem Wesen nach in der Nation liegt", verkündet die neue Erklärung, mit der die Verfassung des Jahres II eröffnet wird (Artikel 25), daß die " Souveränität beim Volke liegt" , und präzisiert wenig später (im Artikel 7 der eigentlichen Verfassung) : "Das souveräne Volk ist die Gesamtheit der französischen Bürger" (le peuple souverain est l 'universalite des citoyensfran�ais) . Im Artikel 35 der Verfassung geht dieser Wille, sich dem Volke zu unterwerfen, bis zum Äußersten. Er wird radikal auf einen neuen Höhepunkt getrieben,

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II. Volk Etienne Francais ·

wenn peuple hier als absolute und geheiligte Instanz genannt wird : "Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und für jeden Teil des Volkes der Aufstand (insurrection) die heiligste und unerläßlichste aller Pflichten." Peuple , nun häufig mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, steht jetzt nicht nur im Mittelpunkt der politischen Debatten und der entsprechenden Institutionen, sondern es wird nun auch zum Gegenstand eines bürgerlichen ästhetischen Kultes, in dem alle Künste miteinander wetteifern. Im Salon des Jahres II stellt ein Bild von Hennequin den "Triumph des französischen Volkes" (le triomphe du Peuple franfais) dar, und auf einem anderen von Gerard (einem Mitglied des Revolutionstribunals) erscheint das "Volk als König" (Peuple roi) , während Michalon das Volk als Statue verkörpert, die Thron und Altar zu Boden schlägt. Er wird dafür mit dem ersten Preis für Skulptur ausgezeichnet. Zutiefst erschüttert von der Ermordung Marats im Juli 1793, stellt der Maler David, Jakobiner und überzeugter Revolutionär, sein ganzes Talent in den Dienst der Erinnerung an den "Freund des Volkes" . Drei Monate später, am 1 4 . Oktober 1793, trägt er eigenhändig sein Bild in den Konvent und erklärt : "Bürger, das Volk wollte seinen Freund in meinem Werk wiederfinden. David, sprach es zu mir, nimm deinen Pinsel und räche Marat, damit seine Feinde noch beim Anblick seiner verklärten Züge erbleichen mögen. Ich habe mir die Stimme des Volkes zu eigen gemacht . " Die großen Bürgerfeste (jetes civiques) sind ausnahmslos volkstümliche Liturgien, bei denen man im Chor den Chant du depart von Chenier und Mehul anstimmt: De Bara, de Viala le sort nous fait envie Ils sont morts mais ils ont vaincu Le lache accable d ' ans n ' a pas connu la vie Qui meurt pour le peuple a vecu Bara und Viala beneiden wir um ihr Schicksal Sie sind tot, aber sie haben gesiegt Der Feigling, gebeugt von der Last vieler Jahre, hat das Leben nicht gekannt Wer für das Volk stirbt, der hat gelebt Direkt von der Antike beeinflußt, sehen die Kommunalbeamten von Ris Orangis (bei Paris) in den Anweisungen für eine Zeremonie zu Ehren des Brutus vor, daß "der folgende Schwur mit zur Büste hin ausgestreckten Armen gesprochen werden soll: Brutus, wir schwören, deinem Beispiel zu folgen, die eine und unteilbare Republik zu bewahren. Keine Könige mehr, keine Betrüger mehr, Freiheit auf ewig, die Freiheit oder den Tod." Dieses Volk, auf das sich die Anhänger der Bergpartei berufen, das sie beschwören und verherrlichen und als dessen Diener und Interpreten sie sich ausgeben, bleibt gleichwohl begrifflich nur schwer zu definieren. Da dieses Volk keinerlei Ähnlichkeit mit dem konkreten Volk in den Städten und auf dem Land besitzt, scheint es - selbst wenn man präzisiert, daß es sich um das "französische Volk" oder um das "souveräne Volk" (peuple souverain) handelt- doch eher einer abstrakten Instanz gleichzukommen. Kupferstiche aus dem Jahre 1 794 stellen es mit den akademischen Zügen eines Riesen der klassischen Mythologie dar, eines Herkules, der "die Hydra des Föderalismus

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niederschlägt und den Despotismus durch Schrecken (terreur) erstarren läßt"5 • Als emblematische, aber irreale Figur eignet sich der jakobinische Begriff von peuple zu jeder nur erdenklichen Nutzung und dient als Bürgschaft für die unbeschränkte Macht der Bergpartei und der Schreckensherrschaft Seitdem das französische Volk seinen Willen bekundet hat", bekräftigt denn auch Saint-Just 1793 , .stellt sich alles, was sich ihm widersetzt, außerhalb des Souveräns; alles, was sich außerhalb des Souveräns stellt, ist sein Feind" (tout ce qui lui est oppose est hors le souverain; tout ce qui est hors le souverain est ennem1) . Danton rechtfertigt die Institutionalisierung der Schreckensherr­ schaft mit den Worten: . Seien wir schrecklich, damit wir das Volk davon entbinden, es selber sein zu müssen". Keine Bestrafung kann für die "Volksfeinde" hart genug sein; die Definition dieser Feinde bleibt jedoch außerordentlich vage und letztlich der Machtvollkommenheit der Regierung und des Revolutionstribunals überlassen, das im März 1 793 eingerichtet wird, um .jeden konterrevolutionären Angriff" zu verfolgen, . jeden frevelhaften Eingriff gegen die Freiheit, Gleichheit, Einheit und Unteilbarkeit der Republik und die innere und äußere Sicherheit des Staates ebenso wie alle Verschwörungen zu ahnden, die danach trachten, die Monarchie wieder einzuführen oder irgend eine andere Autorität zu etablieren, die gegen die Freiheit, die Gleichheit und die Souveränität des Volkes frevelt " . Das wirkliche "Volk" - i n dem Sinne, wie e s die Jakobiner verstehen - ist i m übrigen umso schwieriger konkret zu definieren, als es real noch gar nicht existiert, sondern eher als ein Vorhaben für die Zukunft, als eine zu verwirklichende Utopie zu begreifen ist. So dient dieses . neue Volk" (peuple nouveau, Le Peletier), dessen revolutionärer Voluntarismus und revolutionäre Pädagogik den Herrschaftsantritt beschleunigen sollen, tatsächlich nur als Rechtfertigung für den Anspruch der Jakobiner, die Volksbewegung zu steuern und ihre Macht im Land durchzusetzen. Daraus resultiert jenes Paradox - das übrigens nicht nur auf die Bergpartei zutrifft-, daß sich eine Regierung auf ein abstrakt­ ideales Volk beruft, um dem konkreten Volk seine Herrschaft aufzuzwingen, ihm als Führer und Vorkämpfer zu dienen, es vor sich selbst zu beschützen und es demzufolge als solches politisch zu neutralisieren . Schon im November 1791 definiert das . Journal des clubs et societes patriotiques" die Ziele der Jakobinerbewegung folgendermaßen : die Clubs und Gesellschaften .sollen das Volk belehren und seinen Geist moralisch erneuern; mit ihrer Hilfe soll es seine wahren Interessen erkennen und Extreme vermeiden" . Drei Monate später - im Februar 1 792 geht eine andere jakobinische Zeitschrift, der . Patriote franc;:ais" , noch weiter in diese Richtung: . Das Volk, die Arbeiter, die Frauen müssen gewappnet werden gegen die ihnen gestellten Fallen, mit denen man sie in den Aufruhr locken will . " Denn obwohl sich die Jakobiner und Robespierre auf die volkstümliche Bewegung der Sektionen, der Sans-Culotten und der Volks-Gesellschaften stützen, hören sie doch niemals auf, diesem Volk zu mißtrauen und alles in ihrer Macht stehende zu tun, um es in den Griff zu bekommen, es unterzuordnen, zu unterwerfen und zu entwaffnen, bis zu dem Augenblick, wo die Revolution - um hier eine Formulierung von Michelet aufzunehmen - . eingefroren" sein würde und .das Volk nach Hause geht". Ro­ bespierre, der die direkte Demokratie ablehnt, erinnert im Mai 1793 daran - und er .



-

s AbbildWJgCn in: Klaus Herding/Rolf Reichardt (Hrsg.), Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a . M. 1 989, S . 142 f.

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II. Volk· Etienne Fr�ois

Das französiche Volk

Das souveräne Volk

erschlägt die Hydra des

1793/94

Förderalismus

1793

wählt dabei Formulierungen, die auch Sieyes gebilligt hätte-, daß"das souveräne Volk (le peuple souverain) mittels Delegierter alles tut, was es selbst nicht tun kann", und

daß"die Demokratie kein Zustand ist, bei dem das ständig versammelte Volk selbst alle öffentlichen Angelegenheiten regelt, und noch weniger ein Zustand, bei dem 100.000 Volksfraktionen mit einzelnen, überstürzten und widersprüchlichen Maßnahmen über das Schicksal der gesamten Gesellschaft entscheiden sollen". Das Fest zu Ehren des Höchsten Wesens, das Robespierre persönlich im Anschluß an die Wahl des Konvents zelebriert, und bei dem erklärt wird, daß "das französische Volk die Existenz des Höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele anerkennt", dient bekanntlich dazu, der Dechristianisierung als Volksbewegung Einhalt

zu

gebieten. Hand in Hand damit

geht die Gleichschaltung der Volksgesellschaften und die Abschaffung der Revolutions­ armeen in der Provinz, die im Frühling des Jahres 1794 abgeschlossen ist.

IV. "Peuple" im Sprachgebrauch nach Thermidor: Tod und Verklärung

Nach dem Sturz Robespierres tritt auch die neue Definition, mit der die Jakobiner während der wenigen Monate ihrer unumschränkten Herrschaft den Begriff"Volk" zu

.Peuple" als politische Kategorie

Dem französischen Volk Die Souveränität

1793 LA SOUVERAINETI� est Je premier attribftt de tous les Peuples: Chaque Peuple en Masse, est souverain sur son territoire, comme le genre-humain est souverain de Ia terre. Mais les attributs particuliers au Peuple Fran�s sont d'avoir le Premier renverse le thröne des tyrans, les Autels du fanatisme; et sur

leurs debris ne formant qu 'un faisceau de lumiere, d'avoir eleve des temples a Ia Raison: i1 a declare a I'univers que dans les merveilles de Ia nature et le coeur humain, toujours il avoit reconnu l'existance de l'Etre-Supreme et l'immonalite de l'äme; qu'il y avoit reconnu l'Egalite, Ia Liberte des Citoyens, bases eternelles du bonheur; et que

c'est a Ia Raison qu'il faut sacrifier toutes les passions particulieres. VIVE A JAMAIS LE PEUPLE FRANCAIS

a ses ennemis le Desespoir, et Ia Mort.

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II. Volk Etienne Fran�is ·

fassen suchten, wieder von der politischen Bühne ab . Es war ihnen nicht gelungen, den Begriff " Volk" zum siegreichen Rivalen über die Begriffe "Nation" und " Vaterland" zu machen. Marat, der " Freund des Volkes " , dessen Asche und Herz mit großem Pomp ins Pantheon überführt worden waren, wird im Laufe des Jahres 1795 wieder daraus entfernt, seine Asche im Wind verstreut und das Denkmal, das aus Anlaß seines Todes auf der Place du Carrousel errichtet worden war, in Stücke geschlagen. Dieser Rückgang in der Verwendung des Begriffs geschieht schubweise in mehreren Etappen, die es verdienen, hier erwähnt zu werden. Die erste Etappe sind jene Tage (joumees) im Germinal und Prairial (April und Mai 1 795) , an denen die Volksbewegung ein letztes Mal aufflammt. Gegen die Reaktion geschieht die Mobilisierung mit dem Ruf " Volk, erwache", und in den Plänen der Aufständischen ist vorgesehen, daß "das Volk sich der Stadttore, des Flusses , des Telegraphen bemächtigen soll [ . . . ] die Artilleristen und die Polizei, die Infanterie und die Kavallerie , die sich in Paris und Umgebung aufhalten, werden aufgefordert, sich unter die Fahne des Volkes zu stellen und sich durch die Bande der Brüderlichkeit mit ihm zu vereinen, um die allgemeinen Rechte zu erkämpfen. Alle Gewalt, die nicht vom Volke ausgeht, wird aufgehoben. " Carnot, Augenzeuge dieser Tage , notiert: "In den schrecklichsten Tagen der Revolution habe ich das Volk nicht so im höchsten Grade

aufgebracht gesehen" . Der Aufstand verläuft jedoch ergebnislos ; in den darauffolgenden Tagen entwaffnen die Armee und die Nationalgarde die Sektionen. Der Säuberungs­ prozeß beginnt. Die letzte Etappe schließlich ist Schauplatz der Verschwörung der Sozialisten um Gracchus Babeuf, deren Programm im November 1 795 in ihrer Zeitschrift " Tribun du Peuple " veröffentlicht wird . Adressiert ist es an "die unter­ drückte Masse des französischen Volkes" (masse opprimee du Peuplefran�ais) . Der Aufruf Babeufs endet mit den Worten: " Volk! Erwache zur Hoffnung , verharre nicht länger in Erstarrung und Hoffnungslosigkeit. " Bei Babeuf wird "Volk" nun vollständig mit plebs identifiziert. Die Verschwörung scheitert jedoch vollständig: Die Verschwö­ rer, die sich vorgenommen hatten, die Regierung zu stürzen und die Macht durch ein von den Aufständischen gebildetes Komitee solange auszuüben, bis die moralische Erneuerung des Volkes vollständig abgeschlossen sein würde , werden im Mai 1 796 entdeckt, verhaftet, zum Tode verurteilt und im darauffolgenden Jahr hingerichtet. Erst ein halbes Jahrhundert später sollte dem Volk Genugtuung widerfahren, als es in Michelets " Geschichte der französischen Revolution" seine Verklärung und Apotheose erfuhr. In diesem beeindruckenden Liebeslied und mystischen Gedicht zum Gedächtnis an ein Volk der Brüderlichkeit wird dieses Volk zu Gott und derjenige , der seine Geschichte schreibt, zum Hohen Priester. Denn, so schreibt Michelet in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe von 1 847 : " Etwas, das allen gesagt werden muß , was sehr leicht bewiesen werden kann, ist, daß damals an der menschlichen und das Gute anstrebenden Periode unserer Revolution das Volk, das gesamte Volk, die ganze Welt beteiligt war . Dagegen hatte die Zeit der Gewalttätigkeiten, die Zeit blutiger Taten, in die später die Gefahr sie trieb , nur ganz wenige , eine unendlich kleine Zahl Männer als Helden. [ . . . ] Das Volk ist in der Regel von größerer Bedeutung als seine Führer. Je weiter ich forschte , um so mehr fand ich, daß die Besten unten standen, in den dunklen Tiefen. [ . . . ] Das Volk spielte die Hauptrolle . Um das Volk in dieser Rolle wiederzufinden und es in seine Rolle wiedereinzusetzen, habe ich die ehrgeizigen Marionetten, die das Volk

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an den Fäden zog und in denen man bis heute das geheime Spiel der Geschichte suchte und zu sehen glaubte, auf ihr gehöriges Maß reduzieren müssen. Ich muß gestehen, daß mich dieses Schauspiel in großes Erstaunen versetzt hat. In dem Maße , wie ich tiefer in das Studium der Zeit eindrang, sah ich, daß die Partei­ führer, die Helden der herkömmlichen Geschichte, keines der großen Ereignisse weder vorausgesehen, noch vorbereitet, noch den Anstoß dazu gegeben hatten, besonders keins von denen, die am Beginn der Revolution das einmütige Werk des Volkes waren. Von seinen angeblichen Führern in diesen entscheidenden Momenten sich selbst überlassen, hat das Volk herausgefunden, was zu tun war, und hat es vollbracht. Welch große, überraschende Ereignisse ! Aber das Herz, das sie vollbrachte, war noch viel größer [ . . . ] Die einzelnen Handlungen sind nichts im Vergleich damit. Dieser Reichtum des Herzens war damals so groß , daß die Zukunft für immer daraus schöpfen kann, ohne befürchten zu müssen, daß er jemals zur Neige gehen könnte . Jeder, der sich ihm nähert, kehrt menschlicher davon zurück. Jede niedergeschlagene, verstörte Seele, jedes Menschen- oder Volksherz braucht, um sich aufzurichten, nur dahin seinen Blick zu wenden; das ist ein Spiegel , in dem sich die Menschheit jedesmal , wenn sie hineinblickt, heroisch, großherzig, uneigennützig findet; eine einzigartige Lauterkeit, die Geld und Gold fürchtete wie die Pest, war damals der Ruhm aller. "6 Die Feder von Michelet läßt das Volk in seinem ganzen Ruhm wieder auferstehen. Nur ist bei ihm " das Volk" kein politischer Begriff mehr, sondern wird zum mystischen Ganzen eines Volkskörpers .

6 Jules Michelet, Geschichte der Französischen Revolution, hrsg. von Jochen Köhler, Bd. I, Frankfurt a.M. 1988, S. 63 f. (zitiert - mit redaktioneller Bearbeitung - aus dem Vorwort von Michelet zu Bd. I, Paris 1847) .

Marita Gilli (Besanfon) "Volk" bei Georg Forster und den deutschen Jakobinern

1.

Forsters Begrijfdes " Volkes "

Um Forster gut zu begreifen, muß man seine Herkunft erwähnen, vor allem die Schwierigkeiten seiner Existenz. Nach der Reise seines Vaters nach Rußland lebt die Familie Forster in großer Not. Man weiß , daß der junge Georg in London Brot gestoh­ len hat, weil er hungerte . Als Jüngling muß er mit Übersetzungen und Stunden seinem Vater helfen, die Familie zu ernähren. Die Reise um die Welt schafft ein wenig Luft; nach der Rückkehr muß er aber eine Stelle für sich und seinen Vater in Deutschland finden, was auch sehr schwierig ist. Bis zum Ende seines Lebens kennt er materielle Schwierigkeiten. Dieses erklärt zweifellos sein Interesse für die ärmeren Schichten der

Bevölkerung . In England schildert er das Leben der Arbeiter, auf dem Schiff inter­ essiert er sich für die Lebensweise der Matrosen, in Schlesien für die Lebensbedingun­ gen der Bergarbeiter, in Polen beschreibt er das Leben der Dienstleute und ihre Le­ bensbedingungen. Während seiner politischen Tätigkeit in Mainz ist er oft bei den Bau­ ern auf dem Lande. Er kann diese Benachteiligten verstehen, weil er dieselben Schwierigkeiten gekannt hat. Forster versteht also unter " Volk " , was wir heute " Proletariat" nennen würden, was eigenartig ist, da "Volk" im 1 8 . Jahrhundert mei­ stens den ganzen dritten Stand bezeichnet, insbesondere das Bürgertum. Forster ist einer der Seltenen seiner Zeit, der aus dem materiellen Wohlstand die erste Bedingung des Glückes macht. In seinem Werk " Über die Beziehung der Staats­ kunst auf das Glück der Menschheit" stellt er die Frage: " [ . . . ] und wird man vom rohen Menschen [ . . . ] sagen dürfen, daß er bei heftigen Anfallen des Hungers oder eines anderen Naturtriebes [ . ] ' ruhigen Herzens' bleiben könne" . 1 Diese Frage ist um so ergreifender, wenn man weiß , daß er selber Hunger gelitten hat . Die Gründe des Unglückes des Volkes , die er angibt, sind zugleich politische und ökonomische . Die Ungleichheit und insofern der Despotismus sind schuld an dem Unglück, und daher ist kein Kompromiß mit ihm möglich, denn er rechtfertigt sich durch die Unreife der Völker, die eben die Frucht dieser Regierungsart ist. Weil der Mensch bis jetzt zu sehr ausgebeutet war, konnte er sich nicht vervollkommnen. Für Forster hängt der Kultur­ stand der Menschen von den sozialen Bedingungen eines Landes ab . Der Mensch muß sein eigenes Glück schaffen, er kann es aber nur, wenn er nicht ausgebeutet ist. Für Forster ist also die Gleichheit wichtiger als für andere Revolutionäre , die vor allem von Freiheit sprechen. Die soziale Gleichheit ist für ihn die Basis der politischen Freiheit. Auch lobt er die Finanzpolitik des Konvents , der den Luxus abschafft, und entfernt sich immer mehr vom Liberalismus , der dem Interesse des Bürgertums dient.2 .

.

1 Georg Forster, Werke in vier Binden, Bel. III, Stuttgart 1970, S. 695-725, hier S. 701 . Vgl. Georg Forster an Huber, Brief vom 15. 1 1 . 1793 , Werke (Anm. 1), Bd. IV, S . 934.

2



Volk" bei Forster und den deutschen Jakobinern

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Dieser Standpunkt erklärt seine Entwicklung während der Französischen Revolution. Forster entfernt sich nämlich immer mehr von der Gironde, isoliert sich dadurch völlig von seinen Landsleuten und nähert sich der Montagne, die die Interessen der Volks­ massen besser bewahrt. Mit dieser Auffassung des Volkes ist aber Forster nicht völlig isoliert. Die jakobi­ nischen Theaterstücke der Zeit sind in dieser Hinsicht ein interessantes Zeugnis. Da zu dieser Zeit der Bürger erst anfängt, den Aristokraten als tragische Person zu ersetzen , sehen w i r hier Personen aus dem kleinen Volk. I n dem Stück " Die Rebellion"3 sieht man Dorfbewohner, die sich ihrer Ausbeutung bewußt werden und nach und nach erwachen. Sie sind nicht für die Gewalt, müssen aber rebellieren, weil sie keine andere Wahl haben, da es keine Justiz gibt. So wird die Rebellion durch das Naturrecht ge­ rechtfertigt. In dem Stück "Die Aristokraten in Deutschland" haben wir eine nuancierte Beschreibung der Dorfbewohner mit differenzierten Personen. Was sie verbindet, ist, daß sie vom Adel und auch vom Bürgertum verachtet werden. Manchmal sind sie sehr pessimistisch und suchen eine Lösung im Tod, wie im " Freiheitsbaum" . Die Autoren kritisieren manchmal ihre Passivität, vergleichen sie mit einer Herde von Schafen; oft sind sich aber diese Personen der ungerechten Ordnung der Dinge sehr bewußt und sind bereit zu rebellieren. Wir können auch den Theoretiker Johann Benjamin Erhard erwähnen, der eine solche Bestimmung des Volkes gibt: " Das Volk ist daher der im Verhältnis gegen einen anderen Teil als minorenn gedachte Teil eines Volkes" .4 Erhard stellt sich eine Gesell­ schaft in zwei Klassen vor - die Vornehmen" und die " Gemeinen" und das Recht des Volkes, eine Revolution zu machen, wird eben darin bestehen, "sich durch Gewalt in die Rechte der Mündigkeit einzusetzen und das rechtliche Verhältnis zwischen sich und den Vornehmen aufzuheben"5 • Man könnte noch mehrere Beispiele geben. Was auf­ fällt, ist diese neue Auffassung des Volkes als Masse der Elenden. Die Revolutionäre sehen eben in der Revolution ein Mittel, dieses Volk auf den Weg der Vervollkomm­ nung zu bringen. Ein aufgeklärtes Volk will in würdiger Weise behandelt werden, so kann es sich selber zu der Würde eines moralischen Wesens erheben. •

2.

-

Das Volk in der Revolution

Am Anfang der Französischen Revolution äußert sich Forster sehr wenig über sie, und er teilt den Enthusiasmus vieler seiner Zeitgenossen nicht. Erst im Juli 1 790 , nach seinem Aufenthalt in Paris , beginnt er von der Revolution ausführlich zu sprechen. Er wohnt den Vorbereitungen des Föderationsfestes bei und schreibt: " Der Anblick des Enthusiasmus im Volke , und vorzüglich den auf dem Champ de Mars , wo man die Zubereitungen zum großen Nationalfeste machte, ist herzerhebend, weil er so ganz allgemein durch alle Klassen des Volkes geht und so rein und einfach auf das gemeine Beste mit Hintansetzung des Privatvorteils wirkt. Wir leiden manches , sagten mir viele,

3 In: Gerhard Steiner, Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater (Deutsche revolutionäre Demokraten, hrsg. u. eingel. von W. Grab, Bd. 4), Stuttgart 1973. Hier befmden sich die anderen genannten Stücke. • Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, hrsg. von H.G. Haasis (Reihe Hanser, 36) , S. 80. 5 Ebd . , S. 9 1 .

li. Volk· Marita Gilli

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und kämpfen jetzt mit vielem Ungemach; selbst unser Vermögen wird eine große Verminderung leiden; aber wir wissen, unsere Kinder werden' s uns danken, denn ihnen kommt es zugute " . 6 Nach seiner Rückkehr wird er bei dieser Meinung bleiben. Er betont immer, daß die Revolution so dauerhaft ist, weil sie das Werk des ganzen französischen Volkes ist: fünfundzwanzig Millionen Menschen machen die Revolution. Sie sind zwar nicht vollkommen, aber man muß die Mäßigkeit und die Tugend bei einem Volke doch feststellen, das mehrere Jahrhunderte unter dem Joch der Despoten gelebt hat. Dieser kurze Aufenthalt in Paris wird seine ganze politische Laufbahn bestimmen. Wie in anderen Fällen sehen wir, daß Forster ein Ereignis verstehen kann, erst wenn er es direkt erlebt hat. Er ist sich nun der Tragweite der Revolution bewußt. In dem Werk " Erinnerungen aus dem Jahre 1 790" schreibt er, daß der Enthusiasmus des ganzen Volkes in der Geschichte eine stets denkwürdige Erscheinung bleibt . Er betont die neue Gleichheit und sagt ausdrücklich, was er unter " Volk" versteht: " Jeder galt nur durch persönliches Verdienst, und über dieses entschied die Stimme des Volkes. Aus den verachteten Hütten des Bauers und des Handwerkers gingen jetzt, im Glanz eigentümlicher Geistesvorzüge , des Vaterlandes Stützen wie neue Sterne hervor, und mancher aufgeblähte Bewohner eines Palastes sank in der Blöße persönlicher Nichts­ würdigkeit unerkannt in den Staub. "7 Wenn alle sich umarmen und wenn von allen Seiten ein " Hoch lebe die Nation" erschallt, sagt er: " Nur freie Nationen [ . . . ] kennen dieses Gefühl ; denn nur freie Nationen haben ein Vaterland " . 8 Was ihn vor allem beeindruckt, ist die Anteilnahme des Volkes an dieser Revolution. Dieser Eindruck, den er nur in Paris haben konnte, nämlich in einem privilegierten Augenblick und dem Enthusiasmus des Föderationsfestes , wird von nun an seine Gedanken ernähren. Er versteht wirklich, was Volkssouveränität bedeutet.

2 . 1 Ö ffentliche Meinung In seinem berühmten Werk " Parisische Umrisse " 9 erklärt Forster, wie die öffentliche Meinung die Triebkraft der Revolution ist. Diese hat sich in Frankreich besonders gut entwickeln können, weil eine gewisse Meinungsfreiheit herrschte. Dank der öffentli­ chen Meinung regieren jetzt die Volksrepräsentanten ohne Widerspruch mit der ge­ samten Nation, und sie bürgt für die Demokratie. Sie hat ihre Basis in der Gemein­ schaft des Volkes und gestattet Wechselbeziehungen zwischen Volk und Regierung . Auf diese Weise wird das Volk zum Herrn des Schicksals der Nation. Die Kraft der öffentlichen Meinung lehrt ihn, was die Volkssouveränität bedeutet. Er ist gegen den Kult der Persönlichkeit und zitiert Danton: " Que Ia patrie soit sauvee et que mon nom soit fletri. " Er meint, daß das Los der Revolution nicht von einem Menschen abhängt, sondern vom Volk. Er lobt die Bergpartei, die im Interesse des Volkes regiert und von der öffentlichen Meinung gestützt wird .

6 G. Forster an Heyne, Brief vom 1 3 . 7 . 1790, in: ders. (Anm. 1), Bd. IV, S. 610. 7 G. Forster, Erinnerungen aus dem Jahre 1790, in: ders. (Anm. 1), Bd. 111, S . 339-533, hier S . 462. 8 Ebd. , S. 463 . 9 Forster (Anm. 1), Bd. 111, S. 727-775.



Volk" bei For ster und den deut schen Jakobinern

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2 . 2 Die Volkssouveränität Dank der Revolution verwirklicht sich die Volkssouveränität. Die öffentliche Meinung ist die Vernunft des Volkes, und so werden Volkssouveränität und Vernunft identisch. Forster gibt auf diese Weise der Vernunft einen demokratischen und revolutionären Inhalt, indem er sie mit dem Leben des Volkes verbindet. Diese Seiten, die er in den letzten Monaten seines Lebens schreibt, sind noch von seinen ersten Eindrücken auf dem Champ de Mars beseelt. Das Wichtigste bleibt für ihn die Anteilnahme aller an dem Leben der Nation. Diese Anteilnahme ist die Kraft der Revolution und verleiht ihr Dauerhaftigkeit. Da die meisten deutschen Schriftsteller sich von der Revolution abgewandt hatten, als sie verstanden, daß sie die Volkssouveränität verwirklichte , wird Forster im Gegenteil revolutionär, wenn er sich dessen bewußt wird . Da die meisten Deutschen meinten, daß das Volk für die Freiheit noch nicht reif sei, so meint Forster, wie Kant und später Erhard, daß das Volk nie frei sein wird, wenn man darauf warte, daß es reif dafür sei . Die ersten Versuche können sicher gefahrlieh sein, besonders nach einer langen Periode von Despotismus , man kann sie aber nicht vermeiden. Erhard erklärt auch, daß der Mensch sich selber aufklären soll . Er gibt ihm das Recht und sogar die Pflicht, eine Revolution zu machen, wenn der Druck der Regierung zu stark ist. Die Revolution ist die Sache des Volkes , sie kann nur mit seiner Anteilnahme gelingen. Die Revolution des Volkes gestattet ihm, mündig zu werden, weil es mit Gewalt mit seiner Minderheit Schluß machen will. Erhard geht also viel weiter als die französischen Revolutionäre selber, da die französische Konstitution von 179 1 das Recht des Volke s , eine Revolution zu machen, nicht anerkennt und die vom Jahre 1793 kaum. Erhard ru ft übrigens d i e deutsche Nation auf, eine Revolution z u machen. 10 Die Rolle des Volkes in der Revolution ist also bestimmend. Forster erklärt die Schwierigkeiten der Mainzer Revolution dadurch, daß das Volk daran nicht genug teilgenommen hat. Die Corporationen haben kein Interesse für die Revolution gezeigt, und die Bauern, die am Anfang begeistert waren, wurden dann von der militärischen Besatzung sehr enttäuscht. Forster selber hat sich viel Mühe gegeben, damit das Volk an der Revolution teilnehme, und war sehr oft auf dem Lande , um zu erklären und zu überzeugen. Er gründet auch eine Zeitung , hält Reden, belebt das Theater, um diese Anteilnahme zu bewirken. Der schwache Anteil an den Wahlen zeigt aber, daß es vorzeitig war. Der Grund dafür ist eben der Mangel an einer öffentlichen Meinung , die in Frankreich schon vor der Französischen Revolution existierte .

3.

Das Volk als Nation

Hier ist auch der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich sehr groß , da Frankreich schon vor der Revolution ein einheitliches Land ist, dessen Einheit von der Revolution nur befestigt wird . In Deutschland dagegen kann sich der Untertan eines

10

Johann Ben aj min Erhard, Wiederholter Aufruf an die deutsche Nation, ebd. (Anm. 4), S. 101-107, hier

s. 10 1 .

II. Volk· Marita Gilli

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Fürsten nicht deutsch fühlen. Die Wörter "deutsch" und "Deutscher" kommen auch selten vor, außer bei den Schriftstellern, die eben eine deutsche Nation wünschen.11

3 . 1 Neue Bestimmung des Patriotismus Zu erwähnen ist auch, daß die revolutionären Ideen importiert sind, und ab 1 793 sogar vom " Feind" mitgebracht. Das Problem kommt daher, daß die französischen Truppen feindliche Truppen sind , auch wenn sie die Freiheit mit sich bringen. Diese Konjunktur erklärt die verschiedenen Bedeutungen, die dem Wort " Patriot" gegeben wurden. In den "Aristokraten in Deutschland" gibt eine Frau diese Bestimmung : " Du willst nicht einsehen, daß diese Menschen Gott und seine heilige katholische Religion verachten, die Kirchen und Klöster plündern und ihre Oberherrschaft aus dem Lande vertreiben und viele arge Dinge mehr tun". 12 Ihr Mann dagegen: "Ich bin schon ein Patriot. Denn wenn dieses Wort einen Menschen bezeichnet, der sein Vaterland liebt und sterben kann für sein Wohl , so bin ich ein Patriot. " 1 3 Im Wortschatz der Zeit nennt man " Pa­ triot" denjenigen, der für die Französische Revolution schwärmt, und die Benennung ist pejorativ . Dieser seltsame Sinn erklärt sich durch den kosmopolitischen Kontext der Zeit. Das Stück " Der Freiheitsbaum" 14 gibt ein konkretes Beispiel dafür. Das Stück spielt in einem kleinen Dorf im Rheinland, das die Franzosen eben verlassen haben, nachdem sie einen Freiheitsbaum gepflanzt haben. Der junge Bauer Gustel f1illt ihn, dem reichen Bauern Blum zuliebe , dessen Tochter er heiraten möchte . Der Amtmann aber, eine abscheuliche Person, die Blums Sohn dem Heer verkauft hat, möchte, daß sein Sohn, der einfältig ist, Riekchen heiratet, weil ihr Vater reich ist . Da Riekchen Gustel liebt, läßt er ihn verhaften, um ihn den Franzosen zu liefern. Bei der Rückkehr der Franzosen erfährt man, daß der Offizier Blums Sohn ist; dieser befreit Gustel und straft den Amtmann. In dem· Stück werden zwei Auffassungen des Patriotismus entwickelt. Einerseits wird die französische Armee als eine feindliche Armee betrachtet. Gustel gibt ein sehr negatives Bild von den Franzosen: sie sind der Religion feindlich, sie machen den Krieg , sie sind grausam. Es ist auch Blums Auffassung, und deshalb meint er, daß es Patriotismus ist, den Baum zu fällen. Er betrachtet sich selber als einen "guten alten deutschen Degen" . Obwohl er in der Feudalordnung gelitten hat, lehnt er die Ä nderungen ab , weil sie vom Feind hergebracht sind . Das patriotische Gefühl entwickelt sich im Gegensatz zu der französischen Besatzung . Der Baum wird also im Namen des Patriotismus gefällt, und hier liegt die ganze Problematik des Stückes , denn ein Deutscher verhaftet Gustel für diese Tat, und ein französischer Offizier wird ihn befreien. Für die Anhänger der Französischen Revolution ist der Feind der Despot, der seinem Land schadet, und nicht der Franzose , der ihm die Freiheit bringt . In der letzten Szene des Stückes werden die beiden Auffassungen entgegengesetzt. Blum

11 Vgl . J.W.v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. VII, 1968, S. 258, wo Aurelie ausruft: Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung, was konnten sie nicht sein!" 12 Ebd . , S . 273. 13 Ebd s. 260. 14 In: Steiner (Anrn. 3), S. 197-221. •

.•



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erklärt, daß er diesen Baum auf deutschem Boden vor seiner Tür nicht mehr dulden konnte , und weint, weil sein Sohn ein Feind seines Vaterlandes geworden ist. Sein Sohn aber gibt ihm diese wichtige Lehre , daß er auf diese Weise seinem Vaterland viel besser dient als unter einer deutschen Uniform: " Sollt hören, daß ich auch mitten unter den Feinden meines Vaterlandes mein Vaterland liebe und ihm wohl tun kann, mehr als ich ' s könnte , wenn ich meinem Vaterland mit der Muskete dienen müßte . " 1 5 So er­ scheint die Relativität des Begriffs "Patriotismus " , wie sie damals erlebt wurde . Diese Relativität wird mit der Struktur des Stückes gegeben, das die letzte Szene mit dem glücklichen Ende den drei Expositionsszenen entgegenstellt, in denen der Baum gefällt wird . Der Patriotismus bekommt einen neuen revolutionären Sinn: Patriot sein bedeu­ tet, seinem Lande nützlich zu sein, und der Patriotismus wird zu einem Faktor des poli­ tischen Fortschritts .

3 . 2 Das Problem der Eingliederung in der französischen Republik Ende März 1 792 versammelt sich der Mainzer Konvent. Das erste Problem, das behan­ delt wird, betrifft das Los des Landes : es wird von dem deutschen Reich getrennt, und der Kurfürst wird abgesetzt. Der General Custine verspricht den Schutz und die Freundschaft der französischen Republik. Die zweite Frage taucht sofort auf: Wird der neue Staat unabhängig bleiben oder sich an Frankreich angliedern? Seit dem Anfang der Mainzer Revolution spricht Forster zugunsten einer Einverleibung. In seiner ersten Rede am 1 5 . November 1792 " Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken" zeigt er, wie oberflächlich die Unterschiede zwischen Franken und Deutschen sind und daß man die historische Gelegenheit nutzen muß . Es wird eine Ehre für die Mainzer sein, als erste in Deutschland die Ketten der Sklaverei zu zerbrechen. Forster erwähnt die Theorie der natürlichen Grenzen und sagt: " Der Rhein, ein großer schiffbarer Fluß , ist die natürliche Grenze eines Freistaats , der keine Eroberung zu machen verlangt, sondern nur die Nationen, die sich ihm freiwillig anschließen, aufnimmt und von seinen Feinden für den so muthwillig von ihnen veranlassten Krieg , eine billige Entschädigung zu fordern berechtigt ist. " 1 6 Man hatte bis jetzt stets betont, daß die Mainzer den Franken alle Vorteile einer freien Verfassung verdankten. Auf dieser Basis wurde das Problem der Nation gestellt, das nun in einem anderen Licht erscheint. Während der Aufklärung war der Kosmo­ politismus - übrigens von den Fürsten genährt, für die er vorteilhaft war - sehr stark. Zugleich bemerkt man bei den Schriftstellern ein Wiedererwachen des Nationalgefühls . Die Einheit Deutschlands war fü r das Bürgertum ein Bedürfnis , denn sie war fü r die Entwicklung des Handels nötig . In diesem Kontext von zwei widersprüchlichen Gedan­ kenströmungen muß man die Ankunft der französischen Truppen betrachten. Man muß hinzufügen, daß die Franzosen, wenigstens zu Beginn, mehr als Befreier denn als Feinde betrachtet wurden und von den Mainzer Jakobinern - Georg Forster tut es in zahlreichen Reden - als Brüder vorgestellt wurden. Er ist sich dessen bewußt, daß zwar Unterschiede im Nationalcharakter der Völker bestehen, daß man sie aber übertrieben

IS Ebd ., S. 220. 16 Forster (Anm. 1), Bd. III, S. 589-607, hier S. 599.

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habe, um eine politische Allianz zu verhindern. Es sei immer die Politik der Fürsten gewesen, die Unterschiede zwischen den Völkern zu betonen, um diese besser aus­ beuten zu können. In seiner Rede anläßtich der Errichtung des Freiheitsbaums spricht er davon, daß die Franken jetzt freie Menschen geworden seien und daß sie helfen würden, eine Republik zu gründen. Sie wären nicht als Eroberer gekommen, sondern um ihr Vaterland zu verteidigen, und somit als Befreier . Früher seien auch die Deut­ schen frei gewesen. Forster spricht die Deutschen als Männer Germaniens an, um diese Vergangenheit wachzurufen, in der die alten Germanen frei waren. Dank der Franken erwachen jetzt die Deutschen. In dem " Schreiben des National­ konvents des rheinisch-deutschen Volks an den Nationalkonvent der Frankenrepublik"17 steht, daß die rheinischen Konventmitglieder den Franken sehr dankbar seien, daß sie ihnen geholfen haben, ihre Ketten zu zerbrechen und Bedingungen geschaffen haben, damit Wahlen stattfinden können. Sie wünschten also eine Vertiefung des französischen Einflusses . Allein die Brüderlichkeit zwischen den beiden Völkern würde gestatten, die Vorteile der Revolution zu bewahren. Die Deutschen hätten nicht für die Freiheit gekämpft, nichts für sie geopfert. Die Anwesenheit der Franken sei also eine Wohltat für sie . Durch die Erklärung der Menschenrechte habe die französische Nation auf Eroberungen verzichtet, und die französischen Truppen seien nur da, um sie gegen ihre Fürsten zu beschützen und ihnen zu gestatten, frei zu sein. Die Kommissare Sirnon und Gregoire versichern in einer langen Proklamation am 28. Februar, daß Frankreich sie beschützen werde, wenn sie frei sein wollten und den Eid leisteten. Noch nach den Wahlen sagt der französische Deputierte Merlin: "Das Mainzer Land gehörte uns durch Gewalt, oder in der Tyrannensprache durch das Recht des Krieges . Meine Republik kennt keine solchen Rechte; sie sucht einen anderen Ruhm, sie trachtet nach edlerem Gewinn, sie ringt nach schöneren Siegen und die Eroberung des Erdrundes, wenn sie ihm nicht Freiheit schenken könnte, hätte keine Reize für sie . Die Franken haben Euch den Gebrauch Eurer unverjährbaren Rechte wieder verschafft" . 18 Ihrerseits meinten die deutschen Jakobiner, daß sie mit Fremden zusammen arbeiten könnten, insbesondere mit den Franken, die öffentliche Ämter bekleideten. Diese Frage wurde in der Sitzung des Klubs am 30. November eingehend erörtert.19 Noch ein Thema kommt des öfteren vor, nämlich daß Franken und Deutsche zusam­ men die Stadt befestigen sollten. So würden sie gemeinsam am Schutz der Stadt arbei­ ten, was wiederum wahre Brüderlichkeit schaffen werde . Diese Brüderlichkeit hindere nicht, den Patriotismus als republikanische Tugend zu betrachten. Man meint sogar, daß die Vaterlandsliebe sich nur in einer Republik gut entwickeln könne . Für diese Jakobiner bedeutet es keinen Widerspruch, zugleich Kosmopolit und Patriot zu sein, wie die Titel der Zeitschriften zeigen: " Der Patriot", " Der kosmopolitische Beobach­ ter" usw . Wichtig sei vor allem das Glück der Menschen, und Patriot sein bedeute, die Menschenrechte verwirklichen zu helfen. Der Patriotismus ist bei den Mainzer Jakobi­ nern mit dem Republikanerturn und dem Antifeudalismus verbunden. Es handelt sich hier um einen demokratischen Begriff des Patriotismus . Viele Texte zeigen auf, wie sich der Patriotismus bei den Franken entwickelt hat und wie diese ihr Vaterland 1 7 Zitiert in: Scheel, Die MaiDzer Republik, Bd. II, Berlin (DDR) 198 1 , S. 491-493 . 11 Zitiert in: Scheel, ebd., S. 436. 19 G. Wedekind, Über die Anstellung von Ausländern, in: Scheel, ebd., Bd. I, Berlin (DDR) 1975 , S . 318.



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verteidigten. In seinem " Gesang der belagerten freien Deutschen in Mainz bei Bom­ bardement der Stadt" 20 fordert Lehne diesen Patriotismus bei seinen Mitbürgern und identifiziert den Tod für das Vaterland mit dem Tod für die Freiheit. Der Patriotismus wird nicht mit dem Nationalismus gleichgesetzt, und das Vaterland ist der Ort, wo man frei ist. Forster schreibt, daß er sich immer bemüht habe, überall wo er lebte, ein guter Bürger zu sein, und daß der Wahlspruch des Gelehrten ubi bene, ibi patria sein soll : "Heißt: ein guter Preuße sein, wenn man in Mainz unter fränkischer Herrschaft steht, soviel als, allen Preußen gutes, einen baldigen Frieden, eine Erholung von allen Übeln des Krieges wünschen, so bin ich ein guter Preuße, wie ich ein guter Türke, Russe, Chinese, Marokkaner, pp . bin. Heißt es aber, daß ich in Mainz meine allgemein be­ kannten Grundsätze verleugnen, mich nicht freuen soll, daß es eine freie Verfassung erhält; aufgefordert wie ich bin, nicht dazu mitwirken; in einer Gärung, in einer Krise, wo man durchaus sich entscheiden muß, entweder ganz unentschieden bleiben oder das Mainzer Volk durch mein Beispiel zu überreden suchen, es tue besser, die alten Greuel beizubehalten, als mit den Franken zu werden [ . . ] so verlangt man etwas, wofür ich verdiente, an den nächsten Laternenpfahl geknüpft zu werden. " 21 Er schreibt an seine Frau, daß es besser sei, frei zu sein, als sein Brot bei den Despoten zu erbetteln. Er äußert öfter, daß er lieber nach Frankreich gehen würde, wenn es nicht gelänge, in Mainz Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen. Er meint, wie die anderen Revolutio­ näre, daß der Staat dazu dienen solle, die moralische Vervollkommnung des Individu­ ums zu ermöglichen. Nur in diesem Kontext kann man verstehen, daß der erste wichtige Entschluß des rheinisch-deutschen Konvents darin bestand, den Anschluß an Frankreich zu verlangen. Die beste Lösung scheint die Einverleibung zu sein, denn jede andere wäre gefährlich. Es gibt andere Beispiele einer Trennung einiger Länder vom Reich, wie Elsaß und Lothringen. Meistens hängen solche Teilungen vom Los der Waffen ab, diesmal würde das Volk entscheiden. Wenn das Land ein Teil der französischen Republik wird, so wird es von ihr beschützt werden. Sonst werden Mainzer die Errungenschaften der Revolution verlieren und wieder zu Sklaven werden. Forster wünscht also die Einglie­ derung, um die Menschenrechte zu bewahren, und spricht von der natürlichen Grenze des Rheins zu einer Zeit, wo dieser Gedanke noch keine Kraft in der öffentlichen Meinung in Frankreich hatte, da er erst im Januar 1793 von Danton offiziell ausge­ sprochen wird . Schon am 27 . Oktober 1792 schreibt Forster auf französisch an Voss : " Le Rhin est Ia pour le bonheur de l ' Allemagne. II faudrait etre fou pour croire encore au vieux reve de l 'intangibilite du Reich. " Die anderen Mitglieder des Konvents meinen auch, daß es aus Sicherheitsgründen besser wäre, die Angliederung an Frankreich zu verlangen. Der neue Staat würde zu schwach sein, um den deutschen Fürsten widerstehen zu können. Erstaunenswert ist, daß während der drei Tage, in denen darüber debattiert wurde, das Nationalproblem nie angesprochen wurde . Forsters Rede am 2 1 . März wird bestimmend sein. Er er­ innert daran, daß die Deputierten gewählt wurden, um das Volk glücklich zu machen, erinnert an die Sklaverei, die Tyrannei der Despoten. Jetzt gewinnt die Menschheit ihre Rechte wieder . Die Vertreter des freien deutschen Volkes müssen ihrer Sendung .

20 Zitiert in: C. Träger, Mainz zwischen Rot und Schwarz, Berlin 1963 , S. 501 . 21 G. Forster an Voss, Briefvom 2 1 . 1 1 .1792, Werke, Bd. IV, S. 792.

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II. Volk Marita Gilli ·

würdig sein. Sie haben die Freiheit proklamiert, sie müssen sie jetzt schützen. Er schließt mit diesen berühmten Worten: " Die freien Deutschen und die freien Franken sind hinführo ein unzertrennliches Volk" . 22 Das " freie rheinische Volk" wird also die Einverleibung in die französische Republik beschließen und sendet zu diesem Zweck drei Deputierte nach Pari s . Dieser Entschluß wurde aber nicht in der Eile gefaßt. Am 19 . März meint man, daß es zu früh ist, um einen Entschluß zu fassen. Viele Redner behandeln das Problem. Der Entschluß wird erst am 2 1 . März gefaßt, nachdem man sich vergewissert hat, daß alle Mitglieder anwesend sind . Dies zeigt, daß man sich der Wichtigkeit des Entschlusses bewußt war . Der französische Konvent nimmt diese " Gabe" an, zu einer Zeit, in der sich die Theorie der natürlichen Grenzen entwickelte . Schon waren einige belgisehe Gemeinden eingegliedert. Man hat diese Politik Forster vorgeworfen, man hat ihn angeklagt, sein Vaterland verraten zu haben. Doch war dieser Begriff des Vaterlandes noch keine Wirklichkeit in Deutschland . Drei Jahre später verzichtet man auf das ganze linke Rheinufer. Sicher schaffen der Kampf gegen die Feudalordnung , der Aufstieg des Bürgertums günstige Bedingungen für das Erwachen des Nationalbewußtseins . Es war aber nur ein Beginn. Für Forster ist das feudale Deutschland kein Vaterland, und es ist kein Verrat, die Eingliederung an Frankreich zu verlangen, denn die Bewohner des Landes werden auf diese Weise glücklich werden. Das Vaterland ist das Land , wo man frei ist, wo die Menschenrechte herrschen, wo man glücklich ist. Forster meint wie Wedekind , daß man sein Vaterland wählen dürfe , und deshalb möchten sie französische Bürger wer­ den. Forster handelt als Revolutionär, meint, daß jede andere Lösung das Land seiner Freiheit berauben würde. Zum ersten Male hatten Wahlen auf deutschem Boden stattgefunden. Die so entstandene Republik konnte nicht allein fortbestehen. Das tragische Los solcher Revolutionäre wie Forster war, daß sie die Errungenschaften der Französischen Revolution, die Menschenrechte nur bewahren konnten, indem sie sich dem Vorwurf des Verrats aussetzten. In dieser Problematik spielt der Begriff des Volkes eine zentrale Rolle . Die Klassi­ ker verstehen unter Volk entweder die Nation oder den dritten Stand , vor allem das Bürgertum. Forster und viele andere Mainzer Revolutionäre schließen die unteren Schichten ein. Dieses unterscheidet sie eben von den Liberalen, denn sie sind die ' einzigen, die die Volkssouveränität bejahen. Das Volk erscheint also als Schlüssel­ begriff, der die politische Stellungnahme bestimmt.

22 G. Forster, Rede über die Vereinigung des rheinisch-deutschen Freistaates mit der Frankenrepublik, in: ders. (Anm. 1), Bd. Ill, S. 621-628.

Jiznos Rathmann (Budapest) Die "Volks" -Konzeption bei Herder

Die deutsche Philologie hat Herders reiches Lebenswerk erschlossen und widmet sich dieser Aufgabe auch weiterhin, und ich, ein ungarischer Freund der deutschen Auf­ klärung, kann ziemlich wenig dazu beitragen. Herder, der die damaligen Verhältnisse in der Donau-Monarchie kaum kannte - aber dennoch besser als Goethe oder Forster - , mußte es nach seiner düsteren, dunklen Prophezeiung' als einziger Deutscher hinneh­ men, in der Frage der Sprache der Ungarn im Namen der Idee der Humanität mit der damaligen Zensur und selbst mit dem Vorwurf einer Majestätsbeleidigung konfrontiert zu werden. 2 Er unternahm den Versuch zum Schutze eines kleinen Volkes , obwohl er dessen Kultur kaum kannte, dessen Volksdichtung für verloren glaubte3 und dessen Sprache er hundert Jahre später für verschwunden hielt. 4 Deshalb können die Herder­ Kenner in Ungarn den großen Weimarer Denker ein klein wenig auch als den ihren ansehen. Wenn wir die Ideen des großen deutschen Denkers rekonstruieren wollen, müssen wir dies auch heute in seinem Geist, eingebettet in seine Betrachtungsweise tun, ansonsten würden wir das Erbe unausweichlich verfälschen. Denn Herder hat die Gesellschaft oder einen Teil von ihr niemals einfach als Literat oder Soziologe oder als Historiker betrachtet . Das bedeutet in unserem Falle , daß wir uns , seiner Intention folgend , nicht in schulmäßige Volksdefinitionen einlassen und unsere heutigen Maß­ stäbe auf ihn zurückprojezieren, und daß wir wissen, wie sehr ihn stets die Furcht packte , wenn er höite , daß eine Nation, ein Volk oder eine Zeit mit wenigen Worten charakterisiert worden war. 5 Eine solche Methode schien ihm deshalb eine grobe Vereinfachung , weil ( 1 ) das Wort .Nation" oder " Volk" - wie er sagte- eine Unzahl von Verschiedenheiten umfasse und weil man (2) für die Beschaffenheit eines Volkes seiner Meinung nach die Vorgeschichte und die ganze Vielfalt der einwirkenden Faktoren kennen müsse . 6

1 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herdcrs Sämtliche Werke, hrsg. v. B . Suphan, Bd. XIV, Berlin 1909, S . 269; Werke, Berlin!Weimar 1965 , Bd. 2, S . 272. In diesem Text heißt es : . Die Ungarn [ . . . ] sind der geringere Teil der Landeseinwohner und nach Jahrhunderten wird man vielleicht ihre Sprache kaum fmden. 2 Herdcrs Werk . Briefe zur Beförderung der Humanität" wurde gleich nach dem Erscheinen der ersten beiden Sammlungen in allen Habsburgischen Ländern - so auch in Ungarn - verboten. 3 Vgl . Herdcrs . Stimmen der Völker in Liedern" , in: Herder: SW XXV, Berlin 1885 , worin kein einziges Volkslied aus Ungarn zu finden ist. • Vgl. Herder (Anm. 1 ) . 5 Herder selbst schreibt darüber: Wie mir immer eine Furcht ankommt, wenn ich eine ganze Nation oder Zeitfolge durch einige Worte charakterisieren höre, denn welch eine ungeheuere Menge von Ver­ schiedenheiten fasset das Wort Nation [ . . ] in sich. Humanitätsbriefe, in: Werke, Bd. 2, Berlin!Weimar 197 1 , s. 63. 6Ebd. •



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li. Volk· Janos Rathmann

Mit Herders Volksbegriff hat sich die deutsche Literaturgeschichte viel beschäftigt. In Wirklichkeit war dies aber kein literaturgeschichtlicher, sondern ein gesellschaftlich­ soziologisch gedachter Begriff; er faßte die historisch-gesellschaftlichen Ansichten des Sturm und Drang zusammen, zeigte aber keine Übereinstimmung mit den ent­ sprechenden Ansichten der deutschen Romantik. Wir dürfen auch nicht außer acht lassen, von welchem Ausgangspunkt aus Herder zum Begriff des Volkes gelangte . Die Annäherung erfolgte bei ihm nicht von der Welt des Staates und der Politik, sondern von der Sprache und Kultur her und innerhalb dieser aus der Richtung der Dichtung . Der welterklärende Begriff ist also für ihn nicht das Politikum und dessen Bereich (z . B . der Staat) , sondern viel eher die Bildung und deren Bereich. 7 Wenn wir diesen Gedankengang nicht zu Ende denken, könnte es scheinen, daß ihn ein solcher Ausgangspunkt von seinen Ideen entfernt- vom Prinzip der Tat, von der Erreichung der Humanität - und in eine kontemplative Richtung gelenkt hat. In Wirklichkeit aber war das nicht der Fall; denn Herder fand durch die im weitesten Sinne genommene Bildung des Volkes die für die Gesellschaft wirklich lohnende Aktivität, den Bewegungsspielraum des wirklich wichtigen und erfolgreichen gesellschaftlichen Handeins . Herders neuartige Volkskonzeption ist nur zu verstehen , wenn wir den großen Durchbruch in Betracht ziehen, den Herder auf Hamanns Spuren auf dem Gebiet der Sprachtheorie erzielte . Dieser Durchbruch gehört zu den großen Durchbrüchen- und Wertwandlungen - des 1 8 . Jahrhunderts , die nicht ohne Folgen bleiben konnten. 8 Wenn die Sprache für das Denken nicht nur ein Mittel des Kontakts ist, sondern weit mehr, dann handelt es sich offensichtlich um eine Aufwertung der Sprache von historischer Bedeutung . Demnach muß zwangsläufig alles dasjenige eine Aufwertung erfahren, was mit der Sprache zusammenhängt: die Kultur und innerhalb derselben die Volksdich­ tung, Literatur, Dichtung , die Folklore und alle mit der Sprache aufs engste zusammen­ hängende Gemeinschaften: das Volk, die Nation, die Nationalität. Herder vermochte diesen Zusammenhang sehr wohl zu ermessen und interpretierte die sprachliche Ge­ meinschaft in diesem Sinne . Daß Herders Standpunkt die These von der organisch zusammenhängenden Gemeinschaft von Sprache, Tradition und Kultur war, geht aus dem Gesagten hervor. Herders Denken ist kein kontemplatives Denken, sondern verkündet eher Aktivis­ mus . Sein Aktivismus aber ist kein politischer Aktivismus. Herder anerkennt aller­ dings, daß der Mensch ein gesellschaftliches und politisches Wesen ist, daß es Regie­ rungen und Staaten gibt, daß die Gesetzgebung notwendig ist. 9 Dennoch sah er die Handlungssphäre , die ihm in seinen Augen zu seiner Zeit am wichtigsten und am ehesten erforderlich erschien, nicht im politischen Handeln, sondern in der Tätigkeit für Bildung und Erziehung .

7 Der Zusammenhang zwischen Volk und Bildung wird eingehend analysiert von Wilhelm-Ludwig Federlin in seinem Buch: Vom Nutzen des geistlichen Amtes. Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption J.G. Herdcrs (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 33), Göttingen 1982. • Vgl. J . Rathmann: Hamanns Sprachphilosophie und was dahinter steckt, in: J.G. Hamann und die Krise der Aufklärung , hrsg. v. B. Gajek/A. Meier, Frankfurt a.M ./Bern/New York/Paris 1 990, S. 2 17-225 . 9 Vgl. Herdcrs Meinung über den Menschen als .politisches Geschöpf", in: SW XVI, S. 48, 1 1 9; IX, s. 3 1 1 -3 1 9 .

Die . Volks"-Konzeption bei Herder

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Was war der Grund dafür? Die wahrscheinlichste Erklärung hat Dreitzel gegeben, nach dessen Meinung das im üblichen Sinne genommene politische Handeln in den historischen Naturprozeß eingewoben war10 , wo - füge ich hinzu - der Freiheitsgrad des Menschen eingeengter schien. Sicher gab es dafür noch einen anderen Grund, schon allein deshalb, weil sich Herder in seiner Methode, seiner Denkweise nur selten mit einer nur auf einem Faktor basierenden Erklärung begnügte . Und dieser Grund ist darin zu sehen, daß Herder worauf Frederick M. Barnard verwiesen hat - den Inhalt des politischen Lebens nicht in der Gesetzgebung sah, sondern in der Sprache, die seiner Ansicht nach das stärkste innere Band des politisch-gesellschaftlichen Zusammenschlusses war . 11 Der dritte Grund ist die Anthropologie . Herder gelangte nämlich, abweichend von der Regel , vom Menschen her zur philosophischen Anthropologie und nicht von der Wissenschaft her . 12 So ist seine Anthropologie bei weitem nicht die übliche akade­ mische Anthropologie , denn die steht ihm fern. Er philosophiert nicht um der Phi­ losophie willen. Und die Menschen, für deren Bildung , deren Erziehung er am meisten tun möchte , das sind nicht die meist in ihrer Sprache und auch in ihrer Kultur Frank­ reich nachahmenden retrograden ständischen (adligen) Mitglieder der Nation, sondern das ist das Volk. Und nach Kimpel verstand er unter dem Begriff "Volk" die Leute auf dem Dorf, die die beklemmende gesellschaftspolitische Frage der Zeit bilden: die im Abhängigkeitsverhältnis lebenden deutschen Bauern. 13 Herders Verhältnis zum Volk zeigte sich am anschaulichsten in seinen Volks­ bildungsvorhaben und seinen Methoden. Sie hatten einen weltlichen Aspekt (z . B . Schulorganisation) und einen kirchlichen (Volkskirche, Predigt als Volksbildungs­ medium, die Methode des Predigens , Predigen als subjektive Sittenlehre) , beides aber vermeinte er nur als Pastor, nicht aber als Philosoph verwirklichen zu können. Die damalige akademische Philosophentätigkeit hielt er nämlich für ungeeignet, seine Volkserziehungs- und Volksbildungspläne in die Tat umzusetzen. 1 4 Im Prinzip gab er aus diesen Gründen auch seine eigene akademische Laufbahn auf, nachdem sein Versuch, in Göttingen zum Privatdozenten ernannt zu werden, gescheitert war . Wilhelm-Friedrich Federlin hat dies gründlich dargelegt und überzeugend erklärt. In seinen Volksbildungsplänen bot Herder Frauen und Männern unterschiedliche Pläne an. Die Bildung der Frau war vor allem auf das Gefühl aufgebaut, dessen mora­ lische und ästhetische Rolle er für evident hielt. Mittel der Erziehung zum Geschmack, zum Umgang mit anderen und zur Tugend war seiner Meinung nach die Literatur (" Frauenzimmerstudien" , "Frauenzimmer-Ästhetik" ) . 15 Dazu müsse sich, so meinte er, der Stil der philosophischen Literatur ändern und erneuern: dem Volk müßten keine 10 Vgl. Horst Dreitzel, Herders politische Konzepte, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), J . G . Herder (Studien zum 1 8 . Jahrhundert, Bd. 9), Harnburg 1987, S. 290f. 11 Vgl. F.M. Bamard, Zwischen Aufklärung und politischer Romantik - Eine Studie über Herders soziologisch-politisches Denken, Berlin 1964, Kap. III. 12 Diese Interpretation der Herdersehen Position wird von Federlin (Anm. 7) gründlich ausgeführt; a.a. O . , S. 36 f. 13 Vgl. Dieter Kimpel, Philosophie, Ästhetik und Literaturtheorie, in: ders . , Zwischen Absolutismus und Aufklärung, Harnburg 1980, S. 103 . 14 Vgl. Herder, S W XXXII, S. 49; Herders Brief a n Kant von 1 768 und an Merck vom 2 8 . August 1 770 in: Herders Briefe, hrsg. v. W. Dobbek, Weimar 1 959, S. 1 9-23, 55-57. 15 Herder, SW XXXII, S . 37, 57.

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II. Volk· Janos Rathmann

philosop hischen Geschmacksideen aufgezwungen werden, sondern der Geschmack des Volkes müsse geformt und entwickelt werden. Herders Vorbild sind natürlich die Griechen, vor allem Homer, der in einer dem Volk bekannten oder von ihm gesproche­ nen Sprache schrieb . 1 6 Was die Philosophie anbetraf, so wollte Herder hier eine bedeutende Wende erreichen, oder er hielt sie zumindest für wünschenswert: ein das Volk in den Mittelpunkt stellendes Philosophieren, wenn wir seinen Bildungsplan einmal vereinfachend so bezeichnen dürfen. Dies alles war letztlich Teil von Herders großem Plan: Weg und Mittel zur Verwirklichung des Humanitätsideals. Was die schon erwähnte Herdersehe Prophezeiung und die Frage der ungarischen Sprache und Nation anbetrifft, so möchte ich daran noch einige mir wichtige Bemerkungen anfügen, da dieser ungarische Bezug Herders in Deutschland wenig bekannt ist. Diese bei uns eher berüchtigte als berühmt gewordene "Prophezeiung " wurde zu einem - von Ungarn aus gesehen - ungünstigen Zeitpunkt gemacht (geschrieben 1788, erschienen 1 79 1 ) , als nach dem Tode Josefs II . , durch die anti-ungarische josefinische Österreichische Politik die Verbitterung groß war und verständlicherweise rebellischer Geist aufkam. Die zeitgenössische Intelligenz konnte kein umfassendes Bild von Herders aktuellem Standpunkt haben, denn im damaligen Ungarn war weder seine scharfe Kritik an Josef II . (die erst in den "Briefen zur Beförderung der Humanität" erschienen war17) noch der nach Josefs II . Tod erschienene Herder-Dialog ( 1 793) und auch nicht die die Habsburgmonarchie umfassende Herdersehe geschichtsphilosophi­ sche Kritik bekannt. Und gerade um diese Zeit wurde im Kreise der Besten der ungari­ schen Aufklärung der Kampf für die ungarische Sprache und Literatur zu einem wichtigeren Programm als bis dahin. Nun, Herder prophezeit durchaus nicht aus politischer Gegenposition gerade um diese Zeit den nahen Untergang der ungarischen Sprache und Nation. Dennoch, nur wenige reagierten auf die "Prophezeiung" so unverständig wie Andras Dugonics, der Herder beschimpfte , indem er ihn einen "deutschen Esel " nannte . 18 Einen ähnlichen Standpunkt vertrat die konservativ-nationalistische Richtung , die Herder wegen der hingeworfenen " Prophezeiung" - grundlos - zu den Feinden der Nation zählte , in die Kategorie, in die die aulischen Vertreter (z . B . Adam Kollar) der die Existenz der ungarischen Nation gefährdenden josefinischen Österreichischen Aufklärung und überhaupt einige Historiker der Hofintelligenz gehörten. Den Umstand, daß die Her­ dersehe Grundkonzeption gerade die Freundschaft der slawischen und nichtslawischen Völker war, das zog die erwähnte Richtung nicht in Betracht. Und sie bemerkten auch nicht, daß der große humanistische Denker dieser Äußerung niemals größeren Nach­ druck verliehen hatte , ja daß er sie revidierte . Der Kämpfer für die Gleichberechtigung der Völker informierte sich nach 1 790 immer besser über die ihm bis dahin nur ober­ flächlich bekannten Fragen der ungarischen Lage , und als er die Werte der ungarischen Kultur sah, ging er über die von Schlözer übernommene Version hinaus . Hier geht es also wahrscheinlich nicht darum - wie Deszö Dümmert in seiner im übrigen wichtigen Mitteilung meint -, daß Herder und Schlözer die Ungarn mochten - oder auch nicht 16 Ebd . , S. 5 9 f. 17 Herder (Anm. 5), S . 6 1 . 18 Zit. v. B. Pukänszky: Herder intelme a rnagyarokhoz (Herders Mahnung an die Ungarn) . Egyetemes Filol6giai Közlöny" , Jg. 45 (1921), S. 38.

Die Volks"-Konzeption bei Herder •

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mochten - und daß Herder möglicherweise die Ungarn und ihre Geschichte wegen seiner Sympathie für die Slawen außer acht gelassen hat. Es ist nämlich zu bedenken, daß das unbeendet gebliebene Bruchstück der "Ideen", das die Quelle der " Prophezei­ ung" ist, zeitlich nur bis König Stephan geht und dennoch einen kleinen Abstecher ins Ungarn des 18 . Jahrhunderts macht. Demzufolge beweist der Abstecher zum Ungarn­ turn des 18. Jahrhunderts, der die sonst von Herder präzise eingehaltene Chronologie gründlich umstößt, welch ein Irrtum die bei den Herder-Philologen anzutreffende Behauptung ist, der große Denker habe in den " Ideen" sein Werk vollenden, den großen kulturphilosophischen Plan seiner Jugend erfüllen können. Als wichtiger Umstand wird auch angesehen, daß der Verfasser der "Prophezeiung " beim gründlichen Studium der universalen Volkskunst kein einziges Volkslied aus dem reichen, damals ihm aber unbekannten (weil unzugänglichen) Schatz der ungarischen Folklore gefunden und selbstverständlich auch nicht in seine große Volksliedersamm­ lung " Stimmen der Völker in Liedern" aufgenommen hat . Das Volkslied ist nämlich nach Herders Konzeption ein Zeichen der Lebensfahigkeit einer Nation, sein Fehlen aber das des Untergangs . In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war es bei der Geißelung der Mängel unserer muttersprachlichen Bildung oder bei der Analyse der Schicksalsfragen des Ungarnturns üblich geworden, Herder zu erwähnen und zu zitieren. Ich wagte zu hoffen, daß früher oder später seine kultur- und sprachtheoretischen Schriften als Quelle dienen würden. Grund zu dieser Annahme gab die historische Tradition, daß sich einst die ungarischen Jakobiner-Schriftsteller - indem sie die Quellen ihrer ersten, ihrer französischen Meister beiseite legten - der Herdersehen Sprach- und Volkstheorie annäherten. Und als ich auf die ebenfalls falsche Übersetzung der heute schon nachgewiesenermaßen auf falschen Grundlagen basierenden Prophezeiung treffen mußte, da kamen mir Laszl6 Nemeths Zeilen in den Sinn: "Wir Ungarn haben uns trotzdem von ihm [Herder] nur gemerkt, daß er es war, der das Aussterben des Ungarntums, den Untergang unserer Sprache prophezeit hat. Diese Prophezeiung kenne ich, soweit ich zurückdenken kann, aber ich habe nie kontrolliert, wie sie eigentlich heißt. " 19 Das stimmt. Herder ist für die intellektuelle Öffentlichkeit immer nur der "Prophet" gewesen. Einer seiner sich auf uns beziehenden lapidar knappen Halbsätze ist erhalten geblieben, während seine andere ebenfalls von uns handelnde, ausgeführte Äußerung auf die ich noch zu sprechen kommen werde - und noch mehr seine in der Tat dauerhaf­ ten humanistischen geschichtsphilosophischen Gedanken bei uns so gut wie unbekannt sind . Hiernach wird Emil Kolozsvari Grandpierres Ungeduld verständlich, der noch 1977 feststellte, daß es bei uns niemandem in den Sinn komme, Herders Hauptwerk ins Ungarische zu übersetzen. In dieser Tatsache vermeinte er den " antisokratischen" Charakter unserer Bildung zu eJ;"kennen. In Wirklichkeit hatten sich schon früher mehrere namhafte ungarische Schriftsteller bemüht, Herders Ideen ins Ungarische zu übertragen. Kehren wir zu der Prophezeiung selbst zurück. Aus den weiteren Einzelheiten von Laszl6 Nemeths Artikel geht hervor, daß er sich die Mühe gemacht und sie kontrolliert

1 9 Usz16, M6meth Irodalmunk jövöje (Zukunft unserer Literatur), in: Megmentett gondolatok (Gerettete Ideen), Budapest 1975 , S. 466.

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hat. Abgesehen von einem ausgelassenen Wort lautete seine getreue Übersetzung : "Hier leben sie jetzt, zwischen Slawen, Deutschen, Rumänen und anderen Völkern, als kleinster Teil der Bevölkerung , und in Jahrhunderten wird man dann auch ihre Sprache (vielleicht) kaum finden können. " 20 Zur heutigen Auslegung der aus dem Zusammenhang gerissenen Prophezeiungen gehört, das Ganze in Augenschein zu nehmen, vor allem aber, daß ihr Verfasser nicht unbedingt, nicht eindeutig mit ihrem zwangsläufigen Eintreten gerechnet hat. Der Grund hierfür war die Anerkennung des Zufalls und auf dieser Grundlage - übrigens in Übereinstimmung mit Goethe - eine Auslegung des Determinismus, die sich von j ener der Materialisten der französischen Aufklärung unterschied . Neben letzterem ist auch seine andere Äußerung über die Ungarn ein Beweis . Dieser Text relativiert in großem Maße die bei uns allgemein bekannte Prophezeiung und zeigt ziemlich klar, daß das Wesen von Herders Prophezeiungen, die sich auf uns beziehen, alternativ ist. Wir wollen also die andere, bisher nicht zitierte Stelle aus der sogenann­ ten I. Sammlung der " Briefe zur Beförderung der Humanität" anführen, die Herder unmittelbar nach dem Tode Josefs II. zu Papier gebracht hat und die sofort nach dem Erscheinen der ersten beiden Sammlungen von der Zensur für das gesamte Gebiet des Habsburgerreiches verboten wurde. Das ist vermutlich der Grund dafür, daß diese Schrift bei uns nicht mehr bekannt geworden ist. Der Titel lautet: "Klopstocks Ode an den Kaiser. Gespräch nach dem Tode des Kaisers Joseph des Zweiten" . 21 Dieser Dialog ist nicht der einzige Beweis dafür, daß Herder die josefinische Variante der Aufklärung zunächst in Frage gestellt und dann entschieden abgelehnt hat. Von dem 1 5 Seiten langen Dialog zitieren wir hier den Teil , der sich auf den Zusammenhang von Kultur und Sprache bezieht: " A . Er [Josef II . ] wollte aber eine schnellere Betreibung der Geschäfte , eine schnellere Kultur bewirken. B . Die beste Kultur eines Volkes ist nicht schnell; sie läßt sich durch eine fremde Sprache nicht erzwingen. Am schönsten und , ich möchte sagen, einzig gedeihet sie auf dem eigenen Boden der Nation, in ihrer ererbten und sich forterbenden Mundart. Mit der Sprache erbeutet man das Herz des Volks , und ist ' s nicht ein großer Gedanke, unter so vielen Völkern, Ungarn, Slawen, Wlachen u . f. , Keime des Wohlseins auf die fernste Zukunft hin ganz in ihrer Denkart, auf die ihnen eigenste und beliebteste Weise zu pflanzen? A. Was brauchte Joseph dazu für Hände ! Ihm schien es ein größerer Gedanke , alle seine Staaten und Provinzen womöglich zu einem Kodex der Gesetze , zu einem Erziehungssystem, zu einer Monarchie zu verschmelzen. B . Ein Lieblingsgedanke unsres Jahrhunderts ! ist er aber ausführbar? Ist er billig und nützlich? Brabanter und Böhmen, Siebenbürger und Lombarden, stehen sie auf einer Stufe der Kultur? gehören sie also in ein Institut der Erzie-

20 Herder (Arun. 1 ) . 21 Herder (Anm. 17).

Die Volks" -Konzeption bei Herder •

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hung? i n einen Kodex der Gesetze und Strafen? Gott selbst hat sich eine solche Zusammenschmelzung nicht erlaubt; daher er jedes Volk nach seiner Weise unterrichtet. " 22 Herder, der sich in den Jahren nach der Abfassung der ersten " Prophezeiung" ( 1 788) immer besser über die Verhältnisse im Habsburger-Reich informierte , begann, sich auch uns mit bangender Liebe zu nähern. Voller Vertrauen blickte er selbst in die " allerfernste Zukunft" , wenn bei den Ungarn und bei so vielen anderen Völkern die Kultur aufzublühen begann und die so gesäten Keime des Wohlseins ihren Ertrag brachten.

22 Herder (Anrn. 17).

Jürgen Konert (Bad Schönborn) Patriotismus in der deutschen Medizin des 1 8 . Jahrhunderts

Aus heutiger Sicht versteht sich die Medizin als weltumspannend , das Verständnis von Krankheit und Therapie wird von Ländergrenzen und Nationalitätsunterschieden nur unwesentlich beeinflußt. "Patriotische Medizin" erscheint daher als ein Widerspruch in sich und das Thema folgerichtig fragwürdig . Ein überraschend anderes Bild ergibt sich aber aus der Sicht von vor 200 Jahren. " Der Patriotismus ist unläugbar die Seele aller gesellschaftlichen Tugenden: So viel man auch Gepränge davon macht, so wenige besitzen ihn wirklich. "1 Mit diesen kritischen Worten führt Anton Heins aus Harnburg 1765 in die von ihm herausgegebene medizinische Zeitschrift " Der patriotische Medicus " ein. Mit dieser Schriftenreihe steht er in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts in einer guten Tradition. " Patrio­ tisch" und " vaterländisch" kommen als Orientierungs- und Reizbegriffe in der populär­ medizinischen Aufklärungsliteratur überraschend häufig vor . Dieser Befund veranlaßt zu einer Untersuchung ihrer Bedeutungen, und ihre Absicht im medizinischen Schrift­ tum bedarf einer Erklärung . An die patria, die Heimat, an die geschichtlich gewachsenen und natürlichen gefühls­ mäßigen Bindungen in der Muttersprache sich zu wenden, war für die Aufklärer ein didaktischer Kunstgriff, um die Menschen, das Volk aufmerksam zu machen, zu interessieren und zu motivieren, nach einem Lernvorgang etwas besser zu wissen und zu können als vorher . Verstand sich das 18. Jahrhundert allgemein als ein "pädago­ gisches Jahrhundert" (Campe) , dessen dominierendes Ideal die Bildung der Bevölke­ rung war, so gilt dies im besonderen für die Gesundheitserziehung . Der Anspruch auf Aufklärung über Gesundheit und Krankheit an die Ärzte galt für alle Menschen unab­ hängig von Standesgrenzen und wird naturrechtlich begründet. Angelehnt an Kant definierte Johann Karl Osterhausen 1798: " Medizinische Aufklärung [ . . . ist] der Aus­ gang des Menschen aus seiner Unmündigkeit in Sachen, welche sein physisches Wohl betreffen. "2 Über weite Strecken des 18. Jahrhunderts sahen die Ärzte das "Aufklären" dieser Art als eine ihrer entscheidenden Aufgaben an. Sie versuchten mit den unter­ schiedlichsten Mitteln, den " Nächsten" von Unwissenheit, Dummheit und Aberglauben in medizinischen Fragen zu befreien. Der Aufklärer ist als Schreiber oder Sprecher dabei dem Volke in der ihn und seine Adressaten umschließenden Gemeinschaft nahe . Mit seinen Schriften über Gesundheit und Krankheit wandte er sich in der Regel an die Menschen in seiner engeren Umge­ bung . Auf diesem Wege gewinnt er Zugang und Vertrauen. Um all diesen Bemühungen die richtige Wirkung zu geben, mußte der Arzt die Gelehrtensprache verlassen und in der Art des Volkes reden und schreiben.

1 Anton Heins, Der patriotische Medicus, Nr. 1, Harnburg 1 765 . 2 Johann Kar1 Osterhausen, Über medicinische Aufklärung, Bd. 1 , Zürich 1798, S. 8 f.

Patriotismus in der deutschen Medizin des 1 8 . Jahrhunderts

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" Es ist ein Bekehrungsgeschäfte: Apostel werden dazu gefordert und die Sprache der Fischer. Persönlicher, freundlicher Besuch, vertrauliches , aus der Seele strömendes Zureden, anschauliche Darstellung und vor allen Dingen Hintansetzen aller Hoheit, aller äußerlichen falschen Würde , alles Gezieres , alles Hoftons ist nöthig, wenn man das Volk belehren will . "3 Die hierbei häufig angewendeten Begriffe "Patriotismus" und " vaterländisch" sind unter diesen Voraussetzungen nicht gleichzusetzen mit "nationalem Bewußtsein" oder gar als nationalistische Tendenzen zu verstehen. Vielmehr gehören sie zu den Versu­ chen, das " aufgeklärte Weltbürgertum" in übersichtliche regionale Gruppen zu glie­ dern. "Patriotismus " und "Vaterland" füllen dabei ein Spektrum zwischen der wieder­ belebten antiken polis und den im Deutschland des 1 8 . Jahrhunderts zahlreich existie­ renden Kleinstaaten und selbständigen Städten auf der einen Seite und großen Sprach­ räumen auf der anderen Seite . Diese Begriffe passen gleichzeitig gut in das patriarcha­ lische Verständnis des aufgeklärten Absolutismus . Wird patria geographisch verstanden als eine Landschaft, ein Siedlungsgebiet, ein Gau , so gewinnt sie mehr das emotionale Gesicht der Heimat. Ähnlich sieht es unter ethnischen Gesichtspunkten aus , wenn Dialekt, Trachten, Sitten und Nahrungsgewohn­ heiten Merkmale einer Gemeinschaft und zugleich Bekenntnis zu ihr sind . 4 Diese Gemeinsamkeit ist auch geprägt durch gleiche klimatische Bedingungen, und in ihr realisieren sich Krankheiten infolgedessen zumeist in vergleichbaren Formen und Ursachen. Als Beispiel sei hier nur auf den endemischen Kropf der Alpenbewohner verwiesen. Bereits 1 748 leitete Montesquieu ( 1 689- 1 755) im "Geist der Gesetze " 5 die Unter­ schiede und Besonderheiten der Völker aus ihren natürlichen Lebensräumen und bedingungen ab . Gezielt wurde auf die antike Klimalehre zurückgegriffen, wenn Heilmittel , die dem Heimatboden des Kranken entwachsen, als wirksamer und zu­ träglicher charakterisiert werden, als die aus dem Ausland, vor allem den Tropen eingeführten Substanzen. Solche Auffassungen lesen sich oberflächlich wie in nationali­ stischer oder volkswirtschaftlicher Absicht geschrieben. Deutlich verweisen sie aber auf die Zugehörigkeit dessen, was die hippokratische Schrift "Über Landschaft, Winde und Wasser" 6 als ökologisches Programm entfaltet hat. Aus ihr leiten sich nicht nur Krankheiten, ihre spezifischen Verläufe, Dispositionen und Heilmittel ab, sondern ganz allgemein die Erkenntnis , daß die natürliche Umgebung des Geburtsortes für den jeweiligen Menschen die beste ist. Der Begriff des Patriotischen umfaßte hier den natürlichen Lebensraum. Seine Anwendung war somit nicht nur ein aufschließender und motivierender erzieherischer Kunstgriff, sondern verweist auch inhaltlich auf ein Programm, das aufgeklärtes Gesundheitsdenken und -handeln verwirklichen will . Es muß dies alles jedoch vor dem Hintergrund einer großen Unsicherheit in der praktischen Medizin gesehen werden. Noch am Ausgang des Jahrhunderts bestanden

3 Johann Clemens Tode, Der unterhaltende Arzt über Gesundheits-Pflege, Schönheit, Medizinalwesen, I, Kopenhagen 1785, S. 147. 4 Roland Glauger, Gesundheitserziehung durch Ärzte als naturrechtlich begründetes Programm aufgeklär­

Religion und Sitten, Bd.

ter Medizin des 1 8 . Jahrhunderts, Diss. Hannover 1 976, S. 206.

5 Charles-Louis de Montesquieu, De l ' esprit des lois, Genf 1 748. 6 H . Diller, Hippokrates, Schriften - die Anfänge der abendländischen Medizin, Reinbek bei Harnburg 1962.

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beträchtliche Unterschiede zwischen Theorie und Praxis in der Medizin. Der beste Arzt war zu dieser Zeit noch immer derjenige , der Patient und Krankheit am genauesten beobachtete und seine wenigen therapeutischen Mittel, auf jeden Patienten individuell zugeschnitten, anwandte . Es blieb dabei bedeutungslos , nach welcher Theorie er seine Arzneimittel erklärte : ob nach der modifizierten alten Humorallehre oder entsprechend den vielen neuen Entdeckungen des Jahrhunderts . I n zahlreichen populär-medizinischen Schriften bilden Natur und Vernunft eine Einheit, auf der die Verbreitung der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft unter den Menschen mit dem Ziel der Verbesserung der Volksgesundheit zum Wohle einer bestimmten mitmenschlichen Gemeinschaft basiert. Daher fmden auch die medizinisch­ aufklärerischen Beschreibungen in Befolgung des patriotischen Gedankens genau in dem Rahmen einer Stadt, einer Landschaft oder Herrschaft statt. So schrieb Franz Anton Mai ( 1 742- 1 8 14) in Mannheim für die Bewohner der Pfalz7 , während S . F . Tissot ( 1728-1 797) sein "Avis au peuple sur sa sante "8 an die Menschen in seinem Schweizer Kanton Waat richtete und S . F . Kretschmar ( 1 730- 1 793) sich mit seinen Schriften auf Anhalt-Dessau konzentrierte . 9 Aufklärungs- und Handlungsraum des Arztes waren identisch. Der Leser sollte dadurch zur patria ein anschauliches, nachvollziehbares und gefühlsmäßiges Verhältnis gewinnen und bewahren. Der entstehende Staat war vielfach noch anonym und veränderlich, die Heimat aber hat einen Namen. Um den oikos, die natürliche Umwelt, die patria kennenzulernen, führte bereits die hippokratische Schule die Epidemiologie , die Beobachtung und Beschreibung des Ortes und der Art der Krankheiten ein. 1 0 Nachdem dieses Verfahren im Mittelalter in Verges­ senheit geraten war, erlangte es mit dem Beginn der Aufklärung erneut Bedeutung. Aus den Anfängen der Demographie entwickelte sich die Epidemiologie als eine umfassende Darstellung der Jahresereignisse hinsichtlich der gesundheitlichen Verhältnisse, an­ fänglich auf eine Stadt begrenzt, später ein größeres Territorium betreffend . Wenn man diese wiederbelebte, wie es die der Aufklärung verbundenen Ärzte taten, so gewann man eine Verständigungsgrundlage mit dem Volk . Dabei ging es darum, über ärztliche Sprechstunden hinaus zu wirken und somit die Menschen in die Lage zu versetzen, zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit selbst und ohne ärzt­ liche Hilfe beizutragen. Das Gemeinsame und Nächstliegende, die unmittelbaren Zusammenhänge , die causae praximae des Mißstandes des Körpers und des Miß­ behagens im Kranksein sowie der unmittelbare Nutzen, der greifbare Zweck des Gesundbleibens und -werdens sind dabei im Begriff des "Patriotischen" angesprochen. Aber auch das Verhalten des Arztes ist hier mit einbegriffen. So gibt beispielsweise Mai für seine fünf Bände umfassende Reihe " Stolpertus, ein junger Arzt am Kranken­ bett" an, sie sei herausgegeben �von einem patriotischen Pfälzer" . Er schreibt ein­ leitend dazu : "Ich will, um meinen Lesern deutlich und nützlich zu seyn, einen jungen Arzt (Stolpertus soll er heißen) von der Schaubühne , worauf ihm auf seine schweren

7 Eduard Seidler, Franz Anton Mai und die medizinische Aufklärung in Mannheim, Mannheim 2 1979. 8 Samuel Andre Tissot, Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit, Lausanne 1 1 76 1 , Deutsch von H . C. Hirzel, Zürich ' 1 767. 9 Friedrich Samuel Kreschmar, lrrthümer , Warnungen und Lehren, welche das Publikum in Ansehung der praktischen Arzneykunst betreffen, Würzburg/Bamberg/Fulda 1 770, sowie ders . , Nachrichten von der Versorgung der Armen im Fürstentum Anhalt-Dessau, Dessau 1789. 1° Charles Lichtenthaeler, Geschichte der Medizin, Köln 4 1 987 , S . 1 24 ff.

Patriotismus in der deutschen Medizin des 1 8 . Jahrhunderts

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Unkosten der Doktorshut gegeben worden, an das Krankenbett führen; dort wollen wir offenherzig ohne Arcanen, ohne heimtückische Verschwiegenheit, ohne unnützes Vernünftelen, mit einer hippocratischen Standhaftigkeit, von wahrer Menschenliebe aufgemuntert, ohne gelehrte Zänkereien, ohne jenen den Kranken schädlichen Eigen­ sinn, sitzen bleiben, und so viel es die Kräfte unserer praktischen Einsicht ertragen, jene Schwierigkeiten entwickeln, welche einem minderjährigen Arzte in den ersten Jahren seiner gelehrten Uebungen vorkommen, und entweder ihm oder seinem anver­ trauten Kranken die frohe Hoffnung der Genesung untergraben. " 11 Als eine patriotische Aufgabe des aufgeklärten Arztes wurde allgemein auch der Kampf gegen das verbreitete medizinische Pfuscherturn angesehen. Bereits im Vorwort zur ersten Ausgabe der 1 724- 1 727 in Harnburg erscheinenden ersten Zeitschrift unter dem Titel " Der patriotische Medicus" polemisierte der Herausgeber Johann August Unzer massiv : "Da gibt es Landstreicher, Harnpropheten, Ofenschwärzer und was des Gesindels mehr ist, welche unter dem angemaßten Doktor Titul die Unerfahrenen und Leichtgläubigen glauben machen, als ob sie aus dem Grunde verstünden, was sie die Tage ihres Lebens nie gelernet haben. " 1 2 In den nächsten Jahren folgten noch eine ganze Reihe gleichartiger Artikel, die alle nur wenige medizinische Fachausdrücke enthalten, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu erreichen. 1 3 Die Wahl des " richtigen Arztes " war für alle, die populär-medizinisch tätig sind , von entscheidender Bedeutung . Es war dabei nicht allein eine Frage der Erziehung und Bildung , sondern auch der inneren Einstellung jedes einzelnen Menschen in bezug auf Gesundheit und Krankheit, Arzt und Pfuscher. Es galt, die Bevölkerung vor den teilweise gefährlichen Handlungen der " Charlatane und Pfuscher" zu schützen, ihre Verantwortung für sich selbst aufzubauen. Diese Bemühungen aber waren schwierig , da die ärmere Bevölkerungsmehrheit sehr großes Vertrauen in diese Nichtärzte setzte , die ja aus ihrer vertrauten Umgebung kamen. Daher galt es auch von ärztlicher Seite, die Spezifika der Bodenständigkeit und Heimatnähe zu beachten. Das "gemeine" oder " öffentliche" Wohl ist ein Kernbegriff der politischen Moral im Zeitalter der Aufklärung, die Medizin nimmt darin eine Zentralstellung ein. In der zweiten Jahrhunderthälfte ist sie im allgemeinen Verständnis von einer individuellen Angelegenheit zur gesellschaftlichen Aufgabe geworden. Zwei zentrale Begriffe der Zeit, "Medicinische Policey " und " Staatsarzneykunde " , belegen dies deutlich. Unter beiden ist nicht weniger zu verstehen als die Option einer Gesundheitspflege und sozialen Fürsorge , die als System auch den letzten Untertan noch erreichen soll . Der Medizin wird damit die Rolle einer Staatsdienerin als Wächterin über die allgemeine Gesundheit, als Mehrerin des gemeinen Wohls und als Erzieherin des Volkes zu­ gewiesen. Das erfordert selbstverständlich auch, daß der Herrscher sich um den Gesundheitszustand des Volkskörpers sorgt und staatliche Maßnahmen zu dessen Wiederherstellung und Verbesserung einleitet. Die Ärzte erlangen dabei zwangsläufig einen bedeutenden Einfluß auf die " aufgeklärten Fürsten" . Daraus erklären sich auch

1 1 Franz Anton Mai, Stolpertus , ein junger Arzt am Krankenbette . Von einem patriotischen Pfalzer, Mannheim 1777, S. 10.

12 Johann August Unzer, Der patriotische Medicus, Harnburg 1724 . 1 3 Vgl. Johann Georg Zimmermann, Ruhr unter dem Volk, Hannover 1 765 ; Ernst Gottfried Baldinger,

Artzneien - eine physicalisch-medicinische Monatsschrift zum Unterricht allen denen, welche den Schaden des Quacksalbens nicht kennen, Bd. 1 , Langensalza 1 766.

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II. Volk Jürgen Konert ·

ihre Bemühungen um einen verstärkten Einfluß auf die Bevölkerung, die sich in einer bis dahin nicht gekannten Menge von populär-medizinischen Schriften realisieren . Wenn Ärzte in diesem Kontext den Begriff des "Patriotischen" in ihren Schriften als Zugang zur Gefühls- und Denkwelt, zur Lebensweise und zum Alltag der Bürger suchten, so machten sie sich hier eine ähnlich wirklichkeitsnahe Methode zunutze, wie früher, als sie sich an bestimmte Stände , Handwerker, Landvolk, Gelehrte oder Fürsten wandten.

Heinrich Bosse (Freiburg i. Br.)

Patriotismus und Öffentlichkeit

I Die Liebe zum Vaterland hat viele Facetten. Sie bezieht sich im 1 8 . Jahrhundert sowohl auf die Eigenliebe als auch auf die Liebe zur Menschheit, und zwar auf so vertrackte Weise , daß man gut tut, Nationalstolz und Patriotismus auseinanderzuhalten. National­ stolz ist, nach Johann Georg Zimmermann, das Gefühl von den besonderen Vorzügen, die sich ein Volk im Blick auf seine Vergangenheit oder Gegenwart beimißt, letztlich also die Zusammenfassung der einzelnen Egoismen: " Man könnte den Stolz einer ganzen Nation die Summe der Eigenliebe jeder besondern Person nennen, die dieselbe ausmacht. " 1 Der Gegenbegriff dazu ist der Kosmopolitismus . 2 Patriotismus andererseits , das persönliche Engagement zum allgemeinen Besten, sozialisiert die Eigenliebe des einzelnen. Zimmermann verwendet den Begriff selber selten. Gelegentlich bemerkt er im Rückgriff auf Bolingbrokes " Letter on the Spirit of Patriotism" ( 1 73 61 1 749) , kein Erfmder oder Entdecker könne sich über seine Leistung mehr freuen als derjenige , "der ein wahrer Patriot ist, der alle Kräfte seines Ver­ standes , seine Gedanken, seine Thaten alle den Vortheilen des Vaterlandes aufopfert" 3 • Der Gegenbegriff dazu ist hier der Egoismus. In diesem Sinne unterscheidet Isaak Iselin in den " Philosophischen und Patriotischen Träumen eines Menschenfreundes " ( 1 755) den Patrioten, der seine Kräfte im Dienst anderer verzehrt, vom Antipatrioten, der hemmungslos seinen Eigennutz auslebt. Der Patriotismus entfaltet sich vor allem, aber nicht ausschließlich, in einer zivilen Spielart mit ethischen, sozialen und ökonomischen Komponenten. Er entsteht bei dem aufgeklärten Versuch, eine innerweltliche Moral zu begründen, die die Energien des Menschen, wie er eben ist, nicht asketisch bekämpft, sondern sozial steuert. Dazu taugt der Begriff des Vaterlandes gerade deshalb , weil er doppeldeutig ist. Wo wir heute Gesellschaft und Staat scharf zu unterscheiden gewohnt sind , faßt patria beides in eins : die Menschen, insofern s i e zusammenleben und arbeiten, und die Menschen, insofern

sie regieren oder regiert werden. Daher widerspricht der Patriotismus dem Aufgeklär-

1 J . G . Zimmermann, Von dem Nationalstolze, Zürich 1758, S. 12. Der Nationalhaß fließt aus der gleichen Quelle wie der Nationalstolz (S . 17). 2 Vgl. die Diskussion der Begriffe bei Irmtraut Sahmland, Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum (Studien zur deutschen Literatur, 108), Tübingen 1990, bes. S . 217 ff. 3 Zimmermann (Anm. 1), S . 230. In England bildete der Patriotismus-Begriff das notwendige Gleich­ gewicht zum entstehenden Parteiensystem. Vgl. etwa die Rezension von Bolingbrokes "Letter" und "The ldea of a Patriot King" ( 1 749) in Gottscheds Zeitschrift "Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit" , Bd. I ( 1 75 1 ) , S . 99: " England ist von allen Undern dasjenige, wo am meisten von der patriotischen Gesinnung geredet und geschrieben wird; zugleich aber auch dasjenige, welches von der Parteylichkeit am meisten getrieben und oftmals zerrüttet wird. •

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Heinrich Bosse

ten Absolutismus auch nicht, im Gegenteil, er kooperiert mit ihm. Auf diese Weise bahnt er das moderne Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft an, damit aber auch den Nationalismus des 1 9 . Jahrhunderts . Der Nationalismus, so möchte ich annehmen, setzt ein, wenn Patriotismus und Nationalstolz fusionieren. Das ist schon in den 70er Jahren des 1 8 . Jahrhunderts der Fall. Im Jahr 1 772 erscheint bei Hartknoch in Riga eine Schrift, die weder Verlag noch Autor nennt, ja nicht einmal ihren Gegenstand, lediglich den Adressaten " An das Lief­ und Ehstländische Publikum" . Im Vorwort bestimmt der Autor, August Wilhelm Hupel4 , sein Thema dann näher: "Schriften, die blos das Vaterland zum Gegenstande haben, s ind in England und Frankreich eine tägliche , aber in Liefland eine ungemein seltene Erscheinung . "5 Das Vaterland, die beiden russischen Ostseeprovinzen, ist der Rahmen für konkrete Verhältnisse, die konkret verbessert werden können, sei es durch die Neugründung der Dorpater Universität oder eine Genossenschaftsklasse für den Adel, sei es das Rigaer Gesangbuch oder das Post- und Straßenwesen, Verhütung des Kindermords , die Pockenimpfung und vieles andere mehr. Sofern Hupel von Patriotis­ mus spricht, geht es nicht weniger praktisch zu , nämlich um Spenden oder ehren­ amtliche Tätigkeit, "Patrioten arbeiten ohne Belohnung" - um Gotteslohn, hätte man früher gesagt. Patriotismus ist eben auch weltlich gewordene caritas . 6 Selbst im Bereich der Kirche ersetzt er die christliche Nächstenliebe oder Mildtätigkeit: " Ganz neuerlich hat ein Patriot, sein Name verdiente laut gerühmt zu werden, durch eine milde Zulage , ein kleines Pastorat ohnweit Narwa , zu dem Rang eines einträglichen umgeschaffen" . Der Autor selber, der sich für die Verbesserung dieser und anderer Verhältnisse einsetzt, verhält sich dabei geradezu auffällig unauffällig : " Ich werde mich nicht zum Verbesserer aufwerfen; kurze Bemerkungen, meist über Kleinigkeiten, von andern gesammelte, oder eigne Erfahrungen, mögen wenigstens einen Zeitvertreib bey einem langen Winterabend geben. " Er möchte einen Erfahrungsaustausch und Ver­ änderungen in Gang setzen, aber er tut so, als ginge es nur um Gesprächsstoff. Er möchte zum Nachdenken anregen, aber nur als Anonymus , um den verhaßten " Titel eines Projecteurs " zu vermeiden. Was macht es so heikel, über die Verhältnisse im Vaterland öffentlich nachzudenken? Noch im gleichen Jahr bespricht Herder die Schrift in der " Allgemeinen Deutschen Bibliothek" und läßt dabei das Wort fallen, das Hupel gefürchtet hatte : " Der Inhalt dieser Bogen ist, wie gemeiniglich, wenn man sich ans Publikum wendet: Wünsche und Vorschläge, wir wollen nicht sagen, hie und da Projekte . "7 Herder beanstandet die Tendenz , vor lauter Einzelheiten die Grundlagen des Ganzen zu vergessen, etwa den

4 Zu Hupe! ( 1 737- 1 8 19) vgl. Annelies Grasshoff, Zur Mentalität livländischer Aufklärungsschriftsteller. Der Patriotismus August Wilhelm Hupels, in: H. Ischreyt (Hrsg.), Zentren der Aufklärung II: Königsberg und Riga. Wege der Aufklärung im östlichen Buropa (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 16), Heidel­ berg 199 1 . > A.W. Hupe!, An das Lief- und Ehstländische Publikum, o.O. 1772, Einleitung (unpag. ) ; die weiteren Zitate S. 42, 65 f. , 138, Einleitung. 6 Bezeichnend für das Ineinander von Nächstenliebe und Patriotismus sind die Betrachtungen eines späteren sächsischen Ministers : Thomas von Fritsch, Zufällige Betrachtungen in der Einsamkeit ( 1 763), hrsg. u. eingel. von 1. Schmitt-Sasse, Bem 1984 . 7 Herdcrs Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. V, Berlin 1 89 1 , S. 346-349. Die weiteren Zitate ebenda.

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tiefen Schaden der Leibeigenschaft8 , oder die konservative Einstellung der deutschen Stände9 , die in staatlichen Reformen vor allem die Minderung hergebrachter Freiheit fürchteten. Signifikant jedoch, daß Herder die Mehrsprachigkeit des Landes , das Nebeneinander von Russisch, Deutsch, Lettisch (und Estnisch) als Minus verbucht. 1 0 Dennoch begrüßt er grundsätzlich solch ein Sammelsurium lokaler Verbes­ serungsvorschläge , denn zwischen dem Vaterland, wie eng auch immer, und der menschlichen Gesellschaft laufen keine Grenzen. Hupeis Anregungen sind zwar " enge National : und intereßiren also Deutschland nicht anders , als historisch " , andererseits erstrecken sie sich "fast über alle Zweige der Menschlichen Gesellschaft" . Publikatio­ nen solcher Art, sagt Herder, sollten eigentlich überall erscheinen und eigentlich jedermann erreichen: " Zu solchen Zwecken sollten öffentliche Blätter in jedem Lande , in jeder Provinz seyn, und (vorausgesetzt, daß sie blos so gemeinnützige Landartikel und keine Moralische Predigten oder witzige Tändeleien enthielten) alsdenn in der Handjedwedes seyn dörfen . In einigen z . E . in den Preußischen und andern Staaten ist diese Einrichtung; in den Ländern, wo noch weniger geordnet ist, wo in solchen Blättern noch am meisten zu sagen wäre , sind sie nicht oder schlecht bestellt. " Aus Hupeis Adresse an das Publikum verallgemeinert Herder ein Medium prakti­ scher Aufldärung 1 1 , das in Form der Intelligenzblätter schon real existiert. Bei dieser Gelegenheit beeilt er sich, als Rezensent "das Vollkommenste Deutsche Nationalblatt anzuführen und zu rühmen, das Er kennet" , Mösers " Osnabrückische Intelligenz­ blätter" . Die " Nützlichen Beylagen zum Osnabrückischen Intelligenz-Blate" enthalten weder moralische Predigten, noch witzige Langeweile , sondern " so gründliche, nützliche, und muntre Landesabhandlungen " . Offenbar ist Möser, dem Autor " mit Deutschem Kopf und Herzen" , gelungen, was Hupe) nicht gelang : die lokalen Proble­ me mit den Grundfragen der menschlichen Gesellschaft zu vermitteln. Jedenfalls wünscht Herder das Periodikum wieder in ein Buch zurückzuverwandeln. Jemand möge doch die früheren Aufsätze "von diesem Verf. , dem Einzigen in vielem Betracht seiner Art" , aus den vergriffenen Jahrgängen sammeln und herausgeben. Was auch alsbald geschieht. Am 2. April 1 774 schreibt Möser an Nicolai: " Ich bin willens , einige kurze

8 Dies Thema hatte schon früher ein livländischer Pastor, Johann Georg Eisen von Schwarzenberg, aufgegriffen und auf Anregung Katharinas II. auch publiziert, natürlich anonym, als: Eines livländischen Patrioten Beschreibung der Leibeigenschaft wie solche in Livland über die Bauern eingeführt ist, in: Sanim!ung russischer Geschichte IX (1764), S. 491-527. • So heißt es 1 726 bei der Aufnahme von Sigismund Adam Wolff in die livlindische Ritterschaft: .also

leben wir auch hergegen der zuversichtlichen Hoffnung Se Hochwohlgeboren werde sich als ein nunmehro incorporirter Mitbruder der hiesigen Noblesse und vornehmer Patriot Unseres Vater Landes Wohlfahrt bestmöglich zu befilrdern und die Conservation der Landes Privilegien und Rechten bey allen ereignenden Gelegenheiten zu unterstützen sich nicht entziehen" . Zit. nach Nicolas Freiherr von Wolff, Die Reichs­ freiherren von Wolff in Livland 1670-1920, Dorpat (Tartu) 1936, S. 326 f. 10 Herder (Anm. 7), S. 349: .Drei Sprachen hindern einander in so vielem. " In den Humanitätsbriefen (1793) verlangt Herder ausdrücklich die Einheitssprache: .Ohne eine gemeinschaftliche Landes und Mutter­ sprache, in der alle Stände als Sprossen Eines Baumes erzogen werden, giebt es kein wahres Verständniß der Gemüther, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfmdung, kein vaterländisches Publicum mehr" (Sämtliche Werke, Bd. XVII, S. 288 f.) . Seine Muttersprachen-Ideologie befilrdert nicht nur die Humanität, sondern auch den Nationalismus. 11 Holger Böning, Das Intelligenzblatt als Medium praktischer Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte der gemeinnützig-ökonomischen Presse in Deutschland von 1 768 bis 1780, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 12 ( 1 987), S. 107 ff.

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Aufsätze , welche seit Jahren in den hiesigen und benachbarten Intelligenzblättern abgedruckt sind, insgesammt die politische Moral und die Polizey betreffen und mehrenteils ihren eigenen komischen Ton haben, unter dem Titel von ' Patriotischen Phantasien' sammeln und abdrucken zu lassen, und halte mich verpflichtet, solchen Ihnen vor andern zum Verlag anzubieten. " 12 Und damit gibt uns Möser den entschei­ denden Begriff zur Einordnung von Schriften, die bloß das Vaterland zum Gegenstand haben: sie gehören in das Gebiet der Policey . Wenn ein Autor schreibt, um die Verhält­ nisse zu verbessern, so arbeitet er in demselben Feld, in dem der Staat tätig wird , um Wohlfahrt und Glückseligkeit zu befördern. Patriotismus und Policey kongruieren. Diese Kongruenz brauchte einen Autor nicht zu beunruhigen, der, wie Möser selber, freier Rechtsanwalt, ständische Vertrauensperson, staatlicher Machtträger und Redak­ teur in einer Person war . 1 3 Aber sie konnte den Pastor Hupe!, der sich 1 772 als Schrift­ steller zu profilieren begann, immerhin vorsichtig machen. Und sie ließ einen macht­ losen Journalisten wie Schubart mitunter verzweifeln. 14

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Folgen wir Herders Fingerzeig und nehmen das Intelligenzblatt zum Modell patrioti­ scher Publikationen, so kommen wir unmittelbar zur Policey . " Es ist das Intelligenzwe­ sen eine öffentliche Policeyanstalt, welche von der Anordnung des Landesherrn ab­ hänget. "15 Seit 1 722 wurden in den deutschen Städten und Territorien zahlreiche Intel­ ligenz- oder Anzeigenblätter gegründet, die dem dreifachen Zweck dienten, Verord­ nungen oder gerichtliche Notifikationen bekannt zu machen, Angebote und Nachfragen des regionalen Marktes zu publizieren und schließlich einen Austausch von Kenntnissen

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Justus Möser Briefe, hrsg. von E. Beins/W. Pleister, Veröffentlichungen der Historischen Kommission

für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen, Bd. 2 1 , Hannover 1939, S. 262 . 13 Zur Interaktion seiner Funktionen bemerkt Möser im Brief an Nicolai vom 24. Jan. 1 778: "Sehr viele Stücke in den ' Phantasieen' könnte ich mit den darauf erlassenen Landesordnungen belegen oder durch die darnach gemachten Einrichtungen erläutern; aber dieses würde zu weitläufig geworden seyn. " A.a.O. , S . 311. 14 Vgl. Schubarts Kommentar zur englischen Pressefreiheit, in: Deutsche Chronik, den 22. Dez. 1774: wMein Fürst ist ein Gott! Meine Obrigkeit untrüglich! Welche Policey! Welche menschenfreundliche Anstalten! spricht der Lobredner auf der Kanzel und im Rednerstule - Und unten steht der Patriot, macht zwey Fäuste in seine Tasche, beißt die Zähne zusammen, und Thränen rieslen in seinen Bart . " Doch die Formel ' Patriotismus der Opposition' (Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotis­ mus 1 750- 1 850, Wiesbaden 1 98 1 , S. 32) gibt nicht mehr als ein Abziehbild. Erstens vertrat Schubart auch einen regulären Stammespatriotismus, vgl. Gunter Volz, Schwabens streitbare Musen. Schwäbische Literatur des 1 8 . Jahrhunderts im Wettstreit der deutschen Stämme, Stuttgart 1 986 (Veröffentlichungen der Kommis­ sion für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 107) , bes. S. 15 ff. Und zweitens faßte Schubart den Begriff viel lockerer, wenn er etwa zum Ulmischen Intelligenzblatt nur poetische und moralische Beiträge vorsah: "Die ersten Proben sollen zeigen, ob wir Vaterlandsliebe genug haben, für wenig Geld - Gott gebe! - recht viele Leser zu unterhalten. " Zit. nach Mia Roos, Das Ulmer Intelligenzblatt, Phil. Diss. München 1 94 1 (masch.), S. 93 . 15 J . H . L . Bergius, Policey- und Cameral-Magazin, Bd. V, Frankfurt a.M. 1770, S. 204. Das bedeutet finanziell, daß Unterschüsse staatlich subventioniert, Überschüsse wzum Behuf anderer Policeyanstalten" , z.B. Waisen- oder Arbeitshäuser verwendet werden. Bergius gibt übrigens zu, daß auch private Initiativen vorkamen. Das könnte in einzelnen Städten, vielleicht auch Reichsstädten, der Fall gewesen sein.

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und Erfahrungen i n Gang zu setzen. 1 6 Damit sind sie das Musterbeispiel einer admini­ strativ hergestellten Öffentlichkeit. Die Obrigkeit erzwingt Inserate oder Abonne­ ments17, bisweilen auch Textbeiträge18 oder Lektüre19• Zugleich vermitteln sie aber auf einmalige Weise zwischen den Ständen: zwischen dem Wehrstand oder der Obrigkeit, dem Nährstand oder den wirtschaftlichen Haushalten, dem Lehrstand oder den akade­ misch gebildeten Autoren. Ein Beispiel aus dem "Leipziger Intelligenz-Blatt, in Frag- und Anzeigen, vor Stadt­ und Landwirthe , zum Nutzen des Nahrungs-Standes " aus dem Jahr seiner Gründung , 1 763 : " Da die Natur-Historie einzelner Länder in Deutschland, ein so weites , als zum Theil unbebautes Feld, ja eine Quelle ohne welche [ = ohnegleichen] , zu Entdeckung und Benutzung so mancher verborgener Schätze der ·Länder ist, so erfordert es die Pflicht eines Patrioten vorzüglich auf Ausbreitung dieses Studii, auf eine praktische nutzbare Art die wirksamste Obacht zu nehmen. Man bittet daher zuvörderst die Hrn. Gelehrten, Prediger, Hauswirthe und andere nutzbar, aufmerksame Bewohner unsres Vaterlandes ihre Bemühungen zu Emporhebung der Naturhistorie von Sachsen , mit vereinbarten Eifer zu verdoppeln. Sollte es an Wegen zur Bekanntmachung derer entweder schon vorräthigen oder noch zukünftigen Entdeckung fehlen, so bringt man die Einsendung derselben an den Directorem der Intelligenz-Anstalt hiermit in Vor­ schlag . " 20 Angesprochen werden nicht nur die Akademiker, sondern auch die nicht-akade­ mischen Sachverständigen, um eine wissenschaftliche Disziplin, die Biologie , Chemie , Geologie und anderes umfaßt (historia naturalis), zu bereichern, so daß sie praktischen Nutzen bringt. Mit anderen Worten, sie sollen Rohstoffe suchen, und zwar in Sachsen und nicht woanders . Wenn jener Patriot, der beispielsweise etwas über sächsische Bodenschätze zu sagen hätte, keinen Verleger findet, kann er sich direkt an den Direk­ tor wenden, und das ist der einflußreiche Politiker Peter Freiherr von Hohenthai (1 7261 794) , Vizepräsident des Oberkonsistoriums . Dieser würde die zu publizierenden Aufsätze entweder über einen Verleger " ans Publicum" oder behördenintern auf dem Dienstwege "höchsten Orts " zur Kenntnis bringen. Weit davon entfernt, einen " neben­ staatlichen Raum" aufsuchen zu müssen2 1 , sind die Patrioten vielmehr in einen

16 Vgl . die Übersichten bei Friedrich Huneke, Die "Lippischen lntelligenzblätter" (Lemgo 1767- 1799) . Lektüre und gesellschaftliche Erfahrung. Mit einem Vorwort von Neithard Bulst, Forum Lemgo, Heft 4, Bietefeld 1 989, S . 1 96 ff. 11

So waren

in

Preußen die Juden, Geistliche (zur halben Gebühr), Gastwirte, Weinhändler

und

Bier­

schenken verpflichtet, das Intelligenzblatt zu abonnieren. Vgl . Ernst Consentius, Die Berliner Zeitungen bis zur Regierung Friedrichs des Großen, Berlin 1904, S. 105 . 18 Nach der Gründung des Intelligenzwerks (1727) wurden alle preußischen Universitätsprofessoren 1737 angewiesen, Artikel zu schreiben. Auch Kant unterzog sich dieser Pflicht. Vgl . Botho Rehberg, Geschichte der Königsherger Zeitungen und Zeitschriften, Königsberg 1942, bes. S. 75 ff. Vgl. auch Huneke (Anm. 1 6) , s. 1 5 5 . 1 9 Vgl . die Untersuchung zur Lektürepraxis bei Huneke (Anm. 1 6 ) , S . 1 5 5 . 20 Leipziger Intelligenz-Blatt Nr. 10 vom 20. August 1763 . 21 Nach dem Schema der bisherigen Öffentlichkeitskonzeptionen sieht Joachim Schmitt-Sasse den Patrioten abseits der bestehenden Machtapparate, vgl. J. Schmitt-Sasse, Der Patriot und sein Vaterland. Aufklärer und Reformer im sächsischen Retablissement, in: H.E. Bödeker/U. Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisie­ rung - Politisierung der Aufklärung, Studien zum 1 8 . Jahrhundert, Bd. 8, Harnburg 1 987 , S. 24 1 : " Insofern aber eine Veränderung dieser Zustände um die Jahrhundertmitte noch nicht in Sicht ist, richtet sich die Ener-

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Erfahrungsaustausch eingespannt, der der Verbesserung der Verhältnisse dient und von der staatlichen Macht regelrecht organisiert wird . Die Regel ist einfach, horizontale und vertikale Kommunikation zu kombinieren. Dann laufen die Mitteilungen zur Verbesserung der Verhältnisse nicht nur von einem wirtschaftenden Haushalt zum andern, sondern auch in der Administration hinauf und hinab . Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß der Aufgeklärte Absolutismus daran interessiert war, solch einen Erfahrungsaustausch zu betreiben. Horizontal : Nach einer sächsischen Bauordnung vom 20. Februar 1 742 sollten sich benachbarte Dörfer zu einer größeren Dorfgesellschaft zusammenschließen, " wegen öconomischer Geschäfte und Angelegenheiten gemeinschaftlich Rath pflegen, und sich die Arten des A­ ckerbaues , welche ein jeder am besten und dienlichsten befunden, einander mittheilen"22 • Vertikal : Karl Eugen von Württemberg erließ am 10. August 1758 ein Reskript, um allen Regierenden und Regierten, "Ministris, und Räthen, Beamten, auch übrigen Herr- und Landschaftlichen, Commun- und anderen Bedienten, und Unter­ thanen , wer und in welchem Stück einer hierzu im Stand ist" sagen zu lassen, sie sollten einerseits Mängel und Beschwerden, andererseits Verbesserungsvorschläge " immediate" an ihn einreichen. 23 Um die Wirtschafts- und vor allem Steuerverhältnisse zu verbessern, werden die Untertanen aufgerufen, freiwillig das zu tun, was pflicht­ gemäß den Inhaberu von Herrschaftsfunktionen obliegt24 , nämlich über Mißstände und deren Abhilfe einzukommen. Allerdings ohne zu räsonnieren, ohne Austausch, ohne "Eigennutz, oder Communication mit andern" 2s . Ihre Mitsprache wird gebraucht, um ihre Interessen mit denen des Herrschers zu vermitteln, für "eine das Band der Liebe und Einigkeit zwischen Herrn und Unterthanen unauflöslich befestigende, und die Glückseligkeit derselben samt und sonders zum Grund habende verbesserte Ein­ richtung " . Diese, nämlich die Verbesserung, soll das klassische Problem lösen, wie die Kassen des Staats und die Taschen seiner Bürger gleichzeitig zu füllen wären. Oder, um wieder einen sächsischen Staatsmann sprechen zu lassen, wie "die Wohlfahrt der bedrängten Unterthanen, mit augenscheinlichem Nutzen des Aerarii, durch neue Einrichtungen befördert werden könne"26• Die Lösung, die im 1 8 . Jahrhundert entwik­ kelt wurde - und die erst zu Ende des 20 . Jahrhunderts wirklich fragwürdig geworden ist - heißt Produktivitätssteigerung. Dafür zuständig war damals die Policey . " Heut zu Tage verstehet man durch das Wort Policey , solche innerliche Verfas­ sungen des Staats , wodurch die Wohlfahrt der einzeln Familien mit dem allgemeinen

gie des Patrioten auch nicht auf diese Körperschaften, sondern konzentriert sich im nebenstaatlichen Raum einer neuen Öffentlichkeit, die sich zunächst als Geselligkeit darstellt. " 22 Zit. nach D.G. Schreber, Neue Cameralschriften, Bd. IX (1767), S . 257 . Das Reskript an die .Herren Landshauptleute" ist allerdings in Chr. A. Lünigs .Codex Augnsteus" nicht nachzuweisen, so daß es vielleicht nur Entwurf blieb. 23 Generaireskript Herzog Karl Eugens vom 10. Augnst 1758. Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 39 Bü 46/32. Auf diese Anforderung hin gingen, laut fretmdlicher Mitteilung von Herrn Dr. Cordes (HStAS), ungeflihr 50 Schreiben ein. 24 V gl. das Edikt vom 23 . März .zu Wiederaufhe1fung hiesiger Lande", in: Leipziger Intelligenz-Blatt Nr . 1 vom 1 8 . Juni 1763 . 25 Seinen Kanzleibeamten hatte der Herzog das Räsonnieren kurz zuvor am 10. Juni 1758 ansdrücklieh verboten. Vgl . F . C . v. Mosers Patriotisches Archiv für Deutschland, Bd. IX ( 1 790), S. 371 ff. 26 Fritsch (Anm. 6), als Schlußpunkt seiner 1 . Sammlung, S. 84.

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Besten in Verbindung und Zusammenhang gesetzt wird. "27 Die Policey vermittelt ex officio die Einzelinteressen mit dem allgemeinen Interesse , um die Glückseligkeit aller zu steigern oder zu vermehren. Sie begreift die staatlichen Maßnahmen zur Verbesse­ rung der Verhältnisse unter sich. Auf diese Weise dient sie bevorzugt dem Staatsend­ zweck des Aufgeklärten Absolutismus28, dynamisch nämlich, oder grammatisch gespro­ chen, im Komparativ , wenn dank ihrer "die Kräfte des Staats zu Beförderung der gemeinschaftlichen Glückseligkeit thätiger gemacht werden können" . Ihr kommt daher die Flut der Wünsche und Vorschläge, wir wollen nicht sagen, hie und da Projekte , welche das Vaterland zum Gegenstand haben, im Prinzip wie gerufen. Der Patriot, den außer den Gesetzen nur der Gedanke an die allgemeine Wohlfahrt leitet29 , trifft mit seinen Verbesserungsideen mehr oder weniger in die Verbesserungswünsche der Verwaltung . Er kooperiert mit ihr - verständlich, da Patriot und Amtsinhaber oft genug in einer Person vereint sind - auf mehreren Ebenen. Der Patriot beschafft Herrschafts­ wissen; er gibt feed back; er leistet Ö ffentlichkeitsarbeit . Der Aufruf der Aufklärung, die Wissenschaften gemeinnütziger zu machen, produ­ ziert ein Wissen, das Macht schafft. Wie in jener Ermunterung zum Studium der sächsischen Naturgeschichte geht es eher auf verborgene Schätze als auf verborgene Wahrheiten aus . Solch ein unbekannter Schatz ist auch das Wachstum der Bevölkerung . Policey und Patriotismus laufen daher in einer kontinuierlichen Volkszählung zusam­ men, die mit Geburts- und Sterbelisten dem Geheimnis auf die Spur kommen will : " In Frankreich hat es weder an Königlichen Verordnungen, noch an Privatfleiß wahrer Patrioten gefehlt, welche Todtenlisten gesammelt, und mit nützlichen Beobachtungen begleitet, öffentlich mitgetheilt haben. " 30 Beobachtungen und Reflexionen betten solch ein Wissen ein in mögliche Kausalzusammenhänge und spiegeln damit nicht bloß die Situation, sondern signalisieren gegebenenfalls Handlungsbedarf. Unter der Voraus­ setzung , "daß die Vervielfältigung des Volkes, die Glückseligkeit des allgemeinen Besten ist und bleibet" , klagt beispielsweise ein Policey-Commisarius über die Aus­ wanderung aus dem Oberrheingebiet und noch mehr über das offizielle Desinteressse daran: " Sollte man dann nicht über solche irrige Meinungen endlich aus patriotischem Eifer die Feder ergreifen? Ich halte es für eine schuldige bürgerliche Pflicht, daß ich diesen unwiedersetzlichen Schaden melden muß " 3 1 , und so wirbt er öffentlich für die

27 Bergius (Anm. 15), Bd. VII, Frankfurt a.M. 1773, S . 89; das folgende Zitat S . 90. Vgl . Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rech!S in Deu!Schland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1 600- 1 800, München 1988, bes. S. 366 ff. 28 Vgl . Ulrich Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staa!Slehre des 1 8 . Jahrhunderts (J. G . H . v. Justi), in: Zeitschrift fü r historische Forschung 8 (1981), S . 37 ff. 29 So Jsaak Jselins Definition in seiner Rede über die Liebe des Vaterlandes (1764), in: ders . , Vermischte Schriften, Bd. II, Zürich 1770, S. 175 . F.C. v. Moser hat sie als Motto seinem Buch Von dem Deutschen national-Geist" ( 1 765) vorangestellt. 30 Bemerkungen über die Bevölkerung, in: Der Bürgerfreund, 6. Stück, Bd. I, Straßburg 1776, S. 84. Es versteht sich, daß Sterbelisten eine "Policey-Anstalt" sind, vgl. Mösers Briefe an Nicolai vom März und 19. April 1 782 (Anm. 12), S . 356 u. 358. Daß das Zentralorgan der deu!Schen Aufklärung, die "Berlinische Monatsschrift" , von 1786 bis zum Schluß ( 1796) jedes Vierteljahr die Berliner Populations- und Mortali­ tä!Stabellen veröffentlicht, sagt mehr über das Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit als viele Grundsatz­ erklärungen. 31 M . F . Meergraf, Versuch einer wahren Verbesserung zur Glückseligkeit eines Staates: Ueber die vier wichtigesten Gegenstände, als des Erdenbaues und Landwirthschaft, der Policey, Cameral- und Commercien­ Wissenschaften. Aus se1bstiger Erfahrung und nach der englischen Methode beschrieben, Bamberg 1765 , •

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Verbesserung der Landwirtschaft. Patriotisch ist selbst der publizierte Dissens . Aber sollen wir nun sagen, der Autor übt Kritik? Präziser wäre es wohl , mit Ulrich Im Hof zu formulieren, er habe . im Sinne nonconformer Tätigkeit für den Staat"32 die Feder ergriffen. Gewiß gibt es auch konforme Öffentlichkeitsarbeit für den Staat, einen breiten Weg , auf dem das traditionelle Herrscherlob als Patriotismus auftritt . 33 Verbesserungsvor­ schläge jedoch enthalten ein nonkonformes Moment, wenigstens implizit, als Nein zu den Dingen, wie sie sind . Sie bilden eine strukturelle Allianz mit dem, was die aufge­ klärten Verwaltungen tun. Denn auch deren - mitunter radikale - Reformen organisie­ ren ein Nein zu den Dingen, wie sie sind . Dazu benötigen die Regierungen ein öffentli­ ches Verständnis . Fehlt dies, so fehlt es auch an Patriotismus, erklärt ein Zeitgenosse : .Die Kabinetter der Grossen sind geheime Verhandlungsörter, aus denen nichts dem Bürger bekannt wird , von Stufe zu Stufe gehen die anvertrauten Geheimnisse bis zum Kopisten hinab , und der Bürger weiß von allem, was geschieht, nichts , - er soll glau­ ben, es geschehe alles seinetwegen . Das halbe Land murret über jede neue Einrichtung , und ·w ird seines geschmälerten Vortheils wegen - ein Betrüger. " 34 Der Aufgeklärte Absolutismus braucht eine Ö ffentlichkeitsarbeit, die alle Stände an leistungssteigernde3s Innovationen gewöhnt. Hierzu ein Beispiel . In einer ökonomi­ schen und moralischen Wochenschrift wird bewiesen, daß die wahre Vaterlandsliebe darin besteht, daß man wohl und recht wirtschaftet.36 Diese Pflicht " ist eben so nothwe­ ndig als unsere Selbsterhaltung, und wir sind alle dazu , sowohl als ein jeder zu den seinigen, selbst verbunden, weil die gute Wirthschaft eines jeden, endlich die gute Wirthschaft aller ausmacht" . So werden Einzelinteresse und Allgemeininteresse ele­ mentar miteinander vermittelt, doch damit nicht genug . Ein guter Hausvater soll sich selbst um das kümmern, was jenseits seines ganzen Hauses vorgeht, er soll sich zu einem .muntern Beobachter der Dinge in der Welt und deren Veränderung " entwickeln und sich fortlaufend fortbilden wollen: . Ein Wirth muß sich niemals zu klug dünken , sondern täglich noch seine Erkenntniß zu bereichern trachten. Es heißt auch hierbey : Immer weiter! " Das ist der Imperativ der Produktivitätssteigerung .

Vorläufige Abhandlung (unpag. ) . Des Autors Titel ist .Hochfürstlich-Speyerischen Policey-Commissarü Hotkammer- und Commerzien-Rath" . 32 Ulrich I m Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, Bern/München 1 967 , S . 133. 33 Vgl. Louis de Beausobre, Rede über den Patriotismus, Riga 1762. Die (französische) Akademierede des Berliner Konsistorialrats gehört nach F . C . v. Moser zum untertänigsten Fürstendienst. Sie hätte, schreibt er am 14. Dez . 1764 an Iselin, .getrost ins Türkische übersetzt und dem Achmet Effendi zum Gebrauch der Janitscharen mitgegeben werden können" , in: Patriotisches Archiv für Deutschland, Bd. IV ( 1 786) , S. 359. 34 Johann Melchior Gottlieb Beseke, Vom Patriotismus in der deutschen Gelehrtenrepublik, Dessauf Leipzig 1782, S. 137. Beseke (1746-1 802), Rechtsprofessor und Naturforscher in Mitau, knüpft ausdrücklich an Klopstacks . Deutsche Gelehrtenrepublik" an, um Mißstände des literarischen Lebens, namentlich die Arroganz der Genies und den Eigennutz der Buchhändler zu rügen. Innerhalb des metaphorischen Rahmens vertritt er mit Verve einen republikanischen Patriotismus . 35 Volker Sellin, Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus . Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs, in: Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der moder­ nen Welt, hrsg. von U. Engelhardt u.a., Stuttgart 1 976, S. 1 12. 36 Der Wirth und die Wirthin, eine oekonomische und moralische Wochenschrift, 4 . Stück (28. Aug. 1 756) , S. 53, 63 . Der erste (und einzige?) Jahrgang der Wochenschrift erschien unter dem Titel .Braun­ schweigische Sammlungen von Oekonomischen Sachen" , Braunschweig/Hildesheim 1757. - Vgl. Böning (Anm. 1 1) , s. 1 1 1 .

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Zugleich ist es auch Werbung in eigener Sache . Denn Teilnahme an den Veränderun­ gen in der Welt und die Zirkulation der Kenntnisse vermitteln eben nur die Medien der Ö ffentlichkeit.

III

Eigentlich verrichtet der patriotische Autor einen Ö ffentlichen Dienst im doppelten Sinne . Er dient dem Gemeinwesen, der res publica politica. Und er bedient sich dabei der Printmedien, der Ö ffentlichkeit im üblichen Wortsinn. Auch diese führt einen lateinischen Namen als res publica literaria31 • Nach den Spielregeln der ständischen Gesellschaft ist sie die Domäne des Lehrstands. Bemerkenswerterweise umfaßt sie zwei Institutionen zugleich, das lateinische Bildungswesen und den Buchmarkt. Die res publica politica als Inbegriff der Herrschaftsfunktionen ist die Domäne des Wehr­ stands . Im Patriotismus überschneiden sich nun die beiden Domänen, so daß der patrio­ tische Autor, der sich auf eigene Faust mit Policey-Sachen befaßt, doppelt definiert ist: bezogen auf die res publica literaria als einheimisch, als literatus - bezogen auf die res publica politica entweder als einheimisch oder als außenstehend , als Regierender oder als Regierter, als politicus oder als privatus. Die Ö ffentlichkeit bilden, nach Jürgen Habermas ' einprägsamer, aber irreführender Formulierung, die zum Publikum zusammengetretenen Privatleute. 38 Zumal die Frage, wie diese Privatleute wohl entstanden sein mögen, führt in die Irre . Denn die privati sind nichts für sich Seiendes , sondern ein Positionsbegriff. Es gibt sie dank ihres Gegenteils : politicus ist jemand mit Herrschaftsfunktionen, und privatus ist jemand ohne Herrschaftsfunktionen. Beide Positionen können in der Ö ffentlichkeit eingenom­ men werden, mitunter sogar von einer Person. Friedrich II . schätzte es, mit ihnen zu spielen, und ließ seine namenlosen französischen Werke einem Privatmann zuschrei­ ben, dem Philosophen von SanssoucP9• Wenn, sagen wir, ein Jurist von einem Potenta­ ten beauftragt wird, zu Kriegs- oder Friedensgründungen, zu Hoheitsrechten oder dynastischen Ansprüchen öffentlich Stellung zu nehmen, so handelt er als politicus . Wenn derselbe Autor, ohne autorisiert zu sein, über dieselben Themen schreiben würde, so handelt er als privatus . Das gilt für eine der ersten Schriften, die das Wahr­ zeichen des Patrioten in den Titel setzen. Adam Friedrich Glafey , ein in politischen

37 Zur Selbstverständigung über den Begriff vgl. Herber! Jaumann, Ratio clausa. Die Trennung von Erkenntnis und Kommunikation in gelehrten Abhandlungen zur Res publica literaria um 1 700 und der europäische Kontext, in: Res Publica Literaria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hrsg. von S. Neumeister/C . Wiedemann, Bd. II, Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 14, Wiesbaden 1 987, S . 409 ff. 38 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerli­ chen Gesellschaft, Neuwied 3 1 968, S. 68. 39 Wobei der König erkennbar bleibt, zumal in den "Lettres sur l' amour de Ia patrie" ( 1 779), die den unabhängigen Adel zum Staatsdienst ermuntern, oder in der "Lettre sur I 'Cducation" ( 1 769) , die eine allerhöchste Kritik der preußischen Bildungsverhältnisse abgibt. Dieser Text schafft wiederum den ad­ ministrativen Kontext zu Kants berühmter Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei. Vgl . Heinrich Bosse, Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Fürst an die preußischen Universitäten im Mai 1 770, in: Diskursanalysen 2. Institution Universität, hrsg. von F.A. Kittler u.a. , Opladen 1 990 , S . 3 1 ff.

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Fragen versierter Autor-4°, erörtert 1 7 1 9 das Problem, ob man für den Kurfürsten von Hannover ein neues Erz-Amt im Heiligen Römischen Reich schaffen solle . Durch einschlägige Zitate und gelehrte Argumentation weist er sich als Fachmann für Ö ffent­ liches Recht, als " Publicist" aus . Was ihn jedoch in diesem Fall reden heißt, ist nicht die akademische Routine und nicht eine politische Weisung , sondern das öffentliche Interesse : "Man hat dabey nicht die Absicht, sich in einen auf öffentlichen Reichs-Tag anhängigen Streit zu mischen, oder jemands verständigem mit seinem Urtheil vorzugreiffen, sondern die Sache aus eigenem Triebe und ohne einige hohe Befehle , als ein privatus per modum eruditae quaestionis zu untersuchen, weil doch jederman am allerersten dasjenige zu wissen dürstet, was noch gantz neu ist, und in aller Menschen Munde herum irrt, so sich um teutsche Sachen bekümmern. "41 Die Lizenz, res publica politica und res publica literaria "ohne einige hohe Befehle" ineinander zu blenden, muß legitimiert werden. Dazu dient ein einfacher Affekt, die curiositas. In diesem Feld, das res publica politica und res publica literaria gemeinsam bilden, wird die Verbesserung der Verhältnisse erörtert, muß die Erörterung legitimiert werden. Dazu dient in der Folge dieselbe Maxime , die auch dem staatlichen Handeln zugrundegelegt wird, nämlich die Beförderung der gemeinschaftlichen Glückseligkeit. So daß Autorschaft und Herrschaft in einem Punkt zusammentreffen. Von dem Punkt her kann nun auch gefragt werden: was leistet eigentlich die öffentliche Mitarbeit an der Verbesserung der Verhältnisse? Damit beginnt die patriotische Ö ffentlichkeit sich über sich selber zu verständigen. In einigen Jahrzehnten wird aus Glafeys Neugier an " teutschen Sachen" ein öffentliches Interesse , das institutionalisiert sein will , um als Korrelat des Staates und als Korrektiv seiner Verwaltung zu funktionieren. Ö ffentliche Kritik rechtfertigt ein pommerscher Verwaltungsbeamter in den 80er Jahren damit, daß " kein Staat sich selbst ganz kennen lernt, noch aufkommen kann, wenn niemand vorhanden ist, der über seine Lage ihm die Augen öffnet" . Und Augen zu öffnen, ist die Sache des patriotischen Autors , "der als Patriot behandelt, was zur Kenntniß und Aufnahme seines Vaterlandes gereicht [ . . ] Mängel aufdeckt, Blendwerke stöhrt, Götzen zertrümmert, Kannengiessereyen auskehrt, kurz, nicht heuchelt, sondern offenherzig und unerschrocken prüft, rügt, lobt, tadelt"42 • Die Pflicht, Mißstände zu melden, und die Freiheit, Verbesserungen anzuregen, konsolidieren sich zu der moder­ nen Aufgabe der Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit für diejenigen Themen zu erregen, die politisch zu entscheiden sind . 43 Gegenüber der selbstverständlich politischen Ö ffentlichkeit der Staatsschriften und der " Publicistik" markiert der Patriotismus die nicht-selbstverständliche politische Ö ffentlichkeit. Sie ist auf Herrschaftsverhältnisse bezogen und von Machtverhältnissen durchsetzt. Ihre Autoren und Leser finden sich notwendig in der Differenz von Oben und Unten wieder . Wenn ein Landesherr sich an die Ö ffentlichkeit wendet, läßt er zwar .

40 Glafey ( 1 692-1753) hielt sich in Leipzig und Halle als Dozent auf, bevor er 1726 Hof- und Geheim­ Archivar in Dresden wurde. In seiner Universitätszeit .gebrauchte man ihn sowohl inn- als auch außerhalb Sachsens zur Verfertigung verschiedener Deduktionen" (Hirsching, Historisch-literarisches Handbuch 1795) . 4 1 Eines Unpartheyischen Patriotens Unvorgreiffliche Gedancken Betreffend Die bey dem Reichs-Convent zu Regenspurg hängige Ertz-Staii-Meister Amts-Sache, Da gezeiget wird Daß das hohe Chur-Hauß Sachsen dem neuen Ertz-Stall-Meister Amt zu widersprechen Grund und Ursache habe, Frankfurt/Leipzig, BI. 2v, ..., Johann David von Reichenbach, Patriotische Beyträge zur Kenntniß und Aufnahme des Schwedischen Pommerns, Bd. IV, Greifswald 1787, Vorrede S. XIII, XV. 43 Nildas Luhmann , Öffentliche Meinung, in: Politische Vierteljahresschrift 1 1 ( 1 970), S. 2 ff.

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seine Befehlsgewalt dahingestellt sein, um zu überreden, aber die Rede ergeht dennoch vom Thron herab . Selbst ein Satz wie " Alle gewinnen durch die Vermehrung der Production" ist dann machtgesättigt: "Menschen aller Classen im Staat, Freunde , Landsleute, Patrioten, freye teutsche Männer, ihr, die ihr einen der fruchtbarsten gelindesten Himmelsstriche Teutschlands bewohnet, wo ihr schon vor siebenhundert Jahren von Zähringern, aus deren Blut Ich abstamme, von Generation zu Generation geführt wurdet, vereinigt eure Kräfte mit den Meinigen, der Ich nun gleich 37 Jahre die Gnade von Gott habe, unter seinem Segen, jedoch nicht ohne Leiden, Schmerz und Betrübniß , euch vorzustehen, vereinigt euch mit Mir zum allgemeinen Wohl . Laßt Mich den Trost mit in die Ewigkeit hinnehmen, daß Ich ein an Wohlstand , Sittlichkeit und Tugend wachsendes Volk zurückgelassen habe . Seyd fleißig, seyd tapfer, liebet euer Vaterland. "44 Ist der Markgraf von Baden auf die Mitarbeit seiner Untertanen angewiesen, was den wachsenden Wohlstand betrifft, so ist der Untertan in der Regel auf die Mitarbeit der Behörden angewiesen, was die Verbesserung im Vaterland angeht. Johann Michael Afsprung, ein vagierender Lehrer und Autor, bittet den Magistrat der Reichsstadt Ulm öffentlich um die Erlaubnis , "daß die Stimme eines Patrioten, der für die Sache des Vaterlandes und der Menschheit sprechen will, in Eure heilige Versammlung dringe "45 . Sein Anliegen ist eine Schulreform i n Ulm. Anstatt behördenintern eine Supplik oder ein Memorandum einzureichen, tritt Afsprung öffentlich auf, d . h . als Ratgeber des Rats , und muß dazu seine Stimme verstärken: "Ich bitte aufs dringendste, ja das Vaterland bittet Euch, durch mich, ihm zu Hilfe zu kommen, und durch eine bessere Einrichtung der öffentlichen Erziehung, Seegen übers Land und über Euch zu ver­ breiten! " Stets ruft die Stimme des Vaterlandes , ob sie nun von oben oder von unten ertönt, den Adressaten, der das verwirklicht, was die Stimme des Vaterlandes zu verwirklichen empfiehlt . Es scheint die Logik von Verbesserungsvorschlägen zu sein, daß ihre Ausführung jeweils auf einem anderen Blatt steht. Sie bringen einen Hiatus mit sich, und darin hält sich die Macht. Ein Leipziger Jurist beteuert seine uneigennützige und unpolitische Absicht, "die nichts als unpartheyische aufrichtigkeit zum grunde hat. Ich schreibe vor das wahre interesse der edlen Buchhandlung "46 . Zur Abhilfe gegen den Nachdruck schlägt er eine geschlossene Gesellschaft der Verleger vor, damit sie sich gegenseitig überwachen, nur müßte diese freilich " durch allergnädigste confirmation der hohen Iandesobrigkeit das vollgültigste ansehn" erhalten. Selbst wenn die Obrigkeit nicht aufgerufen wird , zeigt sich die Stelle , wo sie ansetzen soll . Einsicht wäre schön, In­ stitutionalisierung ist besser. Der wahre Lohn für einen Patrioten wäre die Erfahrung , daß seine Worte die Macht hätten, die Welt ein klein wenig zu ändern - aber diese Macht haben die anderen: " Ob solche und andere dergleichen nützliche verfassungen

44 Carl Friedrich, Markgraf zu Baden, Meine Antwort auf die Druiksagungen des Landes nach Aufhebung der Leibeigenschaft und einiger Abgaben, Karlsruhe 1783 (unpag.). 45 Patriotische Vorstellung an seine liebe Obrigkeit, die Nothwendigkeit einer Schulenverbesserung betreffend, von Johann Michael Afsprung, Burger zu Ulm, Amsterdam 1776, S. 5, 68. 46 Eines Aufrichtigen Patrioten Unpartheyische Gedancken über einige Quellen und Wirckungen des Verfalls der ietzigen Buch-Handlung, Schweinfurt 1733, Vorrede, S. 88, 90. J.A. Birnbaums (gest. 1 748) Anregung wurde 1757 mit der Leipziger Societät der Buchhändler und 1 825 mit dem Börsenverein des deut­ schen Buchhandels Wirklichkeit.

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[ . . . ] einmahl eine verbindende rechtskrafft erhalten möchten; bleibt der zeit und dem glücke überlassen. Ich und alle redliche buchhändler hoffen das beste. " Das Publikum setzt sich aus Leuten mit und ohne Herrschaftsfunktionen zusammen, aus Regierenden und Regierten, und die Regierenden sind unter dem Aspekt der Verwirklichung inter­ essanter. Nicht nur für Juristen. Auch Herder vergleicht in seiner Hupei-Rezension die Ohnmacht des denkenden Menschenfreundes , der nur wünschen und indirekt ver­ anlassen kann, mit dem " was der Wink einer einzigen würkenden, Obrigkeitlichen Person für Gutes thun könnte, wenn, wie es so selten ist, Macht sich mit Einsicht, und Einsicht mit Gefühl , mit gutem Herzen immer paaren möchten"47 • Sein Ausruf " Wer soll nun ändern? wer will? " ist aber schon fast keine Frage mehr. Unter dem Aspekt des Patriotismus rücken privati und politici näher zusammen, indem sie beide daran arbeiten, die gemeinsame Glückseligkeit zu befördern. Wieland begrüßt 1758 den Anbruch der schönen Zeit, " in der sich ausser denjenigen, welchen das grosse Geschäft für den Staat zu sorgen, mit der Gewalt die dazu nöthig ist, aufgetragen worden, auch andre Patrioten fanden, die durch Wege, zu denen ein jeder rechtschaffener Mann berechtiget ist, das Wo! des Vaterlandes zu befördern suchten"48 • Kein Zweifel, auch ein Staatsmann kann Patriot sein.49 Gerade die verminderte Distanz zwischen dem patriotischen Staatsmann und dem patriotischen Privatmann verlangt aber erhöhte Behutsamkeit. Denn der Privatmann mischt seine Stimme , wie schon Afsprungs Text zeigte, in Herrschaftsbefugnisse ein, in die politische Beratung hinter verschlosse­ nen Türen. Gewiß , die Türen öffnen sich allmählich für den Rat der Sachverständigen , doch sie knarren erheblich . Johann Heinrich Gottlob von Justi schlägt daher d i e Dop­ pelstrategie vor , einerseits befugte Ratgeber zu organisieren: " man sollte ein ganzes Collegium von redlichen, rechtschaffenen und einsichtsvollen Patrioten niedersetzen, welche alle Vorschläge die zum gemeinschaftlichen Besten gethan würden, prüfeten"50 - andererseits aber das brainstorming der Unbefugten freizugeben: " Die Natur der Republicken machet also ungezweifelt ein jedes Mitgliede des gemeinen Wesens dieses gemeinschaftlichen Bestens theilhaftig : Ein jeder hat also in gewissem Betracht seine Stimme bey diesem gemeinschaftlichen Besten, wenigstens in so weit, wie dieses gemeinschaftliche Beste besser befördert werden könnte . Das gemeinschaftliche Beste ,

47 Herder (Anm. 7), S. 346, 349. 48 Chr . M . Wieland, Gedanken über den patriotischen Traum, von einem Mittel, die veraltete Eidgenoß­ schaft wieder zu verjüngem, in: Wielands gesammelte Schriften (Akademie Ausgabe), Bd. I, 4: Prosaische Jugendwerke, Berlin 1916, S. 206 f. - Wieland publizierte die Besprechung von Franz Urs Balthasars . Patriotischen Träumen eines Eydgenossen" (geschr. 1744, publ. 1758) zusammen mit seinem Züricher Schulplan 1758. Sein Text schließt mit der Aufforderung an die Machthaber, Balthasars Projekt zu realisie­ ren: . So gebet ihm das was es nur von euch erhalten kann , die Würklichkeit" (S. 218). 49 Ein kurländischer Edelmann verlangt dazu nicht nur Uneigennützigkeit, sondern vor allem die Reform­ bereitschaft, .ein altes unbrauchbares Gesetz abzubringen und mit neuen vortheilhafteren Anordnungen zu verwechseln" . Georg Johann von Bolschwing, Der ächte Patriot aus der Sorge für das Wohl eines Staats, Jena 1753, S. 19 f. Sonnenfels läßt den patriotischen Herrscher sagen: .Sey ein Bürger auf dem Throne, und suche deine Glory in dem Wohl deiner Mitbürger! " Joseph von Sonnenfels, Über die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771 (Reprint 1 979), S. 1 16. 50 Der Teutsche Patriot in etlichen Physicalischen Vorschlägen zum gemeinen Besten. Mit einer Vorrede Sr. Hochwohlgebohrn. des Herrn Berg-Raths von Justi begleitet, Berlin 1762, Vorrede, BI. 2v. Der Verfas­ ser, Georg Urban Nathanael Beltz, Arzt in der Mittelmark, schlägt unter anderem einen Weg vor, Erfrorene wiederzubeleben, oder die Feuerspritze zur Bewässerung zu verwenden, aber etwa auch, eine staatliche Ausbildung von Krankenwärter(innen) zu schaffen.

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als der Hauptzweck der bürgerlichen Gesellschaften, ist eine so wichtige Sache , daß man darinn jedermann anhören muß . Hier kommt es gar nicht an auf Stand, Würde , Ansehen oder den Ruhm, den jemand vor sich hat. Oft hat jemand einen Einfall bey seinen nachsinnenden Betrachtungen, der sehr glücklich ist, und worauf diejenigen, die am Ruder des Staats sitzen, oder andere grosse Geister bey den unzäligen Zerstreu­ ungen, denen sie ausgesetzt sind, nicht gefallen wären. Meines Erachtens muß man demnach niemanden spröde begegnen, welcher Vorschläge zum gemeinen Besten thut: Gesetzt, daß sie auch nach einer strengen Prüfung nicht in allem thunlich befunden würden. " Solange es an einer öffentlichen Prüfanstalt für Verbesserungsvorschläge fehlt51 , schließt Justi , muß eben die Ö ffentlichkeit selber sichten und richten. Dies Gedanken­ experiment beleuchtet die widersprüchliche Situation des patriotischen Autors . Er wird ermuntert zu schreiben, aber er kann nicht wissen, ob seine Gedanken willkommen sein werden. Nicht nur die Verwirklichung , schon die Bewertung seiner Anregungen, und damit seiner ganzen Person, steht dahin. Trotz der strukturellen Allianz zwischen Administration und Ö ffentlichkeit riskiert der Autor im Einzelfall , mit Wieland zu reden, " hiebey etwas zu gedenken oder andeuten zu wollen, das der itzigen Verfassung oder Administration des respectabeln Staats von dem die Rede ist, auf einige Weise zu nahe träte "52 • Was der Autor zu fürchten hat, mindestens , ist der Hohn, er sei nur ein Projektemacher. Das fürchtete schon Hupel Y Justi selbst hat als freischaffender Poli­ ceywissenschaftler die Projektemacher selbstverständlich verteidigt, man solle sie konsequent belohnen und auch mit der Verwirklichung ihrer eigenen Vorschläge betrauen. 54 Aber damit droht nur noch üblere Nachrede : persönliches Interesse , Eigen­ nutz, die unpatriotische Sünde überhaupt. Hinzu kommt eine Besonderheit der res publica literaria, ihre Bedeutung für die Stellenvermittlung . Der vormoderne Stellenmarkt der Akademiker funktioniert ohne genormte Zeugnisse vor allem durch persönliche Empfehlungen. Jede Veröffentlichung konnte ihren Autor empfehlen, erst recht, wenn er sie einem künftigen Gönner zusandte oder gar widmete . " Oft hilft eine kleine Broschüre , die eben keine weitumfassende Kenntniß oder tiefe Studien voraussetzt, dem jungen Manne" , so heißt es noch im Jahr 1 800 , "und bahnt ihm den Weg dahin, wohin das unbekannte Verdienst umsonst strebt " . ss Wenn man eine Schrift zur Verbesserung der Verhältnisse publizierte , so mochte sie gut zur Verbesserung der eigenen Lage benutzt werden. Der Redakteur der " Lippischen Intelligenzblätter" demonstriert das Dilemma in ein und demselben Text.

5 1 Hierzu wäre, nach einem Vorschlag von Brigitte Burmeister, das System der betrieblichen Ver" besserungsvorschläge in der ehemaligen DDR zu vergleichen. 52 Wieland (Anm. 48), S. 207. 53 Ein veritabler Projektemacher wäre etwa jener kurländische Pastor Johann Svenson zu nennen, der sich 1776 in der Mitauischen Zeitung öffentlich anerbot, .Mittel wider den Hederich in der Gerste und den Wurm im Roggen nebst anderen vonheilhaften Regeln im Ackerbau gegen eine Belohmmg von fiinf tausend Dukaten zu entdecken" . Zit. nach Friedrich Konrad Gadebusch, Uvländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung, Bd. 111, Riga 1 777 (Reprint 1973), S. 239. 54 J.H.G. von Justi, Gedanken von Projecten und Projectmachem, in: ders., Politische und Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Cameral- und Finanzwesens, Kopenhagenll.eipzig 1 76 1 , S. 256 ff. ss Journal des Luxus und der Moden 15 ( 1 800), zit. nach: Lesewuth, Raubdruck und Bücherluxus. Das Buch in der Goethe-Zeit, Katalog der Ausstellung des Goethe-Museums, DOsseidorf 1977, S. 3 1 4 .

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Einerseits erklärt er, " daß ich nochmals alle Landwirthe , Prediger auf dem Lande , Verwalter, kurz alle , die sich mit Oekonomie beschäfftigen, öffentlich ersuche , wenn sie patriotisch gesinnt sind , und nicht bloß für ihr Privatinteresse sorgen, ihre be­ sondern Kenntnisse und Erfahrungen ihrem Vaterlande mitzuteilen" - andererseits mahnt er speziell die Predigtamtsanwärter, an ihr eigenes Interesse zu denken: " Nur die Herren Kandidaten und alle diejenigen, die im Lippischen befördert zu werden wünschen, ersuch' ich besonders um Beyträge , damit ihre Mitbürger ihre Geschick­ lichkeiten kennen lernen, und desto leichter in Stand gesetzt werden, bey vorkommen­ den Gelegenheiten die würdigsten zu befördern. "56 Die Forderung, sich uneigennützig für die Verbesserung der Verhältnisse einzusetzen, kann man eigentlich nur erfüllen, indem man etwas dafür tut57 , schon nicht mehr, wenn man darüber schreibt . Daher suchen die patriotischen Autoren sich bei der Veröffentlichung wenigstens zu ver­ bergen. Ihre Schriften erscheinen in der Regel anonym . Ein Meisterstück darin hat der Domherr Friedrich Eberhard von Rochow geliefert. Er verfaßte einen "Versuch eines Entwurfs zu einem deutschen Gesetzbuch nach christlichen Grundsätzen zum Behuf einer besseren Rechtspflege" und ließ ihn 1 780 auf seine Kosten drucken. Erhalten ist noch ein Widmungsexemplar sowie der (undatierte) Brief, in dem er den Minister von Zedlitz darüber informiert, um, je nach dessen Urteil , das Buch entweder umsonst zu verteilen oder zu vernichten. Mit seinem Wunsch , " womöglich ganz unbekannt ein patriotisches Scherflein zu der großen und heilsamen Revolution in der Gesetzgebung beizutragen, die uns bevorsteht"58, über­ schreitet er freilich die Verbesserung konkreter Verhältnisse und macht sich an die Verbesserung staatlicher Strukturen. Dadurch ist eine neue Qualität der patriotischen Ö ffentlichkeitsarbeit angezeigt, die Mitsprache bei der Legislation. Sie beginnt vorsich­ tig dank der Preisfrage der Berner Patriotischen Gesellschaft im Frühling 1 762 " Durch welche Mittel können die verdorbnen Sitten eines Volkes wieder hergestellt werden? Was hat ein Gesetzgeber hierzu für einen Weg einzuschlagen? "59 und kulminiert in der staatlich gewünschten öffentlichen Diskussion des Preußischen Allgemeinen Land­ rechts , des " Entwurfs eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten" ( 1 784) . Die nicht-selbstverständliche politische Ö ffentlichkeit ist erstaunlich wand­ lungsfähig . Sie differenziert die Koinzidenz von Herrschaft und Autorschaft im Zeichen der gemeinschaftlichen Glückseligkeit zu dem modernen Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft . Je mehr die Gesellschaft sich artikuliert, desto mehr artikuliert sich der Staat. Patriotische Schriften öffnen die Fenster des " ganzen Hauses " , der wirtschaftenden Haushalte , zum Durchblick auf das Gemeinwohl und auf den Fortschritt. Ihre Leser lernen sich als Teil eines Ganzen verstehen, das seine eigene Verbesserung betreibt. Sie 56 Nachricht an die Leser der Lippischen Intelligenzblätter ( 1 . Jan. 1773), zit. nach Huneke (Anm. 1 6),

s. 188 ff.

57 Vgl. Schreiben eines alten Patrioten, auf die Anfrage eines jungen Patrioten: wie der Bauernstand und die Wirthscbaft der adeligen Güter in Holistein zu verbessern sey, in: D.G. Schreber, Neue Cameralschriften IX ( 1767) , S. 95 f. 58 Friedrich Eberhard von Rochows Sämtliche pädagogische Schriften, hrsg. von F. Jonas/F. Wienecke, Bd. IV, Berlin 1910, S. 288. 59 Vgl . Ulrich Im Hof, Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Struktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft (U. Im Hof/F. de Capitani, Die Helvetische Gesellschaft. Spätauf­ klärung und Vorrevolution in der Schweiz, Bd. 1), Frauenfeld 1983, S. 35 f.

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sollen, heißt es schon 1 724 , " ein mehres möglich befinden, a l s sie bisher, es sey aus Unwissenheit, oder aus Gewohnheit, für möglich gehalten" 60 • Da nun zugleich der Staat, im Namen der Policey , den Fortschritt organisiert, kehren die pädagogischen, medizinischen, ökonomischen und sozialen Themen progressiv als Momente staatlicher Regelungen und Verordnungen wieder. Allerdings lockert sich der Policeybegriff zu Ende des Jahrhunderts ,61 die Vermittlung der Glückseligkeit sowie das Monopol der Wirtschaftslenkung werden dem Staat abgesprochen. Umgekehrt jedoch münden die pädagogischen Diskussionen des pädagogischen Jahrhunderts in die Verstaatlichung des Schulwesens , der Staat erhält das Ausbildungsmonopol zugesprochen. Je mehr die Gesellschaft sich artikuliert, desto mehr thematisiert sie die Regierungs­ form. Die alte Schulbuchweisheit, daß Vaterlandsliebe recht eigentlich in Republiken zu Hause sei, funkelt seit Montesquieus "De l ' esprit des lois" ( 1 748) in einem neuen Licht. Bekanntlich ordnet Montesquieu Handlungsmotivationen und Regierungsformen einander so zu , daß Furcht unter dem Despotismus , Ehre in der Monarchie , politische Tugend aber nur in einer Republik movens für politisches Handeln ist. Die bestehenden Monarchien müßten demnach auf die unablässige Entscheidung für das allgemeine Wohl unter Hintansetzung des Eigenwohls , auf " die Überwindung des eigenen lch"62 und das selbstlose Engagement ihrer Untertanen verzichten. Um diese Konsequenz zu verhüten, entwickelt sich eine reiche intellektuelle Tätigkeit. Die Themenstellung verlangt es , den Staat, so wie er ist, zu befragen, ob er genügend Freiheit oder ersatz­ weise einen anderen Anreiz bietet, sich für ihn zu engagieren. Auch wenn die Antwort, wie fast immer , ja lautet, so können doch Vorbehalte formuliert oder angedeutet werden. Die Zustimmung des Bürgers zu seinem Staat ist etwas geworden , worüber Regierende und Regierte nachzudenken beginnen. Nicht zuletzt der preußische Justiz­ minister Karl Abraham von Zedlitz mit seiner Abhandlung " Ueber den Patriotismus als einen Gegenstand der Erziehung in monarchischen Staaten" ( 1 777) . Schließlich: Je mehr die Gesellschaft sich artikuliert, desto bessere Wege findet sie , sich mit dem Staat zu identifizieren. I n dieser Bewegung wird der Patriotismus zum Nationalismus63 , d . h . zu dem politischen Prinzip , aus dem die modernen Nationen hervorgegangen sind und hervorgehen.

IV Der Patriotismus des 1 8 . Jahrhunderts ist eigentümlich unbegrenzt. Als Erscheinungs­ form der Menschenliebe (l 'humanite concentree entre les concitoyens)64 schwankt er zwischen Himmel und Erde, zwischen der Heimat und der ganzen Welt. Wie die Grade 60

Der Patriot, nach der Originalausgabe, Harnburg 1724-1726, hrsg. von W. Martens, Bd. I, Berlin 1969,

s. 29.

61 Vgl. Diethelm Klippe!, Der Einfluß der Physiokraten auf die Entwicklung der liberalen politischen Theorie in Deutschland, in: Der Staat 23 ( 1 984), S. 205 ff. 62 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (Buch IV, Kap. 5), hrsg. von K. Weigand, Stuttgart 1965, S. 136. 63 Emest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983 (deutsche Übersetzung: Nationalismus und Modeme, Berlin 1 99 1 ) . 64 Jean-Jacques Rousseau, Politische Ökonomie. Discours sur l ' Economie politique, hrsg. von H . P . Schneider/B. Schneider-Pachaly, Frankfurt a.M 1 977, S . 5 4 . Der Text erschien zuerst i n B d . V der "Encyclopedie" ( 1 755) .

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des Wohlwollens , nach Thomas Abbt, von der allgemeinen Menschenliebe herab sich verdichten auf die Liebe der Nation, der Mitbürger, der Miteinwohner, der Bekannten, Freunde und Verwandten65 , so kann man konzentrische Ringe des Patriotismus bilden: Heimatpatriotismus, Stammespatriotismus, territorialer Patriotismus, Reichspatriotis­ mus , Kosmopolitismus . Aber es gilt, nicht die Extension des Begriffs festzulegen, sondern sie gerade offen zu halten im Einvernehmen mit dem damaligen Sprach­ gebrauch. Man kann zum Beispiel ein doppeltes Vaterland haben66, und vor allem, man kann sein Vaterland wählen67, wenn man da bleibt, wo man Arbeit gefunden hat. Hupel selber war 1 759, fünfzehn Jahre vor seiner nur das Vaterland betreffenden Schrift, von Thüringen nach Livland ausgewandert. Er konnte das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehmen. Zu diesem übertragbaren Vaterland paßt genau jene Unbegrenztheit der Ö ffentlichkeit, die alle möglichen Leser umfaßt. Der Verfasser des " Patriotischen Medicu s " ( 1 724) schreibt zwar "zu der Beförderung des Wolergehens meiner lieben Vaters-Stadt" , doch notwendigerweise auch darüber hinaus , wenn er " zuförderst euch I Wehrteste Mit-Bürger und Lands-Leute / dann aber auch anderweit allen denen I die meine Papiere zu lesen sich entschliessen wollen I mit einem wolgemeinten Unterricht" zu dienen vorhat . 68 Selbst wenn die patriotische Ö ffentlichkeitsarbeit noch so "enge National " ist, umfaßt sie die menschliche Gesellschaft. Dank seiner Elastizität kann der Begriff des Patriotismus immer wieder auf eine bestimmte Stadt oder einen bestimmten Staat fixiert werden und sich immer wieder davon lösen. Wie kommt es dann, daß dieser Begriff seine Elastizität verliert : daß er sich nicht mehr zur Menschheit hin öffnen kann, sondern eine geschlossene Gesell­ schaft begreift, die geschlossen nach dem ihr entsprechenden Staat verlangt? Um diese Frage zu beantworten, werde ich mich nicht auf einen irrationalen Sündenfall berufen, sondern auf die Logik sozialer Kohäsion. 1 709 veröffentlichte Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, seine Abhandlung " Sensus Communis, An Essay on the Freedom of Wit and Humour in A Letter to a Friend" . Gegen die These von der Egozentrik des natürlichen Menschen behauptet er darin einen natürlich auf Selbsthilfe fundierten menschlichen Hang zur Geselligkeit. Dieser Sozialtrieb äußert sich individuell als Freundschaft und kollektiv als Patriotis­ mus , in " Privatfreundschafft und Eifer für das gemeine Beste und unser Vaterland " 69 • Die Theorie des sensus communis entwickelt also den bislang unerhörten Gedanken, daß sich die Menschen durch das Gefühl sozialisieren, nicht durch einen Vertrag (wie in der abendländischen Theorie) , nicht durch die Familie oder andere Institutionen (wie

65 Thomas Abbt, Vom Verdienste, Berlin 1768 (Thomas Abbts vermischte Werke, Bd. I) , S . 159 f. Im Hinblick auf das Reich und die Territorien Friedrich Carl von Maser, Beherzigungen, als der zweite Theil des Herrn und Dieners, Frankfurt a.M 176 1 , S. 162; im Hinblick auf die Eidgenossenschaft wid ihre Kantone: Johann Georg Stokar von Neufam, Anrede des Präsidenten, in: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach im Jahr 1777, S. 16 f. (Hinweis von Ulrich Im Hof) 67 Johann Elias Schlegel, Ueber die Liebe des Vaterlandes (1744) , in: ders . , Werke Bd. IV, hrsg. von J.H. Schlegel, Kopenhagen!Leipzig 1766, S. 1 1 8 f; Thomas Abbt, vom Tode fürs Vaterland (1761), Thomas Abbts vermischte Werke, Bd. II, Berlin 1790, S. 1 7 . lsaak Iselin, Rede über die Liebe des Vaterlandes (Anm. 29), S. 169, definiert den Patrioten im Hinblick auf das Land , .welches ihm der Himmel zu seinem Aufenthalte bestimmt hat " , jedeufalls nicht durch die Geburt. 68 Der Patriotische Medicus, Nr. 1 (6. Nov. 1724), Harnburg 1725 , unpag. 69 Zit. nach der Übersetzung in: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke Bd. IV, hrsg. von J. Nadler, Wien 1950, S. 1 7 1 , 173, 1 76. 66

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in der abendländischen Praxis) , sondern kraft Sympathie . Sie allein begründet Gesellig­ keit, Gesellschaft und Staat. Und natürlich den Patriotismus : " Ein patriotischer Geist kann bloß aus einem gesellschaftlichen Gefühl oder Empfindung unsers Antheils an das menschliche Geschlecht entstehn. " Die elementare Soziabilität ist flexibel , sie kann abgeschwächt oder auch gesteigert werden. Maximal wird ihr verbindlicher Zauber (confederating charm) durch die aggressive Abgrenzung nach außen - im Krieg : " Denn die edelsten Gemüther haben den grösten Trieb sich zu vereinigen. Sie mögen sich am liebsten in einen Verständnis mit andem bewegen und fühlen, daß ich so sage , auf die stärkste Art die Gewalt des gesellschafftliehen Zauber und Reitzes . Man kann sich schwerlich vorstellen, daß der Krieg , der die wildeste Sache von der Welt zu seyn scheint, die Neigung der grösten Helden Gemüther seyn soll . Im Kriege wird aber der Knoten der Gesellschafft fester zusammen gezogen. Im Kriege wird eine gegenseitige Hilfe am meisten geleistet, ist die Gefahr von beiden seiten gleich gros und die all­ gemeine Neigung wird am meisten ausgeübt und angewendet. Denn Helden Muth und Menschenliebe sind mehrentheils ein Ding . Doch durch die geringste Verrückung dieser Leidenschaft wird ein Menschenfreund ein Straßenräuber: ein Held und Befreyer ein Unterdrücker und Verwüster. " Shaftesburys Einfluß ist nicht zu übersehen. Seine Parallele von Freundschaft und Patriotismus findet sich bei Zimmermann wieder/0 das Kennwort " Enthusiasmus" wirkt, über Thomas Abbt hinaus , weit ins 18. Jahrhundert hinein.71 Die Amalgamie­ rung von Heldenmuth (heroism) und Menschenliebe (philanthropy) inspiriert den militärischen Patriotismus , wie ihn Klopstock72 , Gleim73 , Abbt'4 und andere vertreten. Seit Shaftesbury ist politische Tugend primär ein Gefühl , und so ist eigentlich zu erwarten, daß sie mit dem großen Strom der Empfindsamkeit transportiert wird . 75 Zumindest Friedrich Carl von Moser, der im Gegensatz zu Abbt einen ausgesprochen pazifistischen Patriotismus fordert, hält fest: " Ein wahrer Patriot hat über dieses ein gegen die Wohlfarth sowohl als das Elend der Menschen weiches und Empfindung­ reiches Herz " . 16 Wenn aber der Patriot normalerweise , per definitionem, praktiziert, was für Shaftesbury die Ausnahmesituation des Kampfes war, so wird sich sein Herz verhärten müssen.

70 Zimmermann (Anm. 1), S . 216: Was die Freundschaft im besonderen ist, das ist die Liebe des Vaterlandes im allgemeinen; Wer sich der Freundschaft entschlagen will, der kann sich auch der Liebe zum Vaterland entschlagen. " 71 Vgl. Hans-Wolf Jäger, Politische Kategorien in Poetik und Rhetorik der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts (Texte Metzler, 1 0 ) , Stuttgart 1970, S . 4 2 ff. n Vgl . Heinrich Bosse, Klopstoclcs .Kriegslied" ( 1 749) und was daraus folgte, in: DiskurSanalysen 3 . Deutschlandpläne, hrsg. v. F . A . Kittler u.a. , Opladen 1 993 . 13 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Mit Melodien, Berlin 1758. 1• Der Tod fürs Vaterland ist höchste Menschenliebe, vgl. Abbt (Anm. 67) , S . 235: .Es ist schwer, ein solches Verdienst zu übertreffen; Denn seine Mitbürger bis zum Tode lieben, und für sie bluten, diß ist das größte Wohlwollen! Es ist ein rascher Uebergang vom Soldaten auf den Heiligen [ . . . ] " . 1 5 Gerhard Sauder, Empfindsamkeit. Bd. 1 : Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, nennt zwar den Schlüsselbegriff "sympathetische Solidarität" (S. 206), gibt aber keine Hinweise. 76 Moser (Anm. 66), S. 166. Moser beklagt z.B. den Militärdienst von Fürstensöhnen, bei dem so viele "eine Beute des sogenannten Todes fürs Vaterland oder vielmehr Opfer des herrschenden Vorortheils geworden sind in: Patriotisches Archiv für Deutschland, XII ( 1790), S. 461 . •

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Jean-Jacques Rousseau ist der erste , der die Verbindung von Patriotismus und Menschenliebe trennt. Der Mensch im status naturalis ist gut, aber allein; der Mensch im status civilis kann auch gut sein, aber nur zu seinesgleichen: "Jede partielle Gesell­ schaft, wenn sie eng verbunden und vereinigt ist, entfernt sich von der großen. Jeder Patriot ist hart gegen die Fremden; sie sind nur Menschen; sie sind in seinen Augen ein Nichts . Dies ist ein unvermeidliches aber geringes Uebel . Die Hauptsache ist, gut für die zu seyn, mit denen man lebt. In Absicht der Auswärtigen war der Spartaner ehr­ süchtig , geizig , ungerecht: allein Uneigennützigkeit, Billigkeit, Eintracht herrschten innerhalb seiner Mauern. Traut nicht Cosmopoliten, die weithin in ihren Büchern Pflichten suchen, die sie in ihrer Nähe nicht erfüllen mögen. "77 Das politisch-gesell­ schaftliche Wir entfremdet sich (s 'aliene) dem Ganzen der Menschheit - dies Aper�;u aus dem " Emile" (1 762) zeigt die rauhe Außenseite geschlossener Gesellschaften ohne viel Bedauern. Die Menschen gesellen sich nicht dank ihrer Natur in diversen Forma­ tionen zueinander, sondern sie integrieren sich dank eines politischen Willens zu einem jeweils eigenen Ganzen. Die volonte generale schafft ein Binnenklima vollendeter Gerechtigkeit, aber die Außenwerte gehen sie nichts an. 78 Es ist der soziale Impuls selber, der die Mauer zwischen seinesgleichen und denen da draußen baut . Und inso­ fern das Christentum für eine Menschlichkeit spricht, der alle Menschen Brüder sind , widerspricht e s diametral dem brüderlichen esprit social der Republikaner und Vaterlandsverteidiger, die in all denen, die nicht dazugehören, nur Menschen sehen, also - wie wir gelesen haben - nichts .79 Diesen exklusiven Patriotismus hat Rousseau einerseits in die Antike gespiegelt, andererseits mit den " Considerations sur le gouver­ nement de Pologne" (1771172 , 1 782) nach vorne geträumt. Er programmiert darin eine Nation. Das Prinzip der exklusiven Integration läßt sich übertragen, auf andere Gebiete als das der politischen Theorie und andere Integrale als den Gemeinwillen. Eines davon ist der Nationalstolz mit seinem IdentifikationspotentiaL Zimmermann hatte dessen Für und Wider erörtert, bei Republiken auch Nationalstolz und Vaterlandsliebe gleichzuset­ zen gestattet80, doch was ihn interessierte, das war eine moderne Argumentation für ein

71 Emil oder ilber die Erziehung. Von J.J. Rousseau, Bilrger zu Genf, aus dem Französischen von C . F . Cramer, Braunschweig 1789 (Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, 12), S . 4852. Die philanthropinisc Herausgeber nehmen natilrlich dazu Stellung: Campe und Resewitz mit bedauern­ der Zustimmung, Ehlers mit Einspruch ("Falsch, ganz falsch! ") und Villaurne mit der Empfehlung, das Phantom der Vaterlandsliebe zugunsren reeller Menschenliebe loszulassen. 71 Rousseau (Anm. 64), S. 32. Vgl. Jacques Godechot, Nation, patrie, nationalisme et patriotisme en France au XVIII• siecle, in: Annales Historiques de Ia R�volution Fran�aise 43 ( 197 1 ) , S. 487 f. 79 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hrsg. von H . Brockard, Stuttgart 1 977, S. 147, ilbe r das Christentum: "Ich kenne nichts, was dem gesellschaftlichen Geist mehr entgegenstünde" (Buch IV. Kap. 8). Den besten Kommentar dazu gibt Rousseau selber in seinem Brief an Leonhard Usteri vom 30. April 1763 : "L'esprit patriotique est un esprit exclusif qui nous fait regarder comme �tranger, et presque comme ennemi tout autre que nos concitoyens. Tel �toit l 'esprit de Sparte et de Rome. L' esprit du Christianisme au contraire nous fait regarder tous les hommes indiff�rement comme nos treres comme Ies enfans de Dieu. La charit� Chretienne ne permet pas de faire une diff�rence odieuse entre Je compatriote et l '�tranger, eile n'est bonne a faire ni des Republicains ni des guerriers. Correspondance Complete, Bd. XVI, Paris 1 972 (Lettre 2662), S. 127 f. 80 Zimmermann (Anm. 1), S. 210. An Iselin schreibt Zimmermann am 24. Mai 1761 überdeutlich: "Ich bin, Gott sei gedankt, kein Patriot. Zit. nach Rudolf !scher, Johann Georg Zimmermanns Leben und Werke, Phil. Diss. Bem 1 892, S. 79. •



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altes Spiel, den Rangvergleich der Nationen. Sobald aber soziale Energien mobilisiert werden sollen durch eine soziale Innen-Außen-Differenz, zementiert der Nationalstolz Rousseaus spartanische Mauer. In dieser Funktion verändert er den Patriotismus . Die Ö ffentlichkeitsarbeit zur Verbesserung der Verhältnisse geht zwar als cantus firmus durch das ganze 1 8 . Jahrhundert bis in den Beginn des 1 9 . hinein. Aber einige Autoren sprachen sich dafür aus , den persönlichen Einsatz für das allgemeine Wohl durch exklusive Integration zu steigern. Im Hinblick auf den Staat tat es Joseph von Sonnen­ fels, im Hinblick auf den Krieg Johann Valentin Embser, im Hinblick auf die Ö ffent­ lichkeit Friedrich Gottlieb Klopstock. Als Policeywissenschaftler setzt Sonnenfels in seiner Schrift " Über die Liebe des Vaterlandes " (1771) bei der Glückseligkeit an: .Sobald einmal der Begriff der Glückse­ ligkeit an dasjenige befestigt ist, was ein Volk besitzt, und dem andern mangelt, so findet sich der Gedanken von selbst herbey : keine Glückseligkeit außer deinem Vater­ lande" . 8 1 Die Differenz gegenüber den anderen da draußen kann vorausgesetzt werden, · da es kaum möglich ist, . einen hohen Grad von Vaterlandsliebe ohne Beymischung einer Verachtung alles Auswärtigen zu begreifen" , sie kann und sollte aber auch propa­ giert werden: .Man muß für sein Vaterland so partheyisch seyn, es physisch und poli­ tisch für das Beste zu halten, das uns zu Theil werden konnte " . Physis und Polis , Heimat und Staat fallen zusammen, wenn der Bürger sein Eigeninteresse mit dem allgemeinen Interesse identifiziert, sei es bei realen, d.h. wirtschaftlichen Vorteilen, sei es bei . eingebildeten" , wie dem Stolz auf seine Regenten, Künstler und Gelehrten. Hier kommt der Nationalstolz ins Spiel, den Sonnenfels wie schon Zimmermann als Form der Eigenliebe begreift. Sonnenfels ' Eigenliebe bildet nun aber den soliden Rahmen, aus dem die Menschenliebe als entbehrlich herausfallen kann: . Die Va­ terlandsliebe offenbart sich durch eine thätige Anhänglichkeit für das Vaterland , die aus der Ueberzeugung von dem mit dem Wohl desselben unabsönderlich, und aus­ schlüssend verknüpften eignen Wohl entspringt. In der That also ist die Vaterlandsliebe eine Erscheinung der Eigenliebe. " 82 Das Vaterland als Interessenfusion ist das Super­ Ego der Einzelegoismen. Zur Integration wird erfordert, daß die Bevölkerung einiger­ maßen homogen ist - Privilegien und andere Unterschiede wirken störend - , vor allem aber Ö ffentlichkeitsarbeit, denn .es ist möglich, die Eigenliebe selbst bey dem Haufen zu erregen. Man kann ein ganzes Volk zu Patrioten machen" . Sagen wir, durch Schu­ lung . Was für Sonnenfels die bewußte Interessenharmonie, das ist für Embser der kriegeri­ sche Enthusiasmus . Mit seiner Abhandlung gegen die Entwürfe zum ewigen Frieden ( 1 779) kämpft der Zweibrückener Gymnasialprofessor83 für die Nationalisierung des 81 Sonnenf els (Anm. 49), S. 35. Die weiteren Zitate S. 23, 11 f. , 14. Grete Klingenstein, Sonnenfels als Patriot, in: Judentum im Zeitalter der Aufldllrung , Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, IV, Wolfenbüttel 1977, S. 225 , sieht richtig, daß hier Rousseaus volonte generale fehlt, aber sie sieht nicht, daß das Integral in die Eigenliebe gesetzt wird. 82 Ebd. , S. 1 3 . Diese Position stieß natürlich auf Widerspruch. Im Namen der Menschenliebe und unter der Überschrift .Ich will kein Patriote seyn! " (Wien 1771) protestierte Johann Adam von Haslinger gegen das Laster des (nationalen) Stolzes. 83 Außer einigen Textausgaben filr die .Biblioteca Bipontina" hat Embser ( 1 749-1 783) sonst kaum Lebensspuren hinterlassen. Werner Krauss hat zuerst in seinem Aufsatz zur Konstellation der deutschen Aufklllrung ( 1 961) auf ihn hingewiesen, vgl. W. Krauss, Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze, Neuwied 1965 , S. 1 7 1 f. Allerdings erscheint es mir sinnlos, -

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Krieges . " Der Geist der Unruhe, der Aufklärung und Thätigkeit" 84 soll sich nicht zerstreuen, sondern bündeln zum " Nationalgeist" , und dieser ist eine buchstäblich explosive Kraft, "Feuer vom Himmel, Blitz, der mit nichts zu löschen ist" . Der Krieg , oder wenigstens der beständige Wechsel von Krieg und Frieden, stärkt diese Kraft : "Kriegerischer Geist ist Stütze des Patriotismus , und er ist selbst schon Patriotismus . " Der Frieden dagegen demoralisiert die Menschen und ihre Bereitschaft, sich zum allgemeinen Besten einzusetzen: "Im langwierigen Frieden nagt der Eigennutz an der Nation, und der Krieg allein befreyet sie von diesem Ungeheuer . " So zeugt der Krieg alle sozialen Tugenden. Aggressive Abgrenzung gegen die anderen ist nicht eine paradoxe Rahmenbedingung der Menschenliebe (Shaftesbury) , nicht ein unver­ meidliches, aber geringes Übel (Rousseau) , sondern die Ur-Tugend: " Ewiger Friede kann nicht Stifter der Tugend seyn, weil er nicht Schöpfer der Thätigkeit und Auf­ klärung ist [ . . . ] . Erste Tugend eines neuen Volkes ist Tapferkeit, so wie in vielen alten, und allen wilden Sprachen beide mit einem Namen bezeichnet werden. Liebe des Vaterlandes , Verachtung der Ausländer, Nationalstolz, Tapferkeit, Patriotismus - die ersten Tugenden der Nation, die Saamenkörner aller Tugenden, die auf dem Erdboden möglich sind, und die ihren Ursprung und ihre Nahrung im Kriegsboden finden. "85 Der Kriegsphilosoph spricht sich namens der Aufklärung gegen die Aufklärung aus . In der patriotischen Ö ffentlichkeitsarbeit, in all den " Projekten zur Verbesserung und Um­ schmelzung aller bisherigen Anstalten" 86 sieht er nichts als krankhafte Hektik, " eine durch Phantasie und Weichlichkeit verblendete, delirirende Vernunft! " Mit Klopstock ist das Thema " Patriotismus und Öffentlichkeit" zu Ende. Er schreibt ein Programm zur Nationalisierung der Ö ffentlichkeit. Was immer veröffentlicht wird , muß auf die Nation bezogen sein, was nicht auf die Nation bezogen ist, kann geduldet werden, wenn es gleichgültig ist, oder es ist auszuschließen. So lauten die Gesetze in der " Deutschen Gelehrtenrepublik" ( 1 774) : Wer lateinisch schreibt, wird des Landes verwiesen; wer in einer modernen Fremdsprache schreibt, wird des Landes verwiesen; wer ausländische Worte gebraucht, wird zumindest verachtetY Die Muttersprache Klopstock sagt, die Landessprache - dient dazu , das Gemeinwesen nach außen ab­ zudichten und nach innen zu homogenisieren. Die ganze Apparatur der Landtage , Beratungen und Beschlüsse zeigt eine Ö ffentlichkeit, die sich selber immer deutscher zu machen strebt. Man verbannt die Mitglieder der Berliner und der Mannheimer Akademie der Wissenschaften; zu den Initiatoren dieser Vertreibung treten Claqueure , " ihnen zu ihrer männlichen und patriotischen That Glük zu wünschen" . Mit dem

Embsers Bellizismus als Ausdruck der antifeudalen Opposition verstehen zu wollen. Er vergröbert wohl eher Anstöße der schottischen Aufklärung (z.B. Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society [ 1769] 1.4), die Krieg und Militärdienst in das humanum zu integrieren suchte. Vgl. John Robertson, The Scottish Enlightment and the Militia lssue, Edingburgh 1985 . 84 Johann Valentin Embser, Die Abgötterei unsers philosophischen Jahrhunderts . Erster Abgott. Ewiger Friede, Mannheim 1779, S. 1 16. Die weiteren Zitate S . 63 , 1 86, 1 88 . 85 Ebd. , S . 162 f . Praktische Konsequenzen i m Hinblick auf die Wehrpflicht zieht Embser nicht, obwohl er beteuert "Eine Armee, die nicht von Nationalstolz begeistert ist, wird schwerlich grose Thaten verrichten" (S . 9 1 ) und bedauert " Unsere Armeen bestehen aus Miethlingen und Sklaven" (S. 190). 86 Ebd . , S . 198 f. 87 Friedrich Gottlieb Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik, Bd. 1 : Text, hrsg. von R.M. Hurlebusch, F . G . Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Werke VII , 1 , Berlin!New York 1 975, s. 24 f. , 2 1 1 .

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internationalen Charakter der res publica literaria88 verschwindet das Latein, die allen gemeinsame Fremdsprache . Argumentierte noch 1 763 ein Philosoph, man müsse nicht unbedingt Latein schreiben, weil "es der patriotischen Gesinnung gemäß ist, wenn ein wahrer Gelehrter nützliche Wahrheiten, auf eine gelehrte Art, in seiner Muttersprache vorträgt"89, so stehen bei Klopstock die latinisierenden Altphilologen als Barbaren da. Sie tragen zur deutschen Kultur nichts bei und werden somit für gleichgültig erklärt, d . h . als Zunft aufgehoben. "Diese Aufhebung der Scholiastenzunft ist ein kühner Schritt. Die Gelehrtenrepubliken Europa ' s machen, wie ihr wisset, Eine grosse lateini­ sche Republik aus . Ihr sondert euch, und tretet aus diesem vieljährigen Bunde, und wagt es mit eurer Sprache , wie weit sie sich, und mit ihr die darinn vorgetragnen Wissenschaften ausbreiten, oder nicht ausbreiten werden. Wir wissen, antwortete ich, daß wir uns sondern, und was wir wagen. Unsre Sprache hat Kraft und Schönheit; und Inhalt, denk ich, geben wir ihr in unsern Schriften doch auch bisweilen. Was ihre Ausbreitung anbetrifft, so sagen unsre Aldermänner, daß wir keinen grössern, und beynah keinen andern Stolz haben müssen, als den, für unsre Nation zu arbeiten. " 90 Das kulturelle Wir sondert sich, entfremdet sich dem Ganzen der menschlichen Kultur . Dabei spukt der Nationalstolz nicht "eingebildet" durch Köpfe oder Seelen, sondern beruht fast natürlich im Medium der Öffentlichkeit, der Sprache. Sie integriert exklusiv als wäre das selbstverständlich. Damit hat sich die patriotische Ö ffentlichkeitsarbeit in zweifacher Hinsicht ver­ ändert. Es geht nicht mehr um die Verbesserung konkreter Verhältnisse im lockeren Rahmen eines Vaterlandes - es geht jetzt um die nationale Aufgabe im Kontinuum einer geschlossenen Kultur. Die Aufgabe selbst besteht darin, Leistungen hervorzubringen, die den Wert dieser Kultur steigern. Aus dem Rangvergleich der Nationen ist eine Kon­ kurrenz geworden, die Klopstock in die Metaphorik des militärischen Imperialismus91 kleidet. Zum anderen geht es nicht mehr um die punktuellen oder strukturellen Berüh­ rungen von Autorschaft und Herrschaft, um Personalunion und Kongruenzen - es geht jetzt um Kulturpolitik. Die homogenisierende Kultursphäre ist dank ihrer Inklusion/­ Exklusion ein Machtgebilde eigener Art und sucht Halt an Herrschaftsstrukturen. Die Stimme des Vaterlandes , ein Dichter, sagt niemand geringerem als dem Kaiser, was er zu tun hat . Nach Klopstocks Idee sollten deutsche kulturelle Leistungen vom Kaiser des , ethnisch gemischten, Heiligen Römischen Reiches finanziell und persönlich belohnt werden , umgekehrt aber auch den Kaiserhof ideell bereichern und zum na-

88 Beseke (Arun. 34) , S. 22 : .Diese Gelehrtenrepublik ist nicht in einem Volk verengt, sondern dehnet sich weit über die Grenzen einer Nation aus, gehet nördlich über die Ostsee, westlich über das deutsche Meer, südlich bis an die Pyrenäen, über die Alpen, und östlich bis an die Donau; ist unter Russen, Schweden, Dänen, Engländern, Holländern, Franzosen, ltaliäner, Ungarn, Schweizer, Polen versteckt. 89 Georg Friedrich Meier, Betrachtung über die Natur der gelehrten Sprache, Halle 1763, S. 101 . 90 Klopstock (Arun. 87), S. 1 29. 91 Ebd . , S . 228 f: . [ . . . ] nirgends der falschen Cultur zu schonen, über alle Gärten, wo nur Blumen wachsen, den Pflug gehen zu lassen, jedes Gebäude, das in den Sand gebaut ist, niederzureissen; und solten ganze Städte auf solchem Grund und Boden liegen, und wär es dann auch mitten in den besten gemein­ schaftlichen Besizzen , oder auf Landwinkeln der französischen Gelehrtenrepublik, der englischen, wo wir sie anträfen, und würden sie auch von Chimären bewacht, die Feuer und Flammen spien, diese Städte an allen Ecken anzuzünden, und nicht eher von dannen zu ziehn, als bis der Dampf überall aufstiege: uns auf­ zumachen, und neue Länder zu suchen [ . . . ] " . •

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tionalen Kulturzentrum machen. 92 Die Spuren des gescheiterten Plans ziehen sich als öffentlicher Vorwurf durch den Text der " Deutschen Gelehrtenrepublik" und durch die Widmung der " Hermannschlacht" an Joseph II. Das ist die Figur des Nationalismus , eine homogenisierende Ö ffentlichkeit, die den ihr allein zustehenden Staat begehrt.

92 Vgl. Rose-Maria Hurlebusch/Karl Ludwig Schneider, Die Gelehrten und die Großen. Klopstacks "Wiener Plan" , in: Der Akademiegedanke im 1 7 . und 1 8 . Jahrhundert, hrsg. von F. Hartmann!R. Vierhaus (Wolfenbütteler Forschungen, 3), Bremen/Wolfenbüttel 1 977, S. 63 ff.

111 . NATION UND NATIONALBEWUSSTSEIN

Michael Maurer (Essen) Nationalcharakter und Nationalbewußtsein. England und Deutschland im Vergleich'

I. Nationalcharakter und Nationalbewußtsein In seinem berühmten Essay " Of National Characters " behauptete David Hume , in England erlaube die allgemeine Freiheit und Unabhängigkeit einem jeden, seine eigene Lebensweise zu verwirklichen; von allen Völkern der Welt hätten die Engländer am wenigsten Nationalcharakter, wenn man nicht eben diese Besonderheit als solchen gelten lassen wolle . 2 Immanuel Kant hat später in seiner "Anthropologie in pragmatischer Absicht" diese Aussage dezidiert zurückgewiesen. "Hume meint: daß , wenn in einer Nation jeder einzelne seinen besonderen Charakter anzunehmen beflissen ist (wie unter den Englän­ dern) , die Nation selbst keinen Charakter habe . Mich dünkt, darin irre er sich; denn die Affektation eines Charakters ist gerade der allgemeine Charakter des Volks , wozu er selbst gehörte, und ist Verachtung aller Auswärtigen, besonders darum, weil es sich allein einer echten, staatsbürgerlichen Freiheit im Innern mit Macht gegen Außen verbindenden Verfassung rühmen zu können glaubt. - Ein solcher Charakter ist stolze Grobheit im Gegensatz der sich leicht familiär machenden Höflichkeit : ein trotziges Betragen gegen jeden andern, aus vermeinter Selbständigkeit, wo man keines andern zu bedürfen, also auch der Gefalligkeit gegen andere sich überheben zu können glaubt. " 3 D a s ist Rede und Antwort; These und Antithese . Schon bei oberflächlicher Ent­ gegenstellung der beiden Positionen springt ins Auge, daß die Grundtatsache , daß man nämlich über Nationalcharaktere sprechen und schreiben könne, für beide Autoren, wie

1 Mein Tübinger Vortrag vom 22. November 1990 wird hier im wesentlichen Wlverändert wiedergegeben, stilistisch überarbeitet Wld mit den nötigsten Anmerkungen versehen. Er gehört in den Zusammenhang eines größeren ForschW�gsprojekts, das ich zusammen mit Sabine Neumann, Dirk Weil Wld Eldcehard Witthoff bearbeite Wld das aus Mineln des ForschWlgspools der Universität GHS Essen gefördert wurde: "Europäische Reisen im konfessionellen Zeitalter. Mentalitätsgeschichtliche Aspekte" . Nationale WahmehmWlg wird dort in Konkurrenz zu sozialer Wld konfessioneller WahmehmWlg (Wld natürlich auch in ihrer wechselseitigen Interdependenz) Wltersucht. - Den Mitarbeitern danke ich für ihre freWldliche Beglei!Wlg. 2 .Hence the ENGUSH, of any people in the universe, have the least of a national character; Wlless this very singularity may pass for such . " David Hume, Of National Characters, in: Essays Moral, Political and Literary, hrsg. von T.H. Green!T.H. Grose, 2 Bde . , hier Bd. 1 , London 1 882, S. 252. 3 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: ders . , Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 41975 , S. 659.

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im 1 8 . Jahrhundert allgemein, weithin unbestritten isr'; zweitens wird deutlich, daß die Stellungnahme zur Bestimmung einzelner Nationalcharaktere nicht losgelöst werden kann von psychologischen Valeurs und Identitätsproblemen, so daß es einen Unter­ schied ausmacht, ob man über die eigene Nation spricht oder über andere ; drittens aber, damit zusammenhängend : daß die bloße Beschreibung , Analyse oder philosophisch-anthropologische Definition eines Begriffs wie "Nationalcharakter" schon Probleme des " Nationalbewußtseins " impliziert. Kant hat sogleich den Finger darauf gelegt, wo er Humes Aussage auf die eines Angehörigen "des Volks , wozu er selbst gehörte" , reduzierte . Dasselbe Problem holt natürlich den deutschen Autor wenig später ein, wo er von den Franzosen und Engländern als den "zwei zivilisiertesten Völker[n] auf Erden" spricht, um unverzüglich in einer Fußnote hinzuzufügen: " Es versteht sich, daß , bei dieser Klassifikation, vom deutschen Volk abgesehen werde ; weil das Lob des Verfassers , der ein Deutscher ist, sonst Selbstlob sein würde . "5 Es versteht sich aber auch, daß die Zurückweisung von Humes Anspruch auf Singularität für die Engländer nicht ohne die Empfindlichkeit des deutschen Kommentators zustande gekommen ist. Der Philosoph spricht natürlich nicht nur für sich, sondern auch zu seinem Publi­ kum; im Zeitalter nationalsprachlicher Kommunikation ist damit eine Bezugsgruppe gegeben, die durch ein affektives und identitätsrelevantes Verhältnis mit dem zu verhandelnden Gegenstand verbunden ist. Humes Ansatz enthält ein abstraktions­ kritisches Element, wo er gleich zu Beginn das großzügige Verallgemeinern von Nationalcharakterstereotypen den Ungebildeten zuschreibt und von diesen die Vernünf­ tigen abhebt, die zwar Nationalcharakteristika erkennen, aber letztlich nur als ap­ proximative Begriffe von bloßer Wahrscheinlichkeit, welche viele Ausnahmen zulassen und insofern theoretisch einen unsicheren Status haben. Die physischen Ursachen, vor allem die Beschaffenheit der Luft und des Klimas in ihren Einflüssen auf den mensch­ lichen Körper, will er geringer bewertet wissen, als dies in der Tradition geschah; aufwerten will er die moralischen Ursachen, wobei er zunäcbst an Regierungsform, revolutions ofpublic affairs, Reichtum oder Dürftigkeit der Bevölkerung und die Lage einer Nation in Beziehung zu ihren Nachbarn denkt. 6 Kant setzt diese abstraktionskritische Linie einerseits fort, w o e r gleichfalls die Klimatheorie zurückweist und darüber hinaus die Regierungsart als Erklärungsmodus abweisen will durch Hinweis auf ihre Zirkularität, andererseits reproduziert er aber auch ein Kompendium der vorhandenen Nationalcharakterstereotypen, obwohl er sie philosophisch unbefriedigend findet und sie dementsprechend den Empirikern, in diesem Fall den Geographen, zuweisen will : "Die angestammten oder durch langen Gebrauch gleichsam zur Natur gewordenen und auf sie gepfropften Maximen, welche

4 Vgl . Michael Maurer, "Nationalcharakter" in der Frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Reinhard Blomer/Helmut Kuzmics/Annette Treibel (Hrsg.), Transformationen des Wir-Gefühls, Frankfurt a . M . 1 993, S. 309-345; Friedrich Hertz, Die allgemeinen Theorien vom Nationalcharakter, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 54 ( 1 925), S. 1 -35 , 657-7 15; Emest Barker, National Character and the Factors of Its Formation, London 4 1 948; Franz K. Stanze), Schemata und Klischees der Völkerbeschreibung in David Humes .Essay of National Characters" , in: Studien zur englischen und amerikanischen Literatur. Festschrift für Helmut Papajewski, hrsg. von Paul G. Buchloh u . a . , Essen 1 974, s . 363-383 . s Kant (Anm. 2), Bd. 10, s. 659. 6 Hume (Anm. 1), Bd. 1, S . 244 .

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die Sinnesart eines Volkes ausdrücken, sind nur s o viele gewagte Versuche , die Varie­ täten im natürlichen Hang ganzer Völker mehr für den Geographen, empirisch, als für den Philosophen, nach Vernunftpri!lZipien, zu klassifizieren. "7 Kant empfindet offen­ sichtlich den theoretischen Status solcher Zuschreibungen auf der Ebene des National­ charakters als fragwürdig , ohne ihrer doch entraten zu können. Geheiligt durch die Tradition wie auch durch die Denkformen der Aufklärer, ließ sich das Konzept "Nationalcharakter" nicht einfach verabschieden. Ja, es wird zu zeigen sein, inwiefern es gleichzeitig neue Aktualität gewann! Hume seinerseits hatte den hemmungslosen Umgang mit Nationalcharakterstereo­ typen durch eine kritische Diskussion der überlieferten Urteile anhand von Beispielen einzuschränken gesucht. Im wesentlichen operierte er aber mit den üblichen National­ charakteristika, um sie nur hinsichtlich der eigenen Bezugsgruppe spektakulär außer Kraft zu setzen. Vielleicht ist dies ein Element der diskursiven Aufklärungsstrategie des Essayisten, das Kant mißverstanden hat. Mit Sicherheit ist es aber keine bloße Galanterie gegenüber den Engländern, sondern Ergebnis der Anwendung der theoreti­ schen Positionen, die Hume selbst entwickelt hatte . Denn wenn die physischen Ursa­ chen nicht anerkannt werden und nur die moralischen den Nationalcharakter bestimmen können, sich aber mögliche moralische Ursachen nicht als dominant dartun lassen, bleibt nur der Schluß , daß kein Nationalcharakter angegeben werden kann. Die eng­ lische Regierungsform, so Hume , sei ein Gemisch von Monarchie , Aristokratie und Demokratie - also determiniere keine der klassischen Regierungsformen den National­ charakter der Engländer. Die führende Schicht sei ebenfalls nicht homogen, sondern aus Gentry und Kaufleuten zusammengesetzt. (Hingegen sei Holland von Kaufleuten dominiert; in Frankreich, Spanien und Deutschland herrsche der Adel. ) Alle religiösen Sekten seien in England zu finden (folglich bestimme keine einzelne den National­ charakter) . 8 Kant hat sich darüber geärgert, daß Hume der theoretischen Lösung seines Problems eine positive , für die Engländer anscheindend schmeichelhafte Lösung abzugewinnen vermochte . Es fragt sich, ob nicht Kants eigene Darstellung deutsche Zustände der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts reflektiert und auf den nunmehr erreichten Stand des deutschen Nationalbewußtseins Bezug nimmt. Warum konnte er die " für den Philosophen, nach Vernunftprinzipien" , so unerquicklichen Klassifikationsverfahren , w i e namentlich dasjenige des Nationalcharakters , nicht entweder stillschweigend fallenlassen oder explizit auf dem Wege der Kritik ad absurdum führen? Meine These : Das Denken in Nationalcharakterstereotypen, das für Hume schon fragwürdig war und das Kant als Philosoph eigentlich ablehnte , gewann im letzten Drittel des 1 8 . Jahrhunderts zunehmende Aktualität durch ein sich ausbreitendes Nationalbewußtsein, vor allem in Deutschland. Es gilt also, die Dialektik der stereoty­ pen Denkformen und der affektiven Bewußtseinslage näher zu untersuchen. Ich unter­ nehme dies am Beipiel von England zunächst und dann in der Untersuchung der Wirkung dieses Beispiels auf Deutschland. Ich verarbeite dabei zwar neuere For­ schungsergebnisse aus der theoretischen Diskussion um die Entstehung des Nationalis-

7 Kant (Anrn. 2), Bd. 10, S . 660.

8 Hume (Anm. 2), Bd. 1, S . 25 1 f.

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III. Nation Michael Maurer ·

mus und der Nationsbildung9, beziehe mich aber wesentlich auf zeitgenössische Quel­ len, und zwar insbesondere der theoretischen Grundlegung des Nationalcharakterkon­ zepts sowie apodemische , staatswissenschaftliche und geographische Schriften. Mein Zielpunkt ist die Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins im späten 1 8 . Jahr­ hundert; mein Ausgangspunkt ist die frühaufklärerische Debatte um den englischen Nationalcharakter.

//.

Klima, Regierungsform, Erziehung

1768 schrieb Helfrich Peter Sturz: " Alle Reisebeobachter sind gewohnt, allgemeine Schlüsse auf einzelne Thatsachen zu gründen; daher rührt das schiefe Urtheil , welches man mit kühnem Leichtsinn über Menschen und Staaten ausspricht. " 10 Nach unserem heutigen Bewußtsein hat er mit dieser Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen. Und doch verkennt diese kritische Position der Aufklärung den Traditionsbildungs­ prozeß der frühneuzeitlichen Wissenschaft. Urteile über den Nationalcharakter wurden nämlich in dieser Zeit nicht primär durch Beobachtung erhoben, sondern durch Autori­ tät überliefert und fortgeschrieben. Der Reisende und neue Autor bestätigt sie durch eigene Beispiele ; damit hat er zugleich die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen, die rezipierten Stereotypen zu modifizieren und - in geringem Maße - auch zu korrigieren. Die Eigenart solcher Urteilsbildung soll zunächst anhand eines krassen Beispiels offengelegt werden: Der dänische Komödienautor und Historiker Ludvig Holberg be­ richtete in seiner lateinisch geschriebenen Autobiographie auch über seine Reisen, und in diesem Zusammenhang äußerte er sich ausführlich über den jeweiligen Charakter der von ihm besuchten Völker. Am Ende reihte er noch die Spanier an, obwohl aus seiner eigenen Erzählung deutlich wird , daß er nie in Spanien gewesen war ! 1 1 Die Nationai­ charakterschemata erweisen sich als ein gelehrtes Exercitium, als Gesprächsgegenstand in Gesellschaft und als ein wichtiger Fundus für den Komödienautor. Die eigene Wahr­ nehmung wird jedoch im frühen 1 8 . Jahrhundert der tradierten Stereotypie noch keines­ wegs grundsätzlich übergeordnet. Die Denkform ist weitgehend scholastisch. Der Auf­ klärungsanspruch geht auf Vernunft und Kausalität, nicht auf Empirie . Dabei ist freilich sogleich anzumerken, daß gerade in dieser Phase der Entwicklung des europäischen Denkens die phantastischen und legendenhaften Elemente der Tradi­ tion ausgeschieden wurden. Jahrhundertelang war von anglici caudati die Rede gewe­ sen, von " geschwänzten Engländern" 12 ; dergleichen Phantasmagorien hielten nun

9 Neuere soziologische und sozialgeschichtliche Ansätze: Kar! W. Deutsch, Nationalism and Social Com­ munication, Cambridge, Mass. 21966; Charles Tilly (Hrsg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton, N.J. 1975 ; Otto Dann (Hrsg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1 978; John Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 1 982; Emest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1 983; Erle J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programme, myth, reality, Cambridge 1990. 10 [Helfrich Peter Sturz] Schreiben aus England, in: Deutsches Museum, Februar 1 779, S. 97- 102; Zitat s. 97 . 11 Lu dvig Holberg, Bedenken über gewisse europäische Nationen, in: ders . , Nachricht von meinem Leben, Leipzig 1 982, S. 240-265; über die Spanier: S. 264 f. 12 Vgl. dazu Günther Blaicher, Zur Entstehung und Verbreitung nationaler Stereotypen in und über England, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5 1 ( 1 977), S. 549574; .anglicus caudatus" : S. 556-559.

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weder dem Licht der Vernunft noch der zunehmenden Reiseerfahrung stand . Die Lust am Kuriosen, an den Raritäten und Absonderlichkeiten aller Art ging zurück. Die Wirklichkeit wurde durch universale Denkschemata überformt. Klare Distinktion war ein wichtiges Erfordernis für die Nationalcharakterkonzepte . Kategoriale Ordnung sollte sich empirisch in geographischer Ordnung ausdrücken. Diesem Bedürfnis schien England in hervorragendem Maße zu genügen. Immer wieder zitierten die Autoren das klassische toto divisis ab orbe Britannis . Friedrich Justinian von Günderode argumentierte 1 774 explizit, bei den Engländern habe sich mehr Ursprüngliches als bei anderen Völkern erhalten, " weil sie weniger persönlichen Verkehr mit andern Nationen haben, auch nicht so häufig von Fremden heimgesucht werden und Heuratben mit Personen von andern Nationen in diesem Lande selten sind" . 13 Das ist bereits die kommunikationsorientierte Ausdeutung des alten Topo s . Die distinkte Wahrnehmung der Engländer enthielt v o n Anfang a n das Element der Insularität : Sie gehörten (im Gegensatz etwa zu Spaniern14 oder Russen15) fraglos zu Europa, waren nichtsdestoweniger klar vom Kontinent abgetrennt. Diese Art der Distinktion vereinigte zugleich, vom Festland aus gesehen, die Bewohner der Briti­ schen Inseln in einem einzigen, allgemeinen, "englischen" Nationalcharakter. Konzepte über Waliser , Schotten und Iren waren im allgemeinen nicht vorhanden. Die Urteils­ bildung erfolgte durch gelehrte Tradition; sofern Beobachtung einfloß , bezog sie sich wesentlich auf die Metropole London (d . h . den Hof in Westminster und die durch Handwerker und Kaufleute geprägte City of London) sowie auf den flüchtig durch­ reisten Süden Englands . 16 Diese unifizierende Konzeptionalisierung eines englischen Nationalcharakters wurde wesentlich gefördert durch die Klima- und Temperamentenlehre17, die in einer frühen Phase der Aufklärung, in Anknüpfung an antike Schemata, die über Jahrtausende tradiert worden waren, nun im Rahmen eines in neuer Weise rigiden Kausalitäts­ denkens plötzlich eine ganz andere Bedeutung gewannen. Die naturale Determination erlaubte es , Britannien mit Vernunftgründen klar vom Kontinent abzugrenzen und zugleich als Einheit zu sehen. Diese vor allem durch das einflußreiche Werk Montes­ quieus verstärkte Denkweise erhielt sich in Deutschland bis in die zweite Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts . Dominant war sie allgemein i n der ersten Jahrhunderthälfte .

" [Friedrich Justinian von Günderode] Beschreibung einer Reise aus Teutschland durch einen Teil von Frankreich, England und Holland, 2 Bde . , Breslau 1783; Zitat: Bd. 2, S. 210. 14 Vgl. Hans Hinterhäuser (Hrsg.), Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem VerblUtDis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München 1 979. 15 Vgl. Dieter Grob, Rußland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesge­ schichte, Neuwied 1 96 1 ; Mechthild Keller (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, München 1 987 . 16 Vgl. die Einleitung zu Michael Maurer (Hrsg.), .o Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. " Deutsche Reiseberichte des 1 8 . Jahrhunderts, München/Leipzig/Weimar 1 992, S . 7-39. 17 Waldemar Zacharasiewicz, Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik, Wien 1 977; Gantbier-Louis Fink, De Bouhours a Herder. La th�rie des climats et sa reception Outre-Rhin, in: Recherehes germaniques 15 (1985), S. Hi3; ders. , Von Winckelmann bis Herder. Die Klimatheorie in euro­ päischer Perspektive, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), Johann Gottfried Herder 1744-1 803, Harnburg 1987, S . 156-176; Helmuth Kiesel, Das nationale Klima. Zur Entwicklung und Bedeutung eines ethnographischen Topos von der Renaissance bis zur Aufklärung, in: Conrad Wiedemann (Hrsg.), Rom-Paris-London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, Stuttgart 1 988, s. 123- 134.

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Freilich waren Erziehungs- und Bildungsfaktoren immer schon bekannt, desgleichen psychische Mechanismen wie Nachahmung , Wetteifer und andere mehr . Dieselben Autoren, die mit der naturalen Reduktion arbeiteten, rekurrierten nicht selten zusätzlich auf Faktoren dieser Art, ohne darin einen grundlegenden Widerspruch zu erkennen. Wie es kommt, daß die alten Klimafaktoren mehr und mehr an Geltung verloren, ist letztlich ungeklärt. Sie stehen zunächst noch neben der Regierungsform und anderen moral causes (um in Humes Terminologie zu bleiben) , werden dann aber zunehmend von Erziehungsfaktoren überlagert. Es findet kein Paradigmenwechsel statt, sondern vielmehr eine schleichende Erosion, bis vom traditionellen Schema der naturalen Reduktion fast nichts oder gar nichts mehr übrig bleibt . Definitive Absagen an das Klimakonzept sind selten; gewöhnlich ist es eine empirisch abgestützte Argumentation, welche die " neuen" Faktoren stärker gewichtet. Mehr Weltwissen spielt dabei eine Rolle , wenn man etwa damit argumentiert, daß die Engländer in Nordamerika unter einem ganz anderen Klima in mehr als hundert Jahren ihren alten Charakter beibehalten hätten. 18 Ebenfalls historisch angelegt ist die Argumentation, daß sich die Engländer in England im Laufe von zweihundert Jahren bei gleichbleibendem Klima grundlegend gewandelt hätten. 19 In der Zeit nach Montesquieu bleibt von der Klimadetermination des National­ charakters im wesentlichen diejenige durch die Regierungsform zurück. Hatte Hume argumentiert, daß sich die englische Verfassung gerade als gemischte nicht dazu eigne , den Nationalcharakter zu bestimmen, argumentiert man in der Generation nach Hume überwiegend mit der Gemischtheit als Bedingung von Freiheit - und Freiheit als zen­ tralem Bestandteil des englischen Nationalcharakters . Die historisch zufällige Abwei­ chung im Vergleich mit dem absolutistischen Modell wird von den anglophilen Auf­ klärern konzeptionalisiert als politisches GegenmodelL 20 Man könnte vermuten, daß die Zurückweisung der Klimadetermination des National­ charakters etwas zu tun habe mit der neuzeitlichen Autonomie des Subjekts . Sowenig sich der neuzeitliche Mensch einem blinden Schicksal oder einer ins Einzelne ein­ greifenden Vorsehung ausgeliefert sehen will , sowenig mag er sich in unentrinnbarer Abhängigkeit von der Qualität der Luft oder der Zusammensetzung der Körpersäfte fühlen. Entscheidend ist aber nun, daß der Übergang von der Klimadetermination zur Determination durch die Regierungsform zugleich einen qualitativen Wandel anzeigt: Die Regierungsform eines Staates wird zu dieser Zeit bereits als geschichtlich gewor­ den und damit auch als geschichtlich veränderbar angesehen. Wie die Bildung eines Individuums planbar und der Vervollkommnung fähig ist, so ist es auch die mensch­ liche Gesellschaft im ganzen. Da die Bestimmung von Regierungsformen auf der Ebene von Staaten geschieht, nehmen die Untertanen der betreffenden Obrigkeit einen ein­ heitlichen Charakter an. Sofern Staaten Nationalstaaten sind , werden die Nationai­ charakterkonzepte aufgrund der Determination durch die jeweilige Regierungsform wichtiger und aktueller als zu Zeiten bloßer Klimadetermination.

18 Gebhard Friedrich August Wendebom, Der Zustand des Staats, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Großbritannien gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 4 Bde . , Berlin 1785-1788, hier Bd. 2, S. 234 . 1 9 Johann Wilhelm von Archenholtz, England und Italien, 2 Bde . , Leipzig 1785, hier Bd. 1 , S. 5 . 20 Vgl. Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 19), Göttingen/Zürich 1987 .

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Die englische Regierungsform als Gegenkonzept zum Absolutismus ermöglichte zwei Denkrichtungen: Die einen verwiesen auf die konkreten Eigenheiten der eng­ lischen Verfassung mit der zumeist impliziten Aufforderung , sich an ihnen bei der Reform des eigenen Staates zu orientieren. Für Deutsche war dies besonders schlag­ kräftig zu machen durch den Verweis auf die .germanische Freiheit" ; in dieser Sicht hätten die Deutschen leicht werden können, was die Engländer geworden waren. 21 Die anderen verwiesen bezüglich des englischen Nationalcharakters auf das Determinations­ deflzit, auf den Mangel einer Prägung durch Zwang , mithin auf das Freiheitspotential in einem allgemeineren Sinne . Diese letzte Richtung , die man vielleicht schon die liberale nennen könnte , soll hier am Beipiel des deutschen Pfarrers Gebhard Friedrich August Wendeborn erläutert werden, der jahrzehntelang in England lebte und das maßgebliche deutsche Werk über England in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts verfaßte . Im Gegensatz zu Kant schlug er sich auf die Seite Humes : " Soviel dünkt mich gewis zu seyn, daß unter allen Völkern die Engländer am meisten Menschen sind und daß man dies als einen Hauptzug ihres Charakters ansehen kann. Ich glaube auch, daß Hume gewissermaßen recht habe, wenn er behauptet, daß die Engländer am wenigsten von einem Nationalcharakter besitzen. "22 Dies wird rein positiv ausgelegt, und zwar in einem liberalen Sinne : Da die Regierungsform und die Erziehung der Engländer sie in ihrem Selbst-Sein bestärkt, können sie im eigentlichen Sinne - im Gegensatz etwa zu den Deutschen - Menschen werden! In Anbetracht des utopischen Freiheitpotentials, das in dieser Betrachtungsweise liegt, muß es von geringerer Bedeutung sein, wie der englische Nationalcharakter nun wirklich beschaffen ist. Wir können hier ohne Schaden die von Wendeborn eingehend diskutierten Nationalcharakteristika Großmut, Frei­ gebigkeit, Redlichkeit und freimütiges Wesen, Herzhaftigkeit, Traurigkeit und Schwer­ mut, Selbstdenken und Geschäftigkeit übergehen: 23 Worauf es ankommt, ist, daß die Engländer ihren Individualcharakter ausprägen dürfen und daß ihre Selbstwerdung zur Menschwerdung schlechthin stilisiert werden kann - auch von deutschen Analytikern! Wichtig ist ferner, daß die Erziehung zum entscheidenden Mittel der Nationalcharak­ terdetermination wird . Das Bildungsdenken der Aufklärung sieht den Menschen pädagogisch-utopisch : sich selbst bildend und andere bildend , werdend-formend . 24 Wendeborn untersucht deshalb eingehend die Erziehungsweise in England und die pädagogischen Institutionen. Unter der Herrschaft dieses Konzepts wird , überspitzt gesagt, Nationalcharakter herstellbar . Das dritte wichtige Ergebnis ist das oberste Nationalcharakteristikum der Engländer, ihr Nationalstolz. Französische wie deutsche Beobachter konnten sich leicht von der

21 Vgl. ebd. vor allem die Bemerkungen zu Montesquieu (S. 36-39) und zu Justus Möser (S. 1 1 1-141). 22 Wendeborn (Anm. 17), Bd. 2, S. 239. 23 Dies ist an anderer Stelle näher ausgeführt worden: Michael Maurer, Gebhard Friedeich August

Wendeborn ( 1 742- 1 8 1 1): Ein Aufldärer von kulturgeschichtlicher Bedeutung, in: Euphorion 82 ( 1 988), S . 393-423, hier S. 408-4 16. 24 Vgl . Ernst Lichtenstein, Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hege!, Heidelberg I 966; Rudolf Vierhaus, Artikel .Bildung" , in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508-55 1 ; Ulrich Voland, Zu den Bildungs- und Gesellschaftsvorstellungen zwischen 1770 und 1 8 10. Ansätze zur Ideologiekritik, Bem/Frankfurt a.M./München 1976; Ulrich Herrmann (Hrsg.), . Die Bildung des Bürgers" . Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert, Wein­ heim/Basel 1 982.

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berüchtigten Vehemenz der englischen Voreingenommenheit für die eigene Nation zurückgestoßen fühlen. An derartigen Stimmen fehlt es nicht. 25 Um so bedeutender , daß infolge der Neukonzeptionalisierung des Nationalcharakters , durch die überragende Bedeutung des Erziehungsfaktors in der späteren Aufklärung, Nationalstolz positiv aufgefaßt werden konnte , und zwar im Kontext der englischen Freiheitsverfassung , der Lizenz zur Menschwerdung . Die englische Erziehung erschien arm an Zwang und der Tendenz nach egalitär . Die Erziehung zum Nationalbewußtsein überwand in dieser Sicht sowohl den Egoismus als auch das Standesbewußtsein. Wendeborn schreibt: " Es ist gerade umgekehrt mit andern Völkern, zumal mit meinen Landleuten, die gemei­ niglich sich selbst und ihr Ich hochschätzen und darauf stolz thun, aber sich um den Ruhm, den ihnen ihr Vaterland geben könnte , wenig bekümmern. Ein geschickter Engländer redet von seiner Person, von seiner Würde und [seinem] Stande mit Beschei­ denheit, von seinem Vaterlande mit Lobsprüchen und einer Art von Enthusiasmus : dahingegen ein deutscher so genannter feiner Herr in seine Verdienste und Titel verliebt ist und sich nur zu schämen scheint, wenn er sagen soll, daß er ein Deutscher sey . Mögten doch meine Landleute mehr Patrioten werden! "26 Nationalstolz und Hochmut stehen in der Literatur um 1 700 als dominierende englische Nationalcharakterzüge obenanY Im Kontext des höfischen Wertekonzepts , wie es namentlich in Frankreich ausgeprägt war, erschien dies als Mangel an Politesse , als Defizienz gesellschaftlicher Verhaltensformen. Im Kontext des neuen Wertekon­ zepts , das ich nun plakativ das "bürgerliche " nennen will , konnten Nationalstolz und Hochmut positiv besetzt werden. Dies ist zunächst einmal aus anglophiler Sicht mög­ lich, nämlich durch Anerkennung des englischen Nationalcharakters und der englischen Institutionen als grundsätzlich positive Gegebenheiten. So beispielsweise bei Ar­ chenholtz : Die Engländer - so ließe sich diese Position vereinfachen - sind stolz auf ihre eigene Nation, aber sie haben auch allen Grund dazu .28 Die raffiniertere Variante ist jedoch die universalisierbare, die uns Wendeborn anbietet: Indem die Engländer auf ihre Nation stolz sirid, transzendieren sie partikulare IdentifikationsmusteL Nationalbe­ wußtsein ist in dieser Perspektive ein Weg zur Überwindung der Ständegesellschaft durch Abschleifen der distinkten Sozialcharaktere . Das Nationalcharakterkonzept, das theoretisch so obsolet schien, wird plötzlich zum Mittel bürgerlicher Emanzipation!

25 Die Reihe beginnt mit Muralt: Beat Ludwig von Muralt, Lettres sur les Anglois et Ies Francois et sur Ies voiages ( 1 728), hrsg. von Charles Gould, Paris 1 933, S. 140. Deutsche Beispiele in dem in Anm. 16 genannten Sammelband. 26 Wendeborn (Anm. 17), Bd. 2, S. 253 . 27 Vgl. W.D. Robson-Scott, German Travellers in England 1400- 1 800, Oxford 1953 . 28 Ungeachtet der innerlichen Unruhen, die von einem Freystaat unzertrennlich, ja zu dessen Erhaltung durchaus nöthig sind, das die dem Geist desselben Nahrung geben, und Leben und Thätigkeit .verbreiten; ungeachtet des so unglüklich geendigten amerikanischen Kriegs, der ungeheueren Nationalschuld, und aller Mängel und Unvollkommenheiten, die zum Loos der Menschheit gehören, gemessen die Einwohner Englands einer beneidenswerthen Glükseligkeit, deren Umfang von andem Nationen durchaus verkannt wird, da es schwer ist, selbst unter der sanftesten monarchischen Regierung, sich einen wahren Begriff von National­ freiheit zu machen, die auf die großen Rechte der Menschheit gegründet ist [ . . . ] Es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß kein aufgeklärtes Volk je so frei war, als es die heutigen Engländer sind [ . . . ] " , in: Archenholtz (Anm. 1 8) , Bd. ! , S. 15 f. •

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England und Deutschland im Vergleich

An dieser Stelle soll nun eine vergleichende historische Analyse von " Nation" in England29 und in Deutschland30 nachgeholt werden. England gehört zu jenen westeuro­ päischen Nationalstaaten, deren sprachlich-kulturelles Einheitsbewußtsein früh durch einigende staatliche Institutionen gefestigt wurde . Der König überließ dem Adel die lokale Herrschaft unumschränkt, eine königliche Verwaltung auf unterer Ebene war nicht vorhanden, die lokal führenden Kräfte sprachen zugleich Recht im Namen des Königs , korporativ hatten die Friedensrichter (JPs) auf ihren " Quarter Sessions" gar die hohe Gerichtsbarkeit inne . Regionale Vertretungskörperschaften gab es nicht in England . Das politische Leben war zentriert auf den Hof und das Parlament in West­ minster . Für die Führungsschichten, geistliche oder weltliche , Lords oder Commons, ergab sich daraus, im Zuge der institutionellen Verfestigung und periodischen Fixie­ rung des Parlaments, ein rhythmischer Wechsel zwischen Provinz und Metropole . Deutschland dagegen war polyzentrisch: Trotz der idealen Bedeutung des Kaisertums wurde Wien, der Hof der Habsburger, nie die Hauptstadt des Reiches . Die Institutionen waren verstreut : Wien war wohl der Sitz des Reichshofrats , aber das Reichs­ kammergericht tagte in Speyer und seit 1 693 in Wetzlar . Der Reichstag versammelte s ich in wechselnden Reichsstädten, bevor er sich 1 663 in Regensburg als Gesandten­ kongreß in Permanenz erklärte. Entscheidend ist aber das duale System der Herrschaft: Das staatliche Leben verlagerte sich, seit dem Westfälischen Frieden zunehmend, auf die Ebene der Territorialstaaten. Und in diesen verlegten die Fürsten nicht selten ihre Höfe . Landstände bestanden zum Teil in verschiedenen Graden der Wirksamkeit weiter. Fürstentümer wurden vereinigt oder aufgeteilt, verschachert oder vertauscht. Die staatliche Einheit war denkbar schwach. Nationales Bewußtsein stand in Kon­ kurrenz zu territorialstaatlichem, wobei letzteres vielfach stärker war . Die staatliche Zersplitterung wurde noch verstärkt und überhöht durch die kon­ fessionelle . Das landesherrliche Kirchenregiment führte zur territorialen Zementierung temporärer Konfessionsverhältnisse : 1 648 trikonfessionell verrechtlicht . Katholische Territorien hatten einen Zug nach Rom. Protestantische Territorien hatten ihren summus episcopus jeweils in ihrer Mitte . Daraus ergaben sich zentrifugale Affilia­ tionen. Ein lutherischer Geistlicher konnte ebensogut in Kopenhagen Hofprediger werden wie in Weimar. Für ihn gab es aber keine Lebensmöglichkeit in Köln oder 29 An dieser Stelle kann ich natürlich nur einige wenige Werke nennen, die mir für das Studium der englischen Geschichte stets nützlich waren: D.M. Loades, Politics and the Nation 1450-1660. Obedience, Resistance and Public Order, London 3 1986; Geoffrey R. Elton, England unter den Tudors, München 1 983; J.P. Kenyon, Stuart England, Harmondsworth 1978; W.A. Speck, Stability and Strife. England 1 7 14-1760, London 1 977. 30 Dasselbe gilt für Deutschland: Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600 , München 1989; Ernst Walter Zeeden, Das Zeitalter der Glaubenskämpfe 1555-1648, München 1973 ; Martin Hecke!, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1983; Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1 5 1 7- 1 648, Berlin 1988; ders. , Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763, Berlin 1 989; Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648-1763), Göttingen 1978; ders. , Staaten und Stände. Vom Westfälischen bis zum Hubertusburger Frieden 1 648 bis 1 763, Berlin 1984. - Zur Problematik des Nationalen in der älteren deutschen Geschichte: Wemer Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis und Ge­ schichte, Göttingen 1%3 ; Heinrich Lutz, Die deutsche Nation zu Beginn der Neuzeit. Fragen nach dem Ge­ lingen und Scheitern deutscher Einheit im 16. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 234 ( 1 982), S .

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Bamberg . Ein gleiches galt für Professoren und Schulmänner. Die Verbindungen der preußischen und kurpfälzischen Calvinisten gingen eher in die Schweiz und nach Holland als zu ihren geographischen Nachbarn. England hatte demgegenüber seit 1 534 eine von Rom unabhängige Staatskirche mit dem König als Oberhaupt. Konfession und Nation waren deckungsgleich in ihrer terri­ torialen Geltung . Katholiken und Dissenter konnten (das gilt noch für das 1 8 . Jahr­ hundert! ) keine Ämter übernehmen, nicht Parlamentsabgeordnete werden, ja nicht einmal an englischen Universitäten studieren. Unter den Stuarts war die Konfessions­ frage zugleich eine Loyalitätsfrage . Aufrührer waren Katholiken, und Katholiken waren Aufrührer. Das Konfessionsprinzip war in dem Maße identitätsstiftend, daß sich eher die einheimische Dynastie gegen eine ausländische auswechseln ließ , als vom Konfes­ sionsprinzip abzugehen. Die " Glorreiche Revolution" war ein Kompromiß auf prote­ stantischer Basis . Trotz Aufklärung und Toleranzdenken war England durch und durch protestantisch. Der Konsens einte zwar Episkopale und Presbyterianer, Anglikaner und Nonkonformisten, schloß jedoch Katholiken rigoros aus . Wer allgemeine Toleranz for­ derte , störte zugleich den protestantischen Kompromiß und den staatlichen Frieden. Die Grundlage des englischen Nationalbewußtseins ist deshalb ein protestantisches Konfessionsbewußtsein. Gerade dieses Element wird aber von Hume , von Voltaire (und in der Aufklärung ganz allgemein) verschwiegen oder verschleiert, Während im Deutschland des 1 8 . Jahrhunderts praktische Religiosität und aufgeklärte Toleranz zur Überbrückung der Konfessionsgegensätze tendierten und damit gleichzeitig den Boden bereiteten für ein konfessionsübergreifendes deutsches Nationalbewußtsein, verschärfte sich in England die No-Popery-Bewegung ; immer wieder kam es zu Tumulten und pogromartigen Ausschreitungen. 31 Der innere Feind war katholisch wie der äußere ; die jahrhundertelange politische Konstellation mit Spanien und später Frankreich als dem Hauptfeind der Engländer vertiefte die Gräben. Die Konfessionsfrage hatte stets nationale Bedeutung . Hinzu kommt die unifizierende Rolle des englischen Nationalbewußtseins in einem jahrhundertelangen Staatsbildungsprozeß . Wales wurde bereits in der ersten Hälfte des 1 6 . Jahrhunderts weitgehend anglisiert.32 In Irland bedeutete Herrschaft des englischen Königs ein neues Recht, eine neue Religion, neue Verwaltungsgliederung und neue Besitzverhältnisse: seit dem späten 1 6 . Jahrhundert definitiv durchgesetzt durch die Niederschlagung der Adelsrevolten. 33 Unter Cromwell waren Irland und Schottland staatlich vereinigt mit England . Die Dynastie der Stuarts hatte zunächst ( 1 603) die

31 Die Schilderung eines Augenzeugen von den Gordon Riots 1780 gibt etwa Johann Reinhold Forster, Gemälde von England vom Jahr 1780, fortgesetzt von dem Herausgeber bis zum Jahr 1783 , o.O. 1784 , S . 80-107. Gesamtdarstellung der Toleranzproblematik: Richard Burgess Barlow, Citizenship and Conscience. A study in the theory and practice of religious toleration in England during the eighteenth century, Philadel­ phia 1962. 32 Das Verhälmis der übrigen Teile der britischen Inseln zu England im Laufe der Geschichte behandelt im Überblick: Hugh Kearney, The British Isles. A history of four nations, Cambridge 1989. Die Frage nach einer .walisischen Nation" wird von verschiedenen Seiten beleuchtet bei: Gwyn A. Williams, The Welsh in Their History, London/Canberra 1982. 33 T.W. Moody/F.X. Martin (Hrsg.), The Course of lrish History, Cork 21984; T.W. Moody/F.X. Mar­ tiniF.J. Byrne (Hrsg.), A New History of Ireland Bd. 3: Early Modern lreland, 1534-1691 , Oxford 1976; T.W. Moody/W.E. Vaugham (Hrsg.), A New History of Ireland, Bd. 4: Eighteenth Century Ireland 1691-1800 , Ox­ ford 1986. -

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Personalunion Schottlands mit England gebracht, später ( 1 707) die staatliche Einheit . Englische Sprache und die Kultur der Eliten integrierten die Einzelstaaten zum " Ver­ einigten Königreich" . Trotz beträchtlicher Ressentiments , vor allem in den unteren Schichten, entwickelte sich ein britisches Nationalbewußtsein, das von außen weiterhin als " englisches " wahrgenommen wurde . Die berüchtigte Stärke des englischen Na­ tionalbewußtseins hat also zwei Seiten: nach außen abgrenzend und nach innen einheits­ stiftend . Alle zeitgenössischen Beobachter sind sich über den Gegensatz England­ Frankreich im klaren; den Gegensatz der Engländer zu den Schotten und vor allem Iren explizieren erst die späten Aufklärer adäquat. 34 Das englische Nationalbewußtsein, gestärkt durch sich integrierende Schotten wie beispielsweise Burnet, Hume oder Boswell, durch Iren wie Swift oder Sheridan, Goldsmith oder Burke , war keineswegs ein Luxus hochmütiger Arroganz , sondern ein dringendes Bedürfnis staatlicher und gesellschaftlicher Einheit. Auf dieser Ebene der Analyse werden Großbritannien und die Staaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vergleichbar: Was die englische Sprache und die englische Kultur für die Integration von Schottland und Irland in das " Vereinigte Königreich" leisteten, sollten die deutsche Sprache und Kultur in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts für die Integration von Preußen und Ö sterreich, Sachsen und Mainz , Württemberg und Oberschwaben, Franken und Bayern leisten. Die Kon­ fessionsbarriere blieb bestehen, aber sie wurde im Zeitalter der Aufklärung nicht mehr für unüberwindlich gehalten. Der Buchmarkt, das Zeitungswesen, die Sozietäten aller Art operierten auf nationaler Ebene. Die führenden Universitäten (allen voran Göttin­ gen) verklammerten die Territorien, indem sie den deutschen Führungsschichten Kontakt und gemeinsame Bildung ermöglichten. Das deutsche Nationalbewußtsein entstand im Zeitalter einer protestantischen Kulturhegemonie . Es war zunächst ein literarisches Phänomen.35 Die Literatur (in diesem Sinne) wurde von den Gelehrten hervorgebracht. Die Gelehrten machten sich, indem sie ihre Zunftbeschränktheit überwanden, zur Vorhut des Bürgertums . Das deutsche Nationalbewußtsein ist gleichzeitig ein bürgerliches Bewußtsein: gegen die internationale , höfische Wertewelt des Adels gerichtet; untere Schichten, sofern bil­ dungswillig , integrierend . Deshalb hat die Wahrnehmung deutscher Beobachter, die dem englischen Natio­ nalstolz eine ständeübergreifende Funktion zusprechen, auch eine operative Bedeutung . Nation schien herstellbar, sie schien geradezu ein Akt der Emanzipation aus der Ständegesellschaft. Nationalcharakter, nun wesentlich durch Erziehung bestimmt, nicht mehr durch unveränderliche Faktoren, wurde zur Aufgabe der Pädagogen. Die bürger­ liche Bewegung in Deutschland war gleichzeitig eine pädagogische Bewegung . Schon vor der Französischen Revolution36 hatte England das Modell bereitgestellt: Eine 34 Z.B. Wendebom: .Das einzige, was mir hierbei sonderbar vorkommt, ist, daß wenn sie gleich auf den Namen Briten stolz sind, dennoch die Schottländer, die auch diesen Namen führen, aufrichtig hassen, so daß ein ächter Engländer einen Ausländer eher als einen Schotten dulden kann . " In: Wendeborn (Anm. 17), Bd. 2, S. 257. " Wolfgang Frühwald, Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland, in: Dann (Anm. 9), S. 129-141; Wilfried Barner (Hrsg.), Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989. 36 Vgl . dazu Otto Dann/John Dinwiddy (Hrsg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, London!Ronceverte 1988.

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Nation, in der Nationalcharakter etwas anderes war als ein bloßer hegemonialer Sozial­ charakter; eine Nation mit einem starken integrativen Nationalbewußtsein, welches auszubilden als pädagogische Aufgabe der Bürger auch in Deutschland Nation erst denkbar und wirklich werden ließ .

Jürgen Heideking (Köln) Einheit aus Vielfalt: Die Entstehung eines amerikanischen Nationalbewußtseins in der Revolutionsepoche 1 760- 1 820

Die amerikanische Revolution erschöpfte sich nicht in der Loslösung der dreizehn Kolonien vom Mutterland und im Aufbau eines eigenen republikanisch-föderativen Regierungssystems . Man muß sie vielmehr auch als Bemühen um Identität und Legi­ timität, als Suche nach politisch-kultureller Selbstfindung und Sinnstiftung verstehen. In diesem Sinne erstreckte sie sich über mehr als ein halbes Jahrhundert vom Sieben­ jährigen Krieg (der in den Kolonien French and Indian War genannt wurde) bis zur sogenannten Era of Good Feeling unter Präsident James Monroe . In dieser Zeitspanne vollzog sich die materielle und geistige Emanzipation von Europa, die den Begriffen " Volk" , " Staat" und " Nation" eine neue Bedeutung verlieh. 1 Der Prozeß der Gemeinschaftsbildung und Bewußtwerdung verlief allerdings kei­ neswegs linear, kontinuierlich und zielsicher . Seinen spezifischen Charakter erhielt er durch den ständigen Widerstreit von Kräften, die Patriotismus und Nationalgefühl för­ derten, mit zentrifugalen Tendenzen und intellektuellen Strömungen, die den Durch­ bruch zum Nationalstaat und zu nationalstaatlichem Denken hemmten. Die vier Haupt­ phasen dieses Prozesses sollen im folgenden kurz dargestellt und analysiert werden.

I.

Vom Siebenjährigen Krieg bis zur Unabhängigkeitserklärung 1 760-1 776

Die Voraussetzungen und Begleitumstände der Besiedlung Nordamerikas waren der Herausbildung einer kollektiven amerikanischen Identität nicht unbedingt günstig . Das britische Merkantilsystem sorgte dafür, daß sich die Kolonien wirtschaftlich weit mehr zum Mutterland als zu ihren Nachbarn in Amerika hin orientierten. Durch die Ver­ besserung der Verkehrswege und das rasche Bevölkerungswachstum (von ca. 250 . 000 Weißen und 30.000 schwarzen Sklaven im Jahr 1 700 auf 1 ,6 Millionen Weiße und 325 .000 Schwarze um 1760) kamen sich die englischen Festlandskolonien im Laufe des 1 8 . Jahrhunderts zwar allmählich näher. Auf amerikanischem Boden fehlten aber alle

1 Grundlegende Studien sind Hans Kohn, American Nationalism: An Interpretative Essay, New York 196 1 , sowie die beiden Bände von Daniel J. Boorstin, The Americans: The Co1onial Experience, New York 1958; The National Experience , New York 1965. Neueren Datums ist Wilbur Zelinski, Nation into State. The Shifting Symbolic Foundations of American Nationalism, Chapel Hili, N.C. 1 988. Zum Forschungsstand in den USA siehe: John M. Murrin, A Roof Without Walls: The Dilemma of American National ldentity, in: Richard Beeman/Stephen Botein!Edward C. Carter II (Hrsg.), Beyond Confederation: Origins of the Constitution and American National Identity, Chapel Hili, N.C./I..ondon 1 987, S. 333-48; William F. Sheldon, Der Mythos von .Gottes eigenem Lande" : Zur geschichtslosen Identität der Amerikaner, in: Historische Mitteilungen 1 (1990), S. 73-84. Einen ausgezeichneten Gesamtüberblick gibt Paul Nolte, Ideen und Interessen in der Amerikanischen Revolution. Eine Zwischenbilanz der Forschung 1 968-1988, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 1 14-140. Eine vergleichende Perspektive eröffnen die Aufsätze in: Otto Dann/John Dinwiddy (Hrsg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, I..ondon 1988.

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Attribute, die man in Buropa mit dem Begriff " Nation" verband: traditionsstiftende In­ stitutionen wie Kirche, Adel und Armee gab es ebensowenig wie ethnische und religiö­ se Homogenität. Der relative Bevölkerungsanteil der Engländer wurde zurückgedrängt durch die verstärkte Einwanderung von Iren, Schotten, Deutschen und Skandinaviern sowie durch den Zustrom unfreier Schwarzer aus Afrika und der Karibik. Die Kirchen­ gründungen folgten weitgehend den Siedlungsmustern: In den Neuengland-Kolonien dominierten die Kongregationalisten; baptistische Dissenters breiteten sich von Rhode Island nach Süden aus ; Pennsylvania war nicht nur Heimstätte für Quäker, sondern beherbergte in größerer Zahl auch Lutheraner, Angehörige verschiedener pietistischer Richtungen und - hauptsächlich im Westen - Presbyterianer; unter den weißen Siedlern der südlichen Kolonien bildeten Anglikaner die Mehrheit, selbst in Maryland , das ursprünglich verfolgten Katholiken als Zufluchtsort zugedacht worden war. Diese ethnische und religiöse Fragmentierung ging einher mit wirtschaftlichen Interessen­ unterschieden zwischen Neuengland, dessen Kaufleute die Küstenschiffahrt und den Überseehandel beherrschten, den Mittelk:olonien, in denen sich Landwirtschaft, Handel und Gewerbe am ausgewogensten entwickelten, und dem Süden, dessen Tabak- , Reis­ und Indigopflanzer immer mehr von Sklavenarbeit und englischem Kapital abhängig wurden. An der unaufhaltsam voranrückenden Siedlungsgrenze im Westen bildete sich überdies eine ganz spezifische Frontier-Gesellschaft aus , die stets den Versuchungen der Abspaltung und des Separatismus ausgesetzt war . 2 Die Sicherung der materiellen Existenz und des politischen Überlebens gegen Fran­ zosen und Spanier schien deshalb nur in enger Zusammenarbeit mit dem Mutterland möglich. Dieses Bewußtsein des Angewiesenseins auf englische Unterstützung be­ stimmte noch die Jahre des French and Indian War, an dessen Anfang 1 754 Benjamin Franktins Albany-Plan einer kolonialen Union stand, und der 1 760 mit einem trium­ phalen Sieg über die Franzosen zu Ende ging . Im selben Jahr begrüßen die Kolonisten die Thronbesteigung des neuen englischen Königs George III . mit überschwenglichen Freudenkundgebungen. Allerdings hatte offenbar ausgerechnet der gemeinsame Kampf gegen Franzosen und Indianer den Keim der Entfremdung zwischen Briten und Kolo­ nisten gelegt. Die Erfahrungen mit den adligen englischen Offizieren, die nicht selten Arroganz mit Inkompetenz verbanden, gaben vielen Amerikanern erstmals das Gefühl der Andersartigkeit der sozialen Beziehungen und Verhaltensmuster diesseits und jen­ seits des Atlantik. Auch entfiel gerade durch die Beseitigung der französischen Koloni­ alherrschaft in Amerika der unbedingte Zwang zur Kooperation mit England , und es öffneten sich den Siedlern bis dahin kaum vorstellbare Aussichten auf territoriale Expansion und steigenden Wohlstand . 3 Dennoch bedurfte es des Drucks von außen, um ein engeres Zusammenrücken der Kolonisten und ein ernsthaftes Nachdenken über die gemeinsame Vergangenheit und Zukunft zu bewirken. Diesen Druck übten die englische Regierung und das Parlament von Westminster nach dem Siebenjährigen Krieg mit dem Ziel aus , die Empire-Organi-

2 Vgl . die Beiträge in Stanley N. Katz/John M. Murrin (Ed.), Colonial America: Essays in Politics and Social Development, New York 3 1 983, sowie in Jack P. Greene/J.R. Pole (Ed.), Colonial British America: Essays in the New History of the Early Modem Era, Baltimore 1 984. 3 Jürgen Heideking, Das Englandbild in der nordanterikanischen Publizistik zur Zeit der Revolution, in: Pranz Bosbach (Hrsg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittel­ alters und der Neuzeit, Köln 1 992, S. 179-199.

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sation zu straffen und dem hochverschuldeten Staat neue Steuerquellen zu erschließen. Die Reaktion der Siedler ist an ihren noch wenigen Zeitungen abzulesen, die bis dahin vorwiegend aus Buropa berichtet hatten, in denen aber mit Beginn der 1760er Jahre die Nachrichten über andere Kolonien und amerikanische Angelegenheiten insgesamt sprunghaft zunahmen. 4 Zunächst vollzog sich dieses Streben nach Gemeinschaft und gemeinsamer Inter­ essenvertretung jedoch im allgemein anerkannten politisch-kulturellen Bezugsrahmen des Empire . Die Siedler beriefen sich bei der Abwehr .tyrannischer" Steuergesetze des Londoner Parlaments auf die Rights of Englishmen und die komplexen Rechtsprinzipien und -ideen, die aus angelsächsischer Vorzeit hergeleitet und unter dem Begriff British Constitution subsumiert wurden. Sie verstanden sich - bestärkt durch ihre aufkläreri­ schen Freunde in Buropa - als die .ursprünglicheren" Engländer, als freiheitsliebend , rustikal und von zivilisatorischen Einflüssen noch unverdorben. Die patriotischen Aufwallungen, die mit dem Kampf gegen die Stempelsteuer 1765/66 einen ersten Höhepunkt erreichten, beinhalteten keine Absage an das englische Volk. 5 Vielmehr begriffen die meisten Amerikaner - vor dem Hintergrund der radikalen Agitation gegen die strafrechtliche Verfolgung und den Parlamentsausschluß des Volkshelden John Wilkes, die London seit 1763 in Atem hielt - ihren eigenen Widerstand als Teil einer umfassenden Bewegung zur sittlich-moralischen Reform und zur Rückgewinnung der . alten englischen Rechte " . 6 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, arbeiteten die Führer der Patrioten (wie sich die Gegner der Londoner Politik nannten) nicht auf die Unab­ hängigkeit hin, sondern waren bis in die 1 770er Jahre hinein durchaus bereit, sich mit der Anerkennung der Kolonien als gleichberechtigter Teil des Empire zufrieden­ zugeben. In ihren kühnsten Träumen sahen sie den Tag voraus , an dem die Hauptstadt des Reiches im Einklang mit der wachsenden Bevölkerungszahl und zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung der Kolonien nach Nordamerika verlegt werden würde . 7

• Quantitativer Methoden zum Nachweis dieses wachsenden interkolonialen Interesses und Informations­ austausches bediente sich Richard L. Merritt, The Colonists Discover America: Attention Patterns in the Colonial Press, 1 735- 1775, in: William and Mary Quarterly 21 (1964), S. 270-287; ders . , Symbols of American Community, 1735-1775, New Haven, Conn. 1966. Die Diskussion über eine mögliche Verselb­ ständigung der englischen Kolonien wurde bis in die 1760er Jahre hinein fast ausschließlich von Europäern geführt: vgl. John M. Bumstead, .Things in the Womb of Time" : ldeas of American Independence, 1633-1763, in: William and Mary Quarterly 31 (1974), S. 553-564; Durand Echeverria, Mirage in the West: A History of the French Image of American Society to 1815, Princeton, N.J. 21968. Wenn ein Siedler . my country" sagte , dann meinte er damit fast immer seine Kolonie: vgl . Judith A. Wilson, My Country Is My Colony: A Study in Anglo-American Patriotism, 1 739-1760, in: Historian 30 ( 1967/68), S. 333-349. Loyalität zur Kolonie und Loyalität zu Großbritannien ergänzten einander und bestärkten sich gegenseitig: vgl . Max Savelle, Nationalism and Other Loyallies in the American Revolution, in: American Historical Review 67 ( 196 1/62) , S. 901-923 . > Die besten Darstellungen der öffentlichen Auseinandersetzung liefern Edmund S./Helen M. Morgan, The Stamp Act Crisis: Prologue to Revolution, Chapel Hili, N.C. 21963 , sowie Arthur M. Schlesinger, Jr. , Prelude to Independence: The Newspaper War on Britain, 1764- 1776, New York 21965 . Eine psychologische Deutung versucht Peter Shaw, American Patriots and the Rituals of Revolution, Cambridge, Mass. 1 98 1 . 6 Vgl. George Rude, Wilkes and Liberty, Oxford 1962; Pauline Maier, John Wilkes and American Desillusionment with Britain, in: William and Mary Quarterly 20 (1963) , S. 373-395 . 7 Kennzeichnend sind Benjamin Franldins .Observations Conceming the Increase of Mankind" von 1 755, abgedr. in: The Papers of Benjamin Franklin, brsg. von Leonard W. Labaree u.a. , New Haven, Conn. 1 959, Bd. IV, S . 227-234. 1759 prophezeite der Bostoner Pfarrer Jonathan Mayhew ein mächtiges, aber, wie er ausdrücklich betonte, keineswegs unabhängiges .empire" in Britisch-Amerika, .in numbers little inferior

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Dieser " Patriotismus " orientierte sich also noch an den staatlichen Gegebenheiten des britischen Reiches und an gemeinsamen englischen politisch-kulturellen Traditionen. Je mehr sich die Fronten allerdings verhärteten und je länger die erhoffte Unterstüt­ zung der englischen "Massen" ausblieb, desto deutlicher wurde das Gefühl des Anders­ seins , einer amerikanischen distinctiveness. Das englische Volk schien nicht mehr die moralische Kraft und Wachsamkeit aufzubringen, um sich dem tyrannischen Herr­ schaftsstreben von Parlament, Krone und Ministerien erfolgreich entgegenstellen zu können. In der patriotischen Literatur wurde das Pochen auf die ancient constitution nun durch die Betonung " natürlicher Rechte " , die allen Menschen gleichermaßen zu­ stünden, ergänzt und überlagert. 8 Zugleich trat die puritanische Vorstellung vom " neuen Israel " in der Wildnis , von der Auserwähltheit und besonderen Mission der Amerikaner wieder stärker ins öffentliche Bewußtsein und breitete sich über die Grenzen Neuenglands hinweg aus . Eine ähnliche Aufwertung erfuhr auch das - aus der translatio imperii hervorgegangene - Bild der Westverlagerung der Weltreiche, das der englische Philosoph und Theologe Bischof George Berkeley populär gemacht hatte . Vom Orient über Griechenland, Rom und England schien der course of Empire in die Neue Welt zu führen, wo das letzte und mächtigste der Weltreiche entstehen würde . 9 D e r phänomenale Erfolg , den der gerade erst aus England eingewanderte Publizist Thomas Paine mit seiner Flugschrift "Common Sense " hatte - sie wurde im Januar 1776 gedruckt und erreichte innerhalb weniger Monate eine Auflage von über 100. 000 Exemplaren - war nicht zuletzt dem Appell an die religiös-nationalen Emotionen zu verdanken, die der Konflikt mit dem Mutterland in breiten Bevölkerungsschichten geweckt hatte . Am meisten bewegte die Amerikaner bei der Lektüre von "Common Sense" offenbar die Verheißung , sie könnten der Weltgeschichte eine Wendung geben,

perhaps to the greatest in Europa, and in felicity to none . " Zitiert nach Bernard Bailyn u. a . , The Great Republic: A History of the American People, Boston/Toronto 1977, S. 200. Zu Kontinuität und Wandel des Empire-Konzepts in der Revolutionsepoche vgl. Richard Koebner, Two Conceptions of Empire, in: Jack P. Greene (Hrsg.), The Reinterpretation of the American Revolution, 1763- 1789, New York 1968, S . 1 1 1-121 ; Martin Kilian, New Wine in Old Skins? American Definitions of Empire and the Emergence of a New Concept, in: Erich Angermann et al . (Hrsg.), New Wine in Old Skins: A Comparative View of So­ cio-Political Structures and Values Affecting the American Revolution, Stuttgart 1976, S. 135-152. 8 Vgl . Pauline Maier, From Resistance to Revolution: Colonial Radicals and the Development of American Opposition to Britain, 1765-1776, New York 1972; dies. , The Old Revolutionaries: Political Lives in the Age of Samuel Adams, New York 1980; Charles P. Hoffer, Revolution and Regeneration: Life Cycle and the Historical Vision of the Generation of 1776, Athens, Ga. 1983 . 9 Vgl . Paul A. Varg, The Advent of Nationalism, 1758- 1776, in: American Quarterly 16 (1964), S . 1 69- 1 8 1 ; Edmund S . Morgan, The Puritan Ethic and the American Revolution, in: William and Mary Quarterly 24 (1967), S. 3-43. Den Zusammenhang zwischen dem Thema der englischen Korruption und den Verschwörungsängsten der Kolonisten erörtert eingehend Bemard Bailyn, The ldeological Origins of the American Revolution, Cambridge, Mass. 1 3 1976. Zu den religiösen Vorstellungen von Amerika als dem .neuen Israel" und zur Idee des " westward course of empire" vgl. Emest L. Tuveson, Redeemer Nation: The Idea of America' s Millennial RoJe, Chicago 1 968; Sacvan Bercovitch, Colonial Puritan Rhetoric and the Discovery of American ldentity, in: Canadian Review of American Studies 6 (1975), S. 1 3 1 ff. ; Nathan 0. Hatch, The Origins of Civil Millennialism in America: New England Clergymen, War With France, and the Revolution, in: William and Mary Quarterly 3 1 (1974), S. 407-430; ders . , The Sacred Cause of Liberty: Republican Thought and the Millennium in Revolutionary New England, New Haven, Conn. 1977; Ruth Bloch, Visionary Republic: Millennial Themes in American Thought, 1756- 1 800, Cambridge/London/New York 1985.

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indem sie ein unabhängiges American Empire , ein den gesamten nordamerikanischen Kontinent umfassendes fortschrittliches und friedfertiges Handelsreich errichteten. 10 Die Reaktion auf " Common Sense " bewies, daß ein eigenständiges amerikanisches Nationalgefühl zumindest latent vorhanden war . Dennoch - oder vielleicht gerade des­ halb - rangen sich die Vertreter der kolonialen Elite , die seit 1 774 in Philadelphia als Continental Congress tagten, nur sehr schwer zur Unabhängigkeitserklärung durch. In diesen Kreisen ließ der Gedanke einer vollständigen Loslösung vom Mutterland erheb­ liche Zweifel und Äng ste aufkommen: Würden die Kolonien, die sich nun zu republika­ nischen Staaten wandelten, die nötige äußere Unterstützung im unvermeidlichen Krieg gegen Großbritannien erhalten und danach wirklich auf eigenen Füßen stehen können? Besaßen die Amerikaner genügend politische Reife und Bürgertugend (virtue) , um ihre vielfaltigen Interessengegensätze friedlich zu regeln? Ließ sich nach der Zerstörung der Autorität von Krone und Parlament die innere Ordnung aufrechterhalten?1 1 Die britische Kompromißlosigkeit und der anhaltende Druck der Ö ffentlichkeit verliehen diesen Fragen jedoch einen mehr und mehr akademischen Charakter . Mit der Entscheidung für die Unabhängigkeit im Juli 1 776 war das Problem der amerikanischen Identität aber noch längst nicht gelöst, wie ein Formulierungstreit im Kontinentalkon­ greß schlaglichtartig erhellte . Thomas Jeffetson hatte in seinem Entwurf der Un­ abhängigkeitserklärung betont nationale Töne angeschlagen und die Trennung nicht nur vom König , sondern auch vom englischen Volk proklamiert, weil es sich als gefühl­ und mitleidlos erwiesen habe . Bei der Schlußredaktion wurde dieser Passus ebenso gestrichen wie Jeffersons stolzer Hinweis , das amerikanische Volk sei nicht auf die Hilfe der unfeeling brethren jenseits des Atlantik angewiesen, um zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Die Mehrheit der Delegierten stand offenbar noch im Bann des Verwandt­ schaftsgefühls, wie es in der Familienmetapher - die Kolonien als Kinder der Mutter England - über mehr als ein Jahrhundert hinweg stets von neuem bekräftigt worden war . 12

li.

Unabhängigkeitskrieg und " kritische Periode " 1 776-1 789

Der Unabhängigkeitskrieg bewirkte nicht den von vielen erhofften Durchbruch eines genuin amerikanischen Nationalbewußtseins . Er begann zwar als eine nationale Erhe­ bung , aber der Schwung der Anfangszeit verebbte recht bald . Je länger sich der Krieg

1° Common Sense, abgedr. in: The Complete Writings of Thomas Paine, hrsg. von Philip S. Foner, New York 1945 , S. 3-46. Zur Beurteilung vgl. Bernard Bailyn, Common Sense, in: Fundamental Testaments of the American Revolution: Library of Congress Symposium on the American Revolution, Washington, D . C . 1 973, S . 7 ff. ; ders. , Tbe Most Uncommon Pamphlet o f the Revolution: Common Sense, in: American Historital Review 55 (1973), S. 36 ff. , 91 ff. Paine selbst fühlte nicht national, sondern verstand sich zunehmend mehr als .Weltbürger" : Gregory Claeys, Tbomas Paine: Social and Political Thought, Boston

1989.

11 Vgl. Lynn Montross, Tbe Reluctant Rebels: Tbe Story of the Continental Congress 1774- 1 789, New York 1950; Merrill Jensen, Tbe Founding of a Nation: A History of the American Revolution, 1 773-1776, New York 1968; sowie die ersten zehn Kapitel von Roben Middlekauff, Tbe Glorious Cause: Tbe American Revolution, 1763-1789, The Oxford History of the United States, 2, New York/Oxford 1982. 12 Ausführlich und mit Textvergleichen vgl. Garry Wills, Inventing America: Jefferson' s Declaration of lndependence, New York 1978.

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hinzog , desto deutlicher offenbarte er die Interessenvielfalt und innere Zerrissenheit der Bevölkerung . Schätzungsweise eine halbe Million Amerikaner (das entspricht 20 % der weißen Bevölkerung) ergriffen als " Loyalisten" für England Partei. Nicht wenige von ihnen machten sogar mit den britischen Truppen gemeinsame Sache, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. 60-80 . 000 Loyalisten wurden vertrieben oder verließen bei Kriegsende die dreizehn Staaten in Richtung Kanada oder Europa. 13 Darüber hinaus traten aber auch im Lager der Revolutionäre Risse zutage, die durch sachliche Mei­ nungsverschiedenheiten - etwa in der Frage der Abschaffung der Sklaverei -, aber auch durch persönliche Rivalitäten, Eifersüchteleien und egoistisches Macht- und Gewinn­ streben hervorgerufen wurden und die oft nur mühsam gekittet werden konnten. Militärisch gesehen fand keine levee en masse statt, die - wie dies später in Frankreich geschah - nationalisierend hätte wirken können. Die Kontinentalarmee , von Baron Steuben preußisch gedrillt und unter Washingtons Oberbefehl konventionell kämpfend , war selten stärker als 5000 Mann. Die Staaten-Milizen, deren Angehörige in der Regel nur · kurzfristig dienten, zeigten sich den regulären britischen Truppen in offener Feldschlacht nicht gewachsen. Sie bewährten sich dagegen im Partisanenkampf gegen Ioyalistische Verbände und bei der "Säuberung " der von den Briten geräumten Gebiete. Gerade diese Aktionen verliehen der Auseinandersetzung aber den Charakter eines unerbittlich geführten Bürgerkrieges , stärkten also nicht unbedingt die stets beschwore­ ne nationale Eintracht. Ohne die französische Waffenhilfe , die zunächst verdeckt und ab 1 778 offiziell gewährt wurde, hätte sich der Krieg vermutlich noch länger hingezo­ gen und wäre sein Ausgang ungewiß gewesen. 14 Der Sieg von Yorktown 1781 und . der günstige Friedensschluß in Paris 1 783 ent­ flammten vorübergehend wieder die nationale Begeisterung . Andererseits ließen die rasch einsetzende Ernüchterung und die während des Krieges geschaffene Verfas­ stii1gsstruktur der Entwicklung von Nationalbewußtsein wenig Raum. Die neue Ord­ nung gründete zwar auf dem Prinzip der Volkssouveränität, doch unter "Volk" ver­ stand man das Volk in den Einzelstaaten. Ein American people existierte wohl in der revolutionären Rhetorik, nicht aber als Rechtssubjekt. Nur eine schmale Elite dachte und handelte " kontinental " . Die meisten Amerikaner identifizierten sich aber weit weniger mit der Union als mit ihrem jeweiligen Staat: Wenn sie in den Beschwernissen des Alltagslebens überhaupt noch Patriotismus empfanden, dann war es der Patriotis­ mus der Virginier, der Pennsylvanier, der New Yorker, der Bürger von Massachusetts usw. Die 1 777 verabschiedeten und bis 1 7 8 1 ratifizierten Articles of Gonjederation

13 Vgl. Robert M. Calhoon, The Loyalists in Revolutionary America, 1760- 1 78 1 , New York 1 973; Mary Beth Norton, The Loyalist Critique of the Revolution, in: The Development of a Revolutionary Mentality. Library of Congress Symposium on the American Revolution, Washington, D . C . 1972, S. 127 ff. 1 4 Vgl . John Shy, A People Numerous and Armed: Reflections on the Military Struggle for American lndependence, New York 1 976; Ronald Hoffman/Peter J. Albert (Hrsg .), Arms and lndependence: The Military Character of the American Revolution, Charlottesville, Va. 1984; Ronald Hoffman u.a. (Hrsg.), An Uncivil War: The Southern Backcountry During the American Revolution, Charlottesville, Va. 1985; Don Higginbotham, The War of American Independence: Military Attitudes, Policies, and Practice, 1 763-1789, New York 1 97 1 ; Gerhard Kollmann, Reflections on the Army of the American Revolution, in: Erich Angermann u.a . . (Hrsg.), New Wine in Old Skins (Anm. 6), S. 153-176; Jürgen Heideking, Die demokrati­ sche Herausforderung: Revolution, Unabhängigkeitskrieg und Bundesstaatsgründung in Nordamerika, 1763-1 8 1 5 , in: Dieter Langewiesehe (Hrsg.), Revolution und Krieg, Paderborn!Münchenl Wien/Zürich 1 989,

s. 33-55 .

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wiesen dem Kongreß als der neuen Unionsregierung wichtige Gemeinschaftsaufgaben zu, enthielten ihm aber die Mittel vor, mit denen er diese Aufgaben unter den schwieri­ gen politischen und ökonomischen Bedingungen der Nachkriegszeit hätte erfüllen können. Speziell in Steuer- und Finanzfragen blieb der Kongreß auf den guten Willen der Einzelstaaten angewiesen, deren jährlich gewählte Parlamente zu den eigentlichen Machtzentren avancierten. Diese Abhängigkeit untergrub seine Autorität und drängte ihn ab 1 785 , als die Nachkriegsdepression voll einsetzte, an den Rand des Gesche­ hens . 15 Ideologisch wirkte der klassische Republikanismus , dessen Prinzipien und Maximen die Revolutionäre im Kampf gegen England hochgehalten hatten, als eine Barriere gegen nationalstaatliche Tendenzen. Das Ideal dieser Country-Ideologie war die kleine , überschaubare , ethnisch und interessenmäßig möglichst homogene Republik. Als Lebenselixier solcher Republiken hatte Montesquieu in seinem von den Amerikanern eifrig studierten Spirit of the Laws die Tugend (virtue) herausgestellt, womit er im Sinne des klassischen Altertums und der Renaissance die selbstlose Hingabe des Bürgers an den Staat und seine Opferbereitschaft für das Gesamtwohl meinte . 16 Die Patrioten hatten auch Montesquieus Rat befolgt, durch die Schaffung einer lockeren Konföderation die äußere Stärke eines Empire mit den inneren Vorzügen kleiner, freiheitlich-demokratischer Republiken zu vereinen. Konstituionelle Leitbilder der großen Mehrheit der Revolutionäre waren dann auch die Schweizer Eidgenossenschaft und die Vereinigten Niederlande im Unterschied zum britischen Empire und zu na­ tionalen Machtstaaten vom Schlage Frankreichs oder Preußens . Die Country-ldeologie trennte also zwischen (positivem, auf die Einzelstaaten bezogenen) Patriotismus und (gefährlichem, weil die Machtkonzentration fördernden) Nationalismus . Eine solche Weltsicht kam den in der Geschichte der Kolonien verwurzelten partikularen, auf die Pflege kleiner Gemeinschaften ausgerichteten Bestrebungen zugute. Unter diesen Umständen hielten sich auch negative Stereotypen der Kolonialzeit hartnäckig : Im Süden galten die Neuengländer allgemein als egoistisch, scheinheilig und ungesellig , während die Nordstaatler den Pflanzer-Aristokraten des Südens übermäßigen Alkohol­ genuß, Spielleidenschaft, Müßiggang und Gefühllosigkeit für die Leiden ihrer Sklaven nachsagten. 17

15 Vgl . Merrill Jensen, The Articles of Confederation: An Interpretation of the Social-Constitutional History of the American Revolution, 1774- 178 1 , Madison, Wisc. 71970; ders . , The New Nation: A History of the United States During the Confederation, 178 1 - 1789, New York 1950; Jack Rakove, The Beginnings of National Politics: An Interpretative History of the ContiDental Congress, New York 1979. Trotz der Begriffe .national" und .nation" in den Titeln machen gerade diese Werke deutlich, daß für den behaDdelten Zeitraum nur sehr eingeschränkt von einer .amerikanischen Nation" gesprochen werden kann . 16 Eine lebhafte, bis heute anhaltende wissenschaftliche Debatte über den Republikanismus-Begriff und das amerikaDisehe Republikanismus-Verständnis wurde ausgelöst durch die Werke von Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776- 1787, Chapel Hili, N . C . 1969, und J.G.A. Pocock, The Machia­ vellian Moment: FlorentiDe Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, N.J. 1 975. Zu den ideologischen und mentalitätsmäßigen Divergenzen nach 1783 siehe auch die Habilitationsschrift des Autors: Die Verfassung vor dem Richterstuhl . Vorgeschichte und RatifiZierung der amerikanischen Verfas­ sung, 1787- 179 1 , Berlin/New York 1988, v.a. S. 257-354. 17 Noch 1790 hieß es beispielsweise in einem neu-englischen Almanach, die Bürger North Carolinas verschwendeten ihre Zeit mit .drinking, idling, and gambling. Zit. nach Heideking, Verfassung vor dem Richterstuhl (Anm. 1 6) , S. 196. •

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Die Gountry-ldeoiogie war in sich nicht einheitlich, und sie hatte , etwa in der Hochschätzung der politischen Partizipation der Bürger, durchaus ihre positiven Seiten. Gemessen an den relativ fortgeschrittenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen in Nordamerika, wirkte sie jedoch wie eine rückwärtsgewandte Utopie . Sie behinderte die notwendige ökonomische Anpassung an die Bedingungen der Unabhän­ gigkeit, und sie bot der Bevölkerung kaum Identifikationsmöglichkeiten, die über die Grenzen ihres jeweiligen Staates hinausreichten. Wären die Amerikaner den Richtlinien und Glaubenssätzen des klassischen Republikanismus treu geblieben, hätten sie den Zusammenhalt und weiteren Ausbau der Union aufs Spiel gesetzt. Das Scheitern aller Versuche, mit Beschwörungen der Bürgertugend die Probleme der 1780er Jahre zu meistern, gab denjenigen Amerikanern Auftrieb, die sich - wie der junge und ehrgeizige New Yorker Anwalt Alexander Hamilton - schon seit längerem für eine . echte " nationale Regierung mit wirksamen Machtbefugnissen eingesetzt hatten. Ihr Drängen, dramatisch unterstützt durch agrarische Unruhen in mehreren Staaten der Union, führte zur Einberufung des Philadelphia-Konvents , der sich nicht mit der Revision der Articles of GonJederation zufriedengab , sondern von Mai bis September 1787 eine neue , wesentlich zentralistischere Verfassung ausarbeitete . Die Bundesregierung rückte nun von der Peripherie in den Mittelpunkt des konstitutionellen Gefüges, und sie erhielt die nötigen Kompetenzen, um als nationales Kraftzentrum fungieren zu können. Die Einzelstaaten büßten die Souveränität ein, die sie im System der Articles of GonJederation besessen hatten, blieben aber als handlungsfähige politi­ sche Einheiten erhalten. Hamiltons Idee, das Unionsterritorium in Provinzen auf­ zuteilen, die von der Zentrale aus gesteuert würden, hatte keine Aussicht auf Ver­ wirklichung . Auch in formaler Hinsicht zollten die Verfassungsväter dem Geist der Gountry-Ideologie Tribut: Sie vermieden den Begriff . national " , weil man ihn mit einem . konsolidierten Empire" verband, das laut Montesquieu nur monarchisch oder despotisch regiert werden konnte . An seine Stelle trat das Wort federal, das positivere Assoziationen weckte. Tatsächlich war die neue Verfassung , wie ihr geistiger Vater James Madison in der Ratifizierungsdebatte erläuterte, partly national and partly federa/. 18 Von der Debatte selbst, die sich bis in den Herbst 1 788 hinzog , ging eine . nationalisierende " Wirkung aus : Sie beschleunigte den Übergang von einem staaten­ zentrierten zu einem unionsweiten politischen Prozeß, der von nationalen Parteien und einer - in Regierungs- und Oppositionspresse artikulierten - nationalen öffentlichen Meinung getragen wurde . 19

18 Daß die .kontinentale Vision" erst allmählich breitenwirksam wurde, zeigen u.a. Merril1 Jensen, The Idea of a National Govemment During the American Revolution, in: Political Science Quarterly 58 ( 1 943), S . 356 ff. ; E . James Ferguson, The Nationalists of 178 1 -1783 and the Economic Interpretation of the Constitution, in: Journal of American History 56 ( 1 969), S . 24 1 ff. ; Lance Banning , The Practicable Sphere

of a Republic: James Madison, the Constitutional Convention, and the Emergence of Revolutionary Federa­ lism, in: R. Beeman u.a. (Hrsg. ) , Beyond Confederation (Anm. 1), S. 1 62- 1 87; ders . , James Madison and the Nationalists, 1780-1783, in: William and Mary Quarterly 40 (1983), S. 227-255; Drew R. McCoy, James Madison and Visions of American Nationality in the Confederation Period: A Regional Perspective, in: Beeman u . a . (Hrsg. ) , Beyond Confederation, S. 226-260. 1 9 Jürgen Heideking, Verfassungsgebung als politischer Prozeß : Ein neuer Blick auf die amerikanische Verfassungsdebatte der Jalire 1787- 179 1 , in: Historische Zeitschrift, Bd. 246 ( 1 988), S. 47-88; ders . , Die geschichtliche Bedeutung der amerikanischen Verfassungsdebatte von 1 787 bis 179 1 , in: Amerikastu­ dien/American Studies 34 (1989) , S. 33-48.

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Die erfolgreichen Federalists waren überzeugt, daß mit der Annahme und dem lokrafttreten der Verfassung eine neue Nation geboren sei und daß die Einleitungsfor­ mel We the people of the United States endgültig das amerikanische Volk konstituiert habe. Die großen Verfassungsfeiern des Jahres 1788, an denen sich vor allem die städtischen Mittel- und Unterschichten begeistert beteiligten - sie erwarteten von dem konstitutionellen Wandel handfeste wirtschaftliche Vorteile -, gerieten denn auch zu politisch-ästhetischen Inszenierungen des neuen Nationalbewußtseins . Hier liegen die Ursprünge der amerikanischen " Zivilreligion" , in deren Zentrum die Verehrung na­ tionaler Symbole wie Unabhängigkeitserklärung, Verfassung und Fahne rückten. Auch der Kult, der um die Person Washingtons als " Vater des Vaterlandes " getrieben wurde, diente ganz bewußt dem Zusammenhalt der "jungen" Nation. 20 Im Jahr darauf gelang es dem mehrheitlich federalistischen Bundeskongreß unter Führung von James Madison mit der Verabschiedung einer Grundrechteerklärung, die von den Country-Ideologen immer wieder angemahnt worden war, die gemäßigte Opposition auszusöhnen und in die neue Ordnung zu integrieren. Diese Bill of Rights, die in Form von zehn Zusatz­ artikeln (amendments) an die Verfassung angehängt wurde , erleichterte auch den beiden " Nachzüglerstaaten" North Carolina und Rhode Island den Beitritt zur UnionY Inspiriert von der Verfassungsgebung, fühlten sich auch die Geschichtsschreiber, Literaten und Pädagogen dazu berufen, das Nationalgefühl zu stärken und zu formen. Chronisten der Revolution wie Jeremy Belknap , David Ramsay , Mercy Otis Warren und der spätere Oberste Bundesrichter John Marshall stellten die Geschichte seit der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer aus nationaler Perspektive dar; s ie definierten einen amerikanischen Nationalcharakter, der ihren Lesern als Leitbild dienen und sie mit Selbstbewußtsein und Stolz erfüllen sollte . In dieser verweltlichten Variante der puritanischen Heilsgeschichte agierten die Amerikaner von Anbeginn als Vorkämpfer für politische Freiheit, religiöse Toleranz und soziale Gerechtigkeit. Zweihundert Jahre Kolonialgeschichte schienen geradewegs auf die Bundesverfassung von 1 787/88 hinzulaufen und sich in ihr zu vollenden. 22 Besondere Anstrengungen wurden auch auf dem Gebiet der Erziehung unternommen. Schon 1784 hatte der philadelphische Arzt und Sozialreformer Benjamin Rush geschrieben: " One general and uniform system of education will render the mass of the people more homogeneous and

20 Eine ausfilhrliche Beschreibung der Feste und eine Analyse ihrer Funktionen bei Heideking, Verfassung vor dem Richterstuhl (Anm. 16), S. 709 ff. Zur .civil religion" siehe auch Heinz Kleger/Alois Müller (Hrsg . ) , Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1 986; Hans Vorländer, Verfassungsverehrung in Amerika: Zum konstitutionellen Symbolismus in den USA, in: Amerikastu­ dien/American Studies 34 ( 1 989), S. 69-82, sowie Jürgen Gebhard, Amerikanismus - Politische Kultur und Zivilreligion in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1990), S. 3-18. Die zeitgenössische Washington-Verehrung ist dokumentiert in John P. Kaminski/J ill A. McCaughan, A Great and Good Man: George Washington in the Eyes of His Contemporaries, Madison, Wisc. 1 989. 21 Heideking, Verfassung vor dem Richterstuhl (Anm. 1 6), S. 789 ff. 22 Für Mercy Otis Warren gilt das allerdings nur mit Einschränkungen, da sie der neuen Verfassung ZIJilächst kritisch gegenüberstand. Vgl. Artbur H. Shaffer, The Politics of History: Writing the History of the American Recolution, 1783-1815, Chicago 1975; Lester H. Cohen, The Revolutionary Histories: Contempo­ rary Narratives of the American Revolution, lthaca, N. Y. 1980; Peter C. Hoffer, The Constitutional Crisis and the Rise of a Nationalistic View of History in America, 1786- 1 788, in: New York History 52 (197 1 ) , S . 305-323; Charles G. Seilers, The American Revolution: Southem Founders o f a National Tradition, in: Artbur S. Link!R.W. Patrick (Hrsg.), Writing Southem History: Essays in Historiography in Honor of Fleteher M. Green, Baton Rouge, La. 1965, S . 38 ff.

Einheit aus Vielfalt

111

thereby fit them more easily for uniform and peaceable government." Rushs Freund Noah Webster forderte 1790, jedes Kind müsse mit der Geschichte und den Gründervä­ tern der Nation vertraut gemacht werden: "As soon as he opensbis lips, he should rehearse the history ofbis country; he should lisp the praise of liberty and of those illustrious heroes and statesmen who have wrought a revolution inbis favor."23 Die für die nationale Identifikation grundlegenden Deutungsmuster und Symbole waren in der Verfassungsdebatte breitenwirksam erprobt worden und hatten eine quasi-religiöse Weihe erhalten. Der missionarische Eifer, mit dem die wenigen Intellektuellen diese civil religion verbreiteten, deutet aber auch darauf hin, daß sie sich der Bindung der breiten Masse an die Nation noch keineswegs sicher waren.

III. Die Ära der Federalists 1789-/801 Die Amerikaner akzeptierten die neue Verfassung erstaunlich schnell als gemeinsame Grundlage des politischen LebensY

Über ihre Interpretation im nationalstaat­

lieh-zentralistischen oder föderativen Sinne gingen die Meinungen aber bald weit auseinander. Der Triumph der Federalists, die mit George Washington und John Adams die beiden ersten Präsidenten stellten und beide Häuser des Kongresses kon­ trollierten, gab der nationalen Idee paradoxerweise keinen Auftrieb, sondern weckte starke Gegenkräfte. Das lag zum einen an der negativen Reaktion der führenden Federalists auf die Geschehnisse in Frankreich, die sich seit 1789 dramatisch zuspitz­ ten. Die Französische Revolution wurde von der großen Mehrheit der Amerikaner freudig begrüßt und lenkte ihre Emotionen in eine kosmopolitische Richtung ab. Rückblickend sah man in der eigenen Revolution nun den Auftakt zur weltweiten Ausbreitung von Vernunft, republikanischer Freiheit und Gleichheit. Bis zum Einsetzen des Terrors in Paris und zuweilen auch darüber hinaus fühlten sich viele Amerikaner als Weltbürger, die berufen waren, am zivilisatorischen Fortschritt und an einer neuen, staatenübergreifenden Ordnung des Rechts mitzubauen. Der Nationalstaat schien, wie es schon Thomas Paine vorausgesagt hatte, nur ein Übergangsstadium zur weltumspan­ nenden Konföderation zu sein.25 Während also die Französische Revolution - zumindest in ihrer Frühphase Universalistische Denkweisen und Überzeugungen auf Kosten der nationalen Idee stärkte, entfaltete auf der anderen Seite das Wirtschaftsprogramm, das Alexander

23

Zit. nach Shaffer, Politics of History (Anm. 22), S. 27 f., 41. In einen größeren historischen

Zusammenhang stellt diese Phänomene Michael G. Kammen, A Machine that Wou1d Go of Itself. The Constitution in American Cu1ture, New York 1987; ders., Mystic Chords of Memory, The Transformation of Tradition in American Culture, New York 1991. 24

Darauf verweisen

zu

Recht u.a. Lance Banning, Republican ldeology and the Triumph of the Con­

stitution, 1789-1793, in: William and Mary Quarterly 31 (1974), S. 167-188; Michael Lienesch, The Constitutional Tradition: History, Po1itical Action, and Progress in American Political Thought, 1787-1793, in: Journal of Politics 42 (1980), S. 3-30. 25

Zu den Wahrnehmungsmustern und wechselseitigen Einflüssen vgl. Patrice Higonnet, Sister Republics:

The Origins ofFrench and American Republicanism, Cambridge, Mass.!London 1988; Peter P. Hili, French Perceptions of the Early American Republic, 1783-1793, Philadelphia 1988; Jürgen Heideking, Amerikani­ sche Einflüsse und Reaktionen auf die Französische Revolution, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die Französische Revolution und Europa, 1789-1799, Saarbrücken 1989, S. 117-127.

Einheit aus Vielfalt

113

Rarnilton in der ersten Amtszeit Washingtons durchsetzte, ambivalente psychologische Wirkungen. Rarnilton ging es nicht nur um die ökonomisch notwendige und von den meisten seiner Landsleute befürwortete Schaffung eines einheitlichen amerikanischen Binnenmarktes und die Konsolidierung der Staatsfinanzen. Im letzten wollte er die immer noch locker gefügte Union in einen zentralisierten Nationalstaat mit einer "richtigen" Hauptstadt - selbstverständlich Washington genannt - umformen. Dabei orientierte er sich ganz eindeutig an England, das seiner Meinung nach wirtschaftliche Dynamik und gesellschaftliche Stabilität vorbildlich miteinander verband. 26 Der Versuch einer Imitation Großbritanniens, das für viele Amerikaner den Widerstand gegen die Werte und Errungenschaften des Revolutionszeitalters versinnbildlichte, war aber nach dem Urteil des Historikers Gordon S. Wood "a sheer act of will in the face of contrary social developments."27 Rarnilton wie auch Washingtons Nachfolger John Adams fürchteten die egalitären Tendenzen, die in der Kolonialgesellschaft bereits angelegt waren und die durch die Revolutionen in Amerika und Europa weiteren Auftrieb erhalten hatten. Das hinderte sie daran, die ideologische und emotionale Bindekraft des Nationalbewußtseins für ihre Zwecke auszunützen. Ihrer Auffassung nach konnte der Staat allein durch die Fähigkeiten und Interessen der besitzenden und gebildeten Elite - John Adams nannte sie die

natural aristocracy - zusammengehalten

werden. Das Volk spielte in diesem Konzept eine nebengeordnete Rolle, es blieb Objekt der Politik. Die Erfahrung des Abgleitens der Französischen Revolution in Anarchie und Terror steigerte diese distanzierte Haltung der

Federalists bis hin zur

Furcht vor einer Herrschaft des amerikanischen "Pöbels". Der Versuch, gegen die öffentliche Meinung anzuregieren, mußte jedoch zwangsläufig in die politische Isola­ tion und zum Machtverlust führen.28 Anstatt Harmonie und sozialen Frieden zu fördern, löste Rarniltons Kurs einen heftigen Parteienstreit aus, der sogar die Gefahr des Zerfalls der Union herauf­ beschwor. Die oppositionellen Republicans, die ab 1792/93 in Thomas Jefferson und James Madison fähige Führer fanden, begegneten den

Federalists mit einem geschlos­

senen, publikumswirksamen Programm: das "amerikanische Experiment" der prakti­ schen Verwirklichung aufklärerischer Ideen und Prinzipien müsse weitergeführt und die Verfassung gegen die Umtriebe einer monarchistischen Clique geschützt werden; auf dem Spiel stehe nicht mehr und nicht weniger als der demokratisch-republikanische Charakter des amerikanischen Staatswesens. 29 Symbolischen Ausdruck fand der Kon26

Das klingt schon in seinen Beiträgen zu den "Federalist Papers" an, die er 1 787/88 mit John Jay und

Jarnes Madison verfaßte: Jacob E. Cooke (Hrsg.), The Federalist, Middletown, Conn. 1961 . Den ökono­ mischen Nationalismus der Federalists betonen Curtis P.Nettels, The Ernergence of aNational Econorny, 1775-1 81 5, New York 1 962; Margit Mayer, Die Entstehung des Nationalstaates in Nordarnerika, Frankfurt/Main/New York 1 979. Die politischen Ideen Barniltons und der .Harniltonians" untersuchen u.a. Gerald Stourzh, Alexander Barnilton and the Idea of Republican Governrnent, Stanford, Ca!. 1970; Janet A. Riesrnan, Money, Credit, tion

(Anrn.

and Federalist Political

Econorny, in: R. Beernan u.a. (Hrsg.), Beyond Confedera­

1 ), S. 1 28-161.

21 In B. Baylin u.a. (Hrsg.), The Great Republic

(Anrn.

6), S. 341 f.

28 Der PublizistNoah Webster, der selbst lange Zeit auf Seiten der Federalists gekämpft hatte, warf ihnen

rückblickend vor, sie hätten versucht, "to resist the force of public opinion, instead of falling into the current with a view to direct it." Zit. nach B. Bailyn u.a., The Great Republic

(Anrn.

6), S. 352.

29 Vgl. Eugene P. Link, Dernocratic-Republican Societies, 1 790-1800, New York 21965; John R. Howe,

Republican Thought and

the

Political Violence of the 1790s, in: Arnerican Quarterly 19 (1967), S. 147-165;

Steward Andrews, Jefferson and the French Revolution, in: History Today 1 8 (1 968), S. 299-306; Donald

III. Nation

114

·

Jürgen Heideking

flikt in den Feierlichkeiten der jungen Republik: Während die

Federalists mit großem Republicans

Pomp den Geburtstag Washingtons am 22. Februar begingen, fanden die

nur wenig Gefallen an solchen "monarchischen" Ritualen, sondern wandten sich mit ebenso großer emotionaler Hingabe der Feier der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli hin. 30 Die Verabschiedung der

Alien and Sedition Acts, mit denen die regierenden Federalists 1798 die Meinungs- und Pressefreiheit einschränkten, machte ihre innen­ politischen Gegner keineswegs mundtot, sondern lieferte ihnen nur noch zusätzliche

Propagandamunition. 31 In den Südstaaten, wo die republikanische Opposition am stärksten war, wurde bereits offen erörtert, ob man der Bundesregierung den Gehorsam aufkündigen sollte. Nur durch die Wahl des Virginiers Jefferson zum dritten Prä­ sidenten der Vereinigten Staaten wurde eine schwere Staatskrise abgewendet. 32 Gerade weil die innenpolitischen Gräben unüberbrückbar tief aufgerissen schienen, wurde die friedliche Übertragung der Macht von den Federalists auf die Republicans im Jahr 1801 als ein weiterer bemerkenswerter Akt im Drama der Amerikanischen Revolution empfunden. 33

IV. Die Republicans an der Macht, 1801-1825 Unmittelbar nach seiner Amtseinführung, die erstmals in der neu gegründeten Haupt­ stadt Washington stattfand, machte Jefferson seine Ankündigung wahr, den Einfluß der Bundesregierung zugunsten der Staaten drastisch zu reduzieren. Die Folge war eine weitere Diffusion der Macht und die Fraktionierung des Parteienwesens. Andererseits eröffnete Jefferson seinen Landsleuten 1803 durch den Kauf des riesigen Louisia­ na-Territoriums von Frankreich die Möglichkeit, den Traum eines nach Westen vor­ anschreitenden, überwiegend agrarischen Empire Freiheitsreich sollte nach Auffassung der

of Liberty zu verwirklichen. Dieses Republicans nicht durch bundesstaatliche

Autorität oder Interessenpolitik zusammengehalten werden, sondern durch den Glauben der Bürger an die sakrosankten Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung, der Verfas­ sung und der

Bill of Rights. Jefferson baute damit auf die Kraft einer Idee, "which is

tending to unite the people in object and will. "34 Das gewandelte Staats- und Regie­ rungsverständnis trug dem fortschreitenden Prozeß der Individualisierung und Demo­ kratisierung der amerikanischen Gesellschaft Rechnung. In dieser Gesellschaft gaben

H. Stewart, The Opposition Press of the Federalist Period, Albany, N.Y. 1969. 30 Sirnon P. Newman, Principles or Men? George Washington and the Political Culture of National

Leadership, 1776-1801, in: Journal of the Early Republic 12 (1992), S. 477-507. 31 In eine historische Perspektive stellt den Kampf um die .Alien and Sedition Acts" Leonard W. Levy,

The Emergence of a Free Press, New York 1 984. 32 Auf Betreiben von Jefferson und Madison verabschiedeten die Parlamente Virginias und Kentuckys

Resolutionen, die den Einzelstaaten ein Vetorecht gegen Maßnahmen der Bundesregierung einräumten. Zur Interpretation des Gesamtzeitraums siehe Richard Buel, Jr., Securing the Revolution: Ideology in American Politics, 1789-1815, Ithaca, N.Y. 1972. 33 Vgl. Dumas Malone, Jefferson and His Time. Bd.4: Jefferson the President. First Term, 1801-1805,

Boston 1970, S.3 ff.;

Alf

J. Mapp, Thomas Jefferson: A Strange Case of Mistaken Identity, New York/

Lanham, Md/London 1987, S. 345 ff. 34 Zit. nach Bailyn u.a., The Great Republic (Anm. 6), S. 371.

115

Einheit aus Vielfalt

die

seljmade-men den Ton an, die ihrem privaten Besitzstreben freien Lauf lassen durf­

ten, solange sie sich im Rahmen des Rechts und der Verfassung bewegten. Die Amerikaner gaben sich nun auch große Mühe, ihre kulturelle Abhängigkeit von Buropa zu überwinden und einen eigenständigen literarischen und künstlerischen Stil zu entwickeln. Pionierarbeit leisteten Jedidiah Morse,

der den amerikanischen

Schulkindern Geographiebücher an die Hand gab, die von den "aristokratischen Ideen" Englands gereinigt waren, und Noah Webster, dessen Wörterbücher einen neuen nationalen Sprach- und Ausdrucksstandard setzten. Eine wachsende Zahl amerika­ nischer Autoren versuchte sich in der Produktion dessen, was sie

native Iiterature

nannten. So beabsichtigte der Neuengländer Joel Barlow mit seinem 1807 veröffentlich­ ten Versepos "The Columbiad", den spezifischen Charakter der amerikanischen Zivilisation

zu

verdeutlichen, und der New Yorker Washington Irving beschrieb in

satirischen Geschichten und Fabeln die Gesellschaft der "Neuen Welt". Der Maler lohn Singleton Copley porträtierte die Helden der Revolutionsepoche, und sein Kollege Charles Willson Peale half, die "Pennsylvania Academy of the Fine Arts" zu grün­ den. 35 All diese Anstrengungen konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Amerikaner im Bereich der "hohen Kunst" noch weitgehend europäischen Vorbildern und Einflüssen verhaftet blieben. Nach 1800 breitete sich jedoch eine genuin amerika­ nische

popular art aus, die in Form und Technik einfach, zuweilen primitiv und direkt

war, die aber ihr Massenpublikum fand. Ihre Schöpfer waren weniger vom Streben nach Originalität und hohem künstlerischen Niveau beseelt, als von dem Wunsch, das Volk zu unterhalten (und dabei auch einigermaßen gut zu verdienen). Hier liegen die Ursprünge dessen, was die Europäer bald herablassend "Massenkultur" nennen sollten. In dieser abschätzigen Bewertung schwangen natürlich stets auch Vorbehalte gegen die amerikanische Form der Demokratie mit. Andererseits zeigte gerade die Kritik, daß der Prozeß der kulturellen Emanzipation von Buropa in Gang gekommen war. 36 Vor dem Hintergrund der atheistischen Exzesse in Frankreich, die viele Amerikaner der Hoffnung eines universalen Fortschrittsprozesses beraubten, nahm das Christentum einen neuen Aufschwung. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts zog eine religiöse Erweck­ ungsbewegung, das an der

Second Great Awakening weite Bevölkerungskreise insbesondere Frontier in ihren Bann. Sie brachte zwar zahlreiche neue kirchliche Gemein­

schaften hervor, doch alle diese Gruppen betrachteten sich als Teil des von Gott erwählten Volkes und der amerikanischen Nation. Die Religion wurde popularisiert und mit der republikanischen Weltanschauung verschmolzen. Was die Verfassung in politischer Hinsicht leistete, das erfüllte das evangelikale Christentum im sozialen Bereich: Es fungierte als Bindemittel, als Ersatz für die fehlende ethnische und inter­ essenmäßige Homogenität der Einwanderergesellschaft Konflikt und Konsens bildeten die beiden Seiten einer Medaille: Das Einvernehmen in konstitutionellen und weit-

35 Einen Gesamtaberblick gibt Russe! B. Nye, The Cultural Life of the New Nation, 1776-1830, New

York 1960. Die Zeit bis zum Amtsantritt Washingtons behandelt Kenneth Silverman, A Cultural History of tbe American Revolution, New York 1976. Die Darstellung einer repräsentativen Persönlichkeit des Kulturlebens unternimmt Charles G. Seilers, Charles Willson Peale,

2 Bde.,

Hebron, Conn./Philadelphia

1939/47. 36 Vgl. Gordon S. Woods Ausführungen über die "popularization of American culture" in: Bailyn u.a.,

The Great Republic (Anm. 6), S. 410-421.

111.

116

Nation

·

Jürgen Heideking

moralischer Konflikte, ohne die Gesellschaft zu atomisieren und ins Chaos zu stürzen. Auf diese Weise entstanden eine pluralistische politische Kultur und ein religiös fun­ diertes Nationalbewußtsein, wie sie die westliche Welt bis dahin nicht gekannt hatte. 37 Der nationale Konsens mußte sich im Krieg gegen England bewähren, den die Amerikaner 1812 ohne himeichende militärische Vorbereitungen, aber mit einem ge­ radezu religiösen Eifer begannen. 38 Den Anlaß lieferten die britischen Blockadeprak­ tiken im Kampf gegen Napoleon, vor allem das "Matrosenpressen", das den Stolz der Amerikaner verletzte, und die weite Auslegung des Begriffs "Kontrabande", die den Handel der neutralen Vereinigten Staaten mit dem europäischen Festland schädigte. In erster Linie betrachteten die Amerikaner die Auseinandersetzung mit der monarchi­ schen Hauptmacht England aber als Gelegenheit, sich endgültig aus postkolonialen wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu befreien und sich der eigenen Identität zu versi­ chern. Andrew Jackson, der

zum

Kriegshelden und später zum Präsidenten avancierte,

faßte dieses Bedürfnis in die Worte: "We are going to fight for the re-establishment of our national character. "39 Der Kriegsverlauf entsprach zwar keineswegs den hochgesteckten Erwartungen. Wie schon während des Unabhängigkeitskrieges mißlang die Einverleibung Kanadas, dessen Bevölkerung inzwischen ein ausgeprägtes Sonderbewußtsein entwickelt hatte und sich keineswegs vom "britischen Joch" befreien lassen wollte. Die Amerikaner mußten sogar erleben, daß ein britisches Flottengeschwader bis Washington vordrang und die Stadt in Brand setzte. Die Abwehr eines ähnlichen Angriffs auf Baltimore, die den Dichter Francis Scott Key zur Verherrlichung des

Star-Spangled Banner beflügelte,

und Andrew Jacksons Sieg bei New Orleans machten diese Schmach im Bewußtsein der Amerikaner aber mehr als wett. Solche Erfolge ließen auch die neuenglischen Federa­ lists verstummen, die aus Protest gegen Madisons Kriegskurs wiederholt mit Sezession gedroht hatten. 40 Obgleich der 1814 vereinbarte Friede von Gent lediglich die Rückkehr zum Status quo ante erbrachte, wurde er in den Vereinigten Staaten mit nationalem Überschwang gefeiert. Wichtiger als die Aufnahme in den Kreis der Großmächte war den Amerika­ nern offenkundig, daß sie sich endlich vom ehemaligen Mutterland und darüber hinaus von ganz Buropa "abgenabelt" hatten. In bewußter Distanz zur "Alten Welt" sahen sie

37 Die Bedeutung der Religion

für

die Identitätstindung untersuchen u. a. Stephen Botein, Religious

Dimensions of the Early American State, in: R. Beeman u. a. (Hrsg. ), Beyond Confederation 315-332; Nathan 0. Hatch,

In

(Anm.

1), S.

Pursuit of Religions Freedom: Church, State, and People in the New Republic,

in: Jack P. Greene (Hrsg. ), The American Revolution:

lts

Character and Limits, New York/London 1987,

S. 338-406; Patricia U. Bonomi, Religion in the Aftermath of the American Revolution, ebd. , S. 407-412; S. 412 wird Tocquevilles Beobachtung vom Beginn der 1830er Jahre zitiert, wonach es kein Land auf der ganzen Welt gebe, "where the Christian religion retains a greater influence over the souls of men than in America". 31

J.C.A. Stagg, Mr. Madison's War: Politics, Diplomacy, and Warfare in

the

Early Republic,

1783-1830, Princeton, N. J. 1983; Reginald Horsman, The Diplomacy of the New Republic, 1776-1815, Arlington Heights, Ill. 1985. 39 Zit. nach Bailyn u. a. , The Great Republic 40

In Neuengland, das

(Anm.

6), S. 383.

eine Hochburg der Federalists blieb,

hatten

sich seit Jeffersons Amtsantritt immer

wieder separatistische Bestrebungen englandfreundlicher Kräfte bemerkbar gemacht: vgl. David Hackett Fischer, The Revolution of American Conservatism: The Federalist Party in the Era of Jeffersonian Demo­ cracy, New York 1965; James M. Banner Jr. , To the Hartford Convention: The Federalists and the Origins ofParty Politics in Massachusetts, 1789-1815, New York 1970.

Einheit aus Vielfalt

117

Amerikas Größe nun in der Teilhabe des ganzen Volkes - das Schicksal der Sklaven und der Indianer wurde weitgehend verdrängt - an den materiellen und geistigen Früchten der Zivilisation. Sie vertrauten darauf, daß republikanische Tugend und christlicher Glaube, die Gemeinschaftsgeist stifteten und Reformeifer verbreiteten, das individuelle Besitzstreben in Schranken halten würden. In der

Era of Good Feeling, die 1817 mit dem Amtsantritt von Präsident James

Monroe begann, fand die Suche nach nationaler Identität ihren vorläufigen Abschluß. Die Widersprüche zwischen Staat, Volk und Nation schienen aufgehoben. Gemeinsam feierten die Amerikaner den Erfolg der Revolution und die Einzigartigkeit der Gesell­ schaft, die aus ihr hervorgegangen war. Sie benötigten keine fremden Vorbilder und Modelle mehr, sondern durften hoffen, daß sich in Zukunft andere Völker ein Beispiel an der politischen Kultur und am konstitutionellen System der Vereinigten Staaten nehmen würden. Schon die zweite Amtsperiode Monroes erinnerte aber wieder daran, auf welch prekären Fundamenten der amerikanische Nationalstaat ruhte. Nur mühsam konnte das aus Verfassungsgläubigkeit und evangelikalem Protestantismus gespeiste Nationalbewußtsein von da an die Schwäche der bundesstaatliehen Institutionen, den durch die Sklavereiproblematik verschärften Interessengegensatz zwischen Nord- und Südstaaten und die Abspaltungstendenzen an der

Frontier ausgleichen. Als die zen­

trifugalen Kräfte in den 1850er Jahren schließlich die Oberhand gewannen, war ein blutiger Bürgerkrieg die unvermeidliche Folge. In diesem Krieg ging es nicht nur um die Wiederherstellung der Union, sondern im tieferen Sinne um die Erneuerung der nationalen Identität, die zunehmend von der Spannung zwischen Freiheitsverheißung und Sklavereipraxis deformiert worden war.41

41 Vgl. dazu den wegweisenden Essay von Erich Angermann, Abraham Lincoln und die Erneuerung der

nationalen Identität der Vereinigten Staaten von Amerika, München 1984.

Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken)

Die Genese der "Grande Nation". Vom Soldat-Citoyen zur Idee des Empire

I. Die martialische Nation Es mag wie eine doppelte Entgleisung der Geschichte anmuten, daß die moderne deutsche wie die französische Nation in ihren mentalen und symbolischen Grund­ strukturen entscheidend vom Krieg geprägt wurden: auf deutscher Seite von der Erfahrung der Befreiungskriege gegen das napoleonische Imperium in den Jahren 1807-1814 und, auf französischer Seite, von den Revolutionskriegen der Jahre 1792-1795, die ihre fast nahtlose Fortsetzung in den Koalitionskriegen des Directoire und der militärischen Expansion der napoleonischen Zeit finden sollten. Von der

Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 1813 bis zur Einweihung der Walhalla an der Donau am 18. Oktober 1842 zieht sich das Bestreben, die nationale Identität der Deutschen in einer martialischen Symbolik zu begründen. Die Reden, Gedichte und Lieder zur Erinnerung an die für die deutsche Seite siegreiche Völkerschlacht bei Leipzig sind von Waffengeklirr und martialischem Pathos geprägt, wie etwa das folgende Lied, das bei der Gedächtnisfeier der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. und 19. Oktober 1814 gesungen wurde: Viele tausend ruhmgekrönte Söhne sanken hin, zur Tilgung unserer Noth; Weinet, Brüder! eine Dankesthräne und beneidet ihren Heldentod. Sagt den Enkeln, daß dergleichen Werke Die bei Leipzig jenes Heer gethan, Teutschlands Heer, vereint es seine Stärke, Jeden Augenblick verrichten kann.1

In der Walhalla findet diese martialische Symbolik nicht nur durch die Wahl des Ein­ weihungsdarums ihren Ausdruck, sondern auch durch die Tatsache, daß Hermann der Cherusker, der "Römerbesieger", die Reihe der geehrten "Großen Deutschen" eröff­ net. "Er fiel durch Teutsche. Sein Ruhm währt ewig", so lautete König Ludwigs I. von Bayern zeitgenössische Würdigung Hermanns. Ernst Moritz Arndt, der zweifellos einflußreichste Dichter der Befreiungskriege, sah den Krieg gegen Napoleon als Akt

1 Teutsche auf dem Feldberge bei der Gedächtnisfeier der Völkerschlacht bei Leipzig am 18.

und

19.

Oktober 1814, in: Karl Hoffmann (Hrsg. ), Des Teutschen Volkes feuriger Dank- und Ehrentempel oder Beschreibung, wie

das

aus zwanzigjähriger französischer Sklaverei durch Fürsten-Eintracht und Volkskraft

gerettete Teutsche Volk die Tage der entscheidenden Völker- und Rettungsschlacht bei Leipzig am 18. 19. Oktober 1814 erstenmals gefeiert hat, Offenbach 1816, S. 47-49, hier S. 48.

und

Die Genese der .Grande Nation"

119

kollektiven nationalen Widerstands und zugleich als katalysatorisches Mittel, um dem verweichlichten Körper der deutschen Nation zu männlicher Tatkraft zu verhelfen. Kriege müßten sein, so schrieb etwa Arndt in seiner 1810 erschienenen "Friedens­ predigt", "weil wir sonst in Nichtigkeit, Weichlichkeit und Faulheit einschlafen wür­ den"2. Und in dezidierter, polemischer Distanznahme vor allem zu Jean Paul, der in seinen "Dämmerungen für Deutschland" mit der Notwendigkeit nationaler Kriege und nationaler Helden auch die Idealisierung von Vaterland und Nation in Frage gestellt hatte, betonte Arndt die untrennbare Verknüpfung von nationaler Gemeinschaft und kriegerischem Heroismus: "Wir haben uns durch eine schlechte Lehre einer empfind­ samen Humanität und eines philanthropischen Kosmopolitismus (wie man mit vorneh­ men fremden Worten das Elendige nennt) einwiegen und betören lassen, daß Kriegs­ ruhm wenig, daß Tapferkeit zu kühn, daß Männlichkeit trotzig und Festigkeit be­ schwerlich sei; halbe Faulheiten und weibische Tugenden sind von uns allen als die höchsten Lebensbilder ausgestellt: deswegen sehen wir nach jenem ersten vergebens aus."3 Eine in seinen Grundstrukturen sehr ähnliche mentale Vorstellung der Nation, die in den Gegensätzen von Nationalismus und Kosmopolitismus, von Verweichlichung und kriegerischer Vitalität gründet, läßt sich bereits 15 Jahre zuvor im Frankreich der Französischen Revolution nachweisen: Die Selbstdarstellung Frankreichs als kriege­ risch-glorreiche Nation durchzieht die Revolutionskriege, in denen bereits 1792 der Identitätsbegriff der Grande Nation entstand und deren Selbstverständnis zugleich expansionistisch, kriegerisch und von einem tiefgreifenden demokratischen Missiona­ rismus geprägt war. So feierten die Mitglieder des Aachener Jakobinerklubs in einem Schreiben an den französischen Kommissar Ruller am 14. Januar 1798 die Eroberung der linksrheinischen Gebiete als Vereinigung (reunion) mit der GrandeNation Frank­ reich, derengenieüber den Ufern des Rheines schwebe. 4 Lange vor der borrapartisti­ schen Integrationsstiftung, die "vollends im Zeichen der national-imperialen Macht­ expansion"5 stand, verankerte bereits das revolutionäre Frankreich der Jahre 1789-1799 einen wichtigen, entscheidenden Bereich seiner nationalen Identität in kriegerischen Symbolen, Begriffen und Identifikationsfiguren. Michel Vovelle hat in seinen Studien über das Heldenbild der Revolution dessen zunehmende Militarisierung unterstrichen, die spätestens seit dem Sturz Maximilien Robespierres die Dominanz der Heroisierung militärischer Führer zur Folge gehabt habe - der Generäle Hoche, Marceau, Pichegru,

2 Zit. nach Rolf Siebmann, Dichter-Denkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein,

Stuttgart 1988, S. 55. 3 Ernst Moritz Amdt, Friedenspredigt, o. O. 1810, o.S. Vgl. zum Verhältnis Amdt - Jean Paul auch:

Günter de Bruyn, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1978, S. 289-305; vgl. jetzt zu Amdt: Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feind­ begriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich, 1792-1918, Sprache und Geschichte, Bd. 19, Stuttgart 1992, insb. S. 29-31, 51-59. 4 Adresse du Cercle de Ia Reunion d'Aix-la-Chapelle, 14-1-1798. Zit. nach Jacques Godechot,

Nation. L'expansion revolutionnaire de Ia France dans Je monde de 1789

ä

La Grande

1799, Paris 21956, S. 269: . Les

rues de Ia Roer retentissent aujourd'hui des cris d'alh!gresse du peuple reuni

ä

Ia Grande Nation. Deja Je

genie de Ia France plane sur Je bord du Rhin et inscrit dans ses fastes !es nouveaux defenseurs sur Iesquels, desormais, Ia Republique pourra compter. " ' Elisabeth Fehrenbach, Artikel "Nation", in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680-1820, hrsg. von Rolf Reichardt/Eberhard Schmitt, München 1986, Heft 7, S. 75-107, hier S. 104.

III. Nation

120

·

Hans-Jürgen Lüsebrink

Kleber und Joubert sowie der Person Napoleon Bonapartes selbst, "letzter Ausdruck", so Vovelle, und zugleich "Negation des revolutionären Helden" .6 Doch die enge Verknüpfung von Krieg und Nation, von kriegerischem Heldentum und Nationalismus, die in Napoleons imperialen Expansionsträumen und in Arndts Apologetik vom nationalen Nutzen des Krieges kulminiert, scheint, bei näherem Hinse­ hen, einen genuinen Bestandteil des revolutionären Selbstverständnisses in Frankreich nicht erst seit

1792 - dem ersten Jahr des weitgehend von außen aufgezwungenen

vaterländischen Krieges -, sondern bereits seit 1789 zu bilden. 7 Marie-Jeanne Roland, die Frau des girondistischen Abgeordneten Roland und begeisterte Leserin Rousseaus, Raynals und Servans, dessen vorrevolutionäre Schrift "Le Citoyen Soldat" ( "Der Bürger als Soldat") sie in ihren Memoiren erwähnt, sah in der revolutionären Politisie­ rung des Jahres 1789 zugleich eine - aus ihrer Sicht positive - Militarisierung des öffentlichen Raumes: "eifrige und kampfbereite Männer"8 betrachtet sie als Vorhut der Revolution, die Umwälzungen des Sommers und Herbstes 1789 in einem Brief vom 6. /7. Oktober als Resultat männlichen Mutes und kriegerischer Entschlossenheit: "Der Despotismus hat seine Maske gelüftet. Die Nation ist rührig geworden. Die wohlmei­ nenden Leute müssen sich zusammentun, ihr enges Bündnis soll zum Schrecken der bösartigen werden! Mut und Waffen, das ist schon zu spüren, aber das genügt noch nicht. "9 Diese Darstellung des revolutionären Frankreich als einer kriegerischen, wehrhaften Nation stellt - wie auch Pierre Retat nachweisen konnte - eines der heraus­ ragenden kollektiven Identitätsmuster der französischen Presse bereits des Jahres 1789 dar. So sah Audouin, der Herausgeber der Zeitung "Journal Universel", in einem Artikel vom 29. Dezember 1789, die nationale Befreiung der Völker Europas un­ trennbar verknüpft mit kriegerischer Zerstörung und Blutvergießen, "prix que les peuples de l'Europe devront payer pour acceder a Ia liberte, et !es Fran�ais peut-etre pour Ia conserver. "10 Die halboffizielle Zeitung "Le Moniteur" verwendete am 30. Dezember 1789 die Metapher des elektrischen Schlages, um der Vision einer gewaltsa­ men, kriegerischen Befreiung Deutschlands Ausdruck zu verleihen, die wie ein Funke

(etincelle electrique) vom revolutionären Frankreich auf die schlaffen Glieder (membres epars) des Reichskörpers überspringen werde.U Am 26. Oktober 1789 forderte ein

6 Michel Vovelle, Die Französische Revolution - Soziale Bewegung

München 1982,

Kap

.



und

Umbruch der Mentalitäten,

Vom Kämpfer zum Helden: der revolutionäre Mensch", S. 116-125, hier S. 124-125;

ders., Heroisation et Revolution:

La

fabrication des hCros sous Ia Revolution Francaise, in: Le Mythe du

Heros. Actes du Colloque lnterdisciplinaire. Centre Aixois de Recherehes Anglaises, 12-13-14 Mars 1982, Aix-en-Provence 1982, S. 215-234. 7 Vgl. zum folgenden Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt, Die .Bastille". Zur Symbolgeschichte von

Herrschaft

und

Freiheit, Frankfurt a.M. 1990, vor allem Kap. "Die neuen Helden: Rollenbild

und

Selbst­

inszenierung der Bastillestürmer•, sowie Pierre Retat, Aux armes, citoyens! 1789 ou l'apprentissage de Ia guerre, in: Commentaire, vol. 4, no. 42 (e!C 1988), S. 526-533, u.a. seine Eingangsthese: .Des 1789 se formen! les grandes representations de Ia nation dont l'Europe, jusqu'a Ia Seconde Guerre mondiale, s'est mortellement enivree."

8 Manon Roland, Memoiren

ausgewählt

und

und

Korrespondenzen. Mit zeitgenössischen Porträts. Hrsg., übers.,

mit einem Nachwort versehen von Rudolf Noack, Leipzig/Weimar 1988, S. 131.

9 Ebd., S. 317 (Brief an Bosc, Paris). 10 11

Zit. nach Retat

(Anm.

7),

s.

529.

Gazette Nationale, ou le Moniteur Universel, n• 37 (30 decembre 1789): "L'Empire veut-il voir ses

Iegions de barbares se dissoudre et ses soldalS devenir citoyens? [ ...] Veut-il voir Ia liberte, qu'il redoute,

parcourir comme l'etincelle electrique ses membres epars? [ ...] Qu'il touche a nos frontieres. [ ...]: alors les

121

Die Genese der .Grande Nation"

Leser der Tageszeitung "Chronique de Paris" mit Nachdruck eine neue "Hymne an die Freiheit"

(un hymne a la liberte), die zugleich als Nationalhymne (l'air national) und (marche de nos troupes) dienen und zudem bei allen Nationalfesten (fetes nationales) von Soldatenchören gesungen werden solle. 12 als "Marschlied unserer Truppen"

Auch in nahezu allen Plänen zukünftiger Nationalfeste sowie in der Semiotik ihrer ersten Realisierungen spielten militärische Elemente von Beginn an eine wichtige, zum Teil eine zentrale Rolle. So schlug der Redakteur der Zeitung "Le Veridique" am 10. August 1789 vor, jeden Sonntag in ganz Frankreich martialische Feste

(Jetes martiales)

zu veranstalten, in denen Wettkämpfe und simulierte Schlachten im Mittelpunkt stehen, der Wehrertüchtigung der männlichen Jugend dienen und diese zu "Millionen diszipli­ nierter Soldaten" umformen sollte

(en millions de soldats disciplines): "et toujours",

so die idyllische Vorstellung des Redakteurs, "l'allegresse terminerait ces fetes martia­ les: ainsi Ia nation entiere serait aguerrie sans perte de temps"13• Die Semiotik des herausragenden französischen Nationalfestes, der Feierlichkeiten zum Gedenken an den Bastillesturm, wies von Beginn an jene Verbindung von populärer Ausgelassenheit, von Tanz und Trinkgelagen einerseits und martialischem Patriotismus andererseits auf, die in ihrer Grundstruktur bis heute den 14 Juillet charakterisiert. So schilderte ein zeitge­ nössischer Bericht, daß am 14. Juli 1790 - zum ersten Jahrestag des Bastillesturms zunächst Militärparaden auf dem Marsfeld stattgefunden hätten und anschließend, auf den Champs-Elysees und parallel hierzu auf den Ruinen der Bastille, ein Volksfest mit Musik, frugalem Bankett, Rotwein und Tanz. Der anonym erschienene "Recit Exact de Ia Fete Nationale qui a eu lieu hier" schließt mit zwei Vorschlägen, durch die nach Ansicht des Verfassers die nationale und patriotische Dimension des Festes noch stärker und wirkungsvoller hätte unterstrichen werden können: Er schlägt vor, auf dem Bastilleplatz, der nunmehr durch Tanz und ausgelassene Freude gereinigt worden sei

(purifiee par nos danses, notre joie, nos actions de graces14), das neue Gebäude der Nationalversammlung zu errichten;15 und dann unterbreitet er den Vorschlag, den Helden des 14. Juli, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten, um für alle die Freiheit zu erobern

(qui ont expose leurs jours pour acquerir la liberte), militärische Ehren zu

erweisen und ihnen eine Mauerkrone als Ehrenzeichen zu verleihen. Der Bastillesturm, in Festen, Chansons, politischen Reden, aber auch in der Bildpu­ blizistik16 als militärisch-patriotischer Akt dargestellt, bildete in vieler Hinsicht das Modell für die Wahrnehmung späterer militärischer Siege. So erschien der 10. August

trönes s'ebranlent, et au milieu de Ia commotion generale il n'y a pas trop de vanite aux fauteurs du despotis­ me

ä

vouloir en arl'!ter les effets. "

12 Chronique de Paris, n• LXIV (26 octobre 1789), S. 254, zit. nach Retat

(Anm.),

S. 529: .un hymne

a Ia liberte, qui devienne I'air national et Ia marche de nos troupes". 13 Le Veridique, no. 5 (10 aodt 1789),

s.

6-7, hier zit. nach Retat

(Anm. 1), s.

529.

1• [Anon.] Recit exact de Ia Fete Nationale qui a eu lieu hier, et description de celle qui doit se celebrer

aujourd'hui sur l'emplacement de Ia Bastille. Rewe generale de toutes les troupes nationales et de ligne, par Je roi sur Ia route de Neuilly, Paris o. J. (1790), S. 6. "Ebd. , S. 6 f. : .Et puis nous y bitirons un temple

ä

!'Assemblee nationale: celebrons de notre mieux

I'octave de Ia fete de Ia nation; qu'on n'entende de tous cötes retentir que !es mots patrie, constitution, liberte; n'aimons qu'eux."

16 Vgl. hierzu Klaus Herding/Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt

a.M. 1989; sowie den Rezensionsartikel von Jeremy Popkin, Pictures in a Revolution: Recent Publications on Graphie

Art

in France, 1789-1799, in: Eighteenth-Century Studies 24 (1990/91), Nr. 2, S. 251-259.

111.

122

Nation

·

Hans-Jürgen Lösebrink

1792, der Tag der Erstürmung des Louvre-Schlosses und der Gefangennahme der königlichen Familie, in der politischen Publizistik der Zeit als ein Sieg bewaffneten Volkes (peuple debout

(victoire) des et arme11) in einem offenen Krieg (guerre ouverte)18

gegen ihre Widersacher; für die Beschreibung wurde die gleiche militärische Begriff­ lichkeit verwendet wie bereits während der Jahre zuvor für den Bastillesturm, nämlich

siege (Belagerung), prise (Erstürmung, Einnahme), peuple arme (Volk in Waffen), immoler (opfern) und schließlich triomphe und victoire19• Das Fest zum Gedenken an die Rückeroberung der südfranzösischen Hafenstadt Toulon aus englischer Hand, das die Stadtverwaltung von Marseille unter Mitwirkung von Schauspielern des örtlichen Stadttheaters am 9. Januar 1794 feierte, inszenierte gleichfalls den Bastillesturm als herausragenden historischen Bezugspunkt. Den Mittel­ punkt des Festzuges, der an diesem Tag in einer Art patriotischer Prozession durch Marseille zog und von mehreren Kompanien Nationalgardisten angeführt wurde, bildeten Kanonen, ein auf einer Bahre getragener, behauener Bastillestein und schließ­ lich zwei Triumphwagen, auf denen einmal ein mit einer Keule bewaffneter Herkules und dann eine - von der Marseiller Schauspielerin Riviere verkörperte - Göttin der Freiheit zu sehen waren. Den Höhepunkt des Festtages bildete eine - den zeitgenös­ sischen Inszenierungen des Bastillesturms nachgeahmte - theatralische In-Szene-Setzung der Einnahme von Toulon, bei der Nationalgardisten und reguläre Soldaten auf eine Festung aus Pappmaschee und Holz einstürmten und die - gleichfalls von Marseiller Schauspielern dargestellten - feindlichen Engländer überwältigten.

·

Der Bastilleplatz als nationales Schlachtfeld, auf dem das französische Volk seine ersten Lorbeeren errang

(le champ de bataille ou les fran�ais cueillirent les premiers lauriers20), diese kollektive Vorstellung, die sich - in unterschiedlicher Formulierung - in nahezu allen politischen Reden der Jahre 1790 bis 1804 zum Gedenken an den Bastillesturm findet, bildete gleichsam die Matrix für die Wahrnehmung und Legitima­ tion der militärischen Expansion der Grande Nation seit dem Beginn der Revolutions­ kriege. So bezeichnete der Verwaltungskommissar des ostfranzösichen Kantons Seurre beispielsweise am 14. Juli 1789 den Bastillesturm als "ersten Waffengang der Franzo­ sen im Freiheitskrieg"

(guerre de la liberte) und erwies den Bastillestürmern, die er armee patriote nannte, seine Reverenz, indem er sie in eine Reihe mit den Soldaten der siegreichen Schlachten von Fleurus, Jemmappes, Mantua und Weissenburg stellte, deren Erfolge alles übertreffen würden, was die Geschichte und die Fabel bis dahin an heroischen Taten überliefert hätten.21 "Le siege de la Bastille a ete Je precurseur de nos autres triomphes", formulierte in ähnlicher Weise ein Festredner im südwestfranzösi­ schen Toulouse am Nationalfeiertag des Jahres 1797. Vor diesem - mit einer Vielzahl

17 [Anon.] Grande Relation du siege et de Ia prise du chäteau des Tuileries, Paris o. J. (1792), S. 1.

18

Ebd.,

S. 1, S. 4 f. (sowie S. 4 .Jes Citoyens etaient SOUS !es armes").

19 Vgl. hierzu den Bericht (mit zeitgenössischen Dokumenten) in: Le Caducee. Souvenirs marseillais,

proven�aux et autres, Bd. XI., Marseille 1886, S. 210-215. 20 Pierre-Fr�is Palloy, Projet dedie a Ia nation fran�aise et presente a I'Assemblee Nationale, et a Louis

XVI roi des Fr�is, le 11 mars 1792, in: Archives Parlementaires, Bd. XXXIX, 11 mars 1792, S. 572-573, hier S. 572.

2 1 Archives Departementales de Ia Cöte d'Or, L 454, fos 4647: .Le Fr�ais prelude dans Ia Guerre de

Ia Liberte, Ia Marche au Pas de Charge, et Ia Bastille est emportee. Honneur aux Vainqueurs de Ia Bastille! Honneur aux Vainqueurs de Fleurus, de Gemmappes, de Wissembourg [ .. .], de Mantaue [ ... ], honneur a tous les Guerriers fr�.

dont

les exploits ont surpasse tout ce que l'histoire et Ia fable ont de plus heroiques. "

Die Genese der .Grande Nation"

123

von Beispielen zu belegenden - Hintergrund erscheint der auf den ersten Blick völlig aus dem Rahmen fallende Gedanke des ehemaligen Bastillestürmers Pierre-Fran�ois Palloy, aus Anlaß der Feiern zum 14. Juli 1800, das französische Volk auf Gedenk­ münzen nicht mehr - wie üblich - von einer Frauengestalt, sondern von einem wehr­ haften Krieger verkörpern zu lassen, alles andere als abwegig. Das von Palloy entwor­ fene Münzmotiv, das zugleich auf einem großformatigen Plakat öffentliche Verbreitung fand, zeigt einen

gue"ier arme, der über die Reste der zerstörten Bastille schreitet und

in der rechten Hand eine Lanze hält, mit der er die Hydra des Despotismus tötet. 22 Im Hintergrund sind, so der Bildkommentar, der Rhein als natürliche Grenze Frankreichs

(limites reclamees par la France, comme celles indiquees par la Nature) und das von einem Freiheitsbaum gekrönte Feldlager der siegreichen französischen Armeen zu erkennen. Diese Soldaten ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus, scheinen jedoch zugleich auf das Signal zu warten, um ihre siegreichen Feldzüge, die durch den vom Feind erbetenen Waffenstillstand von Marengo unterbrochen worden waren, fortzusetzen. Die Medaille mit ihrer martialischen Motivik wird eingerahmt von Allegorien der Gerech­ tigkeit, der Freiheit und der Vernunft und gekrönt von einer Freiheitsmütze, dem Fanal des Patriotes, wie es im Bildkommentar heißt, "ce qui fait voir Ia force et l'union des Republicains"23• Das dargestellte allegorische Motiv selbst wird hier wie folgt be­ schrieben und semantisch auf eine Bedeutungsdimension - die Wehrhaftigkeit des französischen Volkes - eingegrenzt: "LE PEUPLE FRANCAIS represente par un Guerrier arme, foulant ä ses pieds Ia Bastille renversee; ce Guerrier est place au milieu des trophees de Ia victoire, entoure de Vainqueurs, tenant ä Ia main une pique, premiere arme de Ia revolu­ tion dont il perce l'hydre du despotisme: son bras est couvert d'un bouclier, dessous Iequel paroit une branche d'olivier, pour montrer que le Peuple ne prit les armes, au 14 Juillet 1789, que pour detruire Ies abus et appuyer de plus en plus Ia paix et le bonheur general. "24

I/. Der "Soldat Patriote" als Nationalheld Die in der zeitgenössischen Bildpublizistik gängige allegorische Darstellung des französischen Volkes als siegreicher Krieger verweist nicht nur auf die kollektive Vorstellung, die revolutionäre Nation habe ihre Einheit und Freiheit auf den Schlacht­ feldern - vom Bastillesturm bis zu den napoleonischen Siegen in Oberitalien - erlangt, sondern zugleich auch auf den patriotischen Soldaten, den

Soldat Citoyen, als neuem

Nationalhelden. Das kollektive Bedürfnis nach neuen, nationalen Identifikationsfiguren läßt sich anband einer Vielzahl von Indizien bereits im Sommer und Herbst 1789 erkennen. Auch hier spielten - neben dem König, der in zahlreichen Flugblättern nach dem 14. Juli 1789 als

Heros national bezeichnet und gefeiert wurde - die Bastillestür-

22 Vgl. die Abbildung zu dieser Abhandlung S. 124.

23 Pierre-Fran�ois Pal1oy, Medaille pour l'anniversaire

du

14 juillet 1789, sous Je nom de:

Concorde, Je 25 mars, an VIII, Allegorie, 13. VII. 1800, Plakat, in folio; vgl. S. 125. 24

Ebd .

tete

de la

126

III. Nation· Hans-Jilrgen LOsebrink

mer eine modellbildende Rolle. 25 Hatten die ersten Berichte über den Bastillesturm meist noch global von den vainqueurs oder den Helden der Bastille gesprochen - wie beispielsweise die Flugschrift "La Journee Parisienne, ou Triomphe de Ia France", die den Sieg einer in 24 Stunden ausgehobenen Volksarmee feierte26 -, so kristallisierten sich in den folgenden Monaten zunehmend einzelne Protagonisten heraus, die sich bei dem Ereignis besonders hervorgetan hatten: so etwa der ehemalige Gerbergeselle Joseph Arne, der als erster in den Innenhof der Bastille eingedrungen war und als Aus­ zeichnung hierfür vom Pariser Volk am 15. Juli 1789 auf einer Art Triumphwagen durch die Straßen der französischen Hauptstadt gezogen wurde, die Stirn mit einem Lorbeerkranz versehen und auf der Brustjenes Ludwigskreuz - den höchsten Verdienst­ orden der französischen Monarchie - , das er am Vortage dem Bastille-Gouverneur De Launay entrissen hatte27; sodann Jean-Baptiste Humbert, ein Uhrmachergeselle, der als erster die Türme der Bastille erklommen hatte und - gemeinsam mit Arne - in zehn­ tausendfach verbreiteten populären, bebilderten Einblattdrucken als nationaler Held gefeiert wurde28; oder auch Elie, der gemeinsam mit Arne den Gouverneur der Bastille gestellt und entwaffnet hatte. Obwohl dieser populäre Kult um die Bastille-Stürmer und ihre herausragenden Ver­ treter über die Jahre 1793-94 hinausreichte und bereits ab Juni 1790 von politischer Seite - durch die Nationalversammlung und den radikalen Flügel der Jakobinerbe­ wegung, vor allem Jean-Paul Marat - unterdrückt und als Keimzelle einer neuen privilegierten Kaste denunziert wurde, so war er doch von weitreichenden Konse­ quenzen: er beruhte auf einem massiven, sowohl politischen wie kollektiven Bedürfnis nach neuen nationalen ldentifikationsfiguren, auf das programmatisch Schriften wie "Eloge des Heros de Ia France" (1789) oder "Les Heros de Ia Bastille sans Recom­ pense, ou le vrai merite oublie" (1789) verweisen. 29 In ihnen wurde erstmals und in äußerst breitenwirksamer Weise die Konzeption des Soldat Citoyen30 sichtbar, des patriotischen Bürgersoldaten, der sein Leben für das Vaterland (patrie) zu opfern bereit war und ab 1792 auch zur nationalen Identifikationsfigur im Kampf gegen den äußeren Feind avancierte. Auch wenn aus politisch-ideologischen Gründen, die mit der Funk­ tion des 14. Juli als Kollektivsymbol zusammenhängen, der Kult um individualisierte Bastille-Stürmer wie Arne oder Hullin der Verehrung einer symbolischen Figur wich (wie Liberte), so verkörperten die vainqueurs de Ia Bastille in der zeitgenössischen Vorstellungswelt doch die Wiedergeburt des "wahren" französischen Volkes in der

25 Vgl. hierzu Vf./Rolf Reichardt, Kap Die neuen Helden: Rollenbild und Selbstinszenierung der Bastillestürmer", S. 100-122. 26 [Anon.] La Joumee Parisienne, ou Triomphe de Ia France, Paris o.I. ( 1789), S. 1: Victoire, mon amie, victoire! une armee levee en vingt-quatre heures, a eu des canons et des Heros! et Ia Bastille est prise! L'auriez-vous vu que ce Peuple, qui chante et qui rit, avait Je courage des Hercules et des Piritoüs?" 27 Pierre Prillard, La Glorification des Vainqueurs de Ia Bastille, in: Comite des Travaux historiques et scientifiques. Section d'histoire moderne et contemporaine. Actes du 100e Congres des Societes savantes, 1975, Paris 1977, S. 46 1-474. 28 Vgl. hierzu Vf./Rolf Reichardt (Anm. 7), S. 105-108. 29 [Anon.] Eloge des Heros de la France, en vers et enrichi de notes. Paris 1789, 30 S., in-8"; [Anon.] L'Achille Fran�ais. Je heros de la Bastille, ou Je brave Elie recompense, o.I. [Paris 1790], 10 S., in-S•. 30 Einer der ersten Belege in der zeitgenössischen Presse ist der Artikel von Benjamin Constant, Refle­ xions d'un Soldat Citoyen a ses Camarades !es Soldats Citoyens de Ia Garde Nationale Parisienne, in: Le Courrier de Versailles a Paris, et de Paris a Versailles, n•4, LXXXV, 30 septerobre 1789, S. 50 1-505. .





Die Genese der .Grande Nation"

127

Gestalt des selbstbewußten, wehrhaften und patriotischen Citoyen-Soldat oder Guerrier-Patriote. So heißt es beispielsweise in einem Marschlied aus dem Jahre 1794, das die Melodie der Marseillaise übernahm und in dem die Rückeroberung Toulons besungen wurde: Les Rodomonts de la Castille, !'insolent et feroce Anglais, Dans les Vainqueurs de la Bastille ont retrouve les vrais Francais; Ils ont beau presser le carnage, Bniler, faire sauter nos forts, Sur une montagne de morts, La Liberte s'ouvre un passageY Die Verehrung einzelner, herausragender Soldats Citoyens trat jedoch in den Jahren 1790-96 einerseits zurück gegenüber dem patriotischen Kult um die Grands Hommes de la Patrie - Mirabeau, Voltaire, Rousseau sowie die Revolutionsmärtyrer Marat, Lepeletier de Saint-Fargeau, Simonneau, Bara und Viala - sowie andererseits gegen­ über der Heroisierung kollektiv-anonymer ldentifikationsfiguren. Diese folgte Marats Vorstellung, nicht eine bestimmte Gruppe und ihre militärischen Führer, sondern die Gesamtheit der Nation, verkörpert durch das "einfache Volk"32, habe die Bastille erstürmt und die siegreichen Schlachten der Revolutionskriege geschlagen. Zu neuen, nationalen Identifikationsfiguren in der Vorstellung Marats wurden der mit Gewehr und Säbel bewaffnete Sans-Culotte, ein beliebtes Motiv populärer Flugschriften und volks­ tümlicher Keramik vor allem in den Jahren 1792-94, sowie der Republikaner in der Darstellung als wehrhafter Kanonier, ein Bild, das vor allem durch patriotische Spielkarten massive Verbreitung fand. Und schließlich findet sich, vor allem in den Jahren 1792-96, die allegorische Darstellung des wehrhaft-patriotischen Volkes in der Gestalt des Herakles, der, mit Keule bewaffnet, die Hydra des Föderalismus be­ zwingt.33 Erst das ausgehende Directoire und mehr noch das Consulat und das napoleonische Kaiserreich kehrten zu jenem individualisierten Heldenkult zurück, den die erste Revolutionsphase aufgrund strukturell ähnlicher nationaler Legitimations- und Kon­ sensbedürfnisse hervorgebracht hatte. Der Kult um die Generäle Pichegru, Hoche, Marceau und Joubert markierten die Wiederkehr nationaler Heldenfiguren, die revolu­ tionären Patriotismus mit demokratischen Idealen und herausragenden militärischen Taten verknüpften - Eigenschaften, die - allerdings auf den innenpolitischen Kampf bezogen - bereits das semantische und ideologische Profil der Bastille-Stürmer kon­ stituiert hatten. Selbst Napoleon Bonaparte34 erschien vielen Zeitgenossen bis weit in

31 Journal des Spectacles, n°.189 ( 18 Nivose ou II), S. 1505-1506, hier S. 1506. Als Autor wird der .Citoyen Salles" angegeben. 32 Vgl. z.B. Marat in: L'ami du peuple, n•. CXLIX (30 juin 1790), S. 1055-1056, Anm. 1: .11 est certain que Ia revolution est due a I' insurrection du petit peuple; et i1 n' est pas moins certain que Ia prise de Ia Bastille est principalement due a dix mille pauvres ouvriers du faubourg Saint-Antoine." 33 Vgl. diese Darstellung in der Abbildung zum Beitrag von Etienne Francois in diesem Band. 34 Michel Vovelle, Die Französische Revolution (Anm. 6), S. 125; sowie ders., Heroisation et Revolution (Anm. 6), S. 2 15-234, hier insb. S. 225.

128

III. Nation

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Hans-Jürgen Lüsebrink

das Empire hinein geradezu als idealtypische Verkörperung des herausragenden Citoyen-Soldat. So etwa dem Bastille-Stürmer Pierre-Franc;ois Palloy, der sich selbst den Beinamen Le Patriote gab und die Soldaten des Jahres 1809 ebenso wie ihren Führer Napoleon le Grand als Enfans de 1789 bezeichnete, als Nachkommen jener großen Familie (grande famille35), die am 14. Juli die Bastille zu Fall gebracht hatte: Salut, honneur aux Fils aines Des premiersjours de gloire! L'instant ou ces guerriers sont nes Consacra Ia Victoire. [.. . ] C'est un SOLDAT! c'est un HEROS! C'est un DIEU qui nous guide! un Dieu dont !es nobles travaux surpassent ceux d 'Alcide; Aux soldats de ce conquerant il n'est rien d'impossible, Et SOUS NAPOLEONLE GRAND Tout homme est invincible.36

lll. Nationalismus und militärische Expansion - der Traum des "Empire"

Kontinuitätslinien, wie die von Palloy evozierten, verweisen auf einen engen Zusam­ menhang von Patriotismus und militärischer Expansion. Die bereits zur Beschreibung des Bastillesturms verwendeten Begriffe guerrier, soldat, conquete, victoire, gloire und service, die allesamt militärischen Ursprungs sind, erhielten im Zuge ihrer Übertragung vom innen- auf den außenpolitischen Bereich einen ambivalenten Sinnzuwachs sowie eine zusätzliche emotionale "Aufladung". Ihnen entsprach die in Ansätzen ab 1790, in verstärktem Maße seit dem Directoire zu beobachtende Substitution des poli­ tisch-sozialen Schlagwortes "Nation" - der Sturm auf die Bastille wurde als eine Befreiungstat der "Nation" gefeiert - durch die Begriffe Grande Nation und Empire. Beide Begriffe lassen sichjedoch bereits in der Publizistik und Pamphletliteratur der Jahre 1790-92 nachweisen. So schlug der anonym gebliebene Verfasser eines Flugblattes mit dem Titel "Louis XVI proclame Empereur des Franc;ois" aus dem Jahre 1790 vor, dem französischen Monarchen den Titel Empereur zu verleihen und das Königreich Frankreich (Rayaume de France) in Empire des Fran�ais ( "Kaiserreich der Franzosen") urnzubenennen: "Nous ne disons plus le Royaume de France; nous disons !'Empire des Franc;ais; si nous voulons etre consequens, c'est donc un Empereur qu'il nous faut, et non pas un

35 Pierre-Fr�is Palloy, Aux Fils aines de Ia Revolution Francaise; Enfans de 1789; Hommes de 1809; ou Ia Conscription du plus heureux presage. Couplets. Air: .du pas redouble", Paris o. J. ( 1809), in -8•, 4 S., hier S. 1: .Un joug affreux alors pesait/ Sur Ia grande famille./ Qui sut, au 14 juillet,/ Renverser Ia Bastille." 36 Ebd., S. 1, 3.

Die Genese der .Grande Nation"

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Roi. Oui, c'est un Empereur; Roi et tyran sont synonymes. Empereur signifie celui qui commande a un Peuple libre; nousjouissons de cet avantage."37 Die neue Namensgebung solle, so die Vorstellung des Flugblattverfassers, anläßlich des Föderationsfestes am 14. Juli 1790 durch einen gemeinsamen Schwur auf dem Pariser Marsfeld feierlich vollzogen werden. In der Beschreibung der Festzeremonie selbst, die der Autor lebhaft und bis ins Detail hinein ausmalt, steht kennzeichnender­ weise die Vorstellung der "Bewaffneten Nation" als Verkörperung eines freien und gleichen Volkes im Mittelpunkt; auf den Schwur aller Anwesenden, der in Gegenwart des "Gottes der Schlachten" zu leisten sei, solle die Proklamation und Krönung Lud­ wigs XVI. zum Kaiser aller Franzosen folgen: "Qu'au moment ou les Citoyens-Soldats et Ies Soldats-Citoyens, Ies officiers de tous grades, Ies Deputes et nos Representans se disposeront a prononcer le Serment de federation, que le President de I Assemblee nationale s'avance vers l'Autel de Ia Patrie, et que Iä, en presence du Dieu des Batail­ Ies, le visage tourne du cöte de nos Guerriers, il fasse entendre ces paroles: , Au nom de Ia Nation, je proclame Louis XVI Empereur des Francais'; qu'aussi-töt apres une decharge generale de l'artillerie et de Ia mousqueterie, lui consacre cette supreme dignite; ensuite vous procederez au couronnement; vous lui decernerez une couronne imperiale, et par Ie cliquetis de vos armes, le bruit de vos fanfares, et l'agitation de vos drapeaux, vous exprimerez votre approbation."38 Auch wenn die evozierte Vision einer Kaiserkrönung Ludwigs XVI. sich als Utopie erweisen sollte, so fmdet sich der Begriff Empire als Bezeichnung für das revolutionäre Frankreich in einer Vielzahl zeitgenössischer Texte bereits der ersten Revolutionsjahre, ab 1792 häufig in Konkurrenz zu dem nahezu synonymisch gebrauchten Begriff Grande Nation. Mit beiden Begriffen verbanden die Zeitgenossen einmal die Vorstellung der (Selbst-) Befreiung des französischen Volkes aus Unmündigkeit und Sklaverei ( es­ clavage); dann den Gedanken der Wiederauferstehung eines großen Volkes (resurrec­ tion d'un grand peuple)39 aus Lethargie und Verweichlichung; und schließlich die Idee einer missionarischen Aufgabe der französischen Nation, deren Botschaft in allen vier Weltteilen die Völker von Sklaverei und Despotismus befreien müsse.40 Mit den Revolutionskriegen verwandelte sich die martialische Symbolik, die sich bereits in den Jahren 1789-91 mit den Begriffen Empire, Empereur des Franfais und Grande Nation verband, somit in eine Legitimationsbasis außenpolitischer, militäri­ scher Expansion. Kein Zeitgenosse beschwor pathetischer die Vision einer ganz Buropa I

37 [Anon.] Louis XVI proc lam e Empereur des Fran�ais au Champ-de-Mars, Je 14 Juillet 1790, o.O. [Paris] 1790, S. 4. Einzelne Belege für die Verwendung des Begriffs .Empire" in dieser semantischen Struktur lassen sich bereits um 1760 nachweisen. 38 Ebd., S. 7 f. 39 Vgl. beispielsweise im Courrier de Provence, n• CLVI ( 19 juin 1792), S. 45, die Botschaft einer .deputation d'hommes de tous les pays, d'Anglois, Prussiens, Chaldeens, Persans, Turcs, etc. •, in der es u.a. heißt: .La trompette qui sonne Ia resurrection d'un grand peuple, a retenti aux quatre coins du monde, et les chants d'allegresse d'un choeur de vingt-cinq millions d'hommes libres ont reveille des peuples ensevelis dans un long esclavage.• 40 Ebd., S. 45: .La sagesse de vos dCcrets, messieurs, l'union des enfants de Ia France, ce tableau ravissant donne des soucis amers aux despotes, et de justes esperances aux nations asservies. [ ...] Les triomphateurs de Rome se plaisoient a trainer les peuples vaincus lies a leurs chars; et vous, messieurs, par Je plus honorable des contrastes, vous verrez dans votre cortege des hommes libres dont Ia patrie est dans les fers, dont Ia patrie sera libre un jour par I'influence de votre courage inebranlable et de vos loix philosophi­ ques: nos voeux et nos hommages seront les Iiens qui nous attacheront a nos chars de triomphe.•

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III. Nation· Hans-Jürgen LOsebrink

umspannenden Grande Nation Frankreich als der niederrheinische Baron Anacharsis Cloots, der im Sommer 1789 nach Paris emigriert war und sich selbst "Redner des Menschengeschlechts" (orateur du genre humain) nannte. In einer Serie von Pam­ phleten an die Nachbarvölker Frankreichs - so etwa die Bewohner des Rheindeltas (habitants des Bouches du Rhin) und die Plebejer Piemonts - sah Cloots die Annektion der linksrheinischen und der oberitalienischen Territorien als Mittel, Aufklärung und republikanischen Idealen auch außerhalb der bisher geltenden Grenzen Frankreichs zum Durchbruch zu verhelfen: "La lumiere et les moyens", so Cloots in einem Pamphlet mit dem Titel "Aux Plebeiens du Piemont" aus dem Frühjahr 1793, "augmenteront a mesure que Ia republique s'accroitra".4' In einer pathetisch-visionären Schlußpassage forderte Cloots, der hier über weite Strecken hinweg einen mündlichen Redestil durch­ hält, in dieser Flugschrift die Franzosen zur Invasion Savoyen-Piemonts und die Bewohner Oberitaliens zur Verbrüderung mit den Truppen der Grande Nation auf: "Hommes du Pö, tendez la main aux hommes du Rhöne, vous sortirez de l'abime, nous aplanirons les Alpes"42• Cloots' Vision von der Einebnung der Alpen durch den Geist nationaler Verbrüde­ rung erinnert unmittelbar an die Vorstellung vom "Lac Mediterannee", die 110 Jahre später Algedenfranzosen wie Louis Bertrand und Yvon Evenon-Norves lancierten und hiermit die natürlichen Grenzen der Grande Nation nicht an den Ufern des Mittel­ meeres, sondern am Nordrand der Sahara-Wüste situiertenY Beide Vorstellungen verklammert der auch im 20. Jahrhundert im politischen Diskurs Frankreichs lebendige Begriff der Grande Nation, mit dem sich nicht erst seit den Revolutionskriegen, sondern in Ansätzen bereits seit dem Sommer 1789 die Idee militärischer Größe mit dem patriotischen Glauben an die demokratische Missionsaufgabe Frankreichs verband. Der nahe der niederrheinischen Stadt Kleve geborene Cloots verkörpert somit, wie kaum ein anderer Zeitgenosse, Gemeinsamkeiten und historische Wesensunterschiede des deutschen und französischen Nationalismus in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: die gemeinsame und für die Zukunft verhängnisvolle Verknüpfung von Nationalismus, kriegerischem Expansionsdrang und martialischer Symbolik; aber auch den sehr unterschiedlichen, für Frankreichs nationales Selbstverständnis konstitutiven Bezug auf die demokratischen Ideale von 1789.

41 Anacharsis Cloots, Aux Pleb6iens du Piemont ( 1793), in: ders., Ecrits et discours de Ia periode revolu­ tionnaire, 1790-1794, Paris 1979, S. 37. 41 Ebd., S. 41 f. 43 Yvon Evenon-Norves, La Province d'Algerie, in: Mercure de France, 1 IV- 1922, S. 5-26, hier S. 7; vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink, "Imperiale Träume• - französische Reisen in den kolonialen Maghreb ( 188 1-1954), in: Hermann H.Wetzel (Hrsg.), Reisen in den Mittelmeerraum (Reihe Passauer Mittelmeer­ studien, Bd. 3), Passau 1991.

Ulrich Im

Hof (Bem)

"Volk- Nation- Vaterland" und ihre Symbolik in der Schweiz

I. Semantische Fragen

Bevor wir auf die semantische Fragestellung eingehen, ist festzuhalten, daß die Schweiz als "Nation" bzw. als " Volk" im Laufe des Spätmittelalters entstanden ist. Sie entwickelte im ausgehenden 15. Jahrhundert ein eigenes "Vaterlandsbewußtsein", das im 18. Jahrhundert seine Wiederbelebung erfuhr. Wenn auch damals viel auf literari­ schem und philosophischem Gebiet publiziert wurde, lassen sich zu unserer semanti­ schen Fragestellung keine eigentlichen Konzepte und Programme auffinden. Dies auch darum, weil die Schweizer Intellektuellen des Aufklärungszeitalters sich weit mehr für die sozio-ökonomische Praxis als für philosophische Theorien interessierten. Erst der allgemeine Umbruch bringt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel politische Diskussion um die Thematik von "Volk, Nation und Vaterland". Diese Diskussion gibt sich einmal deutsch, einmal französisch (peuple- nation - patrie) wie auch italienisch (popolo - nazione- patria) und rätoromanisch (pievellpövel - naziun - patria). In der Folge werden uns in erster Linie die deutschsprachigen Begriffe interessieren. Wir müssen vorerst leider feststellen, daß entsprechende semantische Untersuchun­ gen fehlen. So kann ich - nach Konsultationen mit zuständigen Historikern, Germani­ sten und Rechtshistorikern - nur einen sehr vorläufigen Befund geben. 1 Für die Kantone sind die Begriffe "Volk - Nation - Vaterland" in der Regel aus­ wechselbar. In den zwölf souveränen Stadtrepubliken und den etwa 60 Frei- bzw. Munizipalstädten sind die drei Begriffe für die Bürger identisch. Das Volk der Stadt wird als Bürgerschaft bezeichnet. Für die bäuerlichen Untertanen der Hauptstädte kann jedoch der Begriff des "Landvolks" verwendet werden. Dieser Begriff wird wohl erst während des Umbruchs der "Helvetischen Revolution" von 1798 als Gegensatz zur regierenden Stadt deutlicher empfunden, bzw. "Volk" als neue Bezeichnung für die ganze Bevölkerung des neuen demokratisierten Kantons verwendet. Anders liegt der Begriff " Volk"2 in den 8 Landrepubliken des alpinen und voralpi­ nen Bereichs, sowie in den Föderativrepubliken Graubünden und Wallis. Zu ihnen wären auch die an sich untertänigen, aber autonomen 33 Landschaften zu zählen, die über eine Landsgemeinde bzw. ein Landschaftsparlament verfügen. "Land" ist die of1 Literatur bis 1989 bei Ulrich Im Hof, Mythos Schweiz, Identität-Nation-Geschichte, 129 1- 199 1, Zürich 1991. Zum Thema: Daniel Brühlmeier, The Concept of 'Nation' in Swiss Constitutional Thought, Institut für Politikwissenschaft, Hochschule St. Gallen, 1990. Zur Epoche: Holger Böning, Revolution in der Schweiz, Das Ende der Alten Eidgenossenschaft, Die Helvetische Republik, Frankfurt a. M. 1985. 2 Der Begriff "Volk" findet sich selten. Es scheint typisch, daß ein Ausländer, Johann Michael Afsprung aus U1m das Lied .An das gute Volk des Cantans Appenzell" verfaßt hat (Schweizerlieder von verschiedenen Verfassern, 2. Teil zu Lavaters Schweizerliedem, mit Melodien, Zürich 2 1798, S. 44 f.). Immerhin beginnt Lavater sein .Lied der demokratischen Kantone bey deren jährlichen Landsgemeinde" mit den Worten .Auf, freyes Volk! versammle dich!" (Schweizerlieder mit Melodien, Zürich 41796, S. 56 f.)

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111. Nation

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Ulrich Im Hof

ftzielle Bezeichnung für den Landsgemeindekanton. Aber auch die autonomen "demo­ kratischen" Gebiete verwenden den Begriff "Landleute". Als "Länder" werden die Drei Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwalden bezeichnet. Bei der Diskussion des Begriffs "Volk" wäre noch die Übertragung des Begriffs "Volk Israel" auf die Repu­ bliken reformierter Konfession wahrzunehmen. 3 Bei den zwei anderen Begriffen, "Nation" und "Vaterland", müssen wir keinen Unterschied mehr zwischen Stadt- und Landrepubliken wahrnehmen. "Nation" wird als Begriff selten verwendet. "Vaterland" aber ist der weitaus gängigste Begriff. Vaterland bedeutet allerdings primär den Kanton, d.h. Stadt- oder Landrepublik. Der Schweizer hat ein "gedoppeltes Vaterland", die Eidgenossenschaft und seinen Kanton. Dem entsprechen die französischen Begriffe, etwa der patrie vaudoise und der patrie suisse. An die Stelle des veralteten Begriffs des "Alten Schweizers" bzw. des "freien Schweizers"4 tritt immer mehr der Begriff "Patriot". Als Beispiele möchten wir hier noch einzelne Schriftsteller beiziehen. "Vaterland" ist der dominierende Begriff bei Iselin, Zimmermann und Lavater. s "Patriot" ist für sie ein beliebtes Epitheton. Pestalozzi verwendet den Begriff " Volk" im Sinne des ländli­ chen Volkes, aber für Reiche und Arme. Johannes von Müller gibt dem ersten Teil der "Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft" den Titel "Von des Volks Ursprung" und versteht darunter das Volk der späteren Schweizer. In der Vorrede zu diesem ersten Teil werden "Nation" und " Vaterland" von ihm im gleichen Satz als austausch­ bare Größen verwendet. 6 Das beginnende 19. Jahrhundert steht unter dem Gegensatz Föderalismus/Zen­ tralismus, eine Auseinandersetzung, die bis 1848 dauert. Hier scheint der Begriff "Vaterland", "patrie", "patria" weiterhin zu dominieren, wird aber immer mehr auf das Gesamtvaterland hin verschoben. Jedenfalls beherrscht das "Vaterland" die zahllo­ sen nationalen Lieder, wobei auch ein Begriff wie "Heldenvolk" unterlaufen kann. "Volk" wird nach der Revolution zum politischen Begriff in der sich nun immer stärker entwickelnden Demokratie. Nebeneinander finden sich die Begriffe (souveränes) Volk, Bürger, Cantansbürger, Schweizerbürger.

3• Volk Israel" erscheint zweimal - nicht konfessionell verstanden - in Lavaters Schweizerliedern (Anm. 2), S. 33, 71. Es wären auch die Begriffe "Israel der Wildnis/du desert" bzw. "Israel der Alpen / des Alpes" der Hugenotten in den Cevennen bzw. der Waldenser in den Coltischen Alpen beizuziehen. Eine Begriffs­ geschichte scheint zu fehlen. 4 Der Begriff "freier Schweizer" wird im 18. Jahrhundert allgemein (auch vom Ausland aus gesehen). Er kann schon 164 1 festgestellt werden (Peter Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde im Berner Oberland, 13001700, Bern 199 1, S. 360). ' Lavater verwendet in den Schweizerliedern (Anm. 2) dreißigmal den Begriff Vaterland •, fünfmal "Patriot", zweimal • Volk", einmal "Nationen". 6 .Genug auch für die Nation, wenn der Väter hehres Andenken und das Gefühl der unzerstörbaren Bündnisse so lang im Vaterland oder irgendwo Schweizer sind, sie belebt und verbindet[... ]" (.Vorrede" zu Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft erster Teil, Von des Volks Ursprung, Johannes von Müllers sämtliche Werke, 7. Teil, Stuttgart 1832, S. X). •

Symbolik in der Schweiz

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II. Symbolik

Weit besser als über die semantische Begrifflichkeit ist man in der Schweiz über die Symbolik und Emblematik von " Volk - Nation - Vaterland" orientiert.7 Was ist im 18. Jahrhundert an Traditionen noch lebendig? Das alte nationale Zeichen der Schweiz war das "weiße Kreuz", das "Schweizerkreuz", die "crux helvetica". Das aufrechte, lang­ schenklige Kreuz ist erst Abzeichen der einzelnen Krieger der Kontingente aus den ver­ schiedenen Kantonen, das man im Ernstfall auf die Fahnen der Kantone, der Städte und "Länder" heftet. Es ziert die Kriegertracht des 16. Jahrhunderts, des "Schweizers" im Gegensatz zum "Landknecht". Es wird zum Namen von Gasthöfen in allen vier Spra­ chen. Das weiße Kreuz auf rotem Grund wirdjedoch nur ganz selten als Fahne geführt. Vom 17. Jahrhundert an bürgert sich die Verwendung des durchgehenden Kreuzes auf den vier geflammten Feldern der Fahnen der Kantone und der Schweizerregimenter in Fremden Diensten ein. Es fehlt ein Schweizerwappen. An dessen Stelle tritt die Wap­ penfolge der Kantone, auf und in den Rathäusern und den Landvogteischlössern. Sie ist das Kennzeichen der offiziellen Schweiz. Ebenso prägend ist seit dem 16. Jahrhundert der Kult der Gründungsväter: der Drei Eidgenossen des Rütlischwurs und des Wilhelm Tell. 8 Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts steht die Gründungslegende fest, als symbolisch-mythologische Zu­ sammenfassung der ersten 150 Jahre des sich verstärkenden Bundessystems. Tell und die Drei Eidgenossen finden sich als Fresken an offiziellen und privaten Gebäuden. Sie sind Gegenstand von Liedern, Chroniken und Spielen bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Oft wird einfach der Schweizerkrieger in der Tracht des 16. Jahrhunderts abgebildet. Diesen "Alten Schweizer" finden wir auf Brunnenstöcken - zum Beispiel im verbündeten Rottweil - auf Glasscheiben, als Fresko oder auf graphischen Darstel­ lungen. Es fällt auf, daß im 18. Jahrhundert, in der patriotischen Erneuerungsbewegung des Helvetismus, das Schweizerkreuz nicht figuriert. Es schien wohl zu offiziell bzw. zu altmodisch gewesen zu sein. Erneuert wird aber das Gedenken an Wilhelm Tell und die Drei Eidgenossen, die immer noch in der Tracht des 16. Jahrhunderts erscheinen. Eine besondere, neue Rolle kommt dem Freiheitshut zu, dem Hut, den der Re­ publikaner nicht vor dem Monarchen zu ziehen hat. In der zweiten Jahrhunderthälfte wird der Begriff "Tellenhut" für den Freiheitshut üblich. Es handelt sich um die Kopfbedeckung des "Alten Schweizers", geschlitzt und mit Federn. Wiederum werden Telldramen beliebt - gipfelnd in Schillers Schauspiel. Tell und die Drei Eidgenossen gehören zur alpinen Folklore, die auf Hallers und Rousseaus Spuren nun die vielen Ausländer während ihrer Schweizerreise entdecken. Die geschichtlichen Gestalten sind eine personalisierte Folie vor dem erhabenen Eisgebirge des alpinen Mythos der naturentdeckenden Aufklärung. Der "Alte Schweizer" wird zum Älpler im Land der "Hirtenvölker"; besserer Mensch als diejenigen, die sich an den Höfen vor den Mächti­ gen beugen. Der politische Umbruch der Revolutionszeit führt den Teilenkult ungebrochen weiter. Tell - Ehrenbürger der Französischen Revolution - wird zum Signet der Helve7

Für das folgende s. Im Hof, Mythos (Anm. 1). Hinter Tell steht die mittelalterliche Konzeption des Widerstandsrechts, hinter dem Rütlischwur die Bundesidee. 1

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III. Nation

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Ulrich Im Hof

tischen Republik, als Revolutionär gedeutet. Die Gessler sind die schweizerischen Landvögte der hohen Obrigkeit, die man im Frühjahr 1798 aus ihren Schlössern herauskomplimentiert hatte. Allerdings wird die alte kantonale und nationale Em­ blematik nur in wenigen Fällen zerstört. In der Regel bleibt sie als denkmalwürdig aus kunstästhetischen Gründen erhalten. Neben die Übernahme der alten Tellsymbolik tritt nun aber doch das ganz Neue im Stil der Revolution: die Helvetische Trikolore: Grün-Rot-Gold (bzw. Gelb), als Farben Teils gedeutet, denn Tellstatuen und Bilder warenja bunt bemalt. Außer der Trikolore wird der revolutionäre Freiheitsbaum9 übernommen, der als Liberty Tree nordamerikanischen Ursprungs ist. Die Gemeinden haben 1798 einen Freiheitsbaum errichtet, gekrönt vom Teilenhut und mit den helvetischen Farben geschmückt. Der Teilenhut ersetzt die anfangs gelegentlich verwendete phrygische Mütze. In den sich neu bildenden Kantonen Bellinzona und Lugano wir der capello di Tell helvetisches Gegensymbol zur phrygischen Mütze der Cisalpinischen Republik. Wenn auch die umstrittene Helvetische Republik nur ihre fünf Jahre gedauert hat, so blieb sie Freiheitserinnerung. Freiheitsbaum und helvetische Farben tauchen prompt in den kantonalen revolutionären Bewegungen der Dreißiger Jahre auf, als im Gefolge der Julirevolution die Mehrheit der Kantone liberale und demokratische Konstitutionen einführte. Der Freiheitsbaum ist wieder, wie 1798, das Zeichen der Volksbewegung gegen die Aristokratie. Er hält sich noch etwa für zwanzig Jahre - auch an schweizeri­ schen Schützenfesten - um dann zu verschwinden. Das Ende der Helvetischen Republik hatte seit 1803 das Aufkommen einer restaura­ tiven Bewegung zur Folge. Man holte damals die alten kantonal geflammten Fahnen mit dem weißen Schweizerkreuz wieder hervor. Die fünf neuen Kantone brachten einfach ihr neues Grün/Weiß (bzw. Schwarz/Blau oder Rot/Blau) auf den Schweizerkreuzfah­ nen an. Der revolutionär suspekte Tell wird im Staatssiegel durch den "Alten Schwei­ zer" ersetzt. Erst 1815 - als man von der napoleonischen Herrschaft befreit war, um in die relative Abhängigkeit der Heiligen Allianz zu wechseln, wird das Schweizerkreuz neu konzipiert. Es wird auf den roten Armbinden der kantonal uniformierten Truppen verwendet und figuriert erstmals als Wappen freischwebend auf rotem Grund im Bundessiegel von 1815. Es wird aber auch populär in den durchaus progressiven, liberalen und demokratischen Elite- und Volksvereinen, die überall entstehen: "Schwei­ zerkreuz, croix suisse, croce bianca, crusch alva"; dennjetzt gibt sich die Schweiz als Gesamtverband viersprachig. 1840 ist es soweit, daß die Schweizerfahne offizielle Armeefahne wird und 1848 Wappen des nach dem Sonderbundskrieg neu konstituierten Bundestaates. Das "weiße Kreuz im roten Feld" erscheint allmählich auch im na­ tionalen Liedgut, fehlt aber noch in den beiden Nationalhymnen von 1811 und 1840. Das Schweizerkreuz ist aber nur ein Zeichen unter andern. Wilhelm Tell - ins­ besondere als Patron der Schützenvereine - wie der Rütlischwur bleiben weiterhin für Behörden und Volk ebenso wichtig, obwohl die Gründungslegende schon seit dem 17./18. Jahrhundert von der historischen Wissenschaft angezweifelt wird. Aber all­ mählich weicht die alte Tracht des 16. Jahrhunderts historistischen Vorstellungen.

• Hans Trümpy, Der Freiheitsbaum, ein Rechtssymbol im Zeitalter des Rationalismus, in: Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 57 ( 1961).

Symbolik in der Schweiz

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Als Ersatz für die nach der Reformation nur noch im katholischen Raum begangenen "Schlachtjahrzeiten", Gedenkgottesdienste und Wallfahrten an die historischen Schlachtkapellen entwickelt sich die patriotische Feier der Daten der Heldenschlachten - mit Festpredigten von katholischen bzw. protestantischen Geistlichen. Neu istjedoch die Figur der Helvetia10, diese stattliche Mutterfigur, entsprechend der Germania, Gallia, Italia, Britannia. Der Begriff "Helvetia", "Helvetien" ist schon im schweizerischen Humanismus geprägt, der sich um die Integration der "Helvetii" der Römerzeit ins nationale Geschichtsbild bemüht hatte. "Helvetisch" wird als Be­ zeichnung im 18. Jahrhundert beliebt und zum Namen von Elitevereinen. Die "Gestalt" der Helvetia trittjedoch erst im beginnenden 19. Jahrhundert auf. Sie stützt sich gerne auf das Schweizerwappen, das seit 1848 endgültig die Wappen der 22 Kantone über­ höht. Im Europäischen Bereich ist auffallend, daß inmitten der Trikolorenländer - des französischen Imperiums und der französischen Republik, später des Königreichs Italien und des Deutschen Reiches - das Kreuzsymbol wieder belebt wird. Es findet sich aber in England, Schottland, Irland, Dänemark, Schweden von altersher, in Norwegen, Island und Finnland seit dem 19. bzw. 20. Jahrhundert.

10 Georg Kreis, Helvetia - im Wandel der Zeiten. Die Geschichte einer nationalen Repräsentationsfigur, Zürich 199 1.

Horst Steinmetz (Leiden) Idee und Wirklichkeit des Nationaltheaters. Enttäuschte Hoffnungen und falsche Erwartungen

I Gleich im ersten Buch von Goethes "Wilhelrn Meister" wird eines der großen kulturel­ len Themen des 1 8 . Jahrhunderts angesprochen. Der Titelheld träumt davon, ein " treff­ licher Schauspieler" zu werden, ja sieht sich als "den Schöpfer eines künftigen Natio­ naltheaters, nach dem er so vielfaltig hatte seufzen hören" . 1 Der Begriff " Natio­ naltheater" verweist in Goethes Zeitroman konkret auf nicht-fiktive Wirklichkeit. Des Romanhelden Wunsch nach einem Nationaltheater ist und war der Wunsch zahlloser Zeitgenossen. Die Tatsache jedoch, daß erst Wilhelm Meister zum Schöpfer dieses Nationaltheaters werden könnte, konnte und mußte auch in den 90er Jahren des Jahr­ hunderts (also nach dem Erscheinen von Goethes Roman) noch so verstanden werden, daß es ein solches Nationaltheater am Ende des 1 8 . Jahrhunderts de facto nicht gab, obwohl sich eine ganze Reihe von Bühnen seit den 70er Jahren mit dem Titel " Na­ tionaltheater" geschmückt hatten. Jedenfalls war, was Wilhelm Meister und was vielen Zeitgenossen seit Jahrzehnten als Idee dieses Nationaltheaters vorgeschwebt hatte, keine Wirklichkeit geworden. Man kann hinzufügen: Es wird auch nie Wirklichkeit werden. Man muß hinzufügen: Es konnte nie Wirklichkeit werden. Die Vorstellung vom Nationaltheater war aus dem frühaufklärerischen, weitgehend normativ-didaktisch inspirierten Konzept von Drama und Theater hervorgegangen. 2 Dieses Konzept entsprang dem Bestreben, das deutsche Theater nach englischem, vor allem aber französischem Vorbild wieder zu Ansehen und Würde zu verhelfen, die es seit dem Ausgang des 1 7 . Jahrhunderts verloren hatte. Gerade das Theater sollte zum Medium der Aufklärung werden; man wollte es zum Ort öffentlicher Kommunikation umformen, auf dem die bürgerlichen Welt- und Wirklichkeitsvorstellungen zur Dar­ stellung gelangen sollten. Es sollte nicht nur ein Instrument der Selbstverständigung über die Ideale der erstarkenden Mittelschichten sein, sondern zugleich auch diese Ideale propagieren, alle Zuschauer für diese Ideale gewinnen, wobei man an die Bürger und das " Volk" ebenso dachte wie an den Adel und die regierenden Fürsten. Mustert man die Erfolge dieser vornehmlich von Gottsched eingeleiteten Theater­ form, bleiben diese im ganzen bescheiden. Bereits die berühmt-berüchtigte " Reinigung der Schaubühne" , das heißt die Befreiung des Theaters von dem vorherrschenden Mo­ ment des Komisch-Zotenhaften und der Improvisation, exemplarisch symbolisiert in Gottscheds bekannter Vertreibung des Harlekins im Jahre 1 737, gelang nur sehr parti-

1 J.W.v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 7 , S. 35. 2 Zur Geschichte der Nationaltheaterbewegung in Deutschland vgl. Roland Krebs, L'ldCe de 'Theatre National' dans l'Allemagne des Lumieres. Theorie et Realisations (Wolfenbütteler Forschungen, 28), Wiesbaden 1985; vgl. auch Hilde Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien/München 1980.

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III. Nation Horst Steinmetz ·

eil . Das große Ziel, die Bühne als den Ort des oberflächlichen Amüsements zur "mora­ lischen Anstalt" zu transformieren, blieb weitgehend unrealisiert. Auch am Ende des Jahrhunderts ist die komische Person noch immer die Zentralgestalt in den weitaus meisten deutschen Theatern, dominiert allerorts die komisch-zerstreuende Unterhaltung mittelmäßiger bis schlechter Komödien, noch zu schweigen von der nach 1 770 herr­ schenden Singspiel- und Opernkultur, die überall Triumphe feierte .3 Sogar dort, wo für kurze Zeit alle Ideale der bürgerlichen Theaterbewegung verwirklicht schienen, im Hamburger Nationaltheater (1767- 1 769), sahen der Spielplan und die Spielpraxis nicht wesentlich anders aus als bei den auf Belustigung zielenden Wandertruppen. Auch auf dieser Bühne wurden die Tragödien, bürgerlichen Trauerspiele und rührenden Lust­ spiele mit Harlekinaden, Balletten oder Akrobatenkunststücken versetzt. Wer das Hamburger Nationaltheater nur aus Lessings "Hamburgischer Dramaturgie " kennt, wird über die desillusionierende Wirklichkeit der Hamburger Bühne getäuscht, da Lessing diese Wirklichkeit so gut wie vollständig unterschlägt. Die kurze Geschichte der Hamburger Entreprise demonstriert im übrigen eindring­ lich die faktische Unmöglichkeit der Nationaltheaterpläne im 1 8 . Jahrhundert. Die von Bürgern und Schauspielern getragene private Gründung eines stehenden Theaters mit festem Ensemble, das in den Aufführungen ehrgeizige künstlerische Vorhaben ver­ wirklichen wollte, stellt eine Ausnahme in der Historie der Theatergründungen des 1 8. Jahrhunderts dar. Zwar gab es auch nach Harnburg eine Reihe von kommerziell­ bürgerlichen Staatstheatern, sie aber verzichteten von vornherein auf den Anspruch einer sittenverbessernden Bühne . Das Hamburger Theater war der am weitesten gelang­ te Versuch, ein unabhängiges bürgerliches Theater zu etablieren, das sich das Ziel eines über die territorialen Grenzen hinausreichenden nationalen Appells gesteckt hatte . Es ist eine Vielzahl von Gründen in der Forschung angeführt worden, die zum schnel­ len Fiasko in Harnburg geführt haben sollen. Doch es wäre falsch, in ihnen allein, in ihnen selbst die eigentlichen Ursachen für das vorzeitige Ende zu erkennen.4 Das Ham­ burger Theater scheiterte nicht, weil ihm die solide kaufmännische Grundlage fehlte ; weil die Schauspieler schnell in Intrigen zerstritten waren; weil Löwens Theaterleitung schwach war; weil das Hamburger Publikum nur kam, wenn es der gewohnten Belustigungen sicher war; weil man mit der Konkurrenz eines französischen Theaters zu kämpfen hatte oder weil man jegliche Unterstützung durch die Stadtregierung entbehren mußte . Es scheiterte schließlich auch nicht, weil es kein ausreichendes Repertoire gab, das den Forderungen und Idealen der Gründer entsprechen konnte . All diese einzelnen, zum Teil lokal bedingten Faktoren haben selbstverständlich konkret zum Untergang des Unternehmens beigetragen, doch sind sie weder einzeln noch zusammen als die wirkliche Ursache zu betrachten. Sie bilden vielmehr nur das Sym­ ptom der Diskrepanz zwischen dem Wollen der Theatergründer und den tatsächlichen Gegebenheiten, denen sie sich konfrontiert sahen. Diese Diskrepanz ist die eigentliche Ursache des Untergangs. Sie offenbart die Unerreichbarkeil des Angestrebten, das

3 Vgl. hierzu Reinhart Meyer, Harlekin und Hanswurst - Versuch einer Analyse der Improvisationen des Narren im Singspiel und Sprechtheater des ausgehenden 17. und beginnenden 1 8 . Jahrhunderts, in: R. Krebs/I.M . Valentin (Hrsg. ), Th�tre, Nation et Societe en Allemagne au XVIII' Siecle, Nancy 1990, S . 1 3-39. 4 Vgl . hierzu Horst Steimnetz, Literaturgeschichte und Sozialgeschichte in widersprüchlicher Verschränkung: Das Hamburger Nationaltheater, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 4 ( 1 979), S. 2436.

Idee und Wirklichkeit des Nationaltheaters

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nicht nur auf äußere Widerstände stieß, sondern auch die innere Schwäche der Initia­ toren bloßlegte : Sie waren ihren eigenen Plänen und Vorhaben nicht gewachsen. Das Hamburger Unternehmen war zum Scheitern verurteilt, schon ehe es ge-gründet war . Es war historisch unmöglich, weil es die Kluft der Ungleichzeitigkeit hätte über­ springen müssen, die zwischen dem Wollen seiner Begründer und dem zu diesem Zeitpunkt Möglichen lag . Das Hamburger Nationaltheater markiert den Anfang und zugleich das Ende, es zeigt die inneren Widersprüche, schließlich die Unmöglichkeit des genuinen bürgerli­ chen Nationaltheaters in Deutschland. Was in den Jahren danach als Nationaltheater in Mannheim, Wien, Stuttgart, Berlin, Weimar ausgegeben wurde, waren keine Bühnen mehr mit bürgerlich-aufklärerischem Anspruch. Sie waren allesamt ursprünglich als Hoftheater entstanden. Und sie blieben in den Residenzstädten situierte, oberflächlich angepaßte Hoftheater. s Ihre Anpassung bestand hauptsächlich darin, daß sie statt französisch- deutschsprachig wurden, und daß sie sich anderen Zuschauerkreisen als nur der Hofgesellschaft öffneten. Das letzte hatte zwar auch eine gewisse Veränderung des Repertoires zur Folge, doch ging diese wieder eher in die Richtung des unterhalt­ samen Lustspiels als des anspruchsvollen Schauspiels . National, im Sinne eines mora­ lischen Appells, waren sie allenfalls gelegentlich, und wenn, dann eher zufällig als pro­ grammatisch . Sie unterlagen im allgemeinen strikter Zensur und förderten ein kon­ servatives Programm. Die Französische Revolution zum Beispiel blieb auf diesen Bühnen ein fast gänzlich ausgeschlossenes Thema . Was in den Hof- und Nationaltheatern jedoch Wirklichkeit wurde, war die Tatsache, daß hier die Obrigkeit, der Staat, die Verantwortung für das Theater auf sich nahm. Es war einer der größten Träume der Aufklärer gewesen, daß die Obrigkeit den Nutzen des Theaters erkennen möge, es nicht nur als Stätte der Unterhaltung betrachten und sich deshalb seiner Förderung und Erhaltung annehmen würde . 6 Die Fassung, in der dies jetzt in den Hof- und Nationaltheatern eingetreten war, entsprach allerdings nicht mehr den Vorstellungen der frühen Befürworter einer staatlichen Verantwortung . Die obrigkeitliche Verantwortung für die neuen Theater war ja nicht mehr als die logische Verlängerung ihres ehemaligen reinen Hoftheaterstatus . Die nun entstandene Situation kann zugleich aber auch als Ausdruck dafür verstanden werden, daß die vormalige Initiative geschwächt, daß das Insistieren auf den bürgerlichen Idealen zurückgetreten war. Man sah die Rolle des Staates im Hinblick auf das Theater jetzt anders als vor der Jahrhundertmitte . Nicht nur hatten die Regierenden sich die Idee des Nationaltheaters auf ihre Weise zunutze gemacht, auch die bürgerliche Forderung an den Staat und die

5 Die allgemeinen und besonderereD Entwicklungen des Nationaltheaters im 18. Jahrhundert, insbesondere seine .Realisierung" in den Hoftheatern, hat Reinhart Meyer mehrfach gründlich beschrieben: - Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater, in: Hanscrs Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3 . 1 , München 1980, S. 1 86-216. - Das Nationaltheater i n Deutschland als höfisches Institut: Versuch einer Begriffs- und Funktionsbestimmung, in: R. Bauer/J. Wertheimer (Hrsg. ), Das Ende des Stegreifspiels. Die Geburt des Nationaltheaters , München 1983 , s. 124- 152. - Limitierte Aufklärung. Untersuchungen zum bürgerlichen Kulturbewußtsein im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: H.E. Bödeker/U. Herrmann (Hrsg. ), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 1 8 . Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 85) , Göttingen 1987, s. 139-200. 6 Vgl. die Beispiele, die Roland Krebs (Anm. 2, S. 129 ff. ) anführt.

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III. Nation Horst Steinmetz ·

von ihm verlangte Einstellung zum Theater waren einer mehr kooperativen Haltung gewichen, man kann fast von kollaborativer Haltung sprechen. Das Theater zielte nicht mehr auf Veränderung oder Verbesserung von Staat und Gesellschaft, sondern wurde mehr oder weniger in deren Dienst gestellt. Extrem wurde dieser Standpunkt etwa von dem Wiener Staatsrat Tobias Phitipp von Gehler vertreten, in dessen Plädoyer für ein Nationaltheater aus dem Jahre 1 775 es heißt: "Jeder Unterthan, der abwechselnd Freu­ de und Vergnügen spenden darf, wird beim Muthe erhalten und erträgt Arbeit und Unfälle geduldig . Öffentliche Tanzplätze, Concerte , Spaziergänge, besonders gute Schauspiele sind die Mittel, das Volk aufgeräumt zu machen. Derjenige , der sich nun bestrebt, seine Mitbürger bei guter Laune zu erhalten, erleichtert dem Regenten die Regierungslast, denn es wird leichter sein, seine Unterthanen in dieser Gemüthsverfas­ sung zu beherrschen, als wenn sie unzufrieden wären. "7 Das deutsche Nationaltheater war gescheitert, ehe seine Verwirklichung begonnen hatte . Diese Entwicklung ist von Zeitgenossen wie Nachfahren vielfach beklagt und vor allem als das Ergebnis politisch-gesellschaftlicher Umstände beschrieben worden. Schon Lessing hatte die " Hamburgische Dramaturgie " mit bitteren Worten beschlos­ sen: " Über den gutherzigen Einfall , den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung , sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei : keinen eigenen haben zu wollen. " 8 Lessings Worte , deren Tenor i n fast allen späteren Klagen über die unglückliche Ge­ schichte des deutschen Nationaltheaters anklingt, sind richtig und falsch in einem. Les sing hatte recht mit seiner Feststellung, daß es in der Mitte des 18. Jahrhunderts allenfalls Ansätze eines Strebens nach einem allgemeinen sittlichen Nationalcharakter gab . Aber seine Worte haben auch dazu beigetragen, einen falschen Mythos über die Möglichkeiten des Nationaltheaters zu schaffen. Es war eben nicht nur eine Frage des Wollens derjenigen, die am Nationaltheater beteiligt waren, der Autoren, der Unter­ nehmer, der Zuschauer. Die Idee des Nationaltheaters selbst war inzwischen zu einer Art Mythos geworden. Wie weit dieser reichte, zeigen die Worte von Walter Jens , der die Zielvorstellung des Nationaltheaters definiert "als eines klassenlosen Instruments allgemeiner Emanzipation, die Kluft zwischen dem Privaten und Allgemeinen, dem menschlichen und politischen Leben, der Existenz des Individuums und der Existenz des Gemeinwesens als überwindbar zu erweisen" .9 Solche Formulierungen sind eher geeignet, entstandene Legenden zu verstärken, als daß sie historischer Wirklichkeit gerecht würden. Das Nationaltheater wurde nicht nur das Opfer widriger Umstände . Zu seiner Geschichte im 1 8 . Jahrhundert gehört es auch, daß es die ihm im Laufe der Zeit zugeschriebenen Aufgaben, und erst recht die ihm im nachhinein zugeschriebenen, schlechterdings nicht erfüllen konnte . Die ihm zuerteilten Aufgaben hätte es nur erfüllen können, wenn es ein Theater hätte werden können, das eine existierende Na-

7 T. Ph.v. Gebier, Allerunterthänigster Vorschlag_zur Verbessenmg der Nationalschaubühne und des Theaters überhaupt, Neudruck bei Krebs (Anm. 2), S. 656. 8 G.E. Lessing, Harnburgische Dramaturgie, in: ders. , Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1973 ff. , Bd. 4, s. 698. 9 Walter Jens, Der Ort der Handlung ist Deutschland. Nationaltheater ohne Nation, in: J. Brummack u.a. (Hrsg . ), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 198 1, S . 134 f.

Idee Wld Wirklichkeit des Nationaltheaters

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tion, und wenn nicht das, so doch eine von der Mehrheit der Deutschen akzeptierte Gesellschafts- oder Gemeinschaftsform hätte repräsentieren können. Das National­ theater mußte Nationalgehalte ja nicht nur vermitteln, sondern es mußte Nationalgehalt, Nationalgefühl überhaupt zu schaffen mithelfen. Was man von Lessing bis Jens vom Nationaltheater gefordert hat, ist seine Funktion als Ausdruck und Wiedergabe eines Vorhandenen, eines im Grunde Unumstrittenen. Das aber war gerade das, was das Nationaltheater nicht leisten konnte. Es war die ursprüngliche Idee des Nationaltheaters gewesen, mitzuhelfen, die Nation zu einer Nation zu machen. Diese Idee wandelte sich im Laufe der Zeit. Statt des angestrebten allgemeinen Erziehungsinstituts wurde eine Einrichtung gefordert, in der das Deutsche und der Deutsche wiedererkennbar sein sollten. Das aber war eine Veränderung der Zielvorstellung, die das Nationaltheater auch in seiner ursprünglichen Idee scheitern lassen mußte . Es ist darum gut, sich einzelne Aspekte dieses Vorgangs nochmals zu vergegenwärtigen.

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Die um 1 730 einsetzende Erneuerung von Theater und Drama war von vornherein zweigliedrig strukturiert. Einerseits sollte das Theater als solches reformiert werden, was in das Streben nach stehenden Bühnen mit festen Ensembles und ständigen Direktoraten mündete, auch zum Beispiel in die Forderung nach besserer Ausbildung der Schauspieler. All dies sollte zu einer sozialen Anerkennung sowohl des Theaters als förderungswürdiger Institution als auch des Schauspielerstandes führen. Andererseits sollte das Bühnenrepertoire verbessert, d . h. die Produktion sogenannter regelmäßiger Dramen angeregt und vergrößert werden. Auf beiden Gebieten erkannte man in Eng­ land und Frankreich einen großen Vorsprung, den es einzuholen galt. Entscheidend ist hierbei jedoch von Beginn an, daß es zunächst weder bei der Theaterreform noch bei der Stimulierung der Dramenliteratur um selbstwertige Ziele ging, sondern daß beides in den Dienst eines umfassenden Erziehungsprogramms gestellt wurde. Im Grunde sah man in Drama und Theater Erziehungsmedien wie Schule oder Universität, mit deren Hilfe man Aufklärung verbreiten konnte. Antrieb für die Erneuerungen waren daher nicht in erster Linie oder überwiegend künstlerische Grundsätze, sondern soziale und bildungspolitische Ideale . Hierin lag von Anfang an eine gewisse Schwäche des möglichen Wirkungspotentials des deutschen Theaters : die genuinen theatralen Aspekte wurden zugunsten moralisch-aufklärerischer zurück­ gedrängt. Es ist nicht übertrieben, wenn man konstatiert, daß die didaktische Kompo­ nente generell die Identifizierungsmöglichkeiten mit dem auf der Bühne Dargestellten daher beschränkt hat. Das deutsche Drama blieb als ernstes Drama bis zu Schiller vor allem Thesendrama, zu dem man kritisch Stellung beziehen mußte. Nicht zuletzt deswegen hat es mühsamer Anstrengung bedurft, bis zum Beispiel Shakespeares Bühnenwerk, das sich weder den didaktischen und moralischen Erwartungen noch den Gesetzen der Regelpoetik fügte, in Deutschland heimisch werden konnte . Die Erziehungsideale, die man über Theater und Drama zu verwirklichen trachtete, waren die bürgerlichen Ideale, die zur Besserung des einzelnen wie der Gesellschaft führen sollten. Von ihnen aus erklärt sich auch die von Anfang an stipulierte Verbin­ dung zwischen Theater und Gesellschaft, zwischen Theater und Staat, erklärt s ich die das Jahrhundert durchziehende These vom großen Nutzen, den das Theater als

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Erziehungsinstitut für das gesellschaftliche Leben im ganzen habe, die These vom positiven Einfluß auf das Wohl des Staates . 10 Die Stimmen, die diese " staatliche " Funktion des Theaters verteidigten, reichen von Gottsched bis Schiller, ja klingen noch im 1 9 . Jahrhundert bei Immermann und Laube nach. Über die anvisierte Sitten- und Gesellschaftsverbesserung kam nun überhaupt erst die nationale Dimension ins Spiel . Zunächst war das Eintreten für deutsches Theater und deutsches Drama nicht ein Kampf für ein eigentlich deutsches Produkt in na­ tionalem Sinne. Deutsches Theater, deutsche Literatur hieß zunächst - und das gilt für den Gottschedkreis wie für viele Spätere -, sich mit Hilfe eines niveauvollen, den inter­ national anerkannten poetischen Regeln folgenden Produkts in die Gemeinschaft der Kulturnationen einreihen. Das Nationale wurde darum instrumentell eingesetzt. Ein­ heimisches - und man sprach zunächst anstelle von Nationalem von Einheimischem -, Einheimisches, einheimische Sitten, Themen, Stoffe, Figuren konnten nach Auffassung der Dramatiker den Zuschauer besser für die eigentliche didaktische Botschaft zugäng­ lich machen, konnten ihn williger stimmen, die soziale Mitteilung zu akzeptieren. So argumentierte etwa auch Johann Elias Schlegel in seinen " Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters " aus dem Jahre 1 747, die allgemein als eine der ersten theoreti­ schen Begründungen des Nationaltheaters betrachtet werden. Nach Schlegel wird sowohl das durch das Theater vermittelte Vergnügen als auch die Chance der Akzep­ tanz der zu vermittelnden Lehre größer sein, wenn das Theater von einheimischen Sitten und Charakteren Gebrauch macht: "Bei Einrichtung eines neuen Theaters muß man also die Sitten und den besonderen Charakter seiner Nation in Betrachtung ziehen und zugleich den edelsten Endzweck vor Augen haben, der durch Schauspiele über­ haupt und der insonderheit bei unserer Nation erhalten werden kann. " 11 Schlegel entwickelt seine Thesen sachlich und ohne jedes Nationalpathos . Dazu ist er unter anderem deshalb in der Lage, weil er als Deutscher über ein dänisches Natio­ naltheater spricht; wichtiger aber ist vielleicht noch die Tatsache, daß er das Nationale als ein Medium betrachtet, mit dessen Hilfe das wesentliche Ziel des Theaters, auch des Nationaltheaters, besonders gut zu erreichen sei. Darum sind auch seine dänische Nationalgeschichte benutzende Tragödie " Canut" und das entsprechende deutsche Drama " Herrmann" ohne alle Tendenzen zur Verherrlichung von Nationalgefühlen oder Nationalgeschichte geschrieben. Schlegels Position war eine der grundlegenden der Aufklärung . Auch nach ihm wurde sie von vielen eingenommen und verteidigt. Noch Lessings Dramentheorie und dramatische Praxis war durch sie bestimmt, wenn er zum Beispiel meinte, " der mitlei­ digste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen

10 Vgl. Johann Christoph Gottsched, Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, 1729; Johann Friedrich Löwen: .Eine Bühne, für deren Aufuahme unsre Dichter, die zugleich Philosophen sind, arbeiten, muß einem Staate der größte Vortheil seyn", in: H. Stümke (Hrsg.), Job. Friedrich Löwens Geschichte des deutschen Theaters (1766) und Flugschriften über das Hamburger Nationaltheater (Neudrucke literarhistorischer Seltenheiten, 8), Berlin o.J., S. XXII; Johann Friedrich Schinlc: .Gute Theaterwerke haben einen positiven Einfluß auf das Wohl des Staats, auf Ruhe und Glückseligkeit der Bürger", in: ders., Dramaturgische Fragmente, Graz 1782, zit. nach J. Mathes, Die Entwicklung des bürgerlichen Dramas im 18. Jahrhundert (Deutsche Texte, 28), Tübingen 1974, s. 100. 11 Klaus Hammer (Hrsg.), Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 89.

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Arten der Großmuth der aufgelegteste " 12• Auch Schillers " moralische Anstalt" reflek­ tiert diesen Gedanken. Etwa seit der Jahrhundertmitte jedoch gibt es neben dieser eine zweite Auffassung , die neben sie tritt und sich zugleich mit ihr vermischt. Das Einheimische , das Nationale wird nicht länger als ein Mittel, sondern als Zweck, als Ziel des Theaterspiels gesehen. Aus dem funktionalen wird ein autonomer Wert. Bezeichnend zum Beispiel , daß Joseph II . die Errichtung des Wiener Nationaltheaters noch mit dem Argument begründet, das Theater habe " zur Verbreitung des guten Geschmackes, zur Veredlung der Sitten" beizutragen13 , während das "Theater-Journal für Deutschland" aus dem Jahre 1 777 anläßlich dieser Gründung jubelte : "Welch entzückender, herrlicher Gedanke für jeden, der empfinden kann, daß er ein Deutscher ist . " 14 Charakteristisch aber ist auch Les­ sings ausdrücklicher Hinweis auf das Deutsche in Gellerts Komödien schon zehn Jahre vorher: " Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Geliert derjenige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. " 15 Wann und wo genau dieser Umschlag und diese Vermischung des funktional-instru­ mentellen mit dem autonomen Wert eingetreten sind, ist nicht präzise festzustellen. Vermutlich haben mehrere Faktoren für diese Entwicklung gesorgt. Sie ist Ausdruck der allgemeinen Auswirkung des entstehenden historischen Bewußtseins , das auch und insbesondere nationalen Kulturen und Literaturen neue Bedeutung zuwies ; es gab generell ein Erstarken patriotischen Empfindens in allen möglichen Schattierungen; auch etwa die Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges haben Einfluß gehabt. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und eine nicht geringe Anzahl anderer Dichter wurden durch den Krieg zur Artikulierung ausgesprochen patriotischer Gefühle inspiriert, worüber sie mit Lessing beinahe in Konflikt gerieten. 16 Mehr oder weniger plötzlich ging es darum auch bei der Schaffung einer deutschen Literatur nicht mehr, wie noch bei Gottsched und seinen Schülern, um eine Gleichwer­ tigkeit dieser Literatur mit der anderer Nationen, sondern es ging um das Sichtbarma­ chen besonderer, eigener Züge und Charakteristika des Deutschen. Auch das seit langem bekannte Gefühl der " verspäteten" Nation, des Rückstandes im Vergleich zu anderen Völkern, prägte nun das Kulturbewußtsein im Sinne des patriotisch empfunde­ nen Nationalen mit neuen Akzenten. Klopstock zum Beispiel verband mit der deutschen Sprache ein ausgeprägtes nationales Sendungsbewußtsein. In diesem Vorgang artiku­ liert sich eine für das 1 8 . Jahrhundert in Deutschland charakteristische Entwicklung . Anstelle einer politischen und sozialen Vereinigung zur Nation sollte diese Vereinigung gewissermaßen stellvertretend in der Kunst, der Literatur, in der Kultur allgemein zu­ standekommen. Über die Kultur suchte man zu verwirklichen, was sonst unmöglich war . 17 12 Brief an Nico1ai vom 13. November 1756, in: G.E. Lessing, Sämtl. Schriften, hrsg. von Kar! LachStuttgart 1886-1924, Bd. 17, S. 66. 1 3 Zitiert bei H. Kiesel/P. Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert, München 1977, S. 84. 1 4 Theater-Journal für Deutschland, Gotha 1777, 1. Stück, S. 110. 15 Lessing (Anm. 8), s. 330. 1 6 Vgl. den Brief Lessings an Gleim vom 14. Februar 1759: .Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes [...] keinen Begriff, und sie scheinet mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre", in: Lessing (Anm. 12), S. 158. 11 Vgl. Wolfgang Frühwald: .[...] verlagerte sich das Schwergewicht von der schwindenden Hoffnung auf die Bildung einer Staatsnation in Richtung auf den Ausbau der Kulturnation, welche damit nicht als etwas mann,

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In der Forderung nach einem Nationaltheater kamen all diese verschiedenen, zum Teil disparaten Auffassungen, Faktoren und Strömungen zusammen. Dem National­ theater wurden nun Erwartungen zugeordnet, die schlechterdings unerfüllbar waren. Der Blick auf die eigene politische und kulturelle Misere verzeichnete zudem das positive Bild, das man sich vom Ausland machte. Das große Vorbild für ein deutsches Nationaltheater war die Comedie Fran(:aise. In diesem Theater sah man gewissermaßen an anderem Ort die eigenen Träume verwirklicht. Gewiß , dieses Theater war seit Jahrzehnten ein stehendes Theater, mit festem Ensemble , einer Direktion, selbst mit Schauspielerpensionen. Und es verfügte über ein großes nationales Repertoire . Was man übersah, war zum Beispiel die Tatsache, daß dieses Theater königlicher Verfügung entsprungen war , daß es durchaus die Züge eines Hoftheaters beibehalten hatte , daß auch das Publikum dieses Theaters Ia cour et Ia ville geblieben waren, daß es wie alle Hoftheater der Zensur unterworfen war . 18 In Frankreich selbst war seine Funktion als Nationaltheater keinesfalls unumstritten, denn es erreichte das große Publikum nicht, weil sein Repertoire, in Sebastien Merciers Worten, kein spectacle national enthielt. 19 Natürlich spielte in Frankreich Paris im politischen und kulturellen Bewußtsein der Franzosen eine national verbindende und verbindliche Rolle . Und natürlich war es für ein deutsches Nationaltheater äußerst nachteilig , daß es kein kulturelles Zentrum wie Paris oder auch London gab , von dem generelle kulturelle, literarische oder theatrali­ sche Impulse ausgegangen sein könnten. Doch ist dies eher wiederum ein Beweis dafür, daß die Erwartungen, die man an das Nationaltheater knüpfte , Illusionen bleiben mußten. Herder war einer der wenigen, der realistische Konsequenzen aus der gegebe­ nen Situation gezogen hat: " Unsere Nation besteht aus vielen Provinzen; der National­ geschmack unsers Theaters muß auch aus den Ingredienzien eines verschiedenen Pro­ vinzialcharakters entspringen. "20 Ebenso konsequent schätzt er die Möglichkeiten eines Nationaltheaters ein: " Es ist also ausgemacht, daß dasjenige, was man auf gewisse Weise von dem guten Geschmack in Deutschland überhaupt sagen kann, insbesondere und auf alle Weise von der deut­ schen Schaubühne gelten müsse, nämlich: daß sie nur noch in ihrer Kindheit sei . - Und wann wird s ie aus der Kindheit kommen? Fast möchte man sagen: Niemals ! " 21 Die im ganzen widersprüchlichen Erwartungen hinsichtlich der Funktion, des mögli­ chen Einflusses eines Nationaltheaters in Deutschland haben zum Teil sogar zu einer Art Verwirrung geführt. Man wußte nicht mehr, was zuerst dasein müsse : das Theater, das die Deutschen zur Bildung der Nation anspornen sollte , oder die Nation, die das Nationaltheater hervorbringen würde . Illustrativ hierfür ist Schillers wechselnder

Existent-Gegebenes, sondern als eine im Bewußtsein der Menschen erst herzustellende Nation erschien, so daß die Idee der 'Kulturnation' anders als in Meineckes Begriff der vegetativen Kulturnation, ein den Gebildeten bewußtes Surrogat für die deutsche Staatsnation wurde", in: ders., Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland, in: 0. Dann (Hrsg.), Nationalismus in vorindustrieller Zeit (Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, 14), München 1986, S. 131. 18 Vgl. hierzu u.a. H.C. Lancaster, The Comedie Fran9aise. Plays, Actors, Spectators, 2 Bde., Paris 1941/Philade1phia 1951. 1 9 Sebastien Mercier, Du Theätre ou nouvel essay sur 1'art dramatique, S. 348. Vgl. auch Roger Bauer, Theater und Nation in Frankreich - Von Voltaire bis Louis-Sebastien Mercier, in: Bauer/ Wertheimer (Anm. 5), s. 95-103. 20 J.G. Herder, Über die neuere deutsche Literatur, in: Hammer (Anm. 11), S. 208. 21 Ebd., S. 205.

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Standpunkt. 1 782 führt er in seiner Abhandlung Über das gegenwärtige teutsche Theater" aus : .so lang das Schauspiel weniger Schule als Zeitvertreib ist - mehr dazu gebraucht wird die eingähnende Langeweile zu beleben, unfreundliche Winternächte zu betrügen, und das große Heer unserer süssen Müssiggänger mit dem Schaume der Weisheit, dem Papiergeld der Empfindung , und galanten Zoten zu bereichern, so lang es mehr für die Toilette und die Schenke arbeitet: so lange mögen immer unsere Thea­ terschriftsteller der patriotischen Eitelkeit entsagen, Lehrer des Volkes zu seyn. Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dörfte wohl schwerlich die Bühne ihr Publi­ kum bilden. "22 Zwei Jahre später heißt es dagegen in Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? " : Wenn in allen unsern Stücken ein Hauptzug herrschte , wenn unsre D ichter unter sich einig werden, und einen festen Bund zu diesem Endzweck errichten wollten - wenn strenge Auswahl ihre Arbeit leitete , ihr Pinsel nur Volksge­ genständen sich weihte - mit einem Wort, wenn wir es erlebten eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation. " 2 3 Die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse im Deutschland des 1 8 . Jahrhunderts haben die Verwirkli­ chung eines Nationaltheaters bereits als konkrete, theaterpraktische Aufführungsstätte unmöglich gemacht. Was sich Nationaltheater nannte , entsprach den Vorstellungen, wie schon angemerkt, keineswegs . Im besten Falle repräsentierte es einen gewissen Lo­ kal- oder Provinzialpatriotismus . 24 Auch die Verarbeitung bestimmter Stoffe aus deutscher Vergangenheit konnte daran nichts ändern. Die blutrünstigen und säbelras­ selnden Ritterdramen in der Nachfolge von Goethes .Götz von Berlichingen" haben die Realisierung des Nationaltheaters jedenfalls nicht fördern können. Die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse im Deutschland des 1 8. Jahrhunderts haben jedoch nicht nur ein nationales Theater als praktische Ein­ richtung verhindert, sie haben vor allem dafür gesorgt, daß es zu keiner Identifizierung zwischen Individuum und Staat kommen konnte , die auf der Bühne ihren repräsentati­ ven Ausdruck gefunden haben könnte , die für ein erfolgreiches Nationaltheater die unabdingbare Voraussetzung bildet. Selbst wenn es ernstzunehmende Anstrengungen gegeben hätte , ein nationales Theater mit dem Anspruch, überterritorial zu sein, zu schaffen, es hätte scheitern müssen, weil es keine Dramen gab, die man dort hätte aufführen können. Und daß es sie nicht gab , war ebenfalls eine Folge der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse. Es gab kein Repertoire, das sich als ein .typisch" deutsches hätte ausweisen können. Die bürgerlichen Dramen und rührenden Lustspiele der Gellert-Lessing -Generation vertraten bürgerliche Ideologien, die ebenso deutsch wie französisch oder englisch, die in ihrer literarischen Ausformung von durchaus internationalem Zuschnitt waren. Lessing lobt das .Deutsche " in Gellerts Lustspielen, es tatsächlich auszumachen fällt schwer, denn die dargestellten Sitten von •





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22 F.v. Schiller, Über das gegenwärtige teutsche Theater, in: Nationalausgabe, Bd. 20, S. 8lf. 23 Ebd., S. 99. 24 Kennzeichnend sind zum Beispiel Maler Müllers Gedanken über Errichtung eines deutschen Nationaltheaters (1777). Im Titel taucht zwar der Begriff .Nationaltheater" auf, doch geht es Müller tatsächlich nur um einen .pfälzischen" Nationalismus. Lessing, den man für Mannheim gewinnen wollte, reagierte sarkastisch: .Mit einem deutschen Nationaltheater ist es lauter Wind, und wenigstens hat man in Mannheim nie einen anderen Begriff damit verbunden, als daß ein deutsches Nationaltheater daselbst ein Theater sey, auf welchem lauter Pfälzer agirten", Brief an Kar! Lessing vom 25. Mai 1777, in: Lessing (Anm. 12), Bd. 18, S. 245.

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denen bei Destouches oder Addison zu unterscheiden, ist kaum möglich. Ähnliches gilt für das deutsche bürgerliche Trauerspiel im Vergleich etwa zu Diderot oder Lillo . Was Lessings Tragödien von ausländischen vergleichbaren Werken abweichen läßt, ist charakteristischerweise eine Tendenz zur Flucht aus der Öffentlichkeit. Und von sei­ nem utopischen " Nathan" meinte er selbst, daß er vorläufig nicht aufgeführt werden könne. 25 Eine Ausnahme bildet allenfalls Lessings "Minna von Barnhelm" . Sie ist eine deutsche Komödie . Aber wiederum eine , der der Appell an die ganze Nation fehlt, je­ denfalls in den Augen der Zeitgenossen. Goethe zum Beispiel erkannte in dem Drama einen " vollkommenen norddeutschen Nationalgehalt" , sah in ihm die Darstellung der Querelen zwischen Sachsen und Preußen. 26 Erst mit dem " Sturm und Drang " und mit Schillers Werken erschienen Dramen, die erkennbar Deutsches auf die Bühne brachten. Sie aber sind nun gerade Dramen, die sich für ein repräsentatives Nationaltheater keinesfalls eignen. Es sind Oppositionsdramen, die den für ein funktionierendes Na­ tionaltheater notwenigen Ausgleich zwischen Staat und Individuum, zwischen Freiheit und Herrschaft als gerade nicht vorhanden anprangern. Sie entlarven die Nationalthea­ teridee endgültig als Wunschvorstellung , widerlegen die daran geknüpften Hoffnungen und Erwartungen als Illusion. Die Geschichte des deutschen Nationaltheaters ist zweifellos eine Geschichte der Enttäuschungen und Frustrationen. Doch sollte man darüber nicht aus den Augen ver­ lieren, daß das Scheitern der Verwirklichung der Nationaltheateridee, historisch gese­ hen, unvermeidlich war . Man sollte jedoch vor allem nicht übersehen, daß die bedeu­ tenden Dramatiker der Zeit, Schiller, Goethe, Lenz, Wagner, auch Lessing ist ihnen bis zu einem gewissen Grade zuzurechnen, daß diese Dramatiker sich durch die Wunschvorstellungen über ein Nationaltheater nicht davon abbringen ließen, eine deutsche Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, die der tatsächlichen Realität ent­ sprach. So sehr sie alle der Nationaltheateridee anhingen, sie sind nicht der Versuchung erlegen, diese tatsächliche Realität den Erfordernissen einer Nationaltheaterbühne an­ zupassen.

25 Lessing, Vorrede zum "Nathan", in: ders. (Anm. 8), Bd. 2, S. 748 f. 2 6 Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: ders. (Anm. 1), Bd. 9, S. 281 f.

Gonthier-Louis Fink (Strasbourg) Das Wechselspiel zwischen patriotischen und kosmopolitisch-universalen Bestrebungen in Frankreich und Deutschland (1750-1789)

Nicht nur das historische Drama oder der historische Roman, auch die Historiographie ist immer zugleich Ausdruck einer indirekten Auseinandersetzung mit dem Geist der Zeit. Insofern ist es aufschlußreich zu sehen, daß die Forschung, die den Patriotismus lange Zeit als ein Stiefkind behandelt hat, sich in den letzten Jahren sowohl in Frank­ reich wie in Deutschland vorrangig mit unserem Problemkreis befaßt hat. Angesichts der Integrationsprobleme, die auf der einen Seite Europa, auf der anderen die Ein­ wanderer stellen, angesichts des krassen Individualismus der einen und des materialisti­ schen Egoismus von Gruppen und Grüppchen sowohl in Frankreich wie in Deutsch­ land, scheint, wenn auch noch dunkel, die Erkenntnis durchzudringen, daß unbeschadet eines europäischen bzw . eines weltweiten Kosmopolitismus ein übergreifendes Gemein­ schaftsgefühl, daß Patriotismus gestern wie heute not tut und daß dies eine Konfronta­ tion mit der Vergangenheit und eine Reflexion über die kollektive Identität mit sich bringt . Trotz zahlreicher Vorarbeiten bleibt noch mancher Aspekt unbelichtet, der gerade durch den Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland sich deutlicher abzeichnen dürfte . Darüber hinaus geht es mir auch darum, den jeweiligen soziologischen Bezug und die jeweilige politische Bedeutung der beiden Hauptbegriffe "Patriotismus " und "Kosmopolitismus " , die von den verschiedenen sozialen Schichten verschieden erlebte Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, Region, Land und Europa bzw . Humanität sowie die Bedeutung der drei Zeitebenen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenigstens anzudeuten. So zahlreich die Anregungen auch sind , die ich von der Kritik erhielt, sie können in diesem beScheidenen Rahmen nicht alle ausgewertet werden. Das 1 8. Jahrhundert wurde gerne als das Jahrhundert des Kosmopolitismus bezeich­ net, wobei jedoch nicht nur dessen kritische Funktion, sondern auch dessen wechsel­ volle Verbindungen mit dem Patriotismus gerne übersehen wurden, wie überhaupt infolge zu pauschaler Betrachtung des ambivalenten Phänomens dessen Bedeutung vor allem für die französische Aufklärung bald unter-, bald überbewertet wurde, zumal nur selten der Ambivalenz der beiden Begriffe Rechnung getragen wurde . 1 Infolge der verschiedenen politischen Strukturen der beiden Länder hat der monarchische Patriotis­ mus in Frankreich eine andere Bedeutung als der dynastische im Heiligen Römischen Reich, denn er bot trotz der ständischen Barrieren allen Ständen einen gemeinsamen

1 Ansätze dazu bei: J. Godechot, Nation, Patrie, Nationalisme et Patriotisme en France au XVIII' siecle, in: Annales historiques de Ia Revolution fr�e. XIII, 1936, S. 1-17; J. Voisine, .Patrie",.nation", .cosmopolitisme" dans Ia Iitterature des Lumi�res, in: Litteratures. Melanges A. Monchoux, Annales de l'Universite de Toulouse, N S XIV, 1979, S. 123-39. Vgl. auch die erweiterte französische Fassung: G.-L. Fink: Patriotisme et cosmopolitisme en France et en Allemagne (1750- 1789), in: Recherehes germaniques 22 (1992), s. 3-51. .

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geistigen Mittelpunkt, dessen Infragestellung umso folgenreicher war, als es im Gegen­ satz zu Deutschland keine Alternative dazu gab . In Deutschland hingegen wurden die Liebe zum Fürsten und zum Land bald durch den Reichspatriotismus ergänzt, bald diesem entgegengesetzt. Während in Frankreich der aristokratische Patriotismus, dem zufolge der Adel die wahre Nation ausmachte , sich von dem republikanischen abhob , entsprach ihm in Deutschland die Gallomanie bzw . der adlige Kosmopolitismus , dem zufolge das Standesbewußtsein größer war als das Nationalbewußtsein. In Deutschland wie in Frankreich bereitete sich der dritte Stand darauf vor, der neue Träger des Nationalgedankens zu werden, was in der Französischen Revolution dann auch ge­ schah; in Deutschland hingegen begnügte er sich vorläufig damit, eine nationale Kultur zu schaffen. Nachdem in der ersten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts Dubos, Montesquieu , Voltaire u . a . m . versucht hatten, den Nationalcharakter eines Volkes in Zusammenhang mit der Klimatheorie zu begründen und im Anschluß an die Wirkungspoetik zuerst in Frank­ reich, etwas später in Deutschland eine enge Verbindung zwischen Nationalcharakter und Nationalgeschmack gefordert worden war, was jedoch von den französischen Vertretern der universell ausgerichteten klassizistischen Poetik zurückgewiesen wurde , trat in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Auseinandersetzung in eine neue Phase ein. In Frankreich verdunkelte sich der politische Hintergrund zusehends, und das Vordringen einer neuen geistigen Trägerschaft verschärfte die sozialen Spannungen zwischen aristokratischen und klerikalen Traditionalisten auf der einen, Liberalen und Progressisten, die sich mehrheitlich aus dem Bürgertum rekrutierten, auf der anderen Seite . In Deutschland trug der Siebenjährige Krieg viel zur Politisierung der Reaktion auf die wesentlich kulturelle Hegemonie Frankreichs bei; sowohl der österreich-preußi­ sche Dualismus wie der Fürstenbund belebten eine Debatte, die infolge des nationalen Desinteresses und der frankophilen Orientierung des Adels wesentlich von den Mittel­ ständen geführt wurde. Während die Debatte in Zeitschriften, Broschüren und literari­ schen Gattungen ausgetragen wurde, blieben jedoch die meist analphabetischen unte­ ren Schichten des Volks auf beiden Seiten des Rheins mehr oder weniger stqmm, es sei denn, die Schriftsteller liehen ihnen ihre Stimme .

I Immer wieder taucht im 1 8 . Jahrhundert in Frankreich die Klage auf, die Franzosen hätten jeden Sinn für Patriotismus verloren. Hatte zu Beginn des Jahrhunderts Graf Boulainvilliers , der Vertreter des konservativen Adels, bedauert, daß die Vaterlands­ liebe , einst die große Triebfeder der Helden, jetzt für eine Chimäre gelte und durch den Dienst für den König verdrängt worden see, so konstatierte 1 754 der Abbe Coyer traurigen Herzens , daß nur das Volk noch patriotisch gesinnt sei. In der Tat verehrte es Ludwig XV . unter dem Beinamen le bien-aime, wie auch aus der allgemeinen Re­ aktion auf das Attentat von Damiens ( 1 757) hervorgeht, das Baculard d ' Arnaud eine 2 Vgl. G.-L. Fink, De I'Universalisme au Nationalisme. L'evolution des criteres de Ia critique litteraire allemande face a l'hegemonie culturelle de Ia France (1680- 1770), in: Recherehes germaniques 18 (1988), s. 3 ff. 3 Vgl. Boulainvilliers, Etat de Ia France, Londres 1727, Preface, S. X ff.

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" Ode a Ia France sauvee " eingab, aus der erhellt, daß für ihn wie für das Volk König und Vaterland noch eins waren. Die anderen Stände jedoch, der Amts- wie der Schwer­ tadel, der Höfling wie der Financier, würden Coyer zufolge , bei dem Wortpatrie, das für sie einen archaischen Beigeschmack habe, nur verächtlich mit der Achsel zucken, während der Klerus auf den Himmel als das wahre Vaterland verwiese. 4 Das heißt, daß der Patriotismus letztlich fast all denen, die den Ton angaben, fremd geworden war . Daß es sich dabei nicht etwa um das Zeugnis eines vergrämten Patrioten handelt, geht schon daraus hervor, daß manche Schriftsteller es bestätigen. So erklärte Charles Pinot­ Duclos : " Les hommes de merite [ . ] sont exempts d'une vanite nationale et puerile , ils Ia laissent au vulgaire, a ceux qui, n' ayant point de gloire personelle , sont r6duits a se prevaloir de celle de leurs compatriotes . "5 Dieser Verzicht auf den Nationalstolz zeugt von einer nicht unbedeutenden Wandlung im Frankreichbild .6 In seinen " Memoires pour servir a l ' histoire des moeurs du XVIIIe siecle " (175 1 ) zeigt Duclos darüber hinaus , wie der Schwertadel zwar einen besonderen Ehrenkodex hatte, der aber nicht im Dienst des Vaterlandes , sondern in dem der Galanterie stand, und daß er nur auf sein persönliches Vergnügen und seine Stellung am Hof und in der Gesellschaft bedacht war . 7 Noch 17 69 klagte M . L. Castilhon, daß die Schule den künftigen Bürgern eine bessere Idee von den Vergnügungen, die sie zu erwarten hätten, als von der Vaterlands­ liebe vermittle . 8 Die Gründe dafür sind verschiedener Art. Man hat zwar dieses patriotische Desinter­ esse auch durch die Niederlagen erklären wollen, die Frankreich im Siebenjährigen Krieg hatte hinnehmen müssen; denn insofern der absolute Monarch sich mit dem Staat und der Nation identifizierte, mußte sich die Schwächung des Landes auf seine Stellung und damit auch auf den Patriotismus auswirken. Das hieße aber vergessen, daß Frank­ reich damals noch nicht eigentlich eine Nation, sondern eine deutlich in drei ver­ schiedene Stände gegliederte Gesellschaft war, deren Interessen divergierten, ja kol­ lidierten9 , so daß für einen großen Teil des Adels , der Bürger und des Volks das Standesbewußtsein größer war als das Staatsbewußtsein einer nationalen Gemeinsam­ keit. D iese Spaltung hatte zwar keine Auswirkung auf das nationale Selbstverständnis , das allein von der kulturell führenden, adlig-bürgerlichen Elite geprägt und als für die Nation gültig betrachtet wurde, weil in dieser Hinsicht weder die Bauern noch die Kleinbürger zählten. Erst nach 1789 fielen diese Barrieren, wenigstens vorübergehend . Zweifellos hatte der Verlust Kanadas , der indischen Besitzungen und der Louisiana im Friedensvertrag von Paris ( 1 763) zugleich einen Prestigeverlust des Königs bedeutet, aber nicht nur wegen des unglücklichen Verlaufs des Krieges hatte er in den 60er Jahren aufgehört, der bien-aime des Volkes zu sein . 10 Die dynastischen Kabinettskriege .

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4 Coyer, Dissertation[...] sur Je vieux mot de Patrie, La Haye 1755, S. 25. 5 Pinot-Duclos, Considerations sur !es Causes physiques et morales de Ja Diversite du Genie, des Moeurs et du Gouvernement des Nations, Bouillon 1769, S. 162. 6 Vgl. G.-L. Fink, Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild ( 1648 - 1750), in: Recherehes germaniques 21 (1991), S. 12 ff. 7 Hrsg. v. H. Coulet, Paris 1986, S. 60 ff.: "Un homme a Ja mode". 8 Vgl. Anm . 5. 9 Vgl. Ph. Sagnac, La Formation de Ia Societe Francaise Modeme, Bd. 2, Paris 1946, S. 249; R. Muchembled, Societe et mentalites dans Ia France moderne. XVI'-XVIII' siecle, Paris 1990. 10 Vgl. A. Samouillan, La societe francaise au dix-huitieme siecle d'apres !es memoires, Paris 19 13, S. 290 f.

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interessierten zwar die führenden Schichten und zuweilen auch das gebildete Bürger­ tum, das Volk aber nur, insofern es durch deren ökonomische Auswirkungen darunter litt. Darum konnte J. Texte feststellen1 1 , daß die Anglomanie noch während des Sieben­ jährigen Krieges Wellen geschlagen hatte , und daß trotz der kriegerischen Auseinan­ dersetzungen zwischen den beiden Ländern die gebildeten Franzosen die Engländer keineswegs als Feinde behandelt hatten. 1 2 Und auch auf die Einstellung der Enzyklopä­ disten scheint der Siebenjährige Krieg keinen merklichen Einfluß ausgeübt zu haben: die verlorene Schlacht bei Roßbach ( 1 757) zeitigte höchstens einige satirische Seiten­ hiebe auf die französischen Generale. Die politische Dekadenz, die der Friede von Paris verdeutlichte, war manchen zeit­ genössischen Zeugnissen zufolge zugleich Ausdruck eines allgemeinen moralischen Verfalls , für den sowohl der König wie der Hof, der Luxus und die Immoralität der oberen Schichten verantwortlich gemacht wurden. 13 In Wirklichkeit handelte es sich bei dem weitverbreiteten Dekadenzgefühl vor allem um einen Ablösungsprozeß der geisti­ gen Führungsschicht, insofern die Modernen und die Enzyklopädisten die Klassizisten und Traditionalisten aus ihrer Position zu verdrängen suchten, wobei zwangsweise neue Werte und damit neue Kriterien sich durchzusetzen begannen, die die alten als dekadent erscheinen ließen. Tugend trat an die Stelle der Galanterie, Einfachheit an die des bel esprit, Natur an die einer verfeinerten Kultur und ihrer Konventionen; und zugleich machte sich das Bedürfnis nach einem neuen Gemeinschaftsgefühl geltend . In seinem viel beachteten "Dictionnaire philosophique" ( 1 764) betonte noch Voltai­ re, daß man seinem Vaterland , das heißt zunächst der Stadt oder gar dem Dorf, wo man geboren wurde, aus wohlverstandener Eigenliebe zugetan sei, und daß der Patriotismus in einem großen Land abnehme . 14 In den " Questions sur l ' Encyclopedie " ( 1 77 1 ) fügte er hinzu , daß eigentlich nur die Besitzenden auch am Wohl des Landes interessiert seien, während die große Masse der Nicht-Eigentümer zwar im Lande lebe , aber in Wirklichkeit kein Vaterland habe . 15 Indirekt bekannte er sich somit zu dem Motto von Cicero Patria est ubicum que est bene, oder genauer zu dessen Umkehrung : Wo es einem nicht wohl ist, gibt es kein Vaterland: " On a une patrie sous un bon roi , on n ' en a point sous un mechant. " Schon durch seine Schullektüre war das gebildete Europa mit der Tradition des republikanischen Patriotismus Roms und Griechenlands vertraut. In diesem Sinne er­ klärte Montesquieu, daß die Familie vor dem Individuum und der Staat vor der Familie gehe . 16 In " De l ' Esprit des lois " (1 747) schränkte er jedoch diese Aussage insofern ein, als seiner Meinung nach die Monarchie den Patriotismus entbehren könne und auch

11 J. Texte, J.-J. Rousseau et !es origines du cosmopolitisme litteraire. Etudes sur !es relations litteraires de Ia France et de l'Angleterre au XVIIr siecle, Paris 1895, S. 91. 12 Vgl. z.B. Ch.S. Favart: L'Anglois a Bordeaux, 1763, Sz. 14. Ähnliches gilt in bezog auf die Pariser Salons; vgl. auch Sagnac (Anm. 9), S. 98. 13 Vgl. z.B. G.Th. Raynal, Histoire philosophique et politique des Deux Indes (1781), hrsg. v. Y. Benot, Paris 1981, S. 367. Vgl. auch R. Monier, L'idee de dCcadence lit!Craire, in: ders., Le Coeur et Ia Raison. Recueil d'etudes sur le dix-huitieme siecle, Oxford/Bruxelles/Paris 1990, S. 53 ff., der in bezog auf den Geschmack und die Literatur das Dekadenzgefühl relativien. 14 Dictionnaire philosophique, hrsg. v. J. Benda, Paris, o.J., Bd. 2, S. 174. 15 Ebd., Notes, S. 335 f. 16 Montesquieu, Mes Pensees, in: ders., Oeuvres completes (Pleiade), hrsg. v. R. Caillois, Bd. 1, Paris 1949, s. 980 f.

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nicht den Verzicht auf den Eigennutz zugunsten des Gemeinwohls verlange, denn das Prinzip der Ehre ersetze die nur in einer Republik unerläßliche republikanische Tu­ gend. 17 Ähnlich entgegnete Freron dem Abbe Coyer, es sei leicht verständlich, daß nur noch selten von Patriotismus die Rede sei, da sie nicht in einer Republik, sondern in einer Monarchie lebten. 18 Noch deutlicher äußerte sich Grimm gegenüber seinen deutschen Korrespondenten: .Nous n' employons pas Je mot patrie parce qu ' il n ' y en a plus , pour parler avec justesse . II fault donc continuer a dire que nous servons Je roi et I ' Etat, et non pas Ia patrie . " 19 Unumwunden verkündete darum die .Encyclopedie " im Anschluß an La Bruyere : .il n' est point de patrie sous Je joug du despotisme" 20 , was wenig später d ' Holbach bestä­ tigte , als er den wahren Patriotismus nur in einer Republik zu finden glaubte .21 Darum warf Jaucourt Colbert, dem Vertreter des Absolutismus, vor, royaume und patrie mit­ einander verwechselt zu haben. Der richtig verstandene Patriotismus setzte voraus , daß alle , Regenten wie Regierte, den Gesetzen unterworfen seien; er duldete zwar einen Unterschied zwischen Hohen und Niederen, aber nicht Ausbeutung und Elend ; er ver­ langte vielmehr eine mäßige Gleichheit; darum blühe der Patriotismus vor allem in Demokratien, wo Gemeinnutz vor Eigennutz gehe, oder in Republiken, wo ein Brutus bereit gewesen war, seine rebellierenden Söhne dem Staat aufzuopfern, und wo es ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, weil von dessen Bestand die Wohlfahrt aller abhänge. Ein solcher Patriotismus , der das ganze Leben aller Bürger bedinge , be­ ruhe jedoch nicht auf Einsicht, auf Nationalbewußtsein, sondern auf Nationalgefühl . 22 Nur im Rahmen dieser Einschränkungen waren die Enzyklopädisten bereit, ihrerseits die Vaterlandsliebe zu preisen und im Anschluß an Montesquieu deren wohltätige Wir­ kungen hervorzuheben: .I ' amour qu ' on lui porte conduit a Ia honte des moeurs " . Das Verhältnis der Enzyklopädisten zu Frankreich war schon insofern zwiespältig , als sie die Freiheit auch als Vorbedingung der Aufklärung betrachteten. Mit der Satire sowohl des Despotismus der Krone und des Klerus wie der Willkür der Justiz , mit den Klagen über die Bevormundung durch die Jesuiten in Schule und Öffentlichkeit, die mangelnde Unterstützung der Künste und die Knebelung der Schriftsteller durch die Zensur, wie sie Voltaire in seinen .Contes philosophiques " , Duclos , Diderot u . a. m . in ihren Romanen und Abhandlungen teils direkt, teils verschleiert vorbrachten, wird deutlich, warum für sie die französische Monarchie keinen Rahmen für einen an den antiken Republiken ausgerichteten Patriotismus bot. Wie konnte aber Abhilfe für die französische Monarchie geschaffen werden? Die Klage war zwar allgemein, die Vorschläge über Mittel und Wege zur Lösung des Pro­ blems jedoch verschieden, ja oft widersprüchlich. Hatte J . -J . Rousseau in .Emile " ( 1 762) sich für die education domestique, eine der Natur gemäße Erziehung ent­ schieden23 , so entwickelte er in den .Considerations sur Je Gouvernement de Pologne" 17 Buch 3, Kap. 5-7, in: Oeuvres completes, Bd. 2, S. 255 ff. 1 8 In: Annee litteraire, Bd. 7 (1754), S. 133; vgl. auch Godechot (Anm . 1), S. 487. 19 Grimm, Correspondance litteraire, hrsg. v. M. Toumeux, Paris 1877, Bd. 2, S. 445, zitiert nach Godechot (Anm. 1), S. 487. 20 Jaucourt, Artikel .Patrie", in: Encyclopedie, Bd. 12 (1765), S. 178. 21 d'Holbach, Ethocratie ou Je Gouvernement fonde sur Ia Morale (1776), Kap. 8. 22 Vgl. Jaucourt (Anm . 20). 2 3 J.-J. Rousseau, Emile, in: ders., Oeuvres completes, hrsg. v. B. Gagnebin/M. Raymond (Pleiade), Bd. 4, Paris 1964, S. 251.

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( 1 772) das Programm für eine nationale Erziehung , ein moralisch-patriotisches Aufrü­ stungsprogramm, für das ihm Sparta als Modell gedient zu haben scheint. Mit einigen Varianten konnte oder sollte es auch Abhilfe für die anderen Staaten Europas schaffen, denn auch sie standen nahe am Abgrund, wohl weil auch ihnen ein der Antike ver­ gleichbarer Patriotismus fehlte . 24 In dem Bewußtsein, daß eine nationale Gesetzgebung den Charakter - le genie, le caractere, les gouts et les moeurs - eines Volkes bildet, wollte er einerseits durch besondere Sitten und Gebräuche den Nationalcharakter stär­ ken, andererseits ihn der Jugend durch eine adäquate Erziehung einprägen. Kenntnis des Landes , seiner Gesetze und der nationalen Geschichte, öffentliche Ehrungen, bür­ gerliche und religiöse Feste sollten eifrige Patrioten - patriotes par inclination, par passion, par necessite heranbilden, die , stolz auf ihr eigenes Land, verächtlich auf das Ausland herabsähen. Indem Rousseau das monarchische Prinzip dabei ausblendet, zeichnet er als Gegenmodell der französischen absolutistischen Monarchie eine patrioti­ sche, aber nicht weniger despotische, totalitäre Republik, die jedoch durch xenophobe Tendenzen im Gegensatz stand zu den Ideen seiner früheren Verbündeten. Noch radikaler war Diderots launige Antwort; durch den Hinweis auf Medea , die Pelias ' Töchter angestiftet hatte, ihren Vater zu zerstückeln, in der Hoffnung , ihn so zu verjüngen, deutete er an, daß nur eine vollständige Neugeburt, eine Revolution das kor­ rumpierte Frankreich erneuern könne. 25 Aber er bekannte sich nicht wirklich zu dieser extremen Lösung . Seine eigentliche Antwort war - wie die der anderen Enzyklopädisten - die Evolution durch Aufklärung, das langsame , mühselige , aber unentwegte Fort­ schreiten auf dem Weg zur Freiheit, was schließlich auch ihnen die Möglichkeit geben sollte , ihr Vaterland zu lieben. Waren 1 77 1 , als Ludwig XV . die Parlamente auflöste und diese despotische Maß­ nahme viele empörte, die Aussichten ziemlich schlecht, so waren die Philosophen 1 774 voller Hoffnung , als Turgot und Malesherbes in die Regierung berufen wurden, aber schon 1 776 wurde Turgot verabschiedet. Die Hoffnung auf Reformen erhielt jedoch neue Nahrung mit der Beteiligung zahlreicher Adliger an der amerikanischen Revolu­ tion, der Verkündigung der Declaration of Independence und der Bill of Rights in Virginia und anderen amerikanischen Staaten. Während Voltaire fürchtete , daß Patrio­ tismus und Kosmopolitismus sich letztlich ausschließen, da der wahre Patriot in seinem Fanatismus dazu neige, die anderen Völker zu hassen, verstand es diese neue Richtung , die schließlich zur Französischen Revolution führte26 , wenigstens zunächst Patriotismus und Kosmopolitismus harmonisch miteinander zu verbinden. 27 In der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts hatte der französische Kosmopolitismus vor allem eine kritische Funktion. Für einen Teil der Konservativen, die wie Fn!ron -

"' Ebd., Bd. 3, S . 954 ff. D. Diderot, in: ders., Oeuvres politiques, hrsg. v. S. Vemiere, Paris 1963, S. 466. In diesem Sinne ist wohl seine Aussage zu deuten, einerseits durch den Titel "Reformation ou Revolution", andererseits dadruch, daß er in seiner Darstellung die Rache Medeas und das damit verbundene vergebliche Bemühen der Töchter des Pelias nicht beachtet. 2 6 Vgl . D. Momet, Les origines intellectuelles de Ia Revolution fran�aise (1715- 1787), Lyon 1989, s. 439 ff. 2 7 Vgl . G.-L. Fink, Les avatars du cosmopolitisme entre 1789 et 1799, in: L'Idee de l'Europe dans Ia culture des pays de Iangue allemande du XIX' au XX' siecle. Actes du XXIII' Congres de I'AGES, Strasbourg 1991, s. 75 ff. 25

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gern von Tugend und Einfachheit träumten, sollte der brave Wilde oder der tugendhafte Schweizer bzw . Deutsche der verdorbenen Nation als Rollenbild dienen. Für die En­ zyklopädisten hingegen war er vor allem die Kehrseite ihres verdrängten Patriotismus , Ausdruck ihrer politischen Unzufriedenheit . Eingeengt i m monarchischen Frankreich, hielten sie Ausschau nach besseren Verhältnissen. Wenn sie Englands Toleranz und Freiheit lobten und mit dem Aufblühen der Wissenschaften und Künste in diesem Land in Verbindung brachten28 , bedeutete dies indirekte Kritik an Frankreich. Durch die Apologie des aufgeklärten Absolutismus Friedrichs II. , des philosophe sur le throne, und Katharinas ll . , der Semiramis du Nor�9, kritisierten sie ebenfalls den Despotismus des roi tres chretien . Selbst während des Siebenjährigen Krieges blieben Voltaire , d ' Alembert und Diderot dem Preußenkönig verbunden und beglückwünschten ihn zuweilen gar zu seinen Siegen3 0 , so daß ihre Gegner sie als Feinde Frankreichs zu brandmarken versuchten. Hatte J . -I. Rousseau 1 754 noch von den großherzigen Seelen der Kosmopoliten gesprochen, die die vorgespielten Barrieren zwischen den Völkern überspringen und wie der Schöpfer selbst das ganze Menschengeschlecht lieben, so begann er schon im " Discours sur l ' Economie politique" ( 1 755) sich davon zu distanzieren, da die Liebe sich verflüchtige , sobald sie die ganze Menschheit zu umfassen versuche; darüber hinaus zog er nun dem egoistischen Weltbürger den für das allgemeine Wohl besorgten Patrioten, dem weisen Kosmopoliten Sokrates den Republikaner Cato vor. 31 Zu Beginn der sechziger Jahre betrachtete er schließlich den Kosmopolitismus als eine schädliche Modeerscheinung . 32 Auch von seiten der konservativen Kreise blieb die Kritik der Enzyklopädisten und ihr prussophiler Kosmopolitismus nicht unwidersprochen, zumal durch das renver­ sement des alliances ( 1 756) Frankreich im Siebenjährigen Krieg auf der Seite Öster­ reichs gegen Preußen kämpfte. Schon 1 760 versuchte Ch. Palissot in seiner satirischen Komödie " Les Philosophes " sie zu entlarven, indem er ihnen unterstellte, durch die Bekämpfung von Vorurteilen die wahren Werte der Gesellschaft zu unterminieren, das Vaterland zu verachten und sich nur vom Eigennutz leiten zu lassen, anstatt die Menschheit zu lieben, wie sie behaupteten. 33 Und er fand einiges Echo . Noch heftiger klagte sie de Belloy in seiner historischen Tragödie " Le Siege de Calais " ( 1 765) an, der ihnen gar durch einen englischen Ritter eine patriotische Lektion geben ließ : Dieser haßte die kalten Herzen der Undankbaren, die selbst an dem Unglück ihres Vaterlandes keinen Anteil nehmen und die Menschheit nicht einmal in ihrem eigenen Land achten. 34

21 Vgl. z.B. Voltaire, Lettres philosophique ou Lettres anglaises, 1737. 2 9 Vgl. S. Skalweit, Frankreich und Friedrich der Große. Der Aufstieg Preußens in der öffentlichen Meinung des "Ancien regime", Bonn 1952, S. 101 ff. 30 Skatweit (Anm. 29), S. 124 f., wenn auch die Haltung Voltaires ziemlich zweideutig war, siehe z.B. den Brief an Gräfm d'Argental vom 15. August 1759. 3 1 J.-J. Rousseau, Discours sur l'Origine et !es Fondements de l'lnegalite parmi !es Hommes, in: ders. (Anm. 23), Bd. 3, S. 178 und S. 254 f. 32 Vgl. Rousseau, Emile (1762), in: ders. (Anm. 23), Bd. 4, S. 249, und ders., Considerations sur le Gouvernement de Pologne (1772), ebd., Bd. 3, S. 953 ff. 33 ln: Tb.Cätre du XVIII" siecle, hrsg. v. J. Truchet (Pieiade), Paris 1974, Bd. 2, S. 163, 176, 190 f. und 174: "je !es sou�onne d 'ainler le genre humain, mais pour n'aimer personne • . 34 In: Theätre du XVIIIe siecle (Anm. 33), Bd. 2, S. 494. Ähnlich in "Dictionnaire de l'Academie", 1762, Artikel "Cosmopolite": .Celui qui n'adopte point sa patrie. Un cosmopolite n'est pas un bon citoyen. •

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Während die Enzyklopädisten eine bessere Zukunft vorzubereiten hofften, suchten ihre konservativen Gegner die Antwort auf die Probleme der Zeit im nostalgischen Spiegel der nationalen Vergangenheit. 35 Stoff dazu gab eine breite Erschließung alter Dokumente und Dichtungen, deren Erforschung die Academie des Inscriptions et Beiles Lettres sich seit den dreißiger Jahren unter der Anleitung von La Cume de Sainte­ Palaye widmete . 36 Die Bearbeitungen mittelalterlicher Dichtungen, die , wie Legrand d' Aussy betonte , der gloire de la France dienen sollten37, regten manche Literaten dazu an, auch in Dramen, Verserzählungen und Romanen das ritterliche Mittelalter wieder­ erstehen zu lassen. Shakespeares Beispiel folgend, gab paradoxerweise Voltaire , der im " Essai sur les Moeurs " ( 1 756) ein ziemlich negatives Bild des "gothischen" Mittelalters und der da­ maligen, noch barbarischen Franzosen zeichnete und in " La Pucelle d ' Orleans " ( 1 762) die Geschichte Jeanne d' Ares parodierte , den Auftakt für die Bühne mit " Tancrede" ( 1 759), einer Tragödie im Ritterkostüm mit patriotischen Akzenten. 38 Der kritisch­ politische Zeitbezug fehlt dabei jedoch nicht, besonders wenn eine Nebengestalt den Egoismus der Großen des byzantinischen Imperiums brandmarkt. 39 Zwar verherrlicht Tancrede die Freiheit, le droit le plus sacre des mortels, und den Patriotismus4 0 ; er ist auch gern bereit, für das Vaterland zu sterben - aber er ist Republikaner! Voltaires Ein­ stellung bleibt jedoch ambivalent; er entscheidet sich weder zugunsten der Republik er distanziert sich vielmehr von dem grausamen Republikanismus, der die Natur dem Gesetz aufzuopfern verlangt - noch zugunsten der Monarchie; so stellt er zwar die kulturellen Vorzüge des byzantinischen Imperiums heraus , verweist aber zugleich auf den damit verbundenen Despotismus . In der Vorrede zu " Tancrede" forderte Voltaire die Dichter auf, sich ebenfalls der nationalen Geschichte zuzuwenden, ein Wunsch, der in den 60er und 70er Jahren erhört wurde, nun aber unter der Feder konservativer Schriftsteller auch eine aktuelle politi­ sche Bedeutung erhielt: Beispiele aus der glorreichen französischen Geschichte und Literatur sollten die Zeitgenossen die Demütigungen des Pariser Friedens vergessen lassen, sie anleiten, vielmehr stolz auf ihr Vaterland zu sein und , wie de Belloy im Vorwort seiner ersten historischen Tragödie bekannte , sie anspornen, es den Helden der Vergangenheit gleichzutun.41 Mit "Le Siege de Calais" ( 1 765), einer patriotischen Tragödie , der er " Gabrielle de Vergy" ( 1 770) und " Gaston et Bayard " ( 1 77 1 ) folgen

35 J. Voss, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs, München 1972, S. 180 ff. 36 Memoires sur I'ancienne chevalerie, consideree comme un etablissement politique et militaire, Paris 1759, 3 Bde. Vgl. auch R. Mortier: Aspects du reve chevaleresque de La Curne de Sainte-Palaye a Mme de Stael, in: Mortier (Anm. 13), S. 473 ff., der darauf hinweist, daß La Cume de Ia Sainte-Palaye auch Schattenseiten im sonst apologetischen Bild des Rittertums sah. 37 P.J.B. Legrand d'Aussy, Observations sur !es troubadours, 1781, S. 5, zitiert nach Voss (Anm. 35), s. 2 16. 38 Vgl. auch "La Henriade" (1728) sowie "Zaire" (1732), wo Voltaire die Tapferkeit der französischen Kreuzritter der Humanität des Sultans gegenüberstellte. 39 "Tancrede", 1. Akt, 6. Szene, in: Theätre de Voltaire, Paris 1813, Bd. 8, S. 121 .oo Ebd., S. 138, 3. Akt, 2. Szene. 41 "Le Siege de Calais", in: Le Theätre du XVIII• siecle (Anm. 33), Bd. 2, S. 449: " Accoutumons-nous [ ... ], a inspirer a Ia nation une estime et un respect pour elle-meme[... ], que l'on dise quelquefois: je viens de voir un beros fran�ais, je puis etre beros comme lui. • •

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ließ42 , wollte er den später durch Rodin verewigten "Bürgern von Calais " , von denen Froissarts " Chroniques " ( 1 369- 1410) und Mme de Tencins Roman " Le Siege de Calais" ( 1 739) berichten, ein Denkmal setzen, weil sie durch ihre Opferbereitschaft 1 347 ihre Stadt und, wie de Belloy aufzeigt, ih� Land gerettet haben. Das Thema und die Zeit des Hundertjährigen Krieges , in der Frankreich in seiner Existenz selbst bedroht worden war, schien de Belloy als prägnantes Beispiel der Demütigungen durch England gut geeignet für sein patriotisches Anliegen, zumal er dabei zeigte , wie der Patriotismus als letzte Rettung in der Not zu wirken vermag . Das Stück trieft von Vaterlandsliebe und republikanischer Opferbereitschaft. Saint-Pierre , Vater und Sohn, wetteifern geradezu miteinander, um als martyrs de Ia patrie zu sterben; jeder möchte einer der sechs Bürger sein, deren Leben der englische König Eduard als Tribut von der besiegten Stadt fordert, denn in ihren Augen ist der Tod für das Vaterland der schönste und ehrenvollste . So weisen sie alle Versuchungen zurück: als d 'Harcourt, ein französischer Ritter in englischen Diensten, sie befreit, kehren s ie gar in die Gefangenschaft zurück, sobald sie erkennen, daß er damit den englischen König hinterging . Diese patriotische Todesbereitschaft nötigt den Engländern höchste Bewunderung ab, denn ein so patriotisches Volk sei unbezwingbar. Vater und Sohn sowie Alienor, Tochter des Grafen Vienne und Verlobte von d ' Harcourt, geben mehre­ re Beispiele wahren republikanischen Geistes . So ruft Saint-Pierre aus , als er glaubt, daß sein Sohn in der Schlacht gefallen sei : " Amour de Ia patrie [ . . ] Que mes pleurs paternels soient seches par tes feux"; und nachdem er Eduards Angebot ausgeschlagen und damit auch seinen Sohn dem Tod überliefert hat, vermag er nur noch zu stammeln: .

0 mon fils ! quel moment pour ce coeur paterneil

(Reprenant sa fermete) Mais tu souffrirais plus a me voir criminel. Alienor, die ohne zu zögern auf das ihr von Eduard angebotene Vizekönigtum ver­ zichtet - obgleich sie dadurch die Bürger von Calais retten könnte -, um nicht ihrem Vaterland untreu zu werden, würde lieber ihren Geliebten tot als untreu wissen. Für die Bürger von Calais ist dieser Republikanismus jedoch unabdingbar verbunden mit ihrer Liebe zum König . Vaterland und Monarch sind für sie ein und dasselbe : für den König wollen sie leben und sterben: L ' Etat et Je monarque , a nos yeux confondus , N ' ont jamais divise nos voeux e t not tributs . De la cet amour tendre et cette idolätrie Qui dans le souverain adore Ia patrie : Sublime passion d 'un peuple impetueux, De l ' empire des Lis fonderneut vertueux, Et qui, le distinguant par les plus nobles marques , Fait a cent souverains envier nos monarques . Dieser Patriotismus beruht zugleich auf einer tiefen Verbundenheit von König und Volk, einer gegenseitigen Verpflichtung, wodurch de Belloy dem Absolutismus bourbo­ nischer Prägung ein Idealbild gegenüberstellt. Der Monarch soll der Vater seines

42 Vgl. J. Vier, Histoire de Ia Litterature fran�aise. XVIII' siecle, Paris 1970, Bd. 2, S. 273 und 292 ff.

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Volkes sein. Um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, schlägt er vor, den Streit um die Krone durch einen Zweikampf mit dem englischen König zu entscheiden, zumal der dynastische Streit nicht die Nation betrifft. Dies bekennt am Ende auch Eduard, der zugleich das eitle Streben nach Ruhm verurteilt: Gloire, idole des rois, le peuple est ta victime . Aber nicht darum, sondern weil der König nicht sich selbst, sondern dem Land , seinem Volk, gehört, will die Nation - au nom des grands, du peuple et de l 'armee einen solchen Zweikampf verhindern. Darüber hinaus weist Saint-Pierre Eduards Anspruch auf die französische Krone schon deswegen zurück, weil er nicht vom Volk bestätigt wurde . Neu war auch die Rehabilitierung des Bürgers nicht nur als tragischer Held wie im bürgerlichen Trauerspiel, wo seine häuslichen Tugenden gerühmt werden, sondern als politischer Held , wenn er auch weniger wegen seines Heroismus - dieser bleibt vor allem dem Adel überlassen - als wegen seiner republikanischen Opferbereitschaft verherrlicht wird . Diese hebt ihn über sich hinaus und stellt ihn fast ebenbürtig den Fürsten an die Seite . Als Eduard Alienor vorwirft, ihm den Bürger Saint-Pierre - ce vil sujet gleichzustellen, antwortet sie stolz : -

-

Un sujet vertueux, s ' immolant pour son roi , Vaut bien un roi , Seigneur , cruel dans sa victoire , Embrasant l ' unl.vers pour une ombre de gloire . Und dies um so mehr, als von seiner Opferbereitschaft zuweilen das Los der Herrscher abhängt, eine Lektion, die Alienor den superbes potentats geben möchte . Obgleich der Adel im Stück etwas zurücktreten muß und sowohl auf seiten der Valois wie der Plantagenets streitet, bedeutet die politische Rehabilitation des Bürgers nicht, daß seine Stellung im Staat bestritten wird , zumal er sich in der Person d ' Rar­ courts am Ende für Frankreich entscheidet. " Malheur aux nations [ . . . ] qui cessent de s ' estimer. " Indirekt heißt dies wohl , daß de Belloy Frankreichs derzeitiges Mißgeschick auf den mangelnden Nationalgeist seiner Bürger und auf das Geschrei über die französische Dekadenz zurückführt. Darum be­ müht er sich, im Laufe des Stücks das Bild des Franzosen aufzupolieren. Trotzdem neigt er nicht zur Schwarzweißmalerei. Die Apologie des Franzosen hindert ihn nicht daran, auch die freien Engländer zu loben. Er kritisiert zwar die weltbürgerliche Ge­ sinnung der Enzyklopädisten, bekennt sich am Ende jedoch zu einem gemäßigten Kos­ mopolitismus , der in dem Bewußtsein, daß alle Menschen Brüder sind , den Patriotis­ mus ergänzt. Darum beschwört Alienor die beiden Könige : Ah! de l ' humanite retablissez les droits ; A l ' Europe, tous deux , faites cherir ses lois . Mit dieser Apologie des monarchisch-republikanischen Patriotismus wollte de Belloy das Verdikt der Enzyklopädisten gleichsam Lügen strafen: selbst die höchste Form des Patriotismus , der Republikanismus, scheint sehr wohl in einer Monarchie möglich, vor­ ausgesetzt jedoch, daß der König kein Despot ist. Es ist wohl kaum verwunderlich, daß der alte Adel durch die Umkehrung der Ständeklausel und die Verherrlichung der Rotüre sich schockiert zeigte, während König und Publikum die Aufführungen von de Belloys " Le Siege de Calais" zunächst be­ geistert begrüßten. Der republikanische Opfergeist entsprach zwar kaum dem Geist des 1 8 . Jahrhunderts , aber hier wurde ein von vielen erstrebtes ideales Verhältnis zwischen

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König , Vaterland und Untertanen als historische Wirklichkeit vorgestellt. Die Zeitge­ schichte zerstörte jedoch bald diesen schönen Traum. So fand nach dem kurzfristigen Erfolg von de Belloys patriotisch-historischer Tragödie nicht der monarchisch-re­ publikanische Patriotismus , sondern eigenartigerweise der eher aristokratische Patrio­ tismus des genre troubadour ein größeres Echo . Das aus der Begeisterung für das Mittelalter hervorgegangene genre troubadour, das sich weit mehr in den Erzählgattungen als auf dem Theater breit machte , ist jedoch po­ litisch weit weniger aussagekräftig als die historische Tragödie , zumal hier die patrio­ tische Tendenz gegenüber der Liebesproblematik verblaßte, so daß R. Mortier die von H. Jacoubet hervorgehobene nationale Tendenz mit dem Blick auf verwandte englische Werke zu recht relativiert. 43 Dies bestätigen auch zwei pseudo-historische Novellen, " Sargines " ( 1 772) von Baculard d ' Arnaud44 und "Bliomberis , Nouvelle Franc;:oise " ( 1 7 83) von J . P . Claris de Florian. Beide verkünden nicht nur das Ideal des tapferen, unbesiegbaren Ritters, sie verwenden auch einige analoge Züge und Romanmotive und sind im Geschmack des empfindsamen 1 8 . Jahrhunderts geschrieben. Wie Baculard verbindet Florian in der Einleitung von "Bliomberis " die Apologie der Ritter mit der des französischen Charakters : " il semble que c ' est pour des Franc;:ois que Ia chevalerie dut etre inventee"45 ; in der Folge verliert er aber diesen nationalen Hinweis wieder aus den Augen. Im Gegensatz zu Baculard d' Arnaud, der sich von dem kritischen Geist und dem beL esprit seines rationalistischen Jahrhunderts distanziert und seine Novelle , wie R. Mortier sagt, als un preservatif contre La decadence moraLe et physique desselben betrachtete46 , sieht Florian keinen großen Unterschied zwischen den Rittern der guten alten Zeit und seinen zeitgenössischen Landleuten: die Offiziere scheinen noch ebenso tapfer, die Damen noch ebenso schön und zärtlich; das einzige , was die Vorzeit auszeichne, sei die unwandelbare Treue der Liebenden. Während d ' Amaud versichert: L 'ame du monarque s 'etait repandue sur La nation, entspricht bei Florian Pharamond, der König von Frankreich, ganz dem Ideal des pazifistischen und bürgerlich-häuslichen 1 8 . Jahrhunderts : " il s ' etoit aperc;:u que le bonheur n' est pas dans les conquetes ; et il ne s ' occupoit, dans Tournai sa capitale , que de rendre heureux son peuple, son epouse et ses enfans " . Insofern Bliomberis nach der Schlacht die Gefange­ nen schont, zeigt er, daß auch er von dem humanistischen Geist der Aufklärung berührt wurde . Doch zwischen der monarchischen Einleitung mit ihrer leicht patriotischen Note , der zufolge Bliomberis sein Glück nur im Dienst für sein Vaterland zu finden vorgibt, und den Abenteuern des fahrenden Ritters , der sich so galant wie tapfer er­ weist, aber vor allem auf seinen persönlichen Ruf bedacht ist, besteht eine deutliche Diskrepanz . Gleichzeitig erstand in bänderreichen Sammlungen, die zum Teil auch durch Kolpor­ teure vertrieben wurden47 , das farbige Bild einer guten alten Zeit, in der sich die Hel­ den durch Tapferkeit, Ritterlichkeit, Galanterie und trotzdem auch durch Naivität und einfache Sitten auszeichneten. Als Beispiel sei die in der "Bibliotheque Universelle des

43 Vgl. Mortier (Anm. 13), S. 472. 44 Vgl. die Analyse der Novelle bei Mortier (Anm. 13), S. 475 ff. 45 J. P. C1aris de Florian, in: ders., Oeuvres, Stuttgart 1834, Bd. 2, S. 1. � Mortier (Anm. 13), S. 481. 47 Vgl. H. Jacoubet, Le genre troubadour et les origines fr�es du Romantisme, Paris 1929, S. 34 f.

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Romans " veröffentlichte Fassung von "Huon de Bordeaux" ( 1 778) angeführt48 , der im Sinne der " Beiles infideles " , der freien Übersetzung des 1 8 . Jahrhunderts , dem Zeit­ geschmack anbequemt wurde . Dabei rühmt Tressan Heroismus und Treue des Helden und seiner Getreuen, die durch Feenzauber burlesk übertrieben und denen er in mani­ chäischer Sicht die Tücke und die Verräterei Karls des Großen, seines Sohnes und der Höflinge sowie der Sarazenen gegenüberstellt. Dennoch wird auch hier die Einfachheit und Naivität der guten alten Zeit verherrlicht. Im Unterschied zu d ' Arnaud und Florian kann hier aber höchstens von einem aristokratischen Patriotismus die Rede sein. Indem die Fürsten den Kaiser nur als primus inter pares betrachten und auf ihrem Mitsprache­ recht bestehen, wird der Leser an die reaktionären Thesen des Grafen Boulainvilliers erinnert. Das genre troubadour brachte zwar keine bedeutenden Werke hervor, hatte aber eine ephemere Breitenwirkung49 , um die die Philosophen es beneiden konnten. Es konnte um so leichter zur Mode werden, als es dem Zeitgeschmack des breiten Publikums ebenso entsprach wie die gleichzeitig rezipierte und stilisierte deutsche Literatur mit ihrer idyllischen Simplizität. 5° Diese Apologie der einfachen Sitten und der Naivität der Vorzeit profitierte jedoch auch von der Zivilisationskritik und der damit verbundenen Aufwertung der Natürlichkeit, wie sie u . a . besonders von J . -J . Rousseau gepredigt wurde . Zwar prägen in den Literaturgeschichten die fortschrittsgläubigen, kosmopoliti­ schen, antiklerikalen, republikanisch gesinnten, kritischen, auf durchgreifende Refor­ men bedachten Enzyklopädisten, die bezeichnenderweise kein positives Verhältnis zum Mittelalter hatten5 1 , zu recht das Gesicht der Zeit, gleichzeitig breitete sich jedoch im Hintergrund, oft in Opposition zu ihnen eine patriotische Literatur aus , die sich gerne nostalgisch gerierte und um so lieber in die guten alten Ritterzeiten flüchtete , als im Gegensatz zu der als dekadent und materialistisch betrachteten Gegenwart dort Moral, Adel und Klerus noch unangefochten schienen und sie durch die erträumte Ritterherr­ lichkeit sowohl die sozialen Spannungen wie die politischen Demütigungen relativieren oder vergessen half. Wie D. Momet vermerkt, mehrten sich in den sechziger Jahren auch die Zeugnisse eines neuen Patriotismus. Sowohl in offiziellen Reden wie in Zeitschriften wurden Vaterlandsliebe , Opfer für das Gemeinwohl und wahre Bürgergesinnung verherrlicht, dabei handelt es sich jedoch vor allem um eine neue Sozialmoral , einen moralischen Patriotismus , der wie Voltaire im "Essai sur la poesie epique" ( 1 728) den Akzent auf Wohltätigkeit und Solidarität legt. 52 Wenn man die zahlreichen Zeugnisse von Patriotismus zwischen 1 760 und 1 789 betrachtet, möchte man wohl zu dem Schluß kommen, daß die Klage des Abbe Coyer

•• Bibliotheque Universelle des Romans, Bd. 2, Avril 1778, S. 7-163. 49 Vgl. Jacoubet (Anm. 47), S. l3 ff.; R. Lanson, Le Gout du Moyen Age en France au XVIII" siecle, Paris/Bruxelles 1926, S. 10 ff. 50 Vgl. Th. Süpfle, Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich (1888), Geneve 1971, S. 161 ff. und 200 ff. " Vgl. Voss (Anm. 35), S. 267 ff. 52 Momet (Anm. 26), S. 302 f.: .cette morale sociale et patriotique", .Bienfaisance est 1e mot de ralliement de tous !es bons citoyens". Vgl. Voltaire, Oeuvres completes, Paris 1864, Bd. 5, S. 239: .Le veritable et solide amour de Ia patrie consiste a lui faire du bien, et a contribuer a sa liberte autant qu'il nous est possible."

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bald gegenstandslos geworden war, denn zweifellos war das Wort patrie zu jener Zeit nicht mehr in Verruf. Aber damit war noch keineswegs Abhilfe geschaffen worden für den der Klage zugrundeliegenden Vorwurf; einerseits war das patriotische Motiv im genre troubadour eher marginal und diese sentimentale Trivialliteratur selbst nur quantitativ bedeutend, andererseits deuten die verschiedenen Bedeutungen des Wortes darauf hin, daß zwar von verschiedenen Seiten versucht wurde, der Dekadenz und dem Mangel an Nationalgefühl abzuhelfen, daß aber jede Gruppe ihre eigene Lösung anbot. Vorrangig war wohl die Frage, ob und inwieweit Patriotismus und Monarchie zu vereinen seien; während die Philosophen sich skeptisch zeigten, versuchte de Belloy zu beweisen, daß beide sich zwangsweise bedingen. Wie schon aus S . Merciers vielseiti­ ger Produktion sowie aus Voltaires und Rousseaus wechselnder Stellungnahme her­ vorgeht, gab es trotz der Gegensätze auch manche Berührungspunkte zwischen En­ zyklopädisten und Konservativen, zumal die Tugend von allen gepriesen wurde und auch Freron und manche andere konservative Schriftsteller sich zwar nicht einem politischen, doch einem literarischen Kosmopolitismus verschrieben. Doch gefielen sich die einen nostalgisch in der ritterlichen Feenwelt, in dem Bewußtsein, daß diese gute alte Zeit unwiderruflich vergangen war, während die anderen wie die Enzyklopä­ disten in der fremden Gegenwart oder wie de Belloy in der idealisierten Vergangenheit Modelle aufstellten, an denen sie die nationale Wirklichkeit maßen und mit deren Hilfe sie reformerisch zu wirken hofften, so daß nicht nur der Kosmopolitismus, sondern durch den Kontrast zur zeitgenössischen Wirklichkeit auch der Patriotismus ver­ schiedentlich ein kritisches Potential enthielt. Wenn man dazu noch den Unterschieden zwischen dem republikanischen, dem monarchischen, dem aristokratischen und dem moralischen Patriotismus Rechnung trägt, wird deutlich, daß der Patriotismus in seiner Vielfalt und Gegensätzlichkeit eher von der Aufspaltung der Nation als von dem Bewußtsein einer nationalen Identität zeugt. Erst durch die Regeneration der Nation nach 1 789 wurde der Patriotismus als Gefühl einer nationalen Gemeinsamkeit auch Wirklichkeit.

II Wie in Frankreich erklang auch in Deutschland die Klage , daß die " Liebe des Va­ terlands " immer mehr zurückgehe , ja daß " in manchen Gegenden Respect und Liebe vor Gesetz und Vaterland biß auf den Namen erloschen und vertilgt worden" , während Eigennutz und Partikularismus triumphierten, wie F. C. v. Moser, der dabei an den Reichspatriotismus dachte , 1 765 eingehend erläuterte. sl Und auch hier wird diese Klage von manchen Schriftstellern bestätigt. Rückblickend sagte Wieland gar, daß in seiner Kindheit nie die Rede war von einem "deutschen Patrioten" , ja daß er sich nicht entsin­ nen könne , " das Wort deutsch (Deutschheit war noch ein völlig unbekanntes Wort) jemals ehrenhalber nennen gehört zu haben. " s4 Ohne zu erklären, ob er dabei an das Reich oder an Österreich dachte, bedauerte J. v. Sonnenfels , daß "die Herzen [ . . . ] bey

53 F.C.v. Moser, Von dem Deutschen Nationalgeist (1765), Nachdruck Selb 1976, S. 27, 33 und 36. 54 Ch.M. Wieland, Über teutschen Patriotismus. Betrachtungen, Fragen und Zweifel (1793), in: ders., Werke, Berlin o.J., Bd. 34, S. 318.

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dem Namen Vaterland kalt" blieben. 55 Das gleiche bestätigte Riesbeck von Mainz , wo das letzte " Fünkchen von Vaterlandsliebe " erstickt war , oder von Wien, wo er weder "patriotisches Gefühl " noch " Nationalstolz" fand . 56 Die Gründe dafür waren weit zahlreicher als in Frankreich und grundsätzlich an­ derer Art, schon insofern hier Staat und Nation sich nicht mehr deckten. Während in Paris die Philosophen und die konservativen Gruppen zwar einander befehdeten, aber die Nationalidentität keineswegs in Frage stellten, eine allgemein anerkannte Sprache miteinander gemein hatten, durch Buchmarkt und Bühne über ein gemeinsames Forum und ein breitgefachertes Publikum verfügten, das den Rückgang des königlich-adligen Mäzenats auszugleichen vermochte, ähnelte Deutschland infolge der politischen, öko­ nomischen, sozialen, konfessionellen und kulturellen Aufspaltung einem Mosaik. 57 " Was haben denn die Deutschen noch viel gemein? [ . . . ] Ist nicht der Nationalcharakter nach den Provinzen so verschieden als möglich? [ . . . ] Sind denn Sachsen, Wenden und Schwaben ein Volk gewesen?" fragte E. Brandes 1786 .58 Und auch Herder fragte sich, " ob die Deutschen (noch) eine Nation seien"59• Politisch waren sie nicht nur in unzählige verschiedenartige Länder aufgeteilt, sie lebten auch unter verschiedenen Regimen. Mit seinen oligarchisch regierten Stadtre­ publiken, seinen absolutistischen Erb- und geistlichen Wahlmonarchien, der " zerrütte­ ten Verfassung " und " dem tiefen Verfall der Gesetze" konnte das Heilige Römische Reich um so weniger als wirkliches Band verstanden werden, als die Reichsgerichts­ barkeit, die durch das Reichskammergericht oder den Reichshofrat ausgeübt werden sollte, oft Jahrzehnte und mehr brauchte, um ein Verfahren abzuschließen, und sich auch dann nur gegenüber kleineren Fürsten geltend zu machen verstand . Theoretisch bot das Reich Schutz vor Übergriffen gebietsgieriger größerer Nachbarn, aber zuweilen galt wie im Schlesischen und im Siebenjährigen Krieg innerhalb des Reiches gar das Recht des Stärkeren. In ökonomischer Sicht war auch Frankreich aufgespalten, wie z . B . bei den Hungers­ nöten von 1 77 1 /72 in einigen Provinzen deutlich wurde; in Deutschland wurde darüber hinaus der Handel durch schlechte Verkehrswege, Zollschranken und den Merkantilis­ mus der Binnenstaaten beschränkt. Hinzu kam der auch heute noch spürbare Unter­ schied zwischen Nord- und Süddeutschland, von dem Autoren und Reisende immer wieder berichteten60, zumal er durch die konfessionelle Differenz noch unterstrichen wurde . Darum klagten die Norddeutschen Riesheck und Nicolai61 über die geringere

55 J. v. Sonnenfels, Über die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771, S. 6. 56 Riesbeck, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris (1783), hrsg. u. bearbeitet v. W. Gerlach, Stuttgart 1967, S. 285 und 118 f. 57 Vgl. J.G. Herder: .ein Sund von kleinen monarchischen Inseln", in: Ueber die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1778), in: ders., Werke, hrsg. v. H. Dünzer, Berlin o.J., Bd. 17, S. 54. 58 E. Brandes, Ueber den politischen Geist Englands, in: Berlinische Monatsschrift 7 (1787), zitiert nach Raumer, Deutschland um 1800, in: Handbuch der Deutschen Geschichte, hrsg. v. L. Just u.a., Bd. 3, Teilbd. 1a, Konstanz 1959, S. 65. 59 J.G. Herder, Humanitätsbriefe, in: ders. (Anm. 57), Bd. 13, S. 321. 60 Vgl. z.B. J.G. Herder, Ueber die Wirkung, in: ders. (Anm. 57), S. 54; Ch.M. Wieland, Briefe an einen jungen Dichter (1782-84), in: ders. (Anm; 54), Bd. 38, S. 94; Riesheck (Anm. 56), S. 249. 61 F. Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, Berlin/Stettin 1783-%, Bd. I, s. 135 ff.

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Verbreitung der Aufklärung in Schwaben, Bayern und Österreich und spotteten über die Relikte des Aberglaubens, die der katholische Kult tradierte ; C . F . v. Moser sprach gar von "einem gedoppelten Vaterland, von einem Catholischen und Evangelischen Deutschland" . So ist es nicht verwunderlich, daß für die meisten deutschen Untertanen das Reich eine Abstraktion war, der nichts Konkretes mehr entsprach, zumal es hinter der politischen Wirklichkeit, die die Stadt oder das Fürstentum darstellte, verblaBte und meist keine Rückwirkung auf ihr tägliches Leben hatte. Es gab gleichsam kein gemein­ sames , " kein deutsches Interesse " mehr, und darum überlebte der Reichspatriotismus nur noch in Reliktgebieten, wo sich das Interesse des kleinen Staates mit dem des Reiches deckte . Dies war namentlich der Fall in den freien Reichsstädten62 , deren Bestand vom Schutz des Reiches abhing. Der Bürger war jedoch vor allem an Wohl und Weh seiner Stadt direkt interessiert . Insofern diese republikanisch regiert wurden, möchte man versucht sein, von einem republikanischen Patriotismus zu sprechen. Für frühere Jahrhunderte, in denen der Bürger aufgerufen wurde, seine Stadt gegen fremde An­ griffe zu verteidigen und sein Leben für sie zu wagen, mochte dies zutreffend gewesen sein, im 1 8 . Jahrhundert entsprach es aber kaum mehr der Einstellung des Stadtbür­ gers , der sich höchstens für das wirtschaftliche und moralische Wohl seines kleinen Vaterlandes interessierte. 63 Nicht umsonst sprach Wieland diesbezüglich von " Privat­ patriotismus " 64 , zumal dieser an den moralischen Patriotismus der Frühaufklärung erinnert. Insofern das Überleben des Reichsadels von der Verfassung des Reiches abhing, war dieser wie die Reichsstädte und die kleineren Fürsten reichspatriotisch gesinnt, wäh­ rend im Vertrauen auf ihre Macht und Souveranität die größeren sich von ihrem eigenen Interesse oder dem ihres Landes leiten ließen, je nachdem sie dem Despotismus oder dem landesväterliehen Patriarchatismus zuneigten. Mehrheitlich scheinen sie zu­ gleich einem an Versailles und Paris ausgerichteten aristokratischen Kosmopolitismus verpflichtet, wobei sie jedoch abgesehen von wenigen Ausnahmen zwischen kultureller und politischer Hegemonie unterscheiden, wie auch das Beispiel Friedrichs II . zeigt. 65 Solange Karl Eugen von Württemberg , Ludwig XIV . nachsprechend, sagte : " das Vaterland bin ich"66, kann in bezug auf ihn wohl nicht von Patriotismus die Rede sein, während die Württemberger mit dem Vertreter der "Landschaft" , J . J . Moser, zwischen dem seiner Durchlaucht gehörigen Respekt und der Liebe zu ihrem Land unterschieden. Wenn hingegen der Fürst wie Karl Friedrich, Markgraf von Baden, sich um die Wohl­ fahrt seiner Untertanen redlich bemühte , so daß diese "eine ungeheuchelte Liebe und

62 M. Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert, in: Aufklärung 4 (1989), H. 2: Themenheft "Patriotismus", hrsg. v. G. Birtsch, S. 9. 63 Vgl. auch Zedler, Vollständiges Universallexikon, Artikel "Patriot", Bd. 26, Sp. 1393: "Patriot, ein rechtschaffener Landes-Freund, ein Mann, der Land und Leuten treu und redlich vorstehet, und sich allgemeine Wohlfahrt zu Herzen gehen lässet." 64 Wieland (Anm. 54}, Bd. 34, S. 321. 65 Vgl . G . -L . Fink, Francophilie et francophobie chez Frederic II de Prusse, in: Cosmopolitisme, patriotisme et xenophobie, hrsg. v. G.-L. Fink, Strasbourg 1987, S. 1 15 ff . 66 Zitiert nach F . Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 1 5 . Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 1933, S. 85.

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Verehrung gegen ihren guten Landesvater" hegten67 , begegneten sich Fürst und Lan­ deskinder im monarchischen Landespatriotismus . Im Unterschied zu Frankreich bezog der Adel mehrfach eine Sonderstellung ; die Kluft zwischen diesem Stand und der Rotüre war wohl in beiden Ländern die gleiche , der Comte oder der Marquis konnte aber auf den Bürger herabschauen und sich doch als Franzose fühlen, während der deutsche Edelmann mehrfach dazu neigte , sich seinem französischen Standes genossen, dessen Sprache ihm vertraut war, näher verbun­ den zu fühlen als seinem Landsmann, so daß der in der Gallomanie gründende adlige Kosmopolitismus ihm Ersatz für den Patriotismus war. Nur solange das Standesbewußt­ sein des Landesadels nicht exklusiv war, war für ihn wie für das Bürgertum im 1 8 . Jahrhundert das eigentliche Vaterland das Land, wo e r geboren wurde . 68 Der Bürger verließ nur selten seine engere Heimat, die in den meisten Fällen infolge des geringen Umfangs den Vorteil hatte, überschaulieh und ihm vertraut zu sein. Bis zu Beginn der siebziger Jahre schien der Partikularismus die dem Deutschen gemäßeste Form des Patriotismus . Etwas überspitzt erklärte darum Wieland : " Es giebt ohne Zweifel märkische, sächsische, baierische , württembergische , Hamburgische , Nürn­ bergische, Frankfurtische Patrioten u . s . w . " Und schloß daran die Frage an: " Aber deutsche Patrioten, die das ganze deutsche Reich als ihr Vaterland lieben, über Alles lieben, [ . . . ] wo sind sie? "69 Sowohl von seiten der Behörden wie von seiten der Ein­ wohner wurde der Brandenburger in Sachsen, der Württemberger in Bayern als Aus­ länder betrachtet. Höchstens im Ausland , vor allem wenn dem deutschen Bürger die fremde Sprache nicht geläufig war, fühlte er sich als Deutscher und Landsmann eines aus einer anderen Provinz des Reiches stammenden Deutschen. So kann man mehrfach lesen, daß ein Deutscher nach Paris , Straßburg oder " nach Rom gereist (sei) , um ein echter Deutscher zu werden"70• Für die Einstellung der unteren Schichten zum Vaterland gilt es vor allem zu unter­ scheiden zwischen den Handwerkern, die aufgrund der - vom Staat jedoch gerne be­ schränkten - Freizügigkeit mehrfach in anderen deutschen Ländern oder gar im Ausland einen Teil ihrer Gesellenjahre verbrachten und so auch dem Fremden gegenüber auf­ geschlossen sein konnten, und den Bauern, die "wenig Umgang mit Menschen anderer Stände" hatten und deren Horizont meist äußerst beschränkt war'1 , ja, oft nicht über den Kreis der umliegenden Ortschaften hinausreichte . Dieser kollektiven Mentalität, in die der einzelne durch Akkulturation, gestützt auf feste Sitten und Gebräuche hinein­ wuchs , konnte er sich nicht entziehen, solange er im Dorf verblieb , auch infolge ökonomischer Zwänge und der Überwachung durch die ältere Generation. Sein Dorf war sein Vaterland! Da Fürst und Staat oft nur durch die Forderung von Abgaben und Militärdienst in Erscheinung traten, beschränkte sich das Gemeinschaftsgefühl der 67 Siehe J.H. Campe, Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefaßter Reisebe­ schreibungen für die Jugend, Wolfenbüttel 1786, 2. Teil, S. 306; C.F. v. Moser, Beherzigungen, Franckfurt am Mayn 41767, S. 247. 61 Siehe Moser (Anm. S3), S. 21. 611 Vgl. R. Vierhaus, "Patriotismus" - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften (Wolfenbütteler Forschungen, 8), München 1980, s. 14. 70 Vgl. z.B. Herder an Goethe am 27. Dezember 1788. 7 1 Ch . Garve, Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung. Drey Vorlesungen, Breslau 1786, S. 7 ff.

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Bauern auf ihre Dorfgemeinde; dem Fremden sowie dem Gutsherrn begegneten sie gleicherweise mit Mißtrauen, Furcht und Bewunderung oder Neugier, was sowohl für Deutschland wie für Frankreich galt. 72 Erst unter dem Einfluß der Volksaufklärung bahnte sich hier ein Wandel sowie eine Erweiterung des Gesichtskreises an. Das gleiche Klima, die gleichen Gesetze und Sitten, die gleiche Religion, Erziehung und Lebensweise , das waren die seit Montesquieu und Voltaire für eine nationale Gemeinschaft vorgebrachten Kriterien, auf die sich auch Herder noch berief und dabei die gemeinschaftsbildende Rolle der Sprache betonte73 ; aber nur wenig davon traf für die Deutschen zu , da im Reich alles regional , konfessionell und ständespezifisch ge­ prägt war, auch die Haltung gegenüber Monarch, Vaterland und Ausland . Gab es doch nicht einmal eine einheitliche deutsche Sprache, worüber nicht nur Friedrich II. klagte . 74 Einerseits war der Unterschied zwischen Umgangs- und Schriftsprache so groß , daß letztere eigentlich von niemandem gesprochen wurde . Es handelte sich vielmehr, wie Herder vermerkte, um eine Buchsprache. " Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache , in der alle Stände als Sprossen eines Baumes erzogen werden" , gab es aber "kein wahres Verständnis der Gemüther, keine gemeinsame patriotische Bildung " und kein Vaterland. 75 Wenn man sich so die vielfache Aufspaltung des Reiches vor Augen führt, wird die Klage C . F . v . Mosers , die zwar durch den Siebenjährigen Krieg ausgelöst wurde , aber schon vorher latent war, voll verständlich. Bereits der Schlesische Krieg hatte zumindest den Gebildeten die politische Ohn­ macht des Reiches deutlich ins Bewußtsein gebracht. Nicht nur in der Sicht des Aus­ landes wurden die Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Österreich, die im S iebenj ährigen Krieg gipfelten, als Bruderkriege betrachtet. So verstand es auch J . P . U z , als e r anläßlich der blutigen Schlachten und der Siege Friedrichs i n einer Ode fragte : Wie lang zerfleischt mit eigner Hand Germanien sein Eingeweide? Besiegt ein unbesiegtes Land Sich selbst und seinen Ruhm, zu schlauer Feinde Freude?76 Wenn es einen deutschen Patriotismus überhaupt noch gab , was viele bezweifelten, stand er zumindest auf wankenden Füßen. Hatte aber im Schlesischen Krieg Friedrich im Verein mit Frankreich Maria There­ sia bekämpft, so bot infolge des " Renversement des alliances " (1 756) der Siebenjährige Krieg eine neue Basis für die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Rivalen, indem der Krieg mit Österreich sich auch zu einer militärischen Konfrontation mit dessen Verbündeten, mit Frankreich ausweitete . Erst dadurch erhielt der Patriotismus 72 Vgl. Muchembled (Anm. 9), S. 30 ff. 73 J.G. Herder, Humanitätsbriefe, in: ders. (Anm. 57), Bd. 13, S. 206: .Sprache, Gesetze, Erziehung, tägliche Lebensweise". 7• De Ia Iitterature allemande (1780). Vgl. Wieland (Anm. 54), Bd. 34, S. 104. 73 J.G. Herder, Humanitätsbriefe, in: ders. (Anm. 57), S. 251. 76 J.P. Uz, Das bedrängte Deutschland (1746), in: ders., Sämtliche poetische Werke, hrsg. v. A. Sauer, Stuttgart 1890, S. 39. Vgl. auch W. Krauss, Zur Konstellation der deutschen Aufklärung, in: ders., Per­ spektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze, Neuwied/Berlin 1965, s. 159.

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einen bedeutenden Auftrieb . Zwar kämpfte Friedrich zugleich gegen Reichstruppen, aber die Gebildeten betrachteten die Söldnerheere nicht als ihre Vertreter. Erst diese Umstände erlaubten Friedrich als Retter der deutschen Ehre und paradoxerweise auch des deutschen Selbstbewußtseins zu erscheinen, das durch die kulturelle Hegemonie Frankreichs und die Schmähungen von Bouhours und E. Mauviiion schwer gelitten hatte . 77 Daß durch den Hubertusburger Frieden ( 1 763) der Dualismus zwischen Öster­ reich und Preußen sanktioniert und damit die Kluft zwischen Süden und Norden noch vertieft wurde, beklagten nur einige kaiserlich gesinnte Patrioten, während die preußi­ sche Propaganda es verstand, Friedrichs Siege als eben so viele Revanchen an dem übermütigen Frankreich zu deuten und damit die Debatte über den Patriotismus neu zu beleben und ihr zugleich eine neue Richtung zu geben. In der Tat hat der Siebenjährige Krieg die Debatte über Nationalstolz, Nationalgeist und Patriotismus wesentlich geprägt. Eigentlich hätte man erwartet, daß das W eiterbe­ stehen des Reichs diskutiert werden würde . Indirekt wurde es zwar vom preußischen Gesandten in Regensburg berührt, aber nur negativ, als er vermerkte , daß es von seinem König abhinge, " sich vom Reich abzusondern" oder nicht. Dieses Propos , das " seit 25 Jahren mehr als einmal " zu hören war, löste zwar F . C . v . Mosers Entrüstung aus , verhallte aber anscheinend sonst ohne besonderes Echo . Zwar war, wie wir ge­ sehen haben, von verschiedenen Seiten ein Defizit in bezug auf den Reichspatriotismus konstatiert worden, aber die Hauptsorge der patriotisch interessierten Autoren war kaum, diese Barrieren abzubauen und die Deutschen auf ihre Gemeinsamkeiten hinzu­ weisen. Als einer der wenigen war F . C . v . Moser bestrebt, den partikularistischen Bestrebungen entgegenzuwirken, doch war auch er zuweilen skeptisch. Und seine Vorschläge in " Von dem Deutschen Nationalgeist" waren eher bescheiden. So wünsch­ te er einerseits , daß die Staatsrechtslehrer, die , von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, bisher "Lehrer des Eigennutzes und blinden Gehorsams " gewesen seien, der Jugend durch " vorleuchtende lebendige Beyspiele der thätigen Vaterlandsliebe " "patriotischen Geist" einflößten, andererseits , daß die "jungen Cavaliers " , die bisher ihre Tour d 'Europe unternommen, nun auch die deutschen Höfe und Städte bereisten, um " Deutschland in sich selbst kennen zu lernen" . Insofern im letzten Viertel des Jahrhunderts zahlreiche Reiseberichte aus deutschen Ländern veröffentlicht wurden, in denen auch die Sitten und Gebräuche, der Charakter und die Mentalität der Einwohner verschiedener deutscher Provinzen eine besondere Beachtung fanden78 , scheint er wenigstens diesbezüglich ein gewisses Echo gefunden zu haben. Sonst stieß er jedoch vor allem auf Kritik. Selbst in dem Streitgespräch, das einige anonyme Verfasser mit dem ebenfalls anonymen Autor des "Deutschen Nationalgeist" führten, wurde kaum gefragt, wie der Landespatriotismus mit dem Reichspatriotismus zu versöhnen sei . Während F . K . K . v . Creutz i n " Einige Anmerkungen über die Blätter eines Ungenannten vom deutschen Nationalgeiste" ( 1 767) und J . J . Bülau79 das von Moser 1 765 aufgeworfene Problem banalisierten, indem ersterer darauf hinwies, daß der Separatismus durch die Ver-

71 Vgl. M. v. Waldberg, Eine deutsch-französische Literaturfehde, in: Deutschkundliches. F. Panzer zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1930, S. 87 ff.; Fink (Anm. 6), S. 8 ff. 78 Vgl. z.B. W.L. Wekhrlin, Anselmus Rabiosus Reise durch Oberdeutschland (1777), hrsg. v. J. Mondot, München 1988; Riesheck (Anm. 56); Herder (Anm. 59), S. 261 u. ebd., Bd. 17, S. 107. 79 J.J . Bülau, Noch etwas zum Deutschen Nationalgeiste, Lindau 1766.

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fassung legitimiert worden sei80 , und letzterer Maser vorwarf, "die Ursachen unsers Verfalls [ . . . ] in unserer Uneinigkeit zu suchen" , obwohl diese - wie er voll Ironie vermerkte - seit eh und je Teil des " Nationalgeistes" der Deutschen sei81 , bedauerte J . H . Eberhard in " Freie Gedancken über einige der neuesten Staats-Strittigkeiten" ( 1 767) , daß Maser kaum den Weg "zu einem allgemeinen Patriotismus" gezeigt habe. Den Blick auf Joseph II . gerichtet, sah er jedoch für die nächste Zukunft die Mög­ lichkeit einer " Eintracht zwischen Kaiser und Reich"82 • Doch selbst der Wiener Kame­ ralist J. v. Sonnenfels zeigte sich 1771 in " Über die Liebe des Vaterlandes " nicht be­ müht, dem deutschen Partikularismus entgegenzuwirken. Eigenartigerweise wurde der Unterschied zwischen Reichs- und Landespatriotismus kaum diskutiert. Die Autoren sprachen einfach von Patriotismus , meist ohne näher auf die Beziehung zwischen diesem und dem staatlichen Rahmen näher einzugehen. Parallel zu Ausführungen von Helvetius in "De l ' Esprit" (1758), erklärte Zimmermann in " Von dem Nationalstolze" (1 760) : " Die Liebe des Vaterlandes ist im Allgemeinen, was die Eigenliebe im Besonderen ist" , d.h. sie ist dem Menschen mit der Gesellschaftlichkeit von der Natur gegeben; sie müsse aber gegebenenfalls korrigiert werden, denn sie sei nur " billig , wenn sie sich auf wahre Vorzüge bezieht" . Sie sei hingegen " sträflich, wenn sie zu weit" gehe , zumal man dann nicht mehr fahig sei, " ein ander Land zu lieben" 83 • Der begründete Nationalstolz erschien so als die natürliche Voraussetzung des wahren Patriotismus, der zugleich moralisch legitimiert wurde , da er " die edelste Denkungsart" erzeuge und durch den Kosmopolitismus ergänzt wurde . Einerseits verwarf Zimmermann so das , was man später Chauvinismus nennen wird , andererseits verabsolutierte er den Patriotismus , wenn er erklärte, das Vaterland solle Zielpunkt aller Taten des Bürgers sein. Dann erst werde "kein irdisches Vergnügen [ . . . ] das Vergnügen (übertreffen) , ein wahrer Patriot zu sein" . Und erst dann werde er ihm Kraft geben, "durch Eisen und Feuer" zu gehen, wovon das Beispiel der Griechen und Römer zeuge . So mündeten seine Überlegungen in eine Apologie des heroischen Patriotismus, wie er dem - preußischen - Geist der Zeit gemäß war . Wie dieser aber noch durch den Kosmopolitismus ergänzt werden könne , bleibt fraglich. F. C . v. Maser, der Anwalt des Reichspatriotismus, unterschied wohl im Anschluß an Zimmermann zwischen einem vernünftigen "Patriotismus" und einer instinktiven " Liebe des Vaterlandes " . Erstaunlicherweise bezeichnete er aber letztere als " national­ Tugend " , insofern sie allen eigne , und den Patriotismus als "privat-Tugend " , weil er " ein[en] höhere[n] Grad einer geläuterten" Einsicht voraussetze , die nicht allen abver­ langt werden könne. Darüber hinaus solle der "wahre Patriot" sich von " niedrigen Vorurtheilen" freimachen, die Geschichte des Landes kennen und von den " wahren Vorzüg[en] " der Verfassung überzeugt sein.84 Eine dritte und vierte Variante wären " in currentem Sinn" , derjenige, der im Diskurs der Regierenden gerne als Patriot bezeich-

80 In: F.K.K.v. Creutz, Neue politische Kleinigkeiten, Frankfurt 1767; vgl. Herders Rezension in: ders. (Anrn. 57), Bd. 23, S. 107 f., und die Hinweise bei I. Sahm1and, Ch.M. Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum, Tübingen 1990, S. 114 f. 81 Bülau (Anm. 79), S. 195, 198. 82 Zitiert nach Sahmland (Anm. 80), S. 118 f. 83 J.G. Zimmermann, von dem Nationalstolze, in: Der Siebenjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössi­ schen Literatur, hrsg. v. F. Brüggemann, Darmstadt 1966, S. 41. 84 Moser (Anrn. 67), S. 184 f.

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net werde , weil er "es gut mit sich selbst und seinem Herrn meynet" , und schließlich der "Patriot nach der Mode" , der sein Land herausstreiche und das Ausland verachte . Die beiden letzteren repräsentieren jedoch in Wahrheit den Gegenpol des wahren Patrioten, weil einerseits Patriotismus und Freiheit für Moser sich gegenseitig be­ . dingten, andererseits der patriotische Diskurs und die egoistische Haltung dieser " Staats-Pharisäer" auseinanderklaffen, die F . C . v . Moser in antihöfischen Exkursen und Beispielen nicht müde wurde zu entlarven. In seinen Augen war Patriotismus ohne Tugend geflihrlich. Zugleich wies er jedoch darauf hin, daß er kein Feind der Monar­ chen, nur ein Freund der Wahrheit und darum gegen jede demagogische Verblendung des Volkes sei. " Ein wahrer Patriot ist derjenige gottseelige, redliche , standhafte , gedultige , beherzte und weise Mann, welcher mit einer gründlichen Kenntniß der Gesetze und Verfassung, der Quellen der Wohlfahrth und der Gebrechen seines Vater­ landes den aufrichtigen Willen verbindet, die sichersten Rettungs-, gelindeste Hülfs­ und dauerhafteste Verbesserungs-Mittel ausfindig zu machen, und von wahrer Men­ schen-Liebe entzündet, ohne Ansehen einer Parthie oder Person, und mit Verläugnung seines eigenen Nutzens oder Schadens sie bekannt und nach aller Möglichkeit geltend zu machen sucht . " Er fügte aber hinzu , um zwischen Diskurs und Haltung zu unterscheiden: " Der Patriot wird nur durch die Probe erkannt. " 85 Nach dieser all­ gemeinen Charakterisierung verwies Moser kurz auf das Reich, wobei er wohl mit einem kritischen Blick auf den Adel vermerkte , der Patriot solle " niemahls vergessen, daß er ein Teutscher ist" . Aber zugleich war er sich bewußt , daß die Wirklichkeit seinen Forderungen nicht entsprach; darum bekannte er mit dem Blick auf seine eigene politische Erfahrung und die seines Vaters nicht ohne Bitterkeit: "es kann kein selt­ sameres politisches Geschöpf erdacht werden, als ein Teutscher Patriot" , denn derjeni­ ge, der in dem einen Land als solcher verehrt werde, werde im Nachbarland ver­ schrieen und umgekehrt, womit er zugleich daran erinnerte , daß es im Heiligen Rö­ mischen Reich kein gemeinsames nationales Interesse mehr gab . Wie F . C . v . Moser verstanden J . G . Zimmermann und Th. Abbt Patriotismus und Egoismus als Gegensätze, trugen jedoch in ihrer Argumentation auch dem Eudämonis­ mus ihrer Zeit Rechnung86; J . v . Sonnenfels , der ebenfalls von Zimmermann beeinflußt wurde, ging noch einen Schritt weiter und bekannte sich offen zu diesem; zwar war auch in seinen Augen " ein glücklicher Bürger [ . ] noch kein Patriot" , aber insofern "die Eigenliebe der Hauptbestandteil der Vaterlandsliebe ist" , werde er es sein, sobald er " sein Vaterland als Quelle seines Glücks " erkenne Y Während so das Problem der Kohäsion des Reiches meist übergangen wurde, wurde bezeichnenderweise gerade das Problem aufgeworfen, das Friedrich II . am meisten interessierte , als er zu Beginn der sechziger Jahre stets erneut um die Existenz seines Staats bangen mußte: Inwiefern war der Patriotismus und vor allem dessen höchste Form , der Republikanismus , der sich das Motto des Horaz gewählt hat: " dulce et decorum est pro patria mori " , in einer Monarchie möglich? Wie schon der Name besagt, war er, der lateinischen Schultradition gemäß , vor allem in Republiken anzu. .

85 Ebd. , S. 193. Vgl. auch Vierhaus (Anm. 69), S. 12; G. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961, S. 16 (und passim) bezüglich der religiösen Fundierung von Mosers Patriotismus. 86 Zimmermann (Anm. 83), S. 40 f. ; Abbt, Vom Tode für das Vaterland ( 1761), ebd. , S. 78. 87 Sonnenfels (Anm. 55), S. 18.

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treffen, was auch die " Encyclopedie" bestätigte . Doch auch das preußische Heer be­ stand zumeist aus fremden Söldnern, die wie U. Bräker beim ersten Treffen sich fragten, wie sie am besten desertieren konnten, und froh waren, wenn sie zwar " nicht mit Ehren gefochten doch glücklich entronnen" waren.88 Waren aber die Landeskinder, die im Krieg ungefähr ein Drittel ausmachten89 , gute Patrioten, dann konnten sie wohl hoffen, die übrige Armee mitzureißen. Auch vor der Französischen Revolution war die Lektion der griechischen und der römischen Geschichte nicht vergessen worden: nur eine Armee von Patrioten war "unbesiegbar" . Hatte J . G . Zimmermann 1 75 8 "den Nationalstolz [ . . . ] als guter Schweizer nur den wohleingerichteten Republiken zugestanden" 90 , so bekannte er zwar 1 760, daß " der Mensch in den meisten Republiken vorzüglich beglücket ist [ . . . ] , weil die Freiheit allen Tugenden ihren Lauf läßt" 91 , widmete aber dem Nationalstolz, "der in Monarchien Platz hat" , ein eigenes Kapitel, in dem er erklärte , daß "die Sitten des Monarchen [ . . . ] zu der Freiheit soviel bei[tragen] als die Gesetze" und daß gar der Geist der Nation "einen neuen Schwung" bekomme, " wenn dieser König auf dem Throne ein Philosph, ein Gesetzgeber, ein Freund der [ . . . ] Menschen wäre " . Wenn nun gar der König die Beschwerden des Krieges mit seinen Soldaten teile , beflügle er ihren Patriotismus und verleihe ihnen eine "unüberwindliche Standhaftigkeit" . Diese Laudatio auf den preußischen Eroberer fand auch ein Echo bei Th. Abbt, einem gebürtigen Schwaben. Um "dem Einwurfe vorzubeugen, daß er schwärmerische Begriffe , die höchstens in Republiken erträglich wären, unrichtig auf Monarchien anwende " 92 , verkündete er gleich eingangs in " Vom Tode für das Vaterland" ( 1 76 1 ) , daß auch eine " gut eingerichtete Monarchie ein Vaterland" sei . Dies galt jedoch nur von Monarchien, in denen "Alles [ . . . ] den Gesetzen unterworfen" und " nicht mehr von (der) Freiheit (entzogen sei) , als zum Besten des ganzen Staats nötig" sei. Dann " verschwinde der Unterschied zwischen Bauer, Bürger, Soldat und Edelmann" , denn alle Untertanen betrachteten sich als "Bürger" und opferten ihr Privatinteresse dem allgemeinen Wohl auf. In einer solchen Monarchie konnten auch die republikanischen Tugenden der "Griechen und Römer" wieder aufleben, denen zufolge die "Mütter" ihre Söhne für das Vaterland gebaren und die Bräute "den Liebhaber verachteten, der [ . . . ] den Tod scheuet" . Ja, durch das mitreißende Beispiel ihres Monarchen wäre ein solcher Staat gegenüber den Republiken noch im Vorteil . Den Beweis dafür sollten die preußi­ schen Helden des Siebenjährigen Krieges liefern, die wie Ewald von Kleist " freudig fürs Vaterland" ihr Leben hingaben. Auch Friedrich II. ließ in seinen " Lettres sur I ' amour de Ia Patrie" ( 1 779) Philopa­ tros die großen Tugenden der griechischen und römischen Republiken loben, um dann zu zeigen, daß " ein gut regiertes Königreich" , in dem " nur die Gesetze herrschen" , einer " Familie" gleiche und darum noch den Vorteil habe, daß es in ihm " weniger Parteigeist und Spaltungen (gebe) als in Republiken" , die öfter durch " die Ränke" der

88 Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des armen Mannes im Tockenburg (1789), hrsg. v. W. Günther, Stuttgart 1965, S. 129 ff. (Die Schlacht von Losowitz 1756) und S . 133. 89 Nähere Angaben bei Ch. Duffy, Friedrich der Große und seine Armee, übersetzt v. J. Peiper, Stuttgart 1978, s. 76. 90 F. Brüggemann (Anm. 83), S. 9. 9' Zimmermann (Anm. 83), S. 27 f. 92 Abbt (Anm. 86), S. 48 . Vgl. C.F. v. Mosers ähnliche Argumentation (Anm. 67), S. 257.

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Bürger zerrüttet würden. Jeder solle durch die Tat beweisen, daß er dem Vaterland dankbar ist für das , was er von ihm empfing . Undankbarkeit und Egoismus , dieses Antonym von Republikanismus, zerstörten den Patriotismus , wie die Enzyklopädisten bewiesen. Deren Kosmopolitismus bekämpfte er, denn ihre Theorie führe gar dazu, " Landstreicher" zu rechtfertigen, "die an nichts hängen, (und) aus Langeweile durch die Welt ziehen" 93 • Im Gegensatz zu Frankreich wurde so in Deutschland mehrfach betont, daß der aufgeklärte Absolutismus die beste Voraussetzung für den Patriotismus bilde , zumal er die besten Gelegenheiten bot, auch den republikanischen Opferwillen unter Beweis zu stellen. J. Möser zufolge hätte F . C . v . Moser " sein Werkchen ' der Geist der deutschen Höfe ' " betiteln sollen, denn er habe letztlich nur von " Herrn und Diener(n) " 94 gespro­ chen; nicht in ihnen sei aber der Nationalcharakter zu erkennen, denn die Nation sei weder " an den Höfen" noch " in den Städten" zu finden; dort gebe es nur " verfehlte und verdorbene Kopien" , " in der Armee abgerichtete Maschinen" und " auf dem Lande unterdrückte Bauern" . Damit erklärte er sich sowohl gegen den republikanischen wie gegen den monarchischen Patriotismus und stellte ihnen in nostalgischem Rückblick die Vergangenheit gegenüber, wo "jeder Franke oder Sachse [ . . . ] sein allodialfreies [ . ] Erbgut " bebaute , denn nur " diese Zeit war imstande, uns eine Nation zu zeigen [ . . . , nicht] die gegenwärtige " 95 • Mit anderen Worten, auch für ihn reimte Patriotismus mit Freiheit, was aber hieß , daß nur die Freien Patrioten sein könnten. So träumte Möser , der wie kein zweiter in den " Patriotischen Phantasien" seinen Landsleuten ein Bild des Lebens und der Mentalität des deutschen Volkes zeichnete , in Wirklichkeit von einem feudalen, einem aristokratischen Patriotismus . Die Aufspaltung des Reiches brachte es mehrfach mit sich, daß die Gebildeten in dem Dienste eines anderen als in dem ihres angestammten Fürsten standen. Die Mög­ lichkeit der Wahlheimat innerhalb des Reiches führte aber nicht zu einer Apologie des Reichspatriotismus, sondern dazu, jede Kritik an dem Verhältnis zwischen Regie­ rungsform und Patriotismus auszuräumen, da "jeder" sich ja das Land aussuchen konnte , " dessen Regierungsart ihm am besten" gefiel. 96 Darum beschränkten weder der Schweizer Zimmermann noch der Schwabe Abbt oder F . C . v . Moser das Vaterland auf das Geburtsland ; sie erklärten vielmehr, daß durch die " freie Entschließung " eines Individuums , das sich den Gesetzen seiner Wahlheimat unterwerfe, diese ebenfalls sein Vaterland sei . F . C . v . Moser betonte gar, daß "die Liebe gegen das [ . . . ] erworbene Vaterland" höher zu achten sei als die Liebe zum angestammten, weil sie auf Einsicht und Kenntnis beruhe, insofern man es sich selbst gewählt habe . 97 Das Beispiel von Zimmermann und Abbt zeigt auch, welche Ausstrahlungskraft der preußische Patriotismus auf einen Teil der deutschen Mittelschichten hatte, gleichviel ob diese dabei in den Sog der Propaganda gerieten oder sich nur aufgrund der Zei. .

93 Übersetzung zitiert nach: Friedrich der Große, Philosophische und staatswissenschaftliche Schriften, Milnchen o.J . , S. 272 ff. !>I Anspielung auf Masers Hauptwerk "Der Herr und der Diener" ( 1 759), wodurch Mosers Anonymität gelüftet wurde. 95 Mösers Rezension von Mosers "Nationalgeist" in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek 1767, in: ders. , Gesellschaft und Staat. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. v. K. Brandi, München 192 1 , S. 35 f. 96 Zimmermann (Anm. 86), S. 26. 97 Vgl . Moser (Anm. 67), S. 1 88.

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tungsinfonnationen entschieden: von einem Kabinettskrieg war der Siebenjährige Krieg zu einer nationalen Angelegenheit geworden, die die Gebildeten Stellung zu nehmen zwang , wobei die Trennungslinie oft innerhalb der Familien verlief und die blinde Parteilichkeit Streit hervorrief, wie Goethe in " Dichtung und Wahrheit" berichtet. Die Zeugnisse scheinen jedoch darauf hinzudeuten, daß vor allem die ältere Generation gut kaiserlich, die jüngere eher " fritzisch" gesinnt war . 98 Der preußische Patriotismus behielt zwar seine politische Bedeutung bei , erhielt aber zugleich eine überregionale, ja, eine deutsche Bedeutung, indem er dem Reich ein preußisches Achtergewicht gab , das durch die Ausstrahlung der Berliner Aufklärung noch deutlicher wurde . Josephs II. bayrische Tauschpläne und die Bildung des deut­ schen Fürstenbundes unter preußischer Führung verstärkten noch das politische Schwergewicht des Nordens ; sie bestätigten zugleich den Wandel in der Haltung manches deutschen Fürsten, der nicht nur seine französischen Schauspieler verabschie­ dete99 und sich für die deutsche Literatur zu interessieren begann, wie auch aus den Projekten für ein deutsches Nationaltheater hervorgeht100, sondern sich als Patriot um das Wohl seiner Untertanen kümmerte und sich auch wieder stärker deutschen Inter­ essen zuwandte . 101 Dennoch war Berlin kein kulturelles Zentrum für das gesamte deutsche Reich, zumal Friedrich II . sich nicht als deutscher Mäzen erwies , ganz zu schweigen von der reaktionären Politik Friedrich Wilhelms II. Selbst Friedrich II. konnte keine Integrationsfigur für ein gesamtdeutsches Nationalbewußtsein sein102 , zumal es viele Vorbehalte gegen seine Person, seine Religionsspötterei , seinen Despo­ tismus , seine Gallomanie , sein Unverständnis für die deutsche Literatur gab . So war auch mit Preußen keine politische Lösung in Sicht. Es verblieb nur ein Ausweichen in die Literatur . Während F . C . v . Moser, dem zufolge der Egoismus der Fürsten, die Schmeichelei der Höflinge, die Servilität sowie die allgemeine Immoralität und religiöse Indifferenz schuld waren an der Aufsplitterung des Reiches , glaubte, den Reichspatriotismus nur durch eine moralische Aufrüstung der Deutschen wecken zu können, während J. Möser nostalgisch von der guten alten Feudalität träumte und Zimmermann, Abbt und Sonnen­ fels sich bemühten, den monarchischen Patriotismus auf Landesebene zu rechtfertigen, versuchten Historiker dem Landespatriotismus , der innig mit der Liebe zum Landesfür­ sten verbunden war, durch die Aufarbeitung der Geschichte einzelner Länder neue Anregungen zu geben. 103 Aber auch die Reichsgeschichte erhielt neue Impulse , ob98 J .W.v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: ders. , Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 16, hrsg. v. P. Sprengel, München 1 985, S. 52 f. 99 Vgl. F. Brunot, Histoire de Ia Langue franc;aise, Paris 1934, Bd. 8, 1, S. 556 f. , 588 f. und passim; J .J . Olivier, Les Cornerliens dans !es Cours d' Ailemagne a u XVIII' siecle, Paris 1901, 2 . serie, S . 60. 100 Vgl. R. Krebs, L' idee d e "Theatre National" dans l ' Ailemagne des Lumieres (Wolfenbütteler Forschungen, 28), Wiesbaden 1985, S. 330 und passim. 101 Vgl. Vierhaus (Anm. 69), S. 15; K.O. v. Aretin, Reichspatriotismus, in: Patriotismus (Anrn. 62), S . 2 9 , der diesbezüglich gar von einer .Reichseuphorie" spricht. 102 Vgl. C. Wiedemann , Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus . Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu fmden, in: Patriotismus (Anrn. 62), S. 97. 103 Vgl . die im Anschluß an Mösers "Osnabrückische Geschichte" (1768 und 1780) neu auflebende Regionalgeschichte sowie die parallele Konversion der Pädagogen von J . B. Basedow, für den Philantrop und Kosmopolit synonym waren, und F.E. v. Rochow, der durch . Nationalunterricht" ein "unbezwingbares Volk" heranzubilden hoffte, das den .Regenten [ . . ] willige Liebe, Unterwerfung und Gehorsam" bekunden werde (Vom Nationalcharakter durch Volksschulen, 1779). .

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gleich Herder noch 1 795 in der " Deutschen Monatsschrift" voll Besorgnis erklärte : " Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben. " 104 Er wünschte nicht eine Geschichte "der deutschen Fürsten und Fürstenhäuser, sondern der deutschen Nation, ihrer Verfassung , Wohlfahrt und Sprache " , "eine Geschichte des deutschen National­ geistes " . Nicht nur er hoffte darüber hinaus durch Porträts großer Herrscher, Erfinder, Schriftsteller und Persönlichkeiten wie Kepler, Luther oder Hutten105 , daß die Deut­ schen sich an diesen Vorbildern ausrichten und im Spiegel der Vorzeit wiedererkennen würden. Da, wie Herder vermerkte , "eine Gemeinheit ohne Gemeingeist krankt und er­ stirbt" 106 , betrachteten zahlreiche deutsche Schriftsteller es als ihre vordringliche Auf­ gabe , das von Friedrich angefangene Werk weiterzuführen und die Literatur in den Dienst der Nation zu stellen, denn gerade Buch, Bühne und Zeitschrift waren ver­ mögend , die Barrieren zwischen den Ländern zu überspringen und einen durch die politische Aufspaltung des Reichs notwendig auf das Geistige beschränkten Patriotis­ mus zu wecken. Ihr Ziel war, das Selbstbewußtsein ihrer Landsleute zu heben, um sie vor dem Minderwertigkeitskomplex zu bewahren, von dem auch die oberen Stände, die im Ausland sich zuweilen ihrer Deutschheit schämten, nicht frei zu sein schienen. Deutlich ausgesprochen oder nicht, ging es dabei um die grundsätzliche Frage der Identität der Deutschen, um die sich das Bürgertum als maßgebliche kulturelle Träger­ schicht ängstlich bemühte . Im Gegensatz zu Frankreich war dies für Deutschland lebensnotwenig sowohl für das Weiterbestehen der Nation wie für die Existenz einer eigenständigen Literatur. Hatte die Poetik der Aufklärung den Dichtem zur Aufgabe gemacht, die Tugend zu lehren oder wie Wieland die Psyche auszuloten und ihre moralischen Widersprüche aufzudecken, so ging es nun darum, eine deutsche Gemein­ schaft zu erschaffen. In diesem Sinne riefen sie zu einer Besinnung auf die geistige Gemeinsamkeit der Deutschen, auf den Nationalgeist und Nationalcharakter auf. Wenige waren jedoch wie Herder und Möser bereit, die Vielfalt der deutschen Provin­ zen und Charaktere als einen Reichtum zu betrachten, während andere wie besonders Nicolai sie nach ihrem eigenen Maßstab maßen und so zu negativen Schlüssen kamen. Schon daraus erhellt, daß die Antworten der Schriftsteller und Dichter so wider­ sprüchlich waren wie die der Theoretiker. Die erste Frage , die sich ihnen stellte , war: wo war " die Stimme des Vaterlandes " , die für Herder auch " die Stimme Gottes" war107 , zu vernehmen, da das deutsche Wesen durch fremde Einflüsse sich selbst entfremdet worden war und die Deutschen ihre Eigenart verloren hatten? Abgesehen von Tacitus, der immer wieder als Garant der deutschen Identität bemüht wurde , verwies Herder in den "Fragmenten" auf die Literatur des Volkes, da dieses aufgrund seiner Unbildung nicht verbildet worden war und also den Nationalgeist noch am treusten zu überliefern schien. Als weiterer Spiegel deutschen Wesens galt die gemeinsame Sprache. Stolz erklärte H . Ch. Adelung : " Die Liebe der Deutschen für ihre Muttersprache scheint vorzüglich in unseren Tagen zu erwachen" , was ihn anspornte , ihr eine eigene Zeitschrift zu

104 Herder (Anm. 57), Bd. 17, S . 443 ff. 1 05 Deutsches Museum, Teutscher Merkur 1 776; C . Wiedemann (Anm. 102), S. 78 ff., 91 f. 106 Haben wir noch das Vaterland der Alten? In: J.G. Herder, Humanitlitsbriefe, in: ders. (Anm. 57) , s. 280. 107 Ebd . , s. 25 1 .

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widmen. Da aber Adelung wie Gottsched das Sächsische zum Vorbild nahmen, wäh­ rend seine Gegner betonten, daß die deutsche Sprache " an keine Provinz gebunden" sein solle , fand der Streit zwischen Reichspatriotismus und Partikularismus auch auf dem Gebiet der Sprache ein Echo . So stellte sich die Frage: "Was ist Hochdeutsch? " 108 Weil jedoch die deutsche Sprache verwelscht und noch unausgebildet war, sah Adelung seine Aufgabe auch darin, sie von Fremdwörtern und zugleich von Provinzialismen zu reinigen, damit sie eine wirklich gemeinschaftsbildende Funktion übernehmen könne . Doch auch über Mittel und Wege gingen die Meinungen auseinander: Um die Vorwürfe zu entkräften, die von Franzosen und deutschen Französlingen in bezug auf Wort­ schatz, Klang und Syntax gemacht worden waren, sollte sie , Wieland zufolge , gesell­ schaftsfahig gemacht, ihr die Urbanität verliehen werden, die ihr abging, da die oberen Stände sich des Französischen bedient hatten oder noch bedienten. Das hieß , daß die Schrift- bzw. die "Buchsprache" der "obern Classen aller Provinzen" zur allgemeinen Sprache der Deutschen ausgebildet werden sollte . Für Möser, Herder und Bürger hingegen war die Buchsprache "eine bloße Konventionssprache des Hofes oder der Gelehrten" 109; ihrer Meinung nach konnte das Deutsche seine nationale Aufgabe nur erfüllen, wenn die Schriftsteller sich von der Volkssprache inspirieren ließen und durch kühne Inversionen sowie kräftige Machtwörter und Metaphern sie wieder zum Spiegel des deutschen Charakters machten. Klopstock, Herder, Lenz und Adelung begnügten sich jedoch nicht damit, die deut­ sche Sprache zu rehabilitieren, um sie als ebenbürtig neben die französische Sprache zu stellen, sie stellten sie vielmehr über die anderen Sprachen, indem sie auf ihr Alter und ihre Reinheit verwiesen. Sie war die Ursprache110, ein Argument, dessen sich in der Folge auch Fichte in den " Reden an die deutsche Nation" bedienen sollte . Mit der gemeinsamen Sprache wurde jedoch eine Gemeinschaft angesprochen, die politisch inexistent war; es fehlte nicht nur eine nationale Bühne, sondern auch ein nationales Publikum, so daß die Schriftsteller für den "deutschen Nemo " schrieben, wie Herder bitter vermerkte . 1 1 1 Und auch hier gingen die Wege der Programmatiker auseinander. Während für Wieland die mittleren und die höheren Stände die Nation vertraten und Klopstock sich mit seinen Oden und in der " Deutschen Gelehrtenrepu­ blik" an die Gebildeten wandte, den " Pöbel " aber ausschloß , wollten Herder und Möser möglichst alle Stände ansprechen, um ein gesamtdeutsches Publikum zu bilden, das repräsentativ wäre und eine eigenständige, lebensfahige Literatur zu tragen ver­ möchte . Auch Bürger zufolge sollte " die deutsche Muse " populär bleiben, " damit sie das wieder werde , wozu sie Gott erschaffen" hatte ; darum richtete er sich an alle Landsleute, sowohl " in Palästen als in Hütten" 1 12 • Das Echo , das sowohl Klopstocks " Messias " und Oden oder Wielands Schriften in allen Ständen und Bürgers Balladen im gesamten deutschen Sprachgebiet fanden, zeigt, daß der Traum einer deutschen Ein108 Vgl. H.Chr. Adelung, Magazin für die Deutsche Sprache, Bd. 1 , 1 , Leipzig 1782 (Reprint Hildesheim 1969) , 4. Stück, 1 783, S. 1 17 und 1 . Stück, 1782, S. 1 . 109 J . Möser, Über die deutsche Sprache und Literatur ( 1780), in: ders. , Anwalt des Vaterlandes, Ausge­ wählte Werke, Leipzig/Weimar 1978, S. 4 1 5 . 11° F.G. Klopstock, Unsere Sprache (1773). 111 J . G . Herder, Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben, in: ders. (Anm. 57) , Bd. 17, s . 443 . 112 G . A . Bürger, Herzensausguß über Volks-Poesie (1776), in: ders. , Sämtliche Werke, hrsg. v. W.v. Wurzbach, Leipzig o.J., Bd. 3, S . 7 ff.

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heitssprache und einer deutschen " Nationalliteratur" langsam Wirklichkeit zu werden begann. Alle literarischen Gattungen waren an dieser patriotischen Aufrüstung beteiligt. Die Stürmer und Dränger, die sich weitgehend Herders Programm zu eigen machten, ver­ suchten, die Bühne, deren Repertoire noch von Übersetzungen und Adaptionen aus dem Französischen beherrscht war, als Spiegel deutschen Wesens und deutscher Wirk­ lichkeit zu gestalten, wovon Goethe mit " Götz von Berlichingen" ( 1 773) , einem " Ge­ mälde aus dem National-Leben unsrer Vorfahren" 1 13 , den Auftakt gab . Doch zeugten Ritterdrama und Ritterroman sowohl von deutschem Patriotismus wie von deutschem Partikularismus , wie z . B . "Agnes Bernauerinn. Ein vaterländisches Trauerspiel" ( 1 7 80) bezeugt, das J . A . v . Törring seinem " Vaterlande Bayern" widmete . Selbst das bürgerliche Drama verschloß sich nicht den patriotischen Bestrebungen der Zeit, wie zum Beispiel Gemmingens "Der teutsche Hausvater" (1 780) bezeugt. Noch bevor F. v . Blanckenburg i m "Versuch über den Roman" ( 1 774) die Autoren aufforderte, " die Eigenthümlichkeit der Sitten" ihres Landes nachzuzeichnen, hatten Hermes , Nicolai u . a . m . die deutschen Zustände geschildert und dabei zuweilen auch das Problem des deutschen Patriotismus und Partikularismus aufgeworfen, während Goethe , Bürger u . a . i n ihren Balladen, Musäus und B . Naubert i n ihren " Volksmährehen der Deutschen" dem Appell Herders folgten und ihren Landsleuten einen Spiegel der Mentalität ihrer Vorfahren vorzuhalten versprachen, wie ihn das unverbildete Volk in seinen Liedern, Sagen und Märchen bewahrt hatte . Nachdem 1771 eine Wochenschrift mit dem programmatischen Titel " Der Deutsche" sich vorgenommen hatte, den moralischen, monarchischen Patriotismus zu predigen und dem mangelnden Nationalstolz der Deutschen aufzuhelfen, indem sie die " alten Deutschen" im Stil von G. Schützes " Schutzschriften" rehabilitierte1 14 , traten mehrere kulturelle Zeitschriften hervor, die wie Sehnbarts " Deutsche Chronik" ( 1 774) , J . Mösers "Patriotische Phantasien" (1774-78) , Boies und Dohms " Deutsches Museum" ( 1 776-88) und F . C . v . Mosers "Patriotisches Archiv" ( 1 7 84-88) schon durch den Titel ihr Engagement andeuteten. Und sie begnügten sich nicht damit, über das Kulturleben zu berichten, sie wollten zugleich eine wahrhaft deutsche Gesinnung wecken. So ver­ suchten die Herausgeber des " Deutschen Museums" in mehreren Artikeln, einerseits ihre Leser mit den Sitten und Völkerschaften der Germanen bekannt zu machen und zu zeigen, daß Deutschlands Dichter und Schriftsteller nicht mehr hinterher hinkten, andererseits "die sogenannte grosse Welt" , die das " deutsche Genie gegen französi­ sches Blendwerk verachtet" , zu ermahnen, ihre " Muttersprache" nicht mehr "einer fremden, die Heldensprache" nicht " der Papageiensprache" nachzusetzen. Noch direkter zog Schubart im Sinne von Klopstacks " Deutscher Gelehrtenrepublik" , auf die er sich mehrfach berief, gegen alle diejenigen zu Felde , die den "Originalgeist" der Deutschen erdrückten, indem sie das " Ausland , vorzüglich Frankreich" nachahmten . Indem e r Werke und Personen auf ihre Deutschheit prüfte, verherrlichte e r sowohl die deutsche " Heldensprache" m und Literatur wie die Germanen und den "guten, treuher-

1 1 3 Möser (Anm. 109), S. 406. 1 1 4 G. Schütze, Drei kleine Schutzschriften für die Alten Deutschen, Leipzig 1746; vgl. die kritische Rezension in den .Frankfurter Gelehrten Anzeigen" ( 1 772), S. 1 1 1 ff. ; H. Zimmermann, Freiheit und Geschichte. F.G. Klopstock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg 1 987, S. 1 13 ff. 115 F.G. Klopstock, Deutsche Chronik, 1774 , S . 62 1 .

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zigen deutschen Mann" , um die "Verachtung , womit die Ausländer, zumalen die Welsche auf uns Deutsche hingeblickt haben" , mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Zu­ gleich stellte er die kraftvolle, wenn auch etwas derbe, aber ehrliche, männliche Vor­ zeit der verweichlichten Gegenwart als Vorbild gegenüber. Daß er dabei mehrfach der Teutomanie verfiel , ist bei seinem cholerischen Temperament nicht zu verwundern. In der Lyrik waren zuerst nationale Töne angestimmt worden; den Auftakt dazu gab Klopstock, der schon in den fünfziger Jahren die Welt Hermanns mit dem von Römer­ blut triefenden Schwert beschwor und seine Ode "Hermann und Thusnelde" ( 1 753) mit dem Aufruf schloß , besser dem Beispiel der Väter zu folgen als sie zu beweinen. Damit war von vornherein auch in der Dichtung der Patriotismus mit dem Kampf gegen die römische Unterdrückung , das heißt gegen Frankreichs Hegemonie verbunden, wobei der Sieg über die römischen Legionen im Teutoburger Wald als Aufmunterung zur Befreiung von Frankreichs literarischer Vorherrschaft gedeutet wurde. So verkündet er 1 773 in " Weissagung " : " Dein Joch, o Deutschland, Sinket dereinst. Ein Jahrhundert nur noch, so ist es geschehen. " Diese Übertragung der politischen Befreiung , auf die durch Verweise auf Arminius und Varus immer wieder angespielt wird, gibt der patriotischen Lyrik, ja, der patrioti­ schen Dichtung der Zeit ihre typische Prägung : es geht nicht so sehr um politische , es geht um literarische Selbstbehauptung im Konkurrenzkampf mit Frankreich. Dies verdeutlichen auch Klopstocks spätere patriotische Oden, in denen die kriegerisch­ blutigen Motive an Bedeutung gewinnen. 1 16 Es geht um " Rache mit des Deutschen Schwert und Wort! " Das Wort des patriotischen Dichters soll die Aufgabe übernehmen, die einst dem Schwert der Cherusker zufiel . " Lanz" und " Telyn" 1 17 erhält der junge Barde zugleich. Indem der Dichter die Heldentaten der Vorväter, der Befreier1 1 8 ver­ herrlicht und die deutsche Sprache als deren Erbe betrachtet119, rehabilitiert er " Teuto­ nien" , das letzthin "unerobert" 120 geblieben und über viele andere Länder erhaben war, und spornt zugleich seine zeitgenössischen Landsleute an, ihrer Vorfahren " wert zu sein" , es ihnen auf dem Gebiete des Geistes gleichzutun. Aber er warnt sie auch davor, das Fremde nachzuahmen121 : wie Hermann durch den Verrat der Seinen fiel, so schwächten sich die Deutschen selbst, da sie sich von den Sirenen des Auslandes be­ tören ließen. Wie Herder kam Klopstock in seinen Aufsätzen mehrfach auf das Problem der Nachahmung zurück und in seinen Bardieten, vor allem in " Hermanns Tod " ( 1 787), prangerte er den Zwiespalt als das Grundübel der Deutschen an, das ihren Feinden über sie zu triumphieren erlaubte . 122 Indem Klopslock sich dem Vaterland als Sänger weihte und erklärte : " Ich liebe dich, mein Vaterland ! " 123 , erhielt die Vater-

1 1 6 Vgl. Kaiser (Anrn. 85), S. 124 ff. 1 1 7 Hermann . 1 18 Dieses Motiv durchzieht zahlreiche patriotische Oden Klopstocks: Mein Vaterland (1768), Unsere Sprache ( 1767), Hermann ( 1 767) . 1 1 9 Die deutsche Sprache ( 1 783). 120 Unsere Sprache (1767) . 121 Mein Vaterland (1768) : .Nie war gegen das Ausland Ein anderes Land gerecht wie du! Sei nicht allzugerecht! " 122 Vgl. auch J.G. Herder, Germanien (1791), in: ders. (Anrn. 57), Bd. 1 ; S . 197 . 123 Mein Vaterland (1768).

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landsliebe eine emotionale Färbung und durch einen gehobenen Stil und religiöse Metaphern zugleich eine bisher unbekannte sakrale Weihe . 124 Das begeisterte Echo , das die Arbeiten von Schütz und vor allem von Mallet über die skandinavische Dichtung und Mythologie fanden125 , verführte jedoch Klopstock, Gerstenberg , K . F . Kretschmann126 und Denis dazu, die keltischen Barden mit den skandinavischen Skalden und dem germanischen "barditus " , dem Schlachtgeschrei, von dem Tacitus berichtete, zu verquicken, in der Hoffnung , ihren patriotischen Gesängen durch einige skandinavische Wörter und Götternamen etwas von dem wahren deutschen Wesen zu verleihen, das durch die antike Mythologie verfälscht würde . Für Dichter, die um einen Platz im deutschen Geistesleben und um ein Publikum kämpfen mußten, konnte der Barde , der als Sänger der Kämpfe und als Apologet der nationalen Helden eine hohe Achtung genoß , zur Wunschfigur werden. So klagt Klopstock in der vom Göttinger Hain als Programm betrachteten Ode " Der Hügel und der Hain" ( 1 767) : " Auch in meinem Vaterland sangen Barden. Und ach, ihr Gesang ist nicht mehr ! " Darum rief er " einen Barden herauf" und übernahm gleichsam dessen Rolle für seine Zeit, indem er die alten " Götter zu Gemälden des fabelhaften Liedes " aufweckte . Wenn man jedoch die Bardendichtung mit diesem Wunschtraum vergleicht, so wird die Diskrepanz zwischen beiden deutlich. Selbst in Klopstocks patriotischen Oden ist, abgesehen von dem Vorbild des Barden, das Bardenwesen nur eine aufgesetzte Patina . Bei den Mitstreitern fehlt darüber hinaus die glühende patriotische Begeisterung, die den skandinavischen Requisiten Leben hätte verleihen können. Während Klopstock und Herder der Deutschen Vaterland beschworen, lieh Gleim, der mit seinen Liedern die Siege seines Kriegshelden Friedrich begleitete, seine Stimme einem preußischen Grenadier127 und stellte damit das Rollenbild des tapferen Preußen auf. Sein Patriotismus war nicht nur monarchisch, er war auch preußisch. Zwar spricht er meist allgemein von Feinden oder von Panduren; um jedoch den Sieg von Roßbach zu besingen, entlarvt er Witz und Hochmut der Franzosen als Prahlerei und Feigheit und spottet über die Angst der flüchtenden Pfälzer, Franken, Schwaben und all derer, die aus den verschiedenen deutschen Fürstentümern und Reichsstädten gegen Preußen angetreten waren. Mehrfach betont er den grausamen Mut der preußischen Grenadiere ; doch gewähren sie ihren deutschen Brüdern und den Franzosen Pardon, sobald diese um ihr Leben bitten. Friedrich erscheint gleichfalls nicht nur als Kriegsheld , sondern auch als " Menschenfreund " , der nur gezwungen Krieg führt, aber eine überlegene Macht besiegt, denn seine Sache ist gerecht. So werden nicht die Deutschen, sondern allein die braven Preußen rehabilitiert, von denen "ein jeglicher ein Held" war . 128 Da die ästereicher als ungerechte Angreifer gebrandmarkt werden, erscheint jedoch die Sache Preußens als die der Deutschen, so daß Friedrich mit seinen Siegen gar " Deutschland freigemacht" zu haben scheint, was ein Anonymus Gleim nachsingt129 und dann noch einen Schritt weiter geht, indem er fragt: 1 24 Vgl . Kaiser (Anm. 85), S. 180 ff. 1 2 5 Vgl . Mallet, Monuments de Ia Mythologie et de Ia poesie des Celtes et particulierement des Anciens Scandinaves, 1756. Vgl . P. van Tieghem, l..e Preromantisme, Bd. I , Paris 1948, S. 75 ff. 1 26 K.F. Kretschmann , Klage Ringulphs des Barden, als Varus geschlagen war (1769); vgl. Zimmermann (Anm. l l4), s. 132 ff. 1 27 J.W.L. Gleim, Lieder eines Preußischen Grenadiers ( 1 757-59). 128 Siegeslied der Preußen nach der Schlacht bei Roßbach (1757), in: Der Siebenjährige Krieg (Anm. 83), s . 109 ff. 1 2 9 Auf den Sieg des Königs bei Roßbach, ebd., S. 126 ff.

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Wer hasset Deutschlands Sclunuck, der Preußen großer Sieger? Kein Patriot, nur Östreichs Knecht. Damit war ganz im Sinne der Fridericianischen Propaganda der preußische Patriotis­ mus mehr oder weniger zum deutschen Patriotismus geworden. Auf Klopstacks und Herders Spuren wandelnd bemühten sich auch die Dichter des Göttinger Hains , "deutsch zu denken und zu fühlen" . In ihren Augen bedeutete dies zu­ erst, daß sie den französischen Einfluß bekämpften, der das deutsche Wesen korrum­ pierte. Indem sie die in Klopstacks Oden nur indirekt ausgesprochene Gegnerschaft ge­ gen Frankreich zum Tenor ihres Patriotismus machten, gaben sie diesem eine deutlich dualistische Ausrichtung : Patriotismus und Gallophobie gehörten für sie zusammen: das Deutsche war in allem das Gegenteil des Französischen. So stellten J . M . Miller , J . F . Hahn, M . Claudius , J . H . Voss und F . L . Stolberg den "Biedersinn" und die " Redlich­ keit der Deutschen, die sanft und gerecht" sind, französischer Frivolität, Frechheit und Falschheit, die deutsche Tugend der französischen Immoralität und das Land der alten Treue dem Land der Freidenker gegenüber . 130 Zwar verherrlichten auch sie den Tod fürs Vaterland, aber für Hölty , Voss und die Karschin war er zum patriotischen Versatzstück geworden. Ihr Patriotismus war vor allem moralisch, wie schon aus dem Gegensatz zur französischen Immoralität her­ vorgeht. Politisch wie geographisch bleibt ihr Vaterland umrißlos und schattenhaft, so daß man sich zuweilen fragen kann, ob dabei von Deutschland, von Hannover oder einem anderen deutschen Land die Rede ist. Für F.L. Stolberg hingegen und gewisser­ maßen auch für Voss waren Patriotismus und Freiheit unzertrennlich miteinander verbunden, ja ersterer erhält auch republikanische Akzente . So wird im " Freiheits­ gesang aus dem 20. Jahrhundert" ( 1 775) das Vaterland von den Tyrannen befreit, und der Tod fürs Vaterland wird zum " Freiheitstod" , um den der republikanische Vater seinen Sohn beneidet. Auch in Deutschland dominierte eine kritische Einstellung zur Gegenwart, aber die Motive waren anderer Art als in Frankreich. Zunächst war weniger das politische Regime die Zielscheibe der Kritik als die " Gallicomanie" der Höfe und des Adels, wodurch nicht nur die Kluft zwischen den Ständen131 , sondern auch die literarische He­ gemonie Frankreichs und die Nachalunungssucht der deutschen Schriftsteller, d . h . Deutschlands literarische Ohnmacht betont wurde, zumal die Fürsten größtenteils als Mäzene ausfielen und das Reich nicht über eine politische oder auch nur kulturell ton­ angebende Hauptstadt verfügte , worüber die Schriftsteller mehrfach klagten. Erst Mitte der 70er und in den 80er Jahren, erst im Anschluß an die durch die amerikanische Revolution ausgelöste politische Debatte wurde in Zusammenhang mit dem Patriotis­ mus auch der fürstliche Despotismus angeprangert. 132 Der Widerspruch gegen die nationalen Auswüchse ließ auch nicht lange auf sich warten. Wieland knüpfte zwar an Tressan an, indem er mehrfach auf Auszüge von adaptierten alten Ritterromanen der "Bibliotheque Universelle des Romans " zurück-

1 30 J.H. Voss, Der deutsche Gesang (1773), Trinklied für Freie ( 1 774). 1 3 1 Herder, Humanitätsbriefe, in: ders. (Anm. 57), Bd. 1 3 , S. 492. 1 32 Vgl. Ch. Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1 98 1 , S. 3 1 ff. , der jedoch im Anschluß an W. Krauss sowohl die antidespotische wie die kosmopolitische Tendenz der Dichter überbewertet.

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griff, und versuchte gar in " Geron der Adelige" ( 1 776) durch eine archaisierende Sprache " den Ton dieser [alten] Zeiten" und die Patina des genre troubadour wieder­ zugeben; aus dem alten Ritterroman machte er aber nicht eine patriotische, sondern eine tragische Novelle, denn sowohl hier wie im " Oberon" ging es ihm um moralische Probleme . Während " Geron" den "vorzüglichen Adel in Gesinnungen, Sitten und Thaten" , der allein "dem von veralteten Vorortheilen nur schwach beschützten Geburt­ sadel noch zur Brustwehr dienen kann " , in Erinnerung bringen sollte133 , ähnelte in den anderen Verserzählungen das Rittertum dem aristokratischen Kosmopolitismus des 1 8 . Jahrhunderts , zumal der Heroismus der adligen Ritter durch Übertreibung mit Hilfe des Wunderbaren persifliert wird . Von Patriotismus ist weder hier noch da eine Spur; j a , schon i n " Der Mönch und die Nonne auf dem Mädelstein" ( 1 775) verspottete Wieland die Deutschtümelei der Göttinger: Insofern sie dem Trieb der Natur folgten und dem Kloster entflohen, waren Bruder Sixt und Schwester Clärchen " fromm und gut nach deutscher Art" , doch sobald sie sich in die Arme fielen, wurden sie versteinert. Schon 1 766 hatte Bülau voll Ironie vermerkt, daß es sinnlos sei, die alten Germanen zu bemühen, um als Deutscher sich seiner nationalen Identität zu versichern, denn die Diskrepanz zwischen beiden sei zu groß , beugten doch die Deutschen gehorsam den Nacken unter das Joch der Fürsten, in einigen despotisch regierten Ländern seien sie gar bereit, auf Verlangen Geld , Weib , Tochter und Söhne hinzugeben, während die Germanen die Freiheit als höchstes Gut betrachtet hatten. 134 Ähnlich argumentierte Wieland , als er darauf hinwies , daß "unsre Lebensart, unsre Sitten, unser ganzer Zustand [ . . . ] Dank sei dem Himmel ! so sehr von dem unterschieden [sind] , was unsre Vorfahren zu den Zeiten der Barden waren" , und "daß kaum ein gewisseres Mittel wäre , unsre Poesie unbrauchbar und lächerlich zu machen, als wenn wir sie in eine Velleda verkleiden wollten" . Barbaren als Vorbild hinzustellen, hieße den Fortschritt der Vernunft und der Kultur rückgängig machen. Darüber hinaus vermerkte er, daß " die Nationen von Europa immer mehr von dem verlieren, was ehemals den eignen Charakter einer jeden ausmachte" 135 ; aber während Rousseau und Herder diesen Iden­ titätsverlust beklagten, betrachtete er dies als ein Zeichen gemeinsamen Fortschritts auf dem Wege zur Aufklärung . Vor allem die Bardendichter waren die Zielscheibe der Kritik. Hatte Herder in den siebziger Jahren die Weltbürger, die kein Vaterland haben, mit bitterer Ironie be­ dacht136 und zunächst die "Gesänge der Barden" als Spiegel des "Nationalgeistes" ver­ herrlicht, weil sie die " Völker unbezwinglich" machten137 , so distanzierte auch er sich bald von ihren Plattheiten, ihren Auswüchsen und ihrem manichäischen Patriotismus. 138 Damit bestätigte er das Scheitern von Klopstacks Versuch, die klassische Tradition, die dem Nationalgeist fremd sei, durch eine nationale Mythologie zu ersetzen. Zugleich warnte er in den "Briefen zur Beförderung der Humanität" ( 1 793-97) vor dem

1 33 Ch.M. Wieland, in: ders. (Anm. 54), Bd. 4, S. 1 19 f. 1 "' Bülau (Anm. 79), S . 138. 1 35 Ch.M. Wieland, Der Eifer, unserer Dichtkunst einen National-Charakter

zu geben ( 1 773), Bd. 38, S . 170-73. Vgl. auch Sahmland (Anm. 80), S. 1 5 8 ff. 1 36 J . G . Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte (1774), in: ders. (Anm. 57), Bd. 2 1 , S. 189. 1 37 Herder, Ueber die Wirkung (Anm. 57), S . 35 f. 1 38 J .G. Herder, Rezension von .Gedichte Ossian's [ . . . ] von Denis" , ebd. , Bd. 23, S. 77 und von . Der Gesang Rhingulph ' s des Barden" , Bd. 22, S. 1 36 f.

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" Nationalwahn" 139 und der nationalen Isolierung ; die Gesellschaft solle vielmehr " alle denkenden Menschen in allen Welttheilen" umfassen. 140 Lichtenberg nahm seinerseits die Teutomanie der jungen Göttinger aufs Korn, "die das Wort Deutsch fast immer mit offenen Naßlöchern aussprechen" , und ermahnte sie, "diese gäntzlich unnütze Prah­ lerey " zu lassen, zumal sie dadurch ihre Landsleute bei den Franzosen noch lächerli­ cher machten, als sie es schon waren. 141 So begleiteten mehrere kritische Stimmen die verschiedenen Erscheinungen eines Patriotismus , der übertrieben zu sein schien, und verwiesen nicht nur auf die Dis­ krepanz zwischen dem Ungeist der grauen Vorzeit und dem aufgeklärten Geist der Zeit, sie verkündeten zugleich, daß ihr Sinnen und Trachten sich nicht mehr auf das Vater­ land beschränkte; ihr Ziel hieß Humanität. Und in dem Bewußtsein, daß die Ver­ vollkommnung des Menschengeschlechts nur das Werk aller sein könne , erstrebten sie einen harmonischen Ausgleich zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus . Auch durch landesstaatliche Erziehung gefördert, fand der Partikularismus zwar weiterhin seine Anhänger142 , doch verlor in Literatur und Dichtung die Mode des Patriotismus in den achtziger Jahren zusehends ihre Ausstrahlungskraft143 , während der Kosmopolitismus, zu dem sich auch die Freimaurer und die Illuminaten bekannten, wieder ein größeres Echo fand . Dieser Wandel , den u . a . J . J . Eschenburgs "Brittisches Museum" ( 1 777-8 1 ) , F . J . Hertuchs "Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur" ( 1 780-83) und H . O . A . Reichards " Theater der Ausländer" ( 1 778-8 1 ) und " B ibliothek der Romane" ( 1 778-94) sowie Sammlungen und Übersetzungen aus aller Herren Länder, von Buropa bis zum Orient, von der Antike bis zur Gegenwart offenba­ ren, ist auch in den Zeitschriften abzulesen, die wie das " Deutsche Museum" in den 70er Jahren ein Forum des Patriotismus waren und in den 80er Jahren sich weit mehr anderen Literaturen und Kulturen öffneten. Und er spiegelt sich auch in der Entwick­ lung von Herder und Goethe wider, insofern die Weimarer Klassik in ihrer universali­ stischen Ausrichtung auf dem Kosmopolitismus Lessings und Wielands aufbaute. Hatte Lessing schon 1 759 den Patriotismus als "eine heroische Schwachheit" betrachtet144, so bedauert Falk in den "Gesprächen für Freymaurer" ( 1 778-79) , daß die Menschen vor allem auf ihre Nationalität stolz sind, anstatt sich in erster Linie als Menschen zu achten, daß sie so das Akzidentelle mit dem Wesentlichen verwechseln. 145 Und im Schlußtableau von "Nathan" ( 1 779) zeigt er, wie der weise Jude, der mächtige Sultan und der tapfere Tempelherr ihre nationalen Vorurteile überwinden und sich als Glieder einer großen Familie betrachten. In " Das Geheimnis des Kosmopolitanerordens " ( 1 788) führte Wieland Lessings Gedanken weiter, den dann auch Herder übernahm, distanzierte sich jedoch auch von dem Kosmopolitismus der engagierten Enzyklopä­ disten und ihrer deutschen Schüler, denn durch ihren Radikalismus drohten die großen Leitideen, " Aufklärung , Toleranz, Freiheit und Weltbürgertum auf einmal ein be1 39 J.G. Herder, Über Wahn und Wahnsinn der Menschen, in: ders. , Humanitätsbriefe, ebd. , Bd. 1 3 , S . 206; vgl. auch .Der deutsche Nationalruhm" , ebd . , S . 546 ff. 1 .., Ebd . , S. 1 17 . 1 4 1 Lichtenberg, Aphorismen (1773), hrsg. v. A. Litzmann , 2. Heft, Berlin 1904, S. 166, D 440. 1 42 Bezüglich der partikularistischen Nationalerziehung vgl. H.J. Frank, Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, Milnchen 1973 , Bd. 1 , S. 384. 1 43 Vgl. Aretin (Anm. 101), S . 32. 1 .. Lessing an Gleim vom 13. Februar 1759. 1 45 Falk, Gesammelte Werke, hrsg. v. P. Rilla, Berlin 1958, Bd. 8, S . 562, 568 ff.

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drohtes Ende" zu nehmen. 146 Um diese Gefahr abzuwenden, plädierte er für eine lang­ same , organische Entwicklung im Konzert der europäischen Nationen. So war Wie­ lands frankophiler Kosmopolitismus , der wie derjenige Kants147 auf allgemeine Auf­ klärung und Überwindung der letzten Reste der Barbarei abzielte, nicht nur elitär, sondern auch ideologisch selektiv, während Schiller in der " Ankündigung der Rheini­ schen Thalia" (1784) als " ein Bürger des Universums [ . . ] jedes Menschengesicht in seine Familie " aufzunehmen und "das Interesse des Ganzen mit Bruderliebe" zu umfassen versprach. So bedeutete Kosmopolitismus im Umkreis der Weimarer nicht nur allgemeine Fraternität, sondern auch Wirken an der Bildung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts . .

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Schon weil die Ausgangssituation in beiden Ländern grundsätzlich verschieden war, bot die deutsche Literatur nur spiegelverkehrt ein ähnliches Bild wie die französische . In den 60er und in den 70er Jahren legte Frankreich den Akzent auf den Kosmopolitismus , für den vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die Enzyklopädisten eintraten und der in erster Linie eine kritische Funktion hatte. Trotz der vorübergehenden Resonanz von de Belloys "Le Siege de Calais" und des publizistischen Erfolges des in dieser Hinsicht letztlich wenig ergiebigen " genre troubadour" blieben die patriotischen Akzente marginal . Dennoch haben im Laufe des 1 8 . Jahrhunderts Patriotismus und Kosmopolitismus sich mehrfach einander ergänzt, denn sie schließen sich nur solange aus , als sie verabsolutiert werden: in den 60er und 70er Jahren verschärften sich jedoch die Gegensätze; so führte die Gegnerschaft zwischen Konservativen und Enzyklopädist­ en erstere dazu, den Kosmopolitismus der Enzyklopädisten zu brandmarken, zumal die­ se keine patriotischen Gefühle zeigten. Dennoch plädierten auch manche konservative Gegner der Enzyklopädisten für einen literarischen Kosmopolitismus , aber nur insofern die fremden Vorbilder ihrer Ideologie entgegenkamen. In den 70er und 80er Jahren verblaßte der Kosmopolitismus etwas , während die Kritik am absolutistischen System immer schärfer und oft ohne Rekurs auf fremde Vorbilder artikuliert wurde . In Deutschland war die bürgerliche Frühaufklärung trotz des Kampfes gegen die französische Vorherrschaft mehrheitlich weltbürgerlich gesinnt gewesen; der Sieben­ jährige Krieg zeitigte jedoch in den 60er und 70er Jahren eine vielfaltige patriotische Gärung , die bei Publizisten, Historikern, Pädagogen, Zeitschriftenherausgebern, Schriftstellern und Dichtern in verschiedenen Gattungen und Textsorten ein nicht über­ hörbares Echo fand . Zu dieser Zeit wurden auch in Deutschland Patriotismus und Kos­ mopolitismus mehrfach als Gegensätze betrachtet. So betrachteten die Teutomanen die Kosmopoliten der älteren Generation als " herzlose Weltbürger" , während diese die Hypertrophie der nationalen Selbstbehauptung und die manichäische Metaphorik der

1 46 Ch.M. Wieland, Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen Weltbürgers (1783) , in: ders. (Anm. 54), Bd. 32, S. 214. 1 47 Kant wünscht den anarchischen .Zustand der Wilden" zu überwinden, damit die Menschen als .vernünftige Weltbürger" in einen Völkerbund treten können. Vgl. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Ge­ schichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders . , Werke, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1 97 1 , Bd. 6, s. 34, 42 f.

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jüngeren Generation anprangerten, wenn auch letztere sich nicht allen fremden Einflüs­ sen verschloß und die englischen Vorbilder den französischen gerne gegenüberstellte . Doch schränkte der Patriotismus diese kosmopolitischen Tendenzen bedeutend ein. Die Kosmopoliten hingegen waren zuerst Weltbürger, dann wohl auch Patrioten, aber nicht ohne Einschränkung. In den 80er Jahren gingen die patriotischen Belrundungen etwas zurück, und der Kosmopolitismus erstarkte wieder, bis schließlich in der Weimarer Klassik die universalistisch weltbürgerliche Ausrichtung triumphierte . In Deutschland war in den 60er Jahren Patriotismus zum Modewort geworden, das aber als solches j ede Kontur verlor und mehrfach als dichterisches Versatzstück ver­ wendet wurde , dessen Stimmungsmoment wichtiger zu sein schien als dessen Bedeu­ tung . So wurde der Tod in der Schlacht zwangsweise zum Tod für das Vaterland, auch wenn der Sänger wie in F . L . v . Stolbergs Ode "Mein Vaterland" in Amerika kämpfte . Darüber hinaus bezeichnete dieses Wort verschiedene, ja entgegengesetzte Tendenzen, die es um so mehr auseinanderzuhalten gilt, als die Schriftsteller die Unterschiede oft verwischten: Der aristokratische Patriotismus, der in Frankreich verschleiert unter der Flagge der guten alten Ritterherrlichkeit passierte und in Deutschland unter der Feder des Grafen Stolberg sich dem Republikanismus verschwisterte, war weder hier noch da wirklich von Bedeutung . Während der Reichspatriotismus, der in der politischen Wirk­ lichkeit kaum verankert war, in der Literatur letztlich nur eine unbedeutende Rolle spielte , schien der monarchische Landespatriotismus nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch in der Literatur in den 60er und 70er Jahren den ersten Platz einzuneh­ men, bis dann in den 80er Jahren der republikanische Patriotismus in Verbindung mit der Apologie der Freiheit und der Kritik des Despotismus an Bedeutung gewann und so die Rolle übernahm, die in Frankreich der Kosmopolitismus spielte . Zwar wurde in Frankreich wie in Deutschland das Bekenntnis zum monarchischen Patriotismus mit einem emotionalen Pathos vorgetragen, aber in Deutschland erhielt der Patriotismus , gleichviel welcher Prägung, eine sakrale Weihe . Nur der Reichs-, der Landes- und der republikanische Patriotismus bezogen sich auf einen Staat und hatten damit eine direkte politische Bedeutung. Die unbestimmten Evokationen eines Vaterlandes sowie der monarchische und der kulturelle Patriotismus blieben hingegen ohne direkten politischen Bezug . In seinem beschränkten Engage­ ment, seinem Abrücken von dem Republikanismus , entsprach der moralische Patriotis­ mus dem Rückzug des deutschen Bürgers auf die Privatsphäre oder dessen politischem Desinteresse . Der Patriotismus , der sich auf das , was F. Meinecke die Kulturnation nannte148 , d.h. auf die gemeinsamen Kulturgüter bezog , die sich im Reich auf Sprache und Literatur reduzierten, diente vor allem der Selbstbehauptung der Deutschen. Sollte er in Frank­ reich die Dekadenz, die soziale und moralische Zersetzung zu bekämpfen helfen, stand für die Aufklärung die Identitätsfrage im Vordergrund, denn es galt dem nationalen Minderwertigkeitskomplex entgegenzuwirken. Während jedoch der französische Patrio­ tismus keine wahre Feindfigur kannte , insofern England und Preußen, Frankreichs damalige politische Feinde , durch Voltaire und die Enzyklopädisten rehabilitiert wor­ den waren, und er sich vor allem um einen positiven Pol , den Monarchen, kristallisier­ te , war der deutsche Patriotismus zweipolig und manichäisch . Als positiver Pol fun-

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F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1907), hrsg. v. H. Herzfeld, München 1 969, S. 10.

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gierten entweder Fürst und Land oder die germanische Vorzeit. Insofern die Germanen als ideale Vorfahren betrachtet wurden, erhielt der Patriotismus in Verbindung mit den zeitgenössischen Theorien der Menschenrassen149 auch eine ethnische Dimension. Als negativer Pol fungierte Frankreich. So war der deutsche Patriotismus vor allem mit der Gallophobie gepaart, zumal die Gärung, die der Siebenjährige Krieg ausgelöst hatte, den Gegensatz noch verstärkte . Zuweilen war jedoch auch der Gegensatz zwiefach, in­ dem der guten alten Vorzeit nicht nur das verderbliche Feindbild , sondern auch Kritik der korrupten, verweichlichten Gegenwart gegenübergestellt wurde . Obwohl in Frankreich der Patriotismus von konservativen Kräften und in Deutsch­ land von Vertretern der Aufklärung getragen wurde, war er in beiden Ländern mehr­ heitlich systemerhaltend. Dennoch war der französische Patriotismus indirekt kritisch, indem die absolutistische Gegenwart an der Geschichte , an der früheren Auffassung der Rolle des Monarchen gemessen werden konnte, während für den preußischen Patriotis­ mus diese kritische Dimension entfiel , insofern hier König und Soldat das patriotische Ideal in der Gegenwart zu verwirklichen schienen. Zuweilen diente jedoch der Landes­ patriotismus auch zur Bemäntelung des mit dem Patriarchalismus des öfteren verbunde­ nen Untertanengehorsams, der vielfach angeprangerten Servilität der Deutschen, die so gleichsam legitimiert wurde . Trotz der grundsätzlichen Distanzierung gegenüber dem Republikanismus , der kaum dem Zeitgeist entsprach, galt es in Paris so gut als in Berlin, durch das Bild patrioti­ scher Opferbereitschaft in bedrängter Zeit ein Rollenbild zu schaffen; in Frankreich blieb es jedoch utopisch, in Preußen hingegen sollte es in den letzten Jahren des Sie­ benjährigen Krieges in die Praxis umgesetzt werden. In heutiger Sicht erscheinen manche dieser patriotischen Argumente und Metaphern, vor allem die Teutomanie und die Hypertrophie der Selbstbehauptung sowie die Verein­ nahmung der skandinavischen Mythologie und des Bardenturns lächerlich; dies um so mehr als sie sich nicht durchgesetzt haben, auch infolge der Widerstände eines Teils der geistigen Elite, die mit der klassischen Schultradition vertraut war; während diese den Anschluß an das übrige gebildete Buropa garantierte, bedeutete der Bardismus eine gewisse nationale Isolierung . Obgleich gegen Ende des Jahrhunderts der nationale Minderwertigkeitskomplex dem Bewußtsein moralischer und kultureller Überlegenheit und in Verbindung damit einem europäischen Sendungsbewußtsein Platz machte150 , darf die Bedeutung des deutschen Patriotismus zu dieser Zeit nicht überschätzt werden; wenn man nämlich die Inhaltsver­ zeichnisse der Werke von Uz , Hölty , Gleim, Bürger, Klopstock oder des jungen Goethe sowie von zeitgenössischen Anthologien durchgeht, wird deutlich, daß diese Problematik im Gesamtwerk und in der deutschen Literatur nur eine relative und vorübergehende Bedeutung hat, die wesentlich durch die Zeitgeschichte bedingt war .

1 49 Vgl. G.-L. Fink, De Bouhours a Herder: Ia theorie fr�e des climats et sa reception outre-Rhin, in: Recherehes germaniques 15 (1985), S. 44; W. Conze, Artikel .Rasse " , in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. 0. Brunner u.a. , Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 146 ff. '"" A. Kemiläinen , Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 1 8 . und 19. Jahrhunderts, Helsinki 1956, S . 36 ff.

Adrian von ButtZar (Kiel) Das " Nationale" als Thema der Gartenkunst

" Gartenrevolution" hat man den Prozeß genannt, der im frühen 1 8 . Jahrhundert zuerst in England, später auch auf dem Kontinent, zur Ablösung des Barockgartens durch den naturnachahmenden Landschaftsgarten führte . 1 Es ist bekannt, daß diesem Wandel eine neue Naturauffassung zugrunde liegt, die aufs engste mit der politisch-gesellschaftli­ chen und geistesgeschichtlichen Entwicklung der englischen Aufklärung und des frühen Liberalismus verbunden ist. Man verstand die hierarchisch-geometrische, auf den Mit­ telpunkt des Fürstensitzes hin zentrierte Ordnung des Barockgartens nun als " Ver­ gewaltigung der Natur" und mithin als Symbol von Absolutismus und Despotismus . Wo bürgerliche Freiheit hingegen aus dem Naturrecht begründet wurde, konnte die Schöne Natur - wie sie im Landschaftsgarten sich darstellt - zum Freiheitssymbol wer­ den. Die Konnotationen eines " Gartens der Freiheit" hafteten dem Landschaftsgarten später auch auf dem Kontinent noch lange an. Die in unserem Rahmen gestellte Frage lautet jedoch, inwieweit sich die "Gartenrevolution" nicht nur gegen die Repräsenta­ tionsformen des Ancien Regime richtete, sondern 'auch gegen dessen führendes Paradig­ ma - Frankreich. Anders gefragt: Verstand sich der neue Gartenstil als englischer Nationalstil, und wie interpretierte man unter solchen Prämissen seine Rezeption auf dem Kontinent? Daraus folgt eine zweite und noch komplexere Frage: Wie konnte das Nationale im Landschaftsgarten überhaupt thematisiert werden? Und schließlich: Wel­ che Rolle spielt unter diesen Voraussetzungen die Idee eines Nationalgartens im frühen 1 9 . Jahrhundert? Es versteht sich, daß im Rahmen eines kurzen Vortrages nur einige Hinweise auf mögliche Antworten skizziert werden können.

I. Der Landschaftsstil als Nationalstil

Tatsächlich verband sich mit der Ablösung vom politischen Modell Frankreichs auch ein Prozeß des Selbstbewußtwerdens der jeweiligen Nationalkulturen. In seinem " Let­ ter concerning design" ( 1 7 1 2) forderte der Philosoph Shaftesbury ausdrücklich einen neuen mit Frankreich konkurrierenden national taste in allen Künsten.2 Von Anfang an 1 Ausführliche Bibliographie zum Landschaftsgarten, in: Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1 989. 2 1n: B. Rand (Hrsg.), Second Characters or the Language of Forms (19 14), New York 1 969. In seinem Essay "Soliloqui or advice to an Author" (17 10) schrieb Shaftesbury: We are now in an Age when Liberty is once again in its Ascendant. And we are ourselves the happy Nation, who not only enjoy it at home, but by our Greatness and Power give Life and Vigour to it abroad [ . . . ] we should for succeeding Ages be contending with a foreign Power [Frankreich] , and endeavouring to reduce the Exorbitancy of a Grand Monarch [Ludwig XIV.] . • A.A. Cooper, Earl of Shaftesbury , Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, London 21727; vgl. Bernd-Peter Lange, The English Garden and the Patriotic Discourse, in: H.J. Diller u.a. (Hrsg.), anglistik & englischunterricht, Bd. 46/47, Deideiberg 1 992, S . 49-69. •

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Adrian von Buttlar

identifizierte man die neue Naturauffassung nicht nur mit der politischen Freiheit schlechthin, sondern auch mit Britanniens Nationalcharakter . Gegen Frankreich - " a nation born to serve " setzte Alexander Pope schon i n seinem "Essay o n criticism" ( 1 7 1 1 ) angeborenen englischen Freiheitsdurst. 3 In seinem Gedicht " Of Taste " ( 1 73 1 ) etablierte e r den Garten seines Freundes Lord Cobham i n Stowe als Gegenmodell zu Versailles . 4 James Thomson greift in seinem Politepos " Liberty " (1 736) diese Anti­ thetik auf. 5 Natur triumphiert hier über Kunst, Freiheit über Repression, England über Frankreich. 6 Solche nationalen Konnotationen bleiben fortan gegenüber den ideologi­ schen zwar im Hintergrund, aber sie treten in dem Moment wieder stärker hervor, als der Landschaftsgarten in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts auf den Kontinent ex­ portiert wird . Erst jetzt kommt der Begriff "english garden" auf, der entsprechend als "j ardin anglais " und " Englischer Garten"7 gebräuchlich wird . Die Identifikation des Landschaftsgartens mit dem aufgeklärten England wird auf dem Kontinent überwiegend - jedoch nicht nur positiv formuliert. In den Warnungen vor unreflektierter Nachahmung spiegelt sich das Bewußtsein eigenen Nationalstolzes . Das gilt für Frankreich, wo der Landschaftsgarten weitgehend höfischen Bedürfnissen assimiliert wurde8 , aber auch für Deutschland, wo sich die Kulturkritik der Aufklärer in erster Linie gegen die traditionelle " Gallomanie " richtete . Als erster ist Justus Mö­ ser in seiner bissigen Satire "Das englische Gärtgen" , die 1775 in seinen " Patriotischen Phantasien" nachgedruckt wurde, auch gegen die "Anglomanie" zu Felde gezogen, indem er die mißverstandene und blinde Adaption englischer Gartenideen ad absurdum führte . 9 Der Kieler Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der die Garten­ kunst bereits unter dem Aspekt des "Nationalcharakters " definierte, fragt sich in seiner -

3 " But we, brave Britons, foreign laws despis'd, and kept unconquer' d, and uncivilis' d, fierce for the liberties of wit " , in: J. Butt (Hrsg.), The Poems of Alexander Pope, London 1 963. 4 "Nature shall join you; time shall make it grow - a work to wonder at - perhaps a Stowe. Without it, proud Versailles! thy glory falls [ . . . ] The vast parterres a thousand hands shall make, Lo! Cobham comes, and floats them with a Iake" ; (Epistle to Burlington), Verse 69 ff. , in: F.W. Bateson (Hrsg.), The Poems of A. Pope, Moral Essays u.a., London 195 1 . • In : James Thomson, The Works of [ . . .] , London 1750, dt. Leipzig 1779. Vgl. Adrian von Buttlar, Der englische Landsitz 1 7 1 5- 1760. Symbol eines liberalen Weltentwurfs, Mittenwald 1982, S. 142 ff. 6 1733 wurde der Landschaftsgärtner William Kent ausdrücklich als der erste Repräsentant .of the present national taste in gardening" bezeichnet. Zit. nach M. Hadfield, Gardening in Britain, London 1 960, S. 1 82. 7 Zum Beispiel: William Mason, The English Garden, 4 Bde . , l..ondon 1772-8 1 , dt. übers . : Der englische Garten - Ein Gedicht, Leipzig 1779- 1783 . 8 In Frankreich versuchte man, die Erfindung des Landschaftsgartens einem Landsmann, Charles Dufresny ( 1684-1724), zuzuschreiben und seine Formen eigenen Zwecken anzupassen. Der Dichter und Gartenarchitekt Louis Carmontelle weist im Vorwort zur Beschreibung seines Parc Monceau in Paris 1779 ausdrücklich darauf hin, daß "unser Schicksal sowie Sitten, Geschmack und Klima sich von England unterscheiden" , in: Louis Carrogis, gen. Carmontelle: Jardins de Monceau, pres de Paris, appartenant a S . A . S. le Duc de Chartres, Paris 1779, S. 6. Um Mißverständnissen vorzubeugen, hatte Carmontelle in einem seiner Gärten sogar eine Tafel anbringen lassen, auf der zu lesen war: .Dies ist kein Englischer Garten! " "Wie würde auch der Blick aus einem aristokratischen Garten in einer auf Willkür gegründeten Monarchie aussehen, wenn man das wirkliche Landleben zum Gartenbild machte", fragt Horace Walpole 1779 im Hinblick auf Frankreich und liefert die sarkastische Antwort gleich mit: "Verwüstung, Armut, Leid, unfruchtbare Felsen, verdorrte Einöden! " , in: Horace Walpole, Notes to Masons Satirical Poems, zit. nach Dora Wiebenson, The Pictures­ que Garden in France, Princeton 1978, S. 63 . 9 Vgl. Siegmar Gerndt, Idealisierte Natur. Die literarische Kontroverse um den Landschaftsgarten des 1 8 . und frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 198 1 , S . 106 ff.

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"Theorie der Gartenkunst" (1 779) : "Ist es etwa mehr Empfehlung, wenn der deutsche Fürst einen engländischen, als wenn er einen deutschen Garten hat? Läßt sich nicht eine Manier ausdenken, die deutsch genug ist, diesen Namen anzunehmen? " 10 Er plädiert für einen spezifisch deutschen "Mittelweg" zwischen der " Unnatur" des französischen Barockgartens und der " sklavischen Nachahmung der Britten" : " Es wird sich in der Folge zwischen beyden Arten des herrschenden Geschmacks ein Mittelweg ergeben, der , indem er die alte Manier verläßt, sich nicht ganz in die neue verliert. " 11 Diese Kompromißformel entsprach sehr weitgehend dem Selbstverständnis des aufgeklärten Absolutismus. Hirschfelds Forderung nach Gärten "mit dem Gepräge des teutschen Genies " 12 mündete in eine Diskussion über das Wesen eines Deutschen Gartens1 3 , die in Monatsschriften, Taschenbüchern und Kalendern für Gartenfreunde ausgetragen wurde . Die Kriterien bleiben jedoch sehr vage }4 Die Vermeidung aller Übertreibun­ gen, die Rücksichtnahme auf heimisches Klima und heimische Flora sowie eine ver­ stärkte patriotische Sinngebung einzelner Gartenpartien wurden empfohlen, ohne je­ doch letztendlich zu einer konkreten Konzeption für einen Deutschen Garten zu führen. Ein Grund dafür ist in dem Widerspruch zu sehen, daß das erwachende Nationalbe­ wußtsein zwar eine gewisse Rolle bei der Abkehr vom französischen Barockgarten spielte , andererseits aber der frühliberale und aufklärerische Werthorizont, der dem neuen englischen Gartenideal zugrunde lag , trotz der Identifizierung mit seinem Ur­ sprungsland ein supranationaler und kosmopolitischer war. Diesen Widerspruch gilt es im Auge zu behalten, wenn wir die Frage nach dem Nationalen als Thema der Garten­ kunst stellen. Auf dreifache Weise konnte das Nationale zum inhaltlichen Programm der neuen Gärten werden: erstens als Darstellung und Überhöhung des heimischen " nationalen" Landschaftscharakters in den Naturbildern selbst, zweitens in der literarischen Assozia­ tion nationaler Geschichtswerte, die insbesondere durch Staffagebauten vermittelt wur­ den, drittens schließlich durch Denkmäler, die vorbildlichen " Helden" der Nation ge­ widmet waren.

2. Nationale Landschaftsinszenierungen

2 . 1 Nationale Landschaftscharaktere Am schwierigsten läßt sich der Nationalbezug im Landschaftscharakter der Gärten nachweisen, zumal das lebendige Pflanzenmaterial den größten Veränderungen unter-

1° C . C . L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, 5 Bde . , Leipzig 1779-85 , Bd. I ( 1 779) , S. 73 . Ebd . , s . 6, 1 44 . 12 Ebd . , S . 7 2 f Gärten i n Deutschland" . 1 3 Vgl . hierzu Wolfgang Schepers, C.C.L. Hirschfelds "Theorie der Gartenkunst" ( 1779-85) und die Frage des .deutschen Gartens" , in: Park und Garten im 1 8 . Jahrhundert (Colloquium der Arbeitsstelle 1 8 . Jh. der GHS Wuppertal) , Heidelberg 1978, S . 83-92; Gerndt (Anm. 9 ) , S . 106 ff. 14 Johann Jakob Atze! spricht 1783 vom .Ideal eines teutschen Gartens" , in: Wirtembergisches Repertori­ um der Litteratur, 3. Stück, 1 783, S. 394 ff. - Friedrich A. Krauß schlägt 1793 vor, die Bezeichnung .Englischer Garten" durch .Deutscher Naturgarten" zu ersetzen, in: Berlinische Monatsschrift 22 ( 1 793), S . 298; vgl. auch: Über die Anlagen und Umwandlung der Gärten zu englischen Parks, vorzüglich bürgerlichen Gärten, in: W.G. Becker, Taschenbuch für Gartenfreunde, Leipzig 1799, S. 90- 1 16. II

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III. Nation

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worfen ist. Wo lag das dominante Leitbild der Naturgestaltungen? Die Befreier der Na­ tur vom geometrischen Regelzwang des Barockgartens hatten ihre theoretischen Forde­ rungen anfangs auf recht divergente Quellen gestützt: Auf das " Sharawadgi " in den Gärten Chinas15, auf die "Wildnis " Shaftesburys16 und die römische " imitatio ruris" nach Plinius Y Die ästhetische Normierung der " freien" Natur gewann jedoch erst anschaulich Gestalt im Bild der antikisch-mediterranen und arkadischen ldealland­ schaft, deren topoi durch die antike Naturdichtung und vor allem durch die ideale Landschaftsmalerei des 1 7 . Jahrhunderts , etwa Claude Lorrains , Gaspard Dughets und Salvatore Rosas , tradiert waren - ein Bild, das in den Reiseeindrücken der Grand Tour nach Italien nacherlebt werden und in den dreidimensionalen Szenen des Landschafts­ gartens nachgestaltet werden konnte . 18 So empfahl etwa noch William Mason in seinem Lehrgedicht " Der Englische Garten" ( 1 7 7 1 ff. ) die Nachahmung jener von Claude Lorrain inspirierten Tivoli-Szene , die wir in Gärten Englands, Frankreichs und Deutschlands bis hin nach Polen und Ungarn wiederfinden können (Abb . 1 , S . 1 99) . 19 Wie in Architektur, Literatur und sogar im politischen Habitus bildet die Antike im Sinne einer " Parallele des anciens et modernes " das zentrale Paradigma des britischen Selbstverständnisses im " Augustäischen Zeitalter" . 20 Gerade in dieser Parallelisierung aber konnte erst der ureigene englische Landschaftscharakter vor Augen und ins Be­ wußtsein treten: Pope besingt die Schönheiten von Windsor-Forest (17 1 0) als denen der klassischen Landschaft ebenbürtig21 , Addison schlägt in seinem Essay " Upon the Plea­ sures of the Imagination" ( 1 7 1 2) vor , die heimische countryside und das countrylife zum ästhetischen Gartenbild aufzuschmücken. 22 Charles Bridgeman führt bald darauf mittels des " HaHa" den Blick über die Gartengrenzen hinaus23 , und William Kent 1 ' Die viel zitierten Gärten Chinas spielten damals noch keine praktische Rolle. Vgl. dazu das Kapitel .Grand Manner und mißglücktes Sharawadgi" , in: von Buttlar (Anm . 1 ) , S. 21 ff. 1 6 In: The Moralists ( 1 709); vgl. John Dixon Hunt/Peter Willis, The Genius of the Place - The English Landscape Garden 1620-1 820, London 21979, S. 122 ff. ; vgl. auch H. Meyer, The wildness pleases: Shaftesbury und die Folgen, in: Park und Garten im 1 8 . Jahrhundert (Anm. l3), S. 16-2 1 . 1 7 Robert Castell, The Viilas o f the Ancients Illustrated, London 1728. 18 Vgl. u.a. Elizabeth Manwaring, Italian Landscape in Eighteenth Century England. A Study chiefly on the Influence of Claude Lorrain and Salvator Rosa on English Taste 1700- 1 800, London 21965 ; Edward Malins, English Landscaping and Literature 1660- 1 840, London 1966. 1 9 .Sieh solche glühend Szenen, die einst Claude gelehrt, die Leinwand mit südlichem Pinsel zu zieren! Und solche Szenen, eingegraben in Erinnerung bring heim nach England. Gib dort den Motiven heimische Form, um, wenn Natur die Mittel hat für Katarakte, Felsen, Schattenzonen, manch neues Tivoli zu schaffen. " Vgl. dazu Christopher Thacker, The Temple of the Sybil, in: Park und Garten im 18. Jahrhundert (Anm. 13), s . 29 ff. 20 Vgl. etwa James Hampton: .A parallel between the Roman and the British Constitution, comprehending Polibius' curious discourse of the Roman Senate; with a preface wherein his principles are applied to our government" ( 1 747) . 21 .Not proud Olympus yields a nobler Sight [ . . . ] Than what more humble Mountains offer here ( . . . ] " Vg l . Maynard Mack, The Garden and the City. Retirement and Politics i n the later Poetry o f Pope 173 1 1 743, Toronto/Buffalo/London!Oxford 1969. 22 In: Spectator 4 1 1 -421 ( 1 7 12) (Neuausgabe in 5 Bden . , Oxford 1965) . Zu Addison vgl. H . -J . Possin, Natur und Landschaft bei Addison, Diss. Tübingen 1965. 23 Peter Willis, Charles Bridgeman and the English Landscape Garden, London 1977.

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macht dann erstmals die mittelenglische Weidelandschaft in Rousham um 1 740 zum landschaftlichen Prospekt, der sich von seiner römischen Aussichtsterrasse " Praeneste " aus eröffnet. 24 Mühle und eyecatcher sind in diesem Panorama bezeichnenderweise "gotisch" ausstaffiert. Das Bild der heimischen Kulturlandschaft wird nicht mehr in die klassische Ideallandschaft " hineingesehen" , sondern ihr im Sinne eines Kontrast­ charakters bewußt entgegengesetzt. Was macht diesen Charakter aus? Die Maler der heroisch-italischen Ideallandschaft hatten noch kein Pendant in einer englischen Landschafterschule , die sich erst im Laufe des späteren 1 8 . Jahrhunderts etablierte . Das Bild der englischen Landschaft war noch unzureichend kodifiziert. Statt­ dessen berief man sich für pastoral or rural scenes im Sinne der Malereilehre Roger de Piles ( 1 708) auf die " nordische" Landschaft schlechthin, wie sie im ländlichen Genre der Niederländer des 1 7 . Jahrhunderts , beispielsweise Jacob van Ruisdaels , Allaert van Everdingens und Jan van Goyens realistisch typisiert worden war . 25 Die flache Weite und der niedrige bewölkte Horizont, die Trägheit der Wasserflächen, die Idylle der ländlichen Hütten und Dörfer, Weiden und Felder, aber auch die Dramatik der kleinen Wasserfälle und sandigen Bruchkanten, die Urkraft der vereinzelten nordischen Baum­ riesen (allen voran der Eichen) waren Sujets , die sich in den Fernblicken auf die eng­ lische countryside wiederfinden oder mit wenigen Nachhilfen in den Park einbeziehen ließen. Damit war mehr als die Übertragung eines literarischen modus wie " heroisch" oder "pastoral" in die Landschaftskunst intendiert. Solche Bildmotive boten auch nicht nur einen besonderen, im Sinne des " Sublimen" oder " Malerischen" verstandenen Reiz, beziehungsweise eine spezifische " Stimmung" gemäß der Gefühlsästhetik des 1 8 . Jahrhunderts . Sie waren vielmehr darüber hinaus geeignet, inhaltlich die nationale Sphäre gegen das supranationale klassische Ideal abzusetzen. Kontrastierende Landschaftscharaktere sind häufig bewußt als Gegenbilder gestaltet worden. Um nur einige Beispiele zu nennen: in Stourhead ist um 1 750 das Hauptbild als mythisch-arkadische Landschaft im Sinne Claude Lorrains definiert. Jenseits des Sees und der palladianischen Brücke blicken wir auf den Pantheon-Tempel , der den antiken Gottheiten der Natur gewidmet war - ein ideales dreidimensionales Bild, das an Claudes Gemälde "Aeneas in Delos " ( 1 654) erinnert. Von der Grotte aus aber öffnet sich der Blick zurück auf ein nicht minder wichtiges Naturbild , das die heimische countryside repräsentiert: Das Tal mit der Bachmündung , flankiert von einem dunklen Waldgürtel, in dessen Schatten die kleinen cottages und die mittelalterliche Kirche das friedliche Bild heimischen Dorflebens beschwören, das noch durch das 1 765 aufgestell­ te gotische Marktkreuz aus Bristol angereichert wurde. Dessen damals ergänzte Statuen englischer Könige des Mittelalters stellen die Szene bewußt in die nationale Geschichts­ perspektive. 26 Ähnliche Kontrastcharaktere sind in Marquis de Girardins Ermenonville 20 Christopher Hussey, English Garelens and Landscapes 1700- 1 750, London 1967 . Zu Kent zuletzt: John Dixon Hunt, William Kent - Landscape Garden Designer, London 1 987. 25 Vgl. insbesondere die Moduslehre von Roger de Piles, Cours de Peinture par principes, Paris 1 708, englisch 1 743 ; Auszüge in J.D. Hunt/P. Willis, The Genius of the Place [ ] (Anm. 16), S . 122 ff. : Zur heroischen Landschaft gehören klassische Monumente und eine idealisierte Szenerie, zur ländlichen die nur mäßig kultivierte einfache Natur in mannigfacher Ausprägung, darunter auch wilde und einsame Gegenden, belebt durch cottages . De Piles nennt einerseits Poussin und Claude Lorrain, andererseits Paul Bril, Brueghel, Roeland Saveri als Vorbilder. 26 Maleolm Kelsall, The Iconography of Stourhead, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 46 ( 1 983), S . 133-143. Kelsall korrigiert hier die Interpretation von Kenneth Woodbridge, Landscape and . • .

III. Nation Adrian von Buttlar

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bezeugt: Nach Norden hin verkörpert die " van Goyensche" Flußlandschaft mit dem mittelalterlichen "Turm der Gabrielle" die nationale Komponente . Nach Süden er­ streckt sich eine eher klassische Ideallandschaft mit dem " Tempel der Philosophie" nach Bildvorlagen des Malers Hubert Robert, der hier als Landschaftsgestalter wirkte .27 Noch im Münchner Englischen Garten erinnert die Hauptszene mit dem Monopteros an " Claude und sein Liber Veritatis " (Sckell) , der Große Wasserfall an den Stadtbächen ( 1 8 1 4) hingegen an die Gebirgsbachbilder Ruisdaels . Solche kontrastierenden Land­ schaftscharaktere bildeten erst in ihrer Spannung den gesamten Kosmos der Schönen Natur ab , und in diesem spielte die nationale Sphäre eine zwar nur vage bestimmte , aber zunehmend wichtige Rolle . Hirschfeld ordnete " wilde Felsen, brausende Wasserfälle, zerstörte Brücken, dunkle Höhlen und Hütten über Abgründen" dem " Nationalcharakter" des "zum Erhabenen gestimmten Britten" zu .28 Doch diente diese nordische Typologie bald auch in Deutsch­ land und in den skandinavischen Ländern als Träger national-romantischer Stimmun­ gen. Die Transformation der " sublimen" Landschaft in eine " historische " ist außer­ ordentlich schwer nachzuweisen, zumal sich dieser Prozeß offensichtlich zuerst in der Literatur, dann im Landschaftsgarten und zuletzt erst in der Malerei abspielte . 29 Schon Thomsons Schilderung der Landschaftsprospekte von Hagley-Park in den "Jahreszei­ ten" ( 1 742) erweckte nationale Assoziationen: "0 Lyttleton, du Freund ! So wechseln Deine Leidenschaften und Betrachtungen, wenn Du in freyer Weite [ . . . ] durch Hagley Park, Dein Brittisches Tempe, streifest [ . . . ] dort über das Tal hin, das mit Waldungen überhangen und mit moosigten Felsen behaart ist [ . . ] oder Ihr sitzt unter den Schatten feierlicher Eichen [ . . . ] und oft, durch die historische Wahrheit geleitet, betretet Ihr die lange Erstreckung der zurückliegenden Zeit . Da entwerft Ihr mit heißer Walgewogen­ heit [ . . ] Britanniens Wohl " . 30 Hier wird zwar noch auf den mythischen Topos " Tem­ pe" zurückgegriffen, doch es ist nicht der "klassische " , sondern der nordische Land­ schaftscharakter, der zur Kontemplation über die Zukunft der Nation inspiriert. Willi­ am Shenstone stellt in seinen "Unconnected thoughts on gardening" (1 764) fest: " Oaks are in all respects the perfect image of the manly character [ . . . ] I think I am authorized to say , the British one . "31 Immer wieder werden fortan nicht nur in England, sondern .

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Antiquity . Aspects of English Culture at Stourhead 1 7 1 8- 1 838, Oxford 1970. 27 Vgl . Stanislas Comte de Girardin, Promenade ou Itineraire des jardins d ' Ermenonville, Paris 1788. Beschreibung auch bei Hirschfeld (Anm. 10), Bd. V ( 1785), S . 259 ff. Zu Hubert Robert zuletzt: Günter Herzog, Hubert Robert und das Bild im Garten, Worms 1989. 28 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. V ( 1 785), S. 265 f. 29 So knüpft etwa Günter Hartmann, Die Ruine im Landschaftsgarten, ihre Bedeutung für den frühen Historismus und die Landschaftsmalerei der Romantik, Worms 198 1 , insbes. S. 27 1 ff. seine Argumentation zur "historischen Landschaft" naturgemäß vor allem an deren szenische Ausstaffierung. Zur "historischen Landschaftsmalerei" vgl . G.F. Waagen (1844) über Schinkels .historische Landschaften" nach Lucius Grisebach, Schinkel als Maler, in: Ausstellungs-Katalog Kar! Friedrich Schinkel - Architektur, Malerei, Kunstgewerbe, Berlin (West) 1 98 1 , S. 46-62; Erika Rödiger-Diruf, Landschaft als Abbild der Geschichte Carl Rottmanns Landschaftsklms 1820-1850, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst, 3. Folge, Bd. XL, München 1989, S. 153-224; Frank Büttner, Landschaft als Ermnerung. Überlegungen zur historischen Landschaftsmalerei der Romantik (Manuskript, vorgetragen auf der Greifswalder Romantikkonferenz 1 989 in Potsdam); vgl . auch Barbara Eschenburg, Landschaft in der deutschen Malerei, München 1987; Martin Warnke, Politische Landschaft, München/Wien 1 992. 30 James Thomson, The Seasons - Spring, in: Works (Anm. 5), Bd. II, Verse 900- 927. 3 1 In: The Works of William Shenstone, London 1768, Bd. III, S . 1 19.

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über den angeblichen keltischen Barden Ossian (1 762/63) und dessen deutschen Adep­ ten Klopstock vermittelt - auch in Deutschland vor allem Eichen als Ikonogramme des Nordisch-Germanischen benutztY Die Eiche verkörpert die nationale Sphäre in den Gemälden Caspar David Friedrichs und als künstlich angelegte Kulisse der deutschen Nationaldenkmäler der Befreiungskriege . 33 Der Landschaftsgarten spielte dabei eine wichtige Mittlerrolle: " Man kennt die Ehrfurcht, welche die alten Deutschen und einige celtische Völker für ihre geweihten Wälder hatten. Die grauenvolle Höhe und das ehr­ würdige Alterthum der bemoosten Eichen, die erhabene Stille , die Dunkelheit, das feyerliche Rauschen der Gipfel in den Wolken, hatten, bey allem Mangel des Ge­ schmacks , bey aller Rohigkeit der Sitten, doch eine mächtige Wirkung, welcher ihre starken Herzen nicht widerstehen konnten" , schreibt Hirschfeld, der mit Klopstock in engem Kontakt stand. 34 Er setzt die Erhabenheit des griechischen Tempels mit den Eichenhainen der Druiden gleich und interpretierte diese als Tempel der Natur. 35 An anderer Stelle beschreibt er, ein Sujet Caspar David Friedrichs vorwegnehmend36 , im Garten von Harbke bei Helmstedt eine Szene von "unaufgegrabenen" prähistorischen Grabhügeln, "mit alten ehrwürdigen Buchen und Hainbuchen besetzt [ . . . ] Wir empfin­ den alsdenn in heiliger Stille Gefühl der Druiden [ . . . ] Rohe Natur! sagt wohl hier einer oder der andere, sie war jedoch glücklich diese rohe Natur, und erst dann hörte wahre Deutschheit auf zu seyn, als der Römer Trug und List in die Nation brachte . "37 Schon in den 1 780er Jahren gab es ähnliche Szenen mit Hünengräbern in dänischen Gärten, beispielsweise in Soendermarken und Jägerspreis . 38 Solche Szenen wurden häufig literarisch ausgedeutet: Im Seifersdorfer Tal bei Dresden mit seinen zahlreichen Staffa­ gen, insbesondere zur Literatur der Empfindsamkeit, gab es auch eine " Hermanns­ eiche" mit den aufgehängten "Waffen Hermanns " , die auf Klopstacks " Hermanns-

32 Von James Macpherson ( 1 736- 1796) ab 1760 als angebliche Fragmente eines schottischen Barden des 3. Jhs . herausgegeben und mit großer Wirkung ins Deutsche ab 1 763 (Goethe 177 1 , Stolberg 1 806) und Französische übersetzt. Hirschfeld beschreibt die Fingalshöhle in der Theorie der Gartenkunst" ( 1780) . Zur Bildtradition nach Ossian vgl. Ausstellungs-Katalog Ossian und die Kunst um 1 800 , Hamburger Kunsthalle, München 1 974. In einer der frühesten Ossian-IIIustrationen von Angelika Kauffmann ( 1 772, Kat.Nr. 2) ist die Landschaft bereits durch eine Eiche als "nordische" charakterisiert. Ähnlich bei Joseph Anton Koch, Johann Christian Reinhart und Philipp Otto Runge. 33 Zur Ikonographie der "deutschen Eiche" vgl. A. Müller-Hofstede, Der Landschaftsmaler Pascha Johann Friedeich Weitsch 1 723-1 803 , Braunschweig 1973, insbes Eichenwälder und ihre symbolische Bedeutung Ende des 18. Jahrhunderts", S. 174 ff. ; Friedrich Möbius, Die Eichen in Caspar David Friedeichs Gemälde "Abtei im Eichwald" ( 1 809) - Dichtungsgeschichtliche Voraussetzungen und assoziativer Gehalt, in: Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Sonderband I . Greifswalder Romantik-Konferenz "Caspar David Friedrich" , 1974, S. 37-45; Patriotische Landschaft und politische Naturmetapher, in: Ausstellungs-Katalog Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1989, s . 501 -5 1 3 . 34 Hirschfeld (Anrn. 10) , B d . I I ( 1780), S . 6 1 f. 35 Hirschfeld (Anrn. 10), Bd. I ( 1 779), S. 220 über die Charaktere der Gegenden. 36 Hünengrab im Schnee (ca. 1807) , Dresden Gemäldegalerie. Zum Einfluß des englischen Landschafts­ gartens auf Caspar David Friedeich vgl. Erika Bülau, Der englische Einfluß auf die deutsche Landschafts­ malerei des früben 19. Jahrhunderts, Freiburg 1955; Günter Hartmann , Die Ruine im Landschaftsgarten. Ihre Bedeutung für den früben Historismus und die Landschaftsmalerei der Romantik, Worms 1 98 1 , S. 39 ff. 37 Hirschfeld (Anrn. 10), Bd. IV ( 1783), S. 240. 38 Vgl. Christian Elling, Den Romantisire Have, Kopenhagen 21979; zu Jägerspreis: J.P. Trap, Danmark ­ Frederiksborg Amt, Kopenhagen 1953 , S. 270 ff. ; Beschreibung bei Hirschfeld (Anrn. 10) , Bd. III ( 1780), s. 1 97 ff. •

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schlacht" ( 1 769)39 zurückgeht (Abb . 2 , S . 200) . 40 Dieser in Gartenszenen wiederholt auftretende Stoff bestimmt später sehr wesentlich die Ikonographie deutscher Nationaldenkmäler, vom Giebel der Walhalla (begonnen 1 830) bis zum Hermanns­ denkmal im Teutoburger Wald ( 1 837) .

2 . 2 Nationale Geschichtsszenen Die Gartenszenen erfahren, wie wir sehen konnten, ihre nähere Definition vor allem durch die Gartenstaffagen, deren divergente Stilkonnotationen leichter zu deuten sind . Die Stilzitate dieser dekorativen Kleinbauten fungieren im Gartenkontext als Bildzei­ chen, die nicht .zuletzt Wunschräume und Wunschzeiten der Geschichte evozieren sollen. 41 Die dominante Antithese , die sich in den Landschaftscharakteren andeutete, konkretisiert sich in der architektonischen Stilantithese klassisch-gotisch, wie wir bereits am Beispiel von Stourhead beobachten konnten. Erstmals in Lord Batbursts Park in Cirencester wird 1 7 2 1 eine Staffage im mittelalterlichen Burgen-Stil errichtet und auf die eigene nationale Geschichte bezogen. " Aifreds Hall " wurde König Alfred dem Großen, dem Gründer Englischer Nation und Freiheit, gewidmet. 42 In den Park­ burgen und in den "gotischen" Tempeln, Türmen und Ruinen verkörpert sich von nun an nicht zuletzt jene Ritterfreiheit der Magna Charta, gegen deren absolutistische Aus­ höhlung sich die Freiheitsbestrebungen von Whigs und reformierten Tories richteten: " Our old Gothic constitution bad a noble strength and simplicity in it, which was weil represented by the bold arches and the solid pillars of the edifices of those days " , heißt es in der Oppositionszeitung "Common sense " 1739.43 Antike und Mittelalter wurden damals gleichberechtigte Partner in den Geschichtsbildern des Landschaftsgartens . In Lord Cobhams Stowe entsteht als Gegenbild zu den supranationale Werte darstellenden klassischen Tempeln 1741 der gotische Tempel der altenglischen " Freiheit" , in dessen Innerem der Kreis der " Altsächsischen Gottheiten" aufgestellt war. Das Deckenpro­ gramm war heraldisch auf die mittelalterliche Genealogie der Familie Temple, Vis­ counts Cobham, abgestimmt, verbunden mit der Inschrift " Ich danke Gott, kein Wel­ scher zu sein" . 44 William Shenstone empfahl ( 1 764) die nationale Geschichte , wo im­ mer möglich, in die Sinngebung des Gartenprogramms einzubeziehen. 45 So errichtete

39 Vgl. auch Klopstocks "Hermann und die Fürsten" (1784), "Hermanns Tod" ( 1787) . Zum Seifersdorier Tal: Wilhelm Gottlieb Becker, Das Seifersdorier Thai, Leipzig/Dresden 2 1 800 . .w Vgl. Becker (Anm. 39) . 41 Vgl. Harnnann (Anm. 36), insbes. S. 263 ff. ; von Butt1ar (Anm. 5); Karin Stempel, Geschichtsbilder im frühen englischen Garten. Fields of Remembrance - Gardens of Delight, Münster 1 982; Reinhard Zimmermann , Künstliche Ruinen. Studien zu ihrer Bedeutung und Form, Wiesbaden 1 989, S. 1 94 ff. 42 Zu Cirencester vgl. Hussey (Anm. 24) und Morris R. Brownell, Alexander Pope and the Arts of Georgian England, Oxford 1978. 43 Zit. nach B . S . Allen, Tides of English Taste, New York 21958, S . 102. 44 Ein Vers von Corneille, der sich auf den Untergang des korrumpierten Rom bezog. Vgl. G.B. Clarke, Grecian Taste and Gothic Virtue. Lord Cobham's Gardening Programme and its Iconography, in: Apollo 97 ( 1 973). 45 Shenstone (Anm. 3 1 ) , Bd. III, S . 1 1 3 f. : " [ . . ] wherever a park or garden happens to have been the scene of any event in history, one would surely avail one' s self of that circumstance to make it more interesting to the imagination. Mottoe' s should allude to it, columns etc. record it; verses moralize upon it, and curiosity receive its share . " .

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Sanderson Miller um 1 747/53 in seinem Landschaftsgarten Radway Grange/Edgehill einen pseudomittelalterlichen Burgturm, der an den Sieg der Republikaner über die Königstruppen in der Schlacht von Edgehill ( 1 642) erinnern sollte . Ähnliche Bezüge hatten die Turmstaffagen in Hagley und Stourhead. 46 Schließlich kommt es sogar zur Einbeziehung der unter Heinrich VIII . zerstörten Klöster als echte und monumentale Ruinen in das Gartenbild : Der Londoner Handelsmagnat John Aislabie und sein Sohn William realisierten diese Idee um 1 730/40 in Studley Royal/Yorkshire , indem sie die Ruine der Zisterzienser-Abtei Fountains zum Hauptprospekt des Parks machten. Auch die von zwei klassischen Tempeln flankierte Rasenterrasse bei Duncombe Park/ Yorks­ hire ( 1 743) öffnet sich in kunstvollen Blickschneisen auf die Ruine der Abtei Rievaulx47 - Gartenbilder, die gleichfalls wie Vorgriffe auf die nationalromantischen Vis ionen Caspar David Friedrichs wirken. 48 Friedrich stellte ein halbes Jahrhundert später die gotische Klosterruine als Symbol des Untergangs , das Druidenopfer unter der himm­ lischen Erscheinung einer Kathedrale als Sinnbild der Auferstehung der christlich­ germanischen Nation dar.49 Ist die Ruinenahbey in den englischen Parkbildern nur ma­ lerisches Objekt und Stimmungsträger-5° oder auch Denkmal der Nationalgeschichte im Sinne altenglischer Größe? Sicher fließen hier mehrere Bedeutungen zusammen. Für letztgenannte spricht die ab etwa 1770 von Richard Payne-Knight und Henry Horne vertretene Ablehnung klassischer Gartentempel , da sie keinerlei historische Wahr­ scheinlichkeit besäßen (" such buildings english nature must reject"5 1 ) , während goti­ sche Ruinen ins nationale Geschichtsbild paßten - ein Argument, dem sich für Deutsch­ land auch Hirschfeld anschließt. 52 Entsprechend sollten nach Vorstellung der Garten­ theoretiker derartige gotische Staffagen in " nordischen" Landschaftsszenen plaziert und von Eichen umgeben sein. 53 Günter Hartmann ( 1 9 8 1 ) und Reinhard Zimmermann ( 1 989) haben die komplexen Sinnschichten derartiger " mittelalterlicher" Staffagen in Deutschland aufgezeigt ; auch daß die nationalromantische und dynastisch-legitimisti­ sche Funktion im Zeitalter der Restauration zunehmende Bedeutung gewannen. 54 Die

46 von Buttlar (Anm. 5), S. 1 5 1 . 47 Vgl . u . a . Hussey (Anm. 24) . 48 Zur Bedeutung des Landschaftsgartens für Caspar David Friedrich vgl. Bülau (Anm. 36) und Hartmann (Anm. 36), s. 39 ff. 49 Klosterfriedhof im Schnee, ehem. Berlin (verbrannt); Vision der christlichen Kirche, Sammlung Schäfer Schweinfurt; vgl . Ausstellungs-Katalog Caspar David Friedrich, Harnburg 1 974, S. 230. '0 Zu Studley Royal vgl. Hirschfeld (Anm. 10), Bd. IV ( 1782), S . 68 ff. nach Edward Young ( 1 772) , dessen Beschreibung jedoch oberflächlich bleibt. Zu Rievaulx-Terrasse vgl. Hirschfeld, Bd. I ( 1 779), S. 59 ff. , ebenfalls nach Edward Young ( 1 772) : .Noch weiter auf der Terrasse zeigt sich ein Prospect, der alle bisherige übertrifft. Man sieht durch eine Öffnung in einem dicken Gebüsche, welches am Rande eines Abgrundes wächst, auf die Ruinen einer alten Abtei hinab, die mitten in einem kleinen schönen Thale liegt; zwischen den Ruinen wachsen hin und wieder einzelne Bäume; dies gibt einen malerischen Prospekt, den man nicht beschreiben kann . " " Richard Payne-Knigltt , The Landscape. A didactic poem, London 1 794, zit. nach Christopher Hussey, The Picturesque Studies in a point of view, London 1927 , S. 169. 52 Er stellt fest, daß gotische Ruinen .in unsem Ländern allein eine Wahrscheinlichkeit haben, die den griechischen entgeht. " Hirschfeld (Anm. 10), Bd. III ( 1780), S. 1 14 . ' 3 Bei der Ritterburg von Machern ( 1795) steigt .der Thurm weit über die höchsten Eichen empor" , Friedrich Ludwig von Sckell fordert i n seinen .Beiträgen zu Bildenden Gartenkunst" ( 1 8 1 8) , daß .die bejahrte Eiche zwischen den bemoosten Mauem stolz emporsteige" , etc. 54 Hartmann (Anm. 36); Reinhard Zimmermann, Künstliche Ruinen. Studien zu ihrer Bedeutung und Form, Wiesbaden 1989.

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III. Nation

·

Adrian von Buttlar

Reihe solcher Bauten beginnt hierzulande 1769 mit dem Gotischen Haus in Wörlitz . In der Kasseler Löwenburg ( 1 793 -96) , die vom Architekten Jussow nach Details hessi­ scher Burgen gestaltet wurde, sah der Berater des Kurfürsten, Geheimrat Casparson, bereits ein " Denkmahl altdeutscher Größe und Stärke" (Abb. 3, S. 201 ) . ss Viele weite­ re Beispiele ließen sich nennen. Das Mittelalterbild dieser Gartenszenen war noch am­ bivalent, nämlich stets aus der wehmütig-verklärenden und zugleich kritischen Perspek­ tive der Aufklärung gesehen: gleichsam aus den Fenstern des strengen klassizistischen Schloßbaus , zu dem die Parkburgen in kalkuliertem Kontrast standen: " Man kehrt in Zeiten zurück, die nicht mehr sind. Man lebt auf einige Augenblicke wieder in den Zei­ ten der Barbarey und der Fehde, aber auch der Stärke und der Tapferkeit; in den Jahr­ hunderten des Aberglaubens , aber auch der eingezogenen Andacht; in den Jahrhunder­ ten der Wildheit und der Jagdbegierde, aber auch der Gastfreundschaft" . s6 Doch schon in der unter Kaiser Pranz I. errichteten Laxenburg bei Wien ( 1 798/ 1 836), die nach 1 806 gleichsam zum Museum der ehemaligen Macht des Hauses Habsburg ausgestaltet wurde oder in der vom Fürsten Pückler geplanten Parkburg seiner Gartenlandschaft Muskau ( 1 834) drohte die vaterländische Szene vollends in eine konservativ-romanti­ sche Geschichts " flktion" umzuschlagenY Freilich trat die national-geschichtliche Le­ gitimation dabei hinter eine ständisch-dynastische zurück. Die Kulturlandschaft Muskau als ein " nur vom Horizont umschlossenes großes Kunstwerk" sollte nach Pücklers Aus­ sage " ein sinniges Bild des Lebens unserer Familie oder vaterländischer Aristokratie " darstellen. ss

2 . 3 Nationale "Helden" im Denkmalskult Am klarsten läßt sich die Rolle der nationalen Programmatik an den Denkmälern des Landschaftsgartens ablesen. Hier herrscht zunächst die gleiche " Parallele des anciens et modernes" wie in den Landschaftscharakteren: Die Helden der Antike bekommen zunächst moderne Nachfahren, dann ausgesprochen nationale Konkurrenz . Ein na­ tionaler Geschichtskosmos entsteht erstmals im Tempeldenkmal der "British Worthies " i n Stowe u m 1 7 3 4 . Nach einem Essay von Joseph Addison ist dieser als Gegenstück zum " Temple of Ancient Virtue" entstanden. Neu ist am Schrein der " edlen Briten" zweierlei: daß ganz divergente Persönlichkeiten aller englischen Geschichtsepochen in ihrer historischen Bedeutung für die liberale Weltanschauung ausgewählt wurden, und daß sie - nach zeitgenössischen Bildvorlagen - im historischen Kostüm, also in ihrer Geschichtlichkeit, dargestellt sind . William Kents antikischer Architekturrahmen signa­ lisiert, daß der in diesem Denkmal verkörperte Werthorizont zwar noch ein aufkläreri­ scher und supranationaler ist, die historisierende Auswahl der Exempla verweist hin­ gegen auf die Einmaligkeit und Eigenständigkeit nationaler Geschichte. Sie führt uns

55 J . W . G . Casparson, Über die Frage, soll man Ruinen nach der gothischen oder griechischen Baukunst anlegen?, Kassel 1799; vgl. H. -Chr. Dittscheid, Kassel-Wilhelmshöhe 1lllli die Krise des Schloßbaus arn Ende des Ancien �gime, Worms 1987, S. 304 ff. 56 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. III ( 1780), S . 1 1 1 . 57 Hermann Fürst Pilckler-Muskau, Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, Stuttgart 1834, Neuausgabe Stuttgart 1977, Tafel XXIX und S. 85 . 58 Hermann Fürst Pilckler-Muskau (Anm. 57), Einleitung.

Das .Nationale" als Thema der Gartenkunst

195

von Alfred dem Großen bis in die Gegenwart, indem damals noch Lebende - der Dich­ ter Alexander Pope und der Börsenmakler Sir lohn Barnard - in die Reihe der uomini illustri aufgenommen wurden. Alle Sparten des öffentlichen Lebens : Politik, Philoso­ phie, Recht, Wirtschaft, Seefahrt, Militär, Literatur und Architektur sind durch sorg­ sam ausgewählte Repräsentanten vertreten und durch Iaudationes kommentiert, die ihre Verdienste für Freiheit und Vaterland herausstellen. 59 Die politische Nation und die Kulturnation, die Nationalgeschichte und der - nicht zuletzt im Freimaurertum vieler Gartenschöpfer und Bauherrn - verwurzelte liberale Wertkanon60 bilden hier noch eine unauflösbare Einheit. Diese völlige Kongruenz bleibt in Stowe zwar eine Ausnahme, doch sind die englischen Gartenprogramme generell auffallend national geprägt. Auf dem Kontinent hingegen verstand man den grand homme der Aufklärung gerade als Vorbild über alle nationalen Grenzen hinweg. Vergleicht man einige mit der Idee der British Wortkies verwandte Zyklen von uomini illustri in kontinentalen Gärten, so wird der eher kosmopolitische Charakter der Auswahl deutlich. Der 1 779 konzipierte " Tempel der Philosophie " in Ermenonville , Landsitz des Rousseau-Gönners Graf Girardin nördlich von Paris , feiert aufgeklärte Franzosen, Engländer und Amerikaner im Sinnbild eines noch unvollendeten Bau­ werks . Die bereits aufgerichteten Säulen sind durch Inschriften Newton, Descartes , Voltaire, William Penn, Montesquieu und Rousseau gewidmet. Zwei noch unbearbeite­ te Säulenschäfte waren Lebenden, dem Naturforscher und Geographen Huffon und Ben­ jamin Franklin, zugeordnet: eine anglo-französische Gelehrtenrepublik. 61 In Deutsch­ land dominierten unter den geehrten Geistesgrößen zunächst eindeutig diejenigen Eng­ lands und Frankreichs . Gerade hier aber lag ein wichtiger und folgenreicher Ansatz­ punkt für die Bestrebungen um eine nationale Gartenkunst: Der Deutsche werde doch wohl so "patriotisch gesinnt seyn, dem einheimischen Verdienst vor dem auswärtigen den Vorgang zu gönnen. Dadurch würden unsere Gärten [ . . . ] einen Theil von einem eigenen Nationalcharakter gewinnen [ . . . ] Am meisten müssen uns Statuen, die der Patriotismus dem nationalen Verdienst errichtet, interessant seyn [ . . . ] Männer, denen wir Aufklärung , Freyheit, Wohlstand, Vergnügen verdanken" , fordert Hirschfeld .62 Nur "der Deutsche [könne] seine eigene Sprache, seine eigenen Dichter übersehen; und scheint mit sich zufriedener, wenn er engländische und französische Inschriften aus­ stellt [ . . . ] Allein deutsche Inschriften sind für deutsche Gärten doch vorzüglich zu empfehlen" , fährt er fort und gibt auf den folgenden Seiten für Garteninschriften ge­ eignete Verse aus deutscher Feder und diverse Musterentwürfe an. 63 Sicher haben Hirschfelds Mahnungen zur raschen Ausbreitung deutscher Inschriften und Denkmäler beigetragen. In der Bibliothek von Schloß Wörlitz erweitert sich bereits das Spektrum der in Bildnismedaillons Geehrten auf antike, englische , französische und deutsch­ sprachige Philosophen, Theologen, Staatsmänner und Dichter, wobei wiederum Leben­ de eingeschlossen waren. Christian Fürchtegott Geliert und Johann Caspar Lavater

" Vgl. von Buttlar, Der Landschaftsgarten (Anm. 1), S. 38 ff. 60 Die freimaurerische Perspektive besonders herausgearbeitet bei Hartmann (Anm. 36) und von Buttlar (Anm. 5). Für die Landschaftsgärten um Wien: GaB Haj6s, Romantische Gärten der Aufklärung. Englische Landschaftskultur des 1 8 . 1altrhunderts in und um Wien, Wien/Köln 1 989. 61 Vgl. u.a. Dora Wiebenson, The Picturesque Garden in France, Princeton 1978, S. 71 ff. 62 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. 111 ( 1780), S. 1 3 1 f. 63 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. III ( 1 780), S. 155 ff.

III . Nation

196

·

Adrian von Buttlar

sowie Johann Gottfried Herder wurden im Park zu Lebzeiten Denkmäler gesetzt (Abb . 4, S. 202) . 64 Es wäre reizvoll , der Frage der Denkmalsetzungen im Landschaftsgarten unter dem Aspekt des Nationalgedankens ausführlicher nachzugehen. Festzuhalten bleibt, daß die nationalen ,.Helden" wie die Landschaftscharaktere und Geschichtssze­ nen stets in einen aufklärerischen und supranationalen Kosmos von Natur und Ge­ schichte eingebunden bleiben.

3. Die Frage des " Nationalgartens "

Eine wichtige Einschränkung macht Hirschfeld in seinen Ausführungen zu Garten­ denkmälern, die uns in der Frage nach einem deutschen Nationalgarten weiterführt: Er empfiehlt Künstler, Literaten, Naturforscher und Philosophen für die ,.Gärten von Pri­ vatpersonen" . ,. Statuen der Helden, der Gesetzgeber, der Erretter des Vaterlandes [ . . . ] " gehören hingegen auf ,. öffentliche Plätze " und ,.um die Schlösser der Regen­ ten" . 65 Die nationale Sphäre kann somit erst dann voll wirksam thematisiert werden, wenn sie in die öffentliche Sphäre rückt und sich an einen neuen Adressaten, nämlich an das ,. Volk" , wendet. Hirschfeld kann nicht verstehen, daß der 1 748 errichtete ,.Griechische Tempel" in Stowe , der eine dezidiert nationale Ikonographie aufwies, in einem Privatgarten stand : ,. Dieser Tempel würde , nach seinem besonderen Charakter betrachtet, sich besser in den Park des Königs schicken, noch besser auf einen schönen Platz in der Residenz als ein öffentliches Nationalgebäude . "66 Nationalszenen sollen demnach keine antagonistische , sondern eine affirmative Funktion erfüllen. Das Mu­ sterbeispiel ,. einer solchen nationalen Szene " sieht Hirschfeld im ,. Nordmannsthal " , einer Partie des königlichen Schloßgartens von Fredensborg bei Kopenhagen verwirk­ licht, die sein Landesherr König Friedrich V. von 1 768 bis 1 773 durch den Bildhauer J ohann Gottfried Grund anlegen ließ . 67 Hier manifestiert sich ein nordisches Natio­ nalbewußtsein, das sich erstmals weder von der politischen Nation noch von der Kul­ turnation, sondern vom Ständischen und Völkischen her bestimmt (Abb . 5 , S. 203 ) . Insgesamt 68 lebensgroße Statuen von Männern und Frauen vertreten die typischen Berufsstände - darunter Bauern, Fischer, Lotsen, als Kuriere dienende Skiläufer, Ren­ tierjäger (Abb . 6, S . 204) . Sie alle stammen aus Norwegen, das seit der Kalmarsehen Union von 1 397 mit Dänemark in Personalunion vereinigt und seit 1536 als unterworfe-

64 Für

das Gesamtprogramm noch immer aufschlußreich: Adolph Hartmann , Der Wörlitzer Park und seine 1 9 1 3 ; vgl . auch August Rode, Beschreibung des Fürstlich Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz, Dessau 1 798, Reprint in: Der Englische Garten zu Wörlitz. Staat!. Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum und Luisium (Hrsg. ) , Berlin 1987. 65 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. III ( 1780), S . 80, 132. 66 Ebd . , S . 65 ff. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges war der Tempel 1763 in Temple of Concord and Victory" umbenannt und entsprechend ausgestattet worden: Im Giebel die Erdteile, die Britannia

Kunstschätze, Berlin



mit ihren

Inschriften



vornehmsten Producren• huldigen (ehemals an der Palladianischen Brücke). Am Portikus die

.Concordiae et Victoriae" sowie Medaillons zur Eintracht der Staaten und der Bürger. Im Inneren

vierzehn leere Nischen an

den Längsseiten, darüber Medaillons , "warinnen die Siege der Engländer über die 15. Nische mit der Aufschrift .Libertas Publica" die Statue einer

Franzosen" dargestellt sind, in der

Allegorie der (konstitutionellen) Freiheit.

67 Beschreibung in: Hirschfeld (Anm. 10), Bd. III ( 1 980), S. 190 ff. ; vgl. Johann Gottfried Grund, 1773 .

Abbildung des Nordmannsthals in dem Kgl . Lustgarten zu Friedensburg, Kopenhagen

1 97

Das .Nationale" als Thema der Gartenkunst

ne Provinz dem dänischen Reich einverleibt worden war . Hirschfeld schwärmt: " Wel­ cher Triumph für eine Nation, wenn ein Monarch, wie Friedrich V. war, die Bildnisse seiner geliebten Unterthanen vor seinem täglichen Anblick [ . . ] würdigt" und übersieht dabei, daß die noch regelmäßige konzentrische Anordnung der norwegischen " Na­ tionalgesellschaft" um eine Triumphsäule, die die sieben Kronen der dänischen Könige zeigt, noch stark durch die Aspekte von Unterwerfung, Triumph und Huldigung ge­ prägt ist. Als vorbildlich gilt Hirschfeld auch das Denkmalprogramm im Garten von Jägerspreis , dem Schloß des dänischen Erbprinzen Friedrich: " Die einzelnen Tempel oder Monumente zum Andenken verdienter Britten, [ . . . ] selbst die bekannten elysäi­ schen Felder zu Stowe, sind nicht das , was Jägerspreis zeigt. " Hier sind den " verdien­ testen Personen aus der Nation von entferntesten Jahrhunderten bis auf das gegenwärti­ ge " inmitten eines frühgeschichtlichen Hünengräberfeldes etwa 30 Stelen errichtet worden. Von den ältesten dänischen und norwegischen Königen reicht das Spektrum über Bischof Absalon und den Astronomen Tycho Brahe bis zu Staatsminister Graf von Bernstorff: " Auch der Patriot, der mit den Verewigten in keiner anderen Verbindung steht als durch das Interesse seiner Nation, der sie angehören, wird bey dem Anschauen ihrer Monumente erwärmt. " Zwar gab es in den Königlichen Gärten schon eine begrenzte " Öffentlichkeit" ; die vorsichtige Öffnung des "Gartens des Königs" für den bürgerlichen Patrioten, die sich im letzten Viertel des 1 8 . Jahrhunderts allerorten vollzog68, war jedoch nur eine Notlö­ sung . Der Adressat eines solchen Nationalthemas , wenn es seine integrierende Funk­ tion erfüllen sollte , mußte "das Volk" selbst sein. Geeigneter schien deshalb der umge­ kehrte Weg , dem Volk einen eigenen Garten zu stiften, in dem selbst der König nur als " Mensch" verkehren durfte . Hirschfelds Hauptinteresse galt der Idee des Volksgartens . Er hat die Öffentliche Gartenkunst und damit letztlich die Idee eines von seiner Funk­ tion her verstandenen Nationalgartens als erster definiert. Hier eröffne sich ein neues und weites Feld für die "patriotische Gartenkunst" . Unter dem gemeinsamen Dach des Nationalbewußtseins sollen die Widersprüche zwischen Volk und Fürst harmonisiert und die verschiedenen Stände, die sich im " Schooße der Schönen Natur" begegnen, miteinander versöhnt werden. Der Volksgarten sei der geeignete Ort, "wo man leicht dem Volk mitten auf den Weg seiner Vergnügungen eine gute Lehre hinstreuen [ . . . ] kann" , schreibt Hirschfeld und fordert " Gebäude mit interessanten Gemälden aus der Geschichte der Nation, Bildsäulen ihrer verstorbenen Wohlthäter, Denkmäler von wichtigen Vorfällen [ . ] mit lehrreichen Inschriften [ . . ] , die an das Glück seiner Nationalbegebenheiten erinnern. "69 Der Englische Garten in München, den Kurfürst Carl Theodor auf Anraten seines aufgeklärten Ministers Graf Rumford im Sommer 1 789 unter dem Eindruck des Sturmes auf die Bastille anlegen ließ , ist die erste Ver­ wirklichung dieses Gedankens . 70 Hier spielte König Max I . Joseph seine schwierige Doppelrolle , als Monarch von Gottes Gnaden und Pater Patriae zugleich nur erster Bürger seines Staates zu sein, wenn er etwa vom Parkwächter beim unerlaubten B lu­ menpflücken erwischt wurde (Abb. 7, S. 205). Ähnliches galt für den 1 775 geöffneten Wiener Prater: " Der menschenfreundliche Kaiser steht [ . . . ] im Prater oft mitten unter .

. .

.

68 Adrian von Butt1ar, Die Ö ffentlichkeit von Parks, in: Der Architekt 3 ( 1 991), S. 133 ff. 69 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. V ( 1 785), S. 68-74. 10 Vgl. u.a. Tbcodor Dombart, Der Englische Garten zu München, München

Garten München (Festschrift zusammengestellt von P . v . Freyberg) , München

1972; 200 Jahre Englischer 1989.

198

IIJ. Nation

·

Adrian von Buttlar

seinem Volke , ohne Gefolge , blos von der Liebe seiner Unterthanen umgeben. " 71 Hirschfelds Anweisungen entsprechend wollte Hofgartenintendant Friedrich Ludwig von Sckell nach der Erhebung Bayerns zum Königreich 1 806 im Zentrum des Eng­ lischen Gartens ein Pantheon der würdigsten Regenten Bayerns und - auf einer Insel im Kleinhesseloher See - ein Denkmal der " Großen vaterländischen Ereignisse " er­ richten. 7 2 Kronprinz Ludwig hat diesen Gedanken aufgegriffen, als er die Walhalla zunächst noch im nördlichen Teil des Englischen Gartens plante .73 All diese Projekte wurden Jedoch nicht realisiert. Schon bald nämlich wanderte das Projekt dieses " Pan­ theons der Teutschen" wieder aus dem Englischen Garten heraus an die Peripherie Münchens , auf die Isaranhöhen, schließlich auf den Bräuberg bei Donaustauf unweit der alten Reichsstadt Regensburg, wo es 1 830-42 durch Leo von Klenze realisiert wurde (Abb . 8, S. 206) . Im Park mußte ein solch gewaltiges Nationaldenkmal den Maßstab einer Gartenvedute nicht nur in seinen absoluten Dimensionen sprengen; auch sein Denkmalcharakter blieb nicht mehr auf die Verweisungsfunktion einer Staffage beschränkt. 74 Die illusionistische Gartenvedute fand ihre Nachfolge in der mit patrioti­ schen Konnotationen besetzten monumentalen " Denkmallandschaft" . 75 Nachdem sich die nationale Thematik so bald wieder aus dem Rahmen des Volksparks zu lösen be­ gann, reduzierte sich dessen Rolle mittelfristig (nämlich bis zur Reichsgründung) vor­ nehmlich auf die eines Stadt- und Bürgerparks , dessen Funktion weniger auf National­ Bildung und sittliche Erhebung als auf Erholung und Zerstreuung des Großstadtbürgers gerichtet war. Anders als in Frankreich, wo im Zuge der Revolution kurzzeitig Garten­ anlagen rein patriotisch-revolutionären Inhalts entstanden waren76 , hat es in Deutsch­ land einen echten " Nationalgarten" nie gegeben. Gleichwohl stellt die Gartenkunst des 1 8 . Jahrhunderts ein Experimentierfeld dar, in dem wichtige Aspekte nationaler Kunst­ übung des 1 9 . Jahrhunderts erstmals vorformuliert wurden: Die Kodifizierung einer " nationalen" Landschaft, die Neugotik als " Nationalstil " , das Nationaldenkmal .

7 1 Hirschfeld (Anm. 10), Bd. V ( 1 785) , S. 72. (1807), vollständig wiedergegeben in: Festschrift (Anm. 70) , S. 93 ff. , sowie dessen Gedanken zum Volkspark in seinen "Beiträgen zur bildenden Gartenkunst" , München 1 8 1 8 . 1 3 Anmerkung Ludwigs I . auf einem Plan Sckells am 2 1 . August 1 8 1 1 ; vgl . Th. Dombart ( Anm . 70), s. 1 80 f. 74 Die Walhallawürdigen standen nicht mehr exemplarisch filr einen bestimmten ideologischen Wertkanon, 72 Vgl. Sckells Denkschrift

sondern die Summe ihrer individuellen Verdienste verkörpert gleichsam die Totalität der Kulturnation. Mit der Aufstellung der Büsten verband sich der heute absurd anmutende Gedanke, die in der .Halle der Erwartung" im Sockelgeschoß schon zu Lebzeiten harrenden Walhallawürdigen nach ihrem Tod in feierlicher Prozession ins Licht des Tempels zu geleiten. Der romantische Gedanke von Tod und Verklärung sollte hier

noch einmal inszeniert werden.

Ein derartig pseudosakraler Geschichtskult, der in den Denkmalentwürfen der

Befreiungskriege viele Parallelen hat,

bedurfte einer Steigerung des Realitätscharakters nicht nur

im Denkmal

selbst, sondern auch seines Ambientes. Vgl. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im

19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 206 (1968), S. 529-585.

13 Jörg Traeger, Der Weg nach Walhalla. Denkmallandschaft und Bildungsreise im

Regensburg

19. Jahrhundert,

1987.

76 Hans-Christian und Elke Harten, Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republika­ 1 989. Über den

nische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, Reinbek

Zusammenhang zwische Landschaftsgarten und Revolutionsarchitektur vgl . auch Johannes Langner, Ledoux und die fabriques. Voraussetzungen der Revolutionsarchitektur im Landschaftsgarten, in: Zeitschrift Kunstgeschichte

26 ( 1 963).

filr

Ulrich Hermwnn (Ulm) Von der "Staatserziehung" zur "Nationalbildung". Nationalerziehung, Menschenbildung und Nationalbildung um 1800 am Beispiel von Preußen

"Volk-Nation-Vaterland" ist für die pädagogischen Schriftsteller in Deutschland im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert eine zentrale Thematik bei der Identifizie­ rung ihrer pädagogisch-politischen Motive. Diese Thematik soll knapp skizziert werden (Kap .I), um vor diesem Hintergrund die Konzeption einer politisierten "National-" und "Staatserziehung" in Deutschland im Gefolge der Französischen Revolution pointierter verstehen zu können (Kap.II) und von da aus die Linie zur preußisch-nationalistischen "Nationalbildung" ziehen zu können, die unter dem Eindruck des preußischen Zu­ sammenbruchs und der napoleonischen Besatzung formuliert wurde (Kap.III). 1

I. "Volk-Nation- Vaterland"in der deutschen Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts- Eine Skizze Die pädagogische Reformbewegung der Philanthropen war eine Volksaufldärungs- und Volksbildungsbewegung. 2 Was unter "Volk" zu verstehen war, defmierte einer der ein­ flußreichsten Volksaufklärer, Rudolf Zacharias Hecker, folgendermaßen3: "Volk" sind "alle Klassen der Einwohner, welche kein eigentliches Geschäft aus dem Studieren machen, das ist, einen großen Theil des Adels, den Bürgerstand von dem Künstler und Kaufmann an, bis auf den Taglöhner und alle Bauern ohne Ausnahme". (Hecker führt interessanterweise ein modernes bildungssoziologisches Unterscheidungsmerkmal von "Volk" und "anderen" ein: die - wie man später sagen wird - "Gebildeten" als Teil­ haber "höherer", d. h. akademischer Bildung. ) Die gleichzeitigen Bestrebungen einer Nationalerziehung verfolgen kein politisches, sondern ursprünglich ein ökonomisches Motiv, wie sich besonders bei den (preußi­ schen) Schulreformern (Resewitz, Rochow u. a. m. ) studieren läßt: Erhöhung der Ar­ beitsbereitschaft und Leistungsfahigkeit bei der arbeitenden Bevölkerung sowie berufs-

1 Da es sich bei dem folgenden nur um eine Skizze handeln

in zwei

kann, sei auf die weiteren Belege verwiesen Artikeln, die in unserem Zusammenhang komplementär sind: Artikel.Aufklärung" von Horst Stuke

und Artikel.Bildwlg" von RudolfVierhaus, beide in: Historische Grundbegriffe, 1. Bd., Stuttgart 1972, S. 243-342, 508-551.

2 Ulrich Herrmann (Hrsg.), .Das pädagogische Jahrhundert".Volksaufklärung

und Erziehung

zur Armut

im 18. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim/Basell981. - Ders., Die Pädagogik der Philanthropen, in: Hans Scheuer! (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik, 1. Bd., 2. Auf!., München 1991, S. 135-158. - Ders.,

Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft, Weinheim 1993,

bes. Teil II, S. 99 ff.: Wohlstand und Glück- ErziehiDlg und FormiDlg des

gemeinnützigen Bürgers.

3 In der Schrift.Beantwor!Wlg der Frage: Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich nach Arnim Kaiser: Gesellige Bildung. Studien und Dokumente zur Bildung

sein", Leipzig 1781, S. 21; zit.

Erwachsener im 18. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 1989, S. 307.

208

III. Nation· Ulrich Herrmann

orientierte Ausbildung des Wirtschaftsbürgertums. 4 Hierher gehört auch die Erziehung des Patrioten, d. h. jenes Bürgers, der sich durch Gemeinnützigkeit und Verantwortung für die Gemeinschaft (Gesellschaft), also durch das Gefühl für die Mitverantwortung für die Wohlfahrt des "Vaterlandes" auszeichnet. 5 Daß im Zeitalter des Absolutismus eine Erziehung zur Vaterlandsliebe im politi­ schen Sinne nicht fehlen konnte neben dem "Reichspatriotismus" zumeist in der Form der Verehrung des regierenden Hauses -, versteht sich von selber. "Vaterlandsliebe", schreibt der Popularphilosoph Feder, tritt in drei Versionen auf: erstens als "Patriotis­ mus, Beeiferung für das gemeine Beste"; zweitens als "vorzügliche Lust zu seiner Heymath"6 ("Orte und Gegenden, in denen man so oft Vergnügen gefunden, die ange­ nehmsten Jahre der Jugend durchlebt[. . . ] in denen man seine Verwandte, Freunde hat oder gehabt hat; in denen Leichname oder andere Dinge, die ihr Andenken uns werth macht, aufbewahrt liegen"7 ). Und drittens als Gefühl für die Ehre des Vaterlandes in Kriegszeiten. 8 "Die Deutschen" bildeten aber keine Nation im politischen Sinne (Staatsnation), und auf dem Wege zur Kulturnation waren sie erst; ihr " Volks"bewußtsein als Zusammen­ gehörigkeitsgefühl war nur schwach ausgeprägt; ihre "Vaterländer" boten selten genug Anlaß und Gegenstand zur gesinnungsmäßigen Identifikation. Und hatte der Bürger einer Freien Reichsstadt überhaupt ein "Vaterland"? "Na­ tionalerziehung" war daher im wesentlichen unpolitisch gedacht und bezeichnete die Verantwortung der Obrigkeit (des Staates) für ein öffentliches Erziehungs- und Unter­ richtswesen; die Sorge für Erziehung und Unterricht wurde ein Staatszweck. Es konnte nicht ausbleiben, daß Erziehung und Unterricht dann eben auch.filr Staatszwecke einge­ setzt wurden. Darauf ist unten zurückzukommen. 9 Im Früh- und Hochabsolutismus hatte die Verknüpfung von Erziehung und Unter­ richt mit unterschiedlichen Dimensionen und Funktionen der Staatstätigkeit mindestens drei Zielrichtungen (Staatszwecke), was sich besonders in den protestantischen Territo­ rien seit der Mitte des 16. Jahrhunderts studieren läßt:

4 Wenn man die zeitbedingten politischen Äußerungen und Wertungen abzieht, bleibt die umfassende Darstellung von Helmut König immer noch die materialreichste Einführung: Zur Geschichte der National­ erziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhundert (Monumenta Paedagogica, Bd. I), Berlin (DDR) 1960. ' Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 8), München 1980. - Dazu König (wie Anm. 3), S. 215 ff.; H.J. Busch/U. Dierse, Artikel .Patriotismus", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Spp. 207-217; Conrad Wie­ demann, Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu fmden, in: Aufklärung 4 (1989), S. 75-101. 6 Jobarm Georg Heinrich Feder, Untersuchungen über den menschlichen Willen, I. Theil, Göttingen/Lemgo 1779, Kap. V: Von der Liebe zum Vaterlande, S. 338. 7 Ebd., S. 339. 8 Ebd., S. 344. 9 Vgl. Ulrich Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum. Kontroversen über erhoffte und befürchtete Wechselwirkungen von Politik und Pädagogik im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Ders. 1993 (wie Anrn. 1), S. 195-208; zuerst in: Ders./Hans-Erich Bödeker (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung- Die Politisierung der Aufklärung (Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 8), Harnburg 1987, S. 5371.

Von der .Staatserziehung" zur .Nationalbildung"

209

die Sicherung von Herrschaft durch die Formierung eines Untertanenverbandes in der Form der ständisch gegliederten Gesellschaft; (b) die Stützung der Obrigkeit und Staatlichkeit durch die Heranbildung einer Büro­ kratie in der Form der verbeamteten Intelligenz; (c) die Stabilisierung von Vergesellschaftung in den Organisationsformen der Tradi­ tionalisierung als Medien der Legitimierung von Herrschaft und Ordnung. (a)

Eben dies aber müssen die Untertanen lernen als einen festen Bestandteil ihrer Mentali­ tät und ihres Verhaltens. 10Auf diese Weise ist im Absolutismus (und nicht nur dort) ­ mit Max Weber zu sprechen - die Rationalisierung und Bürokratisierung von Herrschaft gesichert worden. Die Verknüpfung von Staatstätigkeit mit Erziehung und Unterricht zu diesen Staats­ zwecken greift aber zu kurz, wenn die Herrschafts- und Gesellschaftsordnung sich in einem sich beschleunigenden Prozeß ihrer Transformation befindet, der die traditio­ nellen Verhaltensnormen in Frage stellt, die traditionellen Formen der Herrschafts­ legitimation nicht mehr hinnimmt und der schließlich einen Umbau von Einstellungen und mentalitären Haltungen erzwingt. Dies ist die Situation in der europäischen Spät­ aufklärung im Transformationsprozeß der altständischen in die bürgerliche Gesell­ schaft. Die Transformation einer traditionellen in eine moderne bzw. sich modernisierende Gesellschaft läßt sich wiederum begrifflich in drei Hinsichten fassen: in den Prozessen der gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung mit dem Effekt zunehmender sozialer Differenzierung und neuer sozialer Ungleichheit; (b) der Extensivierung von Partizipation auf der Grundlage der Intensivierung und Or­ ganisation von Kommunikation und Kommunikationsfähigkeit; (c) der Rationalisierung und Formalisierung (auch privater) sozialer Beziehungen (z. B. in der Form der kodifizierten Verrechtlichung). (a)

Diese Prozesse11 zeichnen sich durch diefunktionale Verschränkung der einzelnen Ziel­ setzungen aus: Mobilisierung zum Zwecke sozialer Differenzierung und gleichzeitiger Intensivierung von Partizipation; Intensivierung von Kommunikation auf der Grundlage von formalisierten sozialen Beziehungen usw. In diesem Transformationsprozeß haben daher die organisierten Formen von Lernen und Erziehung, Unterricht und Schule die mehrfache Funktion der Anbahnung, Grundlegung, Verstetigung und Intensivierung der Befähigung von Einzelnen und Gruppen, an diesen Prozessen nicht nur teilzunehmen (ihnen unterworfen zu sein), sondern sie mitgestalten und von ihnen profitieren zu können. Deshalb kann - wie die Zeitgenossen sahen - ihre Bedeutung gar nicht über-

10 Vgl. zum folgenden mit den erforderlichen Nachweisen: Ulrich Hernnan,n Erziehungsstaat - Staats­ erziehung - Nationalbildung. Staatliche und gesellschaftliche Funktionen und Leistungen von Erziehung und Unterricht im Übergang vom Untertanenverbands-Staat zur modernen Staatsbürger-Gesellschaft, in: Zeit­ schrift für Pädagogik 39 (1993), S. 567-582. 11 Vgl. ebd. S. 512 die Graphik zu Dimensionen von Traditionalität und Modernität aus: M.R. Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der .Moderne" und die .Modemisierung", in: Reinhart Kaselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt (Industrielle Welt, Bd. 20), Stuttgart 1977, S. 1029, hier S. 16 f.

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III. Nation· Ulrich Herrmann

schätzt werden. Und deshalb wurden Schulen (und Universitäten) ein politicum nicht nur in dem Sinne, daß sie fortan kein ecclesiasticum mehr waren (so sagte es das AUge­ meine Preußische Landrecht von 1794), sondern ein Politikum im modernen Sinne: nämlich ein Gegenstand gesellschafts- und parteipolitischer Auseinandersetzungen, weil die Schulen und Hochschulen bzw. Universitäten seither das Schleusenwerk des sozialen Aufstiegs bilden und ihre Zertifikate die Berechtigungen bzw. Garantien privi­ legierter sozialer Plazierung darsteUen. Die kurze Charakteristik der geseUschaftspolitischen als einer bildungspolitischen Problemlage vor 1800 macht zweierlei deutlich: (1) Die traditioneU betonte Opposition der Philanthropen und der Neuhumanisten kann sich zwar auf zeitgenössische (Selbst-)Zuschreibungen stützen 12 , kultiviert aber eigent­ lich keinen Theoriekonflikt - Erziehung des Menschen vs. Erziehung des Bürgers13 -, sondern bezieht sich auf die Differenz von Volksbildung des "einfachen Mannes" (Al­ phabetisierung und "Verfleißigung"14) und höherer Geistesbildung der "Gebildeten". Richtig ist zwar, daß die kantische Gesinnungsethik den philanthropisch-utilitaristisch­ en Eudämonismus theoretisch demolierte. 15 Aber nur weil sich im Reform-Preußen um 1800 das Hauptgewicht der Erziehungsreform von der Volkserziehung auf die Gesin­ nungsbildung des Bürgertums und des Reform-Adels verlagerte und die bekannterma­ ßen revolutionsbegeisterten Philanthropen seit der Terreur politisch diskreditiert waren, konnte der Eindruck entstehen, es hätte so etwas wie ein Paradigmen-Wechsel stattge­ funden - von Erziehung nach Bildung, von bürgerlicher Brauchbarkeit zu aUgemeiner Menschlichkeit. Tatsächlich ist nur die Trägergruppe des Reformprozesses ausgewech­ selt worden, mit ihr aUerdings die sie vereinigende Konzeption, deren Implikate und deren institutionen- und wissenschaftspolitischen Folgen. (Ein kundiger Kommentator dieses Vorgangs, August Hermann Niemeyer in HaUe, hat in seinen "Grundsätzen der Erziehung und des Unterrichts", die seit 1796 in kurzen Abständen in immer neuen überarbeiteten und ergänzten Auflagen erschienen16, an diese Zusammenhänge erin­ nert. ) - Außerdem differieren die Philanthropen und Neuhumanisten - insbesondere letztere, wenn sie pädagogisch denken -, nicht in den Basisannahmen der sensualisti­ schen Psychologie und Anthropologie, sondern in der Beschreibung von Wegen und Zielen.

12 Vgl. vor allem Friedrich lmmanuel Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit, Jena 1808, Reprint Weinheim/Berlin!Basel 1968. 1 3 Diese Entgegensetzung hatte Rousseau in seinem .Emile" von 1762 eingeführt, sie war in Rousseaus extremer Fassung - es sei unmöglich, einen Heranwachsenden zugleich zum Menschen und zum Bürger zu bilden - von den Philanthropen zurückgewiesen worden; vgl. ihre Kommentare zu dieser Rousseau-Passage im Ersten Buch des .Emile" in den Fußnoten der .Emile"-Übersetzung in der von Campe herausgegebenen "Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens" (Bde. 12-15, Wien!Braunschweig 1789), hier Bd. 12, S. 47 ff. 14 Wolfgang Dreßen, Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen/Deutschland, Frankfurt a.M. 1982. " Dazu vor allem Herwig Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf 1%3; die in diesem Zusammenhang wichtigen Passagen auch u.d.T.: Der Widerspruch von Selbstentfaltung und Gemeinnützig­ keit, von Glücksstreben und Sittlichkeit, in: Herrmann 1981 (wie Anm. 1), S. 307 ff. 16 Alle näheren Angaben in den Apparaten des Reprints der .Grundsätze" von 1796, hrsg. von Hans­ Hermann Groothoff und Ulrich Herrmann, Paderbom 1970.

Von der .Staatserziehung" zur .Nationalbildung"

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Fazit: Sowohl philanthropische als auch neuhumanistische, kantische und idealistische Erziehungsvorstellungen gehen in den Transformationsprozeß von der utilitären bürger­ lichen "Nationalerziehung" zur politisierten "Nationalbildung" ein.17 (2) Das auslösende Moment für die Umakzentuierung und die neue Instrumentierung des pädagogischen Denkens war die Erfahrung der Französische Revolution: sie be­ lehrte über die realen politischen Folgen des "Mutes, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen", und sie offenbarte damit die realen bildungsgeschichtlichen Konsequen­ zen von Aufklärung als öffentlichem Räsonnement. Mehr noch: Die Erfahrung der Revolution eröffnete die Einsicht in die reale Möglichkeit von Bewußtseinsbeherr­ schung durch staatlich bzw. öffentlich organisierte Erziehung und Unterrichtung18 so­ wie durch fetes revolutionnaires und neue Formen der Gemeinschaftserziehung19 ; denn diese erwiesen sich als konsequente Formen der Indoktrination mit Hilfe der Modeliie­ rung von Wahrnehmungsformen und der daraus resultierenden Fixierung von Denkmu­ stern (wir sagen heute: durch die Habitus-Wirkungen von Sozialisationsprozessen in "totalen Institutionen").20- Darauf ist unten im Zusammenhang mit Fichtes "Reden" von 1808 und seinen pädagogisch-praktischen Empfehlungen zurückzukommen.

Fazit: Die Pädagogik des 18. Jahrhunderts hat durch ihre praktisch wirksamen Er­ fahrungen die pädagogisch-psychologischen Instrumente bereitgestellt, die dann jenseits der Absichten und Wirkungen einer bürgerlichen bzw. einer humanistischen Pädagogik - die wirksamen Instrumentierungen einer neuen nationalpolitischen Erzie­ hung und Bildung bereithielten.21

II. Von der Erziehung "durch den Staat"zur Erziehung "für den Staat"­

die Politisierung der Erziehung in Preußen/Deutschland durch die Französische Revolution Die Philanthropen hatten die Mobilisierbarkeit der menschlichen Anlagen und Kräfte vorgeführt und in der Realisierung ihrer Vielseitigkeit die Bedingung der Möglichkeit für den kulturellen Fortschritt der menschlichen Gattung gesehen. Die Neuhumanisten hatten ihre Steigerung ins Unerschöpfliche (Unendliche) und im Postulat ihrer Allseitig­ keif die Idee der Vollendung der Individualität postuliert.

17 Ein schöner Beleg ist Fichtes Berufung (in seinen .Reden an die deutsche Nation" von 1808) auf Erziehungskonzepte von Pestalozzi. 18 Vgl. Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbildung im Übergang vom �ien Regime zur bürgerlichen Gesell­ schaft, Weinheim/Basel l990; in den einschlägigen Beiträgen dieses Sammelbandes alle weiteren Nachweise. 19 Inge Baxmann, Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Kultur (Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 17), Weinheim!Basel l989; Hans-Christian Harten, Elementarschule und Pädagogik in der Französischen Revolution (Ancien Reginte, Aufklärung und Revolution, Bd. 19), München 1990. 20 Vgl. für einen analogen Zusammenhang Ulrich Herrmann/Uirich Nassen (Hrsg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus. Intentionen, Medien und Praxisformen totalitärer ästhetischer Herrschaft und Behrrschung, Weinheim!Basell994. 21 Dieser Vorgang wiederholte sich übrigens im Übergang von der Reformpädagogik in die NS-Zeit.

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III. Nation

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Ulrich Herrmann

Die (hypothetische) Frage nach den Grenzen der pädagogischen Mobilisierung und der Viel- bzw. Allseitigkeil beantwortete wiederum die Erfahrung der Französischen Revo­ lution und ihrer Folgen: die Entgrenzung führt in die Barbarei des Terreur von 1792 und in die Revolutionierung des Volksbewußtseins über Frankreichs Grenzen hinaus. Neue Begrenzung ist gefordert. Sie muß durch eine pädagogische und durch eine politische Konzeption erfolgen. Sie lautet folgendermaßen (Hervorheb. im Orig.): "Das Maaß menschlicher Kräfte ist beschränkt, und sie verlieren, zu sehr vertheilt, an Ener­ gie. Die Gesinnung des gebildeten Menschen soll zwar weltbürgerlich (kosmopolitisch) seyn; denn eben darin offenbart sich die echte Humanität. Aber seine Thätigkeit muß durch die Idee einer Nation, und wenn die Nation in sich selbst getrennt ist, eines bestimmten bürgerlichen Vereines beschränkt werden. War es immer von Wichtigkeit, den Nationalsinn und die Anhänglichkeit an das Vaterland in unsrer Jugend zu cultivi­ ren, so ist es jetzt von der höchsten. An das Herabkommen des deutschen Geistes, an die Schwächung seiner Kraft hat die Zeit furchtbar erinnert. Auch an die Erzieher wendet sich das Vaterland, jenen zu heben, diese zu stärken. Dieß wird ihnen gelingen, je deutlicher sie sich 1) selbst dessen, was unserer Nation einen so eigenthümlichen Werth giebt, bewußt werden; 2) je öfter sie mittelbar und umnittelbar die Aufmerksam­ keit auf diese Vorzüge lenken, und durch das lebendige Anschauen derselben in ihren Wirkungen, in Wort und That die schöne Begeisterung wecken, ohne welche nichts Kräftiges und Großes vollendet wird. Kaum wird es dann noch 3) nöthig seyn, vor den Verführungen zu warnen, welche in dem Zeitalter liegen, dem alten Sinne und dem Vaterlande untreu zu werden. Eher möchte es bey solchen, die mehr lebhaft empfinden als deutlich denken, nöthig seyn, die Begriffe über die rechte Vaterlandsliebe zu be­ richtigen." So formulierte August Hermann Niemeyer in der 6., durchgesehenen und vermehr­ ten Auflage seiner "Grundsätze"22 von 1813. Niemeyer hatte die Universität und als deren Direktor die Franckeschen Stiftungen durch die Fährnisse der napoleonischen Kriege gesteuert; im Königreich Westfalen war er Kanzler perpetuns seiner Universität geworden23; im Zuge der preußischen Erneuerung war er ursprünglich für denjenigen Posten vorgesehen (was aufgrund seiner Erfahrung in Schul- und Universitätsdingen und angesichts seines Renommes als "Pädagogiker" und Politiker nicht verwundert, den er angesichts der unsicheren Aussichten in Preußen und vor allem im Hinblick auf seine Pflichten in Halle aber wohlweislich ablehnte!), der dann Wilhelm von Humboldt übertragen wurde. Niemeyer formulierte aufschlußreiche Anmerkungen zu der zitierten Passage24 mit Bezug auf die ältere "Patriotismus"-Literatur (Garve, Zimmermann, Sonnenfels) und die neuere Propaganda eines deutschen "Nationalgeistes" (Arndt). 22 Zit. nach der Ausgabe ReutliDgen 1813, 1. Theil, § 136: Nationalgeist, Vaterlandsliebe, S. 321-327, hier S. 321 f. 23 Niemeyer hatte in seinem Amte einen Systemwechsel" zu bewerkstelligen, wie man ihn sich eigentlich erst vorstellen und nachvollziehen kann nach dem Systemwechsel in der ehem. DDR. Niemeyer beschließt (1812/13!) den § 136 mit folgenden Worten, die seit 1990/91 so manchem .System-Wechsler" ins Stamm­ buch gehört hätten: .Änderte sich auch die Regierung, so wird der Vaterlandsfreund oft gerade dann seinen vernünftigen Patriotismus [sie!] am meisten bewähren, wenn er auf dem Boden, in welchem einmal seine ganze Thätigkeit gewurzelt ist, besonders unter mißlichen Umständen, wohltbätig fortwirket, da ja die Menschen, für die er bis dahin gearbeitet hat, dieselben bleiben, wenn auch der Regent oder der Regenten­ stamm seinen Namen ändert." 24 Ebd., S. 322 ff. •

Von der.Staatserziehung" zur.Nationalbildung"

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Fichtes "Reden" von 1808 hält er - mit dem begütigenden Zusatz, man "übersehe nicht das viele Treffliche, was in diesen Reden über Deutschlands Werth, BedürfniS und Er­ hebung mit deutschem Sinn und Gemüth gesagt ist" (S. 324) - vom Standpunkt der Pädagogik und des gesunden Menschenverstandes aus - gelinde gesagt - für abwegige Spinnerei. 25 Die pädagogisch-politische Konstellation ist eindeutig formuliert: das alte "Reich" existiert nicht mehr; das revolutionäre Frankreich hat "die Deutschen" überwunden und ihre "Vaterländer" beseitigt; gegen die bestehende Fremdherrschaft muß eine nationale Besinnung stattfinden: eine Mobilisierung nicht des Wirtschaftsbürgers und des ge­ meinnützigen Patrioten, sondern die Etablierung einer politischen Idee des Deutsch­ seins als der Idee einer nationalen Wiedergeburt. Diese Wiedergeburt ist nur denkbar als Besinnung auf das eigentlich "Deutsche", und dies ist - zunächst und vor allem ­ deutsche Sprache und Dichtung. Diese Diskussion hat schon lange vor dem Erwachen des neuen politischen Nationalismus begonnen, als es nämlich um die Frage der kultu­ rellen Identität "der Deutschen" ging. 26 Die pädagogische Literatur, die diese "neue" Nationalerziehung propagiert und als "Staatserziehungswissenschaft" betitelt, hebt exakt diesen Aspekt hervor. Aus der Fülle der Texte sei nur an einige repräsentative Autoren erinnert, die in der Reihenfolge, in der sie hier mitgeteilt werden, zugleich den Prozeß einer zunehmenden Politisierung sowie steigender Erwartungen an die Leistungen der Erziehung und der öffentlichen Schule dokumentieren. (a) Heinrich Stephani (1761-1850), seit 1808 unter Montgelas und neben Niethammer einer der führenden Schul- und Kirchenreformer in Bayern27 , schlägt in seinem "Grundriß der Staatserziehungswissenschaft" (1797) im Ersten Teil vor8 , daß der "Stoff der öffentlichen Erziehung" bei der "Erziehung des Menschen als Bürgers"29 sich - im Anschluß an die generelle "weltbürgerliche" - als "staatsbürgerliche" Erzie­ hung an deutscher Sprache und Geschichte sowie an Landeskunde orientieren solle. Die "Form der öffentlichen Erziehung" solle in Schulen, Leseanstalten und Dorfbiblio­ theken geschehen, damit "das Volk in seiner Kultur fortgehen könne", um damit "einer in der Erziehung bisher verwahrlosten Nation [sie!] nachzuhelfen"30• In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Friedrich Immanuel Nietham­ mer als "Königlich Bayerischer Central Schul- und Studien-Rat bei dem geheimen Mi-

25 Vgl. unten Anm. 52. 26 ln unserem Zusammenhang ist das exemplarische Beispiel für die Zeit um 1789/90 die Debatte im .Braunschweigischen/Schleswigschen Journal" und in Campes .Allgemeiner Revision" über die alten Sprachen und die neueste deutsche.Nationalliteratur" (Lessing!) zwischen Trapp und den Altphilologen; die bibliographischen Nachweise in den Apparaten zum Reprint von Trapps.Versuch einer Pädagogik" (1780), hrsg. von Ulrich Herrmann, Paderbom 1977. 27 Vgl. Wilhelm Sperl, Heinrich Stephani. Schul- und Kirchenrat, Dekan in Gunzenhausen, Führer des Rationalismus in Bayern (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. XX), München 1940. - Eine Skizze von Leben und Werk in: Stephani, Zur Schulpolitik und Pädagogik, hrsg. von Giinter Ulbricht, Berlin (DDR) 1961, S. 9-37.

21 Weißenfels/Leipzig 1797, S. 47 ff. 29 In dieser Formulierung zeigt die Opposition zu Rousseau. 30 Ebd., S.

90 f.

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III. Nation

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nisterium des Innern"31 keinem anderen als Goethe den Plan zu einem "Nationalbuch" vorlegte, das "als Grundlage der allgemeinen Bildung der Nation" - abgekürzt: der "Nationalbildung" - dienen sollte.32 Niethammers Ausgangspunkt für eine neue Natio­ nalerziehung ist die These, daß "es den Teutschen im Allgemeinen an tiefem Gefühl überhaupt und an Kunstliebe und Kunstsinn" fehle und sie deshalb auch nicht imstande seien, "das Mustermäßige in neueren Geistesproducten unmittelbar zu erkennen."33 Goethe nahm den Plan interessiert auf.34 Nach allgemeinen einleitenden Überlegungen benennt Goethe in einer ersten Skizze sowohl die volks-pädagogischen Schwierigkeiten als auch das gesinnungsbildende Konzept eines solchen "Nationalbuches"35 : "Denkt man sich jedoch [ergänzend zu poetischen Kriterien] bei einer solchen Sammlung noch eine äußere Bedingung, wie hier der Fall ist, den Volksbedarf, die Volksbildung, so verändert sich sogleich jene Ansicht und macht die Unternehmung schwankend und schwierig. Unter Volk verstehen wir gewöhnlich eine ungebildete bildungsfähige Menge, ganze Nationen, insofern sie auf den ersten Stufen der Kultur stehen, oder Teile kultivierter Nationen, die untern Volksklassen, Kinder. Für eine solche Menge müßte also das Buch geeignet sein. Und was bedarf diese wohl? Ein Höheres, aber ihrem Zustande Analoges. Was wirkt auf sie? Der tüchtige Gehalt mehr als die Form. Was ist an ihr zu bilden wünschens­ wert? Der Charakter, nicht der Geschmack: der letzte muß sich aus dem ersten entwik­ keln. [. .. ] In einer solchen Sammlung gäbe es ein Oberstes, das vielleicht die Fassungskraft der Menge überstiege. Sie soll daran ihr Ideenvermögen, ihre Ahndungsfähigkeit üben. Sie soll verehren und achten lernen; etwas Unerreichbares über sich sehen [ . ..]. Was sich schon mehr für den Begriff eignet: Tugend, Tauglichkeit, Sitte, Sittlich­ keit, Anhänglichkeit an Familie und Vaterland würden hier ihren Raum finden. Doch müßten die Gedichte nicht didaktisch, sondern gemütlich und herzerregend sein. " Die "Nationalsprache" enthält den "Nationalgeist", die "Nationalkultur" artikuliert sich vorzugsweise in der "Nationalliteratur", und diese ist deshalb ein wichtiges, wenn nicht das Medium der "Nationalbildung". Goethe wies jedoch 1795 in diesem Zusam­ menhang in seinem Aufsatz "Literarischer Sansculottismus"36 auf zwei spezifisch deut­ sche Probleme hin. Erstens: Die großen, klassischen Werke setzen eine große Nation voraus, was die deutsche eben nicht sei, "indem ihre politische[Lage] sie zerstückelt." Und Goethe fährt nicht ohne Hintersinn - 1795! - fort: "Wir wollen die Umwälzungen

31 Zu Niethammer vgl. die Einleitung zum Reprint (Anm.ll), S. 7-45 von Wemer Hillebrecht. - Ernst Hojer, Die Bildungslehre Fr. I. Niethammers, Frankfurt a.M. 1965; Peter Euler, Pädagogik und Universa­ lienstreit, Weinheim 1989. 32 Die Materialien dazu im 42. Band von Goethes Werken (Sophien-Ausgabe), Weimar 1907, S. 397-428. Dort auch Goethes Skizze zu einem "Lyrischen Volksbuch", hier zit. nach der Hamburger Ausgabe, 12. Bd., Harnburg 1953 (u.ö.), S. 284-287. - Niethammer denkt in seinem Entwurf neben Goethe bezeichnenderweise auch an Johann Heiurich Voss (S. 407), den Homer-Übersetzer! 33 Niethammer in seiner Begründung des Volksbuchs vom 22. Juni 1808; a.a.O., S. 400. 34 Der Plan kam dann doch nicht zur Ausführung, obwohl Goethe zu dieser Zeit auch daran dachte, einen Kongreß nach Weimar einzuberufen zur Beratung über Gegenstände deutscher Kultur. (S. 410) 3s Ebd., s. 284 f. 36 Hamburger Ausgabe, 12. Bd., S. 240-244.

Von der "Staatserziehung"

zur

"Nationalbildung"

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nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten. "37 Zweitens: "die Bildung der höheren Klassen durch fremde Sitten und ausländische Literatur, so viel Vorteil sie uns gebracht hat, hinderte doch den Deutschen, als Deutschen sich früher zu entwickeln. "38 Der Zusammenhang ist deutlich: ohne Nationalliteratur keine Nationalkultur, keine Hochkultur aber ohne bedeutende Ereignisse. Dies weist voraus auf Fichtes "Reden" von 1808. (b) Christian Daniel Voß, literarisch hervorgetreten als bissiger Kritiker der Campe­ schen Schulreformpläne in Braunschweig39, wurde in seinem "Versuch über die Erzie­ hung für den Staat" politisch deutlicher: "Eine zweckmäßige Erziehung für den Staat gewährt das einzig hinlänglich wirksame Sicherungsmittel gegen revolutionäre Grund­ sätze und Ruhe störende Absichten. " Diese Erziehung sichere auch die Kräfte "für die Erhaltung der äußern Sicherheit" - d. h. sie verbindet Körperertüchtigung40mit der na­ tionalen Sicherheit (und womöglich auch der nationalen Wiedergeburt) - und sichert damit einen hohen "Staatszweck". 41 Die öffentliche Erziehung hat sich in jeder Hin­ sicht an Staat und Gesellschaft zu orientieren; die verschiedenen Zwecke und Ziele der Erziehung, des Unterrichts und der (beruflichen) Ausbildung entsprechen den gesell­ schaftlichen Differenzierungen: "Die Bestimmungen, wozu diese Erziehungs-Modifika­ tionen vorbereiten sollen, bestehen im Staate, durch den Staat undfür den Staat. Die erhöhete Ausbildung der Kräfte, welche in diesen Verhältnissen wirksam werden sol­ len, kommt, direct oder indirect, dem Staate zu Gute. "42 (c) Johann Friedrich Zöllners "Ideen über National-Erziehung" (Berlin 1804) wurden von Schleiermacher einer ausführlichen Besprechung gewürdigt43; denn Zöllner war in Berlin Probst, Oberkonsistorialrat und Mitglied des Oberschulkollegiums. Auch wenn die Sache der "Aufklärung" "zweideutig" geworden sei44, insistiert Zöllner auf ihrer positiven Wirkung: da alle Staatsbürger lernen müssen, nach welchen Grundsätzen sie regiert werden und sie ihr Leben führen sollen, müssen sie aufgeklärt werden, weil nur so der Irreführung und der Revolution vorgebeugt werden könne. 45 Nur ein gebildetes Volk ist ein regierbares. Das Ziel dieser Bildung ist "National-Geist", dessen Belebung auf folgende Weise geschieht: 46 die deutsche Sprache bildet das "Band der Gemüther"; die deutsche Geschichte führt in die "National-Ehre" ein; "National-Anhänglichkeit" früher hätte es geheißen: Vaterlandsliebe - wird geschaffen durch "National-Feste", "National-Sitte", durch das "National-Sprichwort"; die Einführung geschieht durch

37 Ebd., S. 241. 38 Ebd., S. 242. 39 Campens Fragmentengeist, Harnburg 1787. '"Das verweist auf das Paradigma "Kraft im Dienste der Nation", bei Jahn nach 1810, in der Propagie­ rung der Leibesübungen nach 1890 und nicht zuletzt im "Dritten Reich". Leibesübung und Sport werden zu "nationalen" Aufgaben und - heute medial vermittelten - nationalen Ereignissen. 41 2 Theile, Halle 1799, hier 1. Theil, S. 91 ff., 127 ff. 42 1. Theil, S. 116 f. 43 Schleiermacher, Pädagogische Schriften, hrsg. von Erich Weniger und Theodor Schulze, 2. Bd., Düsse1dorf/München 1957, S. 65-80 . .. Ebd., s. 227. 45 Ebd., S. 227 ff., bes. 235-250. 46 Ebd., S. 196 ff.

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Erziehung in der Schule, die Fortsetzung im Erwachsenenalter durch die Lektüre von Kalendern, Volkszeitungen und Intelligenzblättern, damit "mehr Sittlichkeitsgefühl" und "mehr wahrer Patriotismus" ins Volk kommt.47 (d) Der Staatsrechtier (und Historiker) Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772-1838) plä­ dierte einerseits für eine Erziehung zum Bürger als einer "Nationalbildung", deren In­ begriff der "Gemeingeist aller Bürger eines Staates" sei. 48 Deshalb muß die Erziehung durch den Staat und für den Staat organisiert werden; denn "von einer besser organisir­ ten Erziehung im Staate [kann] erwartet werden", "was kein Finanzcalcul, kein Ver­ größerungssystem, kein Censurzwang, kein schartbewachtes Mandat, kein stehendes Herr zu verhindern vermag" - gemeint ist: der Umsturz des Staatswesens und die Revo­ lutionierung der Verhältnisse. Die Erziehung und nur sie bringt Stabilität in die Herr­ schafts- und Gesellschaftsverhältnisse. Damit sind die Komponenten beisammen, die benötigt wurden, um das radikale po­ litische Programm der nationalen Wiedergeburt mit Hilfe einer neuen "Nationalbil­ dung" en.twerfen zu können: das Ziel - "Deutschtum"; das Mittel - Sprache und Kultur; die Technik - eine "neue Erziehung".

Ill. Die Wiedergeburt Preußens durch "Nationalbildung" Das Ende des Alten Reiches, der Untergang Preußens, die territoriale Neuordnung Deutschlands - "die Deutschen" hatten ihr nationales Trauma. 49 Unter dem Eindruck dieser Ereignisse mußten die bisherigen Konzepte einer Nationalerziehung eine ganz neue Zuspitzung und emotionale Aufladung erfahren, um politisch etwas zu bewirken.50 Und so wie z.B. der Abbe Sieyes mit seiner Schrift über den Dritten Stand am Vor­ abend der Französischen Revolution bewußtseinsbildend gewirkt hat, so tat dies nun Johann Gottlieb Fichte im Winter 1807/8 in Berlin mit seinen "Reden an die deutsche Nation" _5I Sein Thema ist die "neue Erziehung", die folgendermaßen charakterisiert ist:

47 Ebd., S. 284 am Schluß des Buches. 48 Die Erziehungswissenschaft, aus dem Zwecke der Menschheit und des Staates practisch dargestellt, 2 Theile, Leipzig 1806; hier 1. Theil, S. 307 ff., 335. 49 Neben den Darstellungen der Ausgangslage der preußischen Reformzeit von Nipperdey und Wehler sei an den 1. Band von Ernst Rudolf Hubers .Deutscher Verfassungsgeschichte" (Stuttgart 1960) erinnert, wo ausführlich auch die bildungspolitischen Konstellationen der napoleonischen Ära und der preußischen Reformzeit zu Wort kommen. - Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schu1e des Staates und der Gebildeten, 1787-1817 (Industrielle Welt, Bd. 15), Stuttgart 1974; Helga Michalsky, Bildungspolitik und Bildungsreform in Preußen. Die Bedeutung des Unterrichtswesens als Faktor sozialen und politischen Wandels beim Übergang von der ständischen zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft, Weinheim/Basei 1978. 50 Helmut König, Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815 (Monumenta Paedagogica, Bde. XII/XIII), 2 Teile, Berlin (DDR) 1972173. " Zuerst 1808, zit. nach der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek, Bd. 204, hrsg. von Reinhard Lauth, Harnburg 1978 (daraus die Seitenangaben im Text).

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(1) Die "alte Erziehung" hat nur ermahnende Predigten gehalten, und wo diese nichts fruchteten, gescholten. Diese Erziehung erreicht keines ihrer Ziele mit Sicherheit, weil sie den Willen des Zöglings nicht erreicht. Die "neue Erziehung" muß in der Lenkung des Willens bestehen, und zwar so, daß in den (künftigen) Entschließungen des Men­ schen nur dasjenige vorkommt, was die Erziehung vorgesehen hat: "Dagegen würde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, daß sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernähme, die Freiheit des Willens gänzlich vernichtete, und dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließeungen, und die Unmöglichkeit des Entgegenge­ setzten in dem Willen hervorbrächte, auf welchen Willen man nunmehro sicher rechnen und auf ihn sich verlassen kann." (S. 28) "Wer sich noch ermahnen muß, und ermahnt werden, das Gute zu wollen, der hat noch kein bestimmtes, und stets bereitstehendes Wollen[...]; wer ein solches festes Wollen hat, der will, was er will, für alle Ewigkeit [...]; für ihn ist die Freiheit des Willens vernichtet, und aufgegangen in der Notwen­ digkeit." (S. 28 f.) (2) Das Verfahren der "neuen Erziehung" ist mithin die Erzeugung "von Notwendig­ keit" in einem nicht mehr schwankenden Willen, der Regeln "ohne Ausnahme" befolgt. Die Freiheit des Willens wird vernichtet durch die Unterwerfung unter ein gemein­ sames Gesetz (S. 165), durch "die Selbstbeherrschung, die Selbstüberwindung, die Unterordnung seiner[des Zöglings] selbstsüchtigen Triebe unter den Begriff des Gan­ zen." (S. 164) (3) Der wesentliche Inhalt der "alten Erziehung" ist das Bekanntmachen mit der wirkli­ chen Welt ("Sinnenwelt") unseres alltäglichen Lebens und ihrer Ordnungen. Für die "neue Erziehung" hingegen ist nur "die Welt, die durch das Denken erfaßt wird, die wahre, und wirklich bestehende Welt" (S. 147). "Neue" Erziehung meint "Anregung regelmäßig fortschreitender Geistestätigkeit" (S. 35). (4) Die Praxis der "neuen Erziehung" besteht in der Identifikation des eigenen Lebens­ sinnes mit dem Rechten und Guten der Gemeinschaft, des Staates, "als einzig vorhan­ dener Triebfeder" für das eigene künftige Leben (S. 166). Die Heranwachsenden lernen dies - indem man sie den Eltern gfls. auch zwangsweise wegnimmt! (S. 181 ff. ) - in eigenen Erziehungsgemeinschaften: Die Zöglinge der "neuen Erziehung" sollen "abgesondert von der schon erwachse­ nen Gemeinheit, dennoch untereinander selbst in Gemeinschaft leben, und so ein abge­ sondertes und für sich selbst bestehendes Gemeinwesen bilden, das seine genau be­ stimmte, in der Natur der Dinge gegründete, und von der Vernunft durchaus geforderte Verfassung habe. Das allererste Bild einer geselligen Ordnung, zu dessen Entwerfung der Geist des Zöglings angeregt werde, sei dieses der Gemeinde, in der er selber lebt, also, daß er innerlich gezwungen sei, diese Ordnung Punkt für Punkt gerade also sich zu bilden, wie sie wirklich vorgezeichnet ist, und daß er dieselbe in allen ihren Teilen, als durchaus notwendig aus ihren Gründen verstehe." (S. 40)

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(5) Die Erziehung in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaff2 vermittelt die Erfahrung der Selbsterzeugung des Gemeinwesens, vor allem durch die Verbindung von Lernen und Arbeiten (S. 170) und die Erfahrung der Mitverantwortung für die Ge­ meinschaft. Dies ist die Grundlage dafür, daß danach Geschichte - verstanden als Er­ ·zeugung und Gestaltung von Vergesellschaftung - nicht mehr Zufall sein muß, sondern in Notwendigkeit überführt werden kann, weil sie nunmehr von Menschen als bewußt handelnden gemacht wird. (S. 53) (6) Wenn die Deutschen sich entschließen, als erstes aller Völker diesen Weg zu be­ schreiten (S. 53), dann ist ihre nationale Wiedergeburt notwendig, und sie wird mit Notwendigkeit eintreten. Denn ihre "Deutschheit", ihre Bildung als Nation, ist nun nicht mehr historischer Zufall, sondern herbeigeführt worden als notwendige Konse­ quenz eines geistigen Entwurfs. Mit Hilfe der "neuen Erziehung" erfüllt sich die welthistorische Mission der Deut­ schen. Mit ihrer Hilfe wird nicht nur .eine gänzliche Umschaffung des Menschenge­ schlechts" bewirkt (S. 147), sondern die einzelnen Ziele und Inhalte der National­ bildung - "höhere Vaterlandsliebe", "Liebe für das deutsche Vaterland", "mutige Vaterlandsverteidiger", "ruhige und rechtliche Bürger" (ebd.) - stellen sich wie von selber ein. 53 Aber die eigentliche Verheißung geht viel weiter: .Mit unsrer Genesung für Nation und Vaterland hat die geistige Natur unsre vollkommene Heilung von allen Übeln, die uns drücken, unzertrennlich verknüpft." (S. 148) Vollkommene Menschenbildung als menschliche Selbstvervollkommnung und voll­ kommene Nationalbildung als nationale Selbstvervollkommnung bedingen sich gegen­ seitig. Folgerichtig schmückt Fichtes Bildnis als Frontispiz das "Archiv Deutscher Nationalbildung", dessen einziger Band 1812 in Berlin erschien.54 Auch das "Archiv" verkündet wie Fichte die "neue Nationalbildung" als .Rettungsmittel" für die Nation. 52 Man versteht jetzt die Fichte-Begeisterung der Jugendbewegung. Fichte ist zugleich der Ahnherr für insuläre Erziehungs-.Staaten", wie sie z.B. Gustav Wyneken mit der Freien Schulgemeinde Wiekcrsdorf realisierte, wie sie Siegfried Bernfeld in seiner Theorie der Kibbuz-Erziehung vorschlug, wie sie in allen totalitären Regimen zum Zwecke der Beherrschung von Bewußtsein von Heranwachsenden inszeniert werden, um sie ohne Alternative nicht nur mit einem .Ganzen" zu verschmelzen, sondern in ihnen den Wunsch danach zu erregen! Auf diese psychologisch alles entscheidende Voraussetzung weist auch Fichte hin (S. 32 f.). 53 August Hermann Niemeyer kommentierte Fichtes Position in seinen .Grundsätzen" (vgl. Anm. 20, dort S. 324) folgendermaßen (Hervorheb. im Orig.): .Auch von der Erziehung erwartet das gedemüthigte Deutschland Hülfe! Von ihr allein sie zu erwarten, ist eine leere Hoffnung, ein phantastischer Glaube ohne Welt- und Menschenkenntniß. Am allerwenigsten werden Formen und Methoden die Nation retten. Nimmer­ mehr wird man solche erfinden, die dem, was feindselig ist im Geist der Zeit, in der Lage der Völker, siegreich entgegen wirken könnten. Daß begeisterte schweizerische Pädagogen [Niemeyer soielt auf Fichtes Bezugnahme auf Pestalozzi an], im ersten Enthusiasmus für ihre Ideen, in ihren Thälern und Bergen, in glücklicher Entfernung von dem zerrütteten Deutschland, von edlen Willens und Eifers, - daß diese so etwas hoffen können, ist begreiflich. Unbegreiflicher ists, wie ein tiefsinniger Weltweiser [Fichte] ähnliche Hoffnungen in sich aufnehmen, und von der Erziehung allein, die, nach der ganzen Lage der Gesellschaft, gewöhnlich schon bald nach dem Knabenalter die meisten ihrer Zöglinge entlassen, und, sich selbst und der Welt hingeben muß oder von einer gleichförmigen Unterweisung, die eine wahre Unmöglichkeit ist, die Umgestaltung der Nation erwarten konnte. 54 Reprint Frankfurt a.M. 1969, mit einer Einleitung von Heinz-Joachim Heydorn; vgl. oben S. 243. •

Von der "Staatserziehung" zur "Nationalbildung"

219

Und auch hier wird "Nationalität" das Bindeglied zwischen Individualität und allgemei­ ner Humanität. Mehr noch: Individuelle Bildung als Selbstzweck wird ausdrücklich dis­ kreditiert, denn die Gebildeten "arbeiten unablässig an ihrer höhern Geistescultur nur um ihretwillen, und alles was sie thun, zweckt auf ihr eigenes individuelles Leben ab. Sie glauben, um so vollkommner und glücklicher zu seyn, je mehr sie sich auf sich selbst beschränken[.. . ] Ihre Theilnahme an den Schicksalen des Menschengeschlechts ist eine leere fruchtlose Speculation. Die Namen Vaterland und Vaterlandsliebe sind ihnen todte Buchstaben". 55 Überall sind die Beweise offenkundig, daß z. B. "die höch­ ste Verstandescultur sich mit moralischer Kraftlosigkeit verträgt[. . . ] daß eine Nation als ein Ganzes in dem Grade kraftlos wird und sich auflöst, als jedes lndividumm[ . . . ] an Selbständigkeit gewinnt, wenn ihn seine Cultur nicht zugleich an sein Vaterland knüpft; daß also auch die vollkommenste Erziehung, wenn sie nicht Nationalbildung ist, nicht nur dem Nationalverein, sondern auch der wahren sittlichen Menschencultur entgegenwirkt. "56 Wahre Nationalbildung führt in die menschliche Gesellschaft, erhebt das "Herz zu dem Hochgefühl der Nationalliebe", erweitert die "sittliche Thätigkeit für das Wohl des Vaterlandes"; der so Gebildete "fühlt sich nicht bloß durch sinnliche Bande des Bluts, sondern auch durch das geistige Band der Sprache[ . . . ] mit seinem Vaterlande, mit seiner Nation und durch diese mit der menschlichen Gesellschaft verbunden. " Mit einem Wort: Die "neue Nationalbildung" erstickt in dem durch sie Gebildeten seine Selbstsucht "in ihrem ersten Keim; denn hier begreift er, daß er als Einzelwesen nichts, und nur dadurch erst etwas ist und alles werden kann, daß er einer Nation angehört. "57 Unter dem Eindruck der politischen und nationalen Folgen der Französischen Revo­ lution verwandelte sich Patriotismus in Nationalismus, und angesichts der Demütigung Preußens war der Ruf nach nationaler "Wiedergeburt" nur zu verständlich, auch die religiöse Überhöhung dieses Gedankens. Die Übersteigerung des Nationalen ins Na­ tionalistische, in den "Fremdhaß", in die Mystifizierung des "Volkskörpers" verführte zu Formulierungen, wie den zuletzt aus dem "Archiv" zitierten. Zu der Losung "Du bist nichts, dein Volk ist alles!" war es noch ein historisch weiter, aber im Geiste schon gebahnter Weg. Niemeyer hatte sehr recht, als der davor warnte, daß diese Gesinnung "häufig in die größte Parteylichkeit und eine völlige Verblendung gegen das Bessere andrer Länder, Menschen und Regierungsformen ausartet." Eine "kindisch eigensinnige Anhänglich­ keit an die Erdscholle, auf welcher man gerade gebohren" wurde, sollte "billig auch von der Erziehung weder beabsichtigt noch genährt werden. " Dies könne nur zu "Be­ schränktheit", "Ungerechtigkeit" und Verlust aller "Liberalität der Gesinnung" füh­ ren. 58 Niemeyer sollte mit seiner Warnung und seinen Bedenken nur zu sehr Recht behalten.

" Ebd. , S. 447. '6 Ebd., S. 448, Hervorheb. vom Vf. "Ebd. , S. 449, Hervorheb. vom Vf. " Grundsätze, a.a.O., S. 326 f.

III. Nation

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Das Lied der Deutschen (1841) Hoffmann von Fallcrsleben

Wemer Schneiders (Münster i. W.) Der Zwingherr zur Freiheit und das deutsche Urvolk. J. G. Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus

1.

Philosophischer und politischer Absolutismus

Die Philosophie ist voll von Versuchen, die Welt zu verbessern: von Bemühungen, die wahre Ordnung der Dinge zu erkennen, und Vorschlägen, dieses Reich der Vernunft zu realisieren. Manche dieser Versuche treten direkt und offen auf, manche eher indirekt und kaschiert, einige mehr engagiert, andere eher distanziert. Die direkten Aufrufe zur Weltverbesserung konfrontieren Sein und Sollen, Realität und Idealität, und stellen meist ziemlich radikale Forderungen auf. Letztlich aber müssen sie, damit ihre Postula­ te nicht nur subjektiv oder sektiererisch dastehen, das Gesollte als eine Art höhere Re­ alität, eine noch zu verwirklichende wahre Wirklichkeit, ausgeben. Die indirekten Ap­ pelle zur Weltverbesserung versuchen, die Unterscheidung und Konfrontation von Sein und Sollen, Realität und Idealität, nach Möglichkeit zu vermeiden oder zu unterlaufen. Sie geben sich angeblich mit einer Beschreibung oder Theorie dessen, was ist, zufrie­ den. Faktisch müssen sie jedoch in der Erkenntnis der Wirklichkeit zwischen wahrer und scheinbarer Wirklichkeit, zwischen Wesen und Erscheinung usw. unterscheiden, wodurch die wahre Wirklichkeit mehr oder weniger zur Norm der dann bloß scheinhaf­ ten Erfahrungswelt wird. Fichte gehört im Rahmen dieses Schemas zu den direkt und offen auftretenden Für­ sprechern einer radikalen oder prinzipiellen Transformation aller Verhältnisse, ja sogar zu den engagiertesten überhaupt. Sein offensives und meist außerordentlich pathetisch­ es Engagement äußert sich nicht selten so unverblümt, daß es schon, bei aller Refle­ xion, naiv erscheinen kann; der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist auch hier manchmal nur sehr klein. Vor allem aber ist Fichte, genau gelesen, so klar und konse­ quent in seinen politischen Intentionen, daß er ein geradezu ideales Objekt für eine ex­ emplarische Fallstudie ist. Weltverbesserungsversuche können mehr oder weniger absolutistisch sein, und zwar sowohl in philosophischer wie in politischer Hinsicht. Die Begriffskombination "politi­ scher und philosophischer Absolutismus" scheint allerdings zwei ganz unterschiedliche Dinge zusammenzufassen. Absolutismus im politischen Sinn meint im allgemeinen ein historisches Phänomen, vornehmlich einen Typus streng autoritärer Regierung bei vielen Herrschern des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Theorie dieses politischen Absolu­ tismus betrachtet den Herrscher als mehr oder weniger über den Gesetzen stehend und durch göttliche Einsetzung oder einen ursprünglichen und unüberholbaren Gesell­ schaftsvertrag legitimiert. Der Herrscher als exzeptionelles Individuum versammelt und vertritt in seiner Person die wahren Interessen aller und versucht, die dictamina rectae rationis zu verwirklichen. Absolutismus im philosophischen Sinn hingegen soll hier, im Gegensatz zum Relativismus, eine verbreitete Tendenz philosophischer Theorien bezeichnen, eine angeblich absolute Evidenz, die unumstößliche Erkenntnis eines oder des Absoluten, zum Ausgangspunkt aller weiteren Erkenntnis zu machen. Der Philo-

Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus

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soph, der ein unerschütterliches Fundament für alle mögliche Erkenntnis entdeckt, ge­ winnt einen quasi-absoluten Standpunkt und damit Überlegenheit über alle andere Erkenntnis. So gesehen ähneln sich philosophischer und politischer Absolutismus schon formal in der Selbstbehauptung einer exzeptionellen, quasi absoluten Position. Darüber hinaus impliziert der politische Absolutismus nicht selten den Anspruch auf eine beson­ dere Erkenntniskraft des Herrschers, so wie umgekehrt die Behauptung besonderer Ein­ sichten nicht selten zur Rechtfertigung des Anspruchs auf besondere Machtvollkom­ menheiten dient. Die wahre Politik ist nur aufgrund wahrer Erkenntnis, und zwar höch­ ster und endgültiger Erkenntnis, möglich; insofern besteht ein im Grunde unverkenn­ barer Sachbezug zwischen dem Absolutismus im engeren politischen Sinn und dem Ab­ solutismus im weiteren philosophischen Sinn. Das Herrschaftswissen des politischen Souveräns impliziert einen elitären Wahrheitsanspruch ; der elitäre Wahrheitsanspruch des Philosophen legitimiert ihn tendenziell als Philosophenkönig. Wahrscheinlich enthält jede Philosophie neben relativistischen auch absolutistische Tendenzen. Fichte jedenfalls gehört zu den Philosophen, die expressis verbis von einer Urevidenz ausgehen und darin ihren festen Standpunkt finden; für ihn gibt es eine wahre Philosophie, die auch die Erkenntnis des wahren Staates impliziert. Aus seiner Sicht ist die faktische Politik nur unvernünftiges Chaos, das Reich der Vernunft ist erst noch zu etablieren, und zwar mit Hilfe der Wissenden oder der .Gelehrten". Dabei macht er, bei aller behaupteten Gewißheit der eigenen Erkenntnis, innerhalb der zwan­ zig Jahre seiner philosophisch-politischen Schriftstellertätigkeit (1793-18 13) eine Ent­ wicklung durch, die in vielem exemplarisch und anscheinend immer noch aktuell ist. Sie reicht (grob etikettiert) von der ersten Begeisterung für die Französische Revolution bis zum nationalen Freiheitskampf; der Philosoph entwickelt sich vom egalitären Ratio­ nalismus zum elitären Irrationalismus, vom Fürstenfeind zum Nationalromantiker, vom radikalen Aufklärer zum religiösen Geschichtsphilosophen. Die folgenden Skizzen setzen den geschichtlichen Rahmen als bekannt voraus und nennen Fichtes Anknüpfungspunkte nur beiläufig. Sie erstreben keine Darstellung sei­ ner Staatsphilosophie, sondern versuchen nur, eine einzige aufschlußreiche Perspektive herauszustellen, wobei es weniger auf die Einzelheiten als auf die immanente Sachlogik ankommt. Da Fichtes Entwicklung, wie immer sie zu verstehen ist (ob als prinzipiell oder als akzidentiell), ein besonderes Interesse verdient, geht die Darstellung zweck­ mäßigerweise chronologisch vor, obwohl sich so, weil Fichte immer wieder von ein und demselben Grundgedanken ausgeht, gewisse Wiederholungen nicht vermeiden lassen.1

1

Fichtes Schriften werden nach der von seinem Sohn Immanuel Hermann Fichte herausgegebenen

Ausgabe (1834/35 und 1845/46, Reprint 1971) mit Band und Seitenzahl zitiert. Die Literatur zu Fichte ten­ diert dazu, primär dessen theoretische Philosophie oder primär dessen politische Programme zu behandeln und

dann oft nur entweder seine frühen oder nur seine späten Vorstellungen, also entweder den .Jakobiner"

oder den .Nationalisten". Aus der neueren Fachliteratur seien hier nur folgende Arbeiten genannt: Hajo Schmidt, Politische Theorie und Realgeschichte. Zu Johann Gottlieb Fichtes praktischer Philosophie, Bonn

1978 ; Otto Dann, Johann Gottlieb Fichte, Die .Bestimmung des Gelehrten" in der Gesellschaft, in: Peter Alter, u.a. (Hrsg.), Geschichte und politisches Handeln, Stuttgart 1985. Zur Einführung vgl. Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Harnburg 1984.

224

2.

III. Nation· Wemer Schneiders

Der Priester der Wahrheit und der wahre Staat

2. 1 Politische Aufklärung und ursprüngliche Einsicht Fichte scheint sich ursprünglich als radikaler Aufklärer verstanden zu haben. Seine allerersten politischen Schriften zielen auf eine grundsätzliche Umwandlung der Gesell­ schaft durch Erweiterung der Bürgerrechte ( "Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens", 1793; "Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution", 1793/94). Noch ganz im Geiste der allgemeinen Richtung der deutschen Spätaufklärung nach 1789 verlangt Fichte in seiner "Zurück­ forderung der Denkfreiheit" (VI, 1 ff.), daß die Fürsten die notwendigen Reformen selbst vorantreiben und "Erleuchtung" um sich verbreiten sollen, und droht zugleich, wie viele andere Aufklärer auch, daß andernfalls Revolutionen unvermeidlich sein wür­ den. Obwohl er wenig später in seiner Vorlesung gesagt haben soll, in Buropa werde es bald keine Fürsten mehr geben, und er nicht zuletzt wegen seiner radikalen Diktion als Jakobiner galt, vertritt er im wesentlichen zunächst noch, ähnlich wie Kant, die Positionen der deutschen Reformaufklärung. Immer noch auf die Gutwilligkeit der Fürsten hoffend (die sich allerdings um Gerechtigkeit und nicht um das Glück ihrer Untertanen kümmern sollten), scheint Fichte seine eigene Aufgabe in der Volksauf­ klärung, d.h. in der Unterrichtung der Bürger über ihre Rechte und Pflichten, zu sehen. Nur durch zwangloses "allmähliches Fortschreiten zur grösseren Aufklärung", Denkfreiheit und Kultur kann die notwendige Änderung als eine Reform von oben, nämlich als eine "Befreiung ohne Unordnung" glücken. Die Voraussetzungen sind jedenfalls gegeben, da die Aufklärung "besonders in Deutschland" bereits große Fortschritte gemacht hat und "die mehresten der deutschen Fürsten sich durch guten Willen und Popularität auszuzeichnen suchen". Aber natürlich hält Fichte es auch für nötig, "die Aufklärung zu befördern und höher zu bringen" (VI, 3 ff., 9, 34). Anscheinend sucht Fichte, ähnlich wie Hölderlin und Hege!, schon früh nach einer höheren Aufklärung oder höheren Weltweisheit. Vor allem aber scheint er nach einer vollkommenen und endgültigen Aufklärung zu suchen, nicht nur nach apriorischen Prinzipien der politischen Philosophie im Sinne der praktischen Philosophie Kants, sondern auch im Sinne Descartes' nach einem sicheren Fundament für ein absolutes Wissen. Diese vollendete Aufklärung als sich selbst wissendes Wissen wäre das einzig wahre Wissen, das dann endlich auch richtiges Handeln ermöglichen würde. Dazu be­ darf es allerdings einer neuen und höheren Einsicht . Im Spätherbst 1793 hat Fichte, wie Descartes am warmen Winterofen, die sein Den­ ken fortan bestimmende Erleuchtung. Das Ich selber, nämlich das Ich qua Reflexion, d.h. das sich selbst wissende Wissen, ist der einzig sichere Ausgangspunkt einer Philosophie, die absolutes Wissen sein will. Die Philosophie, so verlangt er nun mit ähnlicher Wendung wie später Hege!, soll ihren Namen einer Suche nach Weisheit ablegen und endlich Wissenschaft werden; als Wissenschaft von der Wissenschaft soll "die sogenannte Philosophie" nun "Wissenschaftslehre" heißen. Das Programm dieser noch zu erstellenden Wissenschaftslehre wird dann mit atemberaubender Geschwindig­ keit in mehreren Abhandlungen skizziert und teilweise auch schon entwickelt. Dabei versteht sich Fichte zunächst noch als Vollender Kants, möchte aber bereits im An­ schluß an Reinhold die Philosophie als ein evidentes wissenschaftliches System aus einem Grundsatz etablieren. Philosophie ist absolute Wissenschaft oder soll es doch

Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus

225

werden. Zwar führt Fichte den Begriff der Wissenschaftslehre in seiner Programm­ schrift von 1794 " Über den Begriff der Wissenschaftslehre" (1, 27 ff.) noch "hypo­ thetisch" ein, doch ist er bereits überzeugt, "durch einen glücklichen Zufall", wie es hier noch heißt, den einen Grundsatz gefunden zu haben, auf den sich das gesamte Ver­ nunftsystem der Wissenschaft bauen läßt; und auch er denkt dabei, wie Descartes, an Arehirnedes (3 1, 38 ff., 46). In diesem vorerst nur geforderten absoluten Prinzip müs­ sen, da es von nichts abhängig sein darf, Form und Inhalt zusammenfallen; daher kann es, wie Fichte andeutet, nur die reflexive Intelligenz als das sich selbst wissende Ich sein (70 ff.). Das sich selbst anschauende und ergreifende, sich selbst konstituierende oder setzende Ich ist sich selbst die absolute Evidenz, von der jede weitere Erkenntnis ausgehen muß. Die Suche nach einem schlechthin unbedingten Grundsatz als oberstes Systemprinzip führt also auf die Tatsache des "Ich bin" bzw. "Ich bin ich", d.h. auf das empirische Bewußtsein, in dem dann die reflektierende Abstraktion - in einem Urakt der Selbst­ anschauung - das transzendentale Bewußtsein entdeckt, d.h. das sich selbst setzende Ich als Tathandlung oder das reine Ich als das Ich überhaupt, die Ichheit oder das absolute Ich. Fichte versucht, das von Kant kritisch als Bedingung der Gegenstandskonstitution (Erscheinung) erschlossene transzendentale Ich zu einem unmittelbar evidenten und zumindest in diesem Sinne absoluten Deduktionsprinzip zu erheben. Das Ich, das sich, wenn es da ist, immer schon als seiner selbst bewußtes Selbstbewußtsein konstituiert und sich dabei selbst offenbar ist, ist eine sich selbst jederzeit bestätigende Urevidenz. Die Einsicht in diese ursprüngliche Ichheit, aus der das Ich wie das Nicht-Ich durch Setzung entstehen oder abzuleiten sind, ist selbst keines Beweises mehr fähig und bedarf auch keines Beweises; sie ist vielmehr jedermann zuzumuten. "Diese in­ tellectuelle Anschauung ist", wie Fichte in seiner "Zweiten Einleitung in die Wissen­ schaftslehre" von 1797 erklärt, "der einzige feste Standpunct für alle Philosophie" (1, 466, vgl. 45 1 ff.). Die Philosophie ist zu einer neuen, postkritischen spekulativen Metaphysik geworden.

2.2 Der Lehrer des Menschengeschlechts und der gegenwärtige Staat Wie immer das absolute Wissen, zu dem sich die höhere Aufklärung nun zu erheben versucht, näherhin zu verstehen sein mag, schon die bloße Behauptung bzw. Selbstbe­ hauptung einer solchen Einsicht hat unmittelbare praktische, nicht zuletzt auch poli­ tische Konsequenzen. Der Kritiker des alten Absolutismus wird zum Theoretiker eines neuen, philosophisch-politischen Absolutismus; der radikale Demokrat wird elitär und anti-egalitär. Die Wissenschaftslehre erweist sich, kaum konzipiert, als ein neues meta­ physisches Herrschaftswissen, sie tendiert zum aufgeklärten Absolutismus. Dabei ent­ spricht das neue philosophische Selbstbewußtsein des Wissenschaftslehrers durchaus dem persönlichen Selbstbewußtsein Fichtes. Dieser wendet sich noch 1794 ohne den Abschluß der Grundlegung der neuen abso­ luten Wissenschaft abzuwarten - wieder der Politik zu, nun allerdings unter neuen dogmatischen Voraussetzungen. In der Schrift "Die Bestimmung des Gelehrten" von 1794 (VI, 289 ff.), deren Titel noch deutlich an Denktraditionen der deutschen Auf­ klärung anknüpft, entwickelt er seine ersten Ansätze zu einer neuen politischen Phi­ losophie, nämlich seine Idee von einer wahren Gesellschaft unter Leitung der wahren -

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III. Nation· Wemer Schneiders

Wissenschaft. Offensichtlich hält er das theoretische Gebiet der Philosophie bereits für "erschöpft" und sucht nun von der Freiheit des Individuums, dem letzten Erklärungs­ grund allen Bewußtseins, einen Weg zur wahren Freiheit aller in der Gemeinschaft (303 f.). Dabei geht er von der allgemeinen Bestimmung des Menschen aus, mit seinem eigenen reinen Ich identisch werden zu sollen. In dem Prozeß der individuellen, vor allem aber der kollektiven Selbstwerdung ist dann die Kultur das höchste Mittel zur sittlichen "Veredelung" der Menschen, und daraus ergibt sich die Rolle des Staates wie des Gelehrten im Rahmen der Weltgeschichte qua Weltkulturgeschichte. Die Gesellschaft dient der Vervollkommnung des einzelnen wie der Gattung, ohne Gesellschaft ist keine Vollendung möglich. Höchstes Ziel ist daher die Einigkeit oder Einmütigkeit aller. Das aber kann der Staat als bloßer Rechtsstaat nicht leisten; denn der Staat "gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen", sondern ist "ein nur unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur Gründung einer vollkom­ menen Gesellschaft" (VI, 306; vgl. 3 10). Angesichts eines neuen und höheren, mora­ lisch und emotional gesteigerten Ideals von wahrer Gemeinschaft reduziert sich die faktische politische Rechtsgemeinschaft auf eine vordergründige Veranstaltung zum bloßen Überleben (anstelle des guten Lebens, aristotelisch gesprochen), während die neuzeitliche Unterscheidung von Recht und Moral für die vollkommene Gesellschaft tendenziell wieder rückgängig gemacht wird. Zugleich wird die Unterscheidung zwischen zwei ganz unterschiedlichen Gesellschafts- oder Gemeinschaftsformen (die man als Interessengesellschaft und Willensgemeinschaft, als Rechts- und Tugendstaat oder als Staat und Kirche usw. charakterisieren könnte) dadurch relativiert, daß diese verschiedenen Vergesellschaftungen in ein instrumentales und historisches Verhältnis zueinander gesetzt werden, wobei die Differenz zwischen Ideal und Realität aus einer prinzipiellen in eine graduelle bzw. historisch überholbare und instrumentalisierbare umgedeutet wird . Der faktische Staat ist nur ein Provisorium, ein Zwischenstadium auf dem geschichtlichen Weg zur vollkommenen Gemeinschaft. Daher muß er auf seine eigene Vernichtung ausgehen, die Regierung muß sich überflüssig machen; erst wenn alle Menschen absolut vollkommen sind, wird es "wahre Menschen" geben (VI, 306 ff.). Damit antizipiert Fichte, in der Nachfolge alten Schwärmertums, auch moder­ ne anarchistische Tendenzen, die das Absterben des Staates erwarten. Indem er eine allgemeine absolute Gemeinschaft erstrebt, relativiert er den bestehenden Staat mehr denn je; an die Stelle des Staates tritt durch eine quasi-religiöse Staatsnegation eine Art weltlicher Kirchenersatz, eine säkularisierte Gemeinde als höchste denkbare Gemein­ schaft. Es muß noch eine höhere allgemeine menschliche Gemeinschaft als die staatli­ che geben, und zwar hier auf Erden - eine utopische Theorie, die irgendwann einmal nach Verwirklichung schreien wird. Allerdings, so erklärt Fichte hier: "Jetzt ist der Zeitpunct sicher noch nicht" (306). Aus dieser Grundeinstellung ergibt sich auch die Rolle des Gelehrten, insbesondere also des Philosophen. In der Gesellschaft muß es viele Stände geben, und jeder notwen­ dige Stand, der aus der Entfaltung einer bestimmten Anlage entspringt, läßt sich apriorisch, "mit einem durch Philosophie geläuterten Blicke", aus den "wahren" Bedürfnissen des Menschen ableiten. Der Stand des Gelehrten aber ist, mehr als ir­ gendein anderer Stand, für die Gesellschaft da. Er ist sozusagen - wie später bei Regel der Stand der Beamten oder bei Marx die Klasse der Proletarier - ein universaler oder absoluter Stand. Der Gelehrte ist der "Lehrer des Menschengeschlechtes", er muß die anderen "zum Gefühl ihrer wahren Bedürfnisse bringen, und sie mit den Mitteln ihrer

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Befriedigung bekannt machen". Die anderen hingegen müssen aufgrund ihres Wahrheitsgefühls dem Gelehrten vertrauen; denn kontrollieren können sie ihn natürlich wegen ihrer Borniertheit nicht, und Gelehrte aus ihnen machen zu wollen, wäre "un­ möglich und zweckwidrig" (VI, 324 ff., 330 f.). Damit restituiert Fichte den aufgeklär­ ten Absolutismus des 18. Jahrhunderts auf neuer Ebene und nimmt dabei zugleich gewisse Tendenzen der dogmatischen Aufklärung auf; blinde Volksmassen und intellek­ tuelle Machtelite scheinen sich wieder als feste Gegensätze entgegenzustehen, der Phil­ osoph als praeceptor humani generis garantiert den Fortschritt durch Wissenschaft. Aber wie die meisten Aufklärer hält Fichte (wohl unter Kants Einfluß) hier noch an absoluter Freiwilligkeit als Bedingung echter Selbstvervollkommnung fest. Die absolute Erkenntnis des Gelehrten legitimiert noch keine Erziehungsdiktatur: "Er darf kein ver­ nünftiges Wesen wider seinen Willen tugendhaft oder weise oder glücklich machen" (309). Fichtes merkwürdig abstrakte und im Grunde unpolitische Weltverbesserungstheorie impliziert eine absolutistische Geschichtsphilosophie, die zunächst allerdings noch sehr vage bleibt. Die Weltgeschichte ist eine Fortschrittsgeschichte, allgemein als Kulturge­ schichte und insbesondere als Staatsgeschichte. Absolutes Wissen vorausgesetzt, lassen sich die Stufen der Kultur und damit der "Gang des Menschengeschlechts" im Prinzip a priori berechnen. Derjenige, der das höchste Wissen hat, der Gelehrte, sollte daher "die oberste Aufsicht über den wirklichen Fortgang des Menschengeschlechtes im allgemeinen und die stete Beförderung dieses Fortganges" wahrnehmen (VI, 328; vgl. 324 ff.). In concreto bedeutet dies, der Gelehrte muß den anderen im geschichtlichen Prozeß der Erkenntnis "immer zuvor seyn" (329). Die Bestimmung des Gelehrten, des "höchsten wahrsten Menschen", ist es, die Avantgarde "in allen Stücken der Cultur", das "Salz der Erde", zu sein (333, vgl. 293 f.); er sollte zumindest auch der "sittlich beste Mensch" seiner Zeit sein. Und es gehört zur unvermeidlichen Logik einer solchen absolutistischen Politiktheorie, daß ihr Autor zur Spitze dieser Elite gehören muß. Die Kultur der Menschheit und deren Fortgang sind nicht zuletzt Fichte selbst "anvertraut", und zwarwie es scheint, jetzt schon von Gott selber. "Ich bin dazu berufen, der Wahr­ heit Zeugnis zu geben[...] Ich bin ein Priester der Wahrheit" (333).

2.3 Der Philosophenkönig und die Gemeinde der Heiligen In den Jahren nach 1794 hat Fichte seine Grundkonzeption der Philosophie und der Politik sowie ihres Verhältnisses in verschiedenen Hinsichten weiterentwickelt und dabei auch gelegentlich andere Akzente gesetzt. Hier seien nur zwei Punkte hervorge­ hoben : erstens die Erweiterung und Historisierung des Staatsbegriffs, zweitens das Problem der Etablierung des philosophischen Herrschers. Beide Fragen tauchen z. B. im "System der Sittenlehre" von 1798 auf (IV, 1 ff.), in dem der Ausgangspunkt die absolute Identität von Subjekt und Objekt im Ich qua Vernunft und Freiheit ist. Das Sittengesetz verlangt die vollständige Realisierung dieser Vernunft und Freiheit, die sogenannte "Verschmelzung [ ... ] in die absolut reine Vernunftform oder in Gott". Kurz: "Erfülle jedesmal deine Bestimmung" (IV, 150 f.). Zu diesem moralischen End­ zweck gehört "ein ethisches Gemeinwesen", auch Kirche genannt, und damit die ge­ meinsame Aufgabe, die Sinnenwelt nach dieser Idee zu gestalten, d.h. die "Herrschaft der Vernunft" mit Hilfe der selbständigen und gebildeten vernünftigen Menschen zu

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III. Nation· Wemer Schneiders

etablieren (233 ff., 348). Voraussetzung ist der Staat. Das Sittengesetz selbst befiehlt (ähnlich wie bei Kant), einen Staat zu bilden und daher zunächst einmal einen Staatsvertrag als Übereinkunft über die gemeinsamen Rechte zu schließen; der Staat ist "die Gemeinde, die übereingekommen ist", den "präsumtiven allgemeinen Willen" vertritt und gemeinsames Handeln ermöglicht. "Auf diese Weise entsteht ein Nothstaat; die erste Bedingung des allmählichen Fortschreitens zum Vernunft- und rechtsgernässen Staate" (238, vgl. 233 ff.). Damit ist noch einmal, und zwar verschärft, gegen die Staatstheorie der Aufklärung die Unterscheidung zwischen einem Not- und Verstandes­ staat einerseits und dem wahren Vernunftstaat andererseits gemacht. Der Notstaat ist nur ein historisches Zwischenstadium auf dem Weg zum Heilsstaat, und zwar (aus der Sicht der noch unentfaltet vorausgesetzten teleologischen Heilsgeschichte) ein Mittel zum Zweck. "Ich muss den gegenwärtigen Zustand des Nothstaates betrachten, als ein Mittel, den Vernunftstaat hervorzubringen, und lediglich zu diesem Ziele handeln" (239). Damit beginnt die Idee eines absoluten Endstaates ihre Aktualität zu zeigen. Der ge­ genwärtige Staat muß radikal weiterentwickelt werden, allerdings (ganz in der Tradi­ tion des großen Trends der deutschen Aufklärung) mit weiser Vorsicht. Für radikale Änderungen genügen nämlich keine bloßen Privatüberzeugungen von der Rechts- und Vernunftwidrigkeit des gegenwärtigen Staates, der Staat darf nur umgestürzt werden, wenn sicher ist, daß "die Gemeine es will"; dann Sällt der Nothstaat von selbst um", nämlich dann, wenn, wie immer das sichtbar werden mag, alle gegen ihn sein werden (IV, 240; vgl. 238 ff.). Mit dem Entstehen des Vernunftreiches aber verschwindet sogar der Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten, und es bleibt nur noch "die Darstellung des reinen Ich, das Ganze der vernünftigen Wesen, die Gemeine der Heiligen" (253, 255). Allerdings konterkariert Fichte diese anarchistisch-utopische Vision einer Heilsgeschichte, indem er zugleich zu konkreter Arbeit und Reform im gegenwärtigen Staat auffordert und damit auch seine eigene Tätigkeit als beamteter Philosoph rechtfertigt. Ich darf mich nicht aus einem Staatsamt zurückziehen, "denn es ist besser, dass die Weisen und Gerechten regieren, als dass. die Unweisen und Unge­ rechten herrschen" (239). Die Differenz zwischen Gelehrten und Ungelehrten und damit der Status wie die Etablierung des Gelehrten als Weiser und Herrscher bleiben allerdings problematisch ­ offenbar gehören die Fragen nach der Legitimation des Anspruchs auf den Besitz der richtigen Vernunft und nach der genauen Verknüpfung von Macht und Wissen oder Herrschaft und Weisheit in jeder Theorie über Vernunftherrschaft (Epistemokratie, Philosophenregiment usw.) zu den besonders heiklen Fragen. 2 Schon zwei Jahre nach

2

Während Fichte dem Gelehrten ursprünglich noch etwas undifferenziert Erziehungs-, Aufsichts- und

Leitungsfunktion zuschrieb, neigt er in der Schrift .Grundlage des Naturrechts" von 1796 (III, 1 ff.) anscheinend zu einer grundsätzlichen Trennung von .Ephorat" und Exekutive (16, 160 ff.). In der .Sittenlehre" von 1798 scheint er jedoch (mit Einschränkungen) zu einer direkteren Machtausübung der Philosophen zu tendieren. Zunächst unterscheidet er zwischen den ungebildeten, niederen Volksldassen, die die Natur bearbeiten, und den gebildeten, höheren Volksldassen, die die Gesellschaft zu einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen formieren. Diese zerfallen in: l. die Gelehrten im engeren Sinne, die für ein gelehrtes Publikum an der Erkenntnis arbeiten; 2. die Volkslehrer, die durch die Kirche und ihre Symbole auf den

Willen der Ungelehrten einwirken; 3. die Staatsbeamten, die sich in konkreter Politik und Verwaltung um die Rechtsverhältnisse kümmern . Auch sie müssen, wenigstens im Prinzip, das gottgewollte Ziel der Geschichte, den Vemunftstaat, kennen. Fichte proklamiert, obwohl er Platons 7. Brief kritisiert, unwillkürlich so etwas

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seiner Sittenlehre versucht Fichte, die Position des Philosophen im Hinblick auf die Praxis und damit auch seine eigenen politischen Ansprüche vorsichtig aufzuwerten. Seine 1800 erschienene Schrift "Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik" (111, 387 ff.) zielt darauf ab, dem erdachten Vernunftstaat nun auch eine ökonomische Basis zu geben. Sie proklamiert eine total verstaatlichte Gesellschaft mit funktional unter­ schiedlichen Ständen.3 Auf der einen Seite gibt es den Nährstand, auf der anderen Seite den Lehr- und Wehrstand sowie die Regierung. Darüber hinaus unterscheidet Fichte je­ doch innerhalb der politischen Klasse den spekulativen und den ausübenden Politiker und erklärt: "dass der ausübende Politiker zugleich auch ein speculativer Philosoph sein könne - vielleicht auch das umgekehrte Verhältnis stattfinde, ergiebt sich von selbst" (39 1, vgl. 389, 403 ff.). Offensichtlich steht er (wie schon Platon) vor dem Problem, ob es eine Personalunion zwischen Philosoph und Politiker geben könne oder solle, und wenn ja, von welcher Seite her sie zu erwarten sei. Politik ist weder bloße auf den wirklichen Staat bezogene Regierungswissenschaft, noch auf den reinen Ver­ nunftstaat bezogene philosophische Staatstheorie; sie vereinigt Theorie und Praxis, nämlich "Wissenschaft" und "Kunst", um den Vernunftstaat allmählich herbeizuführen (398). Und diese Transformationswissenschaft und -technik soll den Philosophen offen­ sichtlich nicht a priori abgesprochen werden. Um 1800 ist Fichtes Position weitgehend festgeschrieben. Es gibt einen Notstaat und darin Gelehrte und Ungelehrte; zur Erreichung des höheren Vernunftstaates bedarf es der Erziehung und der Leitung der Ungelehrten durch die Gelehrten- sei es, daß diese direkt, sei es, daß sie indirekt herrschen. Ganz formal gesehen, hat Fichte an dieser Theorie auch immer festgehalten. Vernunft soll, in Form von Wissen, auch politisch herrschen. Allerdings hatte er schon vor 1800 begonnen, seine ursprüngliche philosophische Position neu zu interpretieren, nämlich zu ergänzen und insofern zu modifizieren und zu korrigieren, was dann auch, zumal neuartige Erfahrungen hinzu­ kamen, bei aller formalen Prinzipientreue zu wichtigen Veränderungen seiner politi-

wie ein arbeitsteiliges Philosophenkönigtum Es könne kein Fürst regieren, der nicht der Ideen theilhaftig sey, sagt Plato: und dies ist gerade dasselbe, was wir hier sagen" (357, vgl. 239). Allerdings sind die politisch praktizierenden Philosophen nicht die wahre geistige Spitze des Staates. Die eigentlichen Philosophen sind nur die Gelehrten im engeren Sinne, und diese erziehen die Lehrer und die Staatsbeamten. In ihrer gelehrten Republik herrscht (sozusagen 'innerparteiliche') absolute Demokratie; hier gilt nur das .Recht des geistig Stärkeren". Und damit soll sich dann auch, nahezu prädarwinistisch, das Problem der Wahrheit, auf die zunächst viele Anspruch machen, lösen; die Zeit und der Fortgang der Kultur werden die Wahrheit ans Licht bringen (251, vgl. 248). Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Ob damit allerdings dem gegenwärtigen Bedürfnis, zu wissen, wer das wahre Herrschaftswissen besitzt, Genüge getan ist, dürfte zweifelhaft bleiben. 3 Dazu muß der Staat ökonomisch dicht gemacht werden, denn die Schließung des Staates ist der einzige Weg von der realen Anarchie des freien Handels zur totalen Ordnung des Staates der Vernunft. Der Staat ist eine rechtliche und wirtschaftliche Einheit; nur als so geschlossene Gesellschaft kann er seine Bestimmung erfüllen und jeden in sein Eigentum einsetzen (III, 399). Allerdings verlangt die Selbstisolierung die Schaffung natürlicher Grenzen (480 ff.). Erst dann kann der Staat eine rigorose Ordnungspolitik mit Produktionsplänen und Produktionsnormen, gelenkter Berufswahl und numerus clausus für alle Stände durchführen. Mit der freien Wirtschaft aber enden auch die Reisefreiheit und die freie Kommunikation. Es entsteht ein Polizeistaat, der die Visionen und Realisationen eines totalitären Staates des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, von Fichte aber, als ob er nie für größtmögliche individuelle Freiheit eingetreten wäre, mit geradezu fanatischem Rationalismus als Vernunftstaat gefeiert wird. .



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sehen Philosophie, fast bis zu deren Verkehrung in ihr Gegenteil, führte. Insofern er­ scheint "Der geschlossene Handelsstaat" schon verspätet. Soviel ist jedenfalls klar: Fichte unterscheidet, wie Platon und dessen Nachfolger, prinzipiell Wissende und Unwissende, philosophische und unphilosophische Naturen, und die "Gelehrten" sind allein fähig sowie moralisch berechtigt und verpflichtet, die anderen Menschen zu lei­ ten. Sie besitzen eine metaempirische Erkenntnis, die den meisten Menschen und damit dem sogenannten gesunden Menschenverstand versagt bleibt . Zur philosophischen Er­ kenntnis und damit zur richtigen Staatsführung bedarf es daher der Vernunft, d.h. eines metaphysischen Organs, das zwar potentiell allen Menschen zuzusprechen ist, faktisch aber nur bei ganz wenigen ausgebildet ist - sei es durch besondere intellektuelle oder moralische Anstrengungen, sei es durch Erziehung, durch Zufall oder wie durch ein Wunder, also durch Gnade. Ähnlich wie Schiller politisiert und historisiert Fichte die von Kant übernommene, aber schon metaphysisch aufgewertete Unterscheidung von Verstand und Vernunft. Mit Hilfe seiner Vernunft erkennt der Philosoph, wie der Staat eigentlich sein soll, d.h. er erkennt den wahren Staat. Dieser Vernunftstaat aber ist (im Unterschied zum gegenwärtigen Not- und Verstandesstaat) nicht immer schon möglich, er ist vielmehr ein geschichtlich noch bevorstehendes Reich der Vernunft, das mit Hilfe der Philosophen herbeigeführt werden soll - wobei die Pluralität der Philosophen noch ein besonderes Problem bildet. Wie findet man in der gelehrten Republik, wenn diese eine absolute Demokratie sein soll, die wahren Philosophen und Staatslenker bzw. den wahren Philosophenkönig? Das eigene Wahrheits- und Elitebewußtsein kollidiert un­ vermeidlich mit dem der anderen, und der Hinweis auf die Weltgeschichte als das Weltgericht nutzt heute nicht viel; denn natürlich werden, wie Fichte später selber sagt, viele Propheten kommen.

3.

Heilsgeschichte und Zwangstherapie

3. 1 Der Gottbegeisterte und die Weltgeschichte Noch vor der Jahrhundertwende macht Fichte eine wichtige Wandlung durch. Nachdem er 1798 in den Verdacht des Atheismus geraten war, entpuppt er sich plötzlich als der eigentlich religiöse Mensch. Nun erweist sich das absolute Ich, das erste Prinzip, aus dem alles deduziert werden sollte, selbst als sekundär, nämlich wie alle Welt nur als ein Moment oder eine Emanation Gottes. Wie immer man diese Revision der Grundla­ gen deuten mag (ob als "Ergänzung", "Entwicklung" oder "Kehre"), Gott wird nun ­ unter verschiedenen Aspekten - expressis verbis zum Thema und Ausgangspunkt der Philosophie Fichtes. Dabei behauptet dieser, trotz gewisser Relativierungstendenzen, seinen absoluten Standpunkt unverändert, ja mehr denn je. In der Schrift "Anweisung zum seligen Leben" von 1806 (V, 397 ff.) begreift er das eigene Wissen jetzt als Selbstreflexion Gottes und damit als Erkenntnis, die den Punkt der Verwandlung des Einen in das Viele erfaßt (448 f., 462, 472). Damit wird das Absolute selber zum Ausgangspunkt aller wahrhaften Erkenntnis. Insofern konsolidiert Fichte seinen abso­ luten Standpunkt sozusagen noch durch einen absoluten Bezugspunkt außerhalb des absoluten Ich; sein absoluter Standpunkt ist jetzt der Intention nach der Standpunkt des Absoluten. Und wie auch andere, die Anspruch auf ein besonderes Wissen machen, kann er sich diese seine besondere Erkenntnis nur als eine besondere Gnade erklären:

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"Wie durch ein Wunder finden, durch Geburt und Instinct, einige Begeisterte und Begünstigte, ohne ihr eigenes Wissen, sich in einem höheren Standpuncte der Welt­ ansicht; welche nun von ihrer Umgebung ebensowenig begriffen werden, als von ihrer Seite sie dieselbe zu begreifen vermögen" (465). Die Tieferlegung der Fundamente der theoretischen Philosophie hat auch Folgen für die Staatstheorie; der politische Absolutismus nimmt wie der philosophische eine neue, im Grunde allerdings alte Gestalt an. Politik wird nach einer längeren Zeit kritischer Reduktion des Staates, der immer schon von Gottes Gnaden zu sein beanspruchte, erstmals wieder zur direkten Religionsausübung; es beginnt eine Refundamentalisierung der Politik gegen die säkularisierte Politiktheorie der Aufklärung, ein Remythisierung des seit Hobbes im allgemeinen entmythisierten Staates. Jetzt wird der Staat (auch der real existierende) endgültig in den Heilsplan Gottes, in die Weltgeschichte als Heils­ geschichte, eingeordnet. Auch der Staat muß, wie der "religiöse Mensch", in Gott und aus Gott erkannt werden und leben. Folglich geht Fichte in der neuen Fassung seiner Vorlesung über den Gelehrten, "Ueber das Wesen des Gelehrten" von 1805 (VI, 347 ff .), nun direkt von Gott aus, genauer gesagt, von der Erkenntnis Gottes und insofern "vom höchsten Standpuncte der absoluten Wahrheit" (350, vgl. 364); der Philosoph erkennt "die Dinge, so wie sie an sich sind, d.i. [... ] wie Gott sie denken müsste, falls ihm ein Denken beizulegen wäre" (392, 428 f.). Einschränkend heißt es dann al­ lerdings, die Gelehrsamkeit sei das Mittel zur Erkenntnis des erkennbaren Teiles der göttlichen Idee, und gleichzeitig wird diese Relativität der Erkenntnis als eine histori­ sche verstanden. "Die ursprüngliche göttliche Idee von einem bestimmten Standpuncte in der Zeit lässt grösstentheils sich nicht eher angeben, als bis der von Gott begeisterte Mensch kommt, und sie ausführt" (368). Doch wird diese Tendenz zur historischen Relativierung sogleich wieder durch den Anspruch auf eine apriorische Konstruktion der Geschichtsepochen aus dem Absoluten konterkariert; der Philosoph, der die göttliche Idee liebt und von Gott ergriffen ist, muß Gottes Gedanken nachbegreifen und in die Welt einführen (43 1, 356, 372, 393, 428). Der wahre Philosoph ist Theoretiker und Praktiker zugleich: "Niemand sollte in die eigentliche Leitung und Anordnung der menschlichen Angelegenheiten eingreifen, der nicht ein Gelehrter im wahrhaften Sinne des Wortes wäre, d.h. der nicht durch gelehrte Bildung der göttlichen Idee theilhaftig geworden" (354).4 Der wahre Staatsmann ist die unmittelbarste Erscheinung Gottes in der Welt; sein Blick vereinigt die Teile und das Ganze, Ideal und Wirklichkeit. Er erkennt die Dinge, wie sie an sich sind; d.h. "was sie im göttlichen Begriffe sind" (423, vgl. 421). Die wahre Erkenntnis ist daher letztlich Erkenntnis Gottes, wahre Politik ist praktizierte Heilslehre. Zwar haben nicht alle Zeiten "wirkliche Regenten" (42 1), letztlich aber kann der Regent sein Geschäft, 4 Zwar macht Fichte eine Unterscheidung, die auf eine stärkere Trennung von Theorie und Praxis, Philosophie und Politik hinausläuft. Er unterscheidet nämlich zwei Arten von Gelehrten, Lehrer der Wissenschaft und Gesetzgeber: 1) solche, die selbständig und nach eigenem Begriff die menschlichen Angelegenheiten leiten- dies sind die Könige oder die Räte des Königs; 2) solche, die die Erkenntnis der göttlichen Idee fördern, erhalten und verbreiten- diese sind die Philosophen als Lehrer. Aber: .Keiner kann wahrhaft das Erste seyn, ohne erst das Zweite gewesen zu seyn, und ohne es fortdauernd zu bleiben" (VI, 416). Die Theorie geht der Praxis voran, der Philosoph bleibt dem Staatsmann vorgeordnet, wobei Perso­ nalunion nicht ausgeschlossen ist. Offensichtlich möChte Fichte einerseits Anspruch auf höchste politische Kompetenz erheben, andererseits sich aber auch die Möglichkeit des Rückzugs in die reine Philosophie sichern.

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III. Nation

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seinen "göttlichen Beruf", ohne Religion nicht mit gutem Gewissen betreiben (425). Im Grunde genommen ist also der gesuchte Philosophenkönig, wie schon bzw. noch bei Platon, Priesterkönig. Der letzte Quell der Wahrheit ist der Philosoph, der sich selber als Diener Gottes oder Organ des Absoluten erkennt; er ist "ein Priester der Wissen­ schaft, der neue Priester ihr zu weihen gedenkt" (437). Offensichtlich ist Fichte selbst ein solches gottbesessenes "Genie", dem nur noch der unmittelbare Zugang zur politi­ schen Praxis fehlt. In seinen 1804/05 gehaltenen und 1806 veröffentlichten Vorträgen über "Die Grund­ züge des gegenwärtigen Zeitalters" (VII, 1 ff.) entwickelt Fichte seine Staatslehre in aktualisierter Form, als Zeitanalyse im Rahmen einer Geschichtsphilosophie. Selbstver­ ständliche Voraussetzung ist auch hier seine Gottesgewißheit, die den Anspruch auf eine prinzipielle Erkennbarkeit des Absoluten impliziert. Da Gott auch der Urheber der Geschichte ist, muß diese wie letztlich alles in der Welt - entsprechend ihrem Ursprung aus der absoluten Vernunft - teleologisch verstanden werden. Fichte muß daher eine Art metahistorischen Standpunkt beanspruchen; er muß, frei und möglichst "über alle Zeit erhaben", nach der Feststellung des Anfangs der Geschichte, durch die Antizipa­ tion des Endes der Geschichte den "Weltplan" zu erkennen versuchen, um so die eigene Gegenwart wahrhaft erkennen zu können (77, vgl. 4 ff., 13 ff., 77). Die Geschichte beginnt mit Gott und führt zu Gott. Ihr unmittelbarer Zweck aber ist es, daß die ganze Menschheit "alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte" (VII, 7). Unter der Voraussetzung, daß die Geschichte in erkennbare, durch einen Grundbegriff oder ein Prinzip bestimmte Epochen zerfallt, läßt sich jede Epoche nun durch ihr Verhältnis zur Vernunft charakterisieren; Geschichte wird, wie fast gleichzeitig bei Regel, zur realen Begriffsentwicklung oder Prinzipiendialektik. Ihre konkrete Einteilung ergibt sich für Fichte (wie auch für andere Geschichtsphilosophen und -theologen) mit einer gewissen Logik erstens daraus, daß sich ihr Interpret selbst zwischen Anfang und Ende der Geschichte positionieren und folglich ein Dreistufen­ schema bzw. (mit zwei Zwischenstufen) ein Fünfstufenschema entwickeln muß; und zweitens daraus, daß er (wie fast alle Geschichtsphilosophen und-theologen) mit einer gewissen Logik erstens daraus, daß sich ihr Interpret selbst zwischen Anfang und Ende der Geschichte positionieren und folglich ein Dreistufenschema entwickeln muß; und zweitens daraus, daß er (wie fast alle Geschichtsphilosophen und -theologen) einen gewissen inhaltlichen Fortschritt annehmen muß, und zwar einen dialektischen, der ­ nach dem Vorbild des Sündenfallmodells- durch einen absoluten Tiefpunkt zu einem absoluten Höhepunkt führt. Demnach beginnt die Geschichte für Fichte mit einer Art Identität von Vernunft und Instinkt, der auf der zweiten Stufe durch äußere Autorität ersetzt wird, bis sich dann auf der dritten Stufe der Mensch bzw. die Vernunft von allen Bindungen befreit und der Willkür überläßt; danach geht es wieder aufwärts über das Zwischenstadium der Vernunftwissenschaft zum "Stand der vollendeten Recht­ fertigung und Heiligung" ( 1 1 f.), zum Zeitalter der Vernunftkunst An dieser Geschichtsgliederung ist vor allem zweierlei interessant. Erstens, daß die Aufklärung nun schon völlig negativ gewertet wird, nämlich als Zeitalter der bloßen Kritik und Neuerungssucht, der Wertblindheit und falschen Freiheit; Selbstdenken verfällt wieder einmal dem Verdacht der Willkür oder Beliebigkeit. Als dritte Ge­ schichtsepoche ist die Aufklärung sogar das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit. Offensichtlich zählt sich Fichte selber - gerade zehn Jahre nach seinem Versuch, die Aufklärung politisch zu radikalisieren und philosophisch höher zu bringen - nun nicht

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mehr zur Aufklärung; er betrachtet sie als ein im Prinzip bereits abgeschlossenes Zeit­ alter. Daraus ergibt sich zweitens, daß Fichte glaubt, durch seine Überwindung der auf­ klärerischen Verstandesphilosophie bereits in der Wende zum Zeitalter der Vernunft zu stehen. Da seine Wissenschaftslehre absolute Vernunftwissenschaft zu sein bean­ sprucht, muß er "gerade in dem Mittelpuncte der gesammten Zeit" stehen (VII, 18), eigentlich sogar schon an der Schwelle zur letzten Geschichtsepoche überhaupt; nur so kann er die kommende Vollendung antizipieren. Oder anders herum: er kann sich nur aufgrund seiner Antizipation am Anfang des Endes positionieren. Von diesem ausge­ zeichneten Standpunkt aus kann er dann, ähnlich wie später Hegel und Marx, historisch privilegiert - wenn schon nicht aufgrund seines unmittelbaren Zugangs zu Gott - den ganzen Weltlauf überblicken ( 13 f., 18, 77). Allerdings muß er, wie alle eschatologi­ schen Geschichtstheologen und -philosophen, für die Verifikation seiner Antizipation (Prophetie) auf die Zukunft vertrösten und zugleich für eine self-fulfilling prophecy arbeiten. Die absolutistische Geschichtsphilosophie eröffnet (nach ihrem eigenen Selbstver­ ständnis) nun auch die Möglichkeit, wenn schon nicht zu eigenem historisch richtigem Handeln, so doch zur Erkenntnis des vorhandenen Ansatzpunktes einer geschichtlich wahren Politik. Nachdem Fichte zunächst durch seine Wissenschaftslehre bzw. die da­ rauf basierende Philosophie der Praxis eine Metaphysik der Politik begründet hat, kann er diese nun durch die Geschichtsphilosophie ergänzen, die auch eine Metaphysik der politischen Geschichte ist und als solche zugleich eine neue Eschatologie, die zum letzten Handeln aufruft. Zunächst war der Not- und Verstandesstaat der Aufklärung, der Staat der Vertragstheorien, nur programmatisch oder systematisch, also in der Theorie, durch einen höheren Staat überboten worden, nämlich durch den Vernunft­ staat, der nicht mehr nur Rechtsstaat, sondern vor allem Tugendstaat ist, letztlich sogar ein Heilsstaat, eine Kirche der Heiligen. Jetzt aber ist auch geschichtlich, also in der Praxis, der revolutionäre Weg vorgezeichnet, der von der bloßen Verstandesphiloso­ phie der Aufklärung zur Vernunftphilosophie des Deutschen Idealismus führt, und damit auch der Weg der Umwandlung des bisherigen Notstaates in einen Heilsstaat. Die neue Politik, die auf diesen zukünftigen Staat ausgerichtet sein muß, ist eine historisch gerechtfertigte und geforderte Politik. Nur mit Hilfe der richtigen Ge­ schichtsphilosophie wird es nun noch möglich sein, die anstehende große weltge­ schichtliche Transformation und deren Agenten richtig zu bestimmen.

3. 2 Der begnadete Philosoph und das auserwählte Volk Beides, den wahren Angelpunkt der Geschichte und das richtige revolutionäre Subjekt, findet Fichte nur wenige Jahre später in seinen "Reden an die deutsche Nation" von 1807/08 (VII, 257 ff.). Dazu muß er sich allerdings gleich zu Beginn korrigieren. Die Zeit des Eigennutzes, also der Aufklärung und damit der dritten Epoche der Weltge­ schichte, sei innerhalb der letzten drei Jahre "irgendwo [... ] vollkommen abgelaufen und beschlossen"; die Weltgeschichte habe sich beschleunigt und stehe kurz vor der Wende zu einer neuen Zeit, einer neuen Welt und einem neuen Selbst, die es nun zu erzeugen gelte (264 f.). Offensichtlich denkt Fichte an die nationale Erneuerung aus dem Widerstand gegen Napoleon; aber ebenso deutlich ist, daß er allmählich ungedul­ dig wird - er möchte die neue Zeit nach Möglichkeit noch erleben. Aber sind auch die

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Menschen da, um den Kairos zu nutzen? Fichte setzt nun erstmals alle Hoffnung auf die Deutschen. Die "Bildung eines neuen Menschengeschlechts" muß bei den Deutschen beginnen, weil sie in der Überwindung der Selbstsucht der Aufklärung bereits die größten Fortschritte gemacht haben. Zwar müssen sich "die gebildeten Stände" noch an die Spitze der Gesellschaft stellen, aber letztlich läßt sich das Selbst des Menschen nur aus der "Deutschheit" wiedergewinnen (266, 274 ff., 3 1 1 ff.). Die Deutschen sind für Fichte - ähnlich wie andere Völker für andere Ideologen - eine Art auserwähltes Volk.5 Deutschland ist nicht nur - wie für viele vor und nach ihm - das Land der "Mitte" und das freieste Land (393, 460); die Deutschen sind auch das ursprünglichste Volk überhaupt, "das Volk schlechtweg" oder das "Urvolk" - in einem mehr metaphy­ sischen als historischen Sinn. Im Grunde sind Ursprünglichkeit und Deutschheit sogar dasselbe, so daß Fichte auch von der "Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes" sprechen kann (359). Die Deutschheit ist offensichtlich ein metaphysisches Prinzip (ähnlich metaempi­ risch, wie schon zuvor die Ichheit), das sich - logischerweise - bei den Deutschen am besten verwirklicht findet. So wird ein empirisches Faktum zu einem metaphysischen Prinzip hochstilisiert, mit dessen Hilfe man dann das Ausgangsfaktum als ein ausge­ zeichnetes begreifen kann; alle Völker sind mehr oder weniger deutsch, die Deutschen aber am deutschesten. Allerdings müssen auch die Deutschen erst noch richtig deutsch werden, nämlich mit Hilfe einer "Nationalerziehung" (ähnlich wie später bei Marx auch die Proletarier noch durch Marx zu ihrem richtigen proletarischen Bewußtsein kommen müssen). Hier sieht Fichte seine eigene nationale Aufgabe und bietet sich daher dem König als philosophischer Feldprediger an - er ist auch der Erfinder des Politkommissars. Fichte setzt, indem er auf die Verwirklichung seiner Idee einer wahren Gemeinschaft hofft, wie immer wieder naheliegend, alle Hoffnungen auf das eigene Volk. Wie später Heidegger vom "jemeinigen Dasein" zum deutschen Dasein findet, so findet er von der Ichheit zur Deutschheit. Von Frankreich und der Aufklärung erwartet er nichts mehr; auch für ihn hat Napoleon die Französische Revolution, damit die französische Auf­ klärung und letztlich sogar Frankreich selbst desavouiert. In einem neuen Nationalis­ mus aus Ressentiment werden die Deutschen, sozusagen durch Überkompensation, zum Supervolk und damit zum Motor der Weltgeschichte - vorausgesetzt, daß sie sich in einer Art moralischer Aufrüstung oder allgemeiner Wiedergeburt mit Fichtes Hilfe auf ihre Deutschheit besinnen. Die Weltgeschichte als Heilsgeschichte ist der Hoffnung auf

5

Der Grund dafür ist in der Ursprilnglichkeit der deutschen Nation zu suchen, die es gegen die

.Ausländerei" zu bewahren gilt. Fichte begrilndet den Vorrang des deutschen Volkes mit der Seßhaftigkeit der Deutschen; diese sind die einzigen in Germanien gebliebenen .Germanier" Wld, weil nicht ausgewandert, auch nicht degeneriert. Daraus ergibt sich dann als wichtigstes Kriterium für die innere Überlegenheit eines Volkes seine .lebendige Sprache" - nur die Deutschen sprechen noch ihre ursprilngliche Sprache, kein heruntergekommenes Landserlatein wie etwa die Franzosen. Daher besitzen die Deutschen auch das wahre Christentum, nämlich das Luthertum, IUid die wahre Politik, die .ächt deutsche Staatskunst", im Unterschied zur .gesellschaftlichen Maschinenkunst" des Auslandes, die den Staat nur als eine aufgeklärte .Zwangs­ anstalt" betrachtet (VII, 311 ff. , 361 ff., 430). Außerdem, last, not least oder vielleicht auch vor allem, besitzen die Deutschen die wahre Philosophie, die Fichtesche, versteht sich, eine Philosophie ohne .Entfremdung von der Ursprilnglichkeit" . Allerdings muß Fichte in Anbetracht der Erfolglosigkeit seiner Philosophie diese als noch unzeitgemäß und als

353, 361).



Vorgriff" auf die bevorstehende Zukunft deuten (309 f.,

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eine Weltverbesserung zwar entgegengekommen, oder umgekehrt: die Hoffnung auf Weltverbesserung führt zu einer entsprechenden Deutung der Weltgeschichte. Aber auch aus dieser Perspektive muß das tragende Subjekt der neuen Zeit, in diesem Falle das deutsche Volk, noch zum artikulierten Bewußtsein seiner weltgeschichtlichen Rolle und Bedeutung gebracht werden; es bedarf einer Nationalerziehung, die von einem geistig fortgeschrittenen Subjekt, dem Philosophen, ausgehen muß. Anscheinend traut Fichte dem deutschen Volk genausowenig wie später Marx dem Proletariat. Der eigentliche Agent der Weltgeschichte ist daher der durch sein absolutes Wissen legiti­ mierte höchste Gelehrte, der Wissenschaftler als Gottgesandter. Die Philosophie hat eine religiöse Mission, die Wissenschaftslehre als die endgültige Wissenschaft des Absoluten muß sogar als das Erscheinen Gottes selbst, also als Selbstoffenbarung des Absoluten, verstanden werden. In welchem Maße Fichte nun religiös-prophetisch denkt, zeigt sich auch in der letzten Fassung seiner "Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" von 18 1 1 (XI, 147 ff.). Der Gelehrte wird nun im Vergleich zum Seher dargestellt und heißt daher jetzt der "Wisser". Inhalt oder Gegenstand des Wissens sind die Ideen im ur­ sprünglichsten Sinne des Wortes, die "Gesichte" der geistigen oder übersinnlichen Welt; und das Bild der Gottheit ist der Inbegriff aller Gesichte, es erscheint in einem unendlichen Bildungsprozeß durch ldeenschau. Dieses seherische Wissen, das alle Er­ sichtlichkeit durch das innere Auge ersieht, ist nicht mehr nur abbildendes, sondern auch vorbildendes und weltgestaltendes Wissen. So wird das "wahre Wissen" zum Aus­ gangspunkt der "Fortsetzung der Schöpfung" und des "Fortschritts des Heils"; der Philosoph ist der gottergriffene Wisser und "Gottgesandte". "Er ist der eigentliche Vereinigungspunkt zwischen der übersinnlichen und der sinnlichen Welt; und dasjenige Glied und Werkzeug, vermittelst welcher die erste eingreift in die letzte" ( 16 1, vgl. 147 ff., 155, 159 f.). Daher entspricht, ähnlich wie bei Hege!, die Philosophie der Re­ ligion, aber auch der Kunst, auf einer höheren Stufe; der Wisser ist der geschichtliche Nachfolger der Propheten und Dichter. Der Philosoph als gottbegeisterter Wisser ist eine Ausnahmegestalt Die meisten Menschen sind innerlich blind, und man kann sie nicht zum Sehen zwingen. Zwar kann die übersinnliche Welt an sich jedem erscheinen, zumindest auf der Stufe der Religion; faktisch bedarf es dazu jedoch "einer neuen und geistigen Wiedergeburt durch absolute Freiheit", also eigener intellektueller und moralischer Aktivität, aber auch göttlicher Gnade - nur wenige sind "im Rathe der Gottheit" auserwählt und bestimmt, und "so wird es bleiben" ( 156, 165, 179). Damit ist die alte Differenz zwischen Gebildeten und Ungebildeten wieder einmal auf die Differenz zwischen Auserwählten und Nicht­ auserwählten zurückgeführt worden. Der Philosoph kann sich seine eigene Existenz nur durch ein Wunder oder durch eine besondere Gnade erklären. Auf diese Weise ver­ schwindet aber auch die Hoffnung der Aufklärung auf Bildung des Volkes zum philoso­ phischen Volk, d.h. auf eine Gesellschaft selbstverantwortlicher Menschen. Der Ge­ lehrte als Platzhalter Gottes kann die gelehrte Bildung nur noch als Mittel verstehen, Volk und Welt nach seinen Gesichten zu gestalten, ohne Gelehrte gäbe es nur Volk bzw. "Pöbel" ( 17 1 f.). Der Philosoph als Erleuchteter hat sich von seinem Wunsch­ partner, dem Volk, erst einmal wieder entfernt. Jetzt tut sich allerdings die Gefahr des elitären Irrationalismus, ja sogar der autisti­ schen Selbstbehauptung als Prophet oder Messias auf. Dieser Gefahr entgeht Fichte zunächst dadurch, daß er an dem Pluralismus der "Gelehrtengemeinde" festhält - offen-

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sichtlich ein frommer Nachklang der Gelehrtenrepublik der Aufklärung. Obwohl die Vielfalt der Wahrheitsansprüche deutlich mit seinem eigenen ursprünglichen Anspruch auf Erkenntnis der einen Wahrheit kontrastiert, erklärt Fichte klar und deutlich, daß es nicht nur einen, sondern mehrere, anscheinend auch konkurrierende gelehrte Seher gibt. Nicht der einzelne Gelehrte, sondern die Gelehrtengemeinde macht den eigentli­ chen "Vereinigungspunkt" zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt aus ( 172). Seit im Laufe der Geschichte die ursprünglichen Seher mit ihrer natürlichen Begeisterung durch die Wisser abgelöst worden sind, gibt es eine gelehrte oder wissen­ schaftliche Gemeinde, die für die Menschheit verantwortlich ist. Damit zeichnet sich das Modell einer Art kollektiver Führung ab. Die Gelehrtengemeinde, deren Legiti­ mität ihrer Natur nach äußerlich nicht mehr kontrollierbar sein kann und die folglich nur Gott verantwortlich ist, soll, sozusagen nach Art einer idealen Universität, ihre Mitglieder selbst wählen ( 186, 195 f. ) . Letzlieh entscheidet die scientific community der modernen Seher darüber, was wahre Wissenschaft ist.6

3.3 Der Zwingherr zum Heil und das Reich der Freiheit Fichtes Gedanken kreisen, nun unter anderen Erkenntnisvoraussetzungen, nach wie vor die Bedingungen der Möglichkeit der erhofften Erneuerung. Einerseits gibt es den Unterschied zwischen Wissenden und Nichtwissenden, und die Frage ist, worauf dieser Unterschied beruht und ob oder wieweit er aufhebbar ist. Andererseits geht es um die Selbstrechtfertigung des eigenen Anspruchs auf absolutes Wissen oder besondere Er­ leuchtung, und die Frage ist, wie dieses Wissen sich gegenüber anderen Wissens­ ansprüchen verhält. Außerdem taucht immer wieder die Frage auf, ob der Wissende sich selbst unmittelbar der Praxis widmen soll oder nur die Praktiker erziehen soll. Kurz, einerseits sollten möglichst alle an allen Einsichten teilhaben, andererseits bedarf es immer noch einer ersten initiierenden Einsicht, die als solche noch nicht allgemein anerkannt sein kann. Zwar ist das deutsche Volk der neue Motor der Weltgeschichte geworden und insofern ein Subjekt der bevorstehenden allgemeinen Erneuerung gefunden. Aber dieses Volk muß noch zur Einsicht in sein Wesen und damit zur Selbst­ ernennung und zum heilsgeschichtlichen Handeln bewegt werden : durch Aufklärung bzw. Erleuchtung oder aber durch Zwang, nämlich durch eine interimistische Diktatur. um

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Allerdings scheint Fichte immer noch zu zögern, das alte aufklärerische Ideal eines philosophischen

Volkes bzw. einer erleuchteten Menschheit ganz aufzugeben. Obwohl immer nur wenige von Gott zum Wissen berufen sind, möchte er in der .Geschichte der Entwicklung der Freiheit" , wie es nun schon fast wie bei Hege! heißt, doch auch einen gewissen Fortschritt an allgemeiner Einsicht entdecken

.



Der Punkt des Ein­

greifens des Gesichts in die wirkliche Welt ist von nun die klare Einsicht wenigstens der entschiedenen Mehrheit der menschlichen Gesellschaft" (166 ff. ) . Mit dem Beginn der Neuzeit ist .die klare Einsicht der Mehrheit der Bestimmungsgrund des allgemeinen und öffentlichen Menschenlebens" geworden; daher ist nun .zuvörderst allgemeine Erleuchtung" nötig (173), die nun an die Stelle der allgemeinen Aufklärung (Volksaufklärung) getreten ist. Während der Lehrer, der eigentliche Gelehrte, an der .Erleuchtung, sei es seiner selbst, sei es des gelehrten Standes, sei es des Volks" arbeitet, versucht der Staatsbeamte, die wirkliche Welt zu bilden nach .nun hinlänglich gereiften, und bis zu dem Boden der wirklichen Erfahrung herabgestimmten Einsichten" (174 f . , vgl. 177). Die Weltschöpfung ist noch nicht abgeschlossen, die neue Schöpfung wird mit der .Freiheit und Besonnenheit aller" beginnen (193 f.). Wenn die Realisierung der Ideen bisher noch auf sich warten läßt, so ist das nicht zuletzt die Schuld der Gelehrten selbst (175 ff.).

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Und wie so viele Weltverbesserer nach und vor ihm zieht Fichte zum Schluß auch noch diese ungeduldige und gefährliche Konsequenz. In seinen Vorlesungen von 18 13 über verschiedene Probleme "der angewendeten Philosophie", 1820 aus dem Nachlaß unter dem Titel "Die Staatslehre oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche" herausgegeben (IV, 367 ff.), prokla­ miert Fichte die Diktatur der Erleuchteten und Wissenden. Voraussetzung ist nach wie vor sein Anspruch auf die Vollendung der bisherigen Philosophie durch seine Wissen­ schaftslehre, die als "Erkenntniss der gesammten Erkenntniss" (380) zugleich Bild Gottes ist. Ausgehend von der Feststellung, daß es zwei "Grundstände" gibt, "das Volk, und die Gelehrten, Wissenschaftlichen" (394 f., vgl. 369 ff.), erhebt sich die Frage, wie die "Errichtung des Vernunftreiches" trotzdem möglich ist. Offensichtlich glaubt Fichte nun, entgegen seiner früheren Ansicht, daß der Erleuchtete die Nicht­ erleuchteten zur Vernunft auch zwingen darf und kann, wenn er gleichzeitig als Erzie­ her des Volks tätig ist, um alle zur Einsicht zu bilden. "Zwang ist die Bedingung zur Hervorbringung der Einsicht und zur Annahme der Zucht ; [... ] der Zwangsstaat darum eigentlich die Schule für das Reich aus der Einsicht aller" (440). Dadurch wird der Gelehrte (mit dem deutschen Ausdruck des 18. Jahrhunderts für den Despoten) zum Zwingherrn, zu einem despot Legal - immer unter der Voraussetzung des gottgegebenen absoluten Wissens. "Der Zwingherr muss voraussetzen können, dass seine Einsicht untrüglich sey, und ist hierüber seinem Gewissen verantwortlich" (437). Natürlich ist er "erbötig [... ], aller Welt den Beweis zu führen, dass seine Einsicht also untrüglich sey" (437), aber eben dies können die Unwissenden nicht begreifen . So muß er das wahre Interesse oder höhere Recht der Unerleuchteten gegen diese selbst behaupten, bis sie "mündig" geworden sind und einsehen, daß der Erzieher und Herrscher nur ihre eigene Vernunft "vertreten" hat (438). 7 Daß sich dieser Zustand auf den Sankt-Nim­ merleinstag verschieben könnte und der Patient den Tag seiner Entlassung in die Freiheit möglicherweise nicht mehr erlebt, scheint Fichte noch nicht reflektiert zu haben. Wohl aber erörtert er noch einmal das Problem der Feststellung der wahren Wissen­ schaft, d.h. der Findung des Zwingherrn. 8 "Wer kann und soll Oberherr seyn, wer ist

7 .Alle haben das Recht, nur ihrer Einsicht zu folgen; dies ist das ewige und unveräusserliche: dass sie vorläufig dem Zwange gehorchen müssen, geschieht nur aus Noth, weil ihre Einsicht zur rechten gebildet werde." (437) Damit ist die Zwangstherapie durch das absolute Wissen oder die Erleuchtung legitimiert, aber natürlich nur als vorläufige Maßnahme Der Zwingherr [ist] zugleich Erzieher, um in der letzten Function sich als den ersten zu vernichten" (437) - eigentlich wohl in beiden Dadurch ist erst die Gleichheit wiederhergestellt; der Zwingherr macht den Gezwungenen wieder zu seinem Richter." (438) 8 Der Definition nach ist der legitime Zwingherr der wahre Weise als der von Gott bestellte Herrscher, sozusagen ein Notherrscher auf höherer Ebene Ein durch Gott selbst in der Stimme des Sittengesetzes eingesetzter Erzieher der Menschheit;- göttlichen Rechtes !" (440) Doch wer ist der Zwingherr in concreto? "Zwingherr kann jeder seyn, der es einsiehe!, und der es vermag." (440) Diese tautologische Antwort hilft jedoch nicht weiter, genausowenig wie die Bestimmung, daß der Gelehrte .es auf sein Gewissen nehmen" müsse, zu seiner Zeit den geschichtlich höchstmöglichen Punkt der Einsicht erreicht zu haben. Natürlich muß der Zwingherr .als letzter und höchster Entscheider" seine Erkenntnis für evident halten und sich zugleich dem Urteil der Geschichte stellen Die fortschreitende Bildung wird es bestätigen! - Wie aber, wenn sie es nicht bestätigt?" (442, vgl. 440 f.) Fichte sieht das Problem, aus dem Teufelskreis der bloßen Selbstbe­ stätigung herauszufmden Der höchste Verstand [...] ist derjenige, der das ewige Gesetz der Freiheit in Anwendung auf seine Zeit und sein Volk am richtigsten versteht." (444 ) .Ist nur eben dieser höchste Verstand gefunden- wirklich und in der That, d.i. eine bestimmte, so und so heissende Person gefunden, die .



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.

.

.









III. Nation · Wemer Schneiders

238

der rechtmässige Oberherr?" (IV, 447) Letztlich kann auch Fichte nur antworten: "Es müsste sich dies durch die Sache selbst finden. Die Wahrheit müsste erscheinen durch sich;- ohne irgend eine Willkür- in unmittelbarer Darstellung" (ebd.). Offensichtlich hofft er wieder auf eine Art allgemeiner Evidenz, auf eine zumindest in der Gelehrtenrepublik wirksame Einsicht, deren Nichtexistenz doch gerade erst das Problem hervor­ ruft. Der Zwingherr "müsste sich selbst unmittelbar bewähren durch eine schöpferi­ sche, allen offenbare und factische, sinnliche Gewissheit tragende That" (448). Die Tat des Lehrers aber ist die Lehre, nämlich die geschichtlich weiterführende, allgemein überzeugende Lehre - und diese kommt von Gott. "Der einzige, der wahrhaft von Gottes Gnaden ist, ist der gemeingültige wissenschaftliche Verstand; und die einzige äussere Erscheinung dieser Begnadigung ist die That des wirklichen - mit Erfolge gekrönten- Lehrens" (450). Diese "Ernennung des Oberherrn" durch Gott ist allein ausschlaggebend, die Ernennung einer Person oder eines Senats durch den Lehrerstand und der Modus seiner Wahl sind hingegen sekundär (450 ff.).9

diesen höchsten Verstand hat; so ist Alles gehoben.



(445) Der erleuchtete Herrscher erkennt sich natürlich

selbst, durch einen .absoluten Beschluss über sich selbst"; die Frage ist jedoch, jenseits dieser subjektiv­ dezisionistischen Selbstbehauptung

und der eschatologisch-geschichtsphilosophischen Vertröstung, ob und wie

andere den höchsten Vollender erkennen und als letzte Entscheidungsinstanz anerkennen können. •

Auch die aus dem Nachlaß stammenden .Excurse zur Staatslehre" von 1813 (VII, 574 ff.) behandeln

Problem der .Errichtung des Vernunftreiches", das nicht ohne Zwang entstehen

kann

.



[...]

das für das Recht,

das eigene und das allgemeine, darf jeder zwingen, und es auf sein Gewissen nehmen, ob die Anderen es erkennen oder nicht" (574). Der Gegensatz von Zwang

und Einsicht wird durch den wahren Staat aufgelöst,

der durch Erziehung seine eigene Aufhebung als .Zwangsstaat" vorbereitet. "Wohlgemerkt - es ist dies witzig: Zwang ist selbst Erziehung - Erziehung nemlich zur Einsicht der sittlichen Bestimmung" (574). Der

Staat als .Erziehungsinstitut"

oder .Bildungsfabrik" unterdrückt gar nicht die "wahre Freiheit", sondern nur

die .Naturgewalt". Allerdings müssen für diese wahre Politik Menschen mit Einsicht regieren, .denen die Anderen diese Einsicht wenigstens zutrauen [.. . ] in welchem Falle die wissenschaftlich gebildeten Menschen mit ihren Regierungen jetzt nicht sind" (575, vgl. 589). Das Problem ist nicht der Zwang

als solcher, denn

dieser Zwang aus höchster Einsicht wird im nachhinein durch die Einsicht aller gerechtfertigt werden;

der Zwang durchaus vormundschaftlich" und verlangt zunächst Glauben (im Sinne eines .credo, Derjenige soll Zwingherr seyn, der auf der Spitze der Einsicht seiner Zeit und seines Volkes steht [...] Die Frage ist nur: wie soll dieser gefunden werden?" (576) Die Gesellschaft der Privateigentümer, insofern ist

ut



intelligam")

.



in der .jeder eine verschlossene abgesonderte Natur zu haben begehrt", soll zugunsten der denkbar höchsten,

kann ; und diese durch den .Zwinger" entstehen, der den Zwang auf sein Gewissen nehmen kann

"vollkommensten" Gesellschaft überwunden werden, in der ich überhaupt erst Mensch sein wahre Gesellschaft kann nur und muß

.



Dieser

kann daher nur der Gebildetsie seyn, oder der, welchen Alle für den Gebildetsten halten das Recht, darüber das entscheidende Urtheil zu

müssen [...] Aber wer ist der höchste Verstand, wer hat

fällen?" (578) Fichte versucht, diese .geschichtlich-praktische" Aufgabe durch die .Einrichtung einer Gelehrten-Republik" zu lösen, .die aus ihrer Mitte den souveränen Herrscher wählen soll" (579). Anschei­

nend denkt er nun schon - im Unterschied zu Platon, der auf den Zufall eines philosophierenden Herrschers hoffte - daran, daß die Philosophen irgendwann die Macht ergreifen werden. Auf der Ebene der um die Wahrheit streitenden Philosophen, die diesen neuen Philosophenkönig, den Zwingherrn zur Freiheit, zur

küren sollen, scheint allerdings kein Erziehungszwang mehr zu bestehen,

Tugend, ja zu wahrem Menschsein,

sondern nur noch der Zwang durch Einsicht. Und wer die anderen nicht überzeugen kann , daß er die bessere

Einsicht hat, muß sich, wie Fichte unerwartet selbstkritisch anmerkt, dies selber als Schuld anrechnen (vgl.

579). Im Grunde ist er jedoch überzeugt, im Einklang mit den .Offenbarungen der Geschichte", der Messias des neuen Vernunftreiches zu sein

.



Ich z.B., ein Lehrer, Alles auf Erkenntniss gründend, will vor allen

Dingen Erziehung Aller. So wollte es Jesus auch, nur versteckt, nicht so klar es aussprechend. Nun

kann ich dass ich darin recht habe; auch geht mein ganzes System aus von dieser Ansicht (...] So nun ists: man kann die Wissenschaftslehre ignorieren; aber wenn man sie verstanden hat, kann man

gar nicht umhin zu glauben,

sie nicht unwahr fmden [...] So bin ich drum wahrhaft Stifter einer neuen Zeit: der Zeit der Klarheit;

·

Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus

239

Damit ist wieder einmal eine Erziehungsdiktatur etabliert. Aber der neue Philoso­ phenkönig ist primär ein Zwingherr zur Freiheit, nicht nur zur Tugend; und er ist der Erfüllungsgehilfe der Heilsgeschichte, deren Epochen Fichte nun noch einmal neu skiz­ ziert. Er ist nach wie vor davon überzeugt, daß die mit einem "Urreich" beginnende Geschichte vor einer großen Wende stehe, daß der Staat als "Anstalt der Eigenthümer" demnächst abgelöst werde durch ein "Reich der Freiheit" und daß den Deutschen bei der Errichtung dieses Reiches eine weltgeschichtliche Bedeutung zukomme, wie sie sich im Augenblick in einem "wahrhaften" oder "eigentlichen" Krieg, nämlich in den Freiheitskriegen gegen Napoleon, bereits zeige (vgl. 40 1 ff.). Vor allem aber ist Fichte, wie immer wieder durchklingt, von seiner eigenen Rolle überzeugt; im Grunde versteht er sich, indem er sich mit Jesus vergleicht, als Stifter einer neuen Zeit - "nun nach dem Christenthume, und nach vollendeter Philosophie" (562). Aber so klar und vollkommen die Wissenschaftslehre im Prinzip auch sein mag, ihr fehlt offensichtlich noch der durchschlagende Erfolg, der doch das einzige Kriterium für Auserwähltheit sein soll (vgl. 380 ff ., 4 17 f ., 420). Also scheint die Zeit noch nicht reif zu sein (452), vielleicht bedarf die Wissenschaftslehre noch Jahrhunderte, in denen sie um ihre Aner­ kennung ringen muß (589). Vielleicht aber liegt die Schuld auch bei Fichte selber. Immerhin scheinen ihm gelegentlich auch Selbstzweifel gekommen zu sein (5 19).

4.

Fichtes Philosophie- und Politikbegriff

Eigentlich bedarf Fichtes "Utopie", genau gelesen, keines weiteren Kommentars; von einem gewissen Punkt an entzieht sie sich sogar selbst jeder rationalen Diskussion. Man kann ihre philosophischen Grundannahmen evident und ihre Stringenz faszinierend finden oder aber ihren Erkenntnisanspruch hybrid und ihre Konsequenzen skurril bzw. terroristisch. Nur wegen der Versuchungen, die von derartigen Utopien oder strukturell ähnlichen Staatsphilosophien immer wieder ausgehen, sei hier abschließend auf einige fundamentale Voraussetzungen Fichtes hingewiesen und zu diesem Zwecke seine Philo­ sophie und Politikkonzeption nochmals kurz systematisch rekonstruiert. Fichtes Staats- und Politikphilosophie orientiert sich nicht an dem, was ist, sondern an dem, was sein soll. Sein Ausgangspunkt ist das absolute Ungenügen an Staat und Politik, wie sie sind, und dieses Ungenügen speist sich aus einem Moralutopismus, der sich nach und nach als religiöser Utopismus entpuppt. Die faktische Freiheit wird um einer proklamierten wahren Freiheit willen zur Freiheit im negativen Verstande erklärt. Der wahre Staat, offensichtlich nach dem Vorbild einer Liebesgemeinschaft verstanden, wird ein Tugend- und Gesinnungsstaat sein - so vollkommen, daß die unvermeidlichen Konsequenzen seiner Verwirklichung (Gesinnungspolizei und Gesinnungsschnüffelei einerseits, Tugendheuchelei und Doppeldenken andererseits) völlig außer Betracht bleiben; der wahre Staat, wenn er denn einer ist, ist per definitionem gut. Als Reich der Vernunft und Reich der Freiheit beruht er auf der freien Einsicht aller, vorausgesetzt, daß die Menschen richtig erzogen oder gebildet sind; eine falsche Indoktrination ist per definitionem ausgeschlossen. Freiheit und Ordnung sind in der Übereinstimmung aller bestimmt angebend den Zweck alles menschlichen Handelns, mit Klarheit Klarheit wollend" (580 ff., vgl. 586 ff.). Fichte glaubt, endlich die Wahrheit gefunden zu haben, die alle Menschen frei machen wird.

240

lll. Nation · Wemer Schneiders

durch Einsicht versöhnt. Im Grunde bedeutet die Existenz einer solchen Gemeinde der Heiligen die Herrschaft Gottes auf Erden, also "Theokratie" (VII, 6 1 1 ff.), durch seine Stellvertreter, die Philosophen, die als Priester der Wahrheit an die Stelle der Dogmati­ ker der Offenbarung treten. Fichtes Hauptproblem ist das Problem der Errichtung des Vernunftreiches. Zu seiner Lösung muß offensichtlich zweierlei zusammenkommen : eine teleologische Geschichte, die auf Verwirklichung des letzten Reiches drängt, und ein Geschichtsingenieur, der aufgrund seines absoluten Wissens die Geschichte der Menschheit planvoll und mit einer angeblich letzten Gewaltanstrengung zu ihrem Endzweck lenkt. Fichte erliegt dabei sozusagen einer doppelten Versuchung: einerseits der Versuchung, die erkannte Wahrheit angesichts des nahezu aussichtslosen Kampfes gegen die vielen falschen Meinungen durch Zwangstherapie (Erziehung und Gewalt) zu etablieren - in der Hoffnung, daß die einmal durchgesetzte Wahrheit dann für immer herrschen wird; an­ dererseits der Versuchung, zur effektiven Realisierung der Idee einen realen Ausgangs­ punkt für die Bildung der wahren Gemeinschaft in der eigenen Gruppe zu suchen. So endet die hochgespannte politische Heilserwartung mit einem geschichtlichen Kurz­ schluß. Der politische Utopismus entwickelt auch bei Fichte eine Sachlogik, in die nicht zuletzt der Autor selber involviert ist. ( 1) Der wahre Staat bedarf eines wahren Staatsmannes, der die wahre Gemeinschaft lenkt und vor allem erst einmal schafft, weil er, als Spitze aller Avantgarde, seiner Zeit voraus ist . Da die Menschen insgesamt noch nicht gut und weise sind, müssen sie in einer Revolution von oben zu ihrem eigenen Besten oder ihrem wahren Interesse ge­ zwungen werden, bis die Gesellschaft durch Erziehung grundsätzlich und endgültig re­ formiert sein wird. Dabei handelt der Zwingherr zur Freiheit, nach bestem Wissen und Gewissen, unter dem logischen Zwang seiner eigenen Erkenntnis im Sinne eines aufge­ klärten Absolutismus und vermittelt so zugleich zwischen Gott und Volk. Denn er ist einerseits, nach dem Stellvertreterprinzip (L ' etat c ' est moi bzw. "Ich bin das Volk"), die Inkarnation der geschichtlich möglichen Einsicht, und er ist andererseits als wissen­ schaftlicher Verstand von Gottes Gnaden eine Art politischer Messias. Als höchste In­ stanz ist er letztlich nur noch durch die Weltgeschichte als Weltgericht zur Rechen­ schaft zu ziehen. Die Wissenshierarchie als Fundament der Herrschaft verlangt also eine absolut höchste Einsicht und tendiert aufgrund ihres Wahrheitsmonopols zur abso­ luten Monarchie, die Ratiokratie schlägt letztlich wieder in Autokratie um. Daß Fichte sich selbst als einen solchen Stifter einer neuen Zeit, als wirklichen Nationalerzieher und potentiellen Zwingherrn versteht, ergibt sich - logisch, nicht nur psychologisch beinahe zwangsläufig. (2) Da der Zwingherr zur Freiheit kein Herrscher ohne Volk sein kann und alle Träume von einer grundsätzlich besseren Welt irgendeinen Anknüpfungspunkt in dieser Wirk­ lichkeit brauchen, wenn sie nicht Träume bleiben wollen, entwickelt Fichte eine Ge­ schichtsphilosophie und sucht nach einem realen Subjekt (Träger) der Revolution außerhalb der Person des Zwingherrn oder außerhalb seiner selbst . Indem er die re­ formistischen Fortschrittstheorien und die Verbesserungspraxis der Aufklärung, nach der Erfahrung der Revolution, radikalisiert, konzipiert er eine teleologische und escha­ tologische Geschichtsphilosophie, die zunächst verschärfte Differenz von Sein und

Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus

241

Sollen historisiert, d.h. das moralische Ideal zur erreichbaren Utopie transformiert. Diese Geschichtsphilosophie drängt dann nahezu unvermeidlich nicht nur auf eine Ziel­ steuerung durch den Zwingherrn, sondern sucht auch einen geschichtlichen Hoffnungs­ träger, eine ausgezeichnete und zumindest potentiell wahre Gemeinschaft als Adressat des Philosophen und potentiellen Philosophenkönigs. Indem Fichte in einer auch sonst nicht seltenen Selbsttäuschung (Reich der Mitte, Volk Gottes usw.), die eigene Gruppe und die Geographie moralisch und metaphysisch aufwertet, entdeckt er - in seiner ge­ schichtlichen Situation nicht ganz unverständlich -in den Deutschen das Urvolk und auserwählte Volk als Heilsträger. Die alles tragende Voraussetzung der politischen Philosophie Fichtes, die auf eine neue philosophische Politik zielt, ist seine Auffassung der Philosophie, und deren Angel­ punkt ist sein Erkenntnisanspruch. Wie andere auch versteht er Philosophie als Wissen­ schaft, aber - vermutlich unter dem Eindruck des Aufschwungs der von ihm so gut wie ignorierten modernen Naturwissenschaft - weder im alten weiten, noch im modernen engen Sinn, vielmehr unter Verknüpfung des anfänglichen Umfangs der alten phi­ losophischen Wissenschaft und des Erkenntnisanspruchs der neuen partikularen Wis­ senschaften. Fichte möchte alle bisherige Wissenschaft überbieten und die Philosophie als eine gewisse und umfassende Grundlagenwissenschaft etablieren, und diese soll, wie eh und je, aber mit erhöhtem Erkenntnisanspruch, auch Wissen des Wissens sein, also Wissenschaftswissenschaft oder Wissenschaftslehre. Philosophie soll endgültiges Wissen werden und nicht länger Suche nach der Wahrheit sein. Ist diese Philosophie qua evidentes und exaktes Wissen erst einmal begründet, dann gibt es die einzig wahre Totalwissenschaft, die nicht mehr überholbar ist und die wie die Mathematik gelernt werden kann. Das philosophische Wissen ist natürlich in sich geordnetes Wissen, und zwar nicht irgendwie nach irgendwelchen Prinzipien geordnetes, sondern aus einem einzigen Prin­ zip abgeleitetes und letztbegründetes Wissen. Fichte übernimmt den modernen Systemgedanken, der das Herzstück der neuen Super- oder vielmehr Basiswissenschaft ist, in seiner konsequentesten Form. Das Grundprinzip aber kann logischerweise selbst nicht mehr erschlossen werden, sondern muß in einer Erhebung über alles Empirische erschaut oder ergriffen werden. Philosophie ist nicht mehr Rückgang auf die Bedingun­ gen der Möglichkeit der Phänomene, sondern (überschwenglicher) Aufschwung zur Bedingung aller Bedingungen und Konstruktion (Deduktion) des Bedingten aus dem Unbedingten, also spekulative Transzendenzphilosophie, nicht kritische Transzenden­ talphilosophie . Die Vorstellung einer endgültigen und letztbegründeten, ihrer Intention nach abso­ luten Wissenschaft ist eo ipso die Vorstellung einer Wissenschaft vom Absoluten. Nur das Absolute selber kann daher als wirklich fundamentales und universales Prinzip fun­ gieren, absolutes Wissen ist nur durch Wissen des Absoluten möglich. Insofern entwik­ kelt sich Fichtes Philosophie konsequent von einer transzendentalen Egologie zu einer spekulativen Theologie. Philosophie wird selber zur wissenschaftlichen Religion, sie wird wissenschaftliche Welt- und Gottesanschauung, und der Philosoph wird zum Priester der Wahrheit. Gott offenbart sich letztlich in der Philosophie. Zwar ist diese Philosophie als absolute Erkenntnis des Absoluten, wie Fichte an sich selber erfahrt, noch im Werden, aber sie hat das Absolute auch schon, gleichsam per anticipationem, ergriffen, so daß sie sich von daher (ex deo) verstehen kann. Daraus ergibt sich zwar

242

III. Nation · Werner Schneiders

eine gewisse Relativierung der ursprünglich beanspruchten absoluten Erkenntnis, im Grunde aber hält Fichte, zumindest formal, an dem Anspruch einer selbstgewissen Gotteserkenntnis fest. Indem er sich kurz vor der Vollendung aller Philosophie wähnt, begreift er Philosophie aus einer eschatologischen Perspektive als fortschreitende, mehr oder weniger vollendbare Wissenschaft. Nun kollidiert jedoch der Anspruch einer Philosophie auf endgültiges Wissen oder absolute Wahrheit unvermeidlich mit der Realität: mit den Erkenntnisbehauptungen derer, die ebenfalls einen Anspruch auf absolute Erkenntnis erheben, und derer, die solche Ansprüche eingrenzen oder zurückweisen wollen, aber auch mit der Realität der Nicht-Philosophie. Philosophie, die sich als prinzipiell wahre Erkenntnis versteht, muß sich daher mehr als jede andere Philosophie ihre eigene exzeptionelle Position, d .h. die Möglichkeit ihrer Einsicht, wie auch die Möglichkeit der entgegenstehenden Positio­ nen, d.h. die faktische Uneirrsichtigkeit der anderen Philosophen wie der Nichtphiloso­ phen, zu erklären versuchen. Dazu bieten sich im Prinzip zwei Wege an, nämlich der Ausgang vom philosophierenden Subjekt und der Ausgang von einer außerhalb des Subjekts liegenden Instanz. Beide Erklärungsstrategien finden sich bei Fichte. Erstens greift er auf die Theorie zurück, daß Philosophieren nicht ohne eigene intellektuelle, vor allem aber auch nicht ohne eigene moralische Anstrengung möglich sei. Phi­ losophieren als Akt der Freiheit ist eine sittliche Leistung, ist Selbstbesinnung als Selbstbefreiung; Erkenntnismangel ist auch moralisches Versagen. Fichte bringt dies auf den Punkt, daß Philosophie, zumindest in der Grundfrage "Idealismus oder Mate­ rialismus " (Ausgang vom Ich an sich oder vom Ding an sich) eine Charakterfrage sei. Zweitens greift er aber auch auf die Theorie zurück, daß das Entstehen von Philosophie als absolute Erkenntnis letztlich ein unerklärliches Wunder sei. Einsicht ist Offenba­ rung, Geschenk oder Gnade. Nur der wissenschaftliche Verstand ist für ihn wirklich von Gottes Gnaden; der Philosoph, für den Wissenschaft Religion und Religion Wis­ senschaft ist, muß (als Reflexion oder Wissen Gottes) das Absolute sein und leben. Offensichtlich kann sich Fichte, wie so viele Philosophen seit Sokrates, den eigenen Ursprung als Philosoph nicht rational erklären. Aus alledem ergibt sich mit einer fast unvermeidlichen Notwendigkeit der elitäre, in gewisser Weise sogar monomanische Charakter seiner Philosophie. Die Gelehrten bilden eine intellektuelle und moralische, religiöse und politische Elite. Fichte kon­ trastiert den Standpunkt der Philosophie und den Standpunkt des gemeinen Men­ schenverstandes; die Philosophie hat eine höhere Weitsicht. Zwischen Philosophie und Nichtphilosophie klafft ein unüberwindbarer Abgrund, die Popularphilosophie der Auf­ klärung ist bloße Augenwischerei. Obwohl Fichte eine Nationalerziehung für alle fordert, hält er an einer grundsätzlichen, wenn auch vielleicht nur geschichtlich vorläu­ figen Differenz zwischen Volk und Gelehrten fest. Die Philosophie ist "ein so widerna­ türlicher Gemüthszustand, dass der erste, der sich dazu erhob, gewiss sich selbst nicht trauen konnte, bis er in anderen den ähnlichen Aufschwung bemerkte" (IV, 246). Zu­ gleich aber muß er auch innerhalb der Philosophie einen ausgezeichneten, nämlich end­ gültigen Standpunkt beanspruchen. So bleibt, angesichts der fatalen Konsequenzen einer absolutistischen Philosophie und Politik, wie sie Fichte exemplarisch demonstriert, die Frage, wie die unvermeid­ lichen Tendenzen der Philosophie und Politik zur Selbstaufhebung in einem ewigen Frieden des Wissens und Handelns, mit dem Faktum des offensichtlich unaufhebbaren geistigen und wirklichen Kampfes versöhnt werden können, d.h. wie Philosophie und

Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus

243

Politik zugleich - bei aller Überzeugung von der eigenen Einsicht guten Gewissens - ein permanentes Provisorium bleiben können und müssen.

�r d} i u .t)cutf�er �ationalbilbung.

Johann Gottlieb Fichte (1810)

Monika Wagner (Hamburg) Germania und ihre Freier. Zur Herausbildung einer deutschen nationalen Ikonographie um 1800

Nicht erst aus den Tagen nach dem 9. November 1989 stammt die Darstellung eines ge­ samtdeutschen Paares (Abb. 1, S. 255), das sich auf derBerliner Mauer tummelt, um damit seinem keineswegs nur individuellen Vereinigungswunsch Ausdruck zu ver­ leihen. Pit Mischkes Wettbewerbsentwurf für eine Hausbemalung am ehemaligenBerli­ ner Grenzübergang Checkpoint Charlie, der in einer Fotomontage auf die vorgesehene Hauswand übertragen wurde, entstand bereits 1978.1 Als Vereinigungsmetapher spielt die Darstellung ganz bewußt mit der Trivialerotik, stammt das Pärchen doch aus einem Werbeprospekt des Verlages 2001 für einen angeblich proletarischen Pornoroman.2 1978 konnte dieses Stelldichein in Unterhemd und Pantoffeln als witzige Utopie funktionieren, weil dieB il dm etap hor ik, die auf die politische Vereinigung als öffenli­ ches Anliegen zielt, höchst privat und betont banal daherkommt. Inzwischen hat es Mauerparlies gegeben, und das deutsch-deutsche Pärchen ist mutiert. In Medaillen verewigt (Abb. 2, S. 255), bezeugt es nun, daß für die Vereinigung beider deutscher Staaten die Arithmetik derBoulevardpresse 1 + 1 1" gilt. Es bezeichnet nicht mehr die erotische, sondern die ideologische Triebstruktur zur Überwindung der nationalen Spaltung, indem nun das Zusammenwachsen aus den Terrains (man möchte fast sagen aus demBoden) mit der Hierarchie der traditionellen Geschlechterbeziehung gekoppelt wird. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert war die Situation zumindest arithmetisch komplizierter, galt es doch - vor allem im bürgerlichen Interesse - für eine Unzahl unterschiedlich großer Territorialstaaten einen gemeinsamen Nenner, ein zusammenge­ höriges Gemeinsames herauszufiltern. Solange dieses Gemeinsame noch keine staatli­ che Form besaß, waren es vor allem die Künste, die Gemeinsamkeiten bezeugen, ein­ üben oder auch Prospektives vorzeigen konnten. Innerhalb der bildenden Künste haben sich verschiedenartige Motivbereiche herausgebildet, in denen sich die Vorstellungen von einem gemeinsamen Vaterland oder auch einem einzigen Volk artikulierten.3 Ihnen allen nachzugehen, ist hier unmöglich. Sie reichen von einem bieder abwartenden Michel, wie ihn Achim von Arnim seiner 1808 erschienenen "Zeitschrift für Einsied"

=

1 Peter Märker/Monika Wagner, Politische Kultur von oben oder unten? Wettbewerb für eine Hausbema­ lung am "Checkpoint Charlie" in Berlin, in: Kritische Berichte (1979), H. 6, S. 47-54. 2 Vgl. Das Merkheft 43, Verlag Zweitausendundeins. Werbeseite für Hans H. Clear "Bei Oma brennt

noch Licht", mit demselben Pärchen allerdings auf einem Sofa. 3 Vgl. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, Bd. 206 (1968), S. 529-585; Trophäe oder Leichenstein? Kulturgeschichtliche Aspekte des Geschichtsbewußtseins in Frankfurt a. M. im 19. Jahrhundert, Ausstellungs-Katalog Historisches Museum Frankfurt, Frankfurt a. M. 1978.

Germania und ihre Freier

245

ler" voranstellte,4 über den erwachtenBarbarossa als künftigen starken Kaiser bis zur Beschwörung von "Hermanns hohem Geist"6• Ein Vorstellungsmodell erweist sich zumindest in den Bildkünsten als besonders beharrlich und flexibel zugleich: das einer Paarbeziehung zwischen Germania als weib­ licherRepräsentantin des Vaterlandes und männlichen Gestalten als Vertretern derBe­ wohner, des Volkes oder einer bestimmtenBevölkerungsgruppe.7 Germania ist ohne Germanen nicht denkbar. Ihr liegt - wie auch sonstigen weiblichen Personifikationen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, etwa der Freiheit8, der Gleichheit, anderen Länder- oder auch Stadtpersonifikationen9 - stets die Vorstellung einer Paarbeziehung zugrunde. Auffälligerweise bezeichnen Germanias Männer im Unterschied zu ihr selbst meist historische Personen. Das heißt, Germania repräsentiert ihrer Struktur nach etwas prin­ zipiell anderes als das, was ihre männlichen Partner verkörpern. Das gilt auch dann, wenn diese in Gestalt einer Verallgemeinerung, eines Heros oder des deutschen Michel erscheinen. Und selbst wenn Germania bildlich alleine auftritt, ist sie auf ein solches Pendant, auf eine männliche Ergänzung bezogen. Wie eine derartigeBeziehung ausse­ hen konnte, mit wem welche Allianzen eingegangen wurden, wie folglich die Nation, oder besser: das von Germania verkörperte Gemeinsame vorgestellt wurde, soll an einigenBeispielen, die Umbruchstellen markieren, gezeigt werden. Soweit ich dasBildmaterial bisher überblicke, gibt es - idealtypisch gesprochen drei verschiedene Darstellungsmodi für die bildlieheRepräsentanz, die sich allerdings überlagern können: einen allegorischen, einen historischen und einen genrehaften Modus. Inwieweit sich einerseits in diesen verschiedenartigenRealitätsmilieus, ande­ rerseits in der jeweiligenBeziehung zwischen Germania und ihren Freiern, unterschied­ liche politische Positionen manifestieren, ist zu untersuchen. Der wichtigste historische Partner der Germania ist der in römischen Diensten ste­ hende Cheruskerfürst Arminius - in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts meist

4 Acbim von Arnim (Hrsg.), Tröst Einsamkeit - alte und neue Sagen und Wahrsagungen. Geschichten und Gedichte, Heidelberg 1808; der eine Nachtmütze tragende Michel wird hier mit dem autoritätshörigen Publikum identifiziert. Zum Michel allgemein: Bernd Grote, Der deutsche Michel, Dortmund 1967; Eda Sagarra, Der Deutsche Michel. Gestalt und Wandel in Literatur und Ikonographie 1640-1984, in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Kontroversen, alte und neue (Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 9), Tübingen 1986, S. 159-164. ' Klaus Schreiner, Friedrich Barbarossa - Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit, in: Die Zeit der Stauffer, Ausstellungs-Katalog Bd. V, Stuttgart 1977, S. 521-547; Arno Borst, Barbarossas Erwachen. Zur Geschichte der deutschen Identität, in: Odo Marquardt/ Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität, München 1979. 6 Gerd Unverfehrt, Arminius als nationale Leitfigur. Anmerkungen zu Entstehung und Wandel eines Reichssymbols, in: Ekkehard Mai/ Stephan Waetzold (Hrsg.), Kunstverwaltung, Bau- und Denkmalpolitik im Kaiserreich, Berlin 1981, mit einem Überblick über bildliehe Darstellungen des 16. bis 20. Jahrhunderts; vgl. auch W. Hansen, Nationaldenkmäler und Nationalfeste im 19. Jahrhundert, Lüneburg o.J. (1976). 7 In der 48er Revolution war die Paarbeziehung besonders in der Kartikatur verbreitet. Literarische Topoi bei Jost Hermand: Braut, Mutter oder Hure? Heiner Müllers Germania und ihre Vorgeschichte, in: ders., Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 127-142. 8 Monika Wagner, Freiheitswunsch und Frauenbild. Veränderung der Liberte zwischen 1789 und 1830, in: Inge Stephan!Sigrid Weigel (Hrsg.), Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption, Harnburg 1989, S. 7-36. 9 Siegrid Weigel, .Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold", in: dies., Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek 1990, S. 149-179.

246

III. Nation· Monika Wagner

Hermann genannt-, der im Jahre 9 n. Chr. den römischen Feldherrn Varus vermutlich im Teuteburger Wald besiegte. Anna Maria Werner, eine Künstlerin, die seit 1721 am Dresdner Hof arbeitete, lieferte die Vorlage für das Frontispiz zu Schönaichs 1753 in zweiter erweiterter Auflage erschienenem monumentalen Heldengedicht "Herman oder das befreyte Deutschland"10• In dem Kupferstich (Abb. 3, S. 256) tritt Hermann als Befreier Germanias auf, so, wie schon Tacitus den Arminius in seinen "Annalen" als liberator Germaniae bezeichnet hatte.11Bildlich entsteht also eine Paarbeziehung zwi­ schen einer allegorischen und einer historischen Figur. Dieses tradierte Muster der Begegnung zweierRealitätsebenen innerhalb einesBildraumes geriet erst im ausgehen­ den 18. Jahrhundert in VerrufY Doch ist der Unterschied hier bereits bildlich weit­ gehend verschliffen, da auch Hermann, über dessen historische Existenz kaum etwas bekannt war, in einem zeitlosen Gewand auftritt. In Anlehnung an das Löwenfell des Herkules trägt er ein Wolfsfell, das gleichermaßen seine Herkunft aus den germani­ schen Wäldern wie seine Freiheitsliebe und seine tiergleiche Stärke signalisiert. Auf den römischen Feldzeichen stehend, erscheint er jedoch nicht in der Pose des Trium­ phators, sondern löst die Ketten der etwas ungeschickt sitzenden Germania. Die hilflose Germania mit der Mauerkrone auf dem Kopf wendet sich demBefreier mit ergebenem Hoffnungsblick zu, während in den Lüften ein Genius mit dem Lohn für den Helden naht: sein Palmenzweig kündet vom Ende der Schlacht gegen dieRömer, doch zeigt der Siegeskranz noch kein Eichenlaub, sondern antikischen Lorbeer. Detlef Hoffmann hat jüngst in einem grundlegenden Aufsatz über die Germania13 darauf hingewiesen, daß ihr in diesemBlatt die größereBildbedeutung zukommt, ob­ wohl Hermann der Handlungsträger und Held in Schönaichs ganzem Epos ist.Begleitet wird Hermann von der "deutsche[n] Amazoninn, Thusnelde" wie es in Schönaichs Vorrede heißt. Doch bildet er kompositorisch nicht mit ihr, sondern mit Germania ein Paar. Germania existiert nur dank Hermann. Er hat durch sein Handeln die Vorstellung eines Zusammenschlusses der germanischen Stämme zu einemReich überhaupt erst geschaffen, das Germania verkörpert. Doch wird durch dieBefreiungsszene suggeriert, daß es ein Gemeinsames schon vorher gegeben habe, das sich aber der römischen Fesseln wegen nicht entfalten konnte. GermaniasBefreier ist ein Fürst. Das legen bei aller Einfachheit des Kostüms doch die Gestaltungsweise wie die zierliche Körpergestik nahe. In den Jahren nach dem Österreichischen Erbfolgekrieg publiziert, in dem sich Preußen gegenüber Österreich behauptet hatte, richtete sich Schönaichs Gedicht an den politisch vergleichsweise unbedeutenden Landgrafen Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel, dem Einheitsträume also eher folgenlos angetragen werden konnten, und endet mit den Zeilen:

10 Christoph Otten Freiherr von Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht, Leipzig 21753.

11 Die Germania-Ikonographie seit ihren römischen Anfängen hat Elke Trzinski in ihrer 1990 in Münster

abgeschlossenen Dissertation .Studien zur Ikonographie der Germania" untersucht.

12 Vgl. Monika Wagner, Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentlicher Gebäude des 19.

Jahrhunderts in Deutschland, Tübingen 1989. 13 Detlef Hoffmann, Germania. Die vieldeutige Personifikation einer deutschen Nation, in: Freiheit,

Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland, Ausstellungs-Katalog Nürnberg 1989, S. 137-156.

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Ach! wo lebt nun wohl ein Hermann: holder Himmel! schaff ihn doch! Deutschland heget ja wohl Helden; aber keinen Hermann noch. Ist es möglich, o! so laß meinen heißen Wunsch gelingen; Und du, Muse! sollst alsdann mit erhabnerm Tone singen!'4 Auch 60 Jahre später war der Wunsch nach einem neuen Hermann noch nicht in Erfül­ lung gegangen.15 Ein Aufruf zur Erhebung gegen die französischen Okkupanten von 1813 fragt "Ist kein Hermann da? - Kein neuer Hermann, der die neuen Adler vor sich in die Flucht jagt?" und appelliert: "Auf, Deutsche! Euer Hermann muss sich fin­ den." 16 Dieser Appell richtet sich nun nicht mehr direkt an einen Fürsten. Vielmehr sind auch die Militärs, ja alle Männer aufgefordert, ihre Fähigkeiten als neuer Her­ mann zu entfalten, um durch Tapferkeit und entschiedenes Handeln alle hinter sich zu einen und wie einst Hermann dieRömer, nun die Franzosen zu vertreiben und deut­ sches Land zu befreien. Schönaichs Text spricht zwar von Freiheit und Freiwilligkeit; ebenso ist dieRede vom Volk, doch bewegt er sich damit imRahmen eines bürgerlichen Appells an den aufgeklärten Fürsten, er plädiert für anti-absolutistische Freiheiten. Hermann konnte sie verkörpern, weil er zugleich als Inbegriff altgermanischer Freiheiten galt. Die Ger­ manen - das hatte schon Tacitus vermerkt - standen aufgrund ihrer Lebensart imBünd­ nis mit der Natur. Dies traf sich im 18. Jahrhundert mit naturrechtliehen Freiheitsbe­ gründungen etwa im Kampf gegen die Leibeigenschaft, die die Germanen nicht gekannt hatten. Es finden sich im späten 18. Jahrhundert zahlreiche Bildvarianten des Hermann­ Stoffes, und interessanterweise waren viele für Fürstenhöfe gedacht.17 Mit Hermann, dem Cheruskenfürsten, konnten sich auch aufgeklärte Monarchen identifizieren und sich damit sogar an die Spitze vaterländischer wie freiheitlicherBestrebungen stellen. Angelika Kauffmann, die 1784 von Joseph II. den Auftrag für zwei Historienbilder ihrer eigenen Themenwahl für den Wiener Hof erhielt, entschied sich in einem der Ge­ mälde ebenfalls für das Thema (Abb. 4, S. 257). Durch ihren persönlichen Kontakt zu Klopstock, der den Hermann-Stoff in Form vonBardenliedern bearbeitet hatte, war sie dazu angeregt worden.18 Der 1. Teil von Klopstocks Hermannstrilogie, die 1769 er­ schienene "Hermanns Schlacht", vom Autor als "vaterländisches Gedicht" bezeichnet, war - wie KauffmannsBild - ebenfalls dem aufgeklärten Kaiser Joseph II. gewidmet.

•• Schönaich

(Anm. 10), S. 236. 15 Zwar wurde der Österreichische Erzherzog Kar1 als .Zweiter Hermann" bezeichnet (vgl. Unverfehrt, Anm. 7, S. 23), und Ernst Moritz Amdt schrieb, Freiherr von Stein .ist unser Zweiter Arminius" (Er­ innerungen 1769-1815, hrsg. von Rolf Weber, Berlin 1985, S. 326), doch war zu dieser Zeit das Ziel der Wiedererweckung Hermanns, die nationale Einigung, noch nicht erreicht. 16

.An die Deutschen" Anlage B eines Schreibens von A. Le Coq an die Oberreg.-Commission, Berlin,

d. 7. März 18 13, zwecks .höherer Autorisation" zur Druckgenehmigung, die jedoch offenbar nicht erteilt wurde, in: Paul Czygan, Zur Geschichte der Tagesliteratur während der Freiheitskriege, 2 Bde., Leipzig

1909, hier Bd. 2, S. 53. 17

Neben Angelika Kauffmanns Gemälde für den Wiener Hof (s.u.) z.B. Johann Heinrich Tischbeins

.Hermann der Cheruskenfürst nach der Schlacht" für das Residenzschloß Arolsen; Wilhelm Tischbeins .Arminius und Thusnelda" für das Oldenburger Schloß. 11

Angelika Kauffinann und ihre Zeitgenossen, Ausstellungs-Katalog Bregenz 1968, Kat. Nr. 58.

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Angelika Kauffmann hatte sich von Klopstodes Werk schon Jahre vor dem Auftrag für den Wiener Hof außerordentlich begeistert gezeigt.19 Im Unterschied zu Anna Maria Werner verzichtet sie in ihrem Gemälde jedoch auf allegorisches Personal und behandelt die Szene mit dem reliefartigen Nebeneinander der Figuren streng historisch. Dennoch zeigt die zentrale Szene vergleichbare Struktu­ ren: Der höchst feminin dargestellte Hermann befiehlt vor einer gigantischen Eiche die Vernichtung der römischen Feldzeichen. Zu seiner Linken wird er von einer knieenden Frau mit einem Eichenkranz geehrt. Wie später häufig die Personifikation der Germa­ nia20 oder wie kurz nach Entstehung von Kauffmanns Gemälde die Liberte der Franzö­ sischen Revolution - so etwa die wehrhafte Variante nach Pierre Thomas Le Clerk (Abb. 5, S. 258)- verteilt Thusnelda den Siegerkranz. Doch bleibt ungeklärt, wieso sie dabei niederkniet. Der Germania vergleichbar, die, wie in einer Grafik von 1663/64 (Abb. 6, S. 259), angesichts der Türkengefahr zur Einheit mahnt, dem König zu Füßen liegt und ihn körperlich stützt, erscheint hier Thusnelda gegenüber Hermann. Das ganze Verhältnis zwischen Hermann und der Knieenden ist - obwohl es sich nach Ange­ lika Kauffmanns eigenen Erläuterungen um dessen Frau Thusnelda handelt21 - wie eine Befreiungsszene gefaßt, in der die Frau, das Land oder die Waffen des Gegners dem Sieger zufallen. Doch hat sich Angelika Kauffmann eng an die Textvorlage gehalten. In der 11. Szene schildert Klopstock, wie Hermann aus der siegreichen Schlacht zu­ rückkehrt, Thusnelda vor ihm niederfällt und seine Hand mit der blutigen Lanze stützt. Darauf richtet sich Hermann mit den Worten an sie: .Stehe auf, du freye Fürstin Deutschlands "22. Das heißt, dieser Kniefall, den Angelika Kauffmann aus der literari­ schen Vorlage auswählt, charakterisiert auch bei Klopstock den entscheidendenRollen­ wechsel: Aus der cheruskischen VasallirrRoms wird dank Hermann die freie Fürstin Germaniens. Dem Historienbild liegt also dieselbe - über das Geschlechterverhältnis entwickelte - Struktur zugrunde wie der allegorischen Szene. Ob Hermann die Ketten der personifizierten Germania sprengt oder die historische Thusnelda aufrichtet, meint dasselbe.Beides sind Leerformeln, die durch Hermanns Aktion gefüllt und definiert werden. Während derBefreiungskriege erfuhr der Hermann-Stoff nicht nur eine bisher un­ geahnte Popularität, sondern auch eine neueBewertung. Offenbar konnte Hermann in dieser Zeit in Deutschland eine ähnliche Funktion übernehmen wie Herkules im revolu­ tionären Frankreich, nicht nur der vergleichbaren Tierfelle wegen. Hermann repräsen­ tierte, da sich zumindest unter den Fürsten kein neuer Hermann fand, nach der Schlacht von Leipzig die Gesamtheit der gegen Napoleons Truppen kämpfenden Deutschen, d.h. den männlichen Teil der Bevölkerung. In dem vermutlich 1814 erschienenen Blatt (Abb. 7, S. 260) ist Germania mit ihrer das Territorium anzeigenden Mauerkrone wie­ der gefesselt, hilflos, und damit handlungsunfähig. Wiederum übernimmt Hermann die Rolle desBefreiers. Mit einem wilden Zottelfell bekleidet, das wohl eher von einem

191n einem Brief vom 4.12.1770 schreibt sie an Klopstock: .M. del Campo hat mir Hermanns Schlacht, das so lange verlangte Werk, überbracht. Es übertrifft alles, was ich bis jetzt von dieser Art gelesen habe. Zit. nach Hamburger Klopstock-Ausgabe, Bd. 5, S. 257. 20 Beispiele in Ausstellungs-Katalog (Anm. 5), S. 156, 165. 2 1 Vgl. A. Kauftmanns Arbeitsjournal, zit. nach Ausstellungs-Katalog (Anm. 18), S. 68. 22 Klopstock, Hermanns Schlacht, in: ders., Werke, 4. Teil, hrsg. von R. Hasse[, Berlin/Stuttgart o.J., s. 114. •

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Bären zu stammen scheint und von enormer Muskelstärke zeugend, ist er dem Herkules analog, der vor allem während der Jakobinerherrschaft in Frankreich die Kraft des Volkes repräsentierte und die Errungenschaften und Tugenden derRevolution beschütz­ te.23 Jacques Louis David, der wichtigste Zeremonienmeister der FranzösischenRevo­ lution, plante, das Denkmal für Heinrich IV. auf dem Pont Neuf durch die monumenta­ le Skulptur eines Herkules zu ersetzen. Seine Eigenschaften und Funktionen sollten die­ sem neuen Heros auf die Körperteile tätowiert werden.24 Wohl im Umfeld solcher öffentlichen Großprojekte entstand 1794 auch Joseph Chinards Tonmodell für einen Herkules mit einer winzigen Liberte in der Hand (Abb. 8, S. 261). Wie zurRückver­ sicherung für eine ikonographisch ungeschulte Öffentlichkeit und als sollten damit Mißverständnisse angesichts der tradierten Identifikation des Monarchen mit dem Heros ausgeschlossen werden, trägt er quer über derBrust einBand mit der Aufschrift dessen, was er verkörpern soll: Le peuple fran�ais. Dem vergleichbar trägt Hermann in dem grafischenBlatt seinen Namen auf denBeinringen, die seine Muskelkraft her­ vorheben. Die Stärke dieses Giganten, der dasBildformat ebenso zu sprengen droht wie dieBeinringe, erweist sich darin, daß er die Ketten der gefesselten Germania mit bloßen Händen zerreißt. Obwohl er sogar die Haartracht der Cherusker trägt und im Hintergrund ein brennendes römisches Lager zu sehen ist, meint er nicht mehr bloß den historischenBesieger des Varus als Vorbild und gibt auch nicht mehr das Modell für einen Fürsten als neuen Hermann ab. Vielmehr wird nun die virile Volkskraft vergegenwärtigt. Eindeutig wird dies wiederum durch die Inschrift auf Germanias Schild mit Ort und Datum der entscheidenden Völkerschlacht, die nicht nur als Sieg der verbündeten regulären Heere, sondern vor allem als Sieg gemeinsamen Handeins aller Deutscher gefeiert wurde. Ihr war, wie Ernst Moritz Arndt 1814 schrieb, zu "danken, daß wir wieder ein ganzes Volk werden können"25• Wie Herkules während des Terreur in Frankreich die kollektive Volkskraft verkörperte, so ist dieser Hermann die Verall­ gemeinerung der gegen die napoleonischeBesatzung kämpfenden Deutschen, sozusagen der männliche deutsche Volkskörper. Das heißt, er ist allegorisch zu verstehen, be­ zeichnet aber im Unterschied zu Germania historische Personen. Dieser aktualisierte Hermann scheint geeignet, nicht alleinBefreiungskriege, sondern auch Freiheitskriege zu führen. Demgegenüber blieb Herkules in Deutschland weiterhin den Fürsten verbun­ den26, wenn er, wie in dem antirevolutionären Blatt (Abb. 9, S. 262), der geflohenen monarchischen Francia väterlich Schutz bietet. Hermann dagegen ist Eroberer wie Befreier. Wohl zu Ende der Befreiungskriege entstanden, stellt das Blatt mit dem Muskelprotz Hermann, der Germanias Ketten sprengt, das Selbstbewußtsein unter Beweis, das durch die erfolgreiche Vertreibung Napoleons inzwischen breite Kreise erworben hatten. Nach den.Befreiungskriegen wird in den Entwürfen und Planungen öffentlicher Denkmale Hermann, der häufig mit dem Heiligen Georg und seinem Kampf gegen den

23 Lynn Hunt, Symbole der Macht - Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a.M. 1989, bes. S. 1 10- 150; Wagner (Anm. 8). 24 Hunt (Anm. 23), S. 132. " Zit. nach Thomas Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal. Die Pläne von 1815, in: Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag, hrsg. von Lucius Grisebach/Konrad Renger, Berlin 1977, S. 4 12. 26 Im Januar 1990 fand an der Universitlit Siegen ein Symposion Ober "Metamorphosen des Herku­ les/Herakles in seiner medialen Vielfalt" statt.

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Drachen Verbindungen eingeht27, zur entscheidenden Figur. Doch ließ sich von den geplanten öffentlichen Großprojekten (etwa Schinkels Entwurf für einen monumentalen Brunnen) kaum eines realisieren. Vermutlich scheiterten diese stattlichen Unterneh­ mungen nicht allein an der Finanzierung, sondern auch an der Besetzbarkeit gerade Hermanns für weiterreichende politische Vorstellungen - sowohl nationalstaatlicher wie freiheitlicher. In einem der wenigen Monumentalprojekte, das in der ersten Jahrhun­ derthälfte gebaut wurde, in der Walhalla bei Regensburg, bilden wieder Hermann und Germania in den gegenüberliegenden Giebelfeldern ein Paar. Kronprinz Ludwig 1., König von Bayern, der das ikonographische Programm 1817 festgelegt hatte, stellte "Die Hermannschlacht" und "TeuschlandsBefreyung im Jahr 1814" programmatisch gegenüber.28 Hermann bildet die Zentralfigur des untergeordneten Giebels der Nord­ front (Abb. 10, S. 263), wo er gegen gepanzerte römische Soldaten kämpft. Im Giebel der Hauptfront (Abb. 11, S. 264) thront frontal Germania, der personifizierte deutsche Fürstentümer huldigen. Diese treten wiederum paarweise auf, indem jeweils ein männ­ licher Krieger in antikischer Nacktheit (wodurch die militärische Kraft verallgemeinert wird) eine bekleidete weibliche Personifikation nach sich zieht. 29 Diese Paare sind auf einer in der Hierarchie niedrigeren Stufe ebenso aufeinander bezogen wie Germania und Hermann. Jedes Paar bildet eine eigene Einheit und huldigt Germania, die die Ge­ samtheit repräsentiert. In der Aufrechterhaltung dieser zwar Germania untergeordneten Paare aus je einem Krieger und einer Landespersonifikation als den Repräsentanten der Territorialstaaten, zeigt sich, daß es dem Auftraggeber politisch nicht um weiterreich­ ende Einigungsbestrebungen, sondern um die Konservierung der Fürstentümer ging.30 In dem durch und durch bayerischen Programm der Walhalla-Giebelfelder über­ nimmt das Paar Germania-Hermann, das jenseits aller Geschichte Überzeitlichkeit be­ ansprucht, also wieder eine staatstragende Rolle. Dies verwundert bei einem öffentli­ chen Monumentalprojekt, das zudem unter der unmittelbaren Kontrolle des künftigen bayrischen Königs stand, kaum. Demgegenüber fmdet sich imBereich der kleinforma­ tigen, auf bürgerliche Verhältnisse zugeschnittenen, auftragsunabhängigen Malerei zu Ende derBefreiungskriege eine politisch differierende, zeitgenössisch vielbeachtete Po­ sition. Der Dresdner Maler Georg Friedrich Kersting, der sich 1813 dem Lützower Frei­ korps angeschlossen und mit finanzieller Unterstützung von Künstlerfreunden seine militärische Ausrüstung beschafft hatte,31 um gegen die napoleonische Besatzung :Zu kämpfen, malte zum Gedenken an drei seiner Kombattanden - Theodor Körner, Karl Friedrich Friesen (Fichteschüler und später Kartenzeichner bei A. v. Humboldt) und

r1

Unverfehrt (Anm. 6), bes. S. 318 f. Ausgefilhrt wurden die Giebelfelder schließlich von Ludwig Schwanthaler, vgl. Jörg Träger, Der Weg nach Walhalla. Denkmallandschaft und Bildungsreise im 19. Jahrhundert, Regensburg 1987, bes. S. 84 ff. ; Ruprecht Stolz, Die Walhalla. Ein Beitrag zum Denkmalsgedanken im 19. Jahrhundert, Diss. Köln 1977, S. 6 ff. 29 Zu den einzelnen Gruppen: Adalbert Müller, Donaustauf und Walhalla, Regensburg 131876, S. 23. 30 Das Interesse an der Aufrechterhaltung der Fürstentümer zeigt sich auch in anderen bayrischen Monumentalprogrammen aus der Zeit nach den Befreiungskriegen, in denen Bayern erst in letzter Minute die Seiten gewechselt hatte. Vgl. Monika Wagner, Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentli­ cher Gebäude des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Tübingen 1989, S. 64-86. 3 1 Vgl. Wilhelm von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, zit. nach Oskar Gehrig, Georg Friedrich Kersting. Ein mecklenburgischer Maler aus der Zeit der Freiheitskriege, Leipzig 1931f., S. 79. 21

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den Heidelberger Studenten Ferdinand Hartmann- 1814 ein kleinesBild mit dem Titel "Auf Vorposten" (Abb. 12, S. 265).32 Kersting zeigt die drei Männer in individuellen Posen in einem Waldstück aus prächtigen alten Eichen. Sie erscheinen trotz ihrer Uni­ form merkwürdig unsoldatisch, so als habe der Maler ihre doppelte Existenz alsBürger und als Soldaten betonen wollen. Sie lagern dort, wo generell Hermanns Sieg angesiedelt wurde: in freier Natur, im "deutschen Wald", unter "deutschen Eichen". Klopstock hatte in seinenBardieten das Freiheitselement der Natur betont und bei Hölderlin wird "im Heiligthume alter Ei­ chen" "zu dem Heil des Vaterlandes" geschworen.33 Immer wieder nutzt die zeitge­ nössische Literatur die Natur zur metaphorischenBeschreibung politischer Freiheits­ wünsche. Im Unterschied zu den Bäumen im gestutzten Garten, dem Inbegriff der Monarchie, stehen - so Hölderlin - die Eichen als "Söhne desBerges[ ... ] wie ein Volk von Titanen[.. .] jeder ein Gott, in freiemBunde zusammen"34. Die Individualität eines jeden einzelnenBaumes kann sich demnach im freien Wuchs entfalten, dennoch bilden alle gemeinsam den Wald. Im Gegensatz zum Garten entspricht der Wald derRepublik: "Jeder Stamm desselben strebt mit seiner ganzen Kraft empor und streckt seine mächti­ gen Äste so lang [ ...] empor [ ...], als sein innerer Trieb vermag. "35 Dieses Prinzip, daß jeder in der Gemeinschaft der Gleichen ein Individuum bleibt, gilt auch für Kerstings Darstellung der drei Lützower Jäger. Sie bilden ein Kollektiv aus individuellen Subjekten. Das entsprach insbesondere dem Lützower Freikorps, dessen Uniformen zwar einheitlich schwarz waren, da die Freiwilligen sie jedoch selbst stellen mußten, differierten sie zwangsläufig. Die Uniform signalisiert dieselben Inter­ essen, das Gemeinsame, innerhalb dessen jeder ein Individuum bleibt. Diese zutiefst liberal-bürgerliche Auffassung galt auch für die Kunst und wurde etwa von Caspar David Friedrich, Kerstings Dresdner Künstlerfreund, nachdrücklich vertreten, indem er immer wieder auf der Mannigfaltigkeit als Kennzeichen bürgerlicher Freiheit be­ stand.36 Mit der barettartigen Kopfbedeckung, mit der sich Kersting auch mehrfach selbst als Lützower Jäger porträtierte (Abb. 13, S. 266), inspirierte die Uniform maßgeblich den "teutschenRock", auch "Demagogentracht" genannt, den jene Männer als Zeichen ihrer Gesinnung trugen, die die vaterländische Erneuerung nicht mit der Vertreibung Napoleons beendet sahen,37 sondern einen Nationalstaat anstrebten, von dem viele

32 46 x 35 cm, Berlin, Nationalgalerie; vgl. 1832-1982. Harnbacher Fest. Freiheit und Einheit. Deutsch­ land und Europa, Ausstellungs-Katalog Neustadt a.d. Weinstraße 1982, Nr. 28; Heide Schönemann, Zu Kerstings Gedächtnisbildern Theodor Körner, Friesen und Hartmann auf Vorposten" und .Die Kran­ zwinderin", in: Wissenschaft!. Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswiss. Reihe XXV (1986), Heft 3/4, S. 32-35; Hannelore Gärtner: Georg Friedrich Kersting, Leipzig 1988. 33 Hans-Wolf Jäger, Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 197 1, S. 38 ff., mit einer reichhaltigen Sammlung zur nationalen Metaphorik der Eiche. 34 Hölderlin in dem Gedicht .Die Eichbäume", in: ders., Stuttgarter Ausg. I, I, 1946, S. 201. 35 Garlieb Merke!, Briefe über einige der merkwürdigsten Städte im nördlichsten Deutschland, 1801, zit. nach Jäger (Anm. 33), S. 35. 36 .Denn die Verschiedenheit des Standpunktes ist die Verschiedenheit der Gemüter, und sie können auf entgegengesetztem Wege beide ein Ziel erreichen. Zit. nach Sigrid Hinz (Hrsg.), Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, Lizenzausgabe München 1968, S. 157 f. 37 Peter Märker, Geschichte als Natur. Untersuchungen zur Entwicklungsvorstellung bei Caspar David Friedrich, Diss. Kiel 1974, bes. Kap. 1. .





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sogar meinten, er müsse eine republikanische Verfassung haben. Dazu dürfte auch Kersting gezählt haben. Kersting ordnet die drei Lützower so, daß sie denBetrachter direkt einbeziehen. Der auf dem Waldboden lagernde Hartmann blickt aus demBild heraus und stellt so den Kontakt zumBetrachter her; der hinter ihm im Profil sitzende Körner leitet zum rechts stehenden Friesen über, der sich in dieBildtiefe und damit in den Wald wendet, wo sich aber keine Franzosen zeigen, sondern nur ein helles Licht. Zu dem Zeitpunkt, als Kersting dasBild malte, war nicht nur die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, sondern auch die napoleonischeBesetzung Europas beendet, alle drei Lützower Jäger aber, denen das Bild gewidmet ist, waren in den Kämpfen des Jahres 1813 getötet worden. DasBild ist also eine Widmung und ein Denkmal für die in der Schlacht Gefallenen, deren Tod in den Augen des Waffenbruders und Malers Kersting nicht vergebens war. Wofür zu kämpfen und notfalls auch zu sterben lohnte, zeigt das Pendantbild (Abb. 14, S. 267): Umstanden von den Stämmen mächtiger Eichen sitzt ein junges, zierliches Mädchen im hochgeschlossenen weißen Kleid unter einemBlätterbaldachin auf einer ArtRasenbank amRande eines klarenBächleins. Sie ist imBegriff, einen Kranz aus Eichenlaub fertig zu binden, während ein weiterer schon an ihrem Arm hängt und Laub für den dritten gepflückt in einem Körbchen bereitsteht. Mit den Eichenlaubkränzen ehrt sie also die drei imBefreiungskampf Gefallenen wie Sieger. Kersting scheint damit einem Appell Theodor Körners zu entsprechen. In einem seiner patriotischen Kampf­ lieder heißt es: Doch stehst Du einst, mein Volk, bekränzt vom Glücke, In Deiner Vorzeit heilgern Siegerglanz: Vergiß die teuren Todten nicht und schmücke Auch unsre Urne mit dem Eichenkranz.38 In dem ebenfalls von Körner verfaßten, zur Einheit rufenden .Bundeslied vor der Schlacht" liest man: Wachse, du Freiheit, der deutschen Eichen, Wachse empor über unsere Leichen.39 Der Tod wird also in Kauf genommen, weil er dem Vaterland dient. Kersting, der Körners Lieder mit Sicherheit kannte, der zu Ernst Moritz Arndt Kontakt hatte, dürfte mit seinemBilderpaar weitergehende Vorstellungen als die Vertreibung Napoleons ver­ folgt haben. Caspar David Friedrich jedenfalls meinte, solange sie Fürstenknechte blie­ ben, könne in der Kunst nichts Großes entstehen. Das Mädchen mit seinen blonden aufgesteckten Zöpfen und dem sittsam auf die Arbeit gerichteten Blick entspricht zwar den zeitgenössischen Vorstellungen der tu­ gendhaftenBürgerbraut, aber hier ist zugleich Germania repräsentiert.40 Dafür spricht

38 Zit. nach Max Jähns, Der Vaterlandsgedanke und die deutsche Dichtung, Berlin 1896, S. 79. 39 Theodor Körner, in: Theodor Körners Sämtliche Werke, hrsg. von H. Laube, Bd. 1, Wien/Leipzig/ Prag 1882, S. 24. 40 Hannelore Gärtner schließt eine solche Deutung explizit aus, offenbar weil sich eine allegorische Darstellung nicht mit politischer .Fortschrittlichkeit" zu vereinbaren scheint. Stattdessen habe Kersting die Kranzwinderin .vor der Gefahr des Trivialen bewahrt"; vgl. Gärtner (Anm. 32), S. 103. ·

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schon, daß Kersting sie als einzelne Figur den drei Männern gegenübergestellt hat. Sie verkörpert das, wofür die drei starben. Sie ist eine Braut im Geiste und hat daher keusch und begehrenswert zugleich zu sein. Dies zeigt sich nicht nur in dem strengen, idealisierten Profil, sondern auch in dem etwas altertümelnden Gewand mit der Hals­ krause, das ebenfalls der weiblichen altdeutschen Tracht nahe kommt. Das Mädchen wird umstanden von Eichen, in welche mit goldnen Lettern die Namen der drei in der vaterländischen Schlacht gefallenen Lützower Jäger in derselbenReihenfolge wie sie im Pendant als Personen dargestellt sind, eingekerbt wurden, so daß das Mädchen mitten unter diesen deutschen Freiheitshelden sitzt. Anstelle der Mauerkrone trägt die Kranzwinderin eine Haarkrone. Und sie tut das, was weibliche Personifikationen dann tun, wenn sie etwas verkörpern, um das ge­ kämpft wurde oder noch gekämpft werden muß, aber der Sieg als notwendiger antizi­ piert wird: sie verteilt Siegerkränze; je nach national-ideologischem Kontext konnten sie aus Lorbeer- oder Eichenlaub gewunden sein. So belohnt etwa die Borussia im weißen Kleid mit Eichenkranz, die 1792 anläßtich einesBesuches von Friedrich WH­ helm II. in Ansbach auf einer Schützenscheibe zum Kampf gegen die französische liberte auffordert, die Schützen mit Eichenlaub (Abb. 15, S. 268). Doch betrifft diese Vergleichbarkeit nur eine Funktion, die Kerstings weiß gekleidetes Mädchen mit Germania ebenso wie mit Personifikationen kleinerer Territorien teilt. Abweichend davon hat Kersting eine Allegorie ins Genrebild überführt, und damit die Differenz zwischen Erscheinung undBedeutung eingeebnet, wie es einem verbreiteten Selbst­ verständnis von bürgerlich orientierten Künstlern und Theoretikern entsprach. An die Stelle der Leerformel "Hermann", der die aufgeklärten Fürsten ebenso ver­ körpern konnte wie den männlichen Teil des Volkes, sind die drei namentlich be­ nennbaren Lützower Jäger getreten; an die Stelle der Germania ein deutsches Mädchen, das so ganz und gar nicht den Vorstellungen einer kämpferischen Jungfrau von Orleans entspricht, wie jüngst vertreten wurde. 41 Vielmehr hat KerstingBesonderes und Allge­ meines zusammengeführt und damit eine sich selbst erklärende allegorische Figur ge­ schaffen. Caspar David Friedrich, mit dem Kersting nicht nur gemeinsam durch das Riesengebirge gewandert war, sondern für dessen Landschaftsbilder er mitunter die Figuren malte42, hat als Aufgabe der Kunst in Abgrenzung zu dem, "was man [nur] mit leiblichen Augen gesehen und[... ] getreu nachgeäfft", das Zusammenfallen von An­ schauung im "leiblichen Auge", Bedeutung und Empfindung im "geistigen Auge" beschrieben.43 Dadurch erst kann die als "frostig" beschimpfte Allegorie, also auch eine Germania, einen nationalen Charakter annehmen, der sich nicht über Zeichen allein dem Verstande mitteilt, sondern rührt und damit persönlich verpflichtet. Eine solche "sich selbst aussprechendeBedeutung" transformiert die traditionelle allegori­ sche Struktur - ähnlich wie etwa Friedrichs "Frau vor der Morgensonne" - ohne sie jedoch aufzuheben. Es ist ein Verfahren, das Genre dem Alltäglichen zu entheben und

41 Schönemann (Anm. 32), S. 34. So etwa für Friedrichs "Morgen im Riesengebirge" von 1811; vgl. Helmut Börsch-Supan/Kar1-Wilhelm Jähnig, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, MOnehen 1973, Kat. 190, s. 3 15. 43 Zit. nach Hinz (Anm. 36), S. 119, vgl. auch S. 128.