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German Pages 248 Year 2019
Nadja Köffler Vivian Maier und der gespiegelte Blick
Image | Band 151
Nadja Köffler (Mag., MA PhD), geb. 1985, ist freischaffende Redakteurin sowie promovierte Medien- und Bild(ungs-)wissenschaftlerin und als Post-Doctoral-Researcher an der Universität Innsbruck im Feld der visuellen und (inter-) kulturellen Bildung sowie Medienethik tätig. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten wurden beispielsweise mit dem Best Poster Award (2014) der European Educational Research Association sowie dem Emerging Scholar Award (2018) des The Image Research Networks ausgezeichnet. Sie war Gastdozentin am Beit Berl College (Israel) und Gastwissenschaftlerin an der Hebrew University (Israel) sowie der KU University (Südkorea) und der Concordia University (Kanada).
Nadja Köffler
Vivian Maier und der gespiegelte Blick Fotografische Positionen zu Frauenbildern im Selbstporträt
Die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde von folgenden Einrichtungen und Stiftungen gefördert: Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« der Universität Innsbruck Amt der Tiroler Landesregierung/Abteilung Kultur Deutscher Akademikerinnenbund e.V. Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung e.V., D-53894 Mechernich, www.gerda-weiler-stiftung.de
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© Jessica Krecklo Naidu
Die Eulen sind nicht, was sie scheinen. Twin Peaks
Autoritratto, 1955 Nel centro, il buco nero della tua Rolleiflex, che tieni in mano come se fosse uno strumento a fiato, una camera del respiro. Ti appoggi al lavandino, le maniche della blusa rimboccate a liberare pelle e anima, a dare più resistenza agli occhi che verranno. Ponti e pagode alle tue spalle, sul mondo nitido delle piastrelle, e un’ immagine incorniciata – forse un disegno col carboncino – appesa al muro. Un cane osserva un gatto mentre sbriga i suoi bisogni in una lettiera colma di sabbia: messa in abisso d’ogni sguardo. Nello specchio, il reflesso del tuo pensiero, mentre studi il viso del tuo futuro, ancora lì, viva, Vivian, inalterata dalla tristezza di ciò che è fisso.1 Federico Italiano
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Selbstporträt, 1955 || In der Mitte das schwarze Loch | deiner Rolleiflex, die du in der Hand hältst | als wäre sie ein Blasinstrument, | eine Atemkammer. || Du lehnst dich an das Becken, | die Ärmel der Bluse hochgekrempelt, | um Haut und Seele zu befreien und mehr | Widerstand gegen die kommenden Blicke zu leisten. || Brücken und Pagoden hinter dir, | auf der klaren Welt der Fliesen, | und ein gerahmtes Bild – vielleicht | eine Kohlezeichnung – hängend || an der Wand. Ein Hund beobachtet | eine Katze, die ihr Geschäft | in einer sandgefüllten Schale verrichtet: | Mise en abyme aller Blicke. || Im Spiegel reflektieren sich deine | Gedanken, während du das Gesicht deiner Zukunft | erforschst, noch da, lebend, Vivian, | unverändert von der Traurigkeit des Fixierten. (Übersetzung von Nadja Köffler)
Inhalt
Wie Blicke Körper machen: Ein Geleitwort von Martin Sexl | 11 Prolog: Rezeptionsweisen, ikonografische Leerstellen und QR-Codes | 25 1
Vom Präsentierteller zum Werksinn: Thematische Hinführung | 41
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Vom Werk zur Fotografin: »Finding Vivian Maier« | 53
2.1 Maiers Œuvre, seine Rezeption und die Fragestellungen dieser Arbeit | 55 2.2 Maiers Nachlass: Ein fotohistorischer Sensationsfund und wem er gehört | 71 2.3 Das biografische Bild eines ›Misfit Genius‹ | 76 3
Von der Frau im Bild zum Bild der Frau: Selbstporträts als feministische Artikulation? | 85
3.1 Fotografie, Selbstporträt und Identität | 87 3.2 Weibliche Kunst zwischen kultureller Codierung und Selbstbehauptung | 93 3.3 Medienbilder als künstlerischer Bezugspunkt und ihre Auswirkungen auf das Bild der Frau | 100 4
Methodologisch-methodische Überlegungen zu einer werkbezogenen Oszillation zwischen Form, Inhalt und Kontext | 115
4.1 Der epistemische Gehalt von Bildern: Was uns Fotografien wissen lassen | 116 4.2 Zur ikonologisch-ikonischen Bildanalysemethode nach Ralf Bohnsack | 122
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Nah am Werk: Maiers Bilder sprechen lassen | 133
5.1 Bildkorpus und Analyseschritte im Überblick | 135 5.2 Kategorienbildung und Kategorisierungsbereiche | 138 5.3 Exemplarische Einzelbildanalysen | 143 5.3.1 Schattenporträt | 143 5.3.2 Beziehungsporträt mit weiblich konnotiertem Sujet | 150 5.3.3 Selbstfokussierendes Porträt | 159 5.3.4 Mehrfachspiegelungsporträt | 166 5.3.5 Einfachspiegelungsporträt | 173 5.3.6 Kameradistanzierendes Porträt | 183 6
Gesamtinterpretation und fotohistorischfeministische Kontextualisierung | 191
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Schlussbetrachtung | 213
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Literatur | 219
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QR-Code-Register | 233
Wie Blicke Körper machen: Ein Geleitwort von Martin Sexl
Die Tatsache, dass Arbeitskraft eine Ware ist, die gekauft und verkauft werden kann sowie einen Gebrauchswert und einen Tauschwert hat, ist ebenso wenig neu wie das Wissen darüber, dass weibliche Arbeitskraft im Durchschnitt weniger wert ist als männliche: Frauen erhalten oft immer noch für die gleiche Arbeit weniger Lohn, arbeiten überdurchschnittlich oft in wenig renommierten Berufen, sind häufig zu Teilzeit- oder Schwarzarbeit gezwungen (z.B. als Reinigungskräfte oder Pflegerinnen) und verrichten den Hauptteil der meist unbezahlten reproduktiven Arbeit wie Kindererziehung, Pflege von Angehörigen oder Hausarbeit (vgl. Penny 2012, S. 91ff). Da jede Form der Arbeit, auch reproduktive, (woanders) einen Mehrwert generiert,2 sind es auch überdurchschnittlich oft Männer, die von weiblicher Arbeit profitieren. Diese Form der Ausbeutung hat strukturelle wie kulturelle Gründe. Abstrakter gefasst könnte man daher auch sagen, dass die Unterscheidung in zwei Klassen (jene, die Mehrwert produziert, und jene, die diesen abschöpfen kann), teilweise deckungsgleich ist mit der Unterscheidung zwischen Männern und Frauen, die klarerweise mit einem Machtungleich-
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Wer als Kunde/Kundin einen IKEA-Schrank zusammensetzt, verrichtet unbezahlte Arbeit, deren Mehrwert dem Unternehmen zugute kommt. Es mag sein, dass dadurch die Güter billiger werden, allerdings verschafft dies dem Unternehmen, das immer in Konkurrenz zu anderen Möbelanbieter*innen und Handwerksbetrieben steht, einen Vorteil, der sich in letzter Konsequenz als Zwang auf andere – seien es Kund*innen oder andere Unternehmen – auswirkt.
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gewicht einhergeht. Dies betrifft nicht nur das strukturell-ökonomische Ungleichgewicht, sondern infiziert auch direktere Formen von Machtausübung, Machtmissbrauch und Ausbeutung. Dass Täter bei sexueller Gewalt, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Regel Männer und Frauen ihre Opfer sind, hat also nichts mit der ›Natur des Mannes‹ zu tun, sondern unter anderem mit ökonomischen Strukturen, die Habitus und ›Kultur‹ von geschlechterspezifischen Beziehungsformen prägen – in anderen Worten: mit Macht.3 Die Unterscheidung von Arbeitskraft und Arbeit (bzw. Arbeiter*in) garantiert gewissermaßen die Integrität der arbeitenden Person, denn sie verkauft nicht sich selbst, sondern nur einen Teil von ihr. Diese Unterscheidung verdeckt allerdings, dass in vielen Fällen Kaufende nicht nur Arbeitskraft erwerben – weil Verkaufende nichts anderes haben, das sie verkaufen können –, sondern auch einen weit direkteren Zugriff auf den Körper der Verkaufenden. Im Falle von Prostitution wird dies augenscheinlich, und zwar auch dann, wenn diese innerhalb geregelter Arbeitsverhältnisse organisiert ist. Aber auch in weniger offensichtlichen Fällen – wenn etwa reiche (ältere) Männer mit (oft weit jüngeren) Frauen, die ökonomisch in einer schwächeren Position sind, eine ›Partnerschaft‹ eingehen – ist die grundlegende Struktur beobachtbar. Frauen (als Ware) sind in Zeiten des Kapitalismus häufiger als Männer gezwungen, visuell attraktiv zu sein. Nicht nur, aber auch deshalb sind es viel mehr Frauen als Männer, die mit Hilfe von (teuren) Körperpflege- und Schminkprodukten in ihren Körper investieren und an der Optimierung ihres Aussehens arbeiten (müssen), was die Reproduktion der ›Arbeitskraft‹ (in dem Falle: des Körpers) verteuert und die ökonomische Position zusätzlich schwächt.4 Nicht der Gebrauchswert des Körpers wird solchermaßen optimiert, sondern die
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#MeToo hat die enge Verknüpfung von Sexualität und Macht vor Augen geführt. Eva Illouz dazu: »Die sexuelle Macht der Männer leitet sich von ihrer sozialen und ökonomischen Macht ab.« (Illouz 2018a, S. 48)
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»Von der Arbeitszeit, die für den Kauf und den strategischen Einsatz von Kleidung, Frisur und Schönheitsprodukten aufgewendet wird, über die tatsächliche Arbeit bei Diät und Fitness, bis zur Erschaffung und Erhaltung der sexuellen Rolle – die Selbstverdinglichung ist Arbeit, zuerst und vor allem.« (Penny 2012, S. 37) »Weiblichkeit ist so eng mit Arbeit und Verdinglichung verbunden, dass
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»Erscheinung des Gebrauchswertes […]. Schein wird für den Vollzug des Kaufakts so wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach ›Sein‹ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft. Mit dem System von Verkauf und Kauf tritt auch der ästhetische Schein, das Gebrauchswertversprechen der Ware als eigenständige Verkaufsfunktion auf den Plan. […] Sinnliches wird in diesem Zusammenhang zum Träger einer ökonomischen Funktion: zum Subjekt und Objekt ökonomisch funktionaler Faszination.« (Haug 2009, S. 29f; Hervorhebung M.S.)
Was Wolfgang F. Haug zufolge für Waren ganz allgemein gilt, gewinnt angesichts des (weiblichen) Körpers, der als Ware funktioniert, noch eine entscheidende Bedeutung hinzu: Die Schönheit des Körpers (d.h. das, was dafür gehalten wird) ist nicht alleine Instrument des Gebrauchswertversprechens (wenn etwa attraktive Frauen für Produkte aller Art werben), sondern wird in bestimmten Formen der Tauschbeziehung selbst zum (vermeintlichen) Gebrauchswert. »Weiblichkeit an sich ist zur Marke geworden« (Penny 2010, S. 12) und Schönheit wird von einer verkaufsfördernden Eigenschaft zum Produkt, das man erwirbt, was nicht zuletzt »die zentrale Bedeutung der Sexualität für das Gesamtsystem der Unterdrückung von Frauen« (Illouz 2018a, S. 48) veranschaulicht. Klarerweise sind es – es geht ja um die visuelle Wahrnehmbarkeit – bestimmte regulierende Blickregime, die die Tauschbeziehung initiieren und determinieren. Auch der Blick hat ein Geschlecht: In der Tendenz sind es Männer, die schauen, und Frauen, die angeschaut werden. Die geschlechtsdeterminierende Hierarchie zwischen Subjekt und Objekt findet also im Verhältnis von Schauen und Angeschaut-Werden eine Entsprechung. Es reicht ein flüchtiger Blick in ein beliebiges Lifestyle-Magazin oder in eine Episode der frauenverachtenden Casting-Modeshow Germany’s Next Topmodel, um die Ordnungen des Blicks identifizieren zu können. Im Internet ist es nicht viel anders: Wer etwa bei der GoogleBildersuche die Namen der beiden Weltklasse-Schiläufer*innen Marcel Hirscher und Lindsey Vonn eingibt, bekommt zahlreiche Fotografien des
die Merkmale des Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt ge- und verkauft werden können. […] Feminismus wird als Bedrohung für die Weiblichkeit dargestellt, während er letztlich doch eine Bedrohung für das Geschlecht als Arbeitskapital ist.« (Ebd., S. 69)
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erfolgreichen Sportlers Marcel Hirscher (bei der Siegesfahrt, im Rennanzug, mit Pokal, mit Schi etc.) und der attraktiven Frau Lindsey Vonn (beim Yoga in engen Hosen, im rückenfreien Minikleid, im Badeanzug etc.) serviert. Die Beispiele Life-Style-Magazine und Internet machen auch rasch deutlich, dass die herrschenden Blickregime leicht kritisiert, aber nur sehr schwer geändert werden können. Denn wir haben es nicht nur mit hegemonialen Verhältnissen zu tun, mit denen nahezu alle einverstanden sind (oder zu sein scheinen), sondern auch mit Verhältnissen, die von starken ökonomischen Interessen determiniert sind. Das Internet verstärkt hegemoniale Verhältnisse noch zusätzlich, denn die großen Digitalkonzerne wie Facebook oder Google agieren global (und ohne ›Zentrum‹) und die verwendeten Algorithmen verstärken gewohnte Wahrnehmungsmuster.5 Die performative Kraft von Fotografien, die Betrachter*innen zum Schauen und zum Handeln auffordert, wird nicht nur deutlich bei der Gestaltung von visuell wahrnehmbaren Oberflächen – es werden fotografische Zeichen ebenso manipuliert (etwa durch Apps, mit denen Selfies bearbeitet werden können) wie die dargestellten Körper selbst (etwa durch Schminke) –, sondern reicht inzwischen sehr viel weiter und berührt nicht mehr nur visualisierte Körper: So bemühen sich vor allem junge Frauen vermehrt um Körperkorrekturen, weil sie so aussehen wollen wie ihre Vor-Bilder, an denen sich die Bearbeitung der eigenen Selfies orientiert. Der Versuch der Optimierung des eigenen Körpers rückt die Geschlechtszugehörigkeit in den Vordergrund und wird mit Hilfe von Bildern verhandelt, die Geschlecht binär (Mann/Frau) organisieren und von einer vermeintlich präzise
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Eva Illouz zeigt auf, dass »Weiblichkeit eine visuelle Darbietung in einem von Männern kontrollierten Markt [ist], die sich an den männlichen Blick richtet und von Männern konsumiert wird« (Illouz 2018b, S. 162). Dabei geht es im Marx’schen Sinne um die Generierung von Mehrwert, die Gender-Verhältnisse in Klassen-Verhältnisse transformiert: »Eine Klasse – die Männer – zieht Wert aus den Körpern einer anderen Klasse – der Frauen.« (Ebd., S. 168) Die für ein Verhältnis von Kaufenden und Verkaufenden notwendige Freiheit souveräner Rechtssubjekte entpuppt sich als ›Freiheit‹ eines »skopischen Kapitalismus […] – also der intensiven und allgegenwärtigen Ausbeutung des sexuellen Körpers durch die visuellen Industrien« (ebd., S. 332).
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definierbaren Grenze dazwischen ausgehen. Judith Butler folgend kann also von einer Herstellung von sex gesprochen werden. Werbung und Pornografie sind zwei zentrale (und vorwiegend mit bildlichen Zeichen arbeitende) Instanzen – und dies betrifft nicht nur die Wirkmächtigkeit der inszenierten Bilder auf individuelle Körper, sondern auch die ökonomische Macht (die bei der Pornografie weniger bekannt, aber nichtsdestoweniger enorm sein dürfte) –, die die Herstellung von sex regulieren, und zwar gleichsam im ›industriellen Maßstab‹. »Ohne sich dessen bewusst zu sein, sind die Klageweiber der Ware, sind Werbung und Pornographie Geburtshelferinnen des neuen Körpers der Menschheit.« (Agamben 2003, S. 50) Auch wenn in der Werbung nicht der Körper, sondern sein Bild »technisiert« wurde (ebd., S. 49) – und nur dadurch »konnte der strahlende Körper der Werbung zur Maske werden, in der der hinfällige, schmächtige Körper des Menschen seine prekäre Existenz führt« (ebd., S. 49) –, so führen Bilder doch letztlich durch imaginäre Identifikation zu einer Technologie von Körperlichkeit, weil nicht nur die Models in der Werbefotografie ihren Körper auf Verkaufbarkeit zurichten müssen, sondern Menschen (vor allem Frauen) ganz generell den Bildern dieser Models gleichen möchten oder zu gleichen haben. »Nie wurde der – zumal weibliche – Körper des Menschen so massenweise manipuliert, dass er von den Techniken der Werbeindustrie und der Warenproduktion gleichsam durch und durch neu erfunden wird […].« (Ebd., S. 49)6
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Schon Roland Barthes war sich dessen bewusst, dass es Kommodifizierungsprozesse sind, die die Produktion von Zeichen und von Körpern verschränken und zu einer Ausbildung von (individueller) Identität als Marke führen: In der zweiten, in der Zeitschrift Esprit 1953 erschienenen »mythologie«, die in die Buchpublikation Mythologies nicht aufgenommen wurde, beschreibt Barthes einen Besuch in den Folies-Bergère, wo sich das Gesicht (der tanzenden »girls«) als Ware manifestiert (heute würde man sagen, dass seine instagrammability entscheidend ist), die »gekauft« werden kann, »vor allem, weil es ein konstruierter Gegenstand ist, der durch mechanische Verfahren aus dem Nichts gezogen wurde« (Roland Barthes in der Übersetzung von Ette 1998, S. 118; Hervorhebung M.S.). Die harte Arbeit und die Gewalt der physischen Zurichtung von Körpern durch »mechanische Verfahren« muss dabei ausgeblendet werden und ist im ›Endprodukt‹ – den glatten, lächelnden Gesichtern der »girls« in Life-StyleMagazinen, im Internet, in Casting-Shows oder auf den Bühnen der Varietés –
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Es mag sein, dass Frauen auch in früheren Jahrhunderten betrachtete Objekte (des Tausches) waren – und man sich dessen auch bewusst war: Man möge nur einen Blick in die realistischen Romane des 19. Jahrhunderts werfen –, aber die ausufernde und globalisierte gegenwärtige Produktion von Bildmaterial schreibt sie mehr denn je in dieser Rolle fest. Erstens ist im postindustriellen Spätkapitalismus die bedeutsamste Produktion von Waren jene von Zeichen geworden (vgl. Blasy 2018, S. 40), die unsere Wahrnehmung der Welt weit stärker determinieren als die direkte Erfahrung, zweitens führt die ausgeprägte Bilderkultur des 21. Jahrhunderts (Flickr, Instagram, Youtube etc.) zu einer Stabilisierung gewohnter Muster durch »die Herstellung scheinbar natürlicher, weil selbstverständlicher Zeichen, deren naturalisierende Effekte in ihren Strategien der Authentifizierung, der Beglaubigung und der Herstellung von Evidenz liegen. Zu diesen gehören in besonderem Maße fotografische Zeichen, da diese aufgrund der ihnen zugeschriebenen Transparenz, Wahrheit und Unmittelbarkeit als potenzielle Träger von Ideologien angesehen werden können.« (Ebd., S. 40; Hervorhebung M.S.)
nicht sichtbar und darf auch nicht sichtbar gemacht werden, weil sonst Attraktivität (und damit das Gebrauchswertversprechen) zunichte gemacht werden würde – sollen doch Frauen ›von Natur aus‹ schön sein. Dass aber das vermeintliche Nichtstun des Posierens im Modelbusiness großer physischer Anstrengung bedarf, wird erst dann deutlich, wenn die Pose (Bourdieu 1981, S. 94f) als Pose erkennbar wird, indem das Nichtstun im Sinne von Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz ausgestellt, d.h. in Kunst verwandelt wird. Marina Abramovićs The Artist Is Present ist eine machtvolle Demonstration davon. Die Gesellschaft ist die Mechanismen der Werbung im Internet betreffend (mittlerweile) sensibilisiert und diskutiert auch darüber. (Ob Bewusstsein und Debatte alleine schon ausreichend sind, um gegen die Werbeindustrie etwas ausrichten zu können, muss allerdings bezweifelt werden.) Die Pornografie – bei deren »sanktionsbefreiten Durchmarsch [es] nicht nur um Milliardenprofite [geht], sondern um die systematische Zerstörung von Menschen und ihren Beziehungen« (Reiser 2018, S. 85) – fliegt immer noch weitgehend unterhalb des Radars von Analysen und Auseinandersetzungen.
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Fotografien sind nicht einfach transparent, wahr und unmittelbar, vielmehr schreiben wir ihnen das erst zu und glauben doch an die vermeintliche Natürlichkeit ihrer Transparenz, ihrer Wahrheit und ihrer Unmittelbarkeit – und das macht ihre Macht verführerisch. Durch diesen Glauben werden aus mit geschichtlichen und kontingenten Bedeutungen und Konnotationen aufgeladenen Zeichen Abbilder natürlicher Zustände, also Mythen im Sinne von Roland Barthes (Barthes 2010). Der durch die Ikonizität und Indexikalität fotografischer Zeichen hervorgerufene »imaginäre Kurzschluss zwischen Zeichen und Bezeichnetem« und das »trügerische Vertrautsein mit Fotografien« (Blasy 2018, S. 13) führen zur Produktion eines »Mythos von der unmittelbaren Verständlichkeit« (ebd., S. 19), der die Wirksamkeit der Kritik an dieser Produktion behindert und es unmöglich erscheinen lässt, eine andere fotografische und andere fotografische Praxis ins Werk zu setzen – und dies vor allem dann, wenn etwas zur Darstellung kommen soll, das nicht sichtbar ist. Merkmale und Verhaltensweisen, die mit race, ethnicity, sex/gender oder age in Verbindung gebracht werden, treten auf der Oberfläche des fotografischen Zeichens sehr viel leichter in Erscheinung (in Form von Kleidung, bestimmten Gegenständen und Techniken, Hautfarbe, physischem Erscheinungsbild etc.) als jene ökonomischen und sozialen Strukturen, die mit sozioökonomischen Kategorien (z.B. class) gefasst werden müssen und erst zur Herausbildung von vielen dieser Merkmale und Verhaltensweisen führen.7 Die Fotografie in »ihrer Unfähigkeit zu verneinen« (ebd., S. 207) invisibilisiert also in doppelter Art und Weise: Sie stellt auch dort in Kulturen verwandelte Lebensstile, Milieus und Gemeinschaften dar, wo die Gesellschaft repräsentiert werden müsste, und naturalisiert diese Kulturen zusätzlich noch durch jenen Akt der Affirmation, der durch die Konnotationen des Begriffsfeldes der Kultur nahegelegt wird. 8
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»Oberflächen zeigen Geschlecht, race und Alter, sie zeigen Merkmale bestimmter Lebensstile wie Wohnverhältnisse, Konsumverhalten, Geschmackspräferenzen und Freizeitgestaltung. Was sie nicht zeigen, sind Klassenzugehörigkeit bzw. Positionen innerhalb des Lohnerwerbssystems. Die Sichtbarkeit der Kategorien Geschlecht, race und Alter verlagert jedoch die Wahrnehmung von Differenzen in das Feld der Natürlichkeit.« (Blasy 2018, S. 206)
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Und auf wundersame Weise verwandelt sich die Arbeiterklasse, deren Interessen letztlich in einer Abschaffung von Klassengrenzen liegen (müssten), in eine
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Die sozialdokumentarische Fotografie (von Jacob A. Riis über August Sander, Lewis W. Hine, Walker Evans und Dorothea Lange bis zu Richard Avedon) verfehlt ihr aufklärerisches Ziel, weil sie die Mechanismen von Auswahl, Kontextualisierung und Rezeption ebenso wenig zur Darstellung bringen kann wie jene Normen, die die Abweichung davon erst als solche definieren (vgl. dazu Blasy 2018). Blasy zeigt, dass auch Allan Sekulas Montagestrategien in Fish Story (und dies gilt für viele andere Formen der Montage auch) – die Fotografien narrativisieren und in komplexe Textumgebungen einbetten – »ebenso an die Sichtbarkeit von Oberflächen gebunden« bleiben (ebd., S. 205) und damit Immaterialitäten und Strukturen tendenziell ausblenden müssen, auch wenn sie »Kontexte als multiple Bezugssysteme« (ebd., S. 216) herstellen. Es scheint nahezu unmöglich, der festschreibenden Tendenz der Fotografie, zumindest der Dokumentarfotografie, zu entgehen. Um Prozesse der Festschreibung zumindest präzise benennen und beschreiben zu können, müssen Fotografien gegen den Strich gelesen werden, d.h. man muss das durch die Wahrnehmung der Oberfläche (race, ethnicity, sex/gender oder age) Verdeckte, also sozioökonomische Strukturen und Bedingungen sowohl des Invisibilisierten wie auch von Invisibilisierungsprozessen, auf den Begriff bringen. Man denke etwa an jene SchwarzweißFotografie von Raymond Depardon, die 1981 in den USA entstand und die einen schwarzen Zeitungsverkäufer in den Straßen Manhattans zeigt. Der in die Kamera blickende Zeitungsverkäufer im T-Shirt mit einer Frisur im Afro-Look der 1970er Jahre und weit geöffnetem Mund – wohl die in die Kamera gehaltene Zeitung mit der Headline »CIA scandal« ankündigend – nimmt an eine Hausmauer gelehnt die linke Bildhälfte ein, während in der rechten Bildhälfte (die Hausecke bildet die Grenze zwischen den Bildhälften) ein Gehsteig mit sechs, sieben durchwegs weißen Passant*innen, geöffnete Markisen bei den Geschäften und auf der Straße parkende Autos sichtbar sind. Auffallend ist, dass alle Passant*innen sich in Richtung des Aufnahmestandpunktes bewegen – alle Personen auf dem Bild sind also der Kamera zugewandt und schauen nach vorne, aber nur die sich fast auf gleicher Höhe wie der Zeitungsverkäufer befindende Passantin im Vordergrund
(z.B. geschlechtsspezifisch konnotierte) Arbeiterkultur, die Anerkennung und Schutz einfordert.
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blickt, wie auch der Schwarze, ebenfalls in die Kamera – und niemand auf der Fotografie die anderen Personen wahrzunehmen scheint. Auf den ersten Blick ist nichts Ungewöhnliches zu sehen: ein Schwarzer, der – vermutlich mangels besserem Job gezwungen – Zeitungen verkauft, eine deutliche Grenze zwischen linker und rechter Bildhälfte, also zwischen dem schwarzen Individuum und der weißen Mehrheitsgesellschaft, und niemand nimmt in der unpersönlichen Welt der Großstadt den anderen wahr. Diese Fotografie erschüttert uns nicht, wie viele andere vergleichbare auch: »Das liegt daran, daß wir ihnen gegenüber jedesmal unserer Urteilskraft beraubt sind: Man hat für uns gezittert, für uns nachgedacht; der Photograph hat uns außer dem Recht auf intellektuelle Zustimmung nichts übriggelassen.« (Barthes 2010, S. 135) Aber dass diese Fotografie von Depardon wirkungslos ist, hat weniger mit der Fotografie selbst als vielmehr mit unseren Wahrnehmungsgewohnheiten zu tun: Wir sehen Differenzen von race auf dieser Fotografie, weil diese so schnell sichtbar sind und weil wir diese zu sehen gelernt haben. In der Regel entdeckt man erst auf den zweiten Blick, dass auf dem Gehsteig (mit Ausnahme eines Mannes, von dem nur ein Arm sichtbar ist) durchwegs Frauen unterwegs sind, und alle tragen, so weit ersichtlich, Einkaufstaschen. D.h. die Kategorie race überlagert die des Geschlechts, die allerdings ebenfalls auf der Oberfläche der Fotografie zu sehen ist, und noch viel mehr die der Ökonomie, der Klasse. Wenn man tiefer in die Frage sozialer und ökonomischer Differenzen, Schichtungen und Klassenunterschiede eindringen möchte, dann bedarf es der Reflexion und einer die Verschränkung unterschiedlicher Kategorien berücksichtigenden Interpretation, die einiges an Wissen über die (urbanen) Gesellschaftsstrukturen der USA der 1970er und 80er Jahre voraussetzt und hier nur mit einigen Fragen angedeutet werden kann: Warum sind keine weißen Männer zu sehen? Sind diese alle auf einem/ihrem Arbeitsplatz? Gehen Männer nicht einkaufen und wenn ja, warum nicht? Sind die Frauen auf dem Gehsteig arbeitslos? Oder haben sie – weil sie nicht wie ›typische‹ Arbeitslose aussehen – einen Teilzeitjob? Einen (Ehe-)Mann, der sie versorgt? Oder vielleicht ein Erbe, von dem sie leben können? Warum tragen diese Frauen alle Einkaufstaschen? Was haben sie gekauft, wenn es augenscheinlich nicht die Zeitung ist, die der Schwarze neben ihnen anpreist? Gehen sie jetzt nach Hause, um für ihren Mann zu kochen? Woher haben
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sie das nötige Geld bekommen, mit dem sie die Einkäufe bezahlt haben? Warum sind keine schwarzen Frauen zu sehen? Um Fotografien wieder mit kritischer Energie aufzuladen reicht es jedoch nicht, sie nur gegen den Strich zu lesen. Man muss auch jene Rezeptionsbedingungen hinterfragen (und diese zu verändern trachten), innerhalb derer Fotografien in der Regel wahrgenommen werden, denn die Bedingungen der Darstellung beeinflussen deren Rezeption wesentlich mit. Die herrschenden Rezeptionsbedingungen werden häufig durch Internet, Bildbände oder Fotoausstellungen determiniert, in denen und mit Hilfe derer die Fotografien gezähmt werden, und dies vor allem deshalb, weil die Rezeptionsbedingungen dabei invisibilisiert werden und dadurch die auf der Fotografie möglicherweise zum Ausdruck gebrachte Kritik sofort wieder von Sehgewohnheiten verschluckt wird. Die beschriebene Fotografie war 2018 in einer Werkschau von Raymond Depardon in den Rencontres de la Photographie d’Arles zu sehen, in einer der Dutzenden auf die Stadt verteilten Fotoausstellungen des großen, seit einem halben Jahrhundert jährlich stattfindenden Festivals. Brav war eine Fotografie neben der anderen in Augenhöhe aufgehängt, gut ausgeleuchtet in einem klimatisierten Raum, und brav schlenderten die bürgerlichen Tourist*innen, darunter auch ich selbst, und Bewohner*innen der Stadt und ihrer Umgebung von Fotografie zu Fotografie, nie zu lange verweilend – man will ja noch mehr anschauen, und der Urlaub ist kurz –, aber doch so lange, dass man von anderen Besucher*innen nicht als uninteressiert oder gar kulturfern wahrgenommen werden konnte. Und nach einem Glas Weißwein in der in der Sommerhitze flirrenden Stadt ging es weiter in den nächsten (hoffentlich klimatisierten) Ausstellungsraum. 9 Es spricht wenig oder nichts gegen eine solche Form der Rezeption, weil sie uns angenehm ist und man die Fotografien gut betrachten kann. (Allerdings lullt sie uns ein und macht daher vieles unsichtbar.) Und weil sie sich als erfolgreich herausgestellt hat, tritt sie klarerweise auch sehr häufig auf. Aber es sind auch andere Formen der Aus- und Darstellung möglich (und werden auch immer wieder realisiert), und zwar solche, die Fra-
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Nur manchmal wird man ein wenig aufgeschreckt, etwa in der Fotoausstellung über die Roma-Familie Gorgan (bei den Rencontres von 2017), wo – zumindest bei meinem Besuch – vor und in der Ausstellung Familienmitglieder, die auch auf den Fotografien zu sehen waren, Besucher*innen um Geld anbettelten.
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gen nach dem Kontext und der Rezeption von Fotografien (und von Kunst ganz generell) hervorrufen können; die die Frage aufwerfen, was wir nicht sehen, wenn wir Fotografien anschauen: Wer finanziert die Rencontres d’Arles? Die Hochglanzkataloge und Bildbände, die dabei entstehen? Wer entscheidet wie über die Hängung? Eine Jury? Wie ist die Jury zusammengesetzt? Was hat das alles mit der Entwicklung der Stadt Arles zu tun? Mit dem Neubau der École Nationale Supérieure de la Photographie oder dem riesigen von Frank Gehry geplanten Turm der privaten Fondation LUMA? Welchen Einfluss hat die Tatsache, dass heute auf dem Kunstmarkt mit Fotografien genauso gehandelt wird wie mit Kunst, auf deren Produktion und Rezeption? Was bedeutet die Verdrängung staatlicher Museen und Sammlungen durch private für Produktion, Ausstellung und Rezeption von Kunst und für ihren Handel? Warum nehmen wir uns so wenig Zeit, wenn wir Kunstausstellungen besuchen?10 Vergleichbare Fragen stellt Nadja Köffler im vorliegenden Buch über die Fotografien von Vivian Maier (1926–2009), einer Fotografin, die erst posthum und mehr oder weniger durch Zufall entdeckt und auch sogleich durch den ›männlichen Blick‹ und durch kapitalistische Aneignungs- und Verknappungsstrategien (nämlich durch die den Zugang zu den Fotografien kontrollierenden Praktiken ihres ›Entdeckers‹ John Maloof11 sowie beteiligter Galerien) ausgestellt, eingehegt, ›domestiziert‹ und vermarktet wurde. Dass der Kontext der Entdeckung und der Rezeption der Fotografien deren Wahrnehmung und die der Person Vivian Maier wesentlich prägen, wird dabei ebenso ersichtlich wie die Möglichkeiten einer anderen Praxis der Fotografie: Auch wenn sich viele Fotografien von Vivian Maier auf den ersten Blick nicht von anderen, herkömmlichen sozialdokumentarischen Darstellungsmustern folgenden, unterscheiden mögen, so machen Nadja Köfflers Analysen sowie Kontextualisierungen einiger ausgewählter Foto-
10 All diese Fragen berühren eine weitere, nämlich die nach dem Status der Kunstautonomie im kulturpolitischen Diskurs. Zugespitzt formuliert: Ist diese Autonomie notwendige Voraussetzung, um einen unabhängigen Ort der Kritik einnehmen zu können? Oder ist sie jenes Instrument der bürgerlichen Klasse, die Wahrnehmungsgewohnheiten und (elitäre) Rezeptionskontexte festschreibt? 11 Die den Dokumentarfilm (von John Maloof und Charlie Siskel) »Finding Vivian Maier« inkludieren, der 2015 für den Oscar nominiert wurde.
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grafien doch deren Potenzial deutlich: Es sind gerade die (oft durch Spiegelungen gebrochenen) Selbstporträts von Vivian Maier, die in der Betrachtung von Nadja Köffler einen female gaze erlauben, der möglicherweise männlich konnotierte Blickregime zu unterlaufen vermag. Die Beharrungstendenz des Mediums Fotografie und die Tatsache, dass wir von Fotografien tagtäglich geradezu überschwemmt werden, benötigen jedoch nicht nur eine andere fotografische Praxis und andere Formen ihrer Produktion, Verbreitung, Ausstellung und Rezeption, sondern auch andere Formen der wissenschaftlichen Analyse- und, vor allem, Darstellungspraxis, denn auch die gewohnten und meist unbewussten Posen geisteswissenschaftlicher Praktiken tendieren zur Festschreibung dessen, was kritisiert wird, und damit zur Stärkung von hegemonialen Mustern. Nadja Köffler wählt eine ungewöhnliche Form, um nicht nur fotografische und perzeptive Stabilisierungspraktiken zu unterlaufen, sondern auch auf jene Machtdiskurse hinzuweisen, die hinter diesen wirksam sind: Aus der Not, nämlich die Verweigerung der Bildrechte für den Abdruck der Fotografien von Vivian Maier, hat sie eine Tugend gemacht: Anstelle der analysierten Fotografien finden sich im Buch leere Rahmen, im Anhang des Buches sind dazu gehörende ›gerahmte‹ QR-Codes platziert, die auf die Quelle verweisen und die im Laufe der Zeit möglicherweise – aber das ist Teil des Spiels mit der Frage von Repräsentationsstrategien – ins Leere laufen. QR-Codes sind als Zeichen nur mit einem technischen Apparat (im Sinne von Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz) – in der Regel dem Smartphone – decodierbar, was die Wahrnehmung des solchermaßen Verschlüsselten verändert und vielleicht Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen vermag, vor allem in diesem Falle, in denen die QR-Codes wie eine Liste oder ein Katalog von Tableaus präsentiert werden. Es mag sein, dass der Aufwand, um die Fotografien mit dem Smartphone sichtbar zu machen, nicht sehr groß ist, aber doch muss man die gängige Lektüreposition ein wenig verändern. Und auch die Wahrnehmung des wissenschaftlichen Textes selbst wird durch die ›gerahmten‹ QR-Codes vielleicht ein wenig irritiert, zumindest so viel, dass à la longue andere und noch ungewohnte Fragen, Lektüreweisen, Positionen und Positionierungen ermöglicht werden.
Wie Blicke Körper machen | 23
LITERATUR AGAMBEN, GIORGIO (2003). Die kommende Gemeinschaft. Berlin: Merveverlag. BARTHES, ROLAND (2010). Mythen des Alltags. Frankfurt/M.: Suhrkamp. BLASY, STEFANIE (2018). Bilder der Arbeiterklasse? Allan Sekulas ›Fish Story‹ zwischen Kritik und Affirmation sozialdokumentarischer Darstellungspraktiken. Innsbruck: innsbruck university press. BOURDIEU, PIERRE (1981). Die gesellschaftliche Definition der Photographie. In: Pierre Bourdieu u.a. (Hg.). Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 85–109. ETTE, OTTMAR (1998). Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. HAUG, WOLFGANG F. (2009). Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ILLOUZ, EVA (2018A). Es ist Krieg. In: Die Zeit, (42) (Österreich-Ausgabe) vom 11. Oktober 2018, S. 48. ILLOUZ, EVA (2018B). Warum Liebe endet. Berlin: Suhrkamp. PENNY, LAURIE (2012). Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus. Hamburg: Edition Nautilus. REISER, WOLF (2018). Verheddert im Netz. Über die Pornographisierung unseres Lebens. In: Lettre International, (121) Berlin 2018, S. 85–87.
Prolog: Rezeptionsweisen, ikonografische Leerstellen und QR-Codes
»Soy. Eres... ¿Qué has sido? Una espía sin sueldo. Una artista sin público. Una mujer sin hijos. Siempre escondida detrás de ti misma. No te gustaba verte. No te gustó nunca. Siempre mirando hacia dentro o más allá de tu sombra, aunque, a pesar de todo, te observabas. No mucho, porque enseguida apretabas el botón, se abría el obturador, y, clic, ahí quedaba para siempre tu silueta, en el espejo del agua, en las olas de una cornucopia o en la superficie suave y lisa de una esfera de metal, multiplicada hasta el infinito. En todas partes y en ninguna, porque estabas allí aun sin ser, porque eras sin estar, como si no tuvieras vida, y tu nombre no importaba. Una necesidad inmensa de anonimato, de no aparentar, de no atarte a nada ni a nadie, te ha llevado siempre a cambiar de nombre. A inventar identidades. A esconderte. ¿Qué eres? ¿Qué has sido?« Vias Mahou/2018, S. 1112
12 »Ich bin. Du bist ... Was warst du? Eine Spionin ohne Gehalt. Eine Künstlerin ohne Publikum. Eine Frau ohne Kinder. Immer versteckt hinter deiner selbst. Du hast dich nicht gern angesehen. Du hast es nie gemocht. Immer nach innen oder hinter deinen Schatten blickend, und doch, trotz allem, hast du dich selbst beobachtet. Nicht für lange, denn sogleich hast du den Auslöseknopf gedrückt, der
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Wer war Vivian Maier? Eine Spionin ohne Auftrag? Eine Fotografin ohne Öffentlichkeit? Eine Frau ohne Kinder? – fragt die spanische Schriftstellerin Berta Vias Mahou eröffnend in ihrem kürzlich erschienenen literarischen Werk Una vida prestada (2018). Diese Fragen wollen gestellt werden, die Antworten bleiben willentlich undeutlich. Vias Mahou nimmt Einschnitte in Maiers 83-jähriger Biografie – ihre europäische Herkunft, ihre Tätigkeit als Kindermädchen, ihren Tod in einem Chicagoer Pflegeheim oder die Versteigerung ihres Nachlasses – als Ausgangspunkt ihrer fiktionalen ›Rekonstruktionen‹ und verpackt sie in emotionale Episoden über ein mögliches, aber dennoch ›geliehenes‹ Leben. Damit nähert sie sich Maier auf eine Weise, die herbe Kritik an den als Wahrheit verkauften Spekulationen um ihr Leben äußert und Maiers Entscheidung der NichtVeröffentlichung ihrer Bilder als höchste Form der unabhängigen, ›freien‹ Kunst deklariert. Künstlerische Interpretationen wie die von Vias Mahou sind heute, nach Jahren der öffentlichen Vorführung und Vermarktung von Maiers Leben und ihren Bildern, notwendig, um als Gegenantwort auf die Maloof’sche Rezeption eines verschrobenen Kindermädchens Fragen über den Wert von Kunst, das Recht am eigenen Bild und der Deutungshoheit über Maiers Œuvre zwischen künstlerischem Elitismus und Populismus auszuverhandeln. Vias Mahous Werk bleibt dabei kein Einzelfall. Ein Lyriker aus Saskatchewan widmet sich aktuell einem Gedichtband zu Maiers Lebensgeschichte und Theatergruppen wie jüngst ein Ensemble aus London arbeiten an der szenischen Darbietung der Maier-Rezeption (vgl. Bannos 2017, S. 281). Die deutsche Band Erdmöbel singt über die »Rollei von Vivian Maier« und der ungarische Künstler Zoltan Labas richtet in der Ausstellung
Verschluss öffnete sich, und klick, da war für immer deine Silhouette, im Spiegel des Wassers, in den Wellen eines Füllhorns oder auf der glatten und geschmeidigen Oberfläche einer Metallkugel, vervielfältigt bis in die Unendlichkeit. Überall und nirgendwo warst du, weil du warst, ohne zu sein, weil du, ohne zu sein, bist, als hättest du kein Leben und dein Name war egal. Ein immenses Bedürfnis nach Anonymität, nach Nicht-Erscheinen, nach Nicht-Bindung an irgendetwas oder irgendjemanden, es hat dich dazu bewogen, deinen Namen stets zu ändern. Identitäten zu erfinden. Dich zu verstecken. Was bist du? Was warst du?« (Übersetzung von Nadja Köffler)
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UMRAUM eine »Hommage á Vivian Maier« (so der Titel des Werkes) und präsentiert Maiers Fotografie eines Gemäldes mit Frauenprofil als isoliertentrückten Nachbau. Maiers Bilder und ihre Geschichte sind dabei »invention und inspiration« (ebd., S. 281) zugleich. In diesen Arbeiten verkörpert sich das Bedürfnis der Stellungnahme. Der Diskurs muss am Leben gehalten werden, vor allem, weil Maiers Vermächtnis bis vor kurzem fast ausschließlich in den Händen von rivalisierenden Männern mit kaufmännischem Geschick lag – »something we cannot ignore when considering how her life and work have been depicted« (ebd., S. 276). Die Thematisierung von Geschlechterfragen angesichts der vorwiegend männlich dominierten Rangelei um Maier und ihr Werk erweist sich als naheliegend und artikuliert das Desiderat, einer weiblichen Stimme Gehör zu schenken, die nicht besser als durch Maier selbst in Form der Erschließung ihrer Bilder zu erheben ist. Aufrichtiges Interesse für Maiers Fotografien paarte sich mit dem Wissen um vorliegende Schieflage, dass wir Maier und ihr Werk fast ausschließlich »through what we’d been shown by the men who came to own and edit her photography« (ebd., S. 283) kennen und führte zur Entscheidung, sich mit der intimen Handschrift einer Künstlerin, Maiers über 40 Jahre angefertigten Selbstporträts, auseinanderzusetzen. Im Selbstporträt gibt sich die einst Sehende selbst zu erkennen und dies naturgemäß in zweierlei Hinsicht: durch die Erscheinung und Inszenierung ihrer Person im Bild sowie durch die Art und Weise der fotografischen Umsetzung (z.B. Bildkomposition, Lichteinfall, Bildausschnitt etc.). Der Fotograf und Kurator Marvin Heiferman (2014, S. 32) ist sich sicher: »Das Photographieren gab Vivian Maier […] die Freiheit, ihre eigene Stimme zu finden, indem sie in den Sucher blickte und all dem Gestalt gab, was wegen seiner Beliebigkeit oder Wildheit sonst nicht zu beherrschen war.« Erst kürzlich wurde an der University of Chicago Library ein Archiv mit 500 Original-Abzügen (›Vintage Prints‹ aus der privaten Sammlung von John Maloof) für Forschungszwecke eingerichtet. Gerichtsverfahren zum Urheber- bzw. Nutzungsrecht an Maiers Œuvre versuchen den/die rechtmäßige/n Besitzer/in13 auszuforschen und der Geldgier einen Riegel
13 Diese Arbeit möchte eine geschlechtersensible Schreibweise weitertragen, indem die Ausschreibung der weiblichen wie auch männlichen Form vorgenommen wurde und unter Verwendung des Schrägstrichs in Rekurs auf Brandes
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vorzuschieben. John Maloof, Jeffrey Goldstein, Randy Prow oder Ron Slattery waren zweifelsfrei wichtige Multiplikatoren im Rahmen der Bekanntmachung von Maier und ihrem Werk. Dass in den letzten Jahren jedoch eher Profit als ein konservatorischer Impetus regierte, zeigt sich mitunter daran, dass ›externe‹ Anfragen einer Zusammenarbeit wiederholt verhallten. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Maiers Werk scheint nach wie vor nicht oder nur bedingt erwünscht. Anfragen an die ›großen Fische‹ blieben entweder unbeantwortet oder warteten mit Auflagen auf, die kaum zu erfüllen waren. Pamela Bannos beschreibt ihre mehrjährige Arbeit zu Maier als ein mit erheblichen Restriktionen aufwartendes Unterfangen, was sie auch in persönlichen Mails an mich andeutete. Kritik an der ausbleibenden Kooperationsbereitschaft vor allem des wohl bekanntesten Namens im Maier-Business äußert sie öffentlich in ihrer Monografie: Vivian Maier: A Photographer’s Life and Afterlife (Bannos 2017, S. 284): »John Maloof first declined my request to study his collection and then set conditions that I could not agree to. I would have loved to have had his cooperation on this book.« Gegensätzlich präsentiert sich hingegen Maloofs Website, in der er sich kooperativ zeigt, in einer FAQ-Rubrik häufig gestellte Fragen beantwortet und sogar die Möglichkeit eines Praktikums anbietet. Auf Anfragen meinerseits wurde erst mit erheblicher Verzögerung und ebenso mit absurden Auflagen reagiert. Die Nutzungsrechte zur Veröffentlichung von Maiers Fotografien im Kontext dieser Arbeit wurden mir selbsterklärend nicht erteilt – dafür hätte ich meine Arbeit übersetzen, eingehend prüfen lassen sowie eine erhebliche Geldsumme begleichen müssen. Mit »I am afraid we will not be able to grant copyright permission« 14 erklärte ein Mitarbeiter von John Maloof die Diskussion nach wenigen Mails für beendet. Maiers fotografisches Vermächtnis droht damit auch trotz vorliegender Bemühungen ein »fractured archive« zu bleiben – so der einstmalige Titel von Bannos’ Monografie, bevor er sich als Kapitelüberschrift wiederfand – was eine Auseinandersetzung mit Maiers Nachlass immer brüchig, unvollständig und damit auch unzureichend dastehen lässt. Wissenschaftliche Annäherungen erweisen sich demzufolge als Stichproben-Arbeit, wobei die
(2010, S. 28) einen Raum markieren soll, »in dem sehr viel möglich ist und der sich (auch) dadurch konstituiert, dass seine Grenzen überschritten werden«. 14 Wortlaut eines Mitarbeiters der Howard Greenberg Gallery in einem Mail an mich vom 13. April 2018.
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Auswahl der Stichproben unter dem Diktat ihrer Entdecker steht. Je mehr ich mit vorliegender Arbeit in das Geschäft mit Maier15 – und das eher unbeabsichtigt – eindrang, desto mehr wurde mir vor Augen geführt, dass diese Arbeit eine kritische Stellungnahme zu vorliegenden Missständen äußern und damit in Analogie zu Bannos’ Arbeit »a counterpoint, a counternarrative […] to the public depiction of Vivian Maier and her work that emerged through five photo books« (ebd., S. 2) anbieten muss. Wie kann dies geschehen, ohne dabei die wissenschaftliche Integrität zu gefährden und gleichzeitig im Sinne der Protagonistin dieser Arbeit zu handeln? Die Antwort liegt im Umgang mit Maiers Fotografien. Maiers zu Lebzeiten ungebrochenes Bestreben der Nicht-Veröffentlichung ihrer Bilder und ihr Bedürfnis, diese nicht dem kommerziellen Diktat des Kunstmarkts auszusetzen, sind als besondere Form der Selbstbestimmung und der stillen Verweigerung einer Unterordnung zu lesen. Maier »had no curators to please and no audience looking over her shoulder« (Cahan & Williams 2012a, S. 15). Ähnlich argumentiert Bannos (2017, S. 276), für die vorliegendes Verhalten auf Maiers Versuch der Kontrolle über die Art und Weise, wie sie oder ihre Bilder gelesen werden sollen, hindeutet: »Maier’s choice to not share her history or her photography also seem vital to seeing her independence and self-determination.« Zusehends schien angemessener, im Sinne eines visuellen Protests, auf das Zeigen von Maiers Werk gänzlich zu verzichten und stattdessen, durch die Verwendung von leeren Rahmen, ikonografische Leerstellen zu erzeugen. Die wiederkehrend schwarzen Linien auf weißem Hintergrund deuten im Sinne einer »ikonoklastischen Geste der Verweigerung« (Maeger & Baum 2011, S. 1) auf den Raum hin, in dem in einer ersten Version dieses Buches ein Bild von Maier zu sehen gegeben wurde. Gleichzeitig – durch die damit inszenierte Absenz der Fotografien – wird dieser Raum für Maiers lebenslanges Streben nach
15 Das Maier-Business ist millionenschwer: »Jeffrey Goldstein, who amassed his collection for $100,000, sold $500,000 worth of her work in one year, and John Maloof’s film, »Finding Vivian Maier«, has grossed more than $3.5 million. A third collector, Ron Slattery, sued a gallery for $2 million on account of damage to some Maier photographs. Some of Vivian Maier’s vintage prints are priced upwards of $12,000 apiece. There have been posters, brochures, postcards, and movie DVDs – not to mention the fortune to be made in licensing fees.« (Bannos 2017, S. 2)
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Intimität freigeben. Vielleicht kann Maiers Intention gerade durch das absente Bild, weil es sich dem zweidimensionalen Bildraum entzieht und eine Lücke im visuellen Feld des Schriftbildes hinterlässt, deutlicher und lauter sprechen? Gleichzeitig wurde im Nachfolgenden nicht neues, noch unbekanntes Bildmaterial einer Analyse unterzogen, sondern es wurden nur jene Fotografien betrachtet, die bereits in Umlauf geraten und damit öffentlich in der einen oder anderen Form zugänglich und einsehbar sind. Wie liest sich nun eine Arbeit über Maiers Fotografien, die gänzlich ohne ihre Bilder auszukommen versucht, dabei aber einen bildanalytischen Zugang wählt und somit gerade ihre Bilder in den Fokus nimmt? Sie liest sich eventuell stockender und lässt die Leser/innen irritiert zurück, sich wiederholt fragend, um welches Bild es sich nun wohl handeln könnte, von dem der Text spricht. Eventuell liest sie sich fließender, weil das Nicht-Bild durch seine Absenz eine geringere Ablenkung und Vereinnahmung im Lesefluss einfordert. Vielleicht richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine einprägsame Darstellung von Maier, die sich als Bildikone bereits im kollektiven Bildgedächtnis festgesetzt hat und einem immer wieder in den Sinn kommt, wenn Maiers Name fällt. Im ungünstigsten Fall be- oder verhindert das absente Bild das Verständnis nachfolgender Ausführungen und macht sie gänzlich unzugänglich. Um einer Orientierungslosigkeit entgegenzuwirken, wurde im Anhang dieser Arbeit auf ein Übersetzungsmedium zurückgegriffen, das die Leser/innen unter Zuhilfenahme einer binären Matrix dorthin führt, wo Maiers öffentliche Geschichte ihren Ausgang fand. QR-Codes – gerahmt und aneinandergereiht wie die Negativbilder auf einer Filmrolle – geleiten in ihrer Brückenfunktion zwischen Printmedium und dem World Wide Web zu den Bildern, auf die sich die vorliegende Arbeit bezieht. Gleichzeitig wird damit das Risiko eingegangen, dass diese Schnittstelle zwischen analogem und digitalem Medium irgendwann nicht mehr funktioniert, zu anderen Bildern oder gar ins Leere führt und sich die Spur verliert. Damit lässt sich eine wichtige Botschaft vermitteln: Wie schnelllebig ist der Raum, in dem Maier und ihre Bilder erst für viele zugänglich wurden, wie fragil ihre Präsenz in dem Raum, der sie berühmt machte. »Well, I suppose nothing is meant to last forever. We have to make room for other people. It’s a wheel.« (Bannos 2017, S. 252) – so Maier selbst in einer Audio-Aufnahme, die sich wie eine Prophezeiung für die Auswirkungen des ›Digital Age‹ liest.
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Die Einbindung von QR-Codes übernimmt jedoch nicht nur eine pragmatische Funktion. Sie thematisieren zeitgleich die Umwege und Verluste, die sich im Zuge eines Übersetzungsprozesses ergeben können. Dem/der Leser/in muss, um die in dieser Arbeit diskutierten Bilder einsehen zu können, ein Mobiltelefon mit Kamerafunktion, eine Internetverbindung sowie eine QR-Code-Reader-App zur Verfügung stehen, damit der Transfer von analog in digital erfolgen kann. Das Lesen eines QR-Codes, der als Hilfsmittel ersten Grades bezeichnet wird, ist folglich auf ein Hilfsmittel zweiten (Mobiltelefon), dritten (Internetverbindung) und vierten Grades (App) angewiesen und selbst dann ist noch nicht garantiert, ob der Weg zum beabsichtigten Bild oder ins digitale Nirwana führt.16 Die sich darin abzeichnende Abhängigkeit zwischen verschiedenen Übersetzungsmedien lässt erahnen, warum der Hype um das »Metazeichen des 21. Jahrhunderts« (Hinz 2015) nur wenige Jahre anhielt. Für die vorliegende Arbeit ist diese Abhängigkeit jedoch erwünscht. QR-Codes geben die Sicht auf Maiers Bilder erst über Umwege frei, der Visualisierungsprozess kostet Zeit und ist, betrachtet man den technischen Aufwand, wenig komfortabel. Maiers Fotografien werden im Kontext dieser Arbeit zu widerständigen Bildern, die sich, verborgen hinter der binären Anordnung von schwarzen und weißen Quadraten, einem schnelllebigen und überschwänglichen Bilderkonsum widersetzen. In dieser Form bleibt das digitale Bild von der analogen Matrix abhängig; und diese ist verlässlicher, denn ist sie ohne Fremdeinwirken stets am selben Ort auffindbar. Die verlinkten Websites, die Maiers Bilder (noch) zeigen, werden hingegen irgendwann verschwinden und damit auch die dort zu sehen gegebenen Bilder.17 In der Verwendung von leeren Rahmen, die auf mehr als vierzig Buchseiten ein Loch ins Textbild reißen, verdeutlicht sich die Kritik an Maiers medialer Vorführung wohl am deutlichsten. Es bleibt jedoch nicht das einzige Zeichen des Widerstands, das diese Arbeit setzt. Künstlerische Stell-
16 Der QR-Code verschlüsselt Online-Adressen (URLs) und keine Bilder. 17 Aus Gründen der Solidarität werden im Nachfolgenden ebensowenig die Arbeiten anderer Fotografinnen/Fotografen im Buch zu sehen sein. Alle in dieser Arbeit diskutierten Bilder, ausgenommen die künstlerischen Kreationen wie beispielsweise die Illustration auf dem Buchdeckel, sind foglich nur über die im Anhang aufgelisteten QR-Codes zugänglich.
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ungnahmen und Ausdrucksformen, wie das Maier-Porträt der kanadischen Künstlerin Jessica Krecklo Naidu18 auf Seite 5 oder die Illustration der polnischen Künstlerin Anna Kus Park19 auf dem Buchdeckel dieses Bandes, bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Kunstwerk und Kopie und werfen damit erneut die Frage nach den Bild- und Nutzungsrechten im Kontext der Veröffentlichung von Maiers Œuvre auf. Die in diesen Werken auffindbaren Verfremdungseffekte wurden so gesetzt, dass zwar durchaus noch Ähnlichkeiten zum Original bzw. Ausgangswerk erkennbar sind. Das ›neue‹ Werk erreicht jedoch durch die Art und Weise der grafischen Interpretation und die Individualität der geistigen Kreation eine gewisse »Schöpfungshöhe«, wie es im juristischen Jargon heißt, und beansprucht damit den Status eines eigenständigen Kunstwerks samt Urheberrecht. Indem diese Arbeiten einen Weg suchen, Maiers Werk dennoch, wenn auch anders, abzubilden, provozieren und parodieren sie im selben Moment das Verhalten derjenigen, die vor einigen Jahren blindlings Maiers Fotografien auf eBay verscherbelten und heute wie die Henne auf dem Ei mit erhobenem Zeigefinger auf ihrem ersteigerten Bilderfundus sitzen. Blake Andrews, ein Maier-Blogger aus Oregon, bezog bereits 2014 öffentlich Stellung zum Bildermissbrauch im Fall Maier. Maloofs erkauftes Urheberrecht20 verbot es, Bilder ohne schriftliche Erlaubnis von Maloof zu reproduzieren, zu veröffentlichen oder in irgendeiner Form abzuändern. Dies hatte zur Folge, dass Andrews als Gegenantwort auf Maloofs Besitzansprüche nach Wegen suchte, die es ihm gestatteten, Maiers Fotografien legal auf seinem Blog zu zeigen. Er verlinkte eine Maier-Fotografie mit Maloofs Website, bettete sie, wie er es nannte, in einen »academic post« (Andrews 2014) ein und wies sie als Eigentum von John Maloof aus. Dass sich darin ein Akt der Auflehnung verbarg, unterstreicht nachfolgender Post, mit dem er seinem Ärger Luft machte:
18 https://jkrecklonaidu.ca/ 19 https://www.annakuspark.com/ 20 »All photographs appearing on this website and in the archive of the Maloof Collection are copyrighted and protected under United States and international copyright laws. The photographs may not be reproduced in any form, stored or manipulated without prior written permission from the Maloof Collection.« (www.vivianmaier.com)
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»After all, it’s not as if I just found an old photo in storage, attached my name to it, claimed all rights, and sold limited editions of that photo for thousands of dollars. […] But if someone wants to sue me anyway, go for it.« (Ebd.)
Neben den grafischen Besonderheiten setzt die vorliegende Arbeit vor allem auch auf inhaltlichem Wege ein Zeichen. Neben den ›vertrauten‹ Stimmen der letzten Jahre – von John Maloof, Richard Cahan und Michael Williams, über Mary Ellen Mark, Joel Meyerowitz, Marvin Heiferman oder Elizabeth Avedon u.a. – werden nachfolgend vordergründig Maiers Fotografien als persönliche Handschrift der Künstlerin zum Sprechen gebracht und damit zu hören sein. Das Gedicht »Autoritratto, 1955« des italienischen Lyrikers Federico Italiano 21 leitet in diese Art der Annäherung an Maiers Œuvre ein und widmet sich einem frühen Spiegel-Selbstporträt der 50er Jahre. Italianos Deutungen fallen semantisch hoch verdichtet wie sprachlich reduziert aus und nehmen Maiers Kunstwerk zum Anlass, um daraus ein neues – ein Sprachkunstwerk – entstehen zu lassen. Was Italiano durch und in seinem Zugang andeutet, nimmt im Rahmen dieser Arbeit zusehends Gestalt an, nämlich, dass das aufmerksame Betrachten in Analogie zu Max Imdahls (1996a) Konzept des »sehenden Sehens« das ist, wonach das Werk einer Künstlerin/eines Künstlers trachtet und letztlich darin seine Vollendung findet. Somit wird im Rahmen ikonisch-ikonologisch orientierter Bildanalysen der auf das Bild bezogene Werksinn gegenüber den Spekulationen um Maiers Leben priorisiert. Maiers Œuvre wird damit gewollt anders als in bisherigen Veröffentlichungen thematisiert und die bisherige Maier-Rezeption infrage gestellt. Als bedenklich, was die Darstellung und öffentliche Porträtierung von Maier betrifft, ist beispielsweise John Maloofs und Charlie Siskels Dokumentarfilm »Finding Vivian Maier« (2013) einzustufen. Der mehrfach ausgezeichnete Kinofilm, der Millionen von Menschen erreichte, erzählt Maloofs Geschichte der glorreichen Entdeckung einer ›verseltsamten‹ Frau, die durch ihn und seine Arbeit – so der Tenor des Films – erst ›gefunden‹ werden musste. Die Darstellung eines komplexen und vielseitigen Künstlerinnencharakters tritt hier hinter die Selbstinszenierung eines jungen Mannes in seiner Rolle als spitzfindiger Entdecker und Genealoge. Subtil werden Analogien zu Berenice Abbotts (1898–1991) Bemühungen um die Be-
21 http://www.federicoitaliano.com/
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kanntmachung von Eugène Atget (1857–1927) und sein Werk hergestellt. Was Berenice Abbott folglich für Eugène Atget war, ist John Maloof für Vivian Maier (vgl. Bannos 2017, S. 117). Indem Maloof Maier in »Finding Vivian Maier« konsequent mit ihrem Vornamen adressiert, erzeugt er auf sprachlicher Ebene eine gewisse Vertrautheit und Nähe und macht damit das Anrecht geltend, sich als ›Vertrauter‹ exklusiv zu ihr und ihrer Arbeit äußern zu dürfen. Dabei verschleiert Maloof gekonnt, dass auch noch andere Personen Maiers Nachlass ersteigert hatten und sich zeitgleich damit befassten. Indem weder Ron Slattery noch Randy Prow in »Finding Vivian Maier« auftauchen, kommt der Verdacht auf, dass Maloof, »[has been; Anm. d. Verf.] airbrushing them out of Maier’s […] story« (Gallagher & Hastings 2014), »glorifying his own role as sole ›finder‹« (ebd.). Schwerer als Maloofs Selbstinszenierung wiegt jedoch die Tatsache, dass »Finding Vivian Maier« es verabsäumt, jene Personen im Film vorzustellen, die Maier zu ihren Lebzeiten in ihrer Rolle als Fotografin kennengelernt hatten. Stattdessen lässt Maloof Maiers Ziehkinder aus ihrer Nanny-Zeit in Chicago und New York zu Wort kommen. Damit wird ein einseitiges Bild von Maier gezeichnet, das sie als exzentrisches Kindermädchen mit einer Affinität zur Fotografie porträtiert, nicht aber als stilkundige und begabte Fotografin, die als Nanny ihren Lebensunterhalt verdient hatte, in Erscheinung treten lässt. Das Bild, das filmisch von Maier gezeichnet wird, ist im Gegenzug zur Darstellung der Siegerfigur Maloof ein bedrückendes; ihre schillernden Fotografien sind ein krasser Gegensatz zur Porträtierung des vermeintlich zurückgezogenen Lebens einer vereinsamten Frau. Filmkritiker/innen lob(t)en John Maloof zwar für seine Wahl einer ungeschönten Präsentation der unorthodoxen Künstlerin, die auch vor Widersprüchlichkeiten nicht zurückschreckt. Medienredakteurin Hannah Pilarczyk (2014) bezieht sich in ihrem Urteil über die Qualität des Films auf die Analogie zwischen Maiers Selbstporträt am Cover des ersten von Maloof (2011) edierten Fotobandes und der Zwiespältigkeit der Dokumentation – ein Teil von Maiers Gesicht erstrahlt im Sonnenlicht, der andere verweilt im Schatten; ein »derartiges Porträt zeichnet auch ›Finding Vivian Maier‹« (Pilarczyk 2014). »Finding Vivian Maier« drängt Maier jedoch ebenso subtil in die Ecke der traumatisierten, frigiden Eigenbrötlerin mit MessieEinschlag anstatt ihr Verhalten als künstlerischen Eigensinn oder feministi-
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sche Antwort auf gesellschaftliche Zwänge ihrer Zeit zu lesen, geschweige denn Maier als ernstzunehmende Künstlerin zu adressieren.22 Maiers Bindungs- bzw. Beziehungsverhalten, ihre Sammelleidenschaft für alte Gegenstände und ihre wiederholte Verwendung von Pseudonymen werden nicht nur als nonkonform ausgewiesen, sondern in gewisser Weise pathologisiert. Rose Lichter-Marck äußerte sich 2014 im New Yorker kritisch zur Art und Weise, wie das unkonventionelle Verhalten von Maier in »Finding Vivian Maier« gedeutet und ausgelegt wird. Für Lichter-Marck (2014) wird Maiers weibliche Nonkonformität »in the language of mental illness, trauma, or sexual repression« erklärt, »as symptoms of pathology rather than as an active response to structural challenges or mere preference«. Die vorliegende Arbeit wird daher jene genderrelevanten Aspekte in Maiers Werk beleuchten, die in vorangegangenen Auslegungen zu kurz kamen – nämlich, dass Maier in einer Zeit fotografierte, in der Frauen ihre Erfüllung überwiegend in häuslichen Pflichten zu suchen hatten und in der das Korsett der gesellschaftlichen Zwänge zumindest bis Ende der 60er Jahre für eine Frau noch eng geschnürt war. Eine im öffentlichen Raum fotografierende Frau, wie Maier sie verkörperte, war eine Ausnahme.23 Hinzu kommt, dass Maier bis heute in der massenmedialen Rezeption als fotografierendes Kindermädchen gefangen blieb und in einer Kunstwelt, in der das Genie lange Zeit als überwiegend männlich dargestellt und propagiert wurde, nur äußerst bescheiden als begabte Künstlerin Anklang fand. Da die künstlerische Fotografie des 20. Jahrhunderts ebenso stark weiblich geprägt und von weibli-
22 »But the movie did Vivian Maier a disservice by not portraying her as a photographer above all else. The movie’s presentation of its subject as an enigma was easily accomplished through interviews with people with whom Maier chose not to share of herself, and their lack of familiarity with her and her photographic work heightened the confusion. Unlike the BBC documentary, Maloof and Siskel’s movie did not introduce anybody who knew Maier through her photography or through her passion for cinema.« (Bannos 2017, S. 240) 23 »One of the important points to be made is that like professional photojournalism, photographing on the street is and has been a quintessentially masculine preserve. The reasons for this are many, and include the masculine prerogatives of active looking, the gendered attributes of public space, the relative vulnerability of women within that space, and the aggressive aspects of photographing unwitting subjects.« (Solomon-Godeau 2017, S. 148)
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cher Genialität gezeichnet war, wird diese Arbeit im Sinne des Empowerments und der Sichtbarmachung von Frauen nicht ausschließlich aber dennoch konsequent ›weibliche Kunst‹ vorstellen und weibliche Stimmen rezipieren. In seinem Geleitwort »Wie Blicke Körper machen« erklärt der Literaturwissenschaftlicher Martin Sexl Maiers kontrollierte ›Domestizierung‹ und mediale Vorführung zum Symptom kapitalistischer Gesellschaften, in denen die Frau als Ware im Kontext geschlechterdeterminierender Hierarchien einem männlichen Blickregime unterworfen ist. Diesem Blickregime ist auch Maier anheimgefallen. Konsequent als unheimliche und zum Teil lasterhafte Figur seitens ihrer männlichen Entdecker zurechtgestutzt, lässt sich eine Maier als »mystery woman« (Anderson 2014) deutlich besser verkaufen.24 Dadurch, dass niemand Maier wirklich kannte – so Maloof in einem Interview – wird »a lot room for the imagination to create who she was« (Renninger 2013) freigegeben. Gerade das Mysteriöse sei es auch, was Maloofs Interesse an Maier geweckt habe und nach wie vor am Leben erhält: »The mystery is what keeps me going on her. If I knew all about her, I don’t think I’d be as interested.« (Maloof, zit. in Bannos 2017, S. 129) In dem erst kürzlich erschienenen ersten Bildband zu Maiers Farbfotografien wird in Analogie zu »Finding Vivian Maier« ebenso wiederholt Maiers mysteriöse, dunkle Seite betont und über eine mögliche Homosexualität von Maier gemunkelt, als gäbe es nichts Wichtigeres zu sehen und sagen. So erkennt der amerikanische Kurator Colin Westerbeck in Maiers Fotografien von nackten Schaufensterpuppen und Frauenakten in Pornozeitschriften einen latent vorhandenen pornografischen Blick (vgl. Westerbeck 2018, S. 17) und sucht darin Indizien für ihren immer wieder zur Sprache gebrachten Lesbianismus. Wenn dies der Fall sein sollte – so Westerbeck (ebd., S. 18) – gelang es Maier, »ihre Sexualität vor ihrer Umwelt und möglicherweise vor sich selbst zu verbergen. Andeutungen davon traten nur in der einzigen ihr zugänglichen universalen Sprache zutage: Der Photographie.« Verkörpert sich in diesen Worten nicht eine Vorführung von Maier par excellence, indem Maiers Fotografien dunkle Wahrheiten
24 »Vivian is one of those people that becomes mythical. Nobody has moving footage with dialogue out there. Nobody knows her that well. There’s a lot room for the imagination to create who she was.« (Maloof, zit. in Bannos 2017, S. 239)
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über ihr Leben preiszugeben scheinen? Hören wir darin nicht die fortwährende Frage nach den Gründen, warum Maier ihre Fotografien der Öffentlichkeit vorenthielt – weil sie anscheinend Unangenehmes, gesellschaftlich Nicht-Angenommenes ans Licht zu bringen scheinen? Sehen wir in Westerbecks Worten nicht auch eine, wie Lichter-Marck andeutet, Pathologisierung oder zumindest subtile Zurückweisung der weiblichen Homosexualität, die es Westerbecks Wortlaut folgend zu »verbergen« galt? Und damit nicht genug: Maiers 70er-Jahre-Fotografie einer mondän gekleideten Frauenpuppe, umgeben von nackten Kinderpuppen im Schaufenster eines Kaufhauses, deutet für Westerbeck auf Maiers »dunklere Stimmung, in die sie zu der Zeit zunehmend verfiel« (ebd., S. 17), hin und abstrakte Anteile in Maiers Kinderporträts sind möglicherweise auf ihr Helikopter-NannyVerhalten zurückzuführen (vgl. ebd.). Wie sich anhand der vorliegenden Missbrauchstendenzen im Kontext der Rezeption von Maiers Werk verdeutlicht, bringt die Fotografie stets ein »arbeitendes Bild« (Dubois 1998, S. 19) hervor. Eine Deutung jagt die nächste. Im Fall von Maier wurden ihre Fotografien als Träger vermeintlicher Geheimnisse und zur Beglaubigung von Vermutungen über ihr nonkonformes Leben herangezogen und gewissermaßen hierfür instrumentalisiert.25 Was Westerbeck (2018) in seiner Einführung zu Maiers Farbfotografien ankreidet, nämlich durch die Vorstellung einer enigmatischen Persönlichkeit einen Personenkult auszulösen, ist letztlich auch in seiner Porträtierung von Maier und seiner Deutung ihres Werkes miteingeschrieben. Wie Martin Sexl am Beispiel von Raymond Depardons Fotografie eines schwarzen Zeitungsverkäufers im Geleitwort veranschaulicht, lohnt sich daher stets ein zweiter Blick, im Sinne des Hinterfragens von Rezeptionsbedingungen wie auch Wahrnehmungsgewohnheiten, die nicht nur die Bildproduzentin/den Bildproduzenten, sondern in gleicher Weise die Bildrezipientin/den Bildrezipienten betreffen. Könnte die Ansammlung von nackten Schaufensterpuppen in Maiers Fotografien im Gegensatz zu Westerbecks Leseweise nicht auch als Kritik am Diktat der Werbe- und Schönheitsindustrie gelesen werden, indem die nackten Umrisse ident geformter Körperkonturen und Proportionen eines künstlich geschaffenen Produkts auf eine Normierung gesellschaftlich vorgegebener Schönheitsideale hin-
25 Der hier skizzierte Missbrauch ist jedoch kein Einzelfall, sondern hat das Medium der Fotografie seit seiner Erfindung konsequent begleitet.
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deuten? Die Brüste von Schaufensterpuppen sind auffallend gleich geformt, die Arm- und Beinlängen sind identisch, die Gesichter tragen denselben Ausdruck. Im Gegensatz zur ›kostümierten‹ Schaufensterpuppe enthüllt die nackte im Kreise ihrer entblößten ›Artgenossinnen‹ deutlich radikaler normgeleitete Festschreibungen und Vorgaben, an denen sich der menschliche Körper zu orientieren hat. Was sagt nun eine derartige Bilddeutung über Maier als Bildproduzentin aus? Was sagt sie über diejenige/denjenigen aus, die/der eine gesellschaftskritische Artikulation und weniger eine selbstbezügliche Botschaft zur sexuellen Orientierung der Künstlerin aus Maiers Bildern liest? Unterschiedliche Rezeptionsweisen werfen – ob gewollt oder ungewollt – jeweils ein anderes Licht auf Maier und ihre Kunst. Sie gestalten das Bild der Künstlerin/des Künstlers im Sinne des »invented artist« (Moore 2004) in gewisser Weise mit. Zwar gibt es zumindest den Deutungsinhalt betreffend kein falsch oder richtig, wenn die Rezeption jedoch entblößende ›Wahrheiten‹ über das Leben der Künstlerin/des Künstlers zu offenbaren vorgibt und diese noch dazu dem öffentlichen Diskurs freigibt, ist, zumindest in moralischer Hinsicht, ein falsch oder richtig in Betracht zu ziehen. Jeder Deutungsvorgang ist, wie auch der künstlerische Prozess an sich, ein verantwortungsvoller und dieser Verantwortung ist auf allen Seiten nachzukommen. Verantwortungsvolles Handeln im Kontext der Kunstrezeption könnte sich möglicherweise daran zeigen, wie Martin Sexl in seinem Geleitwort empfiehlt, »Bilder gegen den Strich zu lesen« und die Rezeptionsbedingungen und die Art ihrer Darstellung konsequent zu hinterfragen. Maiers Fotografien nackter Frauen- und Puppenkörper als Ausdruck ihrer sexuellen Orientierung zu verstehen, wird der Ästhetik der Bilder nicht gerecht und verweilt auf der Ebene eines seichten, vor allem aber kommerzialisierenden Blicks. Indem im Nachfolgenden der Eigensinn ausgewählter Bilder von Maier, extrahiert durch die Anwendung eines formanalytischen Zugangs, den Kern dieser Arbeit ausmacht, lädt sie zu einem tiefergehenden und verweilenden Blick ein und sieht in Maiers Fotografien weitaus mehr als selbstreferentielle Botschaften über die Idiosynkrasien eines fotografierenden Kindermädchens. Hier wird Maier als ernstzunehmende Künstlerin adressiert, die mit ihren Fotografien Stellung zu den Missständen ihrer Zeit bezog, indem sie auf ikonografischem Wege das zu sehen gab, was aus ihrer Sicht zwingend zu adressieren war. Diese Arbeit möchte Maiers stete fotografische Visualisierung gesellschaftlichen Unrechts weit-
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ertragen und im Fall von Maier selbst zur Anwendung bringen, indem sie die verkürzt-einseitige Darstellung von Maier durch eine genderrelevante Kontextualisierung ihres Werkes infrage stellt und damit zu relativieren versucht. Selbst wenn die hier vorgeschlagene Rezeption der Subjektivität und den Erfahrungen der Autorin unterliegt und möglicherweise ebenso wenig der Aussagekraft von Maiers Bildern gerecht wird wie vorangegangene Deutungsversuche, wird sie zumindest einen Anstoß dafür liefern, Maiers Bilder auch anders lesen und verstehen zu können. Auch ich unterlag in den ersten Zügen dieser Arbeit der Versuchung, in Maiers Fotografien Indizien für ihre Persönlichkeitsstruktur finden zu müssen und beabsichtigte, vermeintlich vorhandenes Wissen um ihr Leben im Rahmen meiner Analysen zu beglaubigen. Inspirierende Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen haben mich jedoch bestärkt, einen anderen Weg einzuschlagen. Besonders wertvoll erwies sich der Austausch mit meinem Mentor Martin Sexl, der sich immer wieder die Zeit nahm, meine Gedanken zu lesen, ausführlich zu kommentieren und mich im sokratischen Dialog zu neuen Impulsen führte. Ein wichtiges Netzwerk war mir in der Zeit der Entstehung dieser Arbeit zudem der Berliner Arbeitskreis foto:diskurs, der sich durch die charmante Organisation seiner Initiatorinnen Anne Vitten und Miriam Zlobinski in den letzten Monaten zu einer wichtigen Diskussionsplattform und Anlaufstelle für mich entwickelt hat. Danken möchte ich auch dem Fotomuseum WestLicht, stellvertretend hierfür möchte ich Rebekka Reuter und Fabian Knierim nennen, für die Möglichkeit einer kuratorischen wie auch kulturvermittelnden Mitwirkung im Rahmen der ersten österreichischen Ausstellung zu Vivian Maier »Vivian Maier: Street Photographer« (29.5.–19.8.2018). Besonderer Dank gilt auch allen Unterstützerinnen und Unterstützern meiner Arbeit, die mir durch ihre Mithilfe, den guten Zuspruch oder einen finanziellen Zuschuss vor allem in Zeiten der Unsicherheit verdeutlichten, dass meine Arbeit wertvoll und damit förderwürdig ist. Zu danken gilt hier meinem Kollegen Thomas Sojer für den intellektuellen Austausch und die eine oder andere gute Idee in der Phase der Konzeption dieser Arbeit. Für die Bestärkung in all meinen Vorhaben und die schöne Freundschaft möchte ich mich bei Magdalena Dengg und Peter Stöger bedanken, die mir stets ein liebes wie auch anregendes Gegenüber waren. Ein großes Dankeschön möchte ich zudem Laura Volgger aussprechen, die diesem Buch durch ihren redaktionellen Beistand den letzten
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Schliff gab. Dankende Worte sind ebenso an Federico Italiano, Anna Kus Park und Jessica Krecklo Naidu zu richten, die diese Arbeit durch ihre künstlerischen Beiträge bereichern, indem sie dazu einladen, anders auf Maiers Œuvre zu blicken und damit neue Sichtweisen eröffnen. Für die finanzielle Unterstützung möchte ich mich beim Amt der Tiroler Landesregierung/Abteilung Kultur, dem Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck, dem Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« der Universität Innsbruck sowie der Gerda-Weiler-Stiftung e.V. für feministische Frauenforschung recht herzlich bedanken. Zu besonderer Dankbarkeit verpflichtet bin ich vor allem aber meinem Lebensgefährten Gregor Kastl sowie meiner Familie Julia, Annemarie und Riegobert Köffler, die durch ihre stete Begeisterung für meine Arbeit und ihren empathischen Beistand erheblich dazu beigetragen haben, dass ich nun dieses Buch in meinen Händen halten und mit folgendem Credo meine Arbeit eröffnen darf: »Call her a nanny, as if that was her identity, instead of a photographer. Call her just a Chicagoan or just a Frenchwomen, instead of a born Manhattanite and self-styled European. Call her Vivian, as if you know her well. Call her a mystery or an enigma, as if no one ever knew her, or ever could« (Bannos 2017, S. 1) – egal welches Bild aktuell von Vivian Maier vermittelt wird, sie war zweifelsfrei eine talentierte Fotografin, die ein umfangreiches wie ebenso anregendes Bilderkonvolut hinterließ, gewollt oder ungewollt, in Eile geschossen oder kunstvoll durchkomponiert, wertvoll oder wertlos. Diese kategorialen Beschränkungen sind nichtssagend, wenn Maiers Fotografien Menschen bewegen und für manch eine/n als Botschaft für die Nachwelt gelesen werden. Maiers Bilder »transcended the world of photography« (ebd., S. 281) und liefern genau deshalb Anlass genug, sich eingehender damit zu befassen.
1
Vom Präsentierteller zum Werksinn: Thematische Hinführung
»I am a sort of a spy!« Vivian Maier26
Vivian Maiers (1926–2009)27 selbstreferentielle Ausweisung als Spionin zählt zu den eindrücklichen Selbstbekenntnissen einer Fotografin, die zu Lebzeiten ein Schattendasein fristete und deren unkonventionelles Leben jede Betrachterin/jeden Betrachter ihres fotografischen Schaffens beim Eintauchen in ihre Geschichte selbst zur Spionin/zum Spion werden lässt. Vieles wurde erst vor wenigen Jahren posthum über ihre Person bekannt und publik gemacht. Zu wissen, dass Maier in Zurückgezogenheit gelebt und ihre Identität wiederholt verschleiert haben soll, lässt jedes Nachforschen, Analysieren und ›Vorführen‹ ihres Lebens zum Eingriff werden, bei dem Maiers vehement geschützte Biografie ähnlich einem Spionagevorgang ans Licht befördert wird. Selbst der Immobilienmakler John Maloof, der sich als Entdecker der exzentrischen Fotografin mit französisch-österreichischen Wurzeln inszeniert, beschreibt seine Arbeit als Freilegung einer Künstlerin, die ihn im Rahmen seiner Mission, Maier in Geschichtsbüchern zu verewigen, nach jeder Veröffentlichung biografischer Informationen (mittlerwei-
26 Vgl. Maloof & Siskel 2013 27 Geburts- und Sterbejahr der angeführten Künstler/innen werden zur zeitlichen Einordnung des (fotografischen) Wirkens einmalig angeführt. Bei mehrfacher Namensnennung wird auf eine wiederholte Angabe dieser Information verzichtet.
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le) mit Unbehagen zurücklassen soll. Trotz des heutigen Wissens um Maiers Leben in Zurückgezogenheit und ihrer (angenommenen) Entscheidung der Nicht-Veröffentlichung ihrer Fotografien, hielt der Hype um Maier bis zum heutigen Tage an. Eine Publikation jagt die nächste, mit dem Anspruch, noch tiefer in Maiers Lebensgeschichte zu graben, als es die Vorgängerarbeiten taten (»Digging Deeper Into Maier’s Past« – so der Titel eines Beitrags in der New York Times), immer auf der Suche nach der »real« Vivian Maier oder ihrer »real story« (siehe dazu Marks 2019). John Maloof, der 2007 durch das Ersteigern von Lagerschränken unverhofft zu einem der bedeutendsten Besitzer von Maiers fotografischem Nachlass wurde, begann noch im selben Jahr mit seiner Recherchearbeit zur Frau hinter der Kamera, woraus sich einige Jahre später, finanziert durch Crowdfunding-Initiativen, diverse Fotobände und der Dokumentarfilm »Finding Vivian Maier« (Maloof & Siskel 2013) gestalten ließen. Ron Slattery und Randy Prow, die ebenso wie Maloof einen Teil von Maiers Bildern im Rahmen von zwei Auktionen im Jahr 2007 erworben hatten, verkauften den Großteil ihres ersteigerten Nachlasses etwa drei Jahre später an Jeffrey Goldstein, der zusammen mit Richard Cahan und Michael Williams ab 2010 seinen Bildbestand sowohl in dem Buch Vivian Maier: Out of the Shadows (2012a) wie auch in diversen internationalen Ausstellungen zur Schau stellte. Angetan von den vielfältigen Darbietungen einer fotografierenden Frau mit eigenwilliger Lebensgeschichte in Buch- und Filmform führten Ann Marks und Françoise Perron, eine pensionierte Geschäftsführerin aus New York und eine Rechtsanwältin aus dem französischen Heimatort von Maiers Mutter, unmittelbar nach der Ausstrahlung des Dokumentarfilms die ›Ermittlungen‹ rund um »the nanny-photographer« (Cahan 2012) und ihr Leben fort, versuchten »loose ends« (MacDonald 2016) zusammenzuführen und nahmen sich der Frage an, wie sich Maier derartige fotografische Präzision aneignen konnte. »There were so many loose ends, and mysteries […]. I decided to challenge myself and show myself that I could find someone«, erklärte Ann Marks (zit. in ebd.) 2016 der New York Times in einem Gespräch über ihre Nachforschungen zur Familiengeschichte von Maier im Rahmen des Projekts Vivian Maier Developed28. Mit dem Buch Vivian Maier Developed: The Real Story of the Photographer Nanny (2019) soll Marks nach Aussagen von John Maloof auf einer von ihm ge-
28 https://vivianmaierbio.wordpress.com/
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stalteten Website zu Maier29 die »definitive biography« zu Vivian Maier verfasst haben, indem sie »the only person in the world« war »[who was] granted access to 140,000 photographs, home movies and tape recordings«. Mit diesen Worten samt Kaufverweis preist Maloof Marks Arbeit auf besagter Website an und stellt sich damit gegen eine wissenschaftliche Arbeit, die in etwa zur selben Zeit in Illinois und in Zusammenarbeit mit Jeffrey Goldstein und Ron Slattery entstand. Pamela Bannos, Associate Professor am Institut für Kunsttheorie und -praxis der Northwestern University in Illinois, beschäftigt sich nach eigenen Angaben seit 2012 (vgl. Bannos 2017, S. 283) mit der Biografie und den Bildern von Vivian Maier. Im Rahmen ihrer Untersuchung erhielt sie privilegierten Zugriff auf etwa 20.000 Fotografien30 aus der privaten Sammlung von Jeffrey Goldstein sowie der Sammlung von Ron Slattery und Philip Boulton. In ihrem Buchprojekt Vivian Maier: A Photographer’s Life and Afterlife (2017) diskutiert sie neben den »hidden truths« (ebd., S. 284) aus Maiers Lebensvergangenheit unter medienethischen Gesichtspunkten die fallspezifische Urheberrechtsproblematik und die Gefahren der exzessiven medialen Vorführung einer toten Frau. Ergänzend zu Maloof, Marks, Perron und Bannos stellen seit etwa sechs Jahren auch zunehmend mehr ›Amateur-Genealoginnen/Genealogen‹ Nachforschungen an. Bei der Auseinandersetzung mit Maier und ihrem Œuvre handelte es sich bis dato folglich um einen vorwiegend angloamerikanischen Diskurs mit biografischer Ausrichtung. Da Maier ihr Recht auf Privatsphäre heute nicht mehr einfordern und dem Geschäft der Kommerzialisierung ihrer Person keinen Riegel vorschieben kann, ist nach Aussage der Literaturwissenschaftlerin Julia Dettke (2014) zum behutsamen Betrachten ihres fotografischen Nachlasses zu raten, anstatt ihr Privatleben auf dem Präsentierteller zu servieren – denn ihr Werk sei »faszinierend genug« (ebd.). Die vorliegende Arbeit möchte sich daher der Vielzahl an ›Biografiejägerinnen/Biografiejägern‹ entgegensetzen und in Abkehr zu den vorwiegend genealogischen Zugängen das sprechen lassen, was am Anfang von Maiers Berühmtheit stand, in den letzten Jahren jedoch augenscheinlich in den Schatten ihres mystifizierten Lebens gerückt wurde: ihre Fotografien. Diese Arbeit wird in ihrer sozial- und medienwis-
29 www.vivianmaier.com 30 Darin enthalten sind etwa 16.000 Negative, 225 Filmrollen, 1.100 Abzüge und 30 Videoaufnahmen.
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senschaftlichen Ausrichtung mit feministischem Tenor folglich das fotografische Bild in den Fokus rücken und damit weniger die Hintergründe zu seinem Entstehungskontext oder die Motive der Fotografin beleuchten. Hierfür würde ich zur Lektüre von Pamela Bannos’ (2017) und Ann Marks’ (2019) Bänden raten, die durch ihre jahrelange Recherche ›vor Ort‹ zumindest in Teilen zur Entmystifizierung von Maier und ihrem Leben beigetragen haben. Gleichzeitig distanziert sich diese Arbeit von dem Versuch – wie ihn beispielsweise Colin Westerbeck (2018, S. 12)31 unternommen hat –, über Maiers Werk und dessen eingehende Betrachtung ihr Leben zu begreifen. In erster Linie geht es nicht darum, wer Vivian Maier war, sondern was und wie sie dieses was in ihren Fotografien zu sehen gab. Immer wieder wird betont, dass Maiers Aufnahmen vorwiegend als private Experimente zu lesen sind, die größtenteils weder an ein Publikum gerichtet noch für das eigene Betrachten der auf einem Trägermedium verewigten Sujets gedacht waren. Ein erheblicher Teil von Maiers Bildern wurde unentwickelt in einer der hunderten Kisten gefunden, die Maier zu ihren Lebzeiten bei jedem ihrer Wohnortswechsel mit sich nahm und über die Jahrzehnte hinweg hortete. Wenn diese Annahme zutreffen sollte, dann maß Maiers Entschluss, den Großteil ihrer Bilder dem öffentlichen Auge vorzuenthalten, vor allem dem fotografischen Akt eine besondere Bedeutung bei. Eine von Maier vollzogene »Authentisierung« (Gombrich 1978, S. 390) ihres Bildbestandes in Form der Entscheidung, welche und in welcher Form Fotografien entwickelt, reproduziert, korrigiert oder verworfen werden sollten, hatte zwar durchaus stattgefunden, fiel im Verhältnis zur Anzahl der geschossenen Bilder jedoch zurückhaltender aus oder kann zu gewissen Teilen nicht mehr rekonstruiert werden.32 Von geschätzt 150.000 Fotografien hatte Maier etwa mehrere hundert selbst entwickelt oder in die Obhut diverser Fotoläden ihrer Umgebung (darunter auch ein französisches
31 »Die Faszination dieser Photographin besteht nicht darin, dass sie wie Capa oder Arbus zu ihren Lebzeiten berühmt war, sondern eben im Gegenteil, dass sie nämlich der Öffentlichkeit praktisch unbekannt war. Aus dem Grund gebietet sich eine eingehende Betrachtung ihres Schaffens im Versuch, ihr Leben zu begreifen.« (Westerbeck 2018, S. 12) 32 »Only a small fraction of Maier’s negatives were ever printed, either by Maier – who for several years had used her bathroom as a darkroom – or, later, by her commercial printers.« (Solomon-Godeau 2017, S. 145)
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Fotogeschäft in Saint-Bonnet) gegeben. Maier bevorzugte vor allem matte Abzüge und hin und wieder notierte sie, vornehmlich in französischer Sprache33, auf deren Rückseite das Aufnahmedatum und den Ort, an dem das Bild entstanden war (vgl. Bannos 2017, S. 63).34 Manche ihrer in Plastikhülsen gepackten Abzüge hatte Maier mit Kommentaren versehen, mit denen sie die Qualität des Bildes mit den Worten »poor«, »weak« oder »so so« und »fair« einschätzte (ebd., S. 134). Ebenso liegen einige wenige Aufzeichnungen bzw. Notizen zu Maiers gelegentlicher Dunkelkammerarbeit vor.35 Es gibt etliche Indizien dafür, dass Maier zumindest die Intention verfolgt haben muss, ausgewählte Fotografien zu veröffentlichen. John Maloof behauptet, Dinge (ohne diese jedoch genauer zu präzisieren) in Maiers Nachlass gefunden zu haben »that show that she may have even had the intention to show her work« (Chicago Tonight 2014). Amédée Simon, der Betreiber eines Fotoladens in Saint-Bonnet, bekräftigt diese Vermutung und behauptet, dass Maier bei ihm Abzüge ihrer Landschaftsaufnahmen aus
33 »Sometimes the notations on Vivian Maier’s prints are in English, but most often they are in phonetic French; in some instances, French lettering appears over erased English notes […].« (Bannos 2017, S. 84) 34 »Sometimes her notation is vague – ›Spring 1950‹ – but in other instances she was exact: ›St. Andre, Basses Alpes January 21st 1951 Sun‹.« (Ebd., S. 63) 35 Am 6. Dezember 1956 notierte Maier beispielsweise wie folgt (ebd., S. 170): » […] 9. PM. First attempt, counted 14 print too dark no f2 Kodak paper (normal negative) lense openining f8 2) counted to 7 lense opening (8) better print still not perfect 3) counted to 4 lense Opening 4.5 not good 4) print 5/6 opening Counted 2 not bad Print paper F1.«
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ihrer Frankreichzeit als Postkarten vervielfältigen lassen haben soll (vgl. Bannos 2017, S. 61). Pamela Bannos wirft zudem die Frage auf, ob Maier ihre Aufnahmen für Edward Steichens Foto-Ausstellung »The Family of Man« eingereicht haben könnte, die im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) im Januar 1955 feierlich eröffnet wurde. Nach Bannos (ebd., S. 139) hatte Maier in den Jahren 1953 und 1954 eine beachtliche Anzahl an Abzügen angefertigt, »that fairly portrayed the exhibition’s quest for the visualization of ›universal elements and emotions and the oneness of human beings throughout the world‹«. Insgesamt 503 Bilder von 273 Fotografinnen und Fotografen aus 68 Ländern, darunter auch etliche Mitglieder der Photo League New York, schafften es in die Ausstellung, die im Jahr 2003 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde. Als Kontradiktion hierzu steht Curt Matthews’ Aussage. Der Gründer und Geschäftsführer der Chicago Review Press sowie einstmaliger Arbeitgeber von Vivian Maier behauptet, dass er Maier aufgrund ihrer fotografischen Umtriebigkeit eines Tages bat, ihm ihre Arbeiten zu zeigen. Maier überreichte ihm daraufhin angeblich ein halbes Dutzend ihrer Originalabzüge. Angetan von der Qualität der Fotografien fragte er Maier, warum sie sich gegen eine fotografische Karriere entschieden hatte und stattdessen Kinder umsorgte. Laut Matthews antwortete Maier daraufhin, dass »if she had not kept her images secret, people would have stolen or misused them« (Matthews 2013). Für Matthews steht heute fest, dass sich Maier durchaus ihres Talents bewusst war – »the geniuses know who they are« (ebd.). Auch wenn Maier durchaus Abzüge angefertigt hatte, wird deren verhältnismäßig geringe Anzahl (zieht man den Gesamtbestand als Referenz heran)36 darauf zurückgeführt, dass Maier, wie Curt Matthews behauptet, ihre Arbeiten vor unwillkommenen Augen schützen wollte. Das unentwickelte Bild bleibt unsichtbar. Das Negativbild nähert sich dem Sichtbaren zwar an, gibt jedoch nur bedingt die Sicht auf das Aufnahmeobjekt frei, denn die umgekehrten Helligkeitswerte täuschen und verschleiern. Der Ab-
36 Es könnte durchaus sein, dass weit mehr Originalabzüge in Umlauf sind als zurzeit vermutet wird. Maiers Abzüge könnten in die Hände Unwissender gelangt sein, die keine Ahnung davon haben, was sie besitzen. Einige Abzüge könnten aber auch im Rahmen der Auktionen abhandengekommen sein. Möglich ist auch, dass Maier selbst etliche ihrer Abzüge weggeworfen hatte und nur jene behielt, die sie als gelungen wahrnahm. (Vgl. Bannos 2017, S. 12)
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zug hingegen macht umso deutlicher, worum es im Bild geht oder was es zu sehen und sagen gibt. Das Bildmotiv wird in aller Deutlichkeit sichtbar. Ebenso wird vermutet, dass Maier – entgegen den Aussagen von Curt Matthews – wie im Fall der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson, nicht ausreichend an die Qualität ihrer Kunst geglaubt haben könnte und daher von einer Vervielfältigung wie auch Ausstellung ihrer Arbeiten abgesehen hatte. Dickinson hinterließ nach ihrem Tod etwa 2.000 Gedichte und Hunderte von Briefen, die erst durch Nachdruck ihrer Schwester Lavinia und ihre Zuversicht in die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeiten ihrer großen Schwester posthum veröffentlicht wurden. Andere Stimmen glauben, dass Maier dem fotografischen Sehen im Sinne der berühmten Aussage von Garry Winogrand »I photograph to find out what something will look like photographed« mehr abgewonnen haben könnte als dem Vervielfältigen ihrer Fotografien: »The act of pressing the shutter seems to be the most important part of the process for Maier.« (Cahan & Williams 2012a, S. 16) Dem ist hinzuzufügen, dass die Dunkelkammerarbeit, sei es in den eigenen vier Wänden oder in Form der Auftragsarbeit, zu Maiers fotografischer Blütezeit ein kostspieliges Unterfangen war und nicht nur in finanzieller, sondern auch in räumlicher Hinsicht für eine beruflich umtriebige Maier eine Herausforderung dargestellt haben könnte. Maier hatte im Verlauf der Jahrzehnte tausende von Dollar für ihre Kameraausrüstung aufwenden müssen.37 Für eine Frau, die als Nanny ihren Lebensunterhalt verdient hatte, eine beachtliche Stange Geld. Besonders Maiers RolleiflexModelle wurden zur damaligen Zeit teuer verkauft, sodass der Verdacht aufkommt, dass Maier ihre Ausrüstung durch die kleine Erbschaft ihrer 1948 verstorbenen Großmutter Eugénie Jaussaud finanziert haben könnte: »It is unknown how Vivian Maier was able to afford this camera that retailed for more than $200 (around $1,800 today); she likely tapped into her inheritance.« (Bannos 2017, S. 107) Es ist also schwer zu sagen, ob Maier mitunter aus Angst, ihre Bilder könnten in die falschen Hände geraten, nicht mehr Abzüge anfertigen wollte oder aufgrund verschiedenster Einschränkungen ihrer Zeit nicht anfertigen konnte. Als Indizien für mögliche finanzielle Hürden können beispiel-
37 »And although she likely spent thousands of dollars on camera equipment and photo-related materials, her process did not include making prints for sale.« (Ebd., S. 165)
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sweise die diversen Zahlungsaufforderungen an Maier gedeutet werden, die sie in vielen Fällen in Raten abbezahlte: »In one example – penciled on the back of a chemically stained print of a man reading a newspaper – a tally of five rolls of film, one enlargement, and six small prints amounted to $5.85, and it took three payments to clear the balance.« (Ebd., S. 133) Zudem ist davon auszugehen, dass etliche ›Vintage Prints‹ noch vor einer möglichen Versteigerung im Zuge des Aussortierens von Maiers Nachlass weggeworfen wurden. Für gewisse Jahre liegen trotz des Wissens um Maiers fotografische Umtriebigkeit keine Bilder bzw. Abzüge vor: »From the temporal gaps in the prints and negatives, it is possible that more than a thousand of images have not yet surfaced in her fractured archive […].« (Ebd., S. 75) Zudem gerieten einige von Maiers Originalabzügen in unkundige Hände, wurden beschädigt und werden daher willentlich nicht (mehr) gezeigt. Im Jahr 2012 stellte Ron Slattery seinen Bestand an Originalabzügen öffentlich aus. Die zuständige Galerie verabsäumte es jedoch, die Bilder schonend zu präsentieren und ordnungsgemäß zu lagern, was dazu führte, dass 56 Maier-Abzüge erheblich bzw. gänzlich beschädigt wurden: »The lawsuit contended that fifty-six prints, which had been priced between $5,000 and $6,000, were incorrectly mounted and stored, leading to severe damage of the entire lot.« (Ebd., S. 243) Der Selektionsfilter der Künstlerin im Prozess der Dissemination ihrer Arbeit ist im Fall von Maier aufgrund dieser Vorkommnisse nur ansatzweise rekonstruier- und einsehbar, obwohl dieser vor allem für das Verständnis für Maiers ›zweiten Blick‹, folglich Maiers Auswahl von Bildern, die es ihrer Meinung nach wert waren, auf Kontaktpapier fixiert zu werden, als wesentlich herauszustellen ist. Was hier also als öffentliches Bild analysiert und diskutiert wird, sind in erster Linie die Bilder, die Maiers ›Entdecker‹ und nicht Maier selbst authentisiert haben. Etliche Fotografien von Maier, die Maloof beispielswiese auf eBay verkaufte, »[were; Anm. d. Verf.] cropped to an eight-by-ten ratio from its original square negative« (ebd., S. 87). Zum Teil ist für ›Außenstehende‹ so nur mehr schwer auszumachen, wie Maier ihre Bilder in ihrer Ganzheit komponiert haben könnte oder wie sie ihre Bilder beschnitten hatte. Darin gründete auch die anfängliche Skepsis vonseiten unterschiedlicher Kunsteinrichtungen, die die Ausstellung von Maiers Bildern trotz ihrer Qualität und des medialen Aufsehens um Maiers »outsider […] life in pictures and boxes« (Cahan & Williams 2012b) zuerst verweigerten. Galeristen bezeichne(te)n Maiers Arbeit zwar als »strong
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work – above average for the time period« (Bannos 2017, S. 126), der künstlerische und allen voran kommerzielle 38 Wert läge jedoch vor allem im Abzug und nicht im Negativ. Galerien und Museen scheuen die eigenverantwortliche Interpretation künstlerischer Arbeiten, die im Bereich fotografischer Kunstproduktionen durch die werkbezogene Auseinandersetzung der Künstlerin/des Künstlers in Form des eigenständigen Entwickelns und Fixierens ausgewählter Negative zu erfolgen hat. Ab 2010 nehmen sich dann doch europäische Kunsthallen, wenn auch etwas zögerlich, der Fotografien von Vivian Maier an, mit ersten Ausstellungen in einem Einkaufszentrum in Dänemark 39 und in diversen Galerien Norwegens. Erst 2011 widmet sich das Chicago Cultural Center, eine Kultureinrichtung der Stadt, in der Maier den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, ihrem fotografischen Nachlass und stellt rund achtzig Inkjet-Prints von Maiers Negativen aus, gefolgt von Ausstellungen in Hamburg und in Saint-Julien im Champsaurtal, dem Ort, an dem Maier sechs Jahre ihrer Kindheit verlebt hatte. Mit der Ausstellung »Vivian Maier: Out of the Shadows« werden Maiers Aufnahmen im Jahr 2018 erstmalig in einem österreichischen Museum, dem WestLicht, der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die vom Kunstestablishment über lange Zeit ausbleibende Wertschätzung für Maiers Arbeiten schmälerte jedoch das öffentliche Interesse an dem ›fotografierenden Kindermädchen‹ bis heute kaum – im Gegenteil, Maier wurde in sozialen Netzwerken als verkannte Fotografin analoger Zeiten zu einer Ikone des digitalen Zeitalters erkoren. Das fehlende Wissen um Maiers fotografische Praxis fällt für die nachfolgende Analyse nur bedingt ins Gewicht, wenn, wie bereits am Beginn dieser Arbeit angedeutet, nicht in erster Linie die Intention der Autorin interessiert, sondern die Rezeption ihres Werkes und allen voran das Werk an sich, das in Umlauf geraten ist. Indem die nachfolgenden Ausführungen die Produktionsbedingungen von Maiers Œuvre zwar durchaus thematisieren, dennoch aber das Werk und seine Rezeption priorisieren, folgt diese Arbeit
38 »[…] since he [Maloof; Anm. d. Verf.] had only negatives, there wasn’t much a gallery could do for him. The commercial value would be in original prints.« (Bannos 2017, S. 126) 39 Die erste Ausstellung mit dem Titel »Viva Vivian« öffnete in einem Einkaufszentrum in Aarhus (Dänemark) 2010 ihre Tore.
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der Interpretationssemiotik von Umberto Eco (1999) und orientiert sich an seiner im literaturtheoretischen Kontext eingeführten Unterscheidung zwischen der intentio operis – der Absicht des Werkes, der intentio lectoris – der Absicht der Werkrezipientin/des Werkrezipienten und der intentio auctoris – der unterstellten Absicht der Werkproduzentin/des Werkproduzenten. Nach Eco darf der Werksinn keine Unterordnung unter die intentio lectoris erfahren und damit nicht benutzt werden, um Schlüsse über die Werkproduzentin/den Werkproduzenten zu ziehen – dies ist im Fall Vivian Maier in den letzten Jahren zuhauf geschehen. Um den Ausdruckssinn des Werkes zu fassen, folglich der intentio operis nachzuspüren, wurden im Nachfolgenden exemplarische Bildanalysen durchgeführt, die auf eine Methode zurückgreifen, die in ihren Grundzügen rezeptionsästhetisch angelegt ist und der ikonischen Bildbetrachtung Max Imdahls folgt. Diese Methode geht von einer je individuellen Sprache bzw. einem ›Eigensinn‹ des Werkes aus, die bzw. der auch ohne biografische Informationen der Autorin/des Autors im Sinne des »sehenden Sehens« (Imdahls 1996a) von bildimmanenten Strukturen funktionieren kann. Diese Form der »Anerkennung der Eigengesetzlichkeit ikonischer Produkte« (Bohnsack 2011, S. 12) schreibt Bildern den Status eines selbst-referentiellen Systems zu und schafft ein Verständnis für die Bedeutung visueller Erkenntnis, welches sich in diversen wissenschaftlichen Disziplinen (siehe hierzu beispielsweise die rekonstruktive Sozialforschung) trotz des postulierten »iconic turns« (Böhm 1994) erst stiefmütterlich entfaltet hat. Zu hoffen bleibt, dass die vorliegende Arbeit in ihrer werkorientierten Ausrichtung für die notwendige Zurückhaltung im Rahmen weiterer Veröffentlichungen von vermeintlichen Skandalen aus Maiers 83-jähriger Vergangenheit sensibilisiert und ihr in Abkehr zur Sensationsgeilheit für ihre Idiosynkrasien jene Form posthumer Wertschätzung entgegenbringt, die sie als Fotografin und Künstlerin bereits zu Lebzeiten verdient hätte. Im Anschluss wird der Intention dieses Buches folgend zuerst auf Maiers Werk und dessen unterschiedliche Rezeptionsweisen Bezug genommen, die wiederum zur inhaltlichen Ausrichtung und dem Fokus dieser Arbeit überleiten. Nach den Ausführungen zu Maiers Werk werden sodann Vorkommnisse im Rahmen der Entdeckung und Vermarktung des fotografischen Nachlasses von Maier behandelt. Erst im Anschluss daran werden einschneidende Phasen in Maiers Biografie im Überblick beleuchtet und vor allem jenen Leserinnen und Lesern Orientierung geben, denen die Ge-
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schichte von Vivian Maier noch nicht untergekommen ist. An die Beschreibung von Maiers Werk und der Biografie seiner Urheberin schließt sodann die theoriegeleitete Kontextualisierung und wissenschaftliche Betrachtung von Maiers Œuvre an. Es könnte in Anbetracht der bereits geäußerten Kritik jedoch durchaus reizvoll sein, sich im Leseprozess zuallererst den Bildern und deren Analyse zu widmen und folglich mit Kapitel 5 fortzufahren.
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Vom Werk zur Fotografin: »Finding Vivian Maier«
Wiederkehrend kam in den letzten Monaten die Frage auf, ob die in diesem Band vorgestellte Auseinandersetzung mit Maiers Werk den Absichten der Urheberin zuwiderhandeln könnte. Maier hatte sich die Beschauer/innen ihrer Fotografien, betrachtet man Maiers offensichtliche Zurückhaltung, was das Zeigen ihrer Fotografien betrifft, vermutlich gezielt ausgesucht. Der Blick auf ihre Arbeiten blieb damit einem exklusiven Kreis vertrauter Menschen vorbehalten. Vielen der Familien, die Maier betreute, hatte sie nie jemals einen Blick auf ihr Œuvre gewährt. Es war damit keinesfalls die Masse, die Maier mit ihren Fotografien zu Lebzeiten ansprechen wollte und doch – betrachtet man den derzeitigen Maier-Kult – hat sie damit posthum Massen an Menschen erreicht. Ausstellungen mit Maiers Fotografien waren durchwegs ein Besucher/innenmagnet und unerwartet gut frequentiert. Der New Yorker Galerist Howard Greenberg bestätigt, dass er im Rahmen seiner ersten Maier-Ausstellung »[has; Anm. d. Verf.] never seen so many people walk through this gallery. They came in droves« (Sykes 2012, S. 19). Maier kann heute im Zuge der Veröffentlichung ihrer Bilder jedoch weder einschreiten noch kann sie um Erlaubnis gefragt werden. Viele ihrer Fotografien wurden, ohne ihre Geschichte zu kennen, in Umlauf gebracht. Wie sollen wir nun mit diesen unverleugbaren Dokumenten umgehen? Schweigen und so tun, als hätte es sie nie gegeben? Sie ausschließlich einem exklusiven Personenkreis vorlegen und sich darum streiten, wer zu dem Stamm der Auserwählten zu zählen ist? – Maiers Nachkommen? Maiers ›Entdecker‹? Galeristinnen/Galeristen? Liebhaber/innen ihrer Fotografien? Sollen wir mit unserem Gedankengut warten, bis im Jahr 2079 das Urheberrecht an Maiers geistiger und materieller Schöpfung verjährt und ge-
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meinfrei wird? Oder sollen wir bereits jetzt das tun, wozu ein Bild nun mal einlädt, wenn es da ist? Es betrachten und deuten? Da Maier durch die jahrzehntelange Aufbewahrung bzw. kostspielige und aufwendige Lagerung ihrer Bilder ihrem fotografischen Schaffen einen besonderen Wert zuschrieb, sind wir dazu aufgerufen, wie Jeffrey Goldstein in einem Interview verlautbarte, »to maintain that level of importance« (Goldstein, zit. in Bannos 2017, S. 273). Das gelingt beispielsweise durch eine (längst überfällige) Zusammenführung der unterschiedlichen Bestände und eine sorgfältige Archivierung und Aufbereitung des fotografischen Nachlasses, der im Fall von Maier – betrachtet man die jahrelange Rangelei um ihre Fotografien – allmählich von privaten in museale Hände zu übergeben ist. Indem man ein Bild interessiert betrachtet, ihm Zeit gibt, auf einen wirken zu können und sich Gedanken zu seiner gesellschaftlichen Relevanz macht, sei es im privaten oder öffentlichen Rahmen, können seine Relevanz und sein Wert ebenso herausgestellt werden. Für diese Form der Wertschätzung hat sich die vorliegende Arbeit entschieden, obgleich Äußerungen zu Maiers Bildern ein moralischer Drahtseilakt bleiben, der im Spannungsfeld von Zurückhaltung und Respekt vor Maiers Privatsphäre und der Notwendigkeit, Maiers Arbeiten lesen und verstehen zu lernen, sensibel zu bestreiten ist. Der Titel des vorliegenden Kapitels »Vom Werk zur Fotografin« spielt nun auf zweierlei Aspekte an. Zum einen spiegelt sich darin die Chronologie der ›Entdeckung‹ von Maier wider, deren Persönlichkeit erst durch ihr Werk auf öffentliches Interesse stieß. Der Weg zur Fotografin führte demzufolge erst über die mediale Präsenz ihrer Bilder zu ihr. Der Blick blieb, betrachtet man die Foki vergangener Arbeiten, jedoch an der Künstlerin und ihrer Biografie haften. Das Werk geriet aus dem Blickfeld. Zum anderen betont »Vom Werk zur Fotografin« den Duktus dieser Arbeit, der die ›Erstarrtheit des Blicks‹ im Maier-Diskurs kritisieren will. Hier steht nun Maiers Werk im Zentrum, das damit auch in die Arbeit einleitet und stets der Ausgangspunkt nachfolgender Betrachtungen bleibt. Maiers Biografie hingegen wird erst nach der Einführung in ihr Werk und im Überblick behandelt und tritt damit zumindest in chronologischer wie auch texträumlicher Hinsicht hinter die Thematisierung ihres Œuvres. Die Fotografin selbst bleibt jedoch durchgängig präsent – als Urheberin wie auch (in dieser Arbeit zwar ungesehenes) Sujet ihrer Arbeiten.
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Das nachfolgende Kapitel formt seinen Unterbau aus journalistischen, biografischen wie auch (kunst-)historischen Quellen. Bezugsrahmen für die biografische Nachzeichnung von Maiers Leben bildete in erster Linie Pamela Bannos’ Monografie Vivian Maier – A Photographer’s Life and Afterlife (2017). Die dort vorgestellten Informationen wurden durch John Maloofs genealogische Nachforschungen, visualisiert und kontextualisiert in seinem und Charlie Siskels Dokumentarfilm »Finding Vivian Maier« (2013) und verschriftlicht in den Bildbänden Vivian Maier: Street Photographer (2011), Vivian Maier: Self-Portraits (2013) und Vivian Maier: Das Meisterwerk einer unbekannten Fotografin 1926–2009 (2014) sowie dem von Richard Cahan und Michael Williams veröffentlichten Band Vivian Maier: Out of the Shadows (2012a), ergänzt. Journalistische Beiträge aus der New York Times und der Chicago Tribune waren überdies eine wichtige Referenz für das Verständnis der Rechtslage im Urheberrechtstreit um Maiers Nachlass.
2.1 MAIERS ŒUVRE, SEINE REZEPTION UND DIE FRAGESTELLUNGEN DIESER ARBEIT Die US-amerikanische Fotografin Vivian Maier war insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fotografisch aktiv.40 Ihr Nachlass zählt heute geschätzt über 150.000 Bilder, welche dem übergeordneten Genre »Street Photography«41 zugeordnet werden. Vorliegende Zuweisung ist das Resultat von fünf Bildbänden42 und diversen Dokumentarfilmen, die zwischen 2011 und 2018 in etwa 1.000 Bilder von Maier, teilweise auch illegal, dem öffentlichen Diskurs freigaben (vgl. Bannos 2017, S. 2). Dieses
40 Der Entstehungszeitraum der letzten bekannten ›Rolleiflex-Bilder‹ lässt sich auf Mitte der 70er Jahre datieren. Maier habe nach Aussagen der Bewohner/innen bis ins hohe Alter fotografiert und sei auch noch bis weit über ihren 70. Geburtstag hinaus mit Kameras um ihren Hals gesichtet worden. 41 Für Abigail Solomon-Godeau (vgl. 2017, S. 147) handelt es sich hierbei um eine problematische Bezeichnung, die 1970 eingeführt wurde und so breit gefasst wird, dass der Begriff für kein kohärentes Genre steht. 42 Der Band zu Maiers Farbfotografien ist erst kürzlich schienen.
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coram publico zirkulierende Bilderrepertoire entstammte zwei ›konkurrierenden‹ (privaten) Sammlungen – eine davon unter der Schirmherrschaft von John Maloof, die andere in den Händen von Jeffrey Goldstein. Betrachtet man die Dimension des Gesamtkorpus von etwa 150.000 nachweisbaren Bildern, gaben die Hüter von Maiers Erbe jedoch jeweils nur Bruchstücke von Maiers fotografischem Nachlass zu sehen und schlugen dabei jeweils verschiedene Deutungen vor. Das Bild, das von Maier und ihrem Werk in der Öffentlichkeit zirkuliert, ist damit das Bild, das Maiers Entdecker und die Verwalter ihres Œuvres im Zuge ihrer Veröffentlichungen gewollt oder ungewollt erschaffen haben (vgl. Solomon-Godeau 2017, S. 141). So stellt Maloofs Rezeption Parallelen zu Diane Arbus’ (1923–1971) oder Lisette Models (1901–1983) Arbeiten her, obwohl Maier laut Aussagen von Pamela Bannos (vgl. 2017, S. 161) Abzüge von anderen Aufnahmen hatte anfertigen lassen, als von jenen, die Maloof für seine Veröffentlichungen ausgewählt hatte. Maloofs Maier bewegte sich vornehmlich in Chicago und New York und begeisterte sich für das Abgründige und Unansehnliche in den Straßen urbaner Arbeiterviertel. Durch den Einsatz unterschiedlicher Kameraperspektiven (Untersicht/Aufsicht) schien Maier durch Maloofs Auswahl ihrer Arbeiten in erster Linie Stellung zu Formen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Missständen wie städtischer Verarmung, der Emanzipation der Frau oder der Unterdrückung ethnischer Minderheiten zu beziehen. In seinen Bildbänden zeigte er eine Maier, die vornehmlich in den 50er und 60er Jahren mit einer zweiäugigen Rolleiflex43, einer analogen Mittelformatkamera deutscher Herkunft, fotografierte und ein historisch-soziologisches Porträt des urbanen Lebens in den Armenvierteln amerikanischer Großstädte zeichnete. Besonderen Gefallen fand Maloofs Maier an den ›underdogs‹ und ›outcasts‹, den sozial marginalisierten Randfiguren und Großstadtindianern, auf die ihre Fotografien meist ein humanistisch geprägtes Auge warfen (Abb. 1).44 Damit stellte Maloof eine
43 Ihre erste Rolleiflex erwarb Maier im Jahr 1952. Im Verlauf der Jahre bzw. Jahrzehnte fotografierte sie u.a. mit einer Rolleiflex 3.5T, einer Rolleiflex 3.5F sowie einem Rolleiflex 2.8C-Modell. Weitere Kameras, die Maier benutzte, waren eine Leica IIIc, eine Ihagee Exakta und eine Zeiss Contarex. 44 Vor allem ihre Menschenporträts lassen häufig keinen rein distanzierten oder dokumentarischen Blick erkennen, sondern verfügen über eine stark evaluative Note.
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Analogie zur Tradition der FSA-Bilder (Federal Resettlement Administration) und der fotoreporterischen Tätigkeit (›documentary style‹) von Margaret Bourke-White (1904–1971), Lewis W. Hine (1874–1940) oder Walker Evans (1903–1975) her.45 Gleichzeitig ließ sich der fotografische Stil der Maloof’schen Maier dem Stil der Photo League New York (1936– 1951) zuordnen, einer Gruppe politisch engagierter Fotografinnen und Fotografen, zu denen u.a. bekannte Namen wie Berenice Abbott, Aaron Siskind (1903–1991), Robert Frank (1924–), Dorothea Lange (1895–1965) oder Helen Levitt (1913–2009) zu zählen sind (vgl. Sawyer 2016, S. 162).
Abbildung 1: Vivian Maier, New York, 1959 Richard Cahan und Michael Williams versammelten in Vivian Maier: Out of the Shadows (Jeffrey Goldstein Collection) neben Straßenaufnahmen der New Yorker und Chicagoer ›Nanny-Zeit‹ ebenso Bilder, die nicht unmittelbar eine Analogie zu den zuvor genannten Namen und fotografischen Stil-
45 Von 1930 bis 1950 entstanden in Amerika etliche sozialdokumentarische Bildbände, wie beispielsweise Erskine Caldwells und Margaret Bourke-Whites Buch You Have Seen Their Faces (1937), Walker Evans und James Agees Let us Now Praise Famous Man (1941) oder Berenice Abbotts Werk Changing New York (1939).
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richtungen zuließen46, dennoch von guter Qualität waren. Hierzu zählen beispielsweise Maiers ›Vista Shots‹ (Abb. 2) – Landschaftsaufnahmen, die Maier als junge Frau in den ersten Jahren ihres fotografischen Schaffens Anfang der 50er Jahre mit ihrer ›Kodak Brownie‹ in Saint-Bonnet-enChampsaur im Champsaur-Tal in Frankreich aufgenommen hatte und eine unverkennbare Ähnlichkeit zu Marguerite Jouberts Fotografien französischer Dorflandschaften aufweisen: »presented side by side, some of Joubert’s and Maier’s photographs appear as if made by the same person standing on the same spot« (Bannos 2017, S. 61).
Abbildung 2: Vivian Maier, Champsaur-Tal, o. D. Cahan und Williams gaben ebenso Maiers Nachtaufnahmen Raum, die sie bereits Mitte der 50er Jahre angefertigt hatte.47 Im Kapitel »Night«, das Out of the Shadows beschließt, versammeln sich Abbildungen von Straßenlater-
46 »From the time of her arrival in France, Vivian Maier relentlessly recorded people and her environment, but she was not photographing in a way that shows an affiliation with the philosophy of New York’s Photo League or the French social documentaries.« (Bannos 2017, S. 60) 47 Bereits Mitte der 50er Jahre erweiterte Maier ihr fotografisches Repertoire um diverse Kleinbildformatkameras und die Farbfotografie und damit wurden auch ihre Sujets vielfältiger.
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nen, Schattenbilder von Ästen und Menschenkörpern sowie unscharfe Aufnahmen von mit Lichtkegeln punktierten Straßen. Auch erhielt Maiers ethnografisch-soziologisch aufgeladene Fotografie in Out of the Shadows deutlich mehr Raum als in Maloofs Arbeiten. Cahan und William inkludierten eine Vielzahl an Aufnahmen, die sich mit den kulturellen Praktiken und Verhaltensweisen sowie den zwischenmenschlichen Beziehungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen bzw. Milieus der amerikanischen Gesellschaft auseinandersetzen. Maier fotografierte Sportveranstaltungen wie die »Tour de Gap« und verewigte Bräuche und Rituale wie Thanksgivingoder Halloween-Umzüge. Sie begab sich an den Strand des Wilmette’s Gillson Parks am Lake Michigan und fotografierte im Wasser spielende Kinder und badende Familien. Maier suchte soziale Gruppen in ihrer natürlichen Umgebung auf und schuf als teilnehmende Beobachterin eine deskriptive Darstellung der Lebensweisen der Menschen, die ihr begegneten (Abb. 3).48 Maier spürte das Besondere im Alltäglichen auf und fotografierte dabei häufig jene Ereignisse, die aus der Reihe tanzten und sich außerhalb einer gewissen sozialen Ordnung bewegten.
Abbildung 3: Vivian Maier, Coney Island (NY), 1955
48 »Maier had already established the lifelong theme of documenting other families’ rites and celebrations […].« (Bannos 2017, S. 66)
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John Maloof und Howard Greenberg brachten 2018 mit ihrem Band Vivian Maier: Die Farbphotographien (engl. Titel: Vivian Maier – The Color Work) Maiers über einen Zeitraum von 30 Jahren angefertigte Farbbilder in Umlauf, die sich keineswegs als Gelegenheits- oder Schnappschuss Fotografie einstufen lassen: Maier hatte gemäß Bannos (2017, S. 154) bereits Mitte der 50er Jahre mit der Farbfotografie begonnen und diese auch in den nachfolgenden Jahrzehnten konsequent praktiziert. Obwohl Maloof in den Vorgängerbänden zwar durchaus Farbfotografien in die Präsentation der vorwiegend quadratischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen einwob, zeigt sich Maiers ›Farbarbeit‹ in dem 2018 erschienenen Band von einer bisher noch ungesehenen Seite. Etwa 150 Farbfotografien, überwiegend in den 70er Jahren geschossen, greifen zwar ebenso wiederholt das ›Straßenthema‹ auf, spielen jedoch anstatt mit Licht- und Schattenkontrasten vor allem mit Farbe. In einem Close-up (Abb. 4) eines Cabriolets blicken hinter dem mit rotem Leder bespannten Rücksitz sieben zierliche Blütenköpfe weißer Margeriten hervor und wirken fast wie eine Fata Morgana in dem städtischen Umfeld voller schwerer Karosserien. Dieses Bild lebt vom farblichen Kontrast der Gegenstände, der sie voneinander abgrenzt, entfremdet oder im Fall der Fotografie einer alten Frau auf einem Hydranten durch ihre farbliche Entsprechung zu einer Einheit zusammenführt.
Abbildung 4: Vivian Maier, Chicago, 1978
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Während Joel Meyerowitz in seinem Geleitwort des Farbbild-Bandes Maier – obgleich seines Eindruckes, dass Maier die Schwarzweißfotografie priorisierte und auch besser beherrschte – als »frühe Poetin der Farbfotografie« (Meyerowitz 2018, S. 9) huldigt, bewerten erste Stimmen Maiers Farbwerk eher kritisch. Für eine/n Rezensentin/Rezensenten von Vivian Maier: The Color Work sind Maiers Farbaufnahmen »not very interesting and therefore they don’t have nearly the powerful impact of her black-and-white photos« (A voracious reader 2018). Diese Aussage verdeutlicht, dass Maier aufgrund der von Maloof konsequent vorgenommenen Präsentation ihrer 50er und 60er Jahre Mittelformatkameraaufnahmen vor allem für die Schwarzweißfotografie stand. Maiers Farbfotografie scheint vermutlich auf den ersten Blick fremd für ›Maier-Anhänger/innen‹ zu sein und erfährt daher aufgrund der neuen Perspektiven, die sie eröffnet, zumindest in einer ersten Begegnung offensichtliche Ablehnung.
Abbildung 5: Vivian Maier, o. O., 1971 Ein Genre, das Maier ebenso bediente, in den Bildbänden der letzten Jahre jedoch eher zurückhaltend aufgenommen wurde, war die ReportageFotografie. Diese präsentiert sich wesentlich lakonischer als die PorträtFotografie der amerikanischen ›Straßenmenschen‹. Maier fotografierte als »bold photojournalist« (Bannos 2017, S. 74) beispielweise den Ablauf (9teilige Serie) eines Gefängnistransports zum Seventh Street Magistrates Court and Jail (vgl. ebd., S. 120) in New York. Sie hielt Unglücksfälle,
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Festnahmen oder Beerdigungen fest und bemühte sich um eine dokumentarisch-reine Darstellung gesellschaftsrelevanter Ereignisse. Markante Headlines (Abb. 5) zu politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen beispielsweise in der Chicago Tribune oder den Chicago Daily News häufen sich ebenso auf vielen ihrer Fotografien und lassen ein ausgeprägtes journalistisches bzw. politisches Interesse Maiers vermuten. Ebenso umfasst Maiers Œuvre eine Vielzahl an ›Paparazzi-Aufnahmen‹, die sie von Personen des öffentlichen Lebens bzw. besonderer gesellschaftlicher Stellung wie Richard Nixon, Salvador Dalí, Audrey Hepburn etc. bei Vernissagen, Filmpremieren oder Paraden schoss (Abb. 6). Als fotojournalistische Praxis lassen sich auch Maiers unzählige serielle Aufnahmen einordnen, indem Maier durch Sekundentaktaufnahmen eine chronologische Ereignisabfolge und visuell fundierte narrative Ordnung erzeugte. Maiers Fotoserien beziehen sich jedoch nicht ausschließlich auf Vorkommnisse des öffentlichen Lebens, sondern waren eine durchgängige Praktik, unabhängig von der Motivwahl. So dokumentierte Maier auf einer ihrer Reisen von Sevilla nach Madrid »every stage of the journey, including the runway, aerial perspectives of the landscape, a view of the sky framed along with the plane’s wing and ground crew activity« (ebd., S. 74).
Abbildung 6: Vivian Maier, Chicago, 1960 Maier beherrschte ein großes Repertoire an fotografischen Stilen und Techniken »that go well beyond the street – both physically and intellectually«
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(Cahan & Williams 2012a, S. 20). Maier »arbeitet[e] mit Spiegelungen und Perspektiven im Stil des neuen Sehens, teilt[e] mit Lee Friedlander den coolen Blick auf das moderne urbane Leben, zeigt[e] aber auch das verarmte afro-amerikanische Milieu und die polnische Community von Downtown Chicago« (Die Straße als Bühne der Wirklichkeit 2011). Maier kultivierte in ihren Fotografien (insbesondere in ihren Selbstporträts) beispielsweise unheimliche Effekte durch irritierende Raumkonstellationen und die Verzerrung von Alltagserfahrungen, die an die surrealistische Fotografie der 20er und 30er Jahre erinnern lassen. Anregende Beispiele hierfür lieferten unter anderem Eugène Atget, André Kertész (1894–1985), Hannah Höch (1889–1978) oder Max Ernst (1891–1976). Besonders interessant erscheinen in diesem Zusammenhang Maiers Kaufhaus- und Schaufensteraufnahmen, die in Anlehnung an Atgets Fotografie Avenue des Gobelins (1925) eine beunruhigende Ähnlichkeit zwischen Mensch und Schaufensterpuppe, folglich dem menschlichen und dem artifiziellen Körper evozieren (Abb. 7). Irritierende sich überlagernde Spiegelungsvarianten von allerhand Gegenständen erschweren in diesen Arbeiten eine exakte Standortbestimmung und Einordnung von fotografischer Räumlichkeit und Zeitlichkeit und thematisieren vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung idealisierter Geschlechtermarker die künstliche Perfektion eines hochartifiziellen Werbeprodukts als räumlich isoliert bzw. entrückt.
Abbildung 7: Vivian Maier, New York, 1954
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Maiers New Yorker Straßenaufnahmen weisen wiederum Parallelen zu Lisette Models Close-ups der 30er sowie zu Diane Arbus’ grotesker und zeitgleich schonungsloser Porträtierung von gesellschaftlichen Randfiguren der 60er Jahre auf. Zeitgleich versprühen viele von Maiers Aufnahmen den Esprit der empathischen Fotografie der Photo League der 40er Jahre und auch ein Fünkchen ›Paris-Romantik‹ der französischen Meisterfotografen wie von Robert Doisneau (1912–1994), Brassaï (1899–1984) oder Henri Cartier-Bresson (1908–2004) lässt sich in Maiers Bildern finden (vgl. Cahan & Williams 2012, S. 207). Maiers Aufnahmen der 60er und 70er Jahre bewegen sich wiederum in Richtung der modernen Straßenfotografie von Harry Callahan (1912–1999), Garry Winogrand (1928–1984) und Lee Friedlander (1934–), die durch den Einsatz einer »peripheral vision« (Philippe 2011) mehrere und zum Teil oppositäre Sujets szenisch nebeneinander stellten, um visuelle Dissonanzen und cartoonesque Stimmungen zu erzeugen. Der ›Winogrand-Vibe‹ verkörpert sich beispielsweise in jenen Fotografien, die im Kontrast zu einer detailgenauen und nah am Sujet orientierten Visualisierungsweise eine merkliche Ungewissheit und Polytonalität ausdrücken. Manche von Maiers Arbeiten wiederum erinnern an Kunstwerke, die nicht im Kontext der künstlerischen Fotografie anzusiedeln sind. Einige von Maiers Zerrspiegel-Selbstporträts weisen merkliche Ähnlichkeiten zu Parmigianinos (1503–1540) berühmtem Gemälde »Selbstporträt im konvexen Spiegel« (1523/24) oder zu den Arbeiten der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz (1867–1945) auf, die sich ebenso wie Maier über mehrere Jahre selbst porträtierte und deren Abbild Maier 1971 in Form einer Reproduktion käuflich erworben hatte (vgl. Bannos 2017, S. 246). Auch wenn Analogien zu den zuvor genannten Künstler/innen nicht von der Hand zu weisen sind, ist bis heute dennoch unklar geblieben, von welchen Kunstformen, Stilrichtungen und Künstler/innen Maier tatsächlich beeinflusst wurde, denn einige ihrer Arbeiten entstanden noch vor der Zeit, in der ihre vermeintlichen Inspirationsgeber/innen ihre Arbeiten angefertigt und veröffentlicht hatten. Maiers Œuvre »predates that of many of her supposed inspirations« – so Richard Cahan und Michael Williams (2012a, S. 207) in ihrem Fotoband Out of the Shadows.49 Zum anderen lesen sich Li-
49 Zudem war Maier ihrem Nachlass zufolge vor allem im Bereich der Fotografie und Kunst eine belesene Frau und besaß mehrere Bände der Reihe Life Library of Photography (vgl. Westerbeck 2018, S. 14). Maier interessierte sich, zieht
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sette Models späte Selbstporträts (Abb. 8), die sie Jahrzehnte nach Maiers fotografischer Blütezeit anfertigt hatte, durch ihre unverkennbare Ähnlichkeit fast wie eine Hommage an Maiers Porträtierungsstil und erwecken den Eindruck, dass Maier im umgekehrten Fall ebenso gut Muse für ihre fotografierenden Zeitgenossinnen/Zeitgenossen hätte sein können. So vehement zum Zweck der Legitimierung und Aufwertung von Maiers Bildern immer wieder nach Parallelen und Berührungspunkten zu namhaften Fotografinnen und Fotografen des 20. Jahrhunderts gesucht wird, darf die Qualität von Maiers Bildern nicht von den Arbeiten der ausgewiesenen ›großen Meister‹ abhängig gemacht werden. Maier entwickelte ihre eigene Handschrift, die unverkennbar jedes ihrer Bilder bestimmt: »You can tell a Maier photograph.« (Ebd.)
Abbildung 8: Lisette Model, Selbstporträt, o. O., o. D. Kennzeichnend für Maiers fotografisches Auge ist beispielsweise ihre Begabung für »straightforward« (ebd., S. 15) und »on point« (ebd., S. 20) Aufnahmen, die gekonnt feinfühlig zwischenmenschliche Nähe- und Dis-
man ihren verbliebenen Bücherbestand heran, zudem für Autobiografien: »She loved to read. In all these storage bins, there were hundreds [of] books …. She loved biographies and autobiographies« (Gensburg, zit. in Bannos 2017, S. 10).
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tanzverhältnisse ausloten und von einer Ironie gezeichnet sind, die kaum Erklärungsbedarf äußert (vgl. ebd., S. 15): »She had a way of knowing just how close she could come to her subjects in order to pierce their façade without exploiting them.« (Ebd., S. 207) Maier fertigte darüber hinaus wiederholt Bilder an, »in denen es allein auf den richtigen Zeitpunkt ankam« (Westerbeck 2018, S. 24) und verstand es, die Essenz des Moments in einem Bild festzuhalten. Wie eine Hommage an Henri Cartier-Bresson lesen sich jene Fotografien, die im »le moment décisif« (Museum Köln 1996, S. 96) geistesgegenwärtig das Aufblitzen lebensweltlicher aber dennoch flüchtiger Wahrheiten festhielten (Abb. 9), die der New Yorker Galerist Steven Kasher als fotografische Haikus bezeichnet – »images that freeze blinks of life, lyrical and lasting« (Cahan & Williams 2012a, S. 16).
Abbildung 9: Vivian Maier, New York, 1959 Gerade weil Maiers Fotografien das Essentielle wie auch Existenzielle zeigen, sprechen sie die Schaulust der Betrachterin/des Betrachters an, treffen sie/ihn und brechen ungeachtet von Moral und Geschmack in deren/dessen Welt ein. Was bleibt ist Betroffenheit, eine Emotion, eine Wunde, die an Roland Barthes’ (1989; 1990) punctum erinnern lässt. Maiers Fotografien sind zudem mehrdeutig und verlangen nach einem zweiten Blick. Wenn sich das punctum mit dem studium verbindet und sich das Unbewusste im Zuge der kulturellen Wahrnehmung den Weg ins Bewusstsein bahnt, gibt sich noch ein weiteres Merkmal des ›Maierschen Auges‹ zu erkennen. Ins-
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besondere spätere Arbeiten ab den 60er Jahren überzeugen durch einen Formalismus, der »Kontinuität inmitten visueller Kontraste« (Westerbeck 2018. S. 24) und »Kohärenz in angeblichen visuellen Antithesen« (ebd.) sucht. Colin Westerbeck (ebd., S. 23) veranschaulicht die Vereinigung scheinbar disharmonischer Elemente in Maiers Bildern an einer Farbfotografie aus dem Jahr 1966. Darin blickt eine junge Frau mit Kopftuch auf eine verbeulte und rostige Mülltonne und passt sich in ihrer Körperhaltung mit gesenktem Kopf und eingeknickten Beinen der Form der Tonne an. Tonne und Frau treten in einen Dialog und vollführen geradezu einen »Pasde-deux« (ebd., S. 23). Immer wieder verbinden sich Umrisse und Konturen vermeintlich konträrer Gegenstände in Maiers Fotografien, gleichen sich einander an, verschmelzen miteinander und führen in ihrer Symbiose zu einer neuen Form. Maier hatte ein Gespür für Gegensätzlichkeiten und die Fähigkeit, dies in ihren Fotografien zusammenzuführen – »Distanz zu wahren und gleichzeitig Intimität zu erzeugen, Präsenz mit Abwesenheit auszugleichen« (Heiferman 2014, S. 32). Dabei wurde Maier posthum selbst als Person der Gegensätze vorgeführt – als »outsider and protagonist« (Avedon 2013, S. 10) vereint in einer Person – eine Art Doppelgängerin ihrer selbst. Gegensatz und Widerspruch beanspruchen ebenso in Maiers Selbstporträts Raum und präsentieren sich als wiederkehrendes Thema. Über 40 Jahre lang hatte Maier Ansichten von bzw. auf sich selbst angefertigt und bediente damit ein weiteres fotografisches Genre, in dem sich das Dokumentarische, Sozialkritische und Surreale nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen lässt (vgl. Die Straße als Bühne der Wirklichkeit, 2011). Sich wiederholende Sujets stellen das fotografische Spiel mit ihrem von der Sonne gezeichneten Schatten dar sowie die Aufnahme der sich vor Schaufenstern schöner Läden aufbäumenden Reflexionen ihrer Körperkonturen (Abb. 10), oder ihre starren Blicke, die häufig nach oben gerichtet, mehrfach gespiegelt ins Unendliche reichen. Es wirkt fast so, als hätte Maier ihre Fotografien ›durchkomponiert‹ und ihr fotografisches Handeln akribisch organisiert. Für Fotografin Elizabeth Avedon (2013, S. 7) sind Maiers Selbstporträts »her strongest work […] so far«. In ihrem Essay »Self-Portrait – My Impressions of Vivian Maier« verweist sie auf Maiers Vorliebe, ihre eigenen Reflexionen und Schatten abzulichten, die gemäß Avedon »hidden clues« (ebd., S. 10) über Maiers Lebensgeschichte freilegen sollen – »re-
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flective surfaces and glass permeate all over her work, the world fragmented as seen through frames, doorways, and boxes, her shadows projected into others’ lives, onto sidewalks, and the back of strangers« (ebd., S. 8). Marvin Heiferman (2014, S. 30) erklärt Maiers Selbstporträts in seinem Essay »Verloren und Wiedergefunden. Das Leben und das fotografische Werk von Vivian Maier« »wegen der ständigen Wiederholung, der Tatsache, dass Maier sie immer und immer wieder machte«, zu einer fotografischen Besonderheit.
Abbildung 10: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1976 Und auch Theaterkritikerin und Kulturredakteurin Daniele Muscionico (2016) konstatiert: »Die Häufung von Maiers vielschichtigen, raffinierten, komponierten Selbstporträts stellt Fragen. Ist das Fotografieren auch die Suche der Fotografin nach der eigenen Herkunft, der eigenen (Klassen-) Zugehörigkeit?« Heiferman (vgl. 2014, S. 29f) vermutet, dass Maiers wiederkehrende Selbstporträts kein Zufallsprodukt ihrer fotografischen Tätigkeit waren, sondern eine essentielle Funktion für Maier einnahmen, die insbesondere unter dem Gesichtspunkt ihres privaten Gebrauchs und Maiers Entscheidung ihrer Nicht-Veröffentlichung weitere Rätsel aufgeben: »Vielleicht waren die Selbstportraits [sic] eine Art Tagebuch, in dem sie aufzeichnete, wo sie gewesen war, oder Momente festhielt, deren Bedeutung sich uns heute
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entzieht. […] Womöglich waren die Selbstportraits [sic] auf einer existentiellen Ebene sporadisch, aber nachdrücklich auch Ausdruck ihres Gefühls, allein auf der Welt zu sein. Oder vielleicht waren die Bilder für sie einfach eine Art, sich zu versichern, dass sie – unabhängig davon, für wen sie arbeitete oder was sie tat – in erster Linie eine Photographin war.« (Ebd., S. 30)
Als auffallend an Maiers Œuvre erweist sich die kontinuierliche Selbstporträtierung der Fotografin in fotografierender Pose bei gleichzeitiger Aufnahme von weiblich konnotierten Sujets (›Beziehungsporträts‹, Abb. 11). Dies legt die Vermutung nahe, dass Maier fotografisch mit De-/Konstruktionsweisen von (medial vermittelten) Frauenbildern der Jahrhundertmitte experimentierte und in und durch ihre Selbstporträts Stellung zu gesellschaftlich tradierten Geschlechterrollen ihrer Zeit bezog. Gleichzeitig betonen die vorliegendem ›Beziehungsporträts‹ den fotografischen Akt, indem die Urheberin selbst als Schöpferin ihrer Selbstporträts das Bild dominiert.
Abbildung 11: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1950er Jahre Als interessant erweist sich nun der sich darin abzeichnende Ausdruck von Maier in ihrer Rolle als Foto-Künstlerin, der mit Fokus auf Formen ihrer Selbstinszenierung in den Momenten, als sich Maier selbst zum Sujet erwählte, analysiert werden soll. Dabei sei an dieser Stelle gesagt, dass Mai-
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ers Auswahl der fotografischen Repräsentationsformen des eigenen Künstlerinnenkörpers vordergründig im Kontext des damals vorherrschenden Geschlechterdiskurses zu verhandeln ist, der gegen Mitte des 20. Jahrhunderts noch wesentlich stärker das System naturalisierter Zweigeschlechtlichkeit propagierte, als es heute der Fall ist (siehe dazu Trans- bzw. Intergender und Queer Studies). Daher wird Maiers genderrelevante Stellungnahme nachfolgend mit diesem (wenn auch heute nicht mehr zeitgemäßen) dualistischen Modell und den Kategorien »Frau« und »Mann« in Beziehung gesetzt und besonderes Augenmerk auf etwaige Versuche einer Unterlaufung vorliegender ›Mann-Frau-Logik‹ gelegt. Folgende Leitfragen bilden daher zusammengefasst den Ausgangspunkt der weiterführenden Betrachtungen: • Welche Eigenart visueller Selbstinszenierung veranschaulichen Maiers
Selbstporträts und welchen Blick auf sich selbst in ihrer Rolle als FotoKünstlerin gewährt(e) Maier damit den Betrachterinnen/Betrachtern ihrer Fotografien? Welches Bilderrepertoire im Hinblick auf die fotografierende Frau des 20. Jahrhunderts bietet Maiers Œuvre an? • Inwiefern und in welcher Form beziehen Maiers Selbstporträts Stellung
zu gesellschaftlich tradierten Geschlechterrollen (bezogen auf die zweigeschlechtlichen Kategorien »Frau« und »Mann«) der damaligen Zeit und welche Formen einer ikonografischen De-/Konstruktion und De/Stabilisation von massenmedial propagierten Frauenbildern des 20. Jahrhunderts lassen sich aus ihnen herauslesen? Vorliegende Fragen werden unter Anwendung des ikonologisch-ikonischen Bildanalyseverfahrens nach Ralf Bohnsack (2011) bearbeitet. Dieser werkanalytische Zugang gewährt Einblicke in Maiers Darstellung als fotografierendes und fotografiertes, abbildendes und abgebildetes, folglich sehendes und geschautes Subjekt wie Objekt in ihrer Erfahrung »of being represented on both sides of the frame« (Avedon 2013, S. 7). Indem Maier wiederholt als Frau auf eine Frau blickte und sich in ihren Selbstporträts vorwiegend den Darstellungsweisen weiblicher Sujets widmete, die in vorliegender Arbeit ebenso wieder von einer Frau erblickt werden, dazwischen liegen 3060 Jahre Zeitgeschichte, offeriert vorliegende Arbeit zusammengefasst (ausgenommen sei die Vorselektion von Maiers Arbeiten durch ihre Entdecker) eine weibliche Rezeption künstlerischer Geschlechterkonstruktionen
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der Jahrhundertmitte – eine dringliche Notwendigkeit angesichts der vornehmlich männerlastigen Rezeption von Maiers Werk.
2.2 MAIERS NACHLASS: EIN FOTOHISTORISCHER SENSATIONSFUND UND WEM ER GEHÖRT Wir schreiben das Jahr 2007. In dem Chicagoer Auktionshaus RPN Sales & Auction House werden Maiers Habseligkeiten aufgeteilt auf mehrere Lose sowohl am 17. Oktober wie auch am 7. November (vgl. Bannos 2017, S. 9) zur Ersteigerung aufgerufen50. »Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten! … Verkauft!« – Vivian Maiers Kleidungsstücke, diverse Kameras, Papiermaterial und tausende von Bildern in unterschiedlicher Verarbeitung bzw. Form wechseln ihre Besitzerin/ihren Besitzer und gehen an die drei Meistbietenden – Ron Slattery, der für 250 Dollar 1.000 unentwickelte Filmrollen, Filmspulen und etwa 2.000 Abzüge ersteigert, Randy Prow, der für 1.100 Dollar 18.000 Negative und Abzüge in seinen Besitz nimmt, und John Maloof, der für 380 Dollar rund 30.000 Bilder und persönliche Gegenstände einer bis dato noch unbekannten Frau erwirbt. Neben Maloof, Prow und Slattery ersteigern zudem zwei Frauen, Kathy Gillespie sowie eine Unternehmerin aus der Region, für jeweils 300 und 500 Dollar einen kleinen Anteil des Maier-Nachlasses. Vier spiralgebundene Lederportfolios mit 150 Originalabzügen aus den 50er Jahren und in guter Qualität erhalten beispielsweise mit Kathy Gillespie eine neue Besitzerin (vgl. ebd., S. 56). Was alle fünf zu dieser Zeit nicht wissen: Maier ist noch am Leben, kann jedoch aufgrund ihrer finanziellen Notlage nicht mehr für die Miete ihrer Lagerschränke, in denen sie ihr Hab und Gut jahrzehntelang aufbewahrt hatte, aufkommen. John Maloof, der heute als Besitzer des umfangreichsten Bestandes von Maiers Bildern gilt, arbeitet zu dieser Zeit an einem Buchprojekt zur Geschichte des Stadtteils Portage Park und hofft, in alten Fotografien mehr über das urbane Leben seines Viertels zu erfahren. Ahnungslos sichtet er den günstig erworbenen Bildbestand; unweigerlich drängt sich
50 Im Jahr 2007 erwirbt Auktionator Roger Gunderson für 250 Dollar fünf Lagerschränke mit Maiers Nachlass, die er unmittelbar zur Auktion aufruft.
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der Verdacht auf, dass Maiers Fotografien wohl Teil einer ›größeren‹ Geschichte sein könnten. Maloof ordnet und archiviert Maiers Habseligkeiten, scannt etwa 100 ihrer Negative und versteigert diese auf eBay. Die Reaktionen auf Maiers Schüsse sind überraschend, die Scans in wenigen Stunden verkauft. Allan Sekula, ein US-amerikanischer Künstler und Kunstkritiker, wird zu dieser Zeit auf Maloofs Angebote aufmerksam und rät ihm vom Verkauf der Bilder ab. Sekula wird später der Mann sein, der in Maloofs Veröffentlichungen wiederholt als fachlich bewanderte Stimme im Kontext der Kunstfotografie zu lesen sein wird. Angefacht von den Reaktionen seiner Käufer/innen und dem Rat Sekulas folgend, den Entstehungskontext der Bilder auszuforschen, durchforstet Maloof Maiers Nachlass auf mögliche Spuren der Fotografin und ihrer Geschichte. Auf einem Aufkleber eines Fotolabors entnimmt er den Namen »Vivian Maier«. Eine Google-Recherche greift jedoch (zu wird zumindest behauptet) ins Leere. Zwei Jahre vergehen bis Maloof erneut den Versuch wagt, die Person ausfindig zu machen, deren Fotografien soziale Netzwerke später in Aufruhr versetzen sollten. Im April 2009 stößt er in der Chicago Tribune auf eine Todesanzeige, die Vivian Maiers Namen trägt und von einer gewissen Familie Gensburg geschaltet wurde: »Vivian Maier, proud native of France and Chicago, resident for the last 50 years died peacefully on Monday. Second mother to John, Lane and Matthew. A free and kindred spirit who magically touched the lives of all who knew her. Always ready to give her advice, opinion or a helping hand.« (Chicago Tribune 2009)
Eine erste Spur nimmt Gestalt an. Maloof nimmt mit den Gensburgs Kontakt auf und entscheidet sich erneut für einen medialen Auftritt von Maiers Fotografien. Er eröffnet einen Blog, postet etwa 200 von Maiers Bildern auf Flickr, versehen mit der Frage »What should I do with this stuff (other than give it to you)?« (Maloof & Siskel 2013) Erneut sind die Reaktionen auf Maiers von der Foto-Journalistin Mary Ellen Mark ausgewiesenes »great eye« (ebd.) überwältigend. Binnen weniger Stunden kommentieren hunderte Personen Maiers Fotografien und weisen sie als »amazing« (ebd.) und »stunning« (ebd.) aus. Ein Jahr später sind der Vermarktungsprozess und die Nachforschungen zu der unbekannten Frau hinter der Kamera bereits in vollem Gange.
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Im Jahr 2010 nimmt das Geschäft mit Maiers Fotografien dann richtig an Fahrt auf. Jeffrey Goldstein, ein Künstler und Kunstsammler aus Chicago, betritt als noch unbekannte Figur die Maier-Bühne und erwirbt Anfang des Jahres 75 Maier-Abzüge von Ron Slattery. Dieser stellt den Kontakt zu Randy Prow her, der Goldstein Maiers frühe Arbeiten aus den 50er Jahren zum Kauf anbietet. Goldstein bekundet Interesse und reist mit einem Freund und einer hohen Geldsumme nach Indiana, um sich mit Prow in einer verlassenen Lagerhalle zu treffen. Wie eine Szene aus einem Gangsterfilm erfolgt die Übergabe des Geldes und der Fotografien51 (vgl. Bannos 2017, S. 163). Erst wenige Wochen nach dem Lagerhallen-Deal erfährt Goldstein, dass Prow ihm bei besagtem Treffen nur einen Teil seines Maier-Nachlasses übergeben hatte. Drei weitere Verkaufshandlungen zwischen Goldstein und Prow folgen – »with each purchase being progressively higher in cost than the previous« (Goldstein 2011, zit. in ebd., S. 164). In Summe zahlt Jeffrey Goldstein 100.000 Dollar an Randy Prow und kollaboriert am Ende sogar mit seinem Kontrahenten John Maloof, der als Geschäftspartner in den letzten Handel mit Prow einsteigt (vgl. ebd.). Bezahlt hatten Goldstein und Maloof jedoch nur für den Nachlass und nicht für das Nutzungsrecht an Maiers Bildern. In den Jahren 2012 und 2013 befinden sich Maloof und Goldstein am Gipfel ihrer Vermarktungskarriere. Ein Fotobuch nach dem anderem erobert den Markt. Diverse Galerien (z.B. Steven Kasher Gallery, Howard Greenberg Gallery) widmen sich dem Verkauf von Maiers Bildern. Unzählige Ausstellungen produzieren immer mehr Maier-Anhänger/innen und die steigende Nachfrage nach Maiers Bildern treibt Kaufpreise für Abzüge in die Höhe. Den größten Erfolg feiert Maloof mit dem vielfach prämierten und für den Oscar nominierten Dokumentarfilm »Finding Vivian Maier«, der ab 2013 weltweit die Kinoleinwände bespielt und über drei Millionen Dollar einbringt. Die Glorifizierung von John Maloof als derjenige, der den Blick auf Maier und ihr Werk freigab, die Verkultung von Maier als verschrobenes und zum Teil bemitleidenswertes Kindermädchen und die subtile Pathologisierung von Maiers Idiosynkrasien lassen die Kinokassen klingen. Auch wenn die Betrachtung und Einschätzung von Maiers Werk damit deutlich hinter die Mystifizierung des Künstlerinnencharakters und des ide-
51 Siehe hierzu auch den 2013 veröffentlichten BBC-Dokumentarfilm »Vivian Maier – Who Took the Nanny’s Pictures«.
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alisierten Entdeckernarrativs tritt, scheint es genau das zu sein, was das Publikum sehen will. Der Film erregt Aufmerksamkeit und das nicht nur bei wohlgesonnenen Beobachter/innen der Maloof’schen wie Goldstein’schen ›Schnitzeljagd‹. Als 2014 der Fotograf und Rechtsanwalt David C. Deal auftaucht, nimmt die Maier-Saga einen anderen, wenn auch absehbaren Verlauf. Als langjähriger Verfolger der Vermarktung und Vorführung von Maier als »mystery woman« (Anderson 2014) wirft Deal Maloof und Goldstein »unauthorized use« (ebd., S. 274) im Umgang mit Maiers Nachlass vor: Maloof und Goldstein hätten zwar die Negative von Maier käuflich erworben, jedoch nicht das Recht, diese abzudrucken und zu vervielfältigen, geschweige denn mit den Abzügen Geld zu machen (Abzüge von Maiers Fotografien sind mittlerweile 2.000 Dollar pro Stück wert). »Under federal copyright law, owning a photograph’s negative is distinct from owning the copyright itself«, formuliert Randy Kennedy (2014) in seinem Beitrag zu den Widrigkeiten um Maiers Nachlass. Die Reproduktion und Vermarktung gebühre nach Deal, wenn überhaupt, Maiers Nachkommenschaft, die sich aus ihrem Cousin Sylvain Jaussaud und dem erst kürzlich ausgeforschten Cousin Francis Baille zusammensetze. Beide erhoben nach USamerikanischem Gesetz als mögliche Erben Anspruch auf Vivian Maiers Nachlass, wobei Maloof, nach eigener Aussage, Jaussaud bereits eine unbekannte Geldsumme52 für die Rechte an Maiers Bildern zukommen lassen habe und wiederholt eindrücklich beteuert, immer darauf bedacht gewesen zu sein, »to do what was as legally and ethically aboveboard as possible« (ebd.). Da Maier jedoch kein Testament hinterlassen hat, gehöre ihr Nachlass, so Deal, zuallererst Cook County, dem Verwaltungsbezirk der letzten offiziellen Wohnadresse Maiers (vgl. Bannos 2017, S. 272) – zumindest solange, bis »the closest living heir« (ebd., S. 274) identifiziert werden könne. Der 63-jährige Francis Baille ist zwar um einen Grad näher mit Maier verwandt als der von Maloof ausgeforschte Cousin Jaussaud. Nicolas Baille hatte die unehelich gezeugte Marie Jaussaud, Maiers Mutter, im Jahr 1932 jedoch nicht als seine Tochter akzeptiert. Vivian Maier war damit zumindest nicht »legally connected to the Baille family« (ebd., S. 276). Als Jeffrey Goldstein davon erfährt, er hingegen hatte die Nutzungsrechte von John
52 Gemäß Jeffrey Goldstein hat John Maloof Sylvain Jaussand 5.000 Dollar für das Nutzungsrecht an Maiers Bildern ausbezahlt (vgl. Bannos 2017, S. 276).
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Maloof erworben, zieht er sich aus dem Maier-Business mit folgenden Worten zurück: »The potential legal conflict ahead is of a nature where it is better for us to fold and go into a sleep pattern until this is resolved.« (Ebd., S. 277) Noch 2014 verkauft Jeffrey Goldstein seinen Bestand an Negativbildern an den kanadischen Galeristen Stephen Bulger (vgl. ebd., S. 277), da Goldstein, nach Aussage von Bulger, »didn’t feel the photographs were quite safe in Illinois« (Luo 2015). Nichtsdestotrotz wird Goldstein im selben Jahr gerichtlich aufgefordert, seine Einnahmen, die mit dem Verkauf von Maiers Bildern erzielt wurden, offenzulegen. Goldstein verweigert und reicht eine Widerklage ein, in der er sich darauf beruft, dass Maiers Bilder erst durch seine Arbeit »significant monetary value« (Bannos 2017, S. 278) erlangten und es seinem Zutun zu verdanken sei, dass »a market for Maier’s photography took shape and her works value was established« (ebd., S. 272). Die Gegenklage wird jedoch abgewiesen. Weitere Versuche einer Zusammenarbeit mit Goldstein versiegen, sodass er im April 2017 wegen einer Urheberrechtsverletzung im Fall Maier angeklagt wird. John Maloof hingegen zeigt sich kompromissbereit und unterzeichnet im Mai 2016 ein Abkommen mit dem Vivian Maier Estate, vertreten durch einen öffentlichen Verwalter von Cook County, das es ihm ermöglichen soll »to continue to bring Ms. Maier’s extraordinary photography to light while preserving her legacy« (Marshall Gerstein). Ende desselben Jahres wandern etwa 750.000 Dollar mit dem Verweis »Proceeds from Sale of Maier Works« (Bannos 2017, S. 279) auf das Konto des Vivian Maier Estate. Die Negative, die Jeffrey Goldstein im Jahr 2014 an Stephen Bulger verkauft hatte, verlassen 2017 Amerika und gehen an ein Konsortium von Schweizer Investoren, »removing them further from their origins and the estate’s control« (ebd.). Vivian Maier hat Geschichte geschrieben, wenngleich ihre Geschichte – betrachtet man die nach wie vor andauernden Gerichtsverfahren – noch kein Ende gefunden hat. Der Urheberrechtsstreit um Maiers Nachlass ist nach wie vor im Gange und hat für Aufsehen gesorgt, was den Mythos »Vivian Maier« wie auch seine Kommerzialisierung stark befeuerte. Nachfolgender Abschnitt ist nun Maiers Leben bzw. dem gewidmet, was wir über Maiers Biografie zu wissen meinen. Im Gegenzug zu der in dieser Arbeit priorisierten Darstellung der medialen Rezeption von Maier in Buch- und Filmform fällt der nachfolgende Abschnitt deutlich reduzierter aus – einmal,
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weil der Großteil der Publikationen der Vergangenheit vorrangig Maiers Leben gewidmet war und bereits ausführliche Informationen hierzu vorliegen (siehe Bannos 2017; Marks 2019); zum anderen, weil sich das Wissen über Maier in erheblichem Maß aus den Erfahrungen ihres Bekanntenkreises speist, dessen Erzählungen eventuell ebenso der Sensationslust und den Gesetzen des ›Maier-Marktes‹ anheimgefallen sein könnten und daher mit Vorsicht vorzustellen sind. Was nachfolgend beschrieben wird ist eine Mischung aus biografischen Eckdaten und zum Teil gegensätzlichen Äußerungen zu Maier von Personen, die vorgeben, mit Maier zusammengelebt bzw. sie gekannt zu haben. Letztlich bleibt es jeder/jedem selbst überlassen, welche dieser Informationen angenommen werden, um ein für sich stimmiges Bild der Künstlerin Vivian Maier zu entwerfen.
2.3 DAS BIOGRAFISCHE BILD EINES ›MISFIT GENIUS‹ »She was a person who doesn’t fit in really!« (Maloof & Siskel 2013) »She was a tough women engrossed in photography, cinema (everything from classics to B movies), books (mostly biographies and autobiographies), and politics (liberal and feminist).« (Cahan & Williams 2012a, S. 19) »There was very much of a dark side in her!« (Maloof & Siskel 2013) »Unwilling to talk about her background or her art, she was quick to give advice to others. She stopped to tell homeless men […] where they might go for shelter and lectured young women […] on dressing more modestly.« (Cahan & Williams 2012a, S. 19.) »She looked like a wicked witch from the West!« (Maloof & Siskel 2013) – Wer war Vivian Maier nun? Eine Eigenbrötlerin? Eine Cineastin und Kunstinteressierte? Eine Hexe? Eine Feministin und Idealistin? An den Aussagen von Maiers Bekanntenkreis sowie Maiers ›Entdeckern‹ verdeutlicht sich, wie gegensätzlich Maier in den letzten Jahren porträtiert wurde. Die Maloof’sche Nanny-Fotografin wurde in erster Linie durch die Eindrücke und Erinnerungen der Kinder, die Maier in ihrer Tätigkeit als Kindermädchen wohlhabender Familien betreut hatte, konstruiert. Die kunstinteressierte Maier bei Cahan und Williams wurde durch die Aussagen von flüchtigen Bekannten wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Fotoläden oder von Kino- und Museumsbesitzern ›geschaffen‹.
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Vieles, was wir über Vivian Maier zu wissen glauben, basiert jedoch nach wie vor auf den Einschätzungen ihrer einstmaligen Sprösslinge – einerseits sind diese Erzählungen in Fülle vorhanden, anderseits scheint man ihnen mehr Glauben zu schenken als den Aussagen flüchtiger Bekannter, haben Maiers ›Familien auf Zeit‹ doch mit ihr zusammengelebt und sie ›richtig‹ kennenlernen dürfen. Gesehen durch Kinderaugen, heute gesprochen aus erwachsenen Mündern erzählen sie vor allem in »Finding Vivian Maier« von ihren Erfahrungen mit der »Mary Poppins mit der Kamera« (Heiferman 2014, S. 36). Bei manch einem Zögling war Maier beliebt, denn sie habe ihre Ziehkinder zu den außergewöhnlichsten und zeitgleich gefährlichsten Orten der Umgebung, wie beispielsweise den Slums von New York, Schlachthäusern der Stadt oder zu gewalttätigen Studentendemonstrationen geschleppt. Andere mochten sie weniger, was sie in ihren Erzählungen zu Maier deutlich zum Ausdruck bringen. Ein Messie sei sie nach Aussagen einiger Bekannter gewesen, tausende von Tageszeitungen habe sie gesammelt und in ihrem Schlafzimmer zu deckenhohen Türmen gestapelt. Manche ihrer betreuten Kinder habe sie anscheinend genötigt und bei gemeinsamen Spaziergängen zurückgelassen. Auf Männer habe sie ungewöhnlich forsch reagiert, sei wiederholt handgreiflich geworden. Der Verdacht des sexuellen Missbrauchs ihrer Person schwebt im Raum. 53 Die Eltern ihrer ›Gastfamilien‹ begegneten ihr mit Zurückhaltung und Skepsis, einerseits, weil Maier angeblich zu enge Beziehungen und Nähe ablehnte, andererseits wohl aus Verwunderung über ihre wiederholte Forderung nach einem abschließbaren Zimmer in einem abgeschiedenen Abschnitt des Familienhauses. Dort habe sie zuhauf Erinnerungsstücke gehortet, die sie ihr ganzes Leben lang in Lederkoffern mit sich herumtrug. Die aus den Erinnerungen geformten Schilderungen über Maier (vgl. ebd.) lassen manche Verehrerin/manchen Verehrer ihrer fotografischen Feinfühligkeit enttäuscht zurück, denn sie stehen wie eine Kontradiktion zu Maiers Fotografien, die von ihrer Aufmerksamkeit für lebensweltliche Missstände, der Liebe zu den Menschen und ihrem Gespür für das Leben zeugen. Viele ihrer Bekannten, unter ihnen Bindy Bittermann, dachten, Maier sei Europäerin mit französischen Wurzeln und verwiesen auf ihren »Nazi
53 Eine (vermeintliche) Aussage von Maier verhärtet diesen Verdacht: »Diese Männer nehmen dich auf den Schoß und plötzlich pikst dich etwas.« (Maloof & Siskel 2013)
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march« (Maloof & Siskel 2013). Mit hoch schwingenden Armen und großen Schritten, die durch Maiers Tragen von schweren Schnürlederschuhen die Lautstärke ihres Ganges potenzierten, sei sie durch die Straßen marschiert, bekleidet in Männerhemden und weiten Röcken, die die hochgewachsene Frau, Duffy Levant zufolge, einem einstigen Schützling von Maier, wie eine sowjetische Fabrikarbeiterin aus den 20er Jahren auftreten ließen (vgl. ebd.). Viele der interviewten Familien waren irritiert, als ihnen mitgeteilt wurde, dass Maier zwar europäische Wurzeln hatte (ihre Mutter war Französin, ihr Vater Österreicher), jedoch am 1. Februar 1926 in der Bronx als Vivian Dorothy Maier geboren und vier Wochen später in der katholischen Kirche Saint Jean Baptiste in New York als Dorothée Viviane Thérèse Maier getauft wurde (vgl. Bannos 2017, S. 28). Die wenigen Audioaufnahmen, die Maiers Stimme hören lassen, deuten auf einen französischen Akzent hin, es herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, ob dieser fingiert sein könnte. Maier zog Vokale in die Länge, sang förmlich, wenn sie sprach. Linguist Barry Wallis, dem Vivian Maier in den 70ern begegnet war, ist sich der Unechtheit ihres Akzents gewiss und versichert, dass im Französischen Vokale nie in der melodischen Art und Weise ›gesungen‹ werden würden, wie Maier es bevorzugt hatte. Barry Wallis Einschätzung steht jedoch in Spannung zu Maiers mehrjährigem Aufenthalt (von 1932 bis 1938) in Saint-Julien-en-Champsaur, dem Heimatdorf ihrer Mutter, und den damit in Zusammenhang stehenden Auswirkungen auf ihren Spracherwerb. Da Maier in Frankreich fast sechs Jahre lang zur Schule gegangen war, hatte sie gelernt »to read and write French through a sixth-grade level« (ebd., S. 40). Weitere Rätsel gibt Maiers konsequente Verwendung von Pseudonymen auf. Mal habe sie sich als »Miss V. Smith« oder »Miss Meiers« vorgestellt, mal habe sie mit »Viv« unterschrieben. Die Schreibweisen ihres Nachnamens auf Quittungen und Schecks variierten von »Meyer«, »Mair«, über »Mayer« bis hin zu »Meiers« (Maloof & Siskel 2013). Bindy Bittermann zufolge (zit. in ebd.) habe Maier der Aufforderung, ihre Familienzughörigkeit im Zuge einer Namensnennung bekanntgeben zu müssen, mit »I am not gonna tell you!« oder »Call me Viv!« entgegnet. Anderen habe sie eröffent, dass sie eine Spionin sei; wieder anderen habe sie von ihren vermeintlich jüdischen Wurzeln und ihrer Flucht aus dem kriegsgeschüttelten Frankreich erzählt (vgl. Avedon 2013, S. 10).
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Etliche ihrer Ziehkinder verstanden nicht, warum eine Frau wie Maier, besessen vom Fotografieren und der Begegnung mit den Menschen auf den Straßen amerikanischer Großstädte, als Kindermädchen ihr Brot verdient hatte. Für Maier war die Arbeit als Gouvernante laut Aussagen der einstigen Familienmitglieder Chuck Swisher und Linda Matthews vermutlich ein guter Vorwand, ungestört dem Fotografieren nachgehen zu können. Jemand gab ihr Obdach, kümmerte sich um sie. Die kinderlose Frau erfuhr Familienidylle, die ihr sonst wohl gefehlt hätte (vgl. Heiferman 2014, S. 20). Sie konnte in die Natur, mit den Kindern unterm Arm und ihrer Kamera in den Händen, um das Bizarre und Groteske und die Ironie des Lebens fotografisch einzufangen. Nach heutigen Schätzungen hinterließ Maier etwa 150.000 Bilder. Einige der ›Zeitzeuginnen/Zeitzeugen‹, die sich den Status ›Freund/in‹ zusprechen, sind sich sicher, dass Maier ihr Werk nie in dieser Form, wie Maloof und Goldstein es taten, veröffentlicht und (wäre es ihr möglich gewesen) sich gegen die Vermarktung ihrer Arbeiten ausgesprochen hätte. Die Fotografien seien nach Aussagen von Carole Pohn, einer vermeintlich engen Freundin von Maier, wie »Babies« (Maloof & Siskel 2013) für sie gewesen – etwas, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war und ist. Andere behaupten, dass Maier um ihr fotografisches Talent wusste. Sie habe Teile ihrer Arbeit anderen Personen anvertraut und matte Abzüge in einem Fotolabor in Frankreich anfertigen lassen, aufgrund der hohen Kosten jedoch tendenziell vom Entwickeln und Drucken ihrer Negative abgesehen – »[…] Maier did this work in an age when film and processing were fairly expensive.« (Cahan & Williams 2012a, S. 16) Die Ansichten zu ihren fotografischen Handlungen sind ebenso widersprüchlich wie der vermutete Umgang mit ihren Produkten. Einige sprechen von Maiers stetiger Aufforderung, für ihre Fotos zu posieren, andere wiederum behaupten, sie wollte kein Aufsehen erregen und habe ›aus dem Hinterhalt‹ heraus fotografiert. Sicher ist jedoch, dass sich Maier ganz der Fotografie hingab und förmlich rastlos durch die Straßen irrte. Auch schien Maier eine journalistische Ader gehabt zu haben. Sie interessierte sich für politische Themen, wie für die Watergate-Affäre, die Damen der KennedyFamilie oder die Skandale der Lokalpolitik; sammelte zuhauf Tageszeitungen, die sie mit Notizen und Kreuzen versah. Wichtige Meldungen und Berichte, vornehmlich zu Gewaltdelikten in ihrer Umgebung, sortierte und hortete sie in Ordnern. Sie besuchte Schauplätze tödlicher Gewalt, deren
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Berichterstattung in Lokalzeitungen Maiers Aufmerksamkeit erregt hatten, und fotografierte Auffälligkeiten am Tatort oder die Tätigkeit des jeweiligen Bestattungsunternehmens. Durch das Aufkommen tragbarer Kassettenrecorder erweiterte Maier ihr Spektrum medialer Aufzeichnung. 54 So führte sie beispielsweise Meinungsumfragen in Lebensmittelläden ihres Viertels durch und nahm Äußerungen von Anwohnerinnen/Anwohnern zu politischen Themen, wie beispielsweise dem Rücktritt von Richard Nixon, auf Tonband auf. Auch etliche Stars kamen ihr vor die Linse. Nach Heiferman (vgl. 2014, S. 31) habe Maier geduldig hinter Absperrungen auf den einen umwerfenden Schuss von berühmten Persönlichkeiten wie Audrey Hepburn, Ava Gardner, Tony Curtis, Frank Sinatra, Muhammad Ali oder Lena Horne gewartet. Einflussreiche Politiker, wie Eleanor Roosevelt, John F. Kennedy, Jimmy Hoffa, Prinz Charles oder Nelson Rockefeller wurden nach Heiferman (vgl. ebd.) ebenso von Maier fotografiert. Auch wenn sich Maier als leidenschaftliche Cineastin für Berühmtheiten zu faszinieren schien und gemäß Erzählungen ihrer Schützlinge aufgrund ihres Kleidungsstils und ihres penetranten fotografischen Auftretens hie und da selbst für Aufsehen gesorgt hatte, war sie offensichtlich keine Person öffentlicher Bekanntheit. Maier führte ein Leben in Abgeschiedenheit und fühlte sich gemäß eigener Aussagen als Eindringling, beispielsweise in den Familien, die ihre Dienstleistungen in Anspruch genommen hatten. Diese Form der Zurückgezogenheit und Zurückhaltung spiegelte sich auch in der Art und Weise wider, wie Maier mit ihrem fotografischen Bestand umging. Behutsam verpackt in Plastikhülsen, verstaut in unzähligen schweren Koffern, begleitete sie ihr Bilderschatz auf vielen ihrer Wege durch alle Lebensabschnitte. Und ihre Wege führten sie weit. Ende der 50er Jahre reiste die damals gut 30-jährige Frau mehrmals für etliche Monate um die halbe Welt. Unzählige Reisetickets wie auch die gut 1.000 Reisefotografien veranschaulichen, dass sich Maier in Bangkok, Hongkong, Manila, Singapur, dem Jemen, Kairo, Teilen Südamerikas, der Schweiz und in Frankreich aufgehalten hatte. Letzteres besuchte sie häufiger, denn Maiers Mutter, Marie Maier (geb. Jaussaud Justin), entstammte dem kleinen Dorf Saint-Julien im französischen Champsaur-Tal, welches beide zur Zeit der
54 Vivian Maier konnte sich ebenso für das Filmen begeistern. Ihr Nachlass hinterlässt etwa 150 Filmspulen, die beispielsweise Aufnahmen ihrer betreuten Kinder zeigen.
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großen Depression ab 1932 für sechs Jahre ihrem amerikanischen Refugium, der Bronx in New York, als Wohnort vorgezogen hatten. Maiers Vater, der adelige Österreicher Charles Maier, hatte die Familie zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. Nachforschungen ergaben, dass er wohl Trinker war und sich mit der Anonymität und Unbekanntheit seiner Person in den Einwanderervierteln von New York nicht arrangieren konnte. Um 1930, Vivian Maier war erst vier Jahre alt, ging die Ehe zu Marie Maier in die Brüche. Charles Maier verließ seine Familie und kehrte nach Österreich zurück. Nachforschungen ergaben, dass Vivian Maier überdies einen sechs Jahre älteren Bruder hatte, der nach seinem Vater benannt wurde und nach seiner ›Lossagung‹ von den »Maiers« das Pseudonym »William Jesard« annahm. Michael Strauss, Leiter des Genealogy Research Networks, ist fasziniert von den sich ähnelnden Mustern der Verschleierung, was die Abstammung des Geschwisterpaars Maier betrifft: »Man hat den Eindruck, als wollte keiner etwas mit den anderen Familienmitgliedern zu tun haben.« (Ebd., S. 13) Ebenso undurchsichtig präsentiert sich Maiers fotografisches Können, das sich so gar nicht mit ihrer Biografie in Einklang bringen lässt und auf die Frage verweist, wie Maier sich ohne Kunststudium derartige fotografische Präzision angeeignet haben könnte. Marvin Heiferman (vgl. ebd.) ist sich sicher, dass sich Maier von der Schnappschuss- bzw. Hobbyfotografie distanzieren wollte, denn sie wusste sehr genau, was sie tat. Der »Prozentsatz interessanter Aufnahmen auf jeder beliebigen Filmrolle« sei nach Heiferman (ebd.) nämlich »erstaunlich hoch«. Maier und ihre Mutter teilten laut Unterlagen einer Volkszählung in den 30er Jahren ihr Apartment mit Jeanne Bertrand (1880–1957), einer damals knapp 50-jährigen Künstlerin und Fotografin, deren Porträtaufnahmen es 1909 in eine MoMA-Ausstellung der »bedeutendsten Photographinnen Amerikas« (ebd., S. 13) mit Bildern von Jessie Tarbox Beals (1870–1942), Gertrude Käsebier (1852–1934) und Frances Benjamin Johnston (1864– 1952) schafften. Da Porträts von der aus Frankreich stammenden Jeanne Bertrand in Maiers Nachlass auftauchten, liegt die Vermutung nahe, dass sie für die damals vierjährige Maier möglicherweise ein Anstoß bzw. Vorbild für ihr späteres fotografisches Schaffen gewesen sein könnte. Andere
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wiederum bezweifeln55, dass Maier in diesen zarten Jahren bereits Faszination für die Fotografie entwickelt haben könnte56 und vermuten, dass sich Maier besonders in ihren Lebensjahren in New York (z.B. 1951–1956), welches zur damaligen Zeit als Zentrum der US-amerikanischen Fotokultur galt, im Rahmen unterschiedlicher Foto-Ausstellungen, wie beispielsweise der Ausstellung »Five French Photographers« (18.12.1951–24.2.1952) mit Werken von Henri Cartier-Bresson, Brassaï, Izis (1911–1980), Robert Doisneau und Willy Ronis (1910–2009), mit dem Medium der Fotografie auseinandergesetzt und vertraut gemacht haben könnte (vgl. ebd., S. 16). Maiers wiederholte Aufnahmen vom Skulpturgarten und Eingangsbereich des MoMA legen nahe, dass sie sich dort vor allem Anfang der 50er Jahre häufiger aufgehalten hatte. Im Jahr 1956 zog Maier schließlich nach Chicago und verdiente dort bis Ende der 90er Jahre als Kindermädchen, Haushälterin und Hausverwalterin ihren Lebensunterhalt.57 Vivian Maier fotografierte bis weit über ihren 70. Geburtstag hinaus, verarmte jedoch im letzten Lebensdrittel, da sie mit zunehmendem Alter ihrer Haushälterinnentätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr nachgehen konnte. Nachbarinnen/Nachbarn von Maier berichten von einer stolzen Frau mit Kamera, die die letzten Jahre ihres Daseins in Müllcontainern gewühlt und zum Teil in Obdachlosigkeit gelebt haben soll. Niemand ahnte in diesen Zeiten, dass sich hinter der hochgewachsenen Frau mit Filzhut, Herrenmantel und Kamera eine ernstzunehmende Künstlerin verbarg, die heute auf eine Ebene mit Diane Airbus, Ilse Bing (1899–1998), Lisette Model oder Helen Levitt gehoben wird. An Weihnachten 2008 kam es zu einem Zwischenfall, der Maiers Leben entscheidend beeinflussen sollte: Maier stürzte in einem Park in der Nähe ihres Apartments, das von dem Brüderpaar Gensburg aus Maiers Kindermädchenzeit finanziert wurde. Sie verletzte sich am Kopf und wurde zur Behandlung in ein nahegelegenes Krankenhaus eingeliefert. Dort habe sie aus Protest für ihre ›Festnahme‹
55 »It is unclear how Bertrand may have inspired Vivian, who was quite young when they shared the apartment.« (Cahan & Williams 2012a, S. 25) 56 »It is unclear whether four-year-old Vivian was yet aware of what it meant to be a photographer.« (Bannos 2017, S. 29) 57 Für die Familie Gensburg arbeitete Maier von 1956 bis 1972. Die Familie Raymond betreute sie von 1967 bis 1973.
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die Nahrungsaufnahme verweigert. Alsbald wurde Maier dann in ein Pflegeheim im Highland Park überstellt, wo sie am 21. April 2009 verstarb. Maiers Geschichte begann im 20. Jahrhundert und reicht bis in die Gegenwart. Für Marvin Heiferman (vgl. ebd., S. 11) wurde Maier vor allem durch John Maloofs unermüdliche Bewerbung des Mysteriums »Vivian Maier« zu einer Ikone des 21. Jahrhunderts, der heute die Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, die ihrem fotografischen Blick bereits zu Lebzeiten gebührt hätte: »Je mehr biographische Details dieser komplexen Frau und ihrer irritierend schönen Bilder bekannt werden, desto mehr wird aus einer unbekannten Photographin […] des 20. Jahrhunderts ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, die Protagonistin von Kunstausstellungen, Fernsehshows und einem abendfüllenden Dokumentarfilm.« (Ebd.)
Und doch – die jahrelangen Recherchearbeiten wie auch Maiers Bildbestand sind lückenhaft, etliche Lebensphasen undokumentiert, viele Informationen einseitig rechercheriert und zum Teil falsch dargestellt. Vor dem Hintergrund der Furore um »the mystery woman« (Anderson 2014) ist das Eigentliche, folglich Maiers fotografisches Werk, aus dem Blick geraten. Lassen wir daher Maier durch ihre Bilder sprechen – vielleicht sind es gerade Maiers Fotografien, weil von ihr gehütet und gehortet, die uns dieser Frau weitaus näherkommen lassen, als die Aussagen und Vermutungen des sie einst umgebenden Personenkreises.
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Von der Frau im Bild zum Bild der Frau: Selbstporträts als feministische Artikulation?
Keine künstlerische Tätigkeit beginnt als unbeschriebene tabula rasa, sondern steht in unwiderruflicher Abhängigkeit wie auch Spannung zu gesellschaftlichen und soziokulturellen Entwicklungen und Einflüssen. Die Arbeit als Künstlerin blieb aufgrund der in der Kunstbranche vorherrschenden männlichen Hegemonie vor allem im 20. Jahrhundert gebunden an die in gesellschaftlichen Gefilden festgeschriebene Rolle der Frau, wodurch sich fotografische Arbeiten weiblicher Künstlerinnen sehr häufig auch der Dekonstruktion weiblicher und männlicher Rollenbilder widmeten und feministische Positionen in ihren fotografischen Werken zum Ausdruck brachten. Dabei wurden existentielle Fragen aufgeworfen wie wer man war, sein möchte oder wie man von anderen gesehen werden wollte. Künstlerische Formen des Selbstausdrucks waren damit stets mit der Identitätsfrage und damit in Verbindung stehenden diskursiven Praktiken im Feld von Identifikation und Differenzierung verknüpft. Im Fall von Maier dürften wichtige Bezugsarbeiten von Foto-Künstlerinnen des beginnenden 20. Jahrhunderts stammen, zu denen beispielsweise Ilse Bing, Imogen Cunningham (1883– 1976), Claude Cahun (1894–1954), Germaine Krull (1897–1985) oder Diane Arbus zu zählen sind. Anhaltspunkte dafür finden sich u.a. in Maiers Fotografien. Maier wandte fotografische Techniken an, die sich beispielsweise in Germaine Krulls Doppelbelichtungsporträts wiederfinden oder eine Analogie zu Ilse Bings Aufnahmen fragmentierter Spiegelungen ihres Selbstbildnisses ziehen lassen.
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Eine erste Sichtung des verfügbaren Bildbestandes brachte zum Vorschein, dass die Visualisierung von kanonisierten Geschlechterbildern und die Thematisierung weiblicher Geschlechtermarker konsequent von Maier vorgenommen wurde. Diese Beobachtung verdeutlicht sich beispielsweise an der Art und Weise, wie sich Maier zu anderen Frauen bzw. weiblich konnotierten Motiven im Bild in Beziehung setzte und legt die Vermutung nahe, dass Maier damit Fragen von Identität und ihre Stellung als kunstschaffende Frau im Kontext der (massenmedial konstruierten) Frauenbilder ihrer Zeit erkundete. Bis auf wenige Ausnahmen fotografierte Maier in ihren Selbstpotrträts vornehmlich stark weiblich konnotierte Sujets, denen sich die Silhouette der fotografierenden Maier als Schatten oder Reflexion in spiegelnden Oberflächen unterschiedlichster Natur (an-)näherte und sich durch die Präsentation ihres eigenen Körpers von tradierten binär codierten Geschlechtermarkern visuell distanzierte. Maier eröffnet der Beschauerin/dem Beschauer ihrer Fotografien in Anbetracht der gesellschaftlichen Stellung der Frau der Jahrhundertmitte damit ein avantgardistisches Statement zu Geschlechterbildern ihrer Zeit, das sich vor allem in der Inszenierung des weiblichen Körpers »als Instrumentarium der künstlerischen Auseinandersetzung und Erkenntnis« (Graeve Ingelmann 2008a, S. 33) manifestiert(e). In den nachfolgenden Abschnitten wird nun der Zusammenhang zwischen Selbstporträt und Identität unter Berücksichtigung des (mit-)gestalterischen Wertes von Bildern im Sinne der Medialisierungsfrage thematisiert. Ausgehend vom Postulat einer realitätskonstruierenden Funktion des Medialen am Beispiel der Fotografie wird für die vorliegende Argumentation in Anlehnung an Kerstin Brandes’ Arbeit Fotografie und »Identität«: Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre (2010) auf den von ihr in Rückgriff auf Marie-Luise Angerer verwendeten Medienbegriff (Angerer 1999, S. 70, zit. in Brandes 2010, S. 19) Bezug genommen, der davon ausgeht, dass »mediale Anordnungen […] mehr [sind] als technische Apparaturen, sie sind soziale Maschinen, die das Psychisch-Soziale nicht nur durchdringen, sondern aufbauen, befestigen, einrichten«. Eine Fotografie zeigt demzufolge nicht Identität, sie ist wichtiges Hilfsmittel im Zuge der Herstellung und Konstruktion wie Dekonstruktion ebendieser. So kann daraus abgeleitet werden, dass Maiers kontinuierliche Selbstporträtierung deutlich an der Konstruktion und Stabilisierung wie auch Destabilisierung ihrer Subjektpositionen betei-
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ligt gewesen sein könnte. Für die Analyse von Maiers Œuvre erscheint dieser Zugang insofern interessant, als dass er die Prozesshaftigkeit und damit die Unabgeschlossenheit und Veränderbarkeit von Identität in den Vordergrund rückt und sich der Frage annähert, welche Bewegungen Vivian Maier im Rahmen der Wahrnehmung und Konstruktion ihrer Subjektpositionen beispielsweise vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen fotografisch vorgenommen hatte. Anschließend folgt unter Berücksichtigung der Auswirkungen eines ›soziokulturellen Blicks‹ die Auseinandersetzung mit der Stellung der Frau in der Kunst. Exemplarisch wird auf Arbeiten von Foto-Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts und ihrer Kritik an tradierten Geschlechterrollen in Kunst und Gesellschaft verwiesen sowie ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlich propagierten Formen der ›Vorzeige-Frau‹ der Nachkriegsjahre thematisiert. Besonderer Fokus wird dabei auf medial auferlegte Frauenbilder der 50er und 60er Jahre gerichtet, da Maier in dieser Zeitspanne wohl die größte Anzahl an verfügbaren Selbstbildnissen angefertigt hatte. In diesem Sinne muss geklärt werden, welche Bilder des Weiblichen bzw. der ›Vorzeige-Frau‹ der Nachkriegsjahre unter Berücksichtigung der sozialpolitisch motivierten Konstruktion einer Geschlechterordnung medial vorgestellt und verfestigt wurden und damit in einer spezifischen Zeitqualität vorherrschend waren. Für die vorliegende Arbeit steht demzufolge ebenso die Frage im Raum, inwiefern sich Maiers Inszenierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit von den massenmedial vermittelten ›Mainstream-Frauen- und Männerbildern‹ der damaligen Zeit absetzten. Mit diesen zwei Fragen wird sich der letzte Abschnitt dieses Kapitels beschäftigen.
3.1 FOTOGRAFIE, SELBSTPORTRÄT UND IDENTITÄT Seit dem Aufkommen der fotografischen Technik gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ist es insbesondere der indexikalischen Verfasstheit der Fotografie zu verdanken, dass sie zum »prominenten inszenatorischen Ort der Selbst- und Fremddarstellung geworden [ist]: zu einem ›Identitätsausweis‹« (Brandes 2010, S. 18). Die indexikalische Besonderheit des fotografischen Bildes ergibt sich aus den mit dem Medium der Fotografie einhergehenden technischen Möglichkeiten der Fixierung von Lichtreflexionen auf einer
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lichtempfindlichen Oberfläche, die auf eine direkte physische Beziehung zwischen dem fotografierten Objekt und seiner Abbildung verweist. 58 Bezugnehmend auf die in den Anfängen der Fotografie vorherrschende Überzeugung, dass dem fotografischen Selbstporträt damit ein identitätsstabilisierender Moment innewohnt, schreibt auch Roland Barthes (1989, S. 89), dass die Fotografie »historisch gesehen, als Kunst der Person begonnen [hat]: ihrer Identität, ihres zivilen Standes, dessen, was man, in jeder Bedeutung des Wortes, das An-und-für-Sich des Körpers nennen könnte«. Auch wenn sich die Fotografie im 19. Jahrhundert damit der Abbildung einer essenzialistischen Vorstellung einer festgesetzten Identität verschrieben hatte, verwandelte sich das Bild des Menschen seit der Moderne jedoch zusehends in ein »disparates, fragiles und instabiles Konstrukt« (Graeve Ingelmann 2008a, S. 31). Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Auffassung und Deutung menschlicher Identität führte vor allem ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, beeinflusst durch das Aufkommen der Psychoanalyse und damit in Zusammenhang stehender künstlerischer Introspektion, in eine eindeutige Richtung. Die Vorstellung, dass ein Bildnis die Identität der Künstlerin/des Künstlers wiedergibt, wie es uns die Porträtmalerei in der Renaissance glauben ließ, wurde »durch eine Vielzahl möglicher Ansichten einer Person« (ebd.), vor allem im Feld der Fotografie, abgelöst. Der Glaube an ein authentisches, abgrenzbares und einheitliches Subjekt wurde durch das Verständnis von Identität als diskontinuierliches Gebilde ersetzt und ließ künstlerische Arbeiten, die sich mit der Multiplizität von Identität(en) beispielsweise in Form der Thematisierung von geschlechtlicher oder ethnischer Ambiguität auseinandersetzten, aus dem Boden sprießen. Mit Durchsetzung konstruktivistischer Theorien in den 1980er Jahren und der Problematisierung und Zurückweisung des Identitätsbegriffs in postkolonialen Denkansätzen geriet gemäß Brandes (vgl. 2010, S. 29) der Identitätsbegriff per se und nicht mehr nur seine (künstlerische) Auslegung in Verruf, die den Eindruck einer statischen und abgeschlossenen Identität vermittelt hatte. Indem dazu angeregt wurde, den Identitätsbegriff zur Vermeidung jedweden Essenzialismusverdachts durch den Begriff der Identifi-
58 Diese besondere Form der Lichtmalerei war es auch, die der Fotografie ihren Namen verlieh. Aus dem Altgriechischen übersetzt steht phōs (φῶς) für »Licht« und graphein (γράφειν) für »schreiben«, »malen«, »zeichnen«.
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kation zu ersetzen, gerieten das Handlungsmoment und die Prozessualität(en) stärker in den Fokus. Unter dem Wort »Identifikation« fasst Stuart Hall (2004, S. 168) den »Prozess der Subjektivation durch diskursive Praktiken« (hier: Handlungsfähigkeit) und rekurriert damit auf die diskursive Konstruiertheit und Kontingenz von Identität zwischen Selbst- und Differenzbehauptung. Durch die Vorstellung eines Subjekts des »Mit-sichselbst-Identischen« (Brandes 2010, S. 33) im Spannungsfeld von Fixierung und Beweglichkeit und implizierten Mechanismen des Formens und Umformens von Identität, ist das Subjekt gezwungen, sich zu externen Instanzen in Beziehung zu setzen, die sich durch Differenz oder Kohärenz auszeichnen können. Unter Bezug auf Judith Butler (1993) und Kathryn Woodward (1997) formiert sich Identität für Brandes (2010, S. 32) gerade »in der Abgrenzung durch die Setzung von Differenz(en) – durch die Konstruktion eines ›konstitutiven Außen‹«. In Rekurs auf Jacques Lacans (1975) Modell des Spiegelstadiums nimmt sich die/der Identitätssuchende durch die (imaginäre) Inkorporation externer Bilder und im Vergleich mit Kategorien der Exklusivität folglich immer auch als ein/e andere/r wahr. In seiner psychoanalytischen Theorie des Spiegelstadiums beschreibt Lacan den Moment, in dem sich ein Kleinkind das erste Mal im Spiegel erkennt und ein Bild der imaginären Gestalt seines Körpers entwirft. In diesem Vorgang der »jubilatorischen« (Lacan 1975, S. 63) Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild als einem nach außen abgegrenzten Körper liegt ein Moment der Verkennung (vgl. Rimmele & Stiegler 2012, S. 101). Das Kind nimmt sich hier als Einheit, als »ganzheitliches Ich auf fundamental narzisstischer Ebene wahr« (ebd.), obwohl es noch nicht motorisch kontrolliert (re)agieren kann und in seinem Handeln noch stark von Bezugspersonen abhängig ist. Das durch den Spiegel gewonnene Bild und die leibliche Selbsterfahrung klaffen damit naturgemäß auseinander. Was Identität nach Rimmele und Stiegler (ebd., S. 102) damit verbürgt, »trägt zugleich immer die Züge des Unerreichbaren. In der Notwendigkeit, sich selbst durch ein externes Bild modellieren zu müssen, ist ein Moment fortdauernder Entfremdung angelegt.« Diese Zerrissenheit »kaschierend, tendiert das Subjekt zunehmend dazu, sich auf der Ebene des Imaginären zu situieren, um sich qua kollektiver Identifikation an einem Ideal, Idol bzw. einer Ideologie zu stabilisieren, die seinem Mangel an Sein entgegenkommt« (Pagel 2007, S. 34). Bilder imaginärer Körper werden damit zum wesentlichen Bezugspunkt der Subjektformierung.
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Michel Foucaults (1992) Konzept der Subjektkonstituierung hebt hingegen vor allem die Auswirkungen unterschiedlicher Techniken der Disziplinierung und Regulierung als wesentliche Einflussfaktoren für identitätsbildende Momente hervor. Im Zuge der modernen Ökonomie der BioMacht wird im Modell des Panoptismus (vgl. Foucault 1994) die Subjektformierung von symbolischen Ordnungen der Sichtbarkeit mitbestimmt. Nach Brandes (2010, S. 42) ist Selbstkonstituierung in Foucaults Konzept immer schon »determiniert, vorgegeben, aufgezwungen und durchweg machtbestimmt«. Die Auseinandersetzung des Selbst mit Körperimaginationen einerseits sowie mit einer von hegemonialen Machtverhältnissen hergestellten symbolischen Ordnung andererseits führt zu einem »beständigen Oszillieren zwischen einem ›Identisch-mit‹ und ›Verschieden-von‹« (ebd., S. 34). Für Brandes schließen sich Identifikation und Differenz jedoch nicht gegenseitig aus, sondern vereinen »diskursive Momente, die sich weder als zeitlich lineare Abfolge noch in Form eines Entweder-oder« (ebd., S. 30) erfassen lassen. Ihr Zusammenwirken könnte als Phänomen eines Übergangs verstanden werden, der eben nicht das »stringente Hinter-sichBringen eines Weges von A nach B meint, sondern für einen Prozess steht, bei dem pointiert etwa A- oder B-Formationen entstehen und sich – insgesamt oder in Teilen – wieder verflüssigen, wobei dann wiederum auch dieses Verflüssigen entlang seiner Strukturierungen zu untersuchen wäre« (ebd., S. 30). Folglich sind in Stuart Halls Identitätsansatz beide Anteile, die Wahrnehmung der Gleich- wie Andersartigkeit, konstituierend für jedwede Identitätsbewegung. Unter dem Aspekt, dass Identität durch den Differenzansatz an die Konstruktion von In- bzw. Exklusivität gebunden bleibt, bedarf es der Berücksichtigung einer strategischen Grenzziehung und Kategorisierung von Differenz in dem gesellschaftlich wie politisch festgesetzten kategorialen System von Klasse, Geschlecht, Sexualität oder Ethnizität. Unter Berücksichtigung des normativen Charakters von Identitätskategorien bezieht sich Brandes auf die doppelte Bestimmtheit von Differenz und zitiert, dass diese »zur Absicherung sozialer Hierarchien und Machtverhältnisse hervorgebracht und eingesetzt wird, aber zugleich Anlass positiver Identifizierungen ist, dass Differenz gewählt und als Existenzweise gelebt und nicht zuletzt auch als Anfechtung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen aufgerufen wird« (quaestio 2000, zit. in ebd.).
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Im Bereich der feministischen Kunst und der Kunstwissenschaften wurde die Kategorie »Geschlecht« beispielsweise als eine »Konstruktion rigider, naturalisierter Zweigeschlechtlichkeit« (ebd., S. 32) herausgestellt und vehement kritisiert. Women of colo(u)r erhoben (ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts) ihre Stimmen und wiesen wiederum das Konstrukt eines als »homogen gedachtes feministisches Wir« (ebd., S. 33) zurück, denn dieses ›Wir‹ war im Rahmen der Suche nach authentischer Weiblichkeit in Anlehnung an Judith Butler (vgl. 1993, S. 49) und Stuart Hall (vgl. 1994, S. 21) stets weiß und heterosexuell.59 Aus feministischer Perspektive betrachtet scheint nun interessant, in welcher Form sich Maiers Selbstporträts beispielsweise zu den politisch motivierten Konstrukten von Geschlechtlichkeit oder Sexualität60 äußern und wie etwaige Spaltungen, Splitterungen wie auch Divergenzen vor dem Hintergrund möglicher widersprüchlicher Subjektpositionen visuell transportiert wurden. Damit wird in dieser Arbeit ein Verständnis des Identitätsbegriffs nahegelegt, das in Anlehnung an Kerstin Brandes (2010) und Stuart Hall (1994) die diskursive Konstruiertheit und Kontingenz von Identität zwischen Prozessualität und Fixierung zu fassen versucht und damit vor allem das Handlungsmoment und die potentielle Veränderbarkeit von Identität im Zuge der Subjektivation unterstreicht. Folglich findet der Identitätsbegriff in seinem Verständnis als »durchgestrichener Begriff« (Brandes 2010, S. 30) weiterführend Verwendung, der sich nach Hall (2004, S. 168) »im Übergang der Bedeutungen formiert, zwischen seiner Aufhebung und seinem Auftauchen; der nicht mehr in der alten Weise, und zugleich nicht ohne die bisherigen zentralen Fragen daran, gedacht werden kann«. Identitätsmarkierende Bezeichnungen sind im Nachfolgenden damit stets als Konstruktionen gemeint, die nicht zwangsläufig und ausschließlich zu einer Ver-/Störung bestehender Verhältnisse führen, sondern ebenso zu ihrer Stabilisierung beitragen können. Besonderer Fokus wird dabei auf Maiers künstlerische Stellungnahme zur damals binär codierten Kategorie »Geschlecht« gelegt, auch wenn im Sinne der Intersektionalitätsforschung die Thematisierung von Maiers Herkunft und ihres sozialen Status ebenso von Relevanz wären. Maier lichtete in ih-
59 Hier liegen die historischen Wurzeln der Intersektionalitätsdebatte. 60 Die Kategorien »Ethnizität« oder »Klasse« sind für die vorliegende Untersuchung ebenso von Bedeutung, wurden jedoch in dieser ersten Annäherung an Maiers Werk vorerst nicht in die Analyse aufgenommen.
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ren Selbstporträts auffallend häufig weiblich konnotierte Sujets ab und musste als abbildende wie abgebildete Frau innerhalb dieser Kategorisierungen ihren Platz finden und dementsprechend vereinnahmen. Die Varianten ihrer Selbstporträtierung als Schatten oder Spiegelreflexion, die unterschiedliche Sichten auf Maier gewähren, bringen die Pluralität des Selbst im Rahmen der künstlerisch-fotografischen Erkundung von Identität zum Ausdruck. Maiers Selbstporträts stehen folglich für die seit der Moderne vorherrschende Überzeugung, dass »Identität keine Entität mehr darstellt (›Ich ist etwas Anderes‹), sondern ein Konstrukt, das unabgeschlossen und transitorisch einem fortlaufenden Wandel, einer steten Neuinterpretation unterworfen ist« (Graeve Ingelmann 2008a, S. 36). In Anlehnung an Brandes (ebd., S. 42) ist abschließend darauf hinzuweisen, dass Identität zwar »über Repräsentation konstituiert [ist], aber niemals mit ihrer Repräsentation identisch sein kann«. Ähnlich argumentiert Roland Barthes (1989, S. 20), wenn er behauptet, dass sein Ich nie mit seinem Bild davon übereinstimmt, »denn schwer, unbeweglich ist schließlich die Fotografie […]; leicht, vielteilig, auseinanderstrebend« ist sein Ich. Inka Graeve Ingelmann (vgl. 2008a, S. 33) geht in ihrer Analyse fotografischer Selbstporträts sogar so weit zu behaupten, dass Werke, die sich als weibliche Selbstporträtierung einordnen lassen, nicht als Selbstbildnisse zu lesen sind. Weibliche Künstlerinnen nutzen nach Graeve Ingelmann (ebd.) »ihren Körper als Projektionsfläche, um mithilfe unterschiedlichster künstlerischer Strategien das Bild des Weiblichen oder auch des Männlichen in seiner konventionellen Ausprägung zu dekonstruieren und zugleich neu zu bestimmen«. Identifikationen im und durch das Bild beziehen sich damit nie einfach ›nur‹ auf den künstlerischen Selbstausdruck, sondern sind nach Brandes (2010, S. 35) auch »entsprechend der hierarchischen Werteverhältnisse, in denen Identifikationsangebote im Feld der kulturellen Repräsentation zueinanderstehen, codiert bezüglich dessen, was vorzugsweise zu inkorporieren und was zu verwerfen ist«. Selbstporträtierung übernimmt zusammengefasst daher nicht ausschließlich eine auf das kunstschaffende Subjekt bezogene identitätskonstruierende Funktion, indem es (ab-)bildet, was etwas ist oder gerne sein möchte, sondern ist in gleicher Weise ein politisches bzw. feministisches Statement, bei dem die De-/Konstruktion wie auch Neubestimmung und Neudefinition konventionaler Kategorien vorgenommen wird. Maiers Selbstporträts erlauben demzufolge nicht nur einen Zugang zu Formen ihrer Selbstbetrachtung und -inszenierung, sondern
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porträtieren im Sinne einer »doppelzügigen Bewegung« (ebd., S. 34) ebenso ihre künstlerische Stellungnahme zu einem spiegelbildlichen Ideal im Kontext gesellschaftlicher bzw. sozialpolitischer Vorgaben innerhalb eines symbolischen Ordnungssystems. Unter dem Gesichtspunkt, dass sich Maier in ihrer fotografischen Selbstvervielfältigung wiederholt mit bilddominierender Kamera in ihren Händen ablichtete, deutet zudem auf Identifikationsbewegungen hin, bei denen geschlechterrelevante Orientierungsmuster eng mit Maiers fotografischer Tätigkeit und ihrer Wahrnehmung als Fotografin bzw. ihrer beruflichen Rolle in Zusammenhang stehen. Diesem Zusammenspiel ist der nachfolgende Abschnitt gewidmet, der sich insbesondere mit der gesellschaftlichen Stellung ›weiblicher Kunst‹ auseinandersetzen wird.
3.2 WEIBLICHE KUNST ZWISCHEN KULTURELLER CODIERUNG UND SELBSTBEHAUPTUNG »Warum hast du beschlossen, dich hier so und nicht anders darzustellen?« lautet die Ausgangsfrage von Frances Borzello (2016), mit der sie ihr kunsthistorisches Werk zur Bildsprache weiblicher Selbstporträts in Malerei und Fotografie einleitet. Borzello spürt dabei der Frage nach, was Künstlerinnen der letzten 500 Jahre dazu bewogen haben könnte, sich in der je speziellen Art und Weise bildhaft verewigt zu haben und verweist auf die gesellschaftlichen Einflüsse, die eine Kluft zwischen der Selbstwahrnehmung der Künstlerin und dem von der Gesellschaft gezeichneten Bild der Frau der jeweiligen Zeit entstehen ließen. Weibliche Künstlerinnen mussten in der Malerei und Bildhauerei bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche Konventionen berücksichtigen, wenn sie dem Hohn ihrer männlichen Kollegen entgehen wollten (vgl. ebd., S. 36). Folglich waren ihre Selbstbildnisse gebrandmarkt vom aktuellen Blick der Gesellschaft auf die kunstschaffende Frau. Nach Borzello (ebd., S. 35) hieß ein Selbstbildnis ausführen, »die Kluft zu überbrücken zwischen dem, was die Gesellschaft von Frauen, und dem, was sie von Künstlerinnen erwartete«, was zu einer deutlich erkennbaren Ambivalenz und Zerrissenheit in der Bildsprache der Selbstporträts führte, denn eine malende Frau wich per se schon von der Norm ab. Für Borzello (ebd., S. 38) waren die Motive (vgl. Marie-Nicole Dumonts Werk Die Künstlerin bei ihrer Arbeit; 1798) weiblicher Künstle-
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rinnen damit über Jahrhunderte hinweg nicht klassisch der Kategorie »weiblich« zuordenbar, denn es handelte sich vorwiegend um »Themen, die sich auf die Erfahrung von Frauen auf dem schmalen Grat zwischen dem Etikett Künstlerin und dem Etikett Frau« bezogen. Das Verhältnis zwischen Kunst und Künstlerin verwies folglich durchgängig auf die Wahrnehmung der Frau in einem von Männern zugewiesenen Rahmen »innerhalb einer vom männlichen Blick beherrschten Szene« (ebd., S. 12). Mit dem 20. Jahrhundert und dem Aufkommen der ›neuen‹ Medien, wie der Fotografie und des Films, trat ein ›andersartiger‹ kunstschaffender Frauentypus in Erscheinung, der deutlich unabhängiger mit konventionellen Vorstellungen von Geschlecht bzw. Weiblichkeit umging und sich, auch wenn in den Anfängen erst zaghaft, allmählich davon lösen konnte. Die Fotokamera war der Frau dabei eine wichtige Komplizin, denn das Feld der Fotokunst war zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Gegenzug zur Malerei und Bildhauerei noch in keiner männlichen Tradition und erst überschaubar männlich ›besetzt‹. Nach Inka Graeve Ingelmann (2008a) bot sich für Frauen im Bereich der Fotografie (wie auch in Film- und Videokunst) aufgrund der Tatsache, dass diese lange Zeit als »illegitime Kunst« (vgl. Bourdieu 1983) galt und daher an Kunstakademien nicht gelehrt wurde, die Möglichkeit, »losgelöst von akademischen Regeln und tradierten Bildkonventionen mit dem Bild des Weiblichen zu experimentieren und den stereotypen Vorstellungen ihrer männlichen Kollegen eigene, dezidiert andersartige Bildentwürfe gegenüberzustellen« (Graeve Ingelmann 2008a, S. 30). Diese neuen Formen der Selbstporträtierung ermöglichten eine ›freiere‹, ›unzensierte‹ Darstellung und gewährten Einblicke in identitätskonstruierende Momente der Künstlerin fernab eines »male gaze«61 (vgl. Mulvey 1975). Das 20. Jahrhundert erwies sich insgesamt als Blütezeit der weiblichen Selbstporträtierung und entwickelte sich wie selbstverständlich zu einer gewohnten Praktik (vgl. Borzello 2016, S. 161). Insbesondere durch das
61 Der Begriff »male gaze« geht auf Filmkritikerin und -produzentin Laura Mulvey zurück, die im Rahmen ihrer filmtheoretischen Untersuchungen von HollywoodDramen die Verobjektivierung bzw. Sexualisierung weiblicher Darstellerinnen durch ihre Art der filmischen Repräsentation (z.B. durch Kamerawinkel, Kameraführung) ausmachen konnte und damit herausstellte, dass weibliche Sujets vornehmlich das männliche Auge reizen sollten. Weiterführende Gedanken zum Konzept des male gaze finden sich in Abschnitt 3.3.
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Aufkommen der Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde vermehrte Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Formen der Selbsterfahrung gelegt, wodurch sich nach Borzello (ebd., S. 114f) drei neue Typen der Selbstporträtierung etablieren konnten: »Akt-Selbstporträts, Selbstporträts, die persönliche Leidenschaften thematisieren, sowie solche, die von Schwierigkeiten und Möglichkeiten beim Eintritt in eine Männerwelt erzählen«. Die große Anzahl an Porträtserien verschiedener Künstlerinnen wie diese von Ilse Bing, Imogen Cunningham, Claude Cahun oder Germaine Krull veranschaulichen eine neu entdeckte Freude an der Selbstbeobachtung und Selbsterforschung ihrer Rolle als kunstschaffende Frau. Fotografinnen nutzten das fotografische Bild als »optisches Tagebuch« (ebd., S. 164) und kartografierten wichtige Orte und Ereignisse ihres Lebens. Besonderen Gefallen fanden sie an ihren eigenen Spiegelungen, eingefangen in unterschiedlichsten Gegenständen, die Frauen auf geheimnisvolle Art und Weise in zerstückelter oder bruchteilhafter Form mit den Objekten ihrer Zeit in Beziehung setzten. Gemäß Borzello (ebd., S. 158) wurde der Spiegel »zum Symbol für die Suche nach der Wahrheit unter der Oberfläche«, denn als »Sinnbild der Eitelkeit hatte er ausgedient, nun verdeutlichte er die Komplexität des Menschseins«. Immer häufiger begannen Frauen auch mit den Attributen von Männlichkeit zu spielen und Geschlechterrollen optisch zu überkreuzen (vgl. ebd., S. 151). Die im Bild festgehaltenen Künstlerinnen changierten dabei zwischen verschiedenen Codierungen – mal spielten sie mit weiblichen, mal mit männlichen Attributen, manchmal vereinten sich all diese Qualitäten in ein und derselben Darstellung und waren nicht eindeutig einer Geschlechternorm zuordenbar (vgl. Bronfen 2008, S. 15). So zeigte sich Margaret Bourke-White in ihrem Selbstporträt SelfPortrait with Camera (1933) beispielsweise in männlicher Kleidung und Pose neben einer mächtig in Erscheinung tretenden Kamera auf Stativ, die in ihrer Funktion als Komplizin ihre weibliche Stärke betonte (Abb. 12). Germaine Krull setzte in ihrer Selbstdarstellung Self-Portrait with Icarette (1925) die Macht des Kameraauges in Szene und lässt die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter zur Zielscheibe ihres Kameraschusses werden (Abb. 13). Die männliche Gestik und die Inszenierung ihrer Hände mit Zigarette zwischen ihrem Zeige- und Mittelfinger, der zu knapp sitzende, protzige
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Ring am kleinen Finger sowie die unscharfen Konturen ihres Oberkörpers verwässern dabei die Grenzen einer dichotomen Geschlechterzuweisung.62 Irritierende Arrangements schafften Fotografinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zudem durch die Anwendung des Mehrfachbelichtungs- bzw. des Sandwich-Verfahrens. Davon machte auch Vivian Maier mehrmalig Gebrauch, indem sie ihr Selbstbild in verschiedenen Bewegungsabläufen und Kontexten ablichtete und zusammenführte und durch die visuelle Verschmelzung mit anderen Objekten eine Zwiegespaltenheit des abgebildeten Sujets auszudrücken schien.
Abbildung 12: Margaret Bourke-White, »Self-Portrait with Camera«, um 1933 Exemplarisch sind in diesem Zusammenhang Hannah Höchs Doppelporträts zu nennen, in denen die Künstlerin zeitlich disparate Abbildungen von sich selbst visuell überlagerte und somit unterschiedliche Realitätsebenen einfing. Eine weitere Anhängerin der fotografischen Doppelbelichtung war
62 Beeinflusst wurde das fotografische Schaffen dabei auch vom zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Kubismus, wodurch häufig die Form den Inhalt eines Bildes überlagerte und geometrische Arrangements des Sujets und der im Bild sichtbaren Gegenstände eine formbezogene innere Wahrheit zum Ausdruck brachten.
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die italienische Fotografin Wanda Wulz, die in ihrem Selbstporträt Io + Gatto (1932) mit der Technik der Überblendung arbeitete und ihr Selbstporträt mit dem Bildnis eines Katzenkopfs zusammenführte, um im Zuge der hergestellten Analogie und Doppeldeutigkeit mit weiblichen Klischees zu spielen (Abb. 14). Fotografische Selbstporträts weiblicher Künstlerinnen der 20er und 30er Jahre changierten gemäß Graeve Ingelmann (2008b, S. 70) dabei zwischen »Selbstvergewisserung einerseits und Zweifeln gegenüber der ihnen zuerkannten Geschlechterrolle andererseits«. Denn das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark wandelnde Frauenbild des abendländischen Kulturkreises (siehe das Aufkommen der Femme Nouvelle; dt.: die Neue Frau), das allmählich eine sexuell selbstbestimmte und aktive Frau verkörperte, provozierte einen Bruch mit bewährten Rollenbildern vergangener Zeiten und stimulierte die Ausbildung eines neuen weiblichen Selbstverständnisses, das Avantgardistinnen zu andersartigen Bildprägungen führte (vgl. ebd.).
Abbildung 13: Germaine Krull, »SelfPortrait with Icarette«, 1925 Nach John Berger (1972) erfordert der fotografische Akt im Zuge der Selbstporträtierung eine Auseinandersetzung mit weiblichen und männlichen Blickpositionen und ließ weibliche Künstlerinnen in ihrem künstlerischen Schaffen folglich an beiden Positionen teilhaben. Während nach Berger Männern der aktive und handelnde Part zugeschrieben wird, die folg-
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lich etwas oder in diesem Fall eine Frau ansehen, treten Frauen in Erscheinung und erfahren sich als Betrachtete. In Anlehnung an Bergers Gedanken zu den Ways of Seeing (1972) ist für Elisabeth Bronfen (2008, S. 13) »jener Teil der Frau, der sich selbst betrachtet, männlich, jener, der betrachtet wird, weiblich. Somit verwandelt sich die Frau unwillkürlich in das Objekt eines fremdbestimmten Blickes.« Das Pendeln zwischen diesen beiden Polen als abgebildete und abbildende Bildproduzentin mit weiblicher und männlicher Attribuierung ist folglich eingeschrieben in jedweden fotografischen Akt der Selbstporträtierung. Wenig verwunderlich erscheint daher die erkennbare Tendenz der künstlerischen Auseinandersetzung weiblicher Fotografinnen mit der Spaltung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung wie auch die simultane Thematisierung weiblicher und männlicher Geschlechterrollen innerhalb einer fotografischen Darstellung.
Abbildung 14: Wanda Wulz, »Io + Gatto« 1932 Für Bronfen (ebd., S. 19) sehen sich kunstschaffende Frauen viel eindrücklicher als Männer mit stereotypen Geschlechterbildern konfrontiert, sodass für die Analyse ihrer Arbeiten gerade die Verschränkung zwischen »dem ›studium‹ kultureller Codierung von Weiblichkeit und den prägnanten Details, dem ›punctum‹ […]: jener spezifischen Authentizität der abgebildeten Frau, die die Fotografin einzufangen sucht«, von zentraler Bedeutung ist. In
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diesem Zusammenhang geben sich Selbstporträts von Fotografinnen »ausdrücklich als Abbild einer kulturell tradierten Weiblichkeitskonzeption zu erkennen […], die zugleich auf die Beschränkung dieses Codes hinweisen« (ebd., S. 18). Interessant erscheint unter diesem Aspekt, wie sich Künstlerinnen im 20. Jahrhundert zu dem anhaltend androzentristischen Ordnungssystem dichotomer Geschlechterrollen in Beziehung setzten, die populärkulturell betrachtet beispielsweise in Werbung und Film zum Ausdruck gebracht wurden. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich patriarchale Macht- und Herrschaftsstrukturen und die Hierarchisierung der Geschlechter durch massenmedial in Umlauf gebrachtes Bildmaterial verfestigte und implizit einen hegemonialen Orientierungsrahmen vorgaben, sodass sich die fotografische »Identitätskonstruktion zwischen Fremd- und SelbstBenennung« (Brandes 2010, S. 23), folglich zwischen »bedeutungsmächtigen Idealbildern und tradierten Wirkungsweisen« (ebd.) und künstlerischer Selbstbehauptung vollzog. Für Elisabeth Bronfen (vgl. 2001, S. 13) ist es nicht möglich, eine gänzlich andere bzw. neuartige und vollends abgelöste eigene Bildsprache jenseits jedweder Dualität und Normierung von ›Mann‹ und ›Frau‹ zu entwerfen. Bronfen (ebd.) spricht dabei von einem »schielenden Blick«, der zwischen konventioneller Nachahmung und gleichzeitiger Bloßlegung vorliegender Konventionen hin und her schweift, denn in ihrem Verständnis sind wir »alle von den Bildern unserer Kultur in unserem Selbstverständnis, in der Art, wie wir uns präsentieren und wie wir Bilder von Frauen lesen, geprägt. Wir können eine gewisse Komplizenschaft mit den uns definierenden Bildern nicht nur abstreifen, wir brauchen sie auch, um uns sinnvoll gestalten zu können« (ebd.). Jeder Versuch der Entsprechung bzw. Orientierung an einer tradierten Ikonografie bringt die »abverlangte Entstellung« (ebd., S. 15) zum Ausdruck. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Frage, ob und in welcher Form Maiers Selbstporträts die Bloßlegung eines tradierten Bildrepertoires des Weiblichen vorsahen – ob sie beispielsweise durch eine inszenierte Verzerrung zum Zwecke der Parodie eingesetzt wurden oder im Zuge der Verdinglichung des weiblichen Körpers zur Kritik an tradierten Geschlechterrollen aufriefen. In diesem Sinne muss jedoch vorerst geklärt werden, welche Bilder des Weiblichen bzw. der ›VorzeigeFrau‹ der Nachkriegsjahre unter Berücksichtigung der massenmedialen Konstruktion einer Geschlechterdichotomie medial vorgegeben bzw. ›vorgelebt‹ wurden und damit in einer spezifischen Zeit- (20. Jahrhundert) und
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Raumqualität (Werbekampagnen in US-amerikanischen Printmedien) vorherrschend waren.
3.3 MEDIENBILDER ALS KÜNSTLERISCHER BEZUGSPUNKT UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DAS BILD DER FRAU Jede Epoche bildet(e) ikonografisch festgelegte Frauenbilder und Weiblichkeitsentwürfe aus. Diese Bilder dienen gemäß Kessemeier (2000, S. 37) als »Vorbilder individueller Selbstdarstellung, als visuelle Identifikationsund Verhaltensmodelle, sie sind darüber hinaus Ausdruck des bestehenden Geschlechterverhältnisses und des Verständnisses von Weiblichkeit einer Gesellschaft«. Bedeutenden Einfluss auf deren Gestaltung und Verfestigung nimmt die öffentliche Zirkulation von Bildmaterial in den Massenmedien. Für Beinzinger (vgl. 1999, S. 201) tragen Medienbilder wesentlich zur Vermittlung einer symbolischen Ordnung bei. Sie beteiligen sich an der Herstellung und Konservierung gesellschaftlicher Ordnungsverhältnisse, indem sie als »Bildakte wie identitätsbildende Orientierungsmarken wirken« (Köffler 2017, S. 25). Ähnlich argumentiert Patricia Gozalbez Cantó (2012, S. 15), die in ihrer Untersuchung zu Frauenbildern der 1920er und 1930er davon ausgeht, dass »medial vermittelte Geschlechterbilder durch ihre massenhafte Verbreitung eine zentrale Bedeutung [gewinnen], wenn es um die Verinnerlichung und Fixierung konventionalisierter Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit geht«. Medienbilder sind als Projektionsfläche gesellschaftlicher Visionen folglich erheblich an der Fixierung und Konservierung eines kollektiv festgesetzten Geschlechterrollenverständnisses beteiligt. Da die Medienbranche im 20. Jahrhundert vorwiegend in männlicher Hand war, produzierte die Werbe- wie auch Filmindustrie nach Psychologin Gitta Mühlen Achs (2003, S. 15) lange Zeit ein Bild der Frau, das dem »Bild des Mannes von der Frau« entsprach. Demzufolge weist Filmproduzentin Laura Mulvey (1975) den massenmedialen Blick auf die Frau des 20. Jahrhunderts als hegemonialen male gaze aus. Ausgehend von ihrer Beobachtung einer geschlechterstereotypisierenden Ikonografie in USamerikanischen Kinofilmen kritisierte Mulvey (ebd.) in ihrem Aufsatz »Visual Pleasaure and the Narrative Cinema« die patriarchale Ordnungsfunkti-
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on des amerikanischen Hollywood-Kinos und damit einhergehende Entsubjektivierungsprozesse des weiblichen Geschlechts. Hollywood sah nach Mulvey stets die Befriedigung eines heterosexuellen, männlichen Beschauers vor und inszenierte Frauen aus Sicht eines voyeuristischen (»voyeuristic«) oder fetischisierenden (»fetishistic«) Blicks entweder als Sexualobjekt oder Heilige in ihrer Rolle als Hure oder Mutterfigur. Der Begriff »gaze« verweist dabei auf ein ›gaffendes‹ Betrachten, das nach Philosophin Naomi Scheman (1993) einem entmenschlichenden Akt gleichkommt, bei dem das erblickte (vornehmlich weibliche) Subjekt verobjektiviert wird und im Falle des male gaze eine Degradierung zum Sexualobjekt erfährt. Diese Art des ›Blickens‹ geschieht nach Scheman (ebd., S. 159) aus Distanz, ist nicht reziprok und »provides a great deal of easily categorized information, it enables the perceiver accurately to locate (pin down) the object, and it provides the gaze, a way of making the visual object aware that she is a visual object. Vision is political, as is visual art, whatever (else) it may be about«. Blickverhältnisse wirken nach Scheman (vgl. ebd.) demzufolge als politisches Mittel der Einflussnahme, welches auf Ebene der Geschlechterverhältnisse beispielweise in Form der ritualisierten Konstruktion von stereotypisierten Idealbildern einer Frau bzw. eines Mannes zum Ausdruck kommt. Etwa 40 Jahre später (im Jahr 2016) führte Filmproduzentin Jill Soloway den Begriff »female gaze« im Rahmen einer öffentlichen Rede im Zuge des Toronto Film Festivals ein, um eine Gegenantwort auf das von Mulvey konstatierte patriarchale Blickregime zu äußern. Soloway (zit. in Cohen 2017) fasst darunter Visualisierungsformen weiblicher Erfahrungen und Gefühle, die entstehen, wenn man einem male gaze ausgesetzt ist. Das Konzept des female gaze soll der Beschauerin/dem Beschauer näherbringen, »how it feels to be the object of the gaze, and returns the gaze onto cis males« (ebd.). Im Jahr 2017 gab Charlotte Jansen das Fotobuch Girl on Girl – Art and Photography in the Age of the Female Gaze heraus und erklärt darin, dass Bilder hergestellt von Frauen als »counterpoint to the male narrative« (Jansen 2017, S. 9) Frauen wie auch Männer auf eingefahrene Vorurteile und Prozesse der Stereotypisierung in den Massenmedien aufmerksam machen können: »The photographs women take of women can be a tool for challenging perception in the media […] to get at the unseen structures in our world and contribute to a broader understanding of society« (ebd.).
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Die Bildproduzentin wie -rezipientin/Der Bildproduzent wie -rezipient bleibt im Kontext der Gaze-Theorien folglich stets mit Formen kollektiven Betrachtens und Betrachtetwerdens innerhalb eines kulturellen Systems normativer Grenzziehung verhaftet bzw. kann sich zumindest nie ganz daraus lösen. Jeder fotografische Akt des An- und Erblickens orientiert sich demnach an medial transportierten idealtypischen Geschlechternormen, setzt sich reflexiv mit diesen auseinander, arrangiert sich damit, negiert diese oder definiert sie gar neu. Vivian Maiers gewählte Darstellungsformen ihres Selbst nehmen folglich Bezug auf Maiers Erfahrungen als betrachtete wie auch betrachtende Künstlerin des 20. Jahrhunderts, die – so zumindest die These – geprägt waren von Eindrücken massenmedialer Visualisierungsweisen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Für Historiker Roland Marchand (1986, S. 165) nehmen vor allem »social tableaux advertisements« – Werbeanzeigen »in which persons are depicted in such a way as to suggest their relationships to each other or to a larger social structure« – beträchtlichen Einfluss auf die Ausbildung sozialer Verhaltensweisen einer Gesellschaft. Nach Marchand könne man aus Werbung durch ihre soziale Ausrichtung Idealvorstellungen gesellschaftlichen (Zusammen-)Lebens einer zeitlichen Periode ablesen: »[…] even if an individual is shown by himor herself, the setting, actions, or other aspects of the image may imply social structure, and therefore reflect society or its ideals« (Marchand 1986, zit. in Nordström 2012, S. 68). Social tableaux advertisements sind demzufolge stark didaktisierend, indem sie vorgeben, wie sich die Betrachterin/der Betrachter zu kleiden und verhalten hat: »[…] they instruct the viewer in the correct ways to look, dress, act, and interact« (ebd.). Ausgehend von Marchands Ansatz interessiert in Bezug auf Maiers fotografische Praxis vor allem die massenmediale Porträtierung und Idealisierung der Frau in anglo-amerikanischen Werbekampagnen der Jahrhundertmitte, die dem Einfluss tradierter Geschlechterbilder in der Übergangsphase zwischen der Ersten Frauenbewegung (Französische Revolution bis zum Ersten Weltkrieg) und der Zweiten Frauenbewegung (ab etwa 1970) unterlag. 63 Da es
63 Während die Erste Frauenbewegung vor allem das Wahlrecht der Frauen und die juristische Gleichstellung zwischen den Geschlechtern als wichtigstes Ziel definiert hatte, verfolgte die Zweite Frauenbewegung ab Ende der 60er Jahre vor allem eine psychologische Befreiung vom Mann, indem sie eine autonome weibliche Gegenkultur etablierte und die Forderung nach einem selbstbestimm-
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sich dabei um ein umfassendes Feld handelt, zwingt sein Umfang zur Eingrenzung. In diesem Abschnitt wird folglich vornehmlich auf die medial konstruierten Frauenbilder in der anglo-amerikanischen Werbeindustrie am Beispiel der Kodak-Girl-Werbekampagnen in unterschiedlichen Printmedien des 20. Jahrhunderts Bezug genommen – gerade auch deshalb, weil darin die fotografierende Frau mit Kamera (»a picture of picture-taking«; West, zit. in Jacob 2012, S. 16) einer gesellschaftlichen Codierung ausgesetzt war. Maiers Fotografien entstanden, zieht man die Zeiträume der Ersten und Zweiten Frauenbewegungen als Referenz heran, in einer Übergangszeit, in der die Rückbesinnung auf traditionelle Werte und die Propagierung häuslicher Verpflichtungen gegenüber den weiblichen Emanzipationsbestrebungen deutlich im Vordergrund standen. Die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg war geprägt von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die in den 1920er Jahren dafür sorgte, dass viele Frauen, die während des Ersten Weltkriegs aufgrund des kriegsbedingten Wegfalls von männlichen Arbeitskräften einer Erwerbstätigkeit nachgehen durften bzw. mussten, allmählich wieder aus der Arbeitswelt verdrängt wurden. Nach Politikwissenschaftlerin Michaela Karl (2017, S. 102) setzte eine »wahre Propagandaschlacht gegen erwerbstätige Frauen ein«. In Deutschland verloren zu dieser Zeit mehr als drei Millionen Frauen ihren Arbeitsplatz (vgl. ebd.). Ab 1923 konnten verheiratete Beamtinnen in Deutschland bei finanzieller Absicherung durch ihren Ehemann sogar entlassen werden. In den Massenmedien avancierten damit Topoi wie Fürsorglichkeit, Kindererziehung und Häuslichkeit zu beliebten Sujets. Durch massenmediale Darstellungen von heiterer Familienidylle sollte die Konservierung altbewährter Normen und Werte vor allem in der Vor- und Nachkriegszeit krisengeschüttelten Nationen wieder Stabilität bieten (vgl. Köffler 2017, S. 22).64
ten Leben und der weiblichen Verfügung »über die eigene Sexualität, das eigene Leben, die eigene Sprache« (Karl 2017, S. 11) aussprach. Mit dem Slogan »Mein Bauch gehört mir!« forderten Feministinnen/Feministen der Zweiten Frauenbewegung beispielsweise die Straffreiheit bei Abtreibung oder eine vom Zeugungsakt unabhängige Sexualität durch die Verbreitung der Anti-Baby-Pille. 64 Ausnahmen bilden die Zeiten während der Weltkriege, in denen Frauen aufgrund des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels aus ihrem häuslichen Exil in die Männerdomäne ›Arbeitswelt‹ eintreten durften, sowie auch die Roaring
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Das konservative Bild der gehorsamen Ehefrau und Mutter, das bis weit ins 19. Jahrhundert vorherrschend war, schien sich sowohl in den USA wie auch in Westeuropa nach Kriegsende allmählich wieder zu restaurieren. Dieser Entwicklung einer sich erneut verfestigenden patriarchalen Gesellschaft schien jedoch die »Neue Frau« entgegenzutreten – ein FrauenTypus, zu dem sich vor allem weibliche Intellektuelle zählten, die in den goldenen 20ern mit den überkommenen Moralvorstellungen und Traditionen vergangener Jahrzehnte brachen und in ihrer phänotypischen Festlegung als androgyne Frau mit Bubikopf, weiten Hosen und Krawatte ein finanziell wie auch sexuell selbstbestimmtes Leben zu führen trachteten. Die Neue Frau wurde bald zur Werbeikone und lachte als Modeerscheinung von Werbeplakaten auf der ganzen Welt. Gozalbez Cantó (2012) konnte in ihrer Analyse massenmedialer Inszenierungsformen von Weiblichkeit in spanischen und deutschen Printmedien vor allem den Garçonne-Typus65 als Prototypen der Neuen Frau herausarbeiten, der in Frack oder Fliegerjacke visuell von traditionellen Männlichkeitsmarkern Gebrauch machte. Ihre Untersuchung deckte auf, dass das mediale Bild der Neuen Frau diese zwar offensichtlich in männliche Sphären eindringen ließ, jedoch häufig als »Eindämmungsbild« (Sennewald 2007, S. 129) eingesetzt wurde, in denen eine mögliche weibliche Überlegenheit bei genauer Betrachtung immer wieder abgeschwächt bzw. aufgelöst wurde. So wurde die US-amerikanische Flugpionierin Amelia Earhart in Printmedien um 1932 zwar mit Fliegerkappe und ohne weiblich konnotierte Mode porträtiert. Ein Strauß Rosen in ihren Händen kennzeichnete sie allerdings eindeutig als Frau, die in häuslich-privatem Umfeld aus erhöhter Position aufgenommen wurde und die Beschauerin/den Beschauer damit visuell auffordert, auf die vermeintliche Heldin herabzublicken (vgl. Gozalbez Cantó 2012, S. 63f). Männlich codierte Insignien wurden durch den Einsatz weiblich assoziierter Merkmale folglich relativiert. Die Darstellung der Neuen Frau war
Twenties, in denen ein Frauenbild in Erscheinung trat, das mit Attributen wie Urbanität, Jugendlichkeit und Unabhängigkeit in Verbindung gebracht und dezidiert mit männlich besetzten Accessoires wie einer Krawatte oder Zigarette porträtiert wurde (vgl. Köffler 2017, S. 17). 65 Weitere Kategorien, die Gozalbez Cantó (vgl. 2012, S. 379) in ihrer Arbeit formulierte, sind der Hollywood-Filmstar, das Girl, die Kindfrau, die Mutter, die Sportlerin und die Tänzerin.
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damit durch ambivalente Geschlechtercodes gekennzeichnet. Zu vergleichbaren Ergebnissen kam Köffler (2017) im Rahmen ihrer Analyse der Darstellungsformen des Kodak Girls in anglo-amerikanischen Printmedien in den Anfängen des 20. Jahrhunderts, das als ein von George Eastman um 1893 eingeführtes weibliches Werbesujet mit emporgehobener Fotokamera zum Sinnbild für einen unabhängigen Frauentypus werden sollte. Gerade in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Kodak Girl als aktive Fotografin beim Sport oder auf Reisen abgelichtet, was den Aktionsradius der bürgerlichen Frau des 19. Jahrhunderts zumindest ikonografisch erweiterte und geschlechterspezifische Hierarchisierungsstrukturen teilweise verschob: »Always out of doors, she [Kodak Girl; Anm. d. Verf.] may be perched on a rock pointing out to sea, leaning on a jetty watching the yachts come in, celebrating the Paris World Fair in 1934 […] urging purchasers to ›Make Kodak snapshots of every happy scene‹.« (Wells 2000, S. 140)
Die männliche Codierung der Neuen Frau wurde dabei in erste Linie über die ausgeführte Handlung (Ablichtung der Neuen Frau beim Auto-, Golf-, Tennis- oder Segelsport) und weniger über das Körperbild vermittelt, denn das Kodak Girl entsprach in seinem Erscheinungsbild durchwegs dem zur damaligen Zeit kanonisierten Schönheitsideal. Dies unterschied sich nun in vielerlei Hinsicht von der eleganten Gesellschaftsdame des vorherigen Jahrhunderts: »Hemlines rose, the hourglass figure became slimmer, more flat chested and boyish, and long hair fashioned into complex pompadours was replaced by shingled bobs and simple cloche hat or masculine-looking caps.« (Nordström 2012, S. 68f)
Bei gleichzeitiger Aufnahme des Kodak Girls mit einem männlich konnotierten Sujet und der synchronen Abbildung weiblicher und männlicher Geschlechterrollen wurde das weibliche Begehren nach gesellschaftlicher Teilhabe auf ikonografischem Wege stark eingebremst. War das Kodak Girl in männlicher Begleitung, dann wurde ihre Abbildung mit weiblichen Codes bzw. ›Feminizern‹, wie starkem Make-up oder einer weiblich konnotierten Körpersprache aufgeladen, und ihr Ausdruck wirkte kindlichmädchenhaft (Abb. 15). Der abgelichtete Begleiter hingegen fuhr das Auto,
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trug die Sportutensilien oder beugte sich schützend über die fotografierende Frau, wodurch visuell ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kodak Girl und ihrer männlichen Begleitung suggeriert wurde. Je eher die massenmedial dargestellten Frauen »in der Öffentlichkeit und im Berufsleben mit Männern in Konkurrenz traten, desto deutlicher wurden sie wieder mit kindlich oder erotisch konnotierten Zeichen versehen, die ihr starkes Auftreten relativierten« (Gozalbez Cantó 2012, S. 379). Das Kodak Girl wurde in ›Beziehungsaufnahmen‹ häufig folglich entweder einer ikonografischen Infantilisierung oder einer Sexualisierung unterzogen. Die massenmediale Porträtierung eines Frauenbildes mit männlich konnotierten Insignien wurde nur dann geduldet, wenn die abgebildete Frau als diese erkennbar blieb und weiterhin dem kanonisierten Schönheitsideal entsprach (vgl. ebd., S. 378). Die massenmedial eingeführten Weiblichkeitsentwürfe der Neuen Frau konnten damit auch in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht vollends mit den traditionellen Frauenbildern der vergangenen Jahrzehnte brechen, sondern veranschaulichen eine gewisse Furcht gegenüber der modernen Frau, die sich mit dem traditionellen Ordnungssystem der Geschlechter nicht mehr arrangieren wollte (vgl. ebd.).
Abbildung 15: Kodak Girl, Werbeillustration, um 1923
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Auch auf Ebene der massenmedialen Berichterstattung in anglo-amerikanischen Tageszeitungen und Magazinen wurde die vorliegende Ambivalenz auf textsprachlicher Ebene weitergetragen, indem auf Kolumnen über erfolgreiche berufstätige Frauen unmittelbar Beiträge über glückliche Hausfrauen folgten: »It was not uncommon for the article about a woman doctor or inventor to be juxtaposed with an article about a woman who loved decorating her home and derived her greatest joy from baking for her family. For every story about a modern careeroriented woman […] there was a column that expressed concern that the new woman had too much freedom and lacked the proper values.« (Halper 2001, S. 31)
Antiquierte Rollenvorstellungen behielten demzufolge, wenn auch in abgeschwächter Version, weiterhin Gültigkeit. Massenmediale Darstellungen der Neuen Frau sind in den Roaring Twenties zusammenfassend als ambivalente Aussagen zu einem Frauenbild im Übergang zu lesen, die typologische Grenzen zwischen Emanzipation und Tradition verwischten: »Einerseits war das Kodak Girl unternehmerisch und aktiv, andererseits in seiner Aktivität letztlich vom Mann und seiner Befürwortung der weiblichen Emanzipation abhängig.« (Köffler 2017, S. 52) Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde den Emanzipationsbestrebungen der Neuen Frau und dem damit in Verbindung stehenden Bilderrepertoire vor allem ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ein jähes Ende gesetzt. Das Bild der aktiven Bubikopf-Frau wurde durch das Bild einer hochgeschlossenen Hemdenblusen-Trägerin mit strengem Haarkranz ersetzt und die NS-Ideologie Mutterschaft lancierte erneut zum Metier der Frau der westlichen Welt. In Deutschland wurden Ehestandsdarlehen eingeführt, bei dem jedes gesund zur Welt gebrachte Kind die Darlehensschuld um ein Viertel verminderte. Kinderlose Ehepaare hatten Strafsteuern zu begleichen und Schwangerschaftsabbrüche wurden strafrechtlich geahndet. Beamtinnen und Akademikerinnen wurden systematisch aus der Berufswelt verbannt. So verloren gemäß Politikwissenschaftlerin Michaela Karl (2017, S. 190f) »Schuldirektorinnen ihre Stellung ebenso wie Ärztinnen ihre kassenärztliche Zulassung. Richterinnen und Anwältinnen erhielten Berufsverbot, die Habilitation war nicht mehr möglich.« Der Anteil weiblicher Studentinnen sank in Deutschland 1933 auf 10 Prozent und Frauenrechtlerinnen wie Clara Zetkin, Helene Stöcker oder Lida Gustava Heymann fanden
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sich im Exil wieder (vgl. ebd.). Das Bild der Frau, das massenmedial unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs gezeichnet wurde, entsprach der unterwürfigen Hausfrau und Mutter des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, die sich dem Wohle ihrer Familie und ihrem Ehemann hinzugeben aufgefordert war. Geschlechterrollen wurden medial stark typologisiert, indem der Mann in der öffentlichen Sphäre agierte und die Frau durch die Zuschreibung von Häuslichkeit aus dem öffentlichen Raum und der Berufswelt ausgeblendet und verdrängt wurde. Auch das Kodak Girl veränderte sich zunehmend und war wieder stärker mit der fotografischen Porträtierung der eigenen Kinder und der Konservierung bedeutsamer familiärer Momente in den vier Wänden beschäftigt: »Throughout the World Wars […] Kodak persisted in depicting the Kodak Girl almost exclusively within the domestic sphere.« (Jacob 2012, S. 12) Aus dem viel gereisten Mädchen, der »independent, worldly figure […] in her signature blue-stripped dress« (ebd., S. 10), war innerhalb weniger Jahre eine fürsorgliche Familienmutter und Vollzeithausfrau geworden. Die fotografierende Werbeikone wurde im familiären Kontext dabei vornehmlich ohne männliches Sujet abgelichtet, um die Trennung zwischen Berufsleben als männliche und dem Haushalt als weibliche Domäne und das sich darin abzeichnende hegemoniale Rollenverständnis auch auf ikonografischem Wege zu festigen (Abb. 16).
Abbildung 16: Kodak Girl, Werbeillustration, um 1939
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Die visuelle Anspielung auf die Verwobenheit der Frau mit Haus und Hof und ihren häuslichen Verpflichtungen war in den Zeiten des nahenden Kriegs durchwegs ein beliebtes Sujet, indem insbesondere traditionelle Werte wie Pflichtbewusstsein, Einfühlsamkeit und Kindererziehung visuell propagiert wurden: »Americans responded to the coming of war with an abrupt return to traditional values. Symbolic of this reversal, the Kodak Girl came to be presented as the caretaker of the domestic memory.« (Ebd., S. 12)
In den Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs war der männliche Arbeitskräfteanteil aufgrund der Millionen an gefallenen Männern knapp geworden, sodass Frauen in den ersten Nachkriegsjahren erneut in die Arbeitswelt eingeführt wurden. Frauen gingen damit wieder häufiger einer Erwerbstätigkeit nach und trugen neben der Existenzsicherung ihrer Familien auch in einem beträchtlichen Ausmaß zur Stärkung und dem Wiederaufbau einer verunsicherten Gesellschaft bei. In Deutschland wurde »die Trümmerfrau [...] zum Symbol für den Wiederaufbau des Landes und zum Beweis dafür, was Frauen psychisch und physisch zu leisten in der Lage waren« (Karl 2017, S. 118). Nach Ende des Nationalsozialismus machte sich im Zuge der Demokratisierung erneut die Hoffnung auf die Gleichstellung der Frau, sowohl in juristischer wie auch gesellschaftlicher Sicht, breit und die Durchsetzung einer gesetzlichen Gleichberechtigung von Mann und Frau nahm in den Industrienationen erneut Anlauf. In den USA war die Studenten- und Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre wesentlicher Ausgangspunkt für die Zweite Frauenbewegung (vgl. ebd., S. 128). Das liberale Bürgertum, allen voran weibliche Studentinnen, setzten sich gegen geschlechtliche wie auch rassistische Diskriminierung zur Wehr und kämpften für die Rechte von Minderheiten. Aktivistinnen zogen Parallelen zwischen der Loslösung der Frau vom Mann und der Befreiung der Schwarzen aus der Abhängigkeit der Weißen. Die Philosophie der Black-PowerBewegung und ihre Zielsetzung, eine schwarze Kultur zu begründen, wurde von den Feministinnen übernommen. Insbesondere Radikalfeministinnen versuchten sich an der Etablierung eines ausschließlich weiblichen Kulturideals und eines damit in Zusammenhang stehenden autonomen weiblichen Milieus, was Frauenstuben, Frauenzeitungen, Frauenkommunen oder Frauenbuchläden in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts aus dem
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Boden sprießen ließ (vgl. ebd., S. 137). Die Hinwendung zu weiblichen Leitfiguren und die zunehmende Befreiung des weiblichen Körpers aus patriarchalen Strukturen der Unterdrückung führten unter anderem zum Ausleben weiblicher Homosexualität. Durch den Lesbianismus sollte vor allem eine Loslösung aus der emotionalen und sexuellen Abhängigkeit vom Mann erreicht werden. Dem Slogan folgend »Feminismus ist die Theorie – Lesbianismus die Praxis!« (ebd., S. 135) war Lesbischsein »mehr als eine andere Lebens- und Liebesform, es wurde als politische Alternative betrachtet, als Negation des patriarchalen Systems« (ebd.). Zur einer der feministischen Galionsfiguren wurde in Amerika die Journalistin Betty Friedan erkoren, die um 1963 das Buch The Feminine Mystique veröffentlichte und das in den Medien verbreitete Bild der glücklichen, US-amerikanischen Mittelklassefrau in ihrer Rolle als Vollzeithausfrau im Kontext der amerikanischen Ideologie von Mutterschaft und Ehe demontierte. Das Leben der Frau der Nachkriegsjahre war in den Augen von Betty Friedan »reduziert auf Kinder und Küche, ein Leben im goldenen Käfig, ideologisch untermauert durch den ›Weiblichkeitswahn‹, der den höchsten Wert und die einzige Verpflichtung der Frauen in der Erfüllung ihrer Weiblichkeit sah« (ebd., S. 143). Die Frau der Nachkriegsjahre fand ihr Glück vornehmlich als adrett gekleidete und ›aufgehübschte‹ Mutter und Ehefrau, die die allabendliche Heimkehr ihres berufstätigen Ehemanns sehnlichst erwartete und ihr Leben voll und ganz ihrem Ehemann und damit verbundenen ehelichen ›Pflichten‹ hingab: »She should devote her life to helping her husband and be an asset to him in whatever ways possible. […] She was supposed to derive her joy vicariously, through seeing him happy, or through bearing his children (preferably sons, of course) – certainly a belief that came from Freudian psychology.« (Halper 2001, S. 149)
Weibliche Selbstverwirklichung wurde gemäß Karl (2017) vom Berufskontext auf die Konsumebene umgelenkt, sodass die Werbebranche den Frauen der Nachkriegsjahre vor allem exklusive Putzutensilien, auffällige Schminkprodukte sowie figurbetonte Kleidung, die wieder die SanduhrFigur des weiblichen Körpers des 19. Jahrhunderts unterstreichen sollte (z.B. durch Bleistiftrock, Petticoat, Cone-BH etc.), schmackhaft machte. Von den Werbeplakaten der 50er und 60er Jahre lachten damit in erster Li-
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nie hyperfeminisierte Hausfrauen, die ihren Ehemännern mit gutem Essen, weißer Wäsche oder einer blitzblanken Küche zu gefallen versuchten: »If she used the right shampoo and the right lipstick, if she smiled, did not burden her husband with her problems, and was efficient in stretching the family budget, all would be well.« (Halper 2011, S. 101)
Frauen hatten den Weiblichkeitswahn nach Friedan sogar derart verinnerlicht, dass sie anfingen zu glauben, »mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung, wenn sie beim Schrubben des Küchenfußbodens keinen Orgasmus bekämen« (Karl 2017, S. 143). Das Bild einer aufopfernden und passiven Ehefrau, die ihre Erfüllung in der Beglückung und Zufriedenstellung ihres Ehemannes fand, war nicht nur ein beliebtes Sujet in Werbekampagnen der Nachkriegsjahre, sondern wurde gemäß Historikerin Donna L. Halper (2001) ebenso in amerikanischen Hollywood-Filmen wiederkehrend gezeichnet: »Women in these dramas were the ones waiting patiently at home. […] Men were still portrayed as the doers, and women as their appreciative audience or their helpful assistants. Even when women were active in some way, it was always placed in the context of what it did for the men.« (Ebd., S. 126)
Und auch das ›Girl‹ der Kodak-Werbekampagnen zeigte sich in den 50er und 60er Jahren keineswegs mehr als eine fotografierende, unabhängige Frau in Aktion, sondern glich (neben den unzähligen Abbildungen des Kodak Girls als fürsorgliche Familienmutter) in knappem Badeanzug und sexualisierter Pose (Abb. 17) einem Pin-up-Girl aus den ersten Auflagen des amerikanischen Playboys. Die zu vermarktende Kamera geriet visuell aus dem Fokus und hing nur mehr lose am Arm einer lächelnden Frau mit Wespentaille. Kodak-Werbekampagnen reizten ab der Jahrhundertmitte mit dem Sujet einer leicht bekleideten Frau vor allem das männliche Auge und waren vornehmlich an ein männliches Publikum gerichtet, was weibliche Anhängerinnen der Werbeikone mit einstigem feministischen Touch66 zusehends vom Kauf der Kamera absehen ließ (vgl. Bialdiga 2014).
66 »[…] the woman with the camera persisted as a model of freedom and sophistication.« (Nordström 2012, S. 69)
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Abbildung 17: Kodak Girl, Werbeillustration, um 1958 Friedans Bestseller, der auf Rang 7 der von der Zeitschrift Human Events ausgegeben Liste der gefährlichsten Bücher des 19. und 20. Jahrhunderts geführt wird, sollte den Grundstein für die amerikanische Women’s Liberation-Bewegung legen, die ab 1964 für einige gesetzliche Veränderungen wie beispielweise die Aufnahme des Equal Rights Amendments in die USamerikanische Verfassung verantwortlich war. Germaine Geer trat mit ihrem 1970 veröffentlichten Werk The Female Eunuch in Friedans Fußstapfen und kritisierte vor allem die Propagierung von Weiblichkeitsmarkern wie Büstenhaltern oder hochhackigen Schuhen, die nach Geer als ein verdecktes Symbol für die männliche Unterdrückung der Frau zu verstehen waren. In diesem Zusammenhang verlautbarte Geer (1970, S. 61), dass die Frau einer Puppe gleichkäme: »Ob sie weint, schmollt oder lacht, läuft oder ruht […]. Sie ist ein Idol, geformt aus der Verknüpfung von Linien und Maßen, ausgestattet mit den Zügen befriedigter Impotenz. Ihre wesentliche Eigenschaft ist Kastriertheit. Sie muss definitiv jung sein, ihr Körper haarlos, ihr Fleisch blühend, und sie darf kein Geschlechtsorgan haben. Die Frau ist zum weiblichen Eunuchen degradiert.«
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Symbole für die gesellschaftlich geteilte Auffassung von Weiblichkeit, wie Miss-Wahlen sowie all jene Hilfsmittel, die Frauen zur massenmedial propagierten Weiblichkeit führten, wie Absatzschuhe, falsche Wimpern, Make-up, Haarspray oder Lockenwickler, gerieten in Verruf und wurden beispielsweise am 7. September 1968 in Atlantic City symbolisch in eine Blechtonne, die Freedom Trash Can, geworfen, um gegen Mittel männlicher Unterdrückung öffentlich anzukämpfen. Ähnliche Bewegungen waren in Westeuropa zu verzeichnen. Noch vor den literarischen Stellungnahmen von Geer und Friedan hatte Simone de Beauvoir im Jahr 1949 ihre Streitschrift Le Deuxième Sexe veröffentlicht, die auf 700 Seiten herbe Kritik an der sozialen Konstruktion von Geschlechtlichkeit übte, die – so ihre These – Männer als handelnde und autonome Subjekte, Frauen hingegen als Objekte, die sich nur über den Mann orientieren können und damit in ein Abhängigkeitsverhältnis gedrängt werden, herausstellte. Historisch betrachtet lassen sich ab den 50er Jahren folglich erst zaghafte, ab Ende der 60er und vor allem in den 70er Jahren zunehmend lauter werdende Stimmen zur Unterdrückung der Frau in der westlichen Welt vernehmen. Maiers fotografisches Schaffen erfolgte daher in einer Zeit, die weitestgehend eine androzentristische, dichotome Geschlechterordnung aufrechterhielt und damit dem Zeitgeist entsprechend vor allem konventionale Darstellungsformen der Frau als Symbol für Mutterschaft und Häuslichkeit propagierte. Wenige Ausnahmen bilden kleine Zeitfenster, wie die 20er Jahre, in denen alternative Rollenmodelle durch das Aufkommen der Neuen Frau zumindest ansatzweise in die massenmediale Bilderwelt eingeführt wurden. Da Maier in ihren Fotografien der 50er und 60er Jahre Topoi wie (weibliche) Identität, Ästhetik, Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit aufgriff, die in vorliegender Ausprägung und Demontierung erst wieder im Kontext der Zweiten Frauenbewegung um 1970 vermehrt auftauchen, können Maiers künstlerische Selbstporträts als avantgardistisch-feministische Auseinandersetzung mit Geschlechterbildern der Jahrhundertmitte gelesen werden.
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Methodologisch-methodische Überlegungen zu einer werkbezogenen Oszillation zwischen Form, Inhalt und Kontext
Auch wenn sich der »iconic turn« (Böhm 1994) im Bereich der empirischen Wissenschaften gemäß Bildungswissenschaftler Ralf Bohnsack (vgl. 2011, S. 25) noch nicht vollends etabliert hat, lässt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Hinwendung zu Bildern als Gegenstand der Forschung erkennen (vgl. Herder 2017, S. 14). Dem Einsatz von Bildern in ihrer Funktion als Kommunikationsmittel und Zeichenträger wird folglich ein Zweck ›unterstellt‹, was Parallelen zu Charles Sanders Peirces (1965; 1986) moderner Semiotik und seinen am Pragmatismus orientierten Ansichten zur Verwendung von Text-Sprache erkennen lässt. Im Nachfolgenden werden daher unter Bezugnahme auf Peirces zeichentheoretischen Ansatz Benita Herders (2017) Gedanken zum epistemischen Gehalt von Bildern vorgestellt und in Bezug zur Analyse von Maiers Fotografien gesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, welches Wissen und welche Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit fotografischem Bildmaterial unter Anwendung eines systematisierten Analyseverfahrens generiert werden können. Die Frage zur Hervorbringung von Wissen und Erkenntnis wird in Abschnitt 4.1 in erster Linie über die Vermittlungskapazitäten von Bildern zu beantworten versucht, wobei diesbezüglich deutlich darauf hingewiesen werden muss, dass Vermittlung nicht mit dem tatsächlichen Wissenserwerb gleichzusetzen ist. Überdies wird im Nachfolgenden zwischen den Begrif-
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fen »Wissen« und »Erkenntnis« unterschieden. In Anlehnung an Grundmann (vgl. 2008, zit. in Herder 2017, S. 110) wird Wissen als wahre und gerechtfertigte Überzeugung, die eine Person hat, definiert. Erkenntnis bleibt insofern mit dem Wissen verwoben, als dass sie als Prozess wie Resultat der Strukturierung von Wissen verschiedene Wissensformen miteinander in Verbindung bringt. Hieran knüpft Elgins (2007, zit. in ebd., S. 111) Verständnis von Erkenntnis als ein »Prozess der Unterscheidung zwischen relevantem und irrelevantem Wissen […]«, bei dem ersteres im Zuge des Erkenntnisgewinnes einer weiteren Ordnung unterliegt. Im Anschluss an die epistemologischen Gedanken zum bildspezifischen Wissensgehalt wird in Abschnitt 4.2 die in dieser Untersuchung zur Anwendung kommende Analysemethode vorgestellt. Es wird sich herausstellen, dass der dokumentarischen Form der bildbasierenden Annäherung (vgl. Bohnsack 2011) mitunter an der Explikation von implizitem Wissen gelegen ist, das durch die Betrachtung der Formalstruktur eines Bildes zum Vorschein kommen und zu habitualisierten und inkorporierten Wissensbeständen vordringen soll. Obwohl sich künstlerische Selbstporträts häufig durch eine sorgfältig arrangierte Inszenierung der jeweiligen Aufnahme auszeichnen, eröffnet uns jede Aufnahme gemäß Bohnsack Einblicke in vorreflexives, unbewusstes Wissen der Bildproduzentin/des Bildproduzenten, das sich in den Körper der Akteurin/des Akteurs eingeschrieben hat, was beispielsweise wiederum mit der Einverleibung von gesellschaftlich etablierten Geschlechterkonstruktionen durch massenmediale Repräsentationstechniken von Zweigeschlechtlichkeit in Verbindung gebracht werden kann. Die im Rahmen der Analyse identifizierten Merkmale und Auffälligkeiten werden anschließend in Kapitel 6 beispielsweise vor dem Hintergrund subjektwissenschaftlicher Identitätstheorien (z.B. Lacan) interpretiert.
4.1 DER EPISTEMISCHE GEHALT VON BILDERN: WAS UNS FOTOGRAFIEN WISSEN LASSEN Benita Herder (2017) unterscheidet in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zur erkenntnistheoretischen Funktion von Bildern (in Anlehnung an Husserls Unterscheidung zwischen Bildträger, Bildobjekt und Bildsujet) zwischen Zeichenträger, Zeichenobjekt und Zeichensujet und bezieht sich dabei auf
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Peirces dreigliedriges Konzept des Repräsentamen, Interpretanten und des Peirce-Objekts. Auch wenn Herder (vgl. ebd., S. 38) die Übertragung der Husserl’schen Terminologie auf Peirce’sche Begriffe als Wagnis ausweist, sind Analogien nicht von der Hand zu weisen. Für Herder kann das Repräsentamen als Äquivalent zum Zeichenträger gelesen werden. Darunter fasst Herder Medien aller Art (z.B. Papier, Leinwand, etc.), mit denen Zeichen dargestellt, folglich präsentiert und damit wahrnehmbar werden. Der Interpretant als Zeichenobjekt ist die mentale Repräsentation des Zeichensujets und wird durch den Zeichenträger determiniert. Es repräsentiert das Sujet und ist daher im Gegenzug zum Zeichenträger nicht physisch, sondern abstrakt vorhanden (bei Saussure als Signifikant bezeichnet). Da unter Interpretant bzw. Zeichenobjekt nach Nöth (1985, zit. in ebd., S. 39) die »Wirkung des Zeichen/-trägers im Bewusstsein eines Interpreten« verstanden wird, verdeutlicht sich in bildtheoretischen Auseinandersetzungen die Bedeutung der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters, denn schließlich »ist eine mentale Repräsentation eine Repräsentation, die in jemandes Geist ist« (ebd.). Das Zeichensujet entspricht dem Begriff des Peirce-Objekts (bei Saussure Signifikat) und fasst das, um was es in der Kommunikation geht. Zeichensujet und Zeichenobjekt stehen dabei in Relation zueinander und können durch Ähnlichkeiten aufeinander verweisen. Herder (ebd., S. 40) exemplifiziert diese Dreiteilung wie folgt: »Ich möchte jemanden auf einen Baum hinweisen. Das Sujet dieser Situation ist der Baum. Der Zeichenträger, den ich in dieser Situation wähle, ist ein Blatt Papier und die Tinte meines Füllers, die die Buchstaben ›B‹, ›a‹, ›u‹ und ›m‹ in dieser Reihenfolge realisiert. Dieses Blatt Papier und die Tinte repräsentieren das Sujet, um das es mir geht: den Baum.«
Für Herder verdeutlichen die festgestellten Parallelen zwischen der Grundstruktur von Zeichen nach Peirce und der von Husserl vorgeschlagenen dreiteiligen Struktur von Bildern (Bildträger – Bildobjekt – Bildsujet) in Abkehr zu phänomenologisch orientierten Bildtheorien, dass Bilder in erster Linie als Zeichen gelesen und folglich für wissenschaftliche Zwecke in ihrer Funktion als Präsentation und Repräsentation lebensweltlicher Phänomene Anwendung finden. In Bezug auf ihre Nutzbarmachung in wissenschaftlichen Kontexten stellt sich jedoch die Frage, welche Erkenntnis aus der bildspezifischen
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Präsentation und Repräsentation vor dem Hintergrund semiotischer Zugänge gewonnen werden kann. Diesbezüglich verweist Peirce (vgl. 1965, S. 156ff) auf die Funktionsweisen von Zeichen und eröffnet wesentliche Hinweise in Bezug auf die Art des Erkenntnisgewinns, die im Rahmen bildanalytischer Zugänge zu erwarten ist. Die Funktion der Zeichen lässt sich nach Peirce (vgl. ebd.) aus der Beziehung zwischen Zeichenobjekt und Zeichensujet ableiten und manifestiert sich in den Schlüsselbegriffen Ikon, Index und Symbol. Ikonische Zeichen beispielsweise sind dem Sujet ähnlich und rufen eine Idee hervor, die das Sujet repräsentiert. Das indexikalische Zeichen wiederum verweist auf einen kausalen Zusammenhang zum Sujet, indem es »einerseits in einer dynamischen (eingeschlossenen räumlichen) Verbindung mit dem Sujet steht und andererseits mit den Sinnen und der Erinnerung der Person zusammenhängt, die es als Zeichen interpretiert« (Peirce 1965, zit. in Herder 2017, S. 49). Nach Peirce (1965, S. 361) behauptet ein Index nichts, es sagt nur »Hier!« (»The index asserts nothing; it only says ›There!‹«). Das symbolische Zeichen hingegen steht weder in einem Ähnlichkeitsverhältnis noch in einem Kausalzusammenhang zu seinem Sujet. Es eröffnet vielmehr die gesellschaftlichen Konventionen im Rahmen der Deutung symbolischer Zeichen und stellt folglich eine konventionale Relation zum Sujet her (vgl. Herder 2017, S. 51). Mit Bezug auf Maiers fotografische Selbstporträts würde dies bedeuten, dass das fotografische ›Abbild‹ einer Frau mit Kamera durch ein Ähnlichkeitsverhältnis zur real existierenden Vivian Maier als ikonisches Zeichen gelesen werden kann. Zeitgleich verweist die Fotografie in indexikalischer Hinsicht auf die Situation und den Kontext, in der bzw. dem das Foto entstanden ist, und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem fotografischen Akt. Der symbolische Gehalt des Selbstporträts steht in engem Zusammenhang mit anderen künstlerischen Arbeiten der jeweiligen Epoche, was eine kunsthistorische, symbolorientierte Deutung erforderlich macht. Zeichen können folglich simultan ikonische, indexikalische und symbolische Funktionen übernehmen (vgl. ebd., S. 43). Der Verwendungszusammenhang des Bildes beeinflusst nach Herder (vgl. ebd.) durch die jeweilige Gewichtung ikonischer, indexikalischer oder symbolischer Eigenschaften maßgeblich die vordergründige Funktion des Bildes. Wenn Maiers Selbstporträts in Anlehnung an Herder (vgl. ebd.) als Passfoto Verwendung finden würden, dann stünde der ikonische Wert im Vordergrund. Wenn sie als Nachweis für Maiers Aufenthaltsorte herangezogen werden würden, wäre
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der indexikalische Wert von vordergründiger Relevanz. Würden sie jedoch im Rahmen einer Ausstellung gezeigt werden, wäre vermutlich der symbolische Gehalt von entscheidender Bedeutung. Je nach Funktion, die ein Bild übernimmt, verändert sich auch sein epistemischer Gehalt und das Wissen, das im Rahmen seiner Analyse extrahiert werden kann. Die Ikonizität eines Bildes zeigt uns, wie eine Person oder ein Gegenstand aussieht oder welche Eigenschaften sie oder er besitzt. In Bezug auf Maiers Selbstporträts erfahren wir folglich mehr über ihr Äußeres, ihren Kleidungsstil oder das Kameramodell, mit dem sie sich ablichtete. Wir gehen davon aus, dass es die Person gibt, dem das Bild von dieser Person ähnelt. Auf diese Weise wird nach Herder (vgl. ebd.) im Zuge der Analyse des ikonischen Bildgehalts nicht nur propositionales Wissen vermittelt (Faktenwissen: Vivian Maier trug einen Kurzhaarschnitt), sondern ebenso Wissen durch Bekanntschaft und Wiederkennung hervorgebracht. Im Bereich des visuellen Vergleichs zur Wiedererkennung von Personen, Gegenständen und Orten ist nach Heßler (2012, S. 90) »räumliches Denken, das Erkennen von visuellen Analogien, das Einschätzen und Verstehen von Relationen, von Gestalt und Form« wichtig. In Bezug auf das fotografische Bild hängt diese Form der Erkenntnis zu einem großen Anteil mit seiner Indexikalität zusammen, da die kausale Verwobenheit des Bildes mit dem Ereignis, das eingefangen wurde, durch die Fotografie besonders gut sichtbar wird (vgl. Herder 2017, S. 159). Der indexikalische Gehalt der Fotografie führt folglich dazu, dass fotografische Bilder häufig als Beleg für einen ›Es-ist-so-gewesen-Zustand‹ (z.B. in Gerichtsverfahren, in der Medizin) herangezogen werden. Die Verbundenheit von Bild und Ereignis führt nach Herder zur »Unterstellung der Existenz der fotografierten Situation« und der »Zuschreibung von Objektivität« (Sachs-Hombach 2012, zit. in ebd.). Aufgrund des wahrheitsfähigen Gehaltes fotografischer Bilder sind diese für Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler (2011, S. 6) zu »unkritisch hingenommene[n] Performative[n] des Realen« geworden, die sich in ihrer Auslegung als Analogon oder reine Fixierung lebensweltlicher Geschehnisse unangefochtene Glaubwürdigkeit (vgl. Ray 1934, S. 247f) erschwindelt haben. Trotz ihres indexikalischen Verweises auf die Existenz einer fotografierten Situation sind Fotografien stets der Subjektivität der Bildschöpferin/des Bildschöpfers unterworfen. Seit Ende der 1970er Jahre brechen kulturalistische Zugänge demzufolge mit den Prämissen des realistischen Po-
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tenzials der Fotografie und unterstreichen, dass fotografische Bilder an die Überzeugungen und Interessen der Fotografin/des Fotografen gebunden bleiben und aus konstruktivistischer Perspektive als künstlich geschaffene Werke auszuweisen sind. So ist für Angelika Poferl und Reiner Keller (2017, S. 310) jede »fotografische Aufnahme ein Dokument der Inszenierung, der Überformung von Realität allein durch Auswahl, Hervorhebung und Einstellung« der Bilderzeugerin/des Bilderzeugers, die/der durch den Einsatz unterschiedlicher Objektive, der Wahl des Motivs und Bildausschnitts jeweils eine andere Sicht auf die Dinge ermöglichen kann. Für Herder (2017, S. 160f) zeigt sich daran deutlich, dass »Fotografien nicht ›von Natur aus‹ indexikalische Bilder bzw. Zeichen sind, sondern, dass ihnen durch Gebrauch eine indexikalische Funktion und damit auch die Möglichkeit, einen wahrheitsfähigen Gehalt zu repräsentieren, zugeschrieben wird«. Dennoch weisen Poferl und Keller (vgl. 2017, S. 313) im Rahmen der Interpretation von Bildern darauf hin, dass der Spielraum nicht beliebig ist, denn es bleibt immer etwas von der eigentlichen Situation im fotografischen Bild enthalten. Hier setzt Kendall Waltons (2012, S. 17) Ansatz des Unterschieds zwischen der fotografischen und abbildenden Relation eines Bildes an. Das Foto bleibt stets abhängig von einer realen Situation bzw. dem fotografierten Objekt, was mit der indexikalischen bzw. fotografischen Relation gleichzusetzen ist. Die abbildende Relation einer Fotografie, die insbesondere in der Porträtfotografie zum Tragen kommt, ist wiederum maßgeblich von der Bildschöpferin/vom Bildschöpfer abhängig und zeichnet sich durch unterschiedliche Formen der fotografischen Inszenierung und Komposition aus. Epistemisches Wissen generiert sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem indexikalischen Gehalt eines fotografischen Bildes diesen Gedanken folgend vor allem im Rahmen der Bewusstmachung des Unterschieds zwischen konstruktivistischen und realistischen Anteilen eines Bildes. Somit kann sich die Beschauerin/der Beschauer einerseits der Existenz eines Zustandes vergewissern, muss jedoch im Zuge der Zuschreibung des Wahrheitsgehalts einer Fotografie auf die subjektive Positionierung sowie auf mögliche Verfälschungsstrategien der Bilderzeugerin/des Bilderzeugers achten. In Bezug auf Maiers Selbstporträts würde dies bedeuten, dass die Interpretin/der Interpret ihrer Fotografien durch bzw. über das Bild vermittelte Inhalte zwar als Beleg beispielsweise für Maiers Vorliebe, sich mit weiblichen Personen im Selbstporträt in Beziehung zu setzen, auffassen
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kann, die unterschiedlichen Frauen sind ja deutlich im Bild erkennbar. Gleichzeitig muss sie/er jedoch berücksichtigen, dass die Aufnahme der Frau und ihre eigene Positionierung innerhalb des Bildraums intendiert war und Maier den Bildausschnitt bewusst so gewählt haben könnte und vermutlich hat. Diese Form der Inszenierung führt uns wiederum zur symbolischen Funktion des Bildes, deren Bedeutung nicht ausschließlich durch »bloße Anschauung« (Herder 2017, S. 164), sondern u.a. unter Anwendung konventionalen Hintergrundwissens erschließbar wird. Im Fall von Maiers Arbeiten könnte diesbezüglich die Frage aufgeworfen werden, welche Bedeutung(en) beispielsweise die fotografische Bezugnahme auf weibliche Sujets wie einen Frauenschuh in sich trägt. Wir können als Bildbetrachter/innen zwar davon ausgehen, dass es wahr ist, dass Maier einen Frauenschuh fotografierte und wir können bestimmte Eigenschaften des Schuhs aus dem Bild herauslesen (ikonischer und indexikalischer Verweis), der Grund für ihre Motivauswahl bringt uns jedoch zu seinem symbolischen Gehalt, der im Fall von Maier durch den Zeitgeist der jeweiligen Epoche, die Stellung der Frau (Zeit- und Kulturkontext) sowie die gewählte Kunstgattung erschlossen werden kann. In diesem Fall kann propositionales Wissen und Wissen durch Bekanntschaft mit ikonologischem Wissen, d.h. Wissen über die Darstellungsformen und Symbolisierungsstrategien der Bildproduzentin/des Bildproduzenten angereichert werden. Im Bereich des ikonologischen Wissens offenbart sich zusammengefasst »des Künstlers Beziehung zur Welt der visuellen Wirklichkeit, zu den bereits bestehenden Formen und der Art und Weise ihrer Artikulation durch Zeichen, zum Ausdrucksmedium und insbesondere sein Vorschlag einer neuen Form und Möglichkeit der Bezeichnung« (Muhovič 1998, S. 24f). An dieser Stelle sei nochmals betont, dass sich die vorliegende Arbeit nicht in erster Linie für die Intention der Künstlerin interessiert, sondern das Werk im zeitlichen Kontext, in dem es entstanden ist, betrachtet sowie seine Rezeption thematisiert und damit die rezeptionsästhetische Perspekive in den Fokus nimmt. Der Bezug auf die symbolische Bedeutung von Maiers Fotografien erfolgt daher vor dem Hintergrund des Erfahrungshorizonts der Bildbeschauerin, hier respektive der Autorin, sowie durch Vergleiche mit den Arbeiten anderer Foto-Künstlerinnen des 20. Jahrunderts, die zu Geschlechterfragen augenscheinlich Stellung bezogen haben. Nun bietet das Bild zwar die vorangehend diskutierten Möglichkeiten der Informationsweitergabe, jedoch ist noch nicht gesagt, ob die Bildbe-
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trachterin/der Bildbetrachter daraus Wissen erschließen kann, denn das Verstehen von Bildern erfordert sowohl perzeptuelle als auch konzeptuelle Analysefähigkeiten, die im Zuge eines flüchtigen Blicks häufig noch nicht zur Anwendung kommen. Nach Muhovič (ebd., S. 17) genügt uns in der alltäglichen Konfrontation mit Bildmaterial oft sehr wenig und wir verspüren »keine Notwendigkeit, die visuelle Wahrnehmung noch irgendwie zusätzlich ›grammatikalisch‹, d.h. strukturell und epistemisch zu interpretieren«, wodurch der epistemische Gehalt eines Bildes häufig nicht ausgeschöpft wird. Nachfolgend wird nun auf das für diese Arbeit herangezogene Analyseinstrument von Ralf Bohnsack (2011) Bezug genommen. Dies zeichnet sich dadurch aus, dass es hinsichtlich der zuvor thematisierten Wissensformen den Schwerpunkt auf die Ikonik, d.h. die formale Komposition eines Bildes legt, um dem Eigensinn und der Eigengesetzlichkeit von Bildern in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Bohnsacks Ansatz ist daher sehr nah am Werk orientiert. Sein Bezug auf die praxeologische Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1980) erweitert das bereits angeführte Spektrum des durch ein Bild vermittelten proportionalen und ikonologischen Wissens um die Facette des impliziten Wissens, das durch die Analyse der Formalstruktur eines Bildes zum Vorschein kommen soll und wichtige Erkenntnisse über habitualisierte bzw. inkorporierte Wissensbestände der/des vor und hinter der Kamera anwesenden Bildproduzentin/Bildproduzenten liefert. Die methodologische Basis der dokumentarischen Bildanalysemethode und die Beschreibung der Arbeitsschritte im Zuge der ikonologisch-ikonischen Annäherung an das Bildmaterial werden im Nachfolgenden vorgestellt.
4.2 ZUR IKONOLOGISCH-IKONISCHEN BILDANALYSEMETHODE NACH RALF BOHNSACK Erkenntnistheoretische Fragestellungen zum Medium Bild kreisen in kunsthistorischen (vgl. Imdahl 1979), semiotischen (vgl. Barthes 1990) oder philosophischen (vgl. Foucault 1971) Diskursen um die Erschließung der Eigenlogik des Bildes, das als »ein nach immanenten Gesetzen konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System« (Imdahl 1979, S. 190) zu betrachten ist. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit visuellen
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Dokumenten und ihren Interpretationsmöglichkeiten wird in wissenschaftlichen Herangehensweisen häufig ihre Beziehung zur Text-Sprache herausgearbeitet und entweder auf die Unvereinbarkeit von Text-Sprache und Bild-Sprache oder auf die Unerlässlichkeit von Text-Sprache zur Verständigung über das Bild hingewiesen. Bohnsack kritisiert in diesem Zusammenhang die vorherrschende Prämisse der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit und die damit einhergehende Textfixierung qualitativer Methodologien, wodurch die Ikonizität als Modus der Verständigung tendenziell ausgeklammert wird (vgl. Bohnsack 2011, S. 26f). Für Bohnsack (vgl. ebd., S. 25) ist der Stellenwert des Bildes gegenüber dem Textmaterial trotz der unverkennbaren gesellschaftlichen Bedeutung von visuellen Repräsentationen, insbesondere im Kontext wissenschaftlicher Verfahren, die sich dem empirischen Erkenntnisgewinn verschrieben haben, ein marginaler geblieben. Die Verständigung über das Bild, die vermeintlich durch das Nadelöhr des Textes muss, wird nach Bohnsack (vgl. ebd., S. 28) der Verständigung durch das Bild als eine Auseinandersetzung jenseits von Text-Sprache nach wie vor vorangestellt. Für Bohnsack (vgl. ebd.) verdeutlicht sich dadurch, dass sich der häufig postulierte »iconic turn« (Böhm 1994) oder »pictorial turn« (Mitchell 1994; 1997) im Bereich der empirischen Sozialforschung weder durchsetzen noch etablieren konnte und den Eigensinn von Bildhaftigkeit nach wie vor infrage stellt. Ausgehend von den bildinterpretativen Herangehensweisen Michel Foucaults (1971), Erwin Panofskys (1978), Max Imdahls (1979) und Roland Barthes’ (1990) und deren erkenntnistheoretischen Diskussionen um die Aussagekraft visueller Dokumente wendet sich Bohnsack mit Verweis auf die wissenssoziologische Fundierung seiner methodologischen Ausrichtung den Formen der Verständigung durch das Bild zu. Für ihn sind Bilder nicht nur Repräsentationen von Wirklichkeit, sondern im Sinne handlungstheoretischer Ansätze ebenso an ihrer Herstellung beteiligt und daher ein wesentliches Element der »Verständigung und des Lernens, der Sozialisation und der Bildung« (Bohnsack 2011, S. 28). Bohnsack bezieht sich in seiner Argumentation auf die mentale Bildhaftigkeit sozialer Orientierungen und thematisiert die Erinnerung und Sedimentation von sozialen Situationen in Form von mentalen Bildern (vgl. ebd., S. 28). Für ihn geben mentale Bilder beispielsweise Aufschluss über die Interpretation des körpersprachlichen Ausdrucks des Gegenübers, welcher der Sprache vorgeordnet ist (vgl. ebd.). Für ihn ist die »Verständigung im Medium des Bildes, d.h. im
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Medium von mentalen Bildern, […] weitgehend eine vorreflexive, eine implizite. Es handelt sich um eine Verständigung, die sich unterhalb der begrifflich-sprachlichen Explizierbarkeit vollzieht.« (ebd., S. 29) Bohnsack orientiert sich in seinen Annahmen zur Sinnstruktur des Bildes dabei an Karl Mannheim (1980) und seinen Gedanken zur mimetischen Aneignung von Szenerien und Gebärden, die als »atheoretische Wissensbestände« (ebd.) unser Handeln strukturieren und habitualisieren. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Bildmaterial zeigen sich inkorporierte, atheoretische Wissensbestände an der Art und Weise der Visualisierungsformen der abbildenden Bildproduzentin/des abbildenden Bildproduzenten oder der visuellen Inszenierung der abgebildeten Bildproduzentin/des abgebildeten Bildproduzenten. Hier steht im Gegenzug zum Was (folglich der Frage, was etwas ist) die Frage nach dem Wie im Vordergrund, daher wie etwas aufgegriffen oder dargestellt wird. Diese Frage nach einem visualisierten modus operandi, folglich dem Habitus einer Akteurin/eines Akteurs, wird bei der bildtheoretischen Auslegung nach Erwin Panofsky im Wechsel von der ikonografischen zur ikonologischen Bildbetrachtung ersichtlich, indem Panofsky (1978, S. 40) im zweiten Schritt seiner Analyse auf »die eigentliche Bedeutung«, folglich dem »Wesenssinn« oder »Dokumentsinn« (Panofsky 1932, S. 115) verweist. Diesen Sinn generiert Panofsky aus den »Analogien und Homologien unterschiedlicher Medien, unterschiedlicher Darstellungsgattungen oder Kunstgattungen« (Bohnsack 2011, S. 31). Panofskys Bezug auf Werke aus der Literatur, Malerei, Architektur oder Musik im Rahmen der Analyse einer visuellen Repräsentation führte Max Imdahl zur Frage, wo der Eigensinn des Bildes bei Panofskys umfassender Bezugnahme auf andere Medien jedoch noch zu finden sei. Nach Bohnsack (ebd., S. 31) war Panofsky nicht »primär an jenen Sinngehalten interessiert, die nur durch das Bild, sondern an jenen, die unter anderem auch durch das Bild zu vermitteln sind«. Im Unterschied zu Panofskys Analysemodell, das Bohnsack (2006, S. 47) als das wohl »anspruchsvollste und zugleich einflussreichste Modell der Bildinterpretation« im Bereich der kunsthistorischen Bildanalyse ausweist, legt er dennoch in Anlehnung an Max Imdahls Kritik an Panofskys reduzierter Berücksichtigung der formalen Komposition eines Bildes einen besonderen Fokus auf das von Imdahl (1996b, S. 304) eingeführte Konzept des »sehenden Sehens«. Im Gegenzug zum »wiederkehrenden Sehen« (ebd.) geht das »sehende Sehen« (ebd.) von der Ganzheitlichkeit des Bildes bzw. dem Bildfeld aus und reduziert es nicht auf
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einzelne Gegenständlichkeiten der Außenwelt. Damit rückt Imdahl die Analyse der formalen Komposition eines Bildes, die er als »Ikonik« bzw. »ikonische Interpretation« bezeichnet, in den Vordergrund und setzt dabei auf einer vor-ikonografischen bzw. denotativen Sinnebene an. Bohnsack bezieht sich in seinem Analysemodell dabei auf Imdahls dreigliedrige Rekonstruktionsschritte der Formalstruktur eines Bildes und unterscheidet im Rahmen der reflektierenden Interpretation zwischen der »planimetrischen Ganzheitsstruktur«, der »szenischen Choreographie« und der »perspektivischen Projektion« (Bohnsack 2006, S. 38) eines Bildes (vgl. Tab. 1). Im letzten Fall, im Rahmen der perspektivischen Projektion, wird der Habitus der abbildenden Bildproduzentin/des abbildenden Bildproduzenten durch die Analyse ihrer/seiner gewählten Perspektive und Sujet-Fokussierung eröffnet. In diesem Analyseschritt wird die jeweilige Konstruktion von Räumlichkeit und Körperlichkeit untersucht, indem Gegenstände und Personen in ihrer räumlichen und körperlichen Repräsentation im Bild identifiziert werden. Im Zentrum steht nach Bohnsack (2011, S. 57f) die Frage, »welche Personen und sozialen Szenerien durch den abbildenden Bildproduzenten, durch das Kameraauge sozusagen, in Form des Fluchtpunktes fokussiert und somit ins Zentrum des sozialen Geschehens gerückt werden«. Bohnsack unterscheidet hier zwischen Achsen- und Frontalperspektive, wobei letztere u.a. in die Parallelperspektive (ein Fluchtpunkt), die Schrägperspektive (zwei Fluchtpunkte) und die Luftperspektive (drei Fluchtpunkte) unterteilt werden kann. Der Einbezug einer kompositionsanalytischen Herangehensweise (z.B. Perspektivität, Fluchtpunkt) erscheint jedoch nur dort sinnvoll, wo nicht ausschließlich das Sujet, sondern die abbildende Bildproduzentin/der abbildende Bildproduzent und ihre/seine gewählte Perspektivität (z.B. Froschperspektive) Gegenstand der Untersuchung sind. Im Zuge der Analyse der szenischen Choreografie wird die »szenische Konstellation der in bestimmter Weise handelnden oder sich verhaltenden Figuren in ihrem Verhältnis zueinander« (Imdahl 1996a, S. 19) herausgearbeitet. Hierbei verlagert sich der Fokus von der abbildenden zur abgebildeten Bildproduzentin/vom abbildenden zum abgebildeten Bildproduzenten. Bewegungen, Gebärden, Blickbeziehungen bzw. die räumliche Positionierung der abgebildeten Figuren rücken in den Analysefokus. Dabei werden die Figuren im Handlungsvollzug, folglich agierend und reagierend, dargestellt, was nach Imdahl (ebd., S. 26) einen »szenischen Aktualitätsausdruck« vermittelt. Dieser beeinflusst maßgeblich das Verhältnis der Beschaue-
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rin/des Beschauers zum Bild, da ohne ihn »die Szene jeder Einfühlung oder auch jeder Fiktion von miterlebter Augenzeugenschaft des Betrachters grundsätzlich verschlossen« bleibt (ebd.). Tabelle 1: Übersicht zur Bildanalysemethode nach Bohnsack
(1) Formulierende Interpretation
Vor-ikonografische Ebene
Beschreibung der sichtbaren Gegenstände, Figuren, Phänomene Bildvordergrund – Bildmittelgrund – Bildhintergrund (z.B. Alter, Bekleidung, Gebärden)
Ikonografische Ebene
Beschreibung der sichtbaren Handlungen mit Fokus auf kommunikativ-generalisierende (stereotypisierende) Wissensbestände (z.B. Typengeschichte und Stilgeschichte)
(2a) Reflektierende Interpretation (Formale Komposition)
Perspektivische Projektion
Szenische Choreografie Planimetrische Ganzheitsstruktur
Konstruktion von Räumlichkeit und Körperlichkeit Zentralperspektive (z.B. Frontalperspektive, Schrägoder Übereckperspektive, Untersicht, Aufsicht), Achsenperspektive, Horizontlinie, Bildmittelachse, perspektivisches Zentrum (= Fluchtpunkt) Soziale Bezogenheit der abgebildeten Figuren Blicke, Bewegungen, Gebärden, räumliche Positionierung zueinander Formale Konstruktion des Bildes in der Fläche Linien in der Gesamtkomposition, Kreise, Ellipsen, Dreiecke, Formen im Bild
(2b) Reflektierende Interpretation (Zusammenführung)
Ikonologisch-ikonische Interpretation
Zusammenführung der Beobachtungen aus der formulierenden und reflektierenden Interpretation und Bezug auf die symbolische Bedeutung der bildspezifischen Inhalte und der bildimmanenten Formalstruktur
Für eine sozialwissenschaftliche Fundierung der Untersuchung gibt der szenische Aktualitätsausdruck Auskunft über den jeweiligen Modus sozialer Bezogenheit, der sich in dem spezifischen Modus des Sich-zueinander-
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in-Beziehung-Setzens manifestiert (vgl. Bohnsack 2001, S. 80). Bohnsack (vgl. 2011, S. 39) konstatiert jedoch, dass die Analyse der szenischen Choreografie ebenso auf einer vor-ikonografischen Ebene zu erfolgen habe und folglich hohe Anforderungen an eine wertfreie Beschreibung und Charakterisierung der körperlichen Positionierung der abgebildeten Figuren stellt. Für ihn (vgl. ebd.) tritt der Analyseschritt der szenischen Choreografie aufgrund der verminderten geometrisch und mathematisch formalisierbaren Auffälligkeiten folglich hinter die bildspezifischen Zugänge zur Perspektivität und Planimetrie. Der letzte Analyseschritt im Rahmen der reflektierenden Interpretation, die planimetrische Komposition, führt uns zur Ganzheitsstruktur eines Bildes, die sich ausschließlich auf das Bildfeld konzentriert und die Totalität des im Bild Dargestellten zu erfassen versucht. Dabei wird in Anlehnung an Imdahl (1996a, S. 21) die Organisationsform der »einzelnen Bildwerte durch [ihre] Größe, Form, Richtung und Lokalisierung im Bildfeld« ermittelt und auf das Bildformat bezogen. Dadurch sind die Einzelelemente des Bildes nicht isoliert, sondern grundsätzlich »im Ensemble der anderen Elemente zu interpretieren, wohingegen wir im Common Sense dazu neigen, einzelne Elemente des Bildes herauszugreifen« (ebd., S. 41). Imdahl zufolge (vgl. 1979, S. 190) führt uns die Auseinandersetzung mit der Planimetrie des Bildes zu seiner Eigengesetzlichkeit, welche nur durch das »sehende Sehen« (Imdahl 1996b, S. 304) erschlossen werden kann. Im Gegenzug zu den Analyseschritten der perspektivischen Projektion und szenischen Choreografie, die ein »wiedererkennendes, auf die gegenständliche Außenwelt bezogenes Sehen« (Imdahl 1996a, S. 26) erfordern, geht die planimetrische Komposition »nicht von der Außenwelt, sondern vom Bildfeld aus, welches sie selbst setzt« (ebd.). Die planimetrische Komposition in ihrer »systemischen Eigengesetzlichkeit« ist für Bohnsack (2011, S. 40) folglich die Basis jedweder ikonischen Interpretation und sollte, unabhängig von der ikonografischen Beschreibung, den ersten Schritt im Zuge der Annäherung an ein Bild darstellen. Diese Form der Erschließung des Bildes eröffnet einen »systematischen Zugang zur Eigengesetzlichkeit des Erfahrungsraums der Bildproduzent(inn)en« (ebd., S. 41). Imdahl (1996a, S. 107) bezieht sich dabei u.a. auf die »Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen«, das als das Spezifikum des Ikonischen ausgewiesen werden kann und aus der Komposition des Bildes in der Fläche gelesen wird. Bohnsack (vgl. 2011, S. 36) erläutert dazu ein Beispiel aus einem Forschungsprojekt zum Habitus von
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Familien und erklärt, dass er wesentliche Bereiche ihres Erfahrungsraums und Milieus aus den in der planimetrischen Komposition vorzufindenden Übergegensätzlichkeiten herauslesen konnte, die sich in vorliegendem Beispiel an dem »Spannungsverhältnis zwischen dem Charakter des Provisorischen und Ungesicherten und der (sozialen) Isolation der abgebildeten Gruppe einerseits und der Rigidität und Strenge (in der planimetrischen Gesamtkomposition, aber auch in Mimik, Gestik und Körperhaltung) andererseits« (ebd.) zeigt. Die bildimmanente Ambiguität ergibt sich aus den planimetrischen Eigenheiten des Bildes. Für Bohnsack (ebd., S. 38) erschließt sich dementsprechend die »tiefer gehende Semantik […] erst auf dem Weg über die Rekonstruktion der Gesamt-Komposition, die […] wiederum an die Rekonstruktion der Formal-Komposition des Bildes gebunden ist«. Hieran schließt Klaus Mollenhauers (1983, S. 179) Überzeugung, »dass bereits nur die formalästhetischen Charakteristika inhaltliche Hinweise enthalten. In linguistischer Metapher gesprochen: Die Bild-Syntax zeigt schon der Bildsemantik ihren Weg.« Im Bereich der formulierenden Interpretation orientiert sich Bohnsack an Panofsky und seiner ikonografischen Herangehensweise, die das Was eines Bildes zu erschließen versucht. Panofsky unterscheidet dabei zwischen der vor-ikonografischen und der ikonografischen Ebene, folglich den auf dem Bild sichtbaren Gegenständen bzw. Figuren und Phänomenen sowie den identifizierbaren Handlungen (vgl. Bohnsack 2006, S. 53). Da den jeweiligen Handlungen jedoch häufig Motive (»Um-zu-Motive«) und Intentionen unterstellt werden (z.B.: Hutziehen wird als Grüßen gedeutet) und daher den Zuschreibungen vonseiten der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters ausgesetzt sind, rät Bohnsack zu einer Ausklammerung des je fall- oder milieuspezifischen Wissens um das Dargestellte, das er als »konjunktives Wissen« bezeichnet (ebd.). Trotz des Wissens um biografische Informationen und Besonderheiten der abgebildeten Personen ist dieses Wissen um den je besonderen Fall im Zuge der Bildinterpretation zu suspendieren (vgl. Bohnsack 2011, S. 35). Institutionalisierte Wissensbestände, die beispielsweise auf das allgemeine Wissen um gesellschaftliche Rollenbeziehungen und -gefüge (z.B. Institution: Familie) verweisen und als »kommunikativgeneralisiertes Wissen« (Bohnsack 2006, S. 53) definiert werden, dürfen in die Analyse aufgenommen werden. Sprachlich-textliches Vorwissen im Rahmen der formalisierenden Bildinterpretation findet daher »lediglich insoweit Berücksichtigung, als es sich um die kommunikativ-generalisierten
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Wissensbestände« (ebd.) handelt. Die vor-ikonografische Analyse verlangt demzufolge nach einer distanzierten und deskriptiven Annäherung an das Bild und erfordert einen strengen Blick im Rahmen der detailgenauen Bildbeschreibung von Bildvorder-, -mittel- (sofern vorhanden), und -hintergrund. Im Rahmen der ikonografischen Analyse stehen in Anlehnung an Panofskys (1975) Bezeichnung der »Stilgeschichte« und »Typengeschichte« unterschiedliche Stilelemente (z.B. Mode des abgebildeten Sujets) und stereotypisierendes bzw. verallgemeinerbares Wissen (z.B. Art der Fotografie) im Vordergrund. Nach den Schritten der formulierenden und reflektierenden Interpretation mit besonderer Berücksichtigung der formalen Kompositionsvariationen eines Bildes schließt Bohnsack die ikonologisch-ikonische Interpretation an. In dieser Phase der Analyse führt er die Beobachtungen und Erkenntnisse, die im Rahmen der formulierenden und reflektierenden Interpretation erschlossen werden konnten, zusammen und ergänzt diese durch den Bezug auf den symbolischen Gehalt des Bildes und der abgebildeten Gegenstände und Objekte. 67 Indem Homologien herausgearbeitet werden »zwischen der (formalen) Sinnstruktur des Darstellungsprozesses und jener (inhaltlichen) Sinnstruktur, die Gegenstand der Darstellung ist« (Bohnsack 2006, S. 50), wird eine »wechselseitige Validierung von Form und Inhalt, von propositionaler und performativer Struktur« (ebd.) gewährleistet, die ein Oszillieren zwischen Teilen des Bildes und seiner Ganzheitlichkeit im Modus der Simultaneität erforderlich macht. Aus den vorgefundenen Stimmungen, Atmosphären, den emotionalen Färbungen bzw. den vermittelten Motiven, die durch das Bild zum Ausdruck kommen, leitet er mögliche Bedeutungen ab, die jedoch stets gebunden an den Erfahrungshorizont der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters bleiben. Die Bildbetrachterin/Der Bildbetrachter ist demzufolge als Interpretin/Interpret in ihrer/seiner Wahrnehmung auf Vergleichshorizonte angewiesen, die in gewissen Stadi-
67 Ralf Bohnsack (vgl. 2011) verweist in seinen theoretischen Ausführungen zur dokumentarischen Bildanalysemethode zwar auf den Schritt der ikonologischikonischen Interpretation, expliziert jedoch nicht, was er hierunter im Detail versteht. Die nachfolgende Beschreibung bezieht sich daher auf die Beobachtungen, die die Autorin der vorliegenden Arbeit aus der Betrachtung der Beispielanalysen im Rahmen der forschungspraktischen Durchführung der Methode ableiten konnte.
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en der Analyse ebenso implizit bleiben (können) (vgl. ebd., S. 51). Ähnlich argumentiert Benita Herder (vgl. 2017, S. 22) in Anlehnung an Wollheims (1980) Konzept des »Sehens von etwas als etwas«, indem Wahrnehmung als kontextgebundener und subjektiv bzw. perspektivisch geprägter Vorgang stets verwoben mit der Summe der Erfahrungen bleibt, die ein Mensch in seinem Leben gemacht hat. Für Herder (2017, S. 22) nimmt der Mensch daher alles, was er wahrnimmt, direkt in Bezug auf sich wahr: »Etwas ist vor mir, neben mir, größer als ich, kleiner als ich usw. Und andererseits setze ich alles, was ich wahrnehme, direkt in Bezug zu anderen Wahrnehmungen: Etwas ist größer als x, dunkler als x, ähnlich geformt wie x usw. Mit dieser Abhängigkeit von anderen Wahrnehmungen ist die Abhängigkeit von einem individuellen Kontext gemeint […].«
Aus den vorliegenden Gedanken kann abgeleitet werden, dass die Bedeutung, der Sinn bzw. die identifizierte Symbolik des Bildes in gleicher Weise auf den Erfahrungshorizont der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters verweisen, wie auf den der Bildproduzentin/des Bildproduzenten, der wiederum jeweils eingebettet in einen soziokulturellen Kontext mit spezifischer Raum- und Zeitqualität ist. Bohnsack (2011, S. 19) ist im Rahmen seiner dokumentarischen Bildinterpretation daran gelegen, »implizites Wissen zur Explikation zu bringen« und versucht dabei zu Orientierungsmustern vorzudringen, die bei den jeweiligen Akteurinnen/Akteuren, das heißt, bei den abbildenden und abgebildeten Bildproduzentinnen/Bildproduzenten, repräsentiert, jedoch (noch) nicht Gegenstand ihrer Reflexion geworden sind. Im Hinblick auf die forschungspraktische Umsetzung des vorliegenden Untersuchungsvorhabens könnte daraus geschlossen werden, dass die Inszenierungsformen von Vivian Maier im Rahmen ihrer fotografischen Selbstporträtierung sowohl auf bewusste Abbildungsstrategien verweisen, durch die Analyse der formalen Struktur ihrer Fotografien jedoch ebenso zu vorreflexiven Mustern und Orientierungsrahmen vorgedrungen werden kann (die sich auf individuelle und kollektive Wissens- und Erfahrungsbestände beziehen), die erst ins Bewusstsein überführt werden müssen. Die theoretische Annährung und Analyse des Habitus einer Bildproduzentin/eines Bildproduzenten ist als Wissenssoziologie des Körpers zu verstehen (vgl. Meuser 2007, zit. in ebd., S. 16), der sich als implizites Wissen bzw. als inkorporierte bzw. automati-
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sierte Praktiken in verschiedenen Bewegungsabläufen manifestiert (hat) und beispielsweise im Rahmen der Analyse der Körpersprache zum Vorschein gebracht werden kann. Im vorliegenden Fall auf zweifache Weise: einerseits durch die körperlichen Darstellungsformen bzw. Posen der abgebildeten Vivian Maier und andererseits durch ihre fotografische Handlung als abbildende Bildproduzentin. Für Bohnsack ist eine Verständigung im Medium des Bildes per se vorreflexiv und implizit sowie »eingelassen in die stillschweigenden oder ›atheoretischen‹ Wissensbestände, wie sie bei Karl Mannheim (1980) genannt werden« (Bohnsack 2011, S. 29). Atheoretische Wissensbestände strukturieren vor allem »das habituelle, das routinemäßige Handeln und werden ganz wesentlich erlernt im Modus der Verinnerlichung bzw. der ›mimetischen‹ Aneignung […] von sozialen Szenerien, von Gebärden, Gestik und Mimik« (ebd.). Für die vorliegende Untersuchung erscheint demzufolge die eingehende Analyse des Gesichtsausdrucks und der Körperhaltung der porträtieren Künstlerin interessant, um Aufschluss über die mimetische Aneignung androzentristischer Ordnungs- und Hierarchisierungsmuster zu erhalten. Dadurch verdeutlicht sich, dass sich die Welt »in den Dingen, den Räumen und auch in den Körpern als materielle und sensuelle Erfahrung offenbart« (Pilarczyk & Mietzner 2005, S. 121), welche durch visuelle Quellen zugänglich gemacht werden kann. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ralf Bohnsack seine dokumentarische Methode der Bildinterpretation auf der Grundlage der Wissenssoziologie Karl Mannheims fundiert, auf die sich ebenso Erwin Panofsky in seinen Ausführungen zur bildbezogenen Analyse von Kunstobjekten stützt. Im Sinne Max Imdahls möchte vorliegendes Verfahren durch die Analyse der ästhetischen Form und Struktur des Bildes mit besonderem Fokus auf seine planimetrische Komposition den von Seiten der Kunstgeschichte, Semiotik und Philosophie formulierten Ansprüchen, den Eigensinn des Bildes zu fassen, gerecht werden (vgl. Bohnsack 2011, S. 55). Folglich verbindet die dokumentarische Methode Ansätze einer praxeologischen Wissenssoziologie mit dem Zugang eines kunstinterpretativen Verfahrens unter besonderer Berücksichtigung ikonischer Elemente, was Bohnsack (2006, S. 55) an nachfolgendem Zitat deutlich zum Ausdruck gebracht hat:
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»Indem die dokumentarische Bildinterpretation die Rekonstruktion der formalen – allen voran der planimetrischen Komposition zum Ausgangspunkt und Grundgerüst der reflektierenden Interpretation nimmt, nähert sie sich der Ikonik von Imdahl, der hierin wesentlich den Unterschied seiner ikonischen Interpretation zur ikonologischen Interpretation von Panofsky gesehen hat. Da die dokumentarische Bildinterpretation aber auch der starken sozialwissenschaftlichen Relevanz der ikonologischen Interpretation von Panofsky verbunden bleibt, kann man sie auch als ikonologisch-ikonische Interpretation bezeichnen.«
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Nah am Werk: Maiers Bilder sprechen lassen
Die von Bohnsack formulierten Potenziale der dokumentarischen Bildanalyse, die sich in erster Linie der Denkfigur von Max Imdahl (1996a) wie auch ansatzweise dem bildanalytischen Verfahren von Erwin Panofsky (1978) verschrieben hat, erwiesen sich rückblickend für das Bildverständnis von Maiers Œuvre als besonders bedeutsam. Die formulierende Interpretation und die damit in Zusammenhang stehende sorgfältige Beschreibung der auf dem Bild sichtbaren Gegenstände und Handlungen forderte zu einem genauen Betrachten auf, wodurch bildspezifische Eigenwilligkeiten erkannt und analysiert werden konnten. Die komplexe Komposition von Maiers Spiegel- und Reflexionsporträts erschwerte in einzelnen Fällen die eindeutige Unterscheidung zwischen Bildvorder-, -mittel-, und -hintergrund, sodass auf Abweichungen bzw. Einordungsschwierigkeiten nachfolgend jeweils dezidiert hingewiesen wird. Die in Anlehnung an Imdahls (1996b, S. 304) Konzept des »sehenden Sehens« ausgerichtete Analyse der Planimetrie erwies sich als weiterer wesentlicher Schritt im Zuge der formorientierten Annäherung an Maiers Werk. Wesentliche Elemente in Maiers Bildern fanden ihren Ausdruck in den Ambiguitäten und Übergegensätzlichkeiten (vgl. Bohnsack 2011, S. 36), die im Rahmen der planimetrischen Kompositionsanalyse herausgearbeitet werden konnten. Daher wird auch im Nachfolgenden nicht auf die formulierende Interpretation im Rahmen der Bildbeschreibung und das Anführen einer ausführlichen Analyse der planimetrischen Komposition verzichtet. Topoi, die sich im Rahmen der formbezogenen Interpretation als relevant herausstellten bzw. wiederkehrend auftauchten, wurden kursiv gesetzt, Gedankenschritte in bzw. durch Grafiken visualisiert. Hierzu wurden so-
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wohl die sich in den Bildern abzeichnenden wie auch imaginativen Formelemente (z.B. Goldener Schnitt, Körpersymmetrien etc.) zum Zweck der Nachvollziehbarkeit durch Linien markiert. Das jeweils besprochene Bild bleibt auch hier ungezeigt und damit unsichtbar, wodurch jeweils nur das im Rahmen der Analyse Markierte den leeren Rahmen füllt. Im Bereich der planimetrischen Komposition, die die formale Rekonstruktion des Bildes in der Fläche vorsieht, konnte nicht immer eine einheitliche auf das Bild bezogene Ganzheits- bzw. Simultanstruktur im Sinne einer bildspezifischen Totalität ausfindig gemacht werden. Maiers Fotografien zeichnen sich vor allem durch die Zusammenführung bzw. Kombination unterschiedlicher Formelemente aus, sodass waagrechte und senkrechte Linien wiederkehrend von Dreiecken und Rechtecken, beispielsweise geformt von der Körpersymmetrie der abgebildeten Bildproduzentinnen, durchbrochen werden. Die Ergebnisse der planimetrischen Analyse sind zudem von der Kreativität der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters im Kontext des Formsehens abhängig. Je nachdem, welche Bezugspunkte die Betrachterin/der Betrachter für die planimetrische Komposition heranzieht, ergeben sich abweichende Formen, sodass die Phase des »sehenden Sehens« (Imdahl 1996b, S. 304) zumindest in Ansätzen von der subjektiven Wahrnehmung der Betrachterin/des Betrachters beeinflusst wird. Die in Anlehnung an Panofsky (1978) vorgenommene ikonologische Betrachtung von Maiers Fotografien schaffte im Sinne eines »wiedererkennenden Sehens« (Imdahl 1996b, S. 304) einen Zugang zu Maiers stilistischen Präferenzen und Symbolisierungsformen, welche im letzten Schritt der Einzelbildanalyse bereits andeutungsweise thematisiert werden und in Kapitel 6, im Zuge der Kontextualisierung von Maiers Werk innerhalb gendertheoretischer Ansätze, sodann in ihrer ganzen Tragweite vorgestellt werden. Im Schritt der ikonologischen Annäherung an Maiers Bilder bestätigte sich aufgrund der Kontextgebundenheit künstlerischer Arbeiten die Notwendigkeit einer Einbettung von Maiers Œuvre in den historischen Kontext, um es innerhalb eines symbolischen Ordnungssystems verorten zu können und damit einem möglichen Vorwurf des hypothetischen Charakters vorliegender Bildanalysen und der Gefahr der Überinterpretation entgegenzuwirken. Für Ulrike Pilarczyk (2006, S. 230) gleichen »Fotografien ohne Kontext […] eher vagabundierenden Zeichenträgern, denn je nach Kontext können fotografische Bilder ihre Bedeutung wandeln«.
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Maiers Arbeiten wurden dezidiert nicht als Schnappschussfotografien und damit als alltagsweltliche Zufallsprodukte gelesen, sondern als Formen eines reflexiven, künstlerischen Selbstausdrucks, der sich zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der jeweiligen Zeit äußerte. Durch diese Herangehensweise verändern sich auch die Bedeutungshorizonte der Fotografien. Das von Bohnsack vorgeschlagene Ausmaß der ikonologischen Interpretation wurde daher durch die Einbettung der Analyseergebnisse im fotohistorischen Kontext des 20. Jahrhunderts in Kapitel 6 erweitert bzw. ausgebaut. Dennoch sei an dieser Stelle gesagt, dass sich die vorliegende Arbeit sehr nah am Werk orientiert und damit gerade der Formanalyse den überwiegenden Raum gewährt hat. Bevor in Abschnitt 5.3 sechs Bildanalysen exemplarisch vorgestellt werden, eröffnet Abschnitt 5.1 in Rückgriff auf Birgit Richards (2014) Konzept der Schlagbildanalyse einführende Überlegungen zur Auswahl des Untersuchungskorpus. Anschließend werden im Abschnitt 5.2 Schritte der Kategorienbildung erläutert und die erwählten Kategorien zur besseren Orientierung im Überblick beschrieben.
5.1 BILDKORPUS UND ANALYSESCHRITTE IM ÜBERBLICK Die für die Analyse herangezogenen Selbstporträts entstammen der John Maloof sowie der Jeffrey Goldstein Collection und wurden aus Maloofs edierten Bildbänden Vivian Maier: Self-Portraits (2013) und Vivian Maier: Das Meisterwerk der unbekannten Photographin 1926–2009 (2014, in Zusammenarbeit mit Howard Greenberg) und dem von Richard Cahan und Michael Williams veröffentlichten Band Vivian Maier: Out of the Shadows (2012a) sowie dem von John Maloof und Howard Greenberg editierten Band Vivian Maier – Die Farbphotographien (2018) entnommen. Daraus ergibt sich ein öffentlich zugänglicher Bestand von über 100 Fotografien, die von den Herausgebern (im Zuge der Verwendung von Bildunterschriften) als Selbstporträts betitelt wurden und unverkennbar von Maiers Präsenz in Form eines Schattens oder einer Spiegelung zeugen. Bei einigen von Maiers Selbstporträts fehlen sowohl Orts- wie auch Zeitangaben. Auf Basis der vorhandenen Informationen zum Entstehungskontext der Fotografien kann jedoch eine ungefähre Zeitspanne von über 40 Jahren fotografi-
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scher Selbstporträtierung ausgemacht werden. Die ersten Fotografien mit zeitlichem Verweis beginnen in den frühen 50er Jahren und enden mit dem Jahr 1986. Maier hat während dieser vier Jahrzehnte mit unterschiedlichen Fotokameras, Bildformaten und -techniken experimentiert. Die Selbstporträts mit Ortsverweis wurden vorwiegend in (oder in der näheren Umgebung von) Chicago und New York geschossen und bilden mehrheitlich Straßenszenen ab. Die Auswahl der Bilder, ihre Präsentation und ihr Arrangement in den jeweiligen Bildbänden wurde von den Herausgebern vorgenommen und mit biografischen Informationen zu Maiers Leben und Wirken kontextualisiert. Für die vorliegende Untersuchung wurden aus dem rekrutierten Konvolut im Zuge der ersten kategorialen Zuordnung der Fotografien 68 Bilder für eine nähere Analyse auserwählt, aus denen wiederum sechs Schlüsselbilder für eine systematische Einzelbildanalyse herangezogen wurden. Diese Schlüsselbilder, die nach Birgit Richard (2004, S. 18) in Rückgriff auf Aby Warburg als »Schlagbilder« bezeichnet werden, sind »mit starker ästhetischer Ausstrahlung« (ebd.) ausgestattet. Für Gozalbez Cantó (2012, S. 74f) sind Schlagbilder immer einer größeren Gruppe von Bildern zuordenbar und weisen wesentliche Merkmale dieser im Vorfeld definierten Gruppe auf. Sie sind daher in ihren Worten als repräsentativ (im Sinne der thematisch-inhaltlichen oder formalen Ähnlichkeit mit allen anderen Aufnahmen im Bestand der jeweils definierten Gruppierung) zu werten. Hier ergeben sich Parallelen zum Prinzip der Fokussierung. Im Sinne der dokumentarischen Bildinterpretation geht Bohnsack (2011, S. 77) davon aus, dass sich die »Grundstruktur des Falles, d.h. der modus operandi oder Habitus der Bild-produzent(inn)en, […] grundsätzlich in all deren Produkten zu dokumentieren vermag – allerdings mehr oder weniger deutlich bzw. mehr oder weniger zugänglich«. Daher ist aus heuristischen Gründen eine Auswahl des Bildmaterials zu treffen, das sich entweder ›auf den ersten Blick‹ als aussagekräftig erweist oder sich durch Auffälligkeiten bzw. Vieldeutigkeiten im Hinblick auf markante Brüche oder Diskontinuitäten der Formalstruktur, der Performanz der abbildenden und gleichzeitig abgebildeten Bildproduzentin/des abbildenden und gleichzeitig abgebildeten Bildproduzenten und der gewählten Szenerie auszeichnet (vgl. ebd., S. 77). Ähnlich argumentieren Pilarczyk und Mietzner (2003, S. 28), wenn sie bei der Auswahl ihrer Fotografien nach einem »komprimierten Ausdruck, nach einer komplexen Darstellung« suchen, die »inhaltlich und formal etwas für
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den Referenzbestand Wesentliches, in der Aussage Substantielles enthält, etwas von dem wir außerdem hoffen, dass es uns Wege zu einer weiteren Erschließung weisen wird«. Nach dieser in Zügen intuitiv-geleiteten Auswahl eines Fotos mit hoher Aussagekraft, das auf das von Roland Barthes (1989, S. 35) benannte »punctum« verweist und sich folglich auf ein Bildelement bezieht, welches »wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor[schießt], um mich zu durchbohren«, geht Intuition allmählich in das eingehende Studium des Bildes und in eine systematische Analyse über. Für die vorliegende Untersuchung wurde dabei sowohl auf den initialen Aufforderungscharakter des Bildes (frei nach dem Motto: »Es sticht mir ins Auge!«), wie auch auf Ähnlichkeiten hinsichtlich der Grundstruktur und Merkmale der formulierten Kategorien geachtet. Das auserwählte Schlüsselbild soll exemplarisch für die Fotoauswahl der jeweiligen Kategorie stehen und diese auch vertreten können. Im Rahmen einer ersten Sichtung des Korpus wurden die Fotografien unter Berücksichtigung der gewählten Perspektivität, Kadrierung, planimetrischen Komposition und szenischen Choreografie nach abgebildetem Sujet bzw. Motiv und Thema geordnet und mit Schlagworten versehen. Aus dieser ersten Zuordnung erfolgte eine Gruppierung von insgesamt sechs Untergruppen, aus denen jeweils ein aussagekräftiges und gleichzeitig für die Gruppe repräsentatives Schlüsselbild für die Einzelbildanalyse herangezogen wurde. Die nach dem Prinzip der Fokussierung auserwählten Analysebilder wurden in Anlehnung an Bohnsacks Einzelbildanalyseverfahren auf ihren ikonografisch-ikonologischen Gehalt mit besonderem Fokus auf ihre formal-ästhetische Struktur untersucht und in Rückgriff auf Pilarczyks und Mietzners (vgl. 2003; 2005, S. 139) Gedanken zur seriell-ikonografischen Fotoanalyse im weiteren Verlauf mit den anderen Fotografien aus den jeweiligen Kategorien des Bestandes in Beziehung gesetzt. Das Einzelbild wurde folglich in die im Vorfeld zugeordnete Serie bzw. Gruppe rückgeführt, um die bereits gewonnenen Erkenntnisse zu validieren und im Zuge des Herausarbeitens von Unterschieden und Gemeinsamkeiten beispielsweise im Hinblick auf den Einsatz gestalterischer Mittel und die Wahl unterschiedlicher Formelemente gegebenenfalls mit weiteren Auffälligkeiten anzureichern. In einem nächsten Schritt wurden die gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen der Einzelgruppenanalyse innerhalb einer Kategorie mit
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den Ergebnissen der Analyse aus den sechs Kategorien zusammengeführt 68 und in einem letzten Schritt in ihrer Gesamtstruktur mit den fotohistorischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und genderrelevanten Fragestellungen in Beziehung gesetzt. Die Einzelbildanalysemethode nach Bohnsack wurde in der vorliegenden Arbeit folglich mit dem Verfahren der seriellikonografischen Analyse nach Pilarczyk und Mietzner (vgl. ebd.) kombiniert, woraus sich eine horizontale (Schlüsselbild in Bezug zu seiner Kategorie) und vertikale Analyseachse (Kategorien im Vergleich) ergaben.
5.2 KATEGORIENBILDUNG UND KATEGORISIERUNGSBEREICHE Im Zuge der Kategorisierung des Bildbestandes stellten sich Maiers stilistische Präferenzen hinsichtlich der gewählten Komposition bzw. Technik und der Form der Visualisierung als richtungsweisend heraus. Dementsprechend erfolgte anfänglich aufgrund der ermittelten Häufigkeit von Maiers Repräsentation als Schatten und Reflexion in Schaufenstern und Spiegeln eine Eingrenzung bzw. Kategorisierung in diese Richtung. Mit Bezug auf Maiers Spiegelungsporträts kann der Bildbestand unterteilt werden in Mehrfachreflexionen, in denen sich Maiers Körperkonturen in Schaufenstern sowie in darin angeordneten Spiegelflächen ›zeitgleich‹ bzw. durch die Anordnung mehrerer Spiegel mehrfach und mehrperspektivisch reflektieren, und Einfachreflexionen, bei denen Maier in einem Spiegel ihrer unmittelbaren Umgebung, vornehmlich in Badezimmern und Wohnzimmern, einfach gespiegelt auftaucht. Zudem wurde die vorgenommene Einordnung nach Bildkomposition und -technik durch eine thematische Eingrenzung in Bezug auf die Häufigkeit gewählter Sujets und Themen ergänzt. So fiel die Auswahl beispielsweise auf weiblich konnotierte Sujets in Form der Abbildung von Frauen bzw. weiblich konnotierter Gebrauchsgegenstände und
68 In der vorliegenden Arbeit wurde auf die Darstellung der zusammenführenden Analyse der sechs Schlüsselbilder mit den Bildern der jeweiligen Kategorie verzichtet, um Wiederholungen der Inhalte zu vermeiden und die Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten. Daher wird nach den exemplarischen Einzelbildanalysen auf das Anführen der seriellen Analyseergebnisse verzichtet und sogleich in die zusammenführende Gesamtinterpretation übergeleitet.
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Kleidungsstücke bzw. Accessoires, die Maier häufig in Beziehung zur Reflexion des Künstlerinnenkörpers in Spiegeln oder im Schaufensterglas setzte. Ihre Selbstporträts präsentierten sich im Bereich der Schattenporträts und Mehrfachreflexionen daher häufig als Beziehungsporträts. Die äußerst seltene Porträtierung ihrer Person ohne sichtbare Kamera im Bild wurde in ihrer Qualität als Rarität ebenso in die Analyse aufgenommen, wobei sich hier eine Verschmelzung der gewählten fotografischen Technik (Selbstauslöser) und des Motivs – Vivian Maier im Fokus, jedoch ohne Kamera – ergibt. Ebenso eine Ausnahme bilden jene Selbstporträts, bei denen Maier bildausfüllend in der Bildmitte zu sehen ist und ihre Umgebung eine geringfügig tragende Rolle einnimmt. Der Bestand wurde nach einer ersten Sichtung demzufolge in zweierlei Hinsicht kategorisiert. Einerseits in Bezug auf die Perspektive und Kameratechnik, die Maier wählte, und andererseits im Hinblick auf die Motive, die sie in Szene setzte. Daraus ergeben sich folgende sechs Kategorien, aus denen jeweils ein Schlagbild ausgewählt und anschließend einer eingehenden Analyse unterzogen wurde: Schattenporträts, Reflexions- und Spiegelporträts mit besonderem Fokus auf Mehrfachspiegelung, Reflexions- und Spiegelporträts mit besonderem Fokus auf Einfachspiegelung, kameralose bzw. kameradistanzierende Selbstporträts, Beziehungsporträts mit weiblich konnotiertem Sujet und selbstfokussierende Porträts, in denen die Künstlerin markant hervorsticht und im Fokus des Bildes steht. Schattenporträts Etliche Selbstporträts zeigen von der Sonne gezeichnete Formen und Konturen von Maiers Oberkörper. Einen besonderen Fokus legte Maier dabei auf die Präsentation ihres Kopfbereichs, der durch das Tragen von Hüten zu einer auffälligen Schattenform der Kopfpartie führte. In einigen ihrer Schatteninszenierungen wirft sich der dunkle Schatten ihres Oberkörpers über ein auf der Straße liegendes Objekt, das in Bezug auf seine Positionierung innerhalb der Schattendarstellung meist mittig angeordnet ist und von Maiers Schattenzeichnung gesäumt wird. Gleichzeitig lenkt diese Form der Anordnung die Aufmerksamkeit auf das von Maiers Schatten gerahmte Objekt. Ihre Umrisse ›betreten‹ das Bild meist von unten, was sich aufgrund der physikalischen Begebenheiten bei der Schattenentstehung wohl zwangsläufig ergab. Als Projektionsfläche dienten Wiesen, asphaltierte Straßen, Gehwege oder Hausmauern. Maiers Schatten nähert sich dabei
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einsamen Frauenschuhen, überkreuzten Frauenbeinen oder verwahrlost wirkenden Gegenständen, wie Zeitschriften, Werbeprospekten, Herbstlaub und altem Holz. Beziehungsporträts mit weiblich konnotiertem Sujet Eine merkliche Anzahl von Maiers öffentlich zugänglichen Straßenfotografien bildet Mädchen und Frauen in unterschiedlichen Lebenssituationen und -phasen ab und porträtiert weibliche Idiosynkrasien gepaart mit Maiers Gespür für die je eigenwillige Situationskomik. Auch wenn männlich konnotierte Sujets in Maiers Straßenfotografien keineswegs eine Ausnahme darstellen und wiederholt vorzufinden sind, zeigen sie sich in ihren Selbstporträts auffallend selten. Dafür verweisen Maiers Selbstporträts auf ihren Hang zur Insbildsetzung ihres eigenen Schattenbildes bzw. ihrer Körperreflexion und den Körpern oder Habseligkeiten (z.B. Frauenschuhe) feminin gekleideter Frauen, die sowohl im Fokus der Aufnahme stehen wie auch im Bildhintergrund, wenn auch nicht immer unmittelbar erkennbar, auftauchen. Maiers Selbstporträts präsentieren sich daher nicht selten als Beziehungsporträts, in denen sie die in femininen Posen abgelichteten weiblichen Sujets in Bezug zu sich selbst und ihren gewählten Formen der Selbstinszenierung zu setzen schien. Eine besondere Faszination üben dabei jene Bilder aus, in denen der Kontrast zwischen Maiers eigenwilliger ›Inszenierung‹ ihrer Person und der Darstellung des zur damaligen Zeit vorherrschenden weiblichen Schönheitsideals, verkörpert durch die von ihr abgelichteten Frauen, besonders deutlich hervortritt. Gekleidet in High Heels und Petticoat, das á la Audrey Hepburn gepuderte Gesicht geziert mit einem mondänen Hut, wurden feminin gekleidete Frauen Zielscheibe des Suchers der Kamera einer Fotografin, die unter anderem den Moment des Geschehens fotografisch verewigte, in dem sich ihr Blick mit dem der ›auserwählten‹ Frauen traf. Häufig auf der Straße, aber auch in Cafés bzw. Bekleidungsläden oder am Strand wählte Maier Frauen zum Gegenstand ihrer Selbstporträts. Selbstfokussierende Porträts Maiers Selbstbildnisse teilen den Bildraum häufig mit einem markant hervortretenden Objekt, welches von der Repräsentation bzw. Darstellung der Fotografin ablenkt. Auffallend ist dabei, dass Maier ihre Reflexionen bzw. Spiegelungen äußerst selten bildausfüllend und mittig aufgenommen hatte.
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Eine frontal und großflächig abgelichtete Maier ist folglich ebenso selten vorzufinden wie ein Bild ohne eine Kamera in ihren Händen. Dieser Kategorie wurden folglich all jene Selbstporträts zugeordnet, in denen sich Maier augenscheinlich in den Fokus der Aufnahme rückte und der Blick der Betrachterin/des Betrachters unweigerlich auf Maier fällt. Maiers Umgebung lenkt kaum bzw. nur geringfügig von der visuellen Verewigung der Urheberin ab, welche daher eher unaufgeregt im Bild in Erscheinung tritt. Zudem nimmt Maiers Bildnis in den Fotografien dieser Kategorie in seiner vertikalen Ausrichtung den Bildraum häufig fast gänzlich ein. Diesen Kategorisierungsmerkmalen entspricht ebenso eine Vielzahl an Maiers Schattenbildern, jedoch werden in diesen lediglich Konturen ihres Körpers sichtbar. Um von ›Fokussierung‹ sprechen zu können, ist von einer konkreten und detaillierten Darstellung des Künstlerinnenkörpers auszugehen. Reflexions- bzw. Spiegelungsporträts/Mehrfachspiegelung Auffallend an Maiers Selbstporträts ist die Fülle an Fotografien, in denen sich Maier in unterschiedlichen Glasflächen mehrfach gespiegelt zeigt. Zu den wohl einprägsamsten Bildern im Kontext der Mehrfachreflexion zählen Maiers Schaufensterbilder, in denen die Umrisse ihres Körpers, gespiegelt im Schaufenster von Antiquitätenläden, die Reflexionen ihres Gesichts in einem hinter der Glasscheibe positionierten Spiegel säumen. Im Moment der Aufnahme befand sich Maier dabei außerhalb eines durch das Fensterglas begrenzten Raumes, was durch die Reflexion ihrer Silhouette im Fensterglas markiert wird. Ihr Spiegelbild, das mit dem Objekt des Spiegels eine Einheit zu bilden scheint, lässt Maier jedoch jenseits dieser Grenze erneut auftauchen – fast so, als sei sie Teil des Stilllebens hinter der Glasgrenze geworden. In Ergänzung dazu inszenierte Maier eine Mehrfachspiegelung des Künstlerinnenkörpers (vornehmlich ihres Oberkörpers) durch variierend angeordnete Spiegelflächen, die je nach Aufnahmewinkel unterschiedliche Ansichten auf ihren Körper gewähren oder der durch die Aufnahmeposition zwischen zwei parallel zueinander ausgerichteten Spiegeln unendlich vervielfältigt im Bild auftaucht. Reflexions- bzw. Spiegelungsporträts/Einfachspiegelung Bei den Einfachspiegelungen, folglich den Bildern, die Maier nur einmalig reflektiert abbilden, sticht insbesondere Maiers Entscheidung für eine fragmentierte bzw. segmentierte Darstellung des Künstlerinnenkörpers ins
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Auge. Maiers Gesicht erscheint in kleinen und großen Spiegeln und tritt als Eindringling im Bildraum und dort abgebildeter Geschehnisse auf. Im Bereich der Einfachspiegelung kann weiter differenziert werden zwischen aufrechten und stark gebeugten Selbstporträtierungsformen. Im letzten Fall beugte sich Maier während des Fotografierens über am Boden liegende oder horizontal zum Boden gerichtete Spiegelflächen, in denen ihr Gesicht beispielsweise vor den vertikalen Linien eines weit in den Himmel reichenden Hochhauses auftaucht. Die Reflexion ihrer Person in konvexen Spiegelflächen ermöglichte Maier darüber hinaus die Abbildung ihrer gesamten Körperfläche bzw. -größe, wobei sie auch hier den Schwerpunkt eher auf Aufnahmen ihres Oberkörpers legte. Durch Maiers Wahl von Wölbspiegeln vergrößert sich der Blickwinkel (Weitwinkeleffekt) und bewirkt dadurch eine starke Verkleinerung des zu porträtierenden Objektes und der es umgebenden Szenerie. Verchromte Oberflächen, wie die einer Radkappe, fungieren dabei als Zerrspiegel, wodurch der Künstlerinnenkörper aufgrund der Verzerrung teilweise mit seiner Umgebung verschwimmt und damit aus dem Bildfokus gerät. Kameralose bzw. kameradistanzierende Porträts Diese Kategorie vereint die von Maier eingesetzte Porträtierungstechnik mit den Auffälligkeiten im Hinblick auf das gewählte Sujet. Im Zuge der Sichtung von Maiers Selbstporträts fällt insbesondere die Präsenz von Maiers Fotokameras auf, die sich, mit Ausnahme ihrer Schattenaufnahmen, stets im Bild beispielsweise auf Brusthöhe der Fotografin bemerkbar machen. Dass Maier, wenn auch nur sehr sporadisch, ihre fotografische Technik der Selbstporträtierung erweiterte und beispielsweise in Form der Aufnahme per Selbstauslöser eine kameradistanzierende und in gewissen Teilen (vermutlich) dem Zufall überlassene Abbildung ihres Selbst zuließ, verdeutlichen die Fotografien der vorliegenden Kategorie, wobei aus einigen der ausgewählten Fälle nicht eindeutig hervorgeht, ob es sich hier nicht doch um ein von Maier vorgenommenes ›Abdrücken‹ gehandelt haben könnte und der bevorzugte Aufnahmewinkel die Kamera nicht im Bild erscheinen lässt. Da für die vorliegende Analyse aufgrund ihrer Besonderheit jedoch insbesondere die Technik der Selbstporträtierung per Selbstauslöser als interessant erachtet wird, fiel die Wahl des Schlüsselbildes unweigerlich auf ein Foto, das Maiers Arme und Hände zeigt und folglich darauf schließen lässt, dass sich Maier per Fernauslöser fotografiert zu haben scheint.
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5.3 EXEMPLARISCHE EINZELBILDANALYSEN Nachfolgend werden die ausgewählten Einzelbilder unter Anwendung des ikonologisch-ikonischen Bildanalyseverfahrens nach Ralf Bohnsack (2011) einer systematisierten Betrachtung unterzogen. Ausgehend von einer detaillierten Bildbeschreibung (formulierende Interpretation) erfolgt die Rekonstruktion (ästhetischer) Gestaltungselemente (reflektierende Interpretation), die sowohl die formale Konstruktion und Ganzheitsstruktur des Bildes in der Fläche (planimetrische Komposition), die Analyse räumlicher und körperlicher Beziehungsstrukturen (szenische Choreografie) wie auch die Betrachtung der fotografischen Perspektivität (perspektivische Projektion) vorsieht. Im Zuge der ikonologisch-ikonischen Analyse und Interpretation nach Bohnsack (2011) werden die Erkenntnisse aus der reflektierenden und formulierenden Interpretation zusammengeführt und wesentliche Merkmale des Bildes benannt. In dieser Arbeitsphase steht schwerpunktmäßig die formal-ästhetische Dimension der Bilder im Vordergrund, um der von Bohnsack in Rekurs auf Imdahl (1996a) vorgenommenen Hervorhebung der Eigengesetzlichkeit des Bildes gerecht zu werden. Im Zuge der Gesamtinterpretation in Kapitel 6 erfolgt abschließend die Zusammenführung der Analyseergebnisse, die durch eine genderrelevante und fotohistorische Kontextualisierung des Gesamt-Œuvres von Vivian Maier abgerundet wird. 5.3.1 Schattenporträt
Abbildung 18: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1971
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I) Formulierende Interpretation Vor-ikonografische Ebene Aufgrund der gewählten Aufnahmeperspektive und der reduzierten Anordnung der visualisierten Objekte und Gegenstände wird für vorliegende Fotografie nicht zwischen Bildvorder-, -mittel- und -hintergrund unterschieden. Im unteren Bilddrittel ist der Schatten einer Person positioniert. Dieser zeigt neben den Umrissen einer Hutkrone und -krempe einen kleinen Ausschnitt eines Kopf- und Schulterbereichs. Die Schattenzeichnung der Halsund Schulterpartie wirkt massiv, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Schattenperson einen Mantel trägt. Der Schatten ist mittig im Bild angeordnet und wird auf eine sandige Oberfläche geworfen. Den oberen und mittigen Anteil des Bildes nimmt eine auf mehreren Bade- bzw. Strandtüchern liegende Frau mittleren Alters ein. Sie trägt eine Sonnenbrille und einen gestreiften Bikini, an dessen Ober- und Unterteil eine Knopfleiste aufgenäht ist. Ihr Kopf ruht auf einem zusammengefalteten Handtuch. Ihre Arme breitet die Frau geschätzt im 45 Grad Winkel auf zwei Badetüchern aus. Eines davon ist weiß, das andere gestreift. Ihre dunklen Haare sind symmetrisch eingedreht und auf Wicklern mit weißen Haarnadeln und silberfarbenen Haarklammern befestigt. An der linken Hand trägt die Frau ein Armband sowie einen goldenen Ring am Ringfinger. Unter ihrer linken Hand befindet sich eine goldfarbene Sandale. Die zweite Sandale liegt am rechten oberen Bildrand und ist teilweise von einem der Handtücher bedeckt. Die Beine der Frau sind bis zur Kniepartie sichtbar und liegen schulterbreit auf einem weiteren gestreiften und etwas unordentlich drapierten Handtuch. Ikonografische Ebene Die vorliegende Fotografie zeigt eine sonnenbadende Frau, vermutlich an einem Strand bei Schönwetter, bei der sie, wie der Schatten am unteren Bildrand vermuten lässt, von einer unbekannten Person beobachtet wird. Die Fotografie wird in dem von John Maloof 2013 veröffentlichen Bildband Vivian Maier – Self-Portraits als »Selbstporträt« ausgewiesen. Die Fotografie wurde gemäß Datierung am 27. Juli 1971 in Chicago (North Shore) aufgenommen. Maier war zu diesem Zeitpunkt 45 Jahre alt.
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II) Reflektierende Interpretation Perspektivische Projektion Das Kameraauge wurde von der abbildenden Bildproduzentin leicht erhöht (geringfügige Aufsicht) über dem Kopf der abgebildeten Bildproduzentin positioniert, vermutlich in kniender oder liegender Haltung, um den Streckeffekt der sonnenbadenden Frau in der Länge zu betonen. Es kann angenommen werden, dass sich die Fotografin für vorliegende Aufnahme über die Kamera gebeugt haben muss, um einen markanten Schatteneffekt erzeugen zu können. Die Fotografie wurde in der Halbtotale aufgenommen, sodass die abgebildeten Personen bzw. der Schatten in den Bildfokus geraten. Das perspektivische Zentrum (Fluchtpunkt) liegt aufgrund des gewählten Aufnahmewinkels außerhalb des Bildes und führt den Blick entlang der Längsstreifen des Badetuchs und der Beine der Frau aus dem oberen Bildrand hinaus. Die Horizontlinie ist aufgrund der gewählten Perspektive nicht sichtbar. Planimetrische Komposition Der Bildmittelpunkt befindet sich am unteren Rand des gefalteten weißen Badetuchs, sodass der Schatten, den der Kopf der ruhenden Frau auf das weiße Tuch wirft, planimetrisch fokussiert wird. Das Bild wird von waagrechten und senkrechten Linien in vier waagrechte Segmente unterteilt. Das quergestreifte Handtuch im oberen Teil des Bildes teilt die Fotografie beispielsweise in einen oberen kleinen Bereich, der eine optische Grenze zwischen Hüft- und Beinpartie und dem Oberkörper der sonnenbadenden Frau zieht. Diese wird zudem durch die Höhe der Knopfleiste ihrer Badehose unterstrichen. Die Anordnung der großflächigen Badetücher schafft im unteren Drittel des Bildes eine weitere Grenze zwischen der liegenden Frau und dem Schatten der Fotografin. Dadurch, dass der Oberkörper auf zwei weitere Badetücher gebettet ist, separieren diese nicht nur den Oberkörper vom Unterkörper, sondern der Oberkörper der Frau wird auf Höhe des rechten Schulterbereichs ebenso in zwei Körperhälften unterteilt. Betrachtet man die senkrechte Linienführung der zwei nebeneinanderliegenden Handtücher, entspricht das vorliegende Seitenverhältnis in etwa der Symmetrie des »Goldenen Schnitts« (Abb. 19). Ähnlich verhält es sich mit der Aufteilung des Ober- und Unterkörpers, sofern man hier noch eine weitere Linie im Kopf- und Kniebereich (siehe gestrichelte Linie) zieht, sowie mit der Auf-
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teilung bzw. Komposition zwischen der Handtuch- und Sandfläche. Das Bild ist folglich vor allem im Bereich der liegenden Frau von merklicher Symmetrie geprägt, was wiederum von den waagrechten und senkrechten Linien auf den Badetüchern und ihrer Badebekleidung aufgegriffen wird.
Abbildung 19: Goldener Schnitt Szenische Choreografie Die Symmetrie auf Ebene der Planimetrie wird durch die szenische Choreografie der Bildprotagonistinnen teilweise durchbrochen. Der Körper der sonnenbadenden Frau formt aufgrund ihrer Armstellung ebenso wie das Hut- und Schulterverhältnis des Schattenbildes der Fotografin jeweils ein (imaginatives) Dreieck (Abb. 20). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Dreiecke gegenläufig angeordnet sind und damit in ein »antipodisches Verhältnis« (Bohnsack 2011, S. 79) zueinander geraten. Dieser Eindruck wird durch die Handtuchlinie im unteren Drittel des Bildes verstärkt. Während der Körper der Frau mittig angeordnet ist, zeigt sich der Schatten des Kopfes der Fotografin etwas nach links versetzt. Besonders im Fokus liegen dabei die Köpfe der Bildprotagonistinnen, indem sich das planimetrische Zentrum auf Kopfhöhe der liegenden Frau befindet und die markante Hutzeichnung des Schattenbildes ebenso betont.
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III) Ikonologisch-ikonische Interpretation Die Bildbetrachterin/Der Bildbetrachter gerät aufgrund der gewählten Kameraperspektive in die Beobachter/innenrolle aus Sicht der ›Schattenperson‹. Durch die Anordnung der Handtücher wird der Bereich der Privatsphäre der ruhenden Frau markiert, dem sich der Schatten der Fotografin (und damit auch die Bildbetrachterin/der Bildbetrachter) bedrohlich nähert.
Abbildung 20: Antipodisches Verhältnis Diese Nähe wird durch die Größenverhältnisse des Schattens erzeugt, der verrät, dass die Fotografin dem Geschehen sehr nahegekommen sein muss. Die Körperhaltung der liegenden Frau lässt vermuten, dass sie zum Zeitpunkt des Abdrucks nicht bemerkt zu haben schien, dass sie beobachtet bzw. fotografiert wurde. Indem Maier ihren von der Sonne gezeichneten Schatten ins Bild setzt, wird durch die Erscheinung einer undefinierbaren Schattengestalt eine gewisse Störung der im Bild transportierten Intimität und Ruhe vorgenommen – eine Frau liegt leicht bekleidet auf Badetüchern am Strand und hält vermutlich aufgrund der Sonneneinstrahlung die Augen geschlossen bzw. schläft; dabei wird sie von einer undefinierbaren Schattengestalt aus der Nähe betrachtet. Die Fotografie erzeugt damit eine visuelle Spannung, die an Szenen aus Hitchcock-Filmen erinnern lässt, bevor die Täterin/der Täter ›zuschlägt‹. Dies führt dazu, dass die Bildbetrachterin/der Bildbetrachter in Versuchung gerät, das Geschehen im Bild gedank-
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lich weiterzuführen. Aufgrund der planimetrischen und szenischen Anordnung wird hier vor allem der Kopfbereich der Protagonistinnen betont sowie eine visuelle Separierung bzw. Segmentierung des weiblichen Körpers vorgenommen. Durch die Armstellung der ruhenden Frau teilt eine imaginäre Line zwischen den Fingerspitzen ihrer beiden Hände ihren Oberkörper vom Unterkörper. Eine weitere Unterteilung schaffen das am oberen Bildrand positionierte Handtuch sowie die Querstreifen der Badehose der Frau. Durch die dunkle Schattendarstellung und die weißen Handtücher bzw. den hellfarbigen Badeanzug der ruhenden Frau wird ein farbspezifischer Kontrast hergestellt, der durch die Gegenüberstellung von ruhendem bzw. beobachtetem und beobachtendem Verhalten sowie der Nacktheit der Frau (Badeanzug) im Gegenzug zur bekleideten Fotografin (Hut, Mantel) verstärkt wird. Diese Gegensätzlichkeit wird auch auf planimetrischer Ebene im Bereich der Bildsymmetrie weitergeführt. Die Anordnung der Handtücher und der ruhenden Frau nach den Regeln des Goldenen Schnitts lädt die Handtuchszene ästhetisch auf und lässt die Frau aufgrund der Armhaltung als engelsgleiche Figur auftreten. Der in dem Schattenbild erkennbare schiefsitzende Hut der Fotografin und ihre asymmetrische Schulterstellung hingegen durchbrechen vorliegende Symmetrie und verleihen der Schattengestalt etwas Unbehagliches. Durch das planimetrisch fokussierte Handtuch, auf dem der Kopf der Frau ruht, wird der Anschein erweckt, sie sei auf einen Altar gebettet. Dadurch wird einerseits die visuelle Ästhetisierung der sonnenbadenden Frau verstärkt, andererseits wird auch die unbehagliche Atmosphäre durch die Metaphorik des Altars als Opferstätte (vgl. Kretschmer 2008, S. 30) weiter aufgeladen. Die Nadeln und Klammern im Haar der sonnenbadenden Frau wirken überdies wie Perlen und erinnern an Kopfschmuck. Der Schatten der Fotografin setzt durch seine scharfen Linien wiederum einen Kontrast zu den filigranen Haarnadeln der Frau. Dadurch, dass Maier als Schattengestalt in Erscheinung tritt, können für Maiers Abbild keine Weiblichkeitsmarker ausgemacht werden. Das Schattenbild vermittelt Gegenteiliges – durch die breiten Schultern und den Hut sowie die kurze Haarsträhne, die rechts unter der Hutkrempe hervortritt, könnte auf Basis stereotyper Geschlechterbilder davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um einen männlichen Betrachter handelt. Damit nimmt Maiers Aufnahme eine visuelle Kontrastierung männlicher und weiblicher Geschlechterrollen vor und thematisiert John Bergers (1972)
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Gedanken zur Dichotomie weiblicher und männlicher Blick- bzw. Betrachterinnenpositionen/Betrachterpositionen (das sich vor allem auch in der szenischen Choreografie und dem antipodischen Verhältnis der abgebildeten Personen manifestiert). Maier nimmt als Beobachterin und Fotografin durch den Akt des Betrachtens eine aktive und damit nach Berger männliche Rolle ein, die sie durch ihren Kleidungsstil unterstreicht. Die Frau hingegen wird zum Objekt des Betrachtungsvorgangs und, um die Symbolik des Altars aufzugreifen, zum visuellen Opfer der vorliegenden Szene. Damit findet sie sich als Betrachtete in einer passiven, wenn nicht ausgelieferten Rolle wieder. Interessant erscheint jedoch, dass sich die Fotografin gegen eine Aufnahme aus der Vogelperspektive entschieden hat und sich mit der Kamera fast auf Körperhöhe (geringfügige Aufsicht) der abgebildeten Frau begab, wodurch diese im Bild enorm an Größe gewinnt. Damit strahlt die liegende Frau, obwohl dem Schattenkopf die ›überlegene‹ Beobachterinnenrolle zukommt, in gleicher Weise etwas Bedrohliches aus wie der Schatten selbst. Die Fotografie dekonstruiert und parodiert durch die Wahl der formgebenden Elemente die (männlich aufgeladene) Überlegenheit der Beobachterrolle im Betrachtungsvorgang bzw. schwächt diese zumindest ab. Dies gelingt, indem der Kopf der fotografierten Frau planimetrisch und perspektivisch ins Zentrum gerückt und die Anordnung ihrer Darstellung gegenüber dem Schattenbild durch den Einsatz des Goldenen Schnitts ästhetisiert wird. Überdies fällt das am Körper der liegenden Frau nachgezeichnete Dreieck aufgrund ihrer Armstellung größer aus als das vom Schattenkopf geformte. Somit nimmt die ruhende Frau räumlich mehr Fläche ein als der Schatten von Maier. Das Handtuch bildet zudem eine markante Schwelle bzw. Grenze zum Frauenkörper, die der Schatten im Bild nicht zu überschreiten wagt. Damit wird der liegenden Frau, die aufgrund der Kameraperspektive förmlich über dem Kopf des Schattenbildes zu schweben scheint, eine gewisse Präsenz und vor allem Dominanz zuteil, die wiederum die Überlegenheit der fotografierenden Betrachterin – wenn auch nur subtil – infrage stellt. Dadurch, dass die Köpfe der Protagonistinnen nur leicht versetzt in etwa demselben Abstand zum unteren Badetuchrand angeordnet sind, wirken die Abbilder der Bildkörper wie eine Spiegelung und eröffnen in Anlehnung an John Bergers Betrachter/innenrollen eine visuell inszenierte Betonung gesellschaftlicher Geschlechterdichotomien, indem durch das antipodische Körperverhältnis zum Ausdruck gebracht wird, dass sowohl weibli-
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che wie auch männliche Anteile (wenn auch männliche Anteile noch ein Schattendasein zu fristen scheinen) in einer Person enthalten sein können. Der Schatten steht unter mythologischen Gesichtspunkten für das ›zweite Ich‹ eines Menschen, das häufig mit negativen Attributen wie Dunkelheit oder Tod in Verbindung gebracht wird. Besonders in der romantischen Literatur war der Schatten als Metapher für ein Doppelleben ein weit verbreiteter Topos. Die Psychologin Verena Kast (vgl. 1999, S. 33f) sieht in der Schattenmetapher in Rekurs auf C. G. Jung und in Anlehnung an literarische Werke wie beispielsweise Robert Louis Stevensons Novelle The Strange Case of Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) überdies den Verweis auf ein Konglomerat aus schattenhaften Gedanken und Gefühlen. Maiers Fotografie nimmt folglich nicht nur auf Geschlechterdichotomien Bezug, sondern spielt auf die Spaltung einer Person in unterschiedliche Gefühlswelten und Persönlichkeitsstrukturen an. Durch die antipodische Anordnung der Körperflächen als Schatten- und Lichtbild wird diese Teilung des ›Ichs‹ in eine helle und folglich angenehme wie auch dunkle, eventuell unangenehme Seite unterstrichen. Diese sich in vorliegender Analyse abzeichnenden Ambiguitäten und Widersprüchlichkeiten verweisen auf die von Imdahl am Beispiel des Giotto-Freskos Die Gefangennahme (um 1305) herausgearbeitete »Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen« (Imdahl 1996a, S. 107), die erst durch die Analyse der Form folglich der planimetrischen und perspektivischen Anteile der Fotografie herausgearbeitet werden konnte. Insgesamt verfügt das Bild aufgrund der hier beschriebenen Kontraste über einen ironischen Tenor, der Spannung in das Bild bringt und das Maiers Fotografien häufig zugrundeliegende Spiel mit Gegensätzlichkeiten exemplarisch veranschaulicht. 5.3.2 Beziehungsporträt mit weiblich konnotiertem Sujet I) Formulierende Interpretation Vor-ikonografische Ebene In der vorliegenden Fotografie überlagern sich mehrere Bild- bzw. Realitätsebenen. Aus diesem Grund kann nicht eindeutig zwischen Bildvorder-, -mittel- und -hintergrund unterschieden werden. Die im Bild sichtbare zweite Ebene, die zwei Frauen im Bild auftreten lässt, wird daher ebenso zum Bildvordergrund gezählt wie Maiers Schaufensterglasreflexion. Über-
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dies bleibt unklar, ob sich die zwei Frauen hinter der Glasscheibe aufgehalten haben oder an einem anderen Ort vor bzw. nach der Aufnahme des Reflexionsbildes fotografiert wurden und die zwei Aufnahmen im Anschluss übereinandergelegt worden sind. Die im Bild sichtbare Treppe deutet überdies auf eine dritte Bildebene hin.
Abbildung 21: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1954 Bildvordergrund Im Bildvordergrund werden die Körperumrisse einer etwa 30- bis 40jährigen Frau sichtbar. Um ihren Hals hängt eine analoge, zweiäugige Kamera, vermutlich der Marke Rolleiflex, die sie mit beiden Händen auf Bauchhöhe umfasst. Sie trägt einen dunkelfarbigen Mantel, schwarze, flache Schuhe und ein Halstuch. Ihr Blick ist nach unten gerichtet. Sie steht auf einem asphaltierten Gehweg vor einem reflektierenden Objekt, bei dem es sich vermutlich um eine Glasscheibe eines Schaufensters handelt. Im Bildvordergrund erscheinen im unteren Drittel des reflektierten Körpers der Fotografin zwei auf einer Bank sitzende Frauen mit hochgestecktem bzw. kurzgeschnittenem Haar. Die links positionierte Frau dürfte zwischen 50 und 60 Jahren alt sein, trägt Goldschmuck, schwarze Handschuhe, schwarze Lackschuhe und ein schwarzes Kostüm, das durch das Weiß ihrer Bluse bzw. ihres Pullovers kontrastiert wird. Ihren Blick richtet sie nach rechts, vermutlich auf die an ihrer Seite sitzende, deutlich jüngere Frau. Ihre Beine
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sind überkreuzt und ihre linke Hand deutet, angelehnt auf ihrem Knie, ebenso nach rechts. Die zu ihrer Rechten sitzende junge Frau dürfte zwischen 15 und 25 Jahren alt sein. Sie trägt ein kariertes Petticoat-Kleid, schwarze Handschuhe und schwarze Lackschuhe. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet und trifft den Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters. Ihre Arme sind verschränkt und bilden auf Schoßhöhe ein Rechteck. Die Frauen sitzen vor einer hellen Mauer bzw. Wand. Blätter einer Grünpflanze bewachsen den oberen Abschnitt der Mauer. Ebenfalls im Bildvordergrund zu erkennen sind vier Stufen und das Geländer einer Treppe, die auf der rechten Seite positioniert aus dem Bild hinausführt. Bildmittelgrund Hinter den Umrissen der fotografierenden Frau sind Ausschnitte von zwei dunkelfarbigen und das Heck eines hellfarbigen, vermutlich parkenden Autos zu erkennen. Alle drei Autos parken auf bzw. befahren eine/r asphaltierte/n Straße. In dem am linken Bildrand positionierten Auto befindet sich eine undefinierbare Person, die mit einer Hand das Lenkrad des PKWs umfasst. Bildhintergrund Im Bildhintergrund ist am linken oberen Bildrand der Fotografie eine Laubbaumallee sichtbar. Dahinter sind Umrisse hoher Gebäude zu erkennen. In der rechten oberen Bildhälfte taucht ein massives Gebäude mit fünf Fahnenmasten auf. Die Säulenanordnung des Gebäudes verweist auf eine antike Architektur und lässt vermuten, dass es sich hierbei eventuell um ein öffentliches Gebäude (z.B. Gericht, Parlament) handeln könnte. Ikonografische Ebene Die vorliegende Szene ist durch die im Bild sichtbare Kamera und die Handlung der Frau als fotografische Selbstaufnahme der Künstlerin Vivian Maier auszuweisen, die sich, auch wenn nur umrissartig sichtbar, durch die Art ihrer Kleidung, Frisur und Gestik eindeutig als diese zu erkennen gibt. Das Bild ist im Jahr 1954 entstanden. Maier war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Ortsangaben zur Aufnahme sind nicht vorhanden, dennoch kann aufgrund der im Bild sichtbaren Objekte und Gegenstände auf eine Straßenaufnahme eventuell in einer englischsprachigen Stadt (siehe Beschriftung des Lieferwagens im Bildhintergrund) geschlossen werden. Die auf der zweiten Bildebene sichtbare Szenerie lässt aufgrund der Sitzposition
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der Personen auf das Warten in einem Warteraum schließen, beispielsweise im Kontext eines Behördengangs oder Arztbesuchs. In Bezug auf das Beziehungsverhältnis der dargestellten Personen könnte es sich bei den zwei Frauen aufgrund ihrer Sitzhaltung und -nähe sowie des Altersunterschieds um eine Mutter-Tochter- bzw. Tante-Nichte-Beziehung handeln. Die durch die Glassscheibe hergestellte räumliche Distanz zwischen der Fotografin und den zwei Frauen lässt Maier zur ›außenstehenden‹ Beobachterin der Szenerie werden. Bezugnehmend auf das Wissen um die im Bild erkennbaren Stilelemente (vgl. Panofsky 1978) vermitteln die abgebildeten Kraftfahrzeuge wie auch das am rechten Bildrand erkennbare Gebäude einen ›wertigen‹ Eindruck, sodass davon ausgegangen werden kann, dass sich die Fotografin in einem wohlhabenderen Stadtteil aufgehalten haben könnte. Auch die Kleidung der Frauen, ihre Lackschuhe und Lederhandschuhe verkörpern einen ›gehobeneren‹, großbürgerlichen Stil, der in Kontrast zu Maiers Kleidungsstil und Auftreten steht. II) Reflektierende Interpretation Perspektivische Projektion Die vorliegende Fotografie wurde auf der ersten Bildebene (Aufnahme der Reflexion von Maier in einem Schaufensterglas) frontal aus der Zentralperspektive (Frontal-Perspektive) aufgenommen. Der Fluchtpunkt ist in etwa auf Höhe der Körpermitte von Maier, etwas links unterhalb der Kamera positioniert, wodurch Maier und insbesondere ihre Kamera in den Bildfokus gerückt werden. Die Horizontlinie wird durch Maier bzw. die parkenden Autos im Hintergrund größtenteils verdeckt. Im linken Bildrand ist die Horizontlinie jedoch sehr schwach erkennbar und verläuft deutlich oberhalb der Bildmittelachse. Auf der zweiten Bildebene kann der Fluchtpunkt aufgrund der Transparenz der Aufnahme nicht eindeutig ausgemacht werden. Folgt man den Linien der Sitzbank, dann ist der Fluchtpunkt auf zweiter Bildebene oberhalb der Augenpartie auf Stirnhöhe der älteren Frau positioniert (Abb. 22). Die Aufnahme der Frauen wurde aus dezenter Obersichtperspektive (Aufsicht) aufgenommen bzw. könnten sich die zwei Frauen zum Aufnahmezeitpunkt auch im Souterrain eines Gebäudes aufgehalten haben. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich noch eine dritte Bildebene, die
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durch die Stiege am rechten Bildrand markiert wird und sich proportional nicht harmonisch in die Raumanordnung auf zweiter Bildebene einfügt.
Abbildung 22: Fluchtpunkt 1 und Fluchtpunkt 2 Planimetrische Komposition Der Bildmittelpunkt befindet sich etwas oberhalb der zwei abgelichteten Frauen zwischen ihren Köpfen bzw. in der Höhe von Maiers Unterleib. Damit werden die (Distanz zwischen den) zwei Frauen und Maiers untere Körperhälfte planimetrisch fokussiert. Das Bild wird insgesamt von waagrechten Linien dominiert, die vor allem durch die Konturen und Linienführung der parkenden Autos, des Gehsteigs bzw. der Bordsteinkanten sowie der abgelichteten Mauer im Bildmittelpunkt hergestellt werden und durch ihre Anordnung die Körper der Frauen zu zerschneiden scheinen (Abb. 23). Auffallend ist in diesem Zusammenhang vor allem die Weiterführung der Fensterrahmen des links parkenden Autos durch die obere Kante der im Bildmittelpunkt befindlichen Mauer. Als weitere dominante Linienführung können die schrägverlaufenden Linien der Fahnenmasten im rechten oberen Bildrand und die Linien der Treppenstufen im rechten unteren Bildrand identifiziert werden. Diese erzeugen durch das Geländer der Treppe eine netzartige bzw. gitterartige Struktur, welche durch die Linienführung des Luftschachts in der linken Bildhälfte wiederaufgenommen wird und die Personen im Bildmittelpunkt einzugrenzen scheint. Die waagrechte Linie
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der Mauer in der Bildmitte teilt Maier visuell in zwei Körperhälften. Dies wird durch den weißen, vermutlich durch eine Lichtquelle entstandenen Schimmer über der Mauer nochmals betont. Gleiches gilt für die Linienführung des Gehsteigs sowie für die Armhaltung der jungen Frau, die ihren Oberkörper und Unterkörper optisch ebenso in zwei Hälften teilt.
Abbildung 23: Liniendominanz Szenische Choreografie Die waagrechte Linienführung im Kontext der planimetrischen Komposition wird durch die szenische Anordnung der abgebildeten Personen durchbrochen. Die zwei Frauen formen aufgrund ihrer im sitzenden Zustand identen Körperhöhe ein Rechteck (Abb. 24). Dieses fügt sich an seinen Breitenlinien nahtlos in das größere Körperrechteck von Maier ein, das durch Maiers Unterkörper bzw. Mantel gezeichnet wird. Damit säumt Maiers Mantel bzw. Unterkörper die Körper der sitzenden Frauen. In der Längsausrichtung reichen die Linien vom oberen Rand der weißen Lichtquelle auf Linsenhöhe der Kamera bis zu Maiers Schuhspitzen. Auch die szenische Choreografie teilt Maiers Körper durch ihre Armhaltung in zwei Hälften, indem der Oberkörper bis zur Höhe der Kameralinse ein Dreieck formt, dessen imaginierte Spitze außerhalb des Bildes liegt. Dieses wird wiederum durch die Umrisse der linken Körperhälfte einer am rechten Bildrand befindlichen Person aufgegriffen. Als szenisch interessant erweist sich vor allem die visuelle Überlagerung der nackten Beine und schwarzen Schuhe
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der drei Bildprotagonistinnen, bei dem sich jeweils ein Bein der sitzenden Frauen in einem Bein der stehenden Fotografin wiederfindet und damit die Bein- und Fußpartie durch vorliegende optische Überlagerung visuell hervorhebt.
Abbildung 24: Körperkonturen und Bildmittelpunkt Vorliegende Fotografie verweist zudem auf eine triadische Blickbeziehung. Maiers gesenkter Blick (der hier zwar vermutlich auf das Sucherbild der Einstellscheibe gerichtet war) macht den Anschein, als würde Maier die von ihren Körperkonturen gesäumten Frauen beobachten. Die ältere Frau blickt nach rechts, vermutlich in Richtung der jüngeren Frau, deren Blick trifft wiederum den der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters. Daraus lässt sich ableiten, dass die junge Frau im Moment der Aufnahme den fotografischen Akt mitverfolgt haben könnte. III) Ikonologisch-ikonische Interpretation Folgt man sowohl den identifizierten Auffälligkeiten der perspektivischen Anordnung (Fluchtpunktanordnung) wie den Eigenheiten der szenischen Komposition, inszeniert vorliegendes Selbstporträt eine Aufteilung bzw. Spaltung des weiblichen Körpers in zwei Hälften. Sowohl Maiers Körper wie auch der Körper der zwei abgelichteten Frauen wird durch die waagrechte Linienführung verschiedener im Bild positionierter Gegenstände und
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Objekte (z.B. Mauer und Bürgersteig) separiert. Diese Beobachtung trifft insbesondere für Maiers Körperdarstellung aufgrund der auffällig bepflanzten Mauer auf Bauchnabel- und Fluchtpunkthöhe zu. Die obere Körperhälfte der abgebildeten Fotografin wirkt im Vergleich zur unteren wesentlich unaufgeregter, indem Maiers Umrisse, ihre Kamera und Hände sowie ihr nach unten gerichtetes Gesicht transparent in Erscheinung treten. In der unteren Körperhälfte dominieren die zwei sitzenden Frauen, die in einem stärkeren Kontrast als die körnige Körperabbildung der Fotografin festgehalten wurden und daher im Gegenzug zu Maier Details ihres Kleidungsstils und ihrer Mimik wesentlich deutlicher erkennen lassen, als es für Maier der Fall ist. Der Bildmittelpunkt liegt zwischen den Köpfen der zwei Frauen und lenkt folglich auch den Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters dorthin. Dies wird durch Maiers nach unten gerichteten Kopf nochmals betont. Insgesamt liegt daher sowohl aufgrund der szenischen Anordnung wie auch aufgrund der gewählten Planimetrie und Perspektivität eine visuelle Hervorhebung der unteren Bildhälfte und damit der unteren Körperhälfte Maiers vor. Die zwei Frauen wirken aufgrund ihrer abgebildeten kleinen Körpergröße im Verhältnis zu Maiers Umrissen und ihrer Positionierung in der unteren Bildhälfte kindlich-puppenhaft, was durch die wuchtigen Fahrzeuge im Bildhintergrund weiter verstärkt wird und einen Kontrast zwischen der von den Frauen verkörperten Filigranität und der protzigen Massigkeit der Fahrzeuge herstellt. Maiers transparenter und doch bilddominanter Körperumriss wird von einer gewissen Ambivalenz begleitet. Einerseits legt er sich wie ein bedrohlicher Schatten über die zwei Frauen, andererseits könnte er auch den (mütterlichen) Schutz vor den ›Gefahren‹ der Außenwelt symbolisieren, was durch die Anordnung des Frauenduos innerhalb Maiers visueller Körpergrenze zum Ausdruck gebracht wird. Diese lässt an die Körperanordnung von Pinguinfamilien auf Naturaufnahmen erinnern, bei dem sich der Pinguinnachwuchs an die untere Körperhälfte der mütterlichen Fürsorgerin/des väterlichen Fürsorgers schmiegt, deren/dessen nach unten gerichteter Blick sich der guten Verfasstheit ihres/seines Nachwuchses vergewissert. Im Zuge der Analyse der szenischen Choreografie konnten zudem zwei ineinander liegende Rechtecke identifiziert werden, die einerseits durch Maiers Unterkörper, andererseits durch die Anordnung des Frauenduos deutlich hervortreten. Durch die Anordnung dieser Rechtecke sowie durch
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Maiers nach unten gerichteten Kopf wirkt die dargestellte Szene wie eine Introspektion bzw. Innenschau der Fotografin – wie eine nach innen gerichtete Auseinandersetzung mit den als weiblich wahrgenommenen Anteilen ihres Selbst, die durch die zwei Frauenfiguren auf Höhe von Maiers Unterleib verkörpert werden. Die in Maiers Körperumrissen (ein-)gefangenen Frauen wirken in ihrer Körperhaltung und in ihrem gewählten Kleidungsstil deutlich femininer als die Fotografin. Sie tragen Kleider, Schmuck und Absatzschuhe. Die Beine der älteren Dame sind übereinandergeschlagen. Hier lässt sich folglich ein Kontrast zwischen den Repräsentationsformen der ›verkörperten‹ Künstlerin und den abgebildeten Frauen feststellen, der durch die Unterschiede in Gestik (z.B. breitbeiniger Stand versus übereinandergeschlagene Beine) und Mimik sowie aufgrund ihres Kleidungsstils hergestellt wird. Sexualisierte Körpermerkmale treten durch Maiers Pose und ihr Tragen eines langen, dunklen Mantels auf Ebene der Schaufensterglasreflexion deutlich in den Hintergrund. Lediglich die visuelle Betonung der nackten Beine durch die Überlagerung der zwei Bildebenen, wodurch die Beine des Frauenduos in den Beinen von Maier visuell gefasst werden, könnte eventuell in diese Richtung gedeutet werden. Einzig das junge Mädchen richtet den Blick auf die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter und geht somit eine Blickbeziehung mit dieser/diesem ein. Die vor ihrem Schoß verschränkten Hände und der leicht zur Seite gedrehte Oberkörper deuten auf eine gewisse Spannung zwischen ihr und der älteren Dame hin, deren Körper ebenso leicht nach hinten abfällt und daher auf Kopfhöhe die größte räumliche Distanz zwischen den sitzenden Frauen schafft. Durch die Positionierung des Frauen-Duos in der unteren Hälfte von Maiers Körper ist auch der räumliche Abstand zwischen Maiers Kopf bzw. ihrem Blick und den zwei Frauen beträchtlich und lässt den Künstlerinnenkörper damit noch größer und prominenter im Bild auftreten. Das Spiel mit Grenzen, sei es in Form von Körpergrenzen, der Innensicht und Außensicht bzw. räumlicher Begrenzungen durch Mauern und Gegenstände, durchzieht alle Bildebenen der vorliegenden Fotografie und wird vor allem durch die rechts im Bild prominent hervortretende Treppe samt Geländer und das links im Bild sichtbare Luftschachtgitter nochmals unterstrichen. Dennoch geben die ein- und begrenzenden Objekte und Gegenstände den Blick auf die abgelichteten Frauen frei, anstatt ihn zu verwehren, kesseln diese jedoch in gewisser Form von links und rechts ein,
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wie es auch die rechts im Bild sichtbaren Fahnenstangen tun. Eine prominente Grenzziehung zwischen Maier und den zwei abgelichteten Frauen bildet das Glas, in dem sich Maier spiegelt. Es gewährt zwar einen Blick nach innen, zeitgleich konfrontiert es Maier auch mit ihrem eigenen Abbild, das sie als gespenstische Spiegelung inszeniert. 5.3.3 Selbstfokussierendes Porträt
Abbildung 25: Vivian Maier, Selbstporträt, New York, 1953 I) Formulierende Interpretation Vor-ikonografische Ebene Bildvordergrund Zentral im Bild angeordnet ist eine Frau mittleren Alters mit Kurzhaarschnitt und Seitenscheitel. Sie steht auf einem Gehsteig und trägt ein gestreiftes zugeknöpftes Kostüm bzw. einen Blazer. Um ihren Hals hängt auf Bauchhöhe eine Mittelformatkamera (vermutlich) der Marke Rolleiflex. Die Frau umfasst das Gehäuse der Kamera mit beiden Händen, wobei der Zeigefinger der rechten Hand (aus Sicht der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters) den Auslöseknopf der Kamera betätigt. Die Umrisse eines Gebäudes werfen einen Schatten auf die Fotografin, der ihren Körper in eine
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dunkle sowie eine helle, von der Sonne bestrahlte Hälfte teilt. Sie hält die Augen geöffnet und ihre Lippen geschlossen. Ihren Kopf neigt sie etwas nach links. Bildmittelgrund Hinter der Frau verläuft eine Straße, auf der ein parkendes Autos steht. Links von ihr geht bzw. steht eine Frau mit langem gelockten Haar, weißer Bluse und einem Faltenrock. Die Frau blickt in die entgegengesetzte Richtung, wendet ihr Gesicht folglich von der Bildbetrachterin/vom Bildbetrachter ab, sodass auf Kopfhöhe nur ihr Haar sichtbar wird. Bildhintergrund Im Bildhintergrund reihen sich Hochhäuser aneinander, deren Wände teilweise von der Sonne bestrahlt werden oder im Schatten anderer Gebäude liegen. Einige Hochhäuser, insbesondere die Gebäude im vorderen Abschnitt des Bildhintergrunds, führen aus dem Bildraum hinaus. Die Gebäude im hinteren Abschnitt des Bildhintergrunds geben im oberen Drittel der linken Bildhälfte den Blick zum Himmel frei. Ikonografische Ebene Bei der festgehaltenen Szene handelt es sich aufgrund der Körperhaltung der Frau und der im Bild sichtbaren Kamera um die Selbstporträtierung der Künstlerin Vivian Maier. Die Aufnahme entstand am 18. Oktober 1953 auf den Straßen von New York und wurde auf einem Bürgersteig vermutlich vor einer Auslage eines Geschäfts als Spiegelporträt aufgenommen. Maier war zum Zeitpunkt der Aufnahme 27 Jahre alt. Aufgrund der Gebäudearchitektur sowie des Kleidungsstils der im Bildmittelgrund sichtbaren Frau und der wertigen Karosserie des parkenden Autos am rechten unteren Bildrand könnte sich Maier in einem wohlhabenderen Viertel der Stadt aufgehalten haben. II) Reflektierende Interpretation Perspektivische Projektion Die vorliegende Fotografie wurde aus der Übereckperspektive (gespiegelt) aufgenommen, welche durch zwei Fluchtpunkte gekennzeichnet ist. Das perspektivische Zentrum liegt dementsprechend links und rechts außerhalb des Bildes. Maier fotografierte aus dezenter Untersicht, was sich vor allem
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durch die Kamera- bzw. Aufnahmeposition der Rolleiflex auf Bauchhöhe erklärt. Damit wird auch die Sicht auf das Gesicht der Fotografin freigegeben. Aufgrund der gewählten Perspektive kann zudem davon ausgegangen werden, dass sich Maier im Spiegelbild entweder in die Augen sah oder die links im Bild positionierte Frau fokussiert haben könnte. Der linke Fluchtpunkt liegt etwa auf Brusthöhe der hinter Maier gehenden bzw. stehenden Frau (Abb. 26), sodass der Blick, folgt man der Linienführung des Bürgersteigs und der Mauerkanten des Gebäudes, zwangsläufig an der Frau im Bildhintergrund vorbeigelenkt wird. Die gewählte Untersichtperspektive (aufgrund der Kameraposition) lässt die Fotografin insgesamt größer wirken. Ihr Blick fällt über die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter hinweg. Diese/r nimmt somit nicht Teil an der vom Bild ausgehenden Blickkommunikation.
Abbildung 26: Fluchtpunkt (links) Planimetrische Komposition Dominiert wird das Bild in erster Linie von senkrechten Linien (Abb. 27), die am prägnantesten durch den auf Maier fallenden Schatten sowie durch die Mauerkanten des hinter Maiers rechter Kopfhälfte sichtbaren Gebäudes gezeichnet werden. Diese Linienführung wird unter anderem durch das Muster von Maiers Kostüm bzw. Blazer sowie durch den rechts im Bild sichtbaren Rahmen des Spiegels aufgegriffen und fügt sich harmonisch in die Schattenzeichnung ein. Der Bildmittelpunkt liegt in etwa auf Höhe des
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Kragenknopfes an der Kante des rechten Kragensaums (Abb. 28). Damit wird der Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters unmittelbar auf Maiers von der Sonne bestrahlte Nacken- und Halspartie gelenkt, die aufgrund ihrer Kopfhaltung die am hellsten beleuchtete Hautpartie darstellt. Durch das/die vom Kragen ihres Blazers bzw. Kleides geformte Dreieck/Pfeilform gleitet der Blick auf die in Maiers Händen ruhende Rolleiflex. Interessant ist diese planimetrische Komposition insofern, als dass sich dunkle und helle Bildabschnitte abwechselnd harmonisch aneinanderreihen und durch die hergestellte Kontrastwirkung bestimmte Abschnitte des Bildes stärker hervortreten lassen. Durch die hinter Maiers Kopf auftauchende dunkle Hausfassade wird beispielsweise der von der Sonne bestrahlte Teil ihres Körpers optisch hervorgehoben und kommt deutlich zur Geltung.
Abbildung 27: Linienführung Szenische Choreografie Die planimetrische Komposition wird durch die szenische Choreografie einerseits weitergetragen, beispielsweise aufgrund der Schattenzeichnung (senkrechte Linie) auf Maiers Körper, andererseits durch Maiers Armhaltung wieder aufgebrochen. Folgt man der Linienführung der Armstellung, ergibt sich ein gleichschenkliges Dreieck, das auf Armhöhe bzw. Höhe der Rolleiflex eine waagrechte Linie zeichnet und damit erneut eine visuelle Abgrenzung zwischen dem Oberkörper und Unterkörper der Fotografin
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schafft. Eine weitere waagrechte Linie formen Maiers Schulterpartie sowie die Linien der oberen und unteren Kanten der Fotokamera. Die Konturen der Körperhaltung von Maier ergeben folglich ein gleichschenkliges Dreieck, das sich wiederum in der Körperform der im Bildmittelgrund auftretenden Frau wiederfindet (Abb. 28). Das von Maier geformte Dreieck ihres Halses zeigt jedoch in die entgegengesetzte Richtung zur imaginierten Spitzenrichtung der gleichschenkligen Dreiecke, die sich aus den Konturen der Frauenkörper ergeben. Dadurch wird die Körperharmonie auf Höhe des Halsbereichs teilweise gestört und der Blick der Betrachterin/des Betrachters, wie bereits im Bereich der Planimetrie erläutert, nach unten gelenkt, hier auf Maiers Kamera bzw. auf ihren Unterkörper.
Abbildung 28: Körperkonturen und Bildmittelpunkt
III) Ikonologisch-ikonische Interpretation Aufgrund der gewählten Aufnahmeperspektive ist der linke Fluchtpunkt näher am Bildrand positioniert als der rechte. Damit erhält die linke Bildhälfte (weil sie den Blick durch die markant hervortretenden Linien des Bürgersteigs und der Hausfassaden tendenziell eher nach links lenkt) mehr Gewicht. Dies wird zudem durch die förmlich aus dem Bild schreitende und ›leuchtende‹ Frau im Hintergrund sowie Maiers leicht nach links gedrehten Kopf unterstrichen. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Foto-
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grafin die hinter ihr stehende bzw. gehende Frau mit Absicht im Bild festhielt und es sich dabei um kein fotografisches ›Zufallsprodukt‹ handelt. Das Bild nimmt damit eine gewisse Kontrastierung zwischen der von der Sonne bestrahlten Frau im Bildmittelgrund und der sich im Schatten befindlichen Körperhälfte der Fotografin vor, die in unmittelbarer Nähe zur abgelichteten Frau am dunkelsten in Erscheinung tritt. An der Stelle, wo sich Maiers Ellbogen dem Rücken der Frau nähert, macht sich der Farbkontrast Schwarz-Weiß am deutlichsten bemerkbar. Damit wird vor allem Maiers ›dunkle‹ Körperhälfte visuell betont. Dadurch, dass die ernsten Gesichtszüge von Maier zu zwei Dritteln im Schatten liegen, erhält das Bild zudem einen angespannten Tenor. Vorliegende Anspannung wird von Maiers starrer Körperhaltung und ihrem eng anliegenden, festsitzenden Kostüm weitergetragen, das wiederum einen merklichen Kontrast zur laissez-fairen Körperhaltung der sich im Bildmittelgrund befindlichen Frau und ihrer luftigen Kleidung herstellt. Der starre, fast statuengleiche Stand Maiers wird folglich durch die Dynamik der hinter ihr sichtbaren Frau und ihrem nach vorne geschwungenen Arm nochmals verstärkt. Zudem verwendete Maier für vorliegende Aufnahme eine geringe Tiefenschärfe, sodass sie als zentrale Figur bzw. Hauptmotiv des Bildes gut sichtbar in Erscheinung tritt. Die Frau im Hintergrund hingegen fügt sich in die weiche Unschärfe der Umgebung ein. Auch auf Ebene der Schärfentiefe wird folglich ein Kontrast zwischen Maier und der hinter ihr im Bild sichtbaren Frau hergestellt. Maier arbeitete im Zuge der Kontrastierung folglich nicht nur mit Mitteln der Komposition und Aufnahmeperspektive, sondern stellte auch bereits durch die Auswahl des Sujets bzw. der Bildmotive auffallende Kontraste her – in diesem Bild beispielsweise durch die Wahl einer feminin gekleideten Frau in heller Bluse und luftigem Rock mit eingedrehten Haaren bei gleichzeitiger Abbildung des Künstlerinnenkörpers mit Kurzhaarschnitt, engsitzendem dunklen Kostüm und ernster Miene. Somit nimmt vorliegende Fotografie auf zwei sich in ihrer ikonografischen Darbietung unterscheidende Frauenbilder Bezug, bei dem aufgrund der mittigen und bilddominierenden Positionierung der Fotografin vor allem das von ihr selbst ›gezeichnete‹ Frauenbild im Vordergrund steht. Durch die gewählten Farbkontraste (Hell-Dunkelkontraste) und ihre Körpersymmetrie wirkt Maiers Abbild stark plastisch und tritt aus dem Bild heraus. Damit wird Dominanz auf Ebene der szenischen Choreografie suggeriert, die durch die gewählte Untersichtperspektive nochmalig verstärkt
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wird. Auffallend ist zudem, dass der Körper der Urheberin auch in dieser Fotografie eine visuelle Unterteilung bzw. Separierung in zwei Hälften erfährt. Durch die fast körpermittig angeordnete Schattenlinie, die von Maiers Kopf bis an den unteren Bildrand führt, erfolgt im Gegenzug zu den vorhergehenden Bildern hier eine senkrecht ausgerichtete Spaltung bzw. Unterteilung in eine linke und rechte Körperhälfte, die unterschiedliche Ansichten auf die Künstlerin gewähren und damit den Künstlerinnenkörper jeweils unterschiedlich wahrnehmen lassen. Eine Seite bzw. Hälfte liegt im Licht und ist folglich sichtbar. Die andere Hälfte verweilt im Schatten, bleibt ungesehen und spielt mit der Symbolik des Verborgenen, eventuell sogar Abgründigen und deutet auf ein zweites ›Ich‹ á la Dr. Jekyll und Mr. Hyde hin (worauf bereits in der Analyse des Schattenbildes im Abschnitt 5.3.1 verwiesen wurde). Die Symbolik von Hell-Dunkelkontrasten kann im Zuge einer genderkritischen Betrachtung vorliegender Fotografie zudem sowohl für die männlichen wie auch weiblichen Anteile und Attribute stehen, die der Künstlerinnenkörper durch vorliegende Aufnahmeperspektive in sich vereint. Betrachtet man die spielerische Anordnung von flächigen Hell-Dunkelkontrasten, dann kann eine Analogie zu einem Schachbrett gezogen werden, bei dem Maier aufgrund der Zeichnung ihrer Körperkonturen einer Schachbrettfigur gleichkommt, jedoch weder auf schwarzer noch auf weißer Seite ›spielt‹. Interessant ist die vorliegende Fotografie vor allem insofern, weil sie durch die planimetrische Komposition, die Anordnung der Fluchtpunkte und die szenische Choreografie starke Ambivalenzen erzeugt: Die nach oben gerichteten Spitzen der imaginierten gleichschenkligen Dreiecke führen den Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachtes tendenziell nach oben. Das sonnenbeschienene, helle Dreieck, das Maiers Kragen formt und dessen Spitze nach unten verweist, lenkt den Blick wiederum auf Maiers Kamera und in das untere Drittel des Bildes. Durch die Aufnahmeperspektive und die Anordnung der Fluchtpunkte wird der Blick tendenziell nach links gelenkt. Maiers stark vom Sonnenlicht beschienene rechte Körperhälfte fordert jedoch aufgrund des Farbkontrasts ebenso Aufmerksamkeit und zieht den Blick nach rechts. Senkrechte Linien werden wiederum durch Maiers Körpersymmetrie (Schulter- und Armpartie) von waagrechten Linien durchbrochen. Hell- und Dunkelkontraste wechseln sich ab. Somit oszilliert der Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters zwischen links (z.B. beschienene Frau) und rechts (z.B. beschienene Körperhälfte von
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Maier), oben (z.B. Maiers Augen und Hals) und unten (z.B. Rolleiflex) bzw. den hellen und dunklen Bildanteilen (z.B. Schatten und Sonne). Die im Bild vorhandene Symmetrie wird durch vorliegende Ambivalenzen aufgebrochen und stiftet auf visueller Ebene im Zuge der Bildbetrachtung erhebliche Unruhe. Die Fotografie ist folglich weder ›schwarz‹ noch ist sie ›weiß‹, sie ist weder ausschließlich symmetrisch noch ist sie umfassend asymmetrisch. Sie ist weder völlig ruhig noch ist sie laut. 5.3.4 Mehrfachspiegelungsporträt
Abbildung 29: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., o. D. I) Formulierende Interpretation Vor-ikonografische Ebene Bei vorliegender Aufnahme handelt es sich aufgrund der zweifachen Reflexion von Maier in einem Schaufensterglas und einem (in dem Schaufenster gelagerten) Spiegel um ein Bild mit mehreren Bildebenen. Somit wird für jede der Spiegelungen separat eine Einteilung in Bildvorder- und -hintergrund vorgenommen. Es ist davon auszugehen, dass Maier hier vermutlich erneut mit der Technik der Mehrfachbelichtung gearbeitet hat, da sich der Bildhintergrund beider Reflexionsbilder bei genauer Betrachtung des Baumwuchses und der Anordnung der Gegenstände im Hintergrund (z.B.
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Strommasten) unterscheidet. Dies könnte jedoch auch an der Aufnahmeperspektive und der Neigung des Spiegels im Schaufenster liegen. Die idente Mimik der sich spiegelnden Frauengesichter sowie ihre vergleichbare Körperhaltung könnten daher auch dagegensprechen. Schaufensterglasreflexion In der Schaufensterglasreflexion zeigen sich die Umrisse des Oberkörpers einer Frau, die unverkennbar einen Hut trägt. Die Gesichtszüge der Frau können aufgrund der fehlenden Schärfe nur andeutungsweise als ernst bzw. angespannt eingeordnet werden. Der Mund der Frau ist leicht geöffnet, der Blick nach oben gerichtet. Im Bildhintergrund befinden sich blätterlose Laubbäume sowie zwei Freileitungsmasten, deren Leitungsseile sich waagrecht durch die untere Hälfte des Bildes ziehen. Links am Bildrand wird der Umriss eines relativ flachen Gebäudes sichtbar. Der Himmel ist wolkenverhangen. Schaufenster Bei den im Bildmittelgrund sichtbaren Gegenständen, wie beispielsweise den an einer Wand hängenden Bildern und einem Spiegel, könnte es sich um Antiquitäten handeln, die in einem Schaufenster gelagert bzw. ausgestellt sind. Mittig im unteren Teil des Schaufensterbildes sind weiße Gitterstäbe erkennbar, die aufgrund ihrer Anordnung bzw. Konstruktion auf ein Gitterbett bzw. Bettgestell hindeuten. Dahinter befindet sich ein großer Spiegel, der sowohl die Gitterstäbe als auch das Gesicht einer Frau spiegelt. Mittig vor dem Spiegel angeordnet ist ein quadratisches Stück Papier, auf dem die Aufschrift »We have« zu lesen ist und den Eindruck verstärkt, dass es sich hierbei um eine Schaufensterauslage und ein Verkaufsangebot handelt. Die Buchstaben der zweiten und dritten Zeilen sind aufgrund der Bildqualität nicht mehr entschlüssbar. Am linken Bildrand befinden sich weitere Gitterstäbe sowie ein Lampenschirm. Hinter dem Spiegel steht eine zweite Lampe auf einem Tisch. In der rechten Bildhälfte können die Umrisse eines Stuhls sowie ein weiterer deutlich kleinerer Spiegel und drei an der Wand hängende Bilder identifiziert werden. Spiegelreflexion Im unteren Drittel der Spiegelreflexion ist auf der rechten Seite im Bildvordergrund der Kopf einer Frau sichtbar. Sie trägt einen Hut. Der Kopf ähnelt in seinem Umriss bzw. seiner Kontur dem Kopf der im Schaufensterglas re-
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flektierten Frau. Auch die Mimik beider Gesichter scheint ident zu sein, sodass davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei beiden Reflexionsbildern um dieselbe gespiegelte bzw. reflektierte Frau handeln könnte. Im Bildhintergrund werden kahle Laubbäume bzw. Laubbaumkronen sichtbar. Auch hier zeigt sich der Himmel bedeckt. Ikonografische Ebene Die Fotografie ist gemäß den Informationen in dem von John Maloof herausgegebenen Bildband Vivian Maier – Self-Portraits (2013) in Chicago entstanden. Angaben zur Entstehungszeit sind nicht vorhanden. Das Foto wurde als Selbstporträt vermutlich vor einem Schaufenster eines Antiquitätenladens aufgenommen. Da Maier vor allem in den 50er und 60er Jahren mit einer Mittelformatkamera der Marke Rolleiflex fotografiert hat (die aufgrund der Aufnahmeperspektive auf Brusthöhe für vorliegende Fotografie vermutlich ebenso zum Einsatz kam), dürfte dieses Bild schätzungsweise in den 50er bzw. den 60er Jahren angefertigt worden sein. Somit war Maier zum Aufnahmezeitpunkt geschätzt zwischen 30 und 40 Jahre alt. II) Reflektierende Interpretation Perspektivische Projektion Aufgrund der Überlagerung mehrerer Bildebenen und fehlender Referenzobjekte ist in vorliegender Fotografie die Anordnung der Fluchtpunkte nicht exakt auszumachen. Auf der Ebene der Schaufensterglasspiegelung dürfte der Fluchtpunkt aufgrund der Aufnahmeperspektive etwas unterhalb des unteren Bildrandes liegen. Die Aufnahme wurde aus Untersichtperspektive gemacht, die sich, wie bereits erwähnt, durch die Kamerapositionierung auf Brusthöhe der abbildenden Bildproduzentin ergibt. Maiers Körper erscheint aufgrund der Wahl der Froschperspektive im Vergleich zur Normalperspektive deutlich größer und prominenter. Die hergestellte Prominenz ihrer Umrisse auf der Ebene des Aufnahmewinkels wird durch Maiers Nähe zum reflektierenden Objekt (hier der Glasscheibe) und der damit erreichten Reflexionsgröße nochmalig unterstrichen. Ihre Reflexion nimmt in ihrer flächigen Ausdehnung mindestens die Hälfte des Bildraums ein und bildet aufgrund der dunklen Farbgebung des Körpers einen Kontrast zum Grauweiß der sich hinter ihr ausdehnenden Wolkendecke. Aufgrund der Spiegelreflexion von Maier im unteren Teil des Bildes sowie der
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sichtbaren Gitterstäbe und Antiquitäten in der Schaufensterauslage wirkt die untere Bildhälfte deutlich unruhiger als die obere, in der Maiers Kopfpartie in Form einer Schaufensterglasreflexion die Bildfläche dominiert. Planimetrische Komposition Der Bildmittelpunkt befindet sich an der unteren linken Kinnkante des reflektierten Gesichts der Fotografin. Folglich wird vor allem der untere linke Teil von Maiers Kopf planimetrisch fokussiert. Maier ist etwas nach rechts versetzt positioniert, sodass in der linken Bildhälfte die Fadenstruktur der Leitungsseile sowie die Gitterstruktur der Betten im Schaufenster zur Geltung kommen. Auch in diesem Bild dominieren in der unteren Bildhälfte senkrechte und waagrechte Linien, die sich im Bereich der Hals- und Schulterpartie von Maier fadenartig von einer Bildseite zur nächsten spannen (Abb. 30). Das untere Drittel des Bildes wird von senkrechten Linien dominiert, die mittig an die Gitterstäbe einer Gefängniszelle erinnern lassen. Auch auf der linken und rechten Körperseite von Maier tritt diese Struktur nochmalig auf. Dies erweckt den Anschein, als sei Maier eingegrenzt – einerseits durch die Gitterstrukturen am linken und rechten sowie unteren Bildrand, andererseits durch die hinter ihr verlaufenden Linien der Leitungsseile. Einzig Maiers Kopfpartie ragt über die Begrenzung der Leitungsseile hinaus und durchbricht folglich die Grenzen der Linienstruktur, die rund um ihren Körper angesiedelt ist.
Abbildung 30: Linienstruktur
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Szenische Choreografie Die feststellbare Symmetrie der waagrechten und senkrechten Linien wird von zwei imaginativen Dreiecken aufgelöst, die von Maiers Oberkörper (Kopf- und Schulterpartie) und Maiers Kopf gebildet werden (Abb. 31). Auch die Form der Baumkronen kann als imaginatives Dreieck nachgezeichnet werden, sodass dadurch der Bruch zwischen waagrechter und senkrechter Linienführung und der Dreiecksform im Bildhintergrund und in der Schaufensterglasreflexion fortgeführt wird.
Abbildung 31: Konturen Verbindet man die Spitzen der Dreiecke, die Maiers Körper konturieren, mit einer senkrechten Linie, dann eröffnet sich, dass die gespiegelten Körper etwa auf gleicher Höhe angeordnet sind. Die Spiegelglasreflexion von Maier wirkt folglich wie eine kleinere Ausführung ihrer Schaufensterglasreflexion. Aufgrund der gewählten Tiefenschärfe lässt die Spiegelreflexion die Gesichtskonturen der Fotografin deutlicher erkennen als es für die körnige Schaufensterglasreflexion der Fall ist. Die im Spiegel reflektierte Maier wirkt aufgrund der abgebildeten Größe und der hellen rechteckigen Spiegelfläche innerhalb Maiers dunkler gespiegelter Körperfläche in der Schaufensterglasreflexion wie eine Miniaturfigur gefangen in einer Glaskugel.
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III) Ikonologisch-ikonische Interpretation Auch vorliegende Fotografie spielt auf der Ebene der planimetrischen Komposition mit der Symbolik der Grenzziehung. Diese wird einerseits durch die Stäbe der Gitterbetten bzw. Bettgestelle, andererseits durch die netzartige Struktur der Leitungsseile im Bildhintergrund transportiert. Somit wirken sowohl die ›große‹ wie auch die ›kleine‹ Maier innerhalb der reflektierten Bildräume eingesperrt bzw. eingegrenzt. Im Fall der im Schaufensterglas reflektierten Umrisse der Fotografin erstreckt sich deren Einzäunung senkrecht hinter Maier auf Höhe des Hals- und Schulterbereichs. Aufgrund der Linienführung wirken die Leitungsmasten und Leitungsseile wie ein Hochspannungszaun einer Gefängnisanlage, innerhalb derer sich Maier aufzuhalten scheint. Auch auf Ebene der Spiegelglasreflexion, die innerhalb der Schaufensterglasreflexion angeordnet ist und aus dem Dunkelgrau von Maiers Körpers hervortritt, stellt Maier eine weitere Analogie zur Symbolik eines Gefängnisaufenthalts her. Indem Maiers Kopf hinter der von den Stäben des Bettgestells verursachten Gitterreflexion hervorblickt, erweckt es den Anschein, als würde Maier in einer Gefängniszelle stehen. Dieser Eindruck des Eingesperrtseins bzw. -werdens wird durch die links und rechts im unteren Bildrand sichtbaren Gitterstäbe weiter verstärkt. In der Schaufensterglasreflexion durchbricht die Fotografin jedoch die Begrenzung der Leitungsseile, indem ihr Kopfbereich auf vorliegender Bildebene über der Linienführung der Leitungsseile angeordnet ist. Im Kontext der szenischen Choreografie und Planimetrie wird die hergestellte Liniensymmetrie zudem durch die dreieckige Form ihres Körpers (vor allem in der Schaufensterglasreflexion) aufgelöst. Der Zaun wirkt durch die Dicke der Leitungsseile im Gegenzug zu Maiers dominantem Erscheinen im Bildraum auf Ebene der Schaufensterglasreflexion förmlich filigran. Durch den Aufnahmewinkel im Zuge der perspektivischen Projektion und die Größe und Farbe der im Bild erscheinenden Reflexion von Maier im Schaufensterglas wirken weniger die Begrenzungen bedrohlich als vielmehr die den Großteil des Bildraums einnehmende dunkelfarbene Maier selbst, die durch den Einsatz der Froschperspektive auf Ebene der Schaufensterglasreflexion Dominanz und Überlegenheit ausstrahlt. Auf Ebene der Spiegelglasreflexion droht die Fotografin hingegen hinter den Gitterstäben unterzugehen. Hier wirkt Maier puppenhaft klein und ihre Körperumrisse verschwimmen mit den Farben ihrer Umgebung. Im Gegenzug zu ihrer Reflexion im Schaufenster wirkt Maier in dieser kleinen Miniaturwelt gefangen und ver-
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loren. Die Reflexion von Maier auf Ebene der Spiegelglasreflexion steht folglich im Kontrast zur Reflexion von Maier auf Ebene der Schaufensterglasreflexion, wodurch die Fotografie erneut eine gewisse Ambivalenz vermittelt. Die visuell erzeugte Überlegenheit der ›großen‹ Maier verleitet im Zuge eines zweiten Blicks zu einer Perspektivenänderung. So fühlt sich das virtuelle Gegenüber, folglich die Beschauerin/der Beschauer, ebenso in eine Zelle versetzt, indem der Blick hinaus ins ›Helle‹ zur entfernten Maier führt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Hell-Dunkelkontraste, die der schattenartige Oberkörper der dunkel reflektierten Maier schafft, die auf die Betrachterin/den Betrachter herabblickt und das reflektierte Licht im mittig angeordneten Spiegelbild noch stärker hervorhebt. Die Betrachterin/Der Betrachter wird aufgrund der von Maier gewählten perspektivischen Projektion dazu angehalten, sowohl ›hinauf‹ wie auch ›hinaus‹ zu schauen und wird damit in gewisser Weise in eine inferiore Position gedrängt. Die kleine Maier, die aus großer Distanz das Geschehen im Inneren der Zelle schaulustig beobachtet, scheint auf den einen Moment zu warten, in dem der dunkle Schatten über die Betrachterin/den Betrachter hereinbricht. Die Beschauerin/Der Beschauer erfährt sich hier als beobachtetes (von der ›kleinen‹ Maier) und gleichzeitig bedrohtes (von der ›großen‹ Maier) Gegenüber, das Maier in gewisser Weise ausgeliefert zu sein scheint. Auch diese Fotografie spielt wiederholt mit starken Kontrasten und Gegensätzen, was sich vor allem in Form des Einsatzes von Hell- und Dunkelkontrasten bemerkbar macht. Der Himmel erscheint in grauweißen Tönen, die von den dunklen Farben der Schaufensterglasreflexion kontrastiert werden. Dieser hergestellte Unterschied zwischen hellen und dunklen Bereichen lässt Maiers Körperumrisse wiederum deutlich aus dem Bild heraustreten. Innerhalb der schwarzgrauen Körperfläche der Fotografin wird am unteren Ende des Bildes ein weißes Rechteck sichtbar, indem eine Miniaturausgabe von Maiers Kopf auftaucht und somit aufgrund der Farbkontrastwirkung ebenso visuell betont wird. Einen weiteren Kontrast stellen die Größenverhältnisse der Reflexionen von Maier her, die aufgrund des Aufnahmewinkels und der Entfernung der Spiegelflächen von der abbildenden wie abgebildeten Bildproduzentin mal überdimensional groß und mal auffallend klein im Bild erscheinen. Diese Reflexionsbilder von Maier unterscheiden sich jedoch nicht nur in ihrer Größe und Farbe, sondern auch in ihrer Konturierung und Schärfe. Während Maiers Schaufensterglasreflexion
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durch die gewählte Unschärfe nur andeutungsweise ihre Mimik in ihrem Gesicht preisgibt, wurde Maiers Spiegelreflexion durch die verwendete Tiefenschärfe im Bild fokussiert. Aufgrund der verkleinerten Abbildung ihres Kopfes ist auch in diesem Fall Maiers Mimik nur in Ansätzen bzw. groben Zügen erkennbar. Auffallend ist zudem, dass sich Maier auch in dieser Fotografie in der Halbtotale aufgenommen hat bzw. in der Spiegelreflexion nur ihren Kopf zeigt, wodurch der Fokus erneut auf die obere Körperhälfte bzw. ihren Kopf gelegt wird. Auch die Positionierung des planimetrischen Zentrums auf Höhe der linken Kinnkannte folgt dieser Visualisierungsstrategie. Damit wird der Künsterinnenkörper auch hier wiederholt in einen sichtbaren Oberkörper und einen nicht gezeigten Unterkörper separiert. Interessant erweist sich dieses Bild auch aufgrund der gezeichneten Konturen von Maier auf der Ebene der Schaufensterglasreflexion, die Maier durch das Tragen eines Hutes sowie die Silhouette und Formgebung des hochgeschlossenen Mantels erneut wie eine Schachfigur aussehen lassen. Diese Analogie wird durch die im Bild vorherrschenden Schwarz-WeißKontraste verstärkt und könnte auch in Verbindung zu den visualisierten Begrenzungen stehen. Die Fotografie lässt den Künstlerinnenkörper wie eine ›gezogene‹ Schachfigur (z.B. Bauer) aussehen, die sich ›höheren Mächten‹ wie beispielsweise gesellschaftlichen Machtstrukturen – visualisiert durch die gezeichneten Zäune und Begrenzungen – unterworfen bzw. ausgeliefert fühlt. Insgesamt erzeugt das Bild eine unangenehme Stimmung, die in erster Linie durch die Art der Darstellung von Maiers Reflexion im Schaufensterglas, bei der sie sich wie ein Schatten über das Bild legt, verursacht wird. Diese Stimmung wird durch die kahlen, dürren Baumwipfel und den trostlosen Himmel im Bildhintergrund untermalt. 5.3.5 Einfachspiegelungsporträt I) Formulierende Interpretation Vor-ikonografische Ebene Bei der vorliegenden Fotografie wird im Zuge der Dreiteilung des Bildes in Bildvorder-, -mittel- und -hintergrund zur besseren Übersicht zwischen dem oberen Bildbereich, der mittig gespiegelten Fläche sowie dem unteren Bildbereich unterschieden.
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Oberer Bildbereich Im oberen Viertel des Bildes dominieren im Bildvordergrund sich diagonal kreuzende Stangen einer Absperrung bzw. eines Geländers. Im Bildmittelgrund sind in der oberen linken Ecke des Bildes zwei junge Frauen sichtbar. Die linke Frau trägt einen Hut und blickt aus dem Fenster eines Gebäudes. Die rechts von ihr sitzende, stehende bzw. gehende Frau trägt ebenso einen Hut, Knopfohrringe und schaut in Richtung der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters. Während der Kopf- und Schulterbereich der linken Frau noch ansatzweise im Bild erkennbar ist, zeigt sich von der rechts positionierten Frau lediglich der Kopfbereich, der an der unteren Lippenkontur von einer waagrechten Linie einer Mauerkante angeschnitten wird. Aufgrund der makellosen und starren Gesichtszüge könnte es sich bei den Frauen um Schaufensterpuppen handeln. Rechts von ihnen wird bildmittig ein Objekt sichtbar, das eventuell als Stuhl eingeordnet werden kann. Es könnte sich dabei jedoch ebenso um einen Dekorationsartikel handeln, der an den Gestängen der Absperrung bzw. des Geländers und an einer Wand befestigt worden ist. Im Bildhintergrund erstrecken sich die Fassade und Fenster eines von der Sonne beschienenen Hauses, bei dem es sich aufgrund seiner architektonischen Form vermutlich um ein Jugenstil-Gebäude handeln könnte.
Abbildung 32: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., o. D.
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Es bleibt unklar, ob die Szenerie im oberen Bildbereich eine Spiegelreflexion ist oder ob von einem unter den zwei Damen befindlichen Raum bzw. einer unter ihnen liegenden Etage nach oben in einen höher gelegenen Stock des Gebäudes fotografiert wurde. Sollte es sich bei den Frauen um Schaufensterpuppen handeln, stehen diese aufgrund der im Hintergrund sichtbaren Glasfront vermutlich in einem großen Schaufenster eines Kaufhauses. Mittig gespiegelter Bildbereich Den Großteil des mittigen Bildabschnitts nimmt eine gespiegelte Fläche ein, in der die Reflexion einer fotografierenden Frau rechts im Bildvordergrund sichtbar wird. Sie hält auf Brusthöhe eine Mittelformatkamera der Marke Rolleiflex in ihren Händen, deren Finger sich links und rechts (aufgrund der Fingerstellung) an die Kamera zu krallen scheinen. Die fotografierende Frau ist vermutlich zwischen 30 und 40 Jahre alt und trägt einen weiten Mantel und ein Halstuch. Ihre Augen sind nach oben links gerichtet. Ihre Stirn ist in Falten gelegt, der Mund geschlossen. Sie trägt einen dunkelfarbigen Kurzhaarschnitt und ihre Stirnhaare sind auf der linken Seite mit einer Haarnadel befestigt. Im Bildmittelgrund steht ein Regal, das mit unterschiedlichen Handtaschen befüllt ist. Vor dem Regal steht eine ältere brillentragende, schwarz gekleidete Frau. Im Bildmittelgrund der Spiegelreflexion wird der Kopf einer Frau mit schwarzem Hut und ein an einer Stange hängendes weißes Hemd sichtbar. Sie scheint sich mit dem vor ihr stehenden Mann zu unterhalten, dessen Oberkörper im Bild bis zur Schulterpartie sichtbar wird. Es könnte sich bei der huttragenden Frau aufgrund ihrer plastischen Gesichtszüge ebenso um eine Schaufensterpuppe handeln. Im Bildhintergrund werden die Umrisse eines weiteren von der Spiegelkante angeschnittenen, vermutlich männlichen Kopfes sichtbar sowie eine in der oberen linken Wandhälfte eingerichtete kleine Ausstellungsfläche, in der verschiedene schwarze Hüte angeordnet sind. An das links im Bild sichtbare Taschenregal schließt links davon eine senkrecht verlaufende kleine Bildfläche an, die nicht zur Regalsymmetrie passt und folglich einen visuellen Bruch erzeugt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine weitere Reflexion innerhalb der Spiegelreflexion handelt.
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Unterer Bildbereich Im unteren Bildbereich liegt ein Handspiegel aus Holz auf einem Tisch, dessen Spiegelfläche zur Tischfläche gedreht wurde. Auf dem Tisch steht ein rechteckiger Spiegel, der an eine vermutlich mit Holz verkleidete Wand gelehnt ist und der bildmittig das zuvor beschriebene Reflexionsbild abbildet. Ikonografische Ebene Das Bild visualisiert den Akt der Selbstporträtierung der Fotografin Vivian Maier, die als die rechts im Bild stehende Frau identifiziert werden kann. Bezugnehmend auf das Wissen um die im Bild erkennbaren Stilelemente (vgl. Panofsky 1975) dürfte es sich bei vorliegender Aufnahme um ein etwas gehobeneres Ambiente handeln, was vor allem durch die zwei Frauen mit Hut im oberen linken Bildrand und die Ausstattung der Räumlichkeiten zum Ausdruck gebracht wird: Handtaschen reihen sich aneinander; weiße Hemden blitzen im Bild auf; Frauen bzw. Schaufensterpuppen tragen mondäne Hüte. Aufgrund der Anordnung der dicht aneinandergereihten Damentaschen im links im Bild sichtbaren Regal, der starken, fast grellen Deckenbeleuchtung und der kleinen Ausstellungsfläche mit Hüten im Bildhintergrund könnte es sich bei vorliegender Szenerie um ein Bekleidungsgeschäft handeln. Darauf könnte auch der kleine Handspiegel hindeuten, der vor einem großen Spiegel auf einem Tisch liegt und eventuell dazu dient, sich beim Anprobieren von Hüten von hinten gespiegelt betrachten zu können. Vergleicht man den oberen mit dem mittigen Bildbereich, könnte Maier vorliegende Szene auch in einem mehrstöckigen Kaufhaus fotografiert haben, da mehrere Ebenen bzw. Etagen im Bild sichtbar sind. II) Reflektierende Interpretation Perspektivische Projektion Aufgrund der Überlagerung unterschiedlicher Bildebenen sind mehrere perspektivische Projektionen im Bild auszumachen. In der mittig angeordneten Spiegelreflexion liegt der Fluchtpunkt beispielsweise außerhalb der gespiegelten Szene am unteren rechten Bildrand. Dies verdeutlicht, dass der Spiegel schräg an der Wand angelehnt war und Maier durch die Positionierung der Kamera die gespiegelte Szenerie in dezenter Untersicht aufgenommen hat. Dadurch tritt Maier im Verhältnis zu den anderen abgebildeten Personen größer und damit dominanter im Hinblick auf ihre Raumprä-
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senz in Erscheinung. Zudem wird durch den gewählten Aufnahmewinkel auch die prominente Deckenbeleuchtung im Bild sichtbar und führt den Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters aufgrund der strahlenartigen Linienführung der Deckenbeleuchtung in den oberen Bildbereich. Hier zeigt sich die Kaufhausszene in Schrägperspektive. Dadurch wird der Anschein erweckt, als würden im vorliegenden Bild mehrere Bildebenen aufeinandertreffen. Planimetrische Komposition Die Planimetrie zeichnet sich auf Ebene der bildmittigen Spiegelreflexion durch eine strahlenartige Anordnung von schrägverlaufenden Raumlinien aus (Abb. 33). Dadurch, dass diese Linien vor allem durch die markant hervortretenden Deckenlampen nach oben links verlaufen, wird der Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters in diese Richtung gelenkt, sodass die am linken oberen Bildrand sichtbaren Frauen bzw. Schaufensterpuppen in den Blick geraten. Diese nach oben verlaufenden Linien werden jedoch von der waagrechten Begrenzung der Spiegelkanten sowie der im oberen Bildbereich sichtbaren Mauerkante in ihrem Verlauf visuell gestoppt.
Abbildung 33: Linienführung/Raum Damit treten in der waagrechten Bildeinteilung drei markante Bildebenen bzw. -flächen hervor – die Tischfläche mit Handspiegel, die rechteckige Fläche der Spiegelreflexion mit Maiers Selbstaufnahme im Kaufhausam-
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biente sowie die schmale am oberen Bildrand sichtbare Bildfläche, die zwei Frauen- bzw. Puppenköpfe sowie den waagrechten Verlauf eines Gebäudes abbildet. Das planimetrische Zentrum liegt auf Gesichtshöhe der fotografierenden Frau rechts nahe der zweiten Deckenlampe. Dadurch bilden weder die Fotografin noch die abgebildeten Frauen bzw. Puppen das planimetrische Zentrum. Da diese am rechten und linken Bildrand auftreten, wird eine gewisse räumliche Distanz zwischen den Frauenkörpern hergestellt, was durch die visuelle Raumtiefe der nach hinten unten verlaufenden Wand und Raumdecke in der Spiegelreflexion unterstrichen wird. Zudem fällt auf, dass die Linienführung in der Spiegelreflexion harmonisch nach links oben verläuft, während die Bildebene im oberen Bildbereich durch die sich kreuzenden, senkrechtverlaufenden Linien eines Geländers deutlich unruhiger wirken (Abb. 34) und in Ergänzung zu den waagrecht verlaufenden Linien der Spiegelkanten eine weitere Begrenzung schaffen.
Abbildung 34: Linienführung/Geländer Szenische Choreografie Sowohl Maier als auch die die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter anblickende Frau bzw. Puppe zeichnen mit ihren Körperkonturen ein Dreieck, dessen Spitze nach oben zeigt und folglich den nach oben gerichteten Verlauf der strahlenförmig angeordneten Wand- und Deckenlinien wiederaufnimmt (Abb. 35). Ein weiteres Dreieck formt die Verbindung zwischen dem Frauenkopf, Maiers Gesicht und dem prominent im unteren Bildrand
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auf einem Tisch liegenden Handspiegel (Abb. 35). Der Handspiegel und das Gesicht der Frau mit Hut sind beide in der linken Bildhälfte positioniert und liegen, zeichnet man eine senkrechte Verbindungslinie zwischen Frau und Spiegel, auf identer Höhe angeordnet. Maier hingen taucht rechts im Bild auf und wirkt durch die helle Deckenbeleuchtung im rechten Bildraum etwas separiert bzw. abgetrennt. Durch die Positionierung von Maiers Reflexion im mittleren Bildraum scheint sie sich förmlich zwischen die obere und untere Bildebene zu schieben. Auch wenn Maier auf Ebene der Bildfläche (misst man die Seitenlänge des Dreiecks) nicht wesentlich entfernter von der Frau mit Hut positioniert ist wie der Handspiegel, wird insbesondere durch die Raumtiefe der Spiegelreflexion optisch eine größere Distanz vorgetäuscht. Interessant erscheinen auch die sich im Bild abzeichnenden Blickrichtungen. Maiers Augen waren zum Aufnahmezeitpunkt nach oben gerichtet (Maier hätte genauso gut in den Sucher ihrer Kamera blicken können), was darauf hindeutet, dass ihr daran gelegen war, die mit der Kamera anvisierte Frau bzw. Schaufensterpuppe mit ihrem Blick zu treffen. Maier wollte folglich, dies zeichnet sich auch in der Wahl des Aufnahmewinkels ab, den Fokus auf die Frau mit Hut legen. Die Frau hingegen sieht, so macht es zumindest den Anschein, die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter an und hat zum Aufnahmezeitpunkt folglich in Richtung der Aufnahmekamera und Maier geblickt. Damit wird auch die Bildbetrachterin/der Bildbetrachter in die Blickkommunikation mit aufgenommen. Maier adressiert die Betrachterin/den Betrachter folglich indirekt über den Blick des anvisierten Motivs. III) Ikonologisch-ikonische Interpretation Sowohl die von Maier vorgenommene planimetrische Komposition wie auch die szenische Choreografie verweisen auf eine Gegenüberstellung von der rechts unten im Bild sichtbaren Fotografin und der Frau bzw. Schaufensterpuppe im oberen linken Bildviertel. Maier ist rechts unten, die Frau bzw. Schaufensterpuppe links oben positioniert. Der Bildmittelpunkt befindet sich zwischen Maier und der Schaufensterpuppe bzw. Frau, wodurch keine der beiden Frauen, jedoch die räumliche Distanz zwischen ihnen, planimetrisch fokussiert wird. Durch unterschiedliche visuelle Begrenzungen im Bildraum wird dieser Eindruck weiter verstärkt. Aufgrund der mittig angeordneten Spiegelreflexion werden beispielsweise drei Bildebenen sichtbar, die durch die Linienführung des Spiegels voneinander abge-
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grenzt werden. Auch die grelle Deckenleuchte erzeugt eine schräg verlaufende Grenzziehung im Bildraum, die durch die sich kreuzenden Stangen im oberen Bildbereich weitergeführt wird. Damit wirkt die Frau bzw. Schaufensterpuppe förmlich abgeschottet und unerreichbar für die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter, was durch eine zweifache Grenzziehung der Spiegel- sowie Mauerkante deutlich betont wird. Aufgrund der perspektivischen Projektion und Linienführung der Fluchtpunktlinien in der Spiegelreflexion gleitet der Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters zwangsläufig von Maier in den oberen linken Bildbereich, der dadurch mit Bedeutung aufgeladen wird. Die Bildbetrachterin/Der Bildbetrachter befindet sich somit perspektivisch unterhalb der sie/ihn anblickenden Frau bzw. Schaufensterpuppe. Damit wird diese aus Sicht der Betrachterin/des Betrachters auf eine räumlich höhere und damit metaphorisch erhabenere und unnahbare Position gehoben.
Abbildung 35: Körperkonturen und Verbindungslinien Maier verwässert in vorliegender Fotografie unter anderem die Grenzen zwischen puppenhafter Artifizialität und menschlicher Natürlichkeit, indem durch Maiers gewähltes Arrangement nur mehr schwer auszumachen ist, ob es sich bei den dargestellten Personen um Schaufensterpuppen oder Menschen handelt. Damit verweist die Fotografie mitunter auf den schleichenden und in Teilen un- bzw. vorbewussten Prozess der Übernahme von arti-
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fiziell erzeugten Geschlechterbildern (z.B. Werbung, Mode) und dazugehörigen Attributen und Schönheitsidealen. Schaufensterpuppen sind in ihrer Funktion als Werbemittel Projektionsfläche für Geschlechterbilder, die im öffentlichen Raum durch ihr Aussehen und die Mode, die sie präsentieren, ein selektives Frauen- wie auch Männerbild transportieren (frei nach dem Motto: »So muss sie/er sein, die Frau/der Mann von heute!«). Ihre Omnipräsenz in Schaufenstern von Kaufhäusern konfrontieren Konsumentinnen/Konsumenten folglich täglich mit einer künstlich geschaffenen Realität kommerzialisierter Schönheit und den eingeforderten Attributen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die aufgrund ihrer Präsenz im öffentlichen Raum die allgemeine Auffassung von Geschlechterbildern wesentlich beeinflussen bzw. mitgestalten. Das im Bild transportierte, artifiziell konstruierte Schönheitsideal (verkörpert durch die Schaufensterpuppe) verweist auf eine makellos geschminkte, einen Lidstrich und mondänen Hut tragende junge Frau mit auffällig geschwungenen Augenbrauen. Diese erinnert unverkennbar an die zur damaligen Zeit zur Stilikone erhobene Schauspielerin Audrey Hepburn. Für Maier wie auch die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter scheint dieses Ideal aufgrund der planimetrischen Komposition und ihrer Positionierung am rechten unteren Bildrand förmlich unerreichbar bzw. isoliert. Durch die Präsentation eines hierzu unähnlichen Künstlerinnenkörpers scheint die Fotografin Position zu vorliegendem Schönheitsideal zu beziehen, bricht durch ihre Präsenz im Bild mit diesem und bietet der Bildbetrachterin/dem Bildbetrachter einen Gegenentwurf an. So wirkt die Fotografin deutlich burschikoser und brachialer in ihrem Auftreten als die Schaufensterpuppe und stellt einen Kontrast zu normierten Weiblichkeitsmarkern wie einem gepuderten Gesicht, zierlichen Gesichtszügen oder Hochsteckfrisuren her. Dieses andersartige, von Maier verkörperte Frauenbild wird durch die im Bild erkennbare fotografische Handlung untermalt. Dadurch, dass Maier bis zur Körpermitte auf dem Foto sichtbar ist, wird auch ihre Kamera in das Blickfeld aufgenommen. Maier schien folglich daran gelegen zu sein, den fotografischen Akt und damit sich als betrachtende, aktive Frau visuell festzuhalten. Dies zeigt sich auch an der Stellung ihrer Augen, die nach oben auf die links im Bild sichtbare Frau bzw. Puppe gerichtet sind. Maier nimmt im Betrachtungsvorgang damit den Ansätzen John Bergers (1972) folgend eine männlich besetzte Rolle ein, die auch durch körperliche Marker wie Maiers Kurzhaarschnitt, den hochgeschlos-
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senen Mantel in Übergröße und ihre dominant wirkende Körperhaltung zum Ausdruck gebracht wird. Der fotografische Akt und das fotografische Betrachten waren in der Werbebranche gegen Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch eine vorwiegend männlich besetzte Domäne und das Fotografieren von Frauen in der Öffentlichkeit dem Mann vorbehalten. Maier provoziert folglich durch ihre visuelle Inszenierung die Aufhebung vorliegender dichotomer Geschlechterrollen im Rahmen der fotografischen Betrachtung. Maier fotografiert nicht nur als Frau eine Frau im Werbekontext, sondern sie präsentiert sich selbst als Sujet ihrer Aufnahme und ist somit in gleicher Weise dem Blick einer imaginierten Bildbetrachterin/eines imaginierten Bildbetrachters ausgesetzt. Maier tritt folglich in die Rolle der betrachtenden wie auch betrachteten Bildproduzentin. Dadurch, dass der Blick der Puppe bzw. Frau den Blick der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters trifft, findet auch sie/er sich in einer Doppelrolle wieder: Sie/Er betrachtet und wird zeitgleich betrachtet. Durch die visuelle Betonung der fotografischen Handlung wird Maier in diesem Gefüge der Blickbeziehungen überdies die entscheidende Machtposition zuteil – denn sie ist letztlich diejenige, die die Aufnahme in dieser Form getätigt und die vorliegende fotografische Realität geschaffen hat. Maier inszeniert sich folglich als Schöpferin vorliegender Szenerie. Diese Machtposition wird durch ihre dominante Körperhaltung und Körpergröße verstärkt. Maiers Körper ist bis zur Körpermitte sichtbar, während die Kopfpartie bzw. der Kopf- und Schulterbereich der anderen abgebildeten Sujets von Mauer- und Spiegelkanten abgeschnitten wird. Insgesamt nimmt Maier damit den größten Raum im Bild ein, was unter anderem auch den links und rechts nach außen gerichteten Armen zu schulden ist. Maier wirkt dadurch beherrschend und prominent in ihrem Auftreten. Die von der Kamera anvisierte Puppe bzw. Frau wie auch die weiteren Personen im Bild erscheinen hingegen zierlich und puppenhaft klein. Die Präsenz des im Bild sichtbaren Handspiegels verschärft diesen Eindruck, der wesentlich größer als die Kopfpartie der abgebildeten Bildproduzentinnen/Bildproduzenten in Erscheinung tritt. Maier wie auch der Handspiegel wirken damit wie Eindringlinge bzw. Fremdkörper im visuell festgehaltenen Einkaufsalltag. Durch seine Prominenz im Bild wird der Handspiegel mit Bedeutung aufgeladen. Indem der hölzerne Spiegelkörper, nicht aber die Spiegelfläche sichtbar wird, wird die Funktion des Spiegels als Objekt der Selbstbetrachtung und die damit in Zusammenhang stehende Auseinandersetzung mit
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Attributen von Schönheit und menschlicher Eitelkeit infrage gestellt. Dass der Handspiegel kein Bild zeigt, liest sich wie ein impliziter Protest gegen die Kommerzialisierung gesellschaftlich etablierter Schönheitsideale. Spiegel finden sich in jedem Bekleidungsgeschäft und konfrontieren die Käuferin/den Käufer unentwegt mit ihrem/seinem eigenen Körperbild, das neben den schlanken, makellos und mondän wirkenden Schaufensterpuppen nie zu genügen scheint. Sofern noch ein Handspiegel in den Einkaufsläden zur Verfügung steht, wird zu einem ausgiebigen Mustern von allen Seiten verführt. In diesem Bild wird diese Möglichkeit verwehrt. Auf vorliegender Fotografie wird folglich nur ein Spiegelbild sichtbar und damit ein Frauenbild spiegelbildich vorgeführt – das, in dem die fotografierende Maier selbst frontal abgebildet ist. Dadurch tritt ein Frauenbild in Erscheinung, das mit gesellschaftlich eingeforderten Idealbildern bricht bzw. sich davon zumindest in Ansätzen unterscheidet. 5.3.6 Kameradistanzierendes Porträt
Abbildung 36: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1956
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I) Formulierende Interpretation Vor-ikonografische Ebene Bildvordergrund Im Bildvordergrund lehnt sich eine Frau mittleren Alters bildmittig an die Armlehne eines mit Krokodilleder bespannten Sessels bzw. Stuhls. Sie trägt eine gestreifte Bluse und einen Kurzhaarschnitt mit Seitenscheitel. Ihre dunklen Haare sind auf der rechten Seite vermutlich mit einer Haarklammer fixiert worden. Das Gesicht der Frau zeigt insgesamt wenig Mimik. Ihre Lippen sind geschlossen und ihre Augen nach oben rechts gerichtet. Beide liegen im Schatten ihrer Stirnpartie. Einzelne Abschnitte ihres Stirn- und Kopfbereichs sowie ihr Nasenrücken werden vom Licht einer über ihr befindlichen Neonröhre (diese spiegelt sich im Fensterglas hinter ihr) beleuchtet. Auch ihre Arm- und die Schulterpartie werden vom Licht der Lampe getroffen, sodass diese Körperregion deutlich aus dem Bild hervortritt. Die Arme der Frau ruhen im 90-Grad-Winkel auf der Rückenlehne des Stuhls bzw. Sessels, wovon jedoch nur der linke Arm im Bild aufgrund der Beleuchtungssituation sichtbar wird. Zusammen mit ihrer Schulterpartie formen die Arme der Frau ein Quadrat. Die Finger der rechten Hand der Frau klammern sich um den linken Bogen der Armlehne. Die Finger ihrer linken Hand umfassen den Ellbogenbereich des rechten Arms. In ihrer rechten Brusttasche blitzt ein weißer Gegenstand hervor. Es könnte sich hierbei eventuell um eine Zigarettenschachtel handeln. Bildhintergrund Hinter der Frau wird auf der linken Bildseite eine dunkelfarbige Holzwand sichtbar. Auf Kopfhöhe der Frau spiegelt sich eine Neonröhre im Glas eines sich hinter ihr befindlichen Fensters, das sowohl links und rechts von Stoffvorhängen gesäumt wird. Auf Armhöhe der abgebildeten Frau steht eine dunkle Holzkommode bzw. ein hölzerner Schreibtisch, auf dem unordentlich drapierte Bücher liegen. Ikonografische Ebene Vorliegende Fotografie wurde dem von John Maloof veröffentlichten Bildband Vivian Maier – Self-Portraits (2013) entnommen und ist um 1956 in der Umgebung von Chicago entstanden. Bei der abgebildeten Frau handelt es sich um die Fotografin Vivian Maier, die zum Zeitpunkt der Aufnahme
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30 Jahre alt war. Angefertigt wurde das Porträt im Gegenzug zu den anderen vorgestellten Selbstaufnahmen in einem, so macht es zumindest den Anschein, privaten Zimmer der Künstlerin. Dadurch gewinnt das Bild an Intimität. Die Fotografie wurde vermutlich im Selbstauslöser-Modus aufgenommen, da keine Kamera auf dem Bild sichtbar ist. II) Reflektierende Interpretation Perspektivische Projektion Aufgrund fehlender Referenzobjekte ist in vorliegender Fotografie die Anordnung des Fluchtpunktes nicht auszumachen. Jedenfalls handelt es sich um eine Aufnahme aus Zentralperspektive (Frontal-Perspektive). Dabei dürfte die Kamera in etwa auf Brusthöhe der Fotografin, vermutlich auf einem Stativ, befestigt worden sein und Maier im Selbstauslöser-Modus porträtiert haben. Durch den gewählten Aufnahmewinkel aus dezenter Untersicht und durch Maiers leicht nach vorne gebeugten Oberkörper tritt ihr Kopf im Verhältnis zum Rest ihres Körpers deutlich prominenter in Erscheinung. Maiers Körper nimmt insgesamt mehr als die Hälfte der Bildfläche ein und liegt damit im Fokus des Bildes. Planimetrische Komposition Das planimetrische Zentrum befindet sich nahezu in der Körpermitte der abgebildeten Bildproduzentin auf Höhe der vom Blusenkragen geformten Dreiecksspitze, sodass insbesondere Maiers Körpermitte planimetrisch fokussiert wird. Die formale Konstruktion des Bildes wird vor allem von Maiers Körperfläche dominiert. Maiers Körper formt aufgrund der Armund Schulterhaltung mehrere aufeinandergestapelte Rechtecke (Abb. 37), die damit den Künstlerinnenkörper in drei Teile separieren. Ein Rechteck bildet die Kopfpartie bis zur Höhe ihrer Schultern bzw. Nasenspitze. Das zweite Rechteck formt Maiers Oberkörper vom Schulterbereich bis zu ihrem auf der Rückenlehne des Stuhls ruhenden Arm. Das dritte Rechteck zeichnet ihr Unterkörper, dessen Umrisse aufgrund der Stuhlposition nur auf der rechten Seite des Bildes zum Vorschein kommen. Die geometrische Form des Rechtecks wird durch die Gegenstände und Objekte im Bildhintergrund wieder aufgegriffen (Abb. 38). Die Vorhänge, das gespiegelte Neonlicht, die Schubladen der Kommode wie auch die Rückenlehne des Stuhls im Bildvordergrund bilden ebenso rechteckige Flächen. Somit do-
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minieren waagrechte und senkrechte Linien das Bild, die räumlich harmonisch zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Szenische Choreografie Aufgrund der räumlichen Positionierung und flächigen Bildpräsenz von Maier wird die Planimetrie durch die Anordnung von Maier selbst, folglich der szenischen Choreografie, entscheidend geprägt. Dadurch gibt die Beschreibung der Planimetrie auch Aufschluss über die Eigenheiten der szenischen Choreografie und über Maiers Beziehung zu ihrer Kamera. Maier war aufgrund des Aufnahmewinkels frontal zu dieser positioniert. Auffallend ist jedoch, dass Maier nicht in die Linse der Kamera blickt, folglich die Kamera anvisiert, sondern ihre Augen nach oben rechts richtet.
Abbildung 37: Bildmittelpunkt und Körperkonturen Maier verwehrt damit einen möglichen Blickkontakt mit der Bildbetrachterin/dem Bildbetrachter. Ihre Mimik wirkt insgesamt angespannt und streng. Dieser Eindruck wird vor allem durch die vom Licht gezeichneten Schatten in ihrem Gesicht, die lediglich ihre Nasenkonturen hell in Erscheinung treten lassen, geweckt. Ihre Armstellung bildet zusammen mit der Rückenlehne des Stuhls eine Art Barriere. Dadurch, dass das Licht der Deckenlampe auf ihre Arme und Hände fällt, werden diese ikonografisch durch den Ein-
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satz von Hell- und Dunkelkontrasten mit Bedeutung aufgeladen. Insgesamt wirkt das Bild durch seine planimetrische Komposition auf Ebene der visuellen Formgebung harmonisch. Diese Harmonie wird jedoch durch Maiers Gesicht und Halspartie gestört und aufgebrochen, indem mehrere von ihrem Gesicht, ihrem Hals und dem Kragen ihrer Bluse gezeichneten Dreiecke (Abb. 39) die waagrechten und senkrechten Linien ihrer Körperumrisse durchbrechen. Damit wird auf Höhe des planimetrischen Zentrums visuell Unruhe erzeugt.
Abbildung 38: Konturen/Gegenstände III) Ikonologisch-ikonische Interpretation Betrachtet man den öffentlich zugänglichen Bildbestand von Maiers Selbstporträts, dann fällt unweigerlich auf, dass sich die Fotografin äußerst selten ohne Kamera vor ihrer Brust porträtiert hat. Maier tritt damit in vorliegender Fotografie im Gegenzug zu vielen ihrer Selbstporträts nicht als Betrachterin auf, sondern ausschließlich als Betrachtete. Dies unterstreicht Maier noch zusätzlich durch ihren von der Kameralinse abgewandten Blick. Sie verweigert folglich visuell den Blickkontakt mit der Bildbetrachterin/dem Bildbetrachter und fungiert als ausschließlich betrachtetes und in diesem Fall fotografisch passives Sujet. Besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Kontrollverlust, der mit vorliegender Aufnahme einhergeht. Die Fotografin musste die Kontrolle im Moment der Aufnahme
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an die Kamera bzw. den Auslöse-Modus abgeben. Zudem konnte sich Maier im Zuge ihrer Selbstporträtierung vermutlich nicht selbst betrachten. Daraus ergibt sich in zweierlei Hinsicht ein Kontrollverlust für Maier – einerseits im Hinblick auf den exakten Aufnahmezeitpunkt und andererseits im Hinblick auf Möglichkeiten der Selbstbetrachtung durch eine spiegelnde Oberfläche.
Abbildung 39: Konturen/ Halspartie Die Kamera war für Maier in ihren Selbstporträts wesentlicher Bestandteil ihrer fotografischen Identifikationsbewegungen und so hielt Maier vordergründig ihre fotografische Tätigkeit und die von ihr fotografierten Sujets durch irritierende Spiegel- und Schaufensterglasreflexionen fest. Damit wurden vor allem die fotografische Handlung und Maier als Urheberin ihrer Fotografien sichtbar und ins Sichtfeld gerückt. Die Bildbetrachterin/Der Bildbetrachter ist in ihren Selbstporträts daher nicht nur mit Maiers »Abbild« konfrontiert, sondern ebenso mit den von Maier im Zuge des fotografischen Aktes festgehaltenen Frauen bzw. Szenen des alltäglichen Lebens, in denen sie zwar ebenso im Bild präsent bleibt, ihren Körper aber häufig als unscharfe, körnige Spiegelung oder Schattendarstellung inszeniert. Anders verhält es sich für vorliegende Fotografie. Aufgrund der gewählten szenischen Choreografie tritt Maier mittig und bildprominent in Erscheinung. Der Fokus ist aufgrund der Anordnung des planimetrischen Zentrums auf sie gerichtet und fällt auf eine Körperpartie (Brustbereich), bei der sich
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im Regelfall Maiers Kamera befindet (welche in dieser Fotografie aufgrund der leicht nach vorne gebeugten Körperhaltung jedoch in Maiers Körperschatten liegen würde). Aufgrund der szenischen Choreografie und Maiers steifer Körperhaltung sowie der Anordnung ihrer Arme formt ihr Körper übereinandergelagerte Rechtecke und ähnelt damit dem Gehäuse einer Rolleiflex. Es scheint, als wäre Maier selbst zu einer personifizierten Kamera geworden. Interessant ist in diesem Kontext überdies, dass Maiers Augenpartie als wesentlichster Bestandteil des fotografischen Sehens und damit des Fotografierens selbst im Schatten der Aufnahme liegt, was dem Bild eine unheimliche und düstere Note verleiht. Maier spielt folglich mit Hell-DunkelKontrasten, verursacht durch unterschiedliche Schatten- und Lichteinflüsse und verleiht ihrer Augenpartie und damit symbolisch ihrem Sehsinn auf ikonografischem Wege eine andere Bedeutung als ihren Händen und Fingern, folglich ihrem Tastsinn. Die Augen sind dabei als Zeichen der sinnlichen wie auch geistigen Wahrnehmung zu deuten. Gemäß der Kunsthistorikerin Hildegard Kretschmer (vgl. 2008, S. 41) kann das Auge im negativen Sinn auch als Auge der Begierde aufgefasst werden. Maiers Blick sowie das Verschwinden ihrer Augen im Schatten ihres Gesichts könnten ebenso in diese Richtung gedeutet werden. Doch welchen Begierden ist Maier ausgeliefert? Begehrt sie das fotografierte Sujet, das sie in vorliegender Fotografie selbst darstellt? Oder begehrt Maier den fotografischen Akt bzw. die Macht, die ihr dadurch zuteil wird? Ihre Arme und Hände befinden sich hingegen im grellen Licht der Neonröhre, die auf visueller Ebene durch ihre helle Farbgebung besonders betont werden – sind es doch ihre Hände und Finger, denen eine wichtige Bedeutung im fotografischen Akt zukommt und in der Mehrzahl ihrer Selbstporträts ihre Kamera festhalten und den Auslöser betätigen. Die Armstellung und deren Hervorhebung durch den Lichteinfluss der Neonröhre stellt zudem eine auffällige Körperbarriere bzw. -abgrenzung her. Der Oberkörper wird waagrecht durch ihre Arme und die Stuhlkante vom Unterkörper getrennt, wobei Maiers Unterkörper hinter der Rückenlehne des vor ihr befindlichen Stuhls verschwindet. Der Stuhl wirkt folglich wie ein Schutzschild, der ihren Unterkörper vor den Blicken der Bildbetrachterin/des Bildbetrachters abzuschirmen scheint. Maier hat für vorliegendes Selbstporträt ihre Kamera frontal zu ihrem Körper positioniert und ihr Porträt in dezenter Untersicht aufgenommen. Damit wirkt insbesondere ihre Kopfpar-
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tie im Verhältnis zum Rest ihres Körpers größer und wuchtiger. Auch wenn vorliegendes Porträt damit eine räumliche Dominanz und Überlegenheit der abgebildeten Frau gegenüber der Bildbetrachterin/dem Bildbetrachter vermittelt, erweckt die Körperhaltung von Maier den Anschein, als habe sie sich im Zuge der Aufnahme unwohl bzw. unsicher gefühlt, was sich vor allem an den links im Bild sichtbaren Fingern zeigt, die sich verkrampft an der Stuhllehne festklammern. Überdies lehnt sich Maiers gesamter Körper an den vor ihr positionierten Stuhl, der ihr Halt zu geben scheint bzw., wie bereits betont, die Funktion einer schützenden Barriere erfüllt. Interessant erweist sich vorliegende Aufnahme auch unter dem Aspekt des Fotografierens im öffentlichen Raum im Gegenzug zum Fotografieren in privatem Ambiente und dessen Auswirkungen auf den Akt bzw. die Art der Selbstporträtierung. Etliche von Maiers Selbstporträts wurden auf Straßen, Gehwegen, in Einkaufsläden, in öffentlichen Toiletten oder vor Schaufenstern geschossen. Dieses Bild erweckt den Anschein, als habe sich Maier in ihren eigenen vier Wänden porträtiert. Die Stimmung wirkt insgesamt unaufgeregt, was vermutlich an der Lichtsituation wie auch der Bildpräsenz von Maier festzumachen ist. Eventuell war das Ablegen der Kamera für Maier ein intimer Vorgang, der nur in vertrauensvoller Umgebung möglich war. Aufgrund des von Maier angefertigten Bildbestandes von mehr als 150.000 Bildern kann davon ausgegangen werden, dass Maier zur Zeit ihres aktivsten fotografischen Wirkens (in den 50er und 60er Jahren) ihre Kamera förmlich täglich bei sich getragen haben muss und diese damit vergleichbar mit ihrem Schuhwerk zur täglichen Kleiderausstattung gehörte. Eventuell war die Kamera vor ihrer Brust wie ein Schutzschild, ohne deren Anwesenheit sie sich exponierter fühlte. Auch lädt vorliegendes Bild aufgrund des Fehlens irritierender und ablenkender Spiegelungen, Bildüberlagerungen und Sujets, die Maier häufig aus dem Bildfokus drängen, die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter ein, sich vollends auf Maier zu konzentrieren. Damit erhält die Fotografie eine intime Note, bei der die Bildbetrachterin/der Bildbetrachter Maier näher zu kommen scheint als in den anderen Selbstporträts, die vorhergehend thematisiert wurden.
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Gesamtinterpretation und fotohistorisch-feministische Kontextualisierung
Eine kunsthistorische Betrachtung setzt voraus, dass Maiers Werk auch als kreativer Ausdruck einer Künstlerin aufgefasst und anerkannt wird. Da Maier jedoch nur spärlich in den Kanon historischer Referenzwerke zur künstlerischen Fotografie aufgenommen wurde, (siehe hierzu beispielsweise Quentin Bajacs et al. [2015; 2016; 2017] dreiteilige Bildbandreihe zur Geschichte der Fotografie)69, liegt über ihrem Œuvre immer noch der Schatten des Vorwurfs guter Schnappschussfotografie einer Amateurfotografin. Dennoch war es gerade der Schnappschuss-Eindruck, der vielen Fotografien vor allem ab 1920 bis zur Jahrhundertmitte anhaftete und sich als eigener Stil in Form der Sinnbildlichkeit für Spontaneität und Zufall (vgl. Moore 2016, S. 249) herausgebildet hatte. Das Changieren zwischen vermeintlich amateurhaftem und künstlerischem Schaffen war prägend für die fotografische Arbeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für Kevin Moore (ebd.) wird daher eine Aufteilung in »high und low, bezahlt und unbezahlt, kontrolliert und spontan, gewollt und ungewollt künstlerisch« dem bunten Spektrum der Fotografie dieser Zeit gar nicht gerecht. Überschneidungen dieser Merkmale und ihre wechselseitige Beeinflussung entsprachen dem Zeitgeist und führten dazu, dass sich viele Foto-Künstlerinnen/Foto-Künstler uneinig darüber waren, in welcher Rolle sie sich foto-
69 Die große Geschichte der Photographie: Die Anfänge, Band I: 1840–1920; Die große Geschichte der Photographie der Moderne, Band II: 1920–1960, Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie, Band III: 1960 bis heute.
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grafisch bewegten und wie sie zu ihren Arbeiten Stellung beziehen sollten. Ob sich Maier nun in ihrer Selbstwahrnehmung und Rolle als Künstlerin ihren Bildmotiven näherte und/oder als jemand, die ›lediglich‹ Interesse für das visuelle Festhalten der Ereignisse ihrer Umgebung zeigte, bleibt vonseiten der Fotografin unbeantwortet. Unbestreitbar ist jedoch, dass Maier über die fotografischen Stilentwicklungen ihrer Zeit Bescheid zu wissen schien und sich in diese Stilrichtungen u.a. mit ihrer Begabung für fotografische Schlichtheit und ihrem Gespür für exakte Linienführung und Kontrastzeichnung, wie wir sie beispielsweise auch in Irving Penns (1917–2009) Fotografien finden, einfügte. Während sich Maiers Straßenfotografien einer »ultimativen Reinheit« (Evans 1982, zit. in Sawyer 2016, S. 163) und ›objektiven‹ Dokumentation verschrieben haben und damit vorwiegend dem fotografischen Realismus zuordenbar sind, zeichnen sich Maiers Selbstporträts durch kompositorische Komplexität und Vielschichtigkeit aus. Ausgehend vom Einfluss psychoanalytischer Strömungen in den Anfängen des 20. Jahrhunderts übernahmen Fotografien mitunter die Funktion, innere psychologische Zustände der Künstlerin/des Künstlers zum Ausdruck zu bringen (vgl. Stetler 2016, S. 112). Unter dem Leitsatz »making the unconscious conscious« (Haynes 1995, S. 26) sollte die innere Welt durch surrealistische Kunst nach ›Außen‹ getragen werden, um die Menschheit von geistiger Unterdrückung in Form der Gegenüberstellung von Subjektivität und kollektivem Bewusstsein, Individualität und Gesellschaft oder Traum und Wirklichkeit zu befreien (vgl. Gozalbez Cantó 2012, S. 341). Das Absurde, Fragmentierte, Realitätsverfremdende wie Dekontextualisierte avancierte zum beliebten Topos. Von einem surrealistischen Tenor in Maiers Selbstporträts zeugen beispielsweise die unzähligen kontrastreichen Schattenzeichnungen und Doppelgänger-Figuren, sich mehrfach überlagernde Bildflächen, groteske Spiegelungen der Künstlerin in Gegenständen unterschiedlichster Materialität (z.B. Spiegelglas, Fensterglas, verchromte Flächen), der spielerische Einsatz von optischen Täuschungen sowie die Aufhebung einer Grenzziehung zwischen industriell hergestellten und menschlichen Körpern. Diese von Maier ins Bild gesetzten Sujets etablieren auf ikonografischem Wege dichotome Beziehungsverhältnisse, die zwischen Traum und Wirklichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit, Schwarz und Weiß, Betrachten und Betrachtetwerden oszillieren und Qualitäten und Eigenheiten ihres Zusammenspiels ausverhandeln. In Anlehnung an die von André Breton formu-
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lierten Potenziale der Fotografie in seinem Werk Manifeste du Surréalisme (1924) verzerren Maiers Selbstporträts damit soziokulturell geprägte Realitäten, arrangieren sie neu und bieten einen Raum, Identität(en) bzw. damit in Zusammenhang stehende Identifikations- und Differenzerfahrungen in gespiegelten Bilderwelten auszuloten. Wesentlich im Prozess menschlicher Subjektformierung ist in Anlehnung an Jacques Lacans Theorie des frühkindlichen Spiegelstadiums der Spiegel in seiner Funktion als »bewusstseinsbildende Instanz« (Kacunko 2010, S. 10) und die durch ihn provozierte spiegelbildbezogene Selbstbetrachtung. Indem das Subjekt, wie bereits in Abschnitt 3.1 ausgeführt, stets mit der Differenz bzw. Spaltung der leiblichen Selbsterfahrung als zerstückeltes Subjekt und dem durch sein Spiegelbild gewonnenen externen Bild des Körpers in seiner Ganzheit konfrontiert wird, ist für Lacan Identität demzufolge stets als Scheitern bzw. Verfehlung des Subjekts zu betrachten. Identität wird für Lacan damit nie erreicht »und kann niemals eine stabile, fest umgrenzte, in sich geschlossene Einheit ergeben; sie bleibt ewig unerfüllt, prekär, instabil und phantasmatisch« (Brandes 2010, S. 42). Und dennoch trachtet der Mensch nach Lacan im Verlauf des Lebens wiederkehrend nach diesem ersten durch das externe Bild verursachten Vollkommenheits- bzw. Einheitsgefühl, das jedoch immer in Spannung zu seiner realen Zerrissenheit steht. Maiers Selbstporträts nehmen auf die durch das frühkindliche Spiegelbild ausgelöste Sehnsucht nach dem ›Eins-sein-Wollen‹ im Spannungsfeld von Innenwelt und Umwelt und der Wahrnehmung des Selbst als Konglomerat zerstückelter Partialobjekte Bezug, indem der gespiegelte Künstlerinnenkörper einer ikonografischen Segmentierung unterzogen wird (was sich häufig aufgrund der gewählten planimetrischen und szenischen Anordnung von Maier im Bildraum ergibt). Mal blitzt Maiers Augenpartie aus einem kleinen Handspiegel hervor, der verloren auf einem Blumenstrauß gebettet auf einer gepflasterten Straße liegt (Abb. 40). Mal tauchen Ausschnitte ihrer Hände in einem Spiegelfragment auf, unter dem in einem Handspiegel Teile ihrer Kopfpartie reflektiert werden (Abb. 41). Diese Form der Separierung und Isolierung einzelner Körperteile zeichnet ein brüchiges Selbstbild, das nach Bronfen (2001, S. 24) »jene Wahrheit des Selbst indirekt zum Ausdruck [bringt], die sich dem intakten Bild entzieht: daß nämlich das Selbst immer ein gespaltenes ist, zwischen bewußten und unbewußten Prozessen ebenso pendelnd wie zwischen der Suche nach authentischen Bildern des Ichs und den Konventionen der Bildsprache, die uns in unserem Selbstverständnis prägen,
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damit aber gleichzeitig auch Fremdheit in die Selbstwahrnehmung einführen«.
Abbildung 40: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., o. D. Durch die Inszenierung der Fotografin als ein von Spiegeln aufgelöstes und disparates Objekt und die Vorführung eines fragmentierten, gebrochenen Künstlerinnenkörpers subversieren Maiers Spiegelporträts das durch das Spiegelbild verursachte Einheitsgefühl eines sich als vermeintlich kohärent wahrnehmenden Subjekts. Dies wird unterstrichen durch die zum Teil visuell provozierte Unsichtbarkeit des Spiegelmediums, welches durch den gewählten Aufnahmewinkel zumindest in Teilen seine Erscheinung als Oberfläche verliert. Die visuelle Überlagerung unterschiedlicher Reflexionsbilder mit scharfen und diffusen Körperkonturen verwässert dabei die Grenzen des menschlichen Körpers und der Außenwelt und imitiert den frühkindlichen Prozess der Subjektformation. Hierfür stehen vor allem jene Spiegelporträts, die durch den Einsatz von Mehrfachbelichtung mehrere Aufnahmen von Maiers Körper in lichtreflektierenden Flächen (wie in Spiegelwänden, im Schaufensterglas oder konvexen Zerrspiegeln) in variierender Größe und Perspektive zur Schau stellen und damit unterschiedliche Realitätsebenen aufeinandertreffen lassen. Maiers Spiegelglasreflexionen sind in diesen Fotografien klar und konkret, während ihre Schaufensterglasreflexionen permeabel, körnig und abstrakt wirken und durch ihre Transpa-
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renz einen merklichen Kontrast zu den starken Konturen der Spiegelglasreflexionen schaffen. In Maiers Doppel- bzw. Mehrfachbelichtungsporträts sowie in ihren Spiegelporträts mit mehrfach angeordneten Reflexionsflächen wird der Künstlerinnenkörper gleichzeitig von hinten, vorne und im Profil, mal scharf und mal körnig, mal klein gespiegelt in einem Handspiegel oder als transparenter Schatten im Schaufensterglas sichtbar. Maiers Selbstporträts initiieren damit mehrperspektivische Blicke auf ihre Urheberin, konfrontieren die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter mit der Auflösung einer feststehenden eindimensionalen Identität und verweisen auf die visuelle Inszenierung einer möglichen Gleichzeitigkeit wie auch Wandelbarkeit lebbarer Entwürfe des Selbst.
Abbildung 41: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1955 Dadurch, dass Maier (mit Ausnahme ihrer Schattenporträts) vorwiegend Spiegelflächen für ihre Selbstporträts heranzog, kann das zentrale Bildereignis synchron, folglich mehrperspektivisch, erblickt werden. Für Slavko Kacunko (2010, S. 291) ermöglicht diese Visualisierungsweise (die er am Beispiel des Gemäldes »Las Meninas« des barocken Malers Diego Velázques festmacht) eine Betrachtung »zweiten Grades«, bei dem die Betrachterin/der Betrachter »dank der medialen ›Prothese‹ des Spiegels in der Lage [ist], die reale und die virtuelle Seite der ›Gleichzeitigkeit‹ entgegengesetzter Blick-/Perspektiven der Teilnehmer gleichermaßen zu erkunden«
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(ebd., S. 220). Folglich kann durch die von einer Spiegelfläche verursachte Sichtkonstellation ein weites Feld der Repräsentation (üb-)erblickt werden, wodurch die Fotografin stets als Schöpferin ihrer visuellen Welterschließung im Bild präsent bleibt. Die Bildbetrachterin/Der Bildbetrachter beobachtet (vor allem in Bezug auf Maiers Beziehungsporträts mit weiblich konnotiertem Sujet) sowohl das beobachtete und fotografierte Sujet sowie auch den Prozess der Beobachtung selbst. Sie/Er wird zur Beobachterin/zum Beobachter der Beobachterin im Akt des Beobachtens. Das Spiegelmedium eröffnet zudem, wie Bremm (2010, S. 4) herausstellt, nicht nur das ins Zweidimensionale übersetzte Sichtbare, – »sondern immer auch eine virtuelle Dimension: das Gegenüber«. Damit wird nicht nur die Position der Künstlerin/des Künstlers bewusst gemacht, sondern in gleicher Weise der Vorgang des Betrachtens und die Rollen der Betrachterin/des Betrachters hervorgehoben und hinterfragt. Die Bildbetrachterin/Der Bildbetrachter sieht folglich nicht nur durch das Kameraauge, sondern sie/er wird durch die Spiegelung ebenso mit dem gespiegelten ›Gegenüber‹, in Maiers Fall mit der Bildschöpferin selbst, konfrontiert, die dadurch in einen Dialog mit der Beschauerin/dem Beschauer tritt. Manche von Maiers Spiegelporträts erwecken damit den Eindruck, die Betrachterin/den Betrachter mitgedacht zu haben, welche/welcher sich durch diese Gegenüberstellung – in Anlehnung an Kunsthistoriker Wolfgang Kemps (1985) Formulierung »Der Betrachter ist im Bild« – als im Dialog mit dem Bildmotiv und damit als im Bild befindlich erlebt. Durch die Insbildsetzung einer die/den Bildbetrachter/in anblickenden Maier und einer auf sie/ihn gerichteten Kamera, erfährt diese/dieser sich in erster Linie als anvisiertes, wenn nicht gar verfolgtes Objekt der Aufnahme. In jenen Spiegelporträts, die die umliegende Umgebung, wie beispielsweise einen Schuhladen für Frauenschuhe, ein Schaufenster eines Antiquitätenladens oder ein Wohnzimmer mit laufendem Fernseher abbilden, wird die Beschauerin/der Beschauer als diejenige/derjenige inszeniert, die/der in vorliegender Szenerie gesichtet und bei ihren/seinen Handlungen von Maier ›ertappt‹ wurde. Der Beschauerin/Dem Beschauer wird dadurch auf ikonografischem Wege unterstellt, sich an dem jeweiligen Ort aufgehalten und etwas Fotografierenswürdiges ›angestellt‹ zu haben. Maier entfernt die besagten Spiegelporträts dadurch vom Eindruck eines ›festgehaltenen‹ Augenblicks und verwandelt sie zum diskursiven Vorgang mit Verfolger-Verfolgten-Topos. Während die Beschauerin/der Beschauer von Maiers Spiegelporträts als virtuelles Gegenüber mit
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Maier in Beziehung tritt, findet sie/er sich in Maiers Schattenporträts in der Rolle der phantomartigen Schattengestalt wieder, die/der spionageähnlich in das jeweilige Geschehen eindringt. Hier blickt die Betrachterin/der Betrachter folglich durch Maiers und nicht in Maiers Augen (bzw. in das Kameraauge). Diese Arten der Wahrnehmung, die Maiers Selbstporträts herausfordern, lassen die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter jeweils anders am Bildgeschehen teilhaben: In den Schattenbildern vertritt sie/er die Rolle der Fotografin und damit der/des auf das Bildgeschehen bezogenen Betrachterin/Betrachters; in den Spiegelbildern ist sie/er zeitgleich Betrachtete/r und damit Anschauungsobjekt wie Betrachtende/r. Dabei geht es im Selbstporträt vor allem um die Frage von Existenz. Sowohl Spiegelbild wie auch Schatten bezeugen sowohl die körperlich-räumliche wie auch zeitliche Präsenz der Künstlerin in der Welt. Sie verdanken sich der Künstlerin, ohne jedoch je die Künstlerin selbst zu sein. Der Spiegel gibt Maiers Reflexion wieder, für den Schatten bedarf es Maiers Körper und seiner Konturen, um ›geworfen‹ zu werden. In beiden Fällen gibt sich Maier folglich als Abbild in einem Abbild zu erkennen. Durch das fotografische Spiel mit dem doppelten Abbild des Künstlerinnenkörpers – das vom Spiegel oder Schatten entworfene Bild wird im Spiegel der Fotokamera gespiegelt festgehalten – unterstreichen Maiers Selbstporträts, dass das hierdurch gezeichnete Bild der Künstlerin stets nur eine Spur von ihr sein kann, niemals jedoch die ›reale‹ Maier zu sehen gibt. Maiers Hohlspiegelporträts, die die Künstlerin und die umgebende Szenerie verzerrt reflektieren, schärfen das Bewusstsein für den verfälschenden Abbildcharakter des Spiegelbildes. Hier wird Maier als unproportional geformte Figur von der bildfüllenden Umgebung – mal auf den Kopf gestellt, mal in die Breite gezogen – vereinnahmt. Diese Porträts vergegenwärtigen die Täuschung von Spiegelbildlichkeit und geben zu verstehen, dass das reflektierte Abbild keineswegs eine realitätsgetreue Wiedergabe dessen ist, was dem Spiegel gegenübersteht. 70
70 Die wiederkehrende Porträtierung der fotografischen Beobachtungen über ein Spiegelmedium lassen zudem an die Spiegeltechnik der von Maier bevorzugten zweiäugigen Rolleiflex denken. Das obere Objektiv der Kamera erzeugt ein über einen Spiegel umgelenktes Sucherbild auf der Einstellscheibe. Die Fotografin/der Fotograf sieht im Sucher ein aufrechtstehendes, jedoch seitenverkehrtes (Spiegel-)Bild und wird bei jedem Abdruck durch sein Erfassen des Sucherbildes an die Spiegeltechnik der Kamera erinnert. Somit ist auch der fotografische
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Als interessant an Maiers Spiegelporträts erweist sich überdies die durchgängige Präsenz des Gesichts bzw. Oberkörpers der Künstlerin. Das Gesicht ist nun der Körperteil, der maßgeblich bei der Identifikation einer Person unterstützt, gleichsam ist es aber auch der Ort, der, wie Bremm (2010, S. 7) schreibt, »nur mittels der flüchtigen Reflexion eines spiegelnden Mediums oder eines physischen Abdrucks sichtbar wird«. Wir können das Gesicht zwar wahrnehmen, seine Sichtbarkeit wird für das Subjekt jedoch erst über ein Objekt, über eine mediale Prothese sozusagen, zugänglich, wodurch es aber gleichzeitig in eine entfremdete Distanz gerückt wird. Das Gesicht erscheint für das Subjekt damit stets in einem räumlichen Abstand zu seinem Körper. Auch wenn diese Distanz nicht überwunden werden kann, ermöglicht das fotografische Bild zumindest die Flüchtigkeit des Gesichts in Beständigkeit zu verwandeln und macht das Sichtbare durch seine Fixierung habhaft. Der Drang, wiederkehrend ein Bild des eigenen Gesichts anzufertigen, speist sich aus dem Wunsch des Erkennens und Wiedererkennens der je spezifischen Individualität und Einzigartigkeit und ist als eine Form der Vergewisserung der menschlichen Existenz zu verstehen. Wenig verwunderlich ist also, dass das (fotografische) Selbstporträt seit jeher das Gesicht der Künstlerin/des Künstlers in den Fokus rückte und sich lange Zeit auch gerade dadurch definierte. In Maiers Schattenporträts verwehrt sich der Künstlerinnenkörper hingegen der Aura der Einzigartigkeit, die das Gesicht auszustrahlen vermag. Wieder tritt Maier als Abbild in einem Abbild in Erscheinung. Hier jedoch verbergen sich Einzelheiten und Charakteristika der Künstlerin in einem »dunklen Spiegel«, wie Marion
Prozess als ›indirekter‹, über ein Spiegelmedium gelenkter Betrachtungs- bzw. Visualisierungsvorgang auszuweisen. Im Spiegelbild können die reflektierten Objekte jedoch nicht behalten und gespeichert werden. Sie sind flüchtig und verschwinden, sobald sich das Objekt vom Spiegel entfernt. Das durch die Fotografie erzeugte und auf einem Träger ›eingeschriebene‹ Spiegelbild hält das Objekt hingegen fest, es wird in den Worten Roland Barthes’ (1989, S. 91) »unsterblich« gemacht. Da der Spiegel-Topos in einer Vielzahl von Maiers Selbstporträts wiederkehrt, kann der fotografische Akt als innerbildliche Reflexion über das Medium Fotografie, folglich als eine ikonografisch gesetzte Frage, was die Fotografie im Eigentlichen ist und was sie zu leisten vermag, gedeutet werden.
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Wenlandt-Baumeister (2010, S. 38) den Schatten bezeichnet, den Maiers Körperkonturen formen. Fern und doch nah zugleich tritt die Künstlerin auf und bietet aufgrund ihrer Schattenpräsenz genügend Raum für Imaginationen. Das Dunkelgrau des Schattenbildes lässt weder Stimmungen erkennen noch ermöglicht es eine exakte Zuordnung zu einer bestimmten Person. Der Schatten reduziert auf das Grobe wie das Umrissartige und scheint wesentliche Erkennungsmerkmale menschlicher Individualität zu verbergen. Spiegelbild wie Schattenbild werfen Fragen des Erscheinens und Seins auf und der damit in Zusammenhang stehenden menschlichen Existenz und seiner Sichtbarkeit(en) und verdeutlichen, dass sich Maier in vielen ihrer Selbstporträts erst durch die Verwendung einer visuellen Prothese zu sehen gab. Reflexion wie Schatten verweisen auf die kausale Beziehung zwischen Bild und materiellem Körper, von dem sie immer nur als Spur erscheinen – der eine vereinfacht, skizzenhaft, scherenschnittartig, die andere vermeintlich detailgenau und ›reich‹ an Formen, Linien und Farben. Dabei ist genau dieser Reichtum eine Utopie. Das in Maiers Spiegelporträts Dargestellte ist nämlich keineswegs, wie bereits erwähnt, das Abbild der ›realen‹ Maier. Es ist das Abbild eines Spiegels, in dem sich ihr Abbild spiegelt. Der Spiegel wird somit zum Medium der ›indirekten‹ Betrachtung, und das nicht nur auf der Seite der Bildrezipientin/des Bildrezipienten. Auch Maier selbst betrachtet in ihren Beziehungs-Selbstporträts ihr gewähltes Bildmotiv häufig indirekt und weicht dem ›direkten‹ Blick der von ihr fotografierten Sujets aus, indem dieser folglich über ein Spiegelmedium umgeleitet wird. Die Blickbeziehungen zwischen Künstlerin, weiblich konnotiertem Foto-Motiv und Bildbeschauerin/Bildbeschauer vollziehen sich folglich in einem Labyrinth gespiegelter Welten, die eine klare Zuordnung zur ›realen‹ und/oder virtuellen Dimension der Bildebenen erschweren. Im Gegensatz zu Maiers ›Gesichts- bzw. Oberkörperdominanz‹ wird der Unterkörper der Künstlerin in ihren Selbstporträts auffallend häufig entweder aus dem Bildraum ausgegrenzt oder durch Schatten- und Lichtzeichnungen, Maiers Armhaltung oder Alltagsgegenstände verdeckt. Ein Ganzkörperbildnis hält die Betrachterin/den Betrachter aufgrund der Größe des Bildausschnitts auf Distanz, großformatige Kopf- bzw. Oberkörperporträts erzeugen hingegen Intimität und ein Gefühl von Nähe zur Künstlerin. Großaufnahmen von Maiers Oberkörper liegen vielfach vor, in Maiers Mehrfachreflexionsbildern legen sich diese jedoch wiederholt als körnigpermeables Reflexionsbild über einen kleinen Spiegel-Ausschnitt von Mai-
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ers Kopfpartie (Abb. 42). Hier zeigt die Künstlerin zwar ihr Gesicht, dieses wird jedoch durch die gewählte Perspektive in einer ersten Annäherung auf Distanz zur Bildbetrachterin/zum Bildbetrachter gehalten. Die transparenten Umrisse der Großaufnahme der Künstlerin stellen eine Erschwernis für den suchenden Blick der Beschauerin/des Beschauers dar, gleichzeitig säumen sie das Zentrum des Bildes (in dem häufig ein klein gespiegelter Künstlerinnenkopf in Erscheinung tritt), in das der Blick wie in eine Grube fällt. Die Beschauerin/Der Beschauer hat damit das Gefühl, durch die ›übergroße‹ Maier, die geisterhaft den Großteil des Bildes für sich beansprucht, hindurchzublicken, um dann – wenn diese Schicht durchdrungen wird – am anderen Ende des Bildraums in Kontakt mit einer kleinen Version von Maier zu treten und dort den Blick zu deponieren. In anderen Porträts erzeugen nicht Maiers Körperreflexionen, sondern allerlei Gegenstände, wie Antiquitäten oder Mobiliar etc. eine visuelle Barriere, die den Blick der Beschauerin/des Beschauers auffangen, bis er schließlich auf das Abbild der Künstlerin fällt und dort verweilt.
Abbildung 42: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1979 Neben der Vorstellung disparater Selbstentwürfe und der Thematisierung von Existenzfragen adressieren Maiers Selbstporträts den Topos »Weiblichkeit« und verhandeln stereotype Geschlechterbilder (und damit in Verbindung stehende Weiblichkeits- und Männlichkeitsmarker), indem sie
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Grenzen einer dichotomen Geschlechterzuweisung unterlaufen. Durch die konsequente Gegenüberstellung von weiblich konnotierten Sujets in hyperfemininer Ausprägung und einem hierzu gegensätzlich auftretenden Frauenbild als alternatives Geschlechtermodell (verkörpert durch die Fotografin selbst), demaskieren Maiers Selbstporträts die kulturellen Normierungen und Codierungen von Weiblichkeit, die unter der Schirmherrschaft bereits existierender (Vor-)Bilder stehen.71 Das Changieren zwischen Norm und Wunschbild im Spannungsfeld von Fremd- und Eigenwahrnehmung vergegenwärtigt sich vor allem in jenen Selbstporträts, in denen sich Maier mit dem im Zuge des Aufschwungs der Werbe- und Modefotografie propagierten Frauentypus der damaligen Zeit (vgl. Moore 2016, S. 250) in Beziehung setzt, der sich über prägnante Weiblichkeitsmarker wie hochhackige Schuhe, körperbetonte Kleidung oder kunstvoll drapierte (Hochsteck-)Frisuren definiert. In Bezug auf die vollzogene Pose der Fotografin, die als eine Prägung des Körpers aufgefasst wird, »derer sich das Subjekt nicht unbedingt bewußt ist: Sie kann das Resultat eines Bildes sein, das so oft auf den Körper projiziert worden ist, daß das Subjekt beginnt, sich sowohl psychisch wie auch körperlich mit ihm zu identifizieren« (Silvermann 1997, S. 50), liefert Maiers Körperausdruck einen deutlich feststellbaren Gegenentwurf zur weiblich konnotierten Gestik und Mimik nach gesellschaftlich vorgege-
71 Der Spiegelblick der Künstlerin auf sich selbst ist durch das Spiegelverhältnis zu anderen Bezugspersonen (das bereits im frühkindlichen Spiegelstadium beispielsweise durch die Anwesenheit der Mutter oder des Vaters hergestellt wird) nämlich nicht als ›natürlich‹ zu verstehen; es haftet ihm ein vorgängiges Bild an, »ein Ideal, das von anderswo stammt, also kulturell geprägt, bereits ›vorgesehen‹ ist« (Rimmele & Stiegler 2012, S. 100). Diese ›vorgängigen‹ Bilder unterliegen einer symbolischen androzentristischen Ordnung und orientieren sich an kulturellen Normierungen, die häufig innerhalb der Kategorien von Geschlecht, Ethnizität, Kultur, Nation und Heteronormativität ihren Ausgang finden. Sie liefern aufgrund ihrer sozial-konstruierten Einschreibung einen Bezugsrahmen für kollektive Identifikationsmöglichkeiten. Identitätskonstruierende Fragestellungen wie wer man ist oder wer man sein möchte werden damit durch die Frage der Gruppenzugehörigkeit ergänzt. Subjekte formieren sich demzufolge immer »im ›Spiegel‹ kollektiv vorgeprägter und verinnerlichter Muster« (ebd., S. 98).
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benem Schema wie beispielsweise ein leicht zur Seite geneigter Kopf, ein verlegenes Lächeln oder gespitzte Lippen. Das fotografisch gezeichnete Künstlerinnenporträt überzeugt durch einen festen Stand sowie einen affirmativen Blick, ist aktiv und eigenwillig. Durch die stete visuelle Bezugnahme auf den fotografischen Akt unter Zuhilfenahme eines technischrationalen Mediums (indem die Fotografin selbst als fotografierende und damit kunstschaffende Frau den Bildraum dominiert), Maiers Rollenübernahme als betrachtende Bildproduzentin und die dadurch vollzogene Insbildsetzung der Künstlerin als machtvolles Subjekt wird ein deutlicher Kontrast zu den passiven (weil beobachtet und fotografiert) und Maier äußerst unähnlichen Frauenbildern hergestellt, die in vielen ihrer Porträts mit der Fotografin den Bildraum teilen. Die Beschauerin/Der Beschauer von Maiers Beziehungsporträts wird folglich mit Kontrastbildern konfrontiert, die die Frage aufwerfen, welche dieser Repräsentationen sich mit dem je eigenen Bild von Weiblichkeit und/oder Männlichkeit vereinbaren lassen (z.B. Abb. 43).
Abbildung 43: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1957 Da ›klassische‹ Weiblichkeitsmarker von der Fotografin selbst nur ansatzweise verkörpert werden, verschieben ihre Selbstporträts Grenzen einer binären Geschlechterzuordnung und plädieren für eine versöhnliche und weniger antagonistische Geschlechtlichkeit. Indem Maiers Selbstporträts wie-
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derholt Frauenkörper abbilden, die sich im Hinblick auf ihr Aussehen, ihre Kleiderwahl und ihren Ausdruck ähneln, nehmen sie eine ikonografische Typologisierung eines spezifischen Frauenbildes in Form der wiederkehrenden Porträtierung einer aristokratischen Gesellschaftsdame vor. Diese ins Bild gesetzte Frau trägt mondäne Hüte, Perlenschmuck, ist geschminkt und geht ihren alltäglichen Besorgungen und Verpflichtungen im städtischen Umfeld nach. Im direkten Vergleich weist dieser Frauentypus wenig Ähnlichkeiten zur Fotografin auf, sodass diese umso deutlicher aus der visuell stark normierten ›Masse‹ heraussticht. Die Bildschöpferin widersetzt sich somit auf ikonografischem Wege dem Trend der Vermassung gesellschaftlich konstruierter Normbilder, wie sie beispielsweise in Werbekampagnen der Jahrhundertmitte wiederkehrend vorzufinden waren. Maiers Selbstporträts sind daher als experimentell-künstlerische Reflexion zu den Ausprägungen und Formen weiblicher Geschlechtertypologien und ihren fremdbestimmten Zuschreibungen zu lesen. Ähnlichkeiten hierzu zeigen sich beispielsweise in Berenice Abotts, Claude Cahuns sowie Ilse Bings Selbstporträts, die Grenzen von kanonisierter Zweigeschlechtlichkeit destabilisieren, aufheben sowie neu setzen. Hierfür wird der eigene Körper instrumentalisiert: »seine Grenzen gesucht, seine Oberfläche als Leinwand genutzt oder verkleidet, seine traditionelle Rolle als (Anschauungs-)Objekt verhandelt.« (Koester 2016) So thematisieren Ilse Bings Selbstporträts (Abb. 44) aus dem Jahr 1931 in gleicher Weise wie Maiers Arbeiten eine Spaltung zwischen der abbildenden und abgebildeten Bildproduzentin und ihren unterschiedlichen Rollen im Betrachtungsvorgang. Bings Arbeiten deuten durch die verschiedenartig gespiegelten Blickrichtungen der fotografierenden Künstlerin auf die geschlechterspezifisch konnotierten Blickkonstellationen eines männlichen, aktiven Betrachtens und weiblichen, passiven Betrachtetwerdens hin (vgl. Berger 1972), welche aufgrund der szenischen Choreografie der zwei Körperabbildungen der Fotografin in eine spannungsgeladene Beziehung zueinander gebracht werden. Claude Cahun (Abb. 45) wiederum porträtierte sich ähnlich wie Maier als Figur, die sich einer binär codierten Ordnung der Geschlechter verweigert. Cahun zeigt sich verhüllt. Lediglich ihre Kopfpartie wird gedoppelt in die Bildmitte gesetzt und lässt aufgrund ihres Haarschnitts und des ernsten Gesichtsausdrucks keine eindeutige Geschlechterzuordnung zu. Cahuns Selbstporträt entzieht das fotografisch gezeichnete Frauenbild damit normierten Definitionscodes und thematisiert das visuali-
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sierte ›Weder-noch‹ als widerständigen Raum des Neutrums. Interessant erscheint auch Cahuns Mantel, dessen Schachbrettmuster sich schützend über den Körper der abgebildeten Fotografin legt und in Analogie zu Man Rays (1890–1976) Porträtierung von Marcel Duchamp (1887–1968) als Rrose Sélavy (1921) die streng codierte binäre Ordnung der Schwarz-WeißFlächen durch farbliche Unregelmäßigkeit dementiert. Cahuns Selbstporträt scheint gemäß Kunstkritikerin Gabriele Schor (vgl. 2008, S. 78) die Dualität einer gesellschaftlich konstruierten Geschlechterzuordnung zu unterlaufen, indem sich die quadratischen Felder in mehr als nur zwei Farben aneinanderreihen, stellenweise sogar lichte Stellen aufweisen und damit mehr Spielraum im engen Korsett vorgegebener Konventionen einklagen.
Abbildung 44: Ilse Bing, Selbstporträt, o. O., 1931 Auch die in Maiers Selbstporträts inszenierten Licht- und Schattenkontraste spielen mit der Schachbrettmusteranalogie, die durch die Form und Schattenzeichnung des Künstlerinnenkörpers wieder aufgegriffen wird (Abb. 46), der in seiner Kontur einer Schachfigur gleichkommt. Diese hergstellten Licht- bzw. Farbkontraste verweisen auf die Verstrickung des abgebildeten Sujets in einer Welt der Dualität, in der die Stabilisierung der eigenen Identität nach einer Entscheidung zwischen einem ›Entweder-oder‹ verlangt, dem das Sujet jedoch mit einem ›Weder-noch‹ antwortet.
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Abbildung 45: Claude Cahun, Selbstporträt, o. O., 1928 Akt-Selbstporträts, die auf ein komplexes voyeuristisches Phantasiespiel hindeuten und von Diane Arbus, Immogen Cunningham oder Lisette Model in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts geschossen wurden, sind in Bezug auf Maiers Varianten der Selbstporträtierung nicht bekannt. Im Vergleich zu den Selbstporträts von Diane Arbus oder Lisette Model, die auf die Sexualisierung weiblicher Geschlechtsmerkmale und deren Projektionsfläche für männliche Phantasien anspielen, porträtierte sich Maier tendenziell eher zugeknöpft, einen Mantel tragend, Kurven ihrer Körperumrisse verschleiernd. Lediglich ihre unter ihren langen Röcken hervorblitzenden Unterschenkel gewähren, sofern Maier als Ganzkörperporträt in Erscheinung tritt, einen Blick auf Maiers nackte Haut. Dennoch weisen Maiers Repräsentationen in ihren frühen Selbstporträts zu Beginn der 50er Jahre noch deutlich häufiger (wenn auch nur dezente) weiblich konnotierte Marker auf als in den späten 50er sowie 60er und 70er Jahren ihres fotografischen Schaffens. Anfänglich trug Maier noch ein Seidentuch um ihren Hals gewunden, porträtierte sich in einem langen, taillierten Kleid oder Strümpfen. Später waren es fast ausschließlich übergroße, schwere Mäntel und Hüte, die zu Maiers präferierter Kleiderausstattung zählten. Damit weisen Maiers frühe Selbstporträts weniger Formen einer Überlappung als viel mehr Tendenzen einer Grenzziehung zwischen weiblichen und männlichen
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Geschlechtermarkern auf, als die späten Arbeiten ihres fotografischen Selbstausdrucks, denen u.a. etwas Maskeradenartiges anhaftet.
Abbildung 46: Vivian Maier, Selbstporträt, o. O., 1956 Jene Selbstporträts, die die Künstlerin mit ausgefallenem Hut und übergroßem Mantel zeigen, äußern eine Gegenantwort auf die gesellschaftlich verordnete Maskierung der Frau (z.B. Make-up, Blondierung der Haare, Petticoat) und ihren »Identitätszwangsjacken« (Rimmele & Stiegler 2012, S. 99). Eventuell bot diese Form der ›Verkleidung‹ auch einen »Aktionsraum, innerhalb dessen der eigene Körper genutzt werden kann, um jenseits der Festschreibungen möglicherweise neue und eigene Bilder aufzufinden« (Leßmann 1994, S. 275). In Anlehnung an Arbeiten von Claude Cahun und Cindy Sherman (1954–), die sich wiederholt in hyperfemininer Kostümierung porträtierten, spielen Maiers Selbstporträts auf die Denkfigur an, dass die Akzeptanz einer weiblichen Künstlerin in einer zur damaligen Zeit männerdominierten Kunstwelt erst mit der Verhüllung bzw. der Maskierung des Künstlerinnenkörpers (vgl. Bronfen 2001, S. 29) erreicht werden kann. In ihrem Aufsatz »Weiblichkeit als Maskerade« (1929) vertritt die britische Psychoanalytikern Joan Riviere die These, dass sich erfolgreiche Frauen in der Arbeitswelt häufig ultraweiblich kleiden, um männliche Attribute zu verdecken und damit zur Verminderung etwaiger Ängste ihrer
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männlichen Kollegen beizutragen. Im Gegenzug zu Claude Cahuns oder Cindy Shermans Selbstporträts, die durch die hyperfeminisierte (Ver-)Kleidung des Künstlerinnenkörpers kulturelle Codes zu parodieren scheinen, inszenierte sich Maier in ihren Selbstporträts jedoch gerade nicht als hyperfeminine Frau, sondern bediente sich männlich konnotierter Geschlechtermarker wie eines wuchtigen Trenchcoats, eines Hutes, eines breitbeinigen Standes sowie eines sinisteren Gesichtsausdrucks. Maiers Selbstporträts brechen folglich mit den stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit und visualisieren die Künstlerin als burschikose Fotografin jenseits der massenmedial vermittelten Anreizbilder für männliches Begehren. Maiers Selbstporträts stellen damit weniger durch eine Überzeichnung femininer als vielmehr durch eine bewusst gesetzte Annäherung an männlich konnotierte Geschlechtermarker binäre Geschlechterzuordnungen infrage und gestalten den fotografischen Aktionsraum folglich als Erprobungsfeld für einen Vergleich gesellschaftlich konstruierter und selbstgesetzter Weiblichkeitsideale. Hier zeigen sich Parallelen zu Maiers Straßenfotografien, die wiederkehrend ästhetisch aufgeladene Weiblichkeitsmarker durch Störeffekte ins Wanken bringen und so durch Irritationsmomente zu zusätzlichen Reflexionsprozessen anregen. Ähnlichkeiten hierzu finden sich bei Lisette Models fotografischen Stellungnahmen zu den Wirkungsweisen eines männlichen Blickregimes, in denen Model beispielsweise sich am Strand von Coney Island räkelnde fettleibige Frauen ablichtete (Abb. 47) und damit einen radikalen Gegenentwurf zum US-amerikanischen Schönheitsideal der 30er und 40er Jahre anbot. Maier wählte Sujets wie wuchtige Waden einer Frau, unter deren Last ihre filigranen schwarzen Absatzschuhe nach außen wegzubrechen scheinen (Abb. 48), oder spielte mit der Gegenüberstellung einer eleganten weiblichen Beinpartie mit schwarzen Lederpumps und knielangem Rock und einem in Weiß gekleideten Kleinkind mit plumpen Schnürschuhen, das sich vorsichtig am Rockzipfel der Frau festhält (Abb. 49). Durch die visuelle Fixierung des Moments der kindlichen Annäherung bzw. Zuneigung wird das Bild der ›Femme Fatale‹ ins Wanken gebracht, das durch die Kleidung und die Körperhaltung gezeichnet wird. Die sexualisierte Note der fotografisch ins Bild gesetzten Weiblichkeitsmarker erfährt eine radikale Destabilisierung. Der fotografische Blick ist folglich kein genuin sexualisierter bzw. erotisierender mehr, sondern einer, der die kindliche Zuneigung ins Zentrum rückt und auf das Spannungsfeld gesell-
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schaftlicher Rollenzuschreibungen zwischen der Verkörperung einer Frau beispielsweise als Mutter und/oder Lustobjekt anspielt.
Abbildung 47: Lisette Model, »Coney Island«, 1941 Insgesamt zeichnen Maiers Selbstporträts ein deutlich progressiveres und autonomeres Frauenbild (verkörpert durch die Künstlerin selbst) als die Werbeindustrie der damaligen Zeit, die den fürsorglichen Muttertypus oder den mit ›Feminizern‹ (Weiblichkeitsmarkern) aufgeladenen ›Prototypen‹ idealisierter Schönheitsideale tradierte. Letzterer trat durch seine verkleinerte Darstellung wesentlich niedlicher und somit schutzbedürftiger in Maiers Selbstporträts auf als die bilddominierende Fotografin. Maier beanspruchte in ihren Beziehungsporträts im Gegenzug zu dem von ihr visuell eingefangenen Frauentypus wiederholt deutlich mehr Bildraum bzw. stellte sich verhältnismäßig größer und bildfüllender dar. Aufgrund ihrer raumgreifenden Körperposen wie beispielsweise ihrem breitbeinigen, statuengleichen Stand oder ihrer von der Seite gestemmten Arme wirkt Maiers Körperausdruck insgesamt selbstbestimmter bzw. unabhängiger. Auch ihre durchgängig ernsten Gesichtszüge und ihr herausfordernder Blick korrespondieren in vielen ihrer Selbstporträts mit ihrer selbstbewussten Körperhaltung. Maiers Blick in den Spiegel ist damit häufig kein prüfender, ein
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nach willentlicher Angleichung an ein Normbild trachtender, sondern einer, der sagt: »Hier bin ich! So sehe ich aus!«
Abbildung 48: Vivian Maier, Chicago, 1970 Die Inszenierung von Größenverhältnissen der abgelichteten Bildkörper lässt unter anderem auf die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlich konstruierten Gegenüberstellung von geschlechterspezifischen Machtverhältnissen schließen. Als Referenz hierfür ist beispielsweise Erving Goffmans soziologische Untersuchung zur relativen Größe von abgebildeten Männern und Frauen in Werbebroschüren heranzuziehen. So beobachtete Goffman im Vergleich zu weiblich konnotierten Repräsentationen eine visuell überhöhte und größer ausfallende Körperdarstellung männlicher Sujets, um die gesellschaftliche Status-Überlegenheit des Mannes auf visueller Ebene zu stabilisieren (vgl. Goffman 1981, S. 120). Durch die Verbildlichung der Künstlerin mit männlich aufgeladenen Markern artikulieren Maiers Fotografien einen Machtanspruch nach gesellschaftlicher Partizipation und dem Eindringen der fotografierenden Frau in die männliche Sphäre der fotografischen Beobachtung und künstlerischen Visualisierung weiblicher Sujets im öffentlichen Raum. Unterstützt wird diese Annahme durch Maiers Vorliebe der Porträtierung ihrer fotografierenden Tätigkeit und ihre damit verwobene Inszenierung als aktiv handelndes Subjekt, das einerseits die in der Moderne vorherrschende Besessenheit
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von Dynamik und Spontanität in einem gesellschaftlich kontrollierten Umfeld zum Ausdruck bringt, andererseits mit der Aufhebung von subjektbezogener, männlicher Aktivität und objektbezogener, weiblicher Passivität eine geschlechterrelevante Rollenverschiebung vornimmt.
Abbildung 49: Vivian Maier, o. O., 1962
Nach Gozalbez Cantó (vgl. 2012, S. 306) ging das Konzept der künstlerischen Selbstdarstellung im 20. Jahrhundert nach wie vor von einem autarken und souveränen Selbst aus, das in den überwiegenden Fällen als männlich porträtiert wurde und dessen Visualisierung dem männlichen Künstler vorbehalten war. Weibliche Künstlerinnen bewegten sich damit Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch in einer männlich besetzten Domäne, was ihre künstlerischen Arbeiten betraf. Dadurch, dass die Fotografie zu dieser Zeit noch überwiegend zum Kunsthandwerk gezählt wurde, erfuhr sich Maier in einer doppelt marginalisierten Rolle. Wenig verwunderlich ist folglich Maiers ambivalente Visualisierungswahl als abgebildete wie auch abbildende Bildproduzentin und ihre Inszenierung als betrachtendes Subjekt wie auch betrachtetes Objekt, die sich mit einer durchgängig männlich konnotierten Position bzw. Rolle im Zuge der Selbstbetrachtung nicht arrangieren ließ. Maier changiert in ihren Selbstporträts folglich zwischen den von John Berger (1972) und Laura Mulvey (1975) zugewiesenen männlichen und weiblichen Rollen im Betrachtungsvorgang – folglich der Rolle der zu be-
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trachtenden Muse und der Rolle des betrachtenden und schöpferischen Künstlers – und nimmt diesbezüglich eine Hybridform an. Dennoch bilden die Porträts, die Maier als autarkes und kunstschaffendes Subjekt mit ihrer Kamera zeigen, gegenüber den Porträts, in denen sich Maier dezidiert als ›Anschauungsobjekt‹ inszeniert, die überwiegende Mehrheit.
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Schlussbetrachtung
Der fotografische Akt war für Maier weitaus mehr als die bloße Fixierung einer Beobachtung – es war ein optisches Tagebuch, die Visualisierung einer Idee, ein (feministisches) Statement oder auch die Suche nach einem Weg zu sich selbst (vgl. Eskildsen 1996, S. 4). Indem die Kamera »immer auch mehr, weniger oder anderes – und anders – zu sehen gibt, als das Auge zu sehen erwartet, wünscht oder zu erkennen in der Lage ist« (Brandes 2010, S. 56), erweiterte die fotografische Tätigkeit Maiers Möglichkeiten des Sehens, das in Rekurs auf psychoanalytische Zugänge und Karl Mannheims (1980) Ansatz des impliziten Wissens ebenso Vor- und Unbewusstes offenzulegen in der Lage ist. Es scheint, als formte die Fotografie für Maier eine Bühne, auf der sie für sie unbekannte Facetten ausfindig machen und ausleben konnte, Zeugnis von ihrem Dasein ablegte, Stellung zur gesellschaftlichen Situation der (kunstschaffenden) Frau bezog und sich beispielsweise in Form eines Schattens oder einer Spiegelreflexion als diejenige inszenierte, die etwas Wichtiges gesehen hatte (vgl. Moore 2016, S. 251). Die Vielfalt und Eigentümlichkeit von Maiers Selbstporträts widersetzen sich damit zweifelsfrei der in kunsthistorischen Kreisen kursierenden Annahme, »Frauen wären zwar brillante Kopistinnen gewesen, es hätte ihnen jedoch an Originalität gemangelt« (Borzello 2016, S. 229). Für Frances Borzello (ebd., S. 19) ist ein »Selbstporträt […] niemals nur die harmlose Wiedergabe des Bildes, das eine Person sieht, wenn sie in den Spiegel blickt, sondern Teil der Sprache […] um etwas kundzutun – vom einfachen ›so sehe ich aus‹ bis zum komplizierten ›daran glaube ich‹«. Maiers Porträts sprechen über vieles und das sehr deutlich. Sie äußern sich zu Lebensgewohnheiten, Überzeugungen, gesellschaftlich tradierten Geschlechterbildern und liefern eine politische Stellungnahme hierzu. Maier
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bevorzugte vor allem Aufnahmen in der Halbtotale, in denen ihre Kopfpartie bzw. ihr Oberkörper und damit ihre häufig auf Brusthöhe platzierte Kamera visuell mit Bedeutung aufgeladen wurden. Durch die stete planimetrisch fokussierte Präsenz der Kamera im Bild betonte Maier vor allem ihre Rolle als Urheberin ihrer Fotografien und forderte damit ihren Platz als Fotografin bzw. Künstlerin ein. Maier tritt in ihren Porträts als aktive Frau auf, die durch männlich konnotierte Insignien wie einen Kurzhaarschnitt, einen übergroßen Mantel und harte Gesichtszüge als androgyne Figur in die damals noch stark männlich besetzte Kunstwelt eintauchte. Andererseits schien Maier den weiblichen Körper ihrer Sujets als Fläche bzw. »Screen« (Gozalbez Cantó 2012, S. 374) zu benutzen, um gesellschaftlich propagierte Konstruktionen von Geschlechtlichkeit aufzeigen und diese im Zuge der Kontrastierung zu den Repräsentationen des Künstlerinnenkörpers partiell zu dekonstruieren. Zudem visualisierte sich Maier in einigen ihrer Porträts als segmentiertes wie fragmentiertes Sujet und widersetzte sich damit der Reduzierung auf eine festgelegte Identität. Mit Bezug auf das Konzept der disparaten Identität(-en) offerieren Maiers Selbstporträts folglich eine Gegenüberstellung alternativer sowie konventionalisierter bzw. gesellschaftlich etablierter Weiblichkeitsentwürfe und ihrer Repräsentationsweisen, indem sie sich häufig als burschikose Figur fotografierend hyperfemininen Frauen- und Puppenkörpern näherte. Maier schien durch ihre künstlerische Arbeit Visionen möglicher Geschlechterbilder auszuleben und bediente sich folglich der Freiheit, die Komplexität und Vielfältigkeit des Menschseins auf unterschiedlichste Art und Weise visuell auszudrücken. Maiers Fotografien stellen damit die dichotome Geschlechterordnung der Zweigeschlechtlichkeit infrage und liefern eine feministische Stellungnahme zu den medial tradierten Frauenbildern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Anlehnung an Kerstin Brandes’ (2010, S. 48) Terminus des »interessierten Blicks«, welchen sie als »Doppelung von Positioniert-Sein/DabeiSein und Position-Beziehen/Sich-Einmischen« (ebd.) definiert, kann Maiers Arbeit zusammenfassend als engagierte künstlerische Praxis verstanden werden, die gegen tradierte Identitätsentwürfe ihrer Zeit anarbeitete, folglich Interesse am Identitätsdiskurs verlautbarte – sich jedoch stets in einem Dazwischen-Sein, in einem Spannungsfeld zwischen vorgelebter, folglich »fixierter«, und einer sich vor dem Hintergrund dieser Fixierungen entfaltenden und immer wieder neu damit in Beziehung setzenden Identität be-
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wegte. Daher haftet dem Künstlerinnenporträt bei Maier trotz der häufig emanzipatorischen Bildaussage (z.B. durch die Porträtierung ihrer eigenen Person in fotografierender Pose) ebenso eine merkliche Ambivalenz an (z.B. indem unklar bleibt, ob Maier die hyperfemininen Marker ihrer weiblichen Sujets grundsätzlich ablehnte oder auch faszinierend fand), die zumindest in Ansätzen auf ein von Unsicherheit begleitetes Ausloten der Positionierung einer Künstlerin zu kanonisierten Idealvorstellungen von Geschlechtlichkeit hindeutet. Durch die wiederholte Ästhetisierung des weiblichen Körpers und die Darstellung hyperfeminisierter Weiblichkeitsmarker (wie Absatzschuhen, körperbetonter Kleidung, Lederhandschuhen) alludieren Maiers Fotografien ebenso auf einen begehrenden Blick auf den weiblichen Körper. Dies verwundert wenig, denn im Zuge der Porträtierung weiblich konnotierter Sujets fällt der Blick der Fotografin unweigerlich auf sich selbst und die Art, den eigenen Körper zu begreifen, zurück. Andererseits schienen Maiers Fotografien hyperfeminisierte Weiblichkeitsentwürfe und gesellschaftlich vorgegebene Frauenbilder durch den Einsatz ironischer Elemente zu parodieren, indem sie weibliche Schönheitsmakel beispielsweise durch überdimensional große Körperdarstellungen visuell vorführen.72 Auch waren Maiers Aufnahmen weniger radikal, was das Spiel mit Nacktheit und weiblicher Sexualisierung betrifft, als die ihrer fotografierenden Zeitgenossinnen. Maiers Porträtserien verschieben zwar enggesetzte Geschlechtergrenzen, machen sie insgesamt elastischer, verweisen jedoch ebenso auf die damit in Zusammenhang stehenden Herausforderungen, indem sie Maiers Verstrickung innerhalb eines männlichen Blickregimes und ihre in Teilen ambivalenten Sichtweisen auf den weiblichen Körper offenlegen. Die Kunsthistorikerin Silvia Eiblmayr (1993, S. 139) konstatiert in diesem Zusammenhang, dass weibliche Künstlerinnen in ihren Selbstinsze-
72 Die sich abzeichnende Ambivalenz in Maiers Porträts kann neben ihren Subjektbewegungen zwischen Ideal- und Istzustand zudem der fotografischen Technik bzw. dem Medium der Fotografie zugeschrieben werden. Der fotografische Akt ist im Zuge seiner Figuration des Doppelten per se schon von Ambivalenz begleitet, wie sich in dem Verständnis der Fotografie als Todesmetapher und gleichzeitigem Lebensbeweis zwischen unendlicher Reproduzierbarkeit und der Einmaligkeit des fotografischen Moments exemplarisch verdeutlicht (vgl. Brandes 2010, S. 35).
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nierungen kein »völlig neues Bild ›authentischer‹ Weiblichkeit oder weiblicher Identität« entwerfen können, »sie beleuchten bloß ein reflexives Verhältnis der Künstlerin zum Bild der Frau und zu ihrem gesellschaftlichen Status, in dem sie zum Bild wird«. Selbstinszenierungen bleiben damit stets gebunden an gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen und damit verwobene Machtverhältnisse, weil sich Kunstschaffende mit vorherrschenden Positionen stets in Beziehung setzen, Verhältnisse anzweifeln und gegebenenfalls unterlaufen (müssen). Folglich erscheint es wenig verwunderlich, dass sich auch Maiers Fotografien nicht vollends von der Logik eines männlichen Blickregimes freimachen konnten. Die Analyse des von Maier selbstentworfenen Künstlerinnenporträts stellt abschließend zudem die häufig geäußerte Überzeugung infrage, Maier hätte ihre Fotografien keinesfalls einem öffentlichen Diskurs aussetzen wollen. Dafür erscheinen ihre Porträts zu auffordernd und affirmativ, als dass sie ausschließlich für ein Leben in Kisten bestimmt gewesen wären. Maiers Blicke treffen wiederholt die Bildbetrachterin/den Bildbetrachter, rufen »Sieh her!«, »Schau mich an!« und halten den Blick durch eigenwillige Bildkompositionen und Blickkonstellationen fest. Indem sich nach Bronfen (2001, S. 24) eine Fotografin selbst abbildet, »dokumentiert sie nicht nur, daß es sie tatsächlich gibt, sie dokumentiert auch, daß es sie gegeben haben wird«, worauf an die von Roland Barthes (1989) in seinem Werk Die helle Kammer postulierte Unsterblichkeit der Seele durch das fotografische Bild angeknüpft wird. Maiers jahrzehntelange Praxis, sich kontinuierlich als Bildproduzentin zu verewigen, setzt somit auch ein unübersehbares Zeichen für Maiers nachhaltige wie nachhallende Existenz und deutet darauf hin, dass das Bild, das Maier von sich angefertigt hatte und damit der Nachwelt hinterließ, vor allem das einer aktiven wie stilkundigen Fotografin und ernstzunehmenden Künstlerin ist. Die hier vorgestellte Lesart darf gerne zu weiterführenden werkanalytischen Arbeiten über Maiers Œuvre anregen und kann als Ausgangspunkt dienen, um das Bild, das hier bereits skizziert wurde, weiter zu schärfen. Hierin liegt auch ein besonderes Desiderat. Im Gegenzug zur umfassenden Aufarbeitung von Maiers Biografie (vgl. Bannos 2017) wurden ihre Fotografien nur spärlich einer ernstzunehmenden theoriegeleiteten und systematischen Betrachtung unterzogen. Dadurch fehlten für die Einordnung und Kontextualisierung vorliegender Ergebnisse wichtige Referenzwerke, die
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die Reflexion und Eindrücke hätten stützen oder relativieren können. Die vorliegende werkanalytische Untersuchung mit medien- und sozialwissenschaftlicher Fundierung betrat damit Neuland im bis dato vorwiegend anglo-amerikanischen Diskurs mit genealogischem Schwerpunkt und griff daher auf ein Analyseinstrument zurück, das in Anlehnung an Max Imdahls (1996b, S. 304) Konzept des »sehenden Sehens« Erkenntnisse unter besonderer Berücksichtigung formal-ästhetischer Bildelemente erschloss. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden in gleicher Weise von dem Erfahrungshorizont der Betrachterin bzw. Verfasserin dieser Arbeit beeinflusst, wie der Erfahrungshorizont von Maier ihre fotografische Praxis beeinflusst hat. Die vorliegenden Analyseergebnisse stehen folglich in Abhängigkeit zu den Einsichten und Erfahrungen der Verfasserin dieser Zeilen, die, eingewoben in eine bestimmte Zeit- und geografische Raumqualität, die Interpretation von Maiers Fotografien in eine gewisse Richtung lenkten. Insbesondere assoziative und emotionale Momente im Rahmen der Bildanalyse verweisen auf die Kontextgebundenheit der Verfasserin und verdeutlichen, dass dem Bildverstehen immer auch eine subjektive Komponente anhaftet. Bildhermeneutische Zugänge erkennen gemäß Horst Niesyto (2006, S. 284) jedoch die eigene Forscherinnen-/Forscher-Subjektivität als wesentlichen Bestandteil der Reflexion an, da sie nie nur auf »die Destillation der ›einzig richtigen Interpretation‹ abzielen«. Gleichzeitig wird dadurch ein kommunikativer Austausch auf transdisziplinärer Ebene erforderlich, der durch zukünftige Arbeiten weitergetragen werden kann und muss. Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung lag zusammengefasst auf der Analyse von Maiers ikonografischen Inszenierungs- und Identifizierungsformen des künstlerischen Selbst unter Berücksichtigung normativ gesetzter Geschlechterbilder des 20. Jahrhunderts. Vorliegendes Vorhaben sollte ein aus den Fotografien generiertes, bildanalytisches Verständnis für Maiers Werk und ihren feministischen Blick auf das Verständnis der kunstschaffenden Frau ermöglichen. Damit sollte die übliche Lesart der MaierRezeption verdreht und der Notwendigkeit nachgekommen werden, vom gezeichneten Bild der »Nanny mit der Kamera« (Muscionico 2016) Abstand zu nehmen und in Maier zuallererst eine talentierte Fotografin zu sehen, die als Nanny ihren Lebensunterhalt verdiente. Dieses Anliegen wurde jedoch nicht nur von Kunstkritikerinnenseite/Kunstkritikerseite (wie von Pamela Bannos oder Daniele Muscionico) formuliert, sondern ebenso von Maier selbst, deren unzählige Selbstporträts Maier wiederkehrend als foto-
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grafierend-beobachtende und damit aktive Frau in den Bildfokus setzen und verdeutlichen, dass der (fotografische) Schöpfungsakt ebenso ›weiblich‹ wie ›männlich‹ sein kann. Als Abschlusscredo sei in Anlehnung an die fiktiven Selbstbekenntnisse von Maier in Jeffrey Goldsteins und Lisa Vogels Kurzfilm »Vivian Maier – Photographer Extraordinaire« (2011) folglich gesagt: Vivian Maier was not a nanny who happened to be a photographer, but a photographer who happened to be a nanny.
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© Nadja Köffler
»die kunst kann für die frauenbewegung von bedeutung sein, indem wir aus der kunst neue bedeutungen – unsere bedeutungen – schlagen: dieser funke kann den prozess unserer selbstbestimmung entzünden. die frage, was können die frauen der kunst und was die kunst den frauen geben, kann man so beantworten: die übertragung der spezifischen situation der frau in den künstlerischen kontext errichtet zeichen und signale, die einerseits neue künstlerische ausdrucksformen und botschaften sind, andererseits rückwirkend die situation der frau verändern.« Valie Export/1972, zit. in Ankele 2010, S. 63
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… never to be forgotten
Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Die Zukunft gehört den Phantomen« Kunst und Politik nach Derrida 2018, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4222-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4222-7
Chris Goldie, Darcy White (eds.)
Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North
2018, 174 p., hardcover, numerous ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3
Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2
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