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German Pages 184 [369] Year 2022
Versuch einer Anleitung zur
S i t t e ii l e h r e für
alle
Menschen,
ohne Unterschied der Religionen, nebst einem Anhänge
von den Todesstrafen. Vierter Theil.
Berlin, 1790. bey Christian Gottfried Schöne.
Vorrede zum vierten Theile.
denke, daß es meinen Lesern nicht mißfällig seyn werde, wenn ich auch in der
Vorrede zu diesem vierten und lezten Theile meiner Sittenlehre fortfahre; ihnen einige Betrachtungen, unter dem Titel von Anmerkungen, zur genauern Prüfung und eigenen gefälligen Beurtheilung vorzulegen. Ich will
nur bitten, alle Brillen der Vorurtheile, wenn es möglich ist, bey Seite zu werfen: und mit einer unbefangenen Vernunft über dasiem'ge. was ich sagen werde, zu richten. Verdammt mich alsdenn diese; gut! so habe ich verlohrne Sache; für die keine weitere Appellation an einen höher» Richterstuhl statt findet. Winkt sie mir aber auch ihren Beyfall zu; so werden
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meine
Vorred e.
4
meine Ohren gegen allen Widerspruch/ den die
Phantasie mit dem ganzen Heere ihrer Vorurtheile mir machen möchte, taub stylt.
Erste Anmerkung.
Es
ist sonderbar,
daß sich die Menschen darin nicht finden können,
-aß sie auf dem Wege des Wachsthums in der Vollkommenheit begriffen sind; ohnerachtet sie doch die kleinste Aufmerksamkeit
auf sich, und Andere, davon belehren könnte. Wir wollen die Sache erstlich überhaupt; und
zum andern
von der besondern Seite ansehen,
wo diese Unachtsamkeit,
in den Beurtheilun
gen und Behandlungsarten der Mettschen un
tereinander, die schrecklichsten Fehler verursacht
und nach sich zieht.
Erstlich überhaupt:
Wie leicht ist es,
sich von den Fortschritten zu überzeugen, die ein Mensch unaufhaltsam auf dem Wege seiner Vollkommenheit macht? man sehe ein Kind
an, wie es sich zu einem Jünglinge: und aus
diesem, zu der Vollkommenheit eines Mannes entwickelt;
und endlich zu einem Alter voll Er
fahrungen reift? Wer waren wir in der Wiege?
wer
Vorrede.
§
wer im Gängelbande? Wer im zehnten, zwan
zigsten, dreyßigsten Jahre? u. s. w.
Und was
man auch von den Schwachheiten des ho
hen Alters sagen will, die den Menschen wie der zu dem Unvermögen der Kindheit zurückzu führen scheinen;
so ist es gewiß,
daß diese
Erscheinung nur nicht mit dem rechten Auge
angesehen wird.
Das menschliche Leben ftmit
offenbar von einer doppelten Seite beurtheilt
werden.
Erstlich, an und für sich allein; zum
andern, als ein Theil des ganzen unendlichen Daseyns desienigen Wesens, daß iezt Mensch ist.
Dieienigen, die einen Rückgang in der
Vollkommenheit an einem alten Menschen be merken wollen:
sehen blos allein auf sein
menschliches Leben; beurtheilen dasselbe als ent für sich bestehendes Ganzes ; und verges
sen, das ganze ununterbrochene Daseyn des Subiccts unter ihren Gesichtspunct zu nehmen,
wovon sein menschliches Leben nur
ein Theil ist.
Sie finden in den frühern Jah
ren des Menschen die unleugbaren Spuren der Fortschritte, die er in seiner Ausbildung macht. Wenn aber dis bis zu einer gewissen Stusse
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des
6
Vorrede.
des Atters fortgegangen ist; so verliehren sich
diese Spuren des Wachsthums wieder allmählig
in
eine
zunehmende
Schwachheiten,
Dunkelheit
von
die den Menschen endlich in
die vollen undurchdringlichen Finsternisse des
Todes überführen.
Diese Erscheinung, sage
ich, würde ihnen aufhdren räthselhaft zu seyn; wenn sie daran dächren, Leben nicht
daß das menschliche
das ganze Daseyn des Menschen
in sich faßte! sondern nichts weiter als nur ein
gewisser Theil und Abschnitt seines unend lichen Daseyns wäre: und daß alle die ver schiedenen Zustande und Ordnungen, durch welche der Mensch sowol
wurde,
gewandert ist;
der Zukunft,
vorher,
ehe er Mensch
als auch,
die er in
wenn er aufgehört hat, Mensch
zu seyn, ins unendliche zu durchwandern hä
kelt wird;
aufs genaueste Zusammenhängen:
dergestalt, daß in dem Uebergange aus der ei
nen Ordnung zu der andern,
auch nicht der
Man kann für einen jeden Menschen ohne Aus nahme, er sterbe früh, oder spat, einen gewissen Punct seines menschlichen Lebens annehkleinste Sprung statt finden könne.
Vorrede.
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annehmen; in welchem er für feine indi
viduelle Person und Menschheit, den höch sten Grad seiner menschlichen Dollkommenheit, deren er fähig war, und die ihm
nach dem ganzen Zusammenhänge aller
Dinge nur bestimmt seyn konnte; erreicht
hat! . Von diesem Punct an muß seine allmählige Hinneigung, seine stuffenmaßige Annäherung zu dem folgenden höherm Orden, in welchen er, nach seiner Menschheit, ausgenommen werden soll; angehen. Bey sehr vielen Men sche»! ist uns diese Abnahme ihrer menschlichen Kräfte, diese ihre Annäherung zu einem hohem
Zustande, merklich. Diejenigen, welche der beste»! Gesundheit genießen, und ein sehr ho hes Alter erreichen; stehe»» gemeiniglich gegen das fünfzigste Jahr auf den höchster» Gipfel der Vollkommenheit ihrer menschlichen Natur! und wen»» sic diesen erstiegen habe»»: so gehen sie den Berg auf der andern Seite wieder herab; um in dem Thale des Todes die Me tamorphose zr» leide»», in der ihre menschliche Natur, die nicht weiter zu gehen vermochte; von einer hohem abgelöset wird, die erfor-
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derlich
Vorrede.
Lerlich ist, um einen folgenden noch höhem Berg, als der zurückgelegte menschliche war, ersteigen zu können.
Dieienigen,
welche frü
her, und durch irgend eine Krankheit in iünA^rn Jahren aufgerieben wurden, hatten eben falls für ihre individuelle Personen und Mensch heit einen gewissen, ihnen bestimmt gewesenen
höchsten Gipfel ihrer menschlichen Vollkom menheit erreicht.
Sobald aber der Saame
Ser Krankheitbey ihnen zu keimen anfing; so
traf mit ihm zugleich auch der Befehl an ihre Menschliche Natur bey ihnen ein:
allgemach
einzupacken, und sich zum Abzüge anzuschicken.
Hieraus ergibt sich,
wie ich denke,
deutlich
genug, daß. alst» schlechterdings kein Rückgang
in der Vollkommenheit des Wesens, das wir Mensch nennen, überhaupt statt finde; sobald
man nur die ganze Würde dess'lben nicht auf fein menschliches Daseyn einschrankt:
son
dern seinen Blick auf die ganze Dauer dessel ben,
auf sein ununterbrochenes Daseyn ver
breitet, und seine unaufhaltsam fortwachsende Vollkommenheit durch alle auf einander fol
genden Zustände stiller veränderten Naturen
in
Vorrede. in der Verbindung überschaut.
9 Wenn ich ei
nen Berg hinaufsteige; so sehen es alle Zu schauer/ daß ich immer höher und höher zu
stehen komme!
Wenn ich aber,
nachdem ich
den Gipse! erreicht hatte; auf der andern Sei te den Berg wieder herunter steige: so deucht ihnen , daß mein Heraufsteigen vergebliche Ar
beit war; weil sie nur den ein zigen Berg ins Auge habe»,
und die unendliche, fortlaufen
de Kette von folgenden noch höhern Bergen,
die ich noch zu ersteigen habe, Allein,
nicht sehen.
wenn mein Herabsteigen bis zum Fuß
des folgenden höhern Berges nöthig war, um
hier meine alte Kleidung ab-und einen neuen
Reise-Habit anzulegen,
der sich für den fer
nern Weg, den ich zu machen habe, und für
die veränderte Luft, die ich auf dem folgenden
höhern Gipfel finden werde, sthickt; um mich hier mit den bessern Ferngläsern zu versehen, durch die ich von dem folgenden höhern Stand
puncte den erweiterten Schauplatz übersehen,
und die grdßern Reichthümer von Scbönheiten, die er mir vorlegen wird,
wabrnehmen
könne: war denn mein Herabsteigen jenes BerA 5
ges
io
Vorrede.
ges, ein Rückgang, den ich machte? So müßte ich auf derselbigen Seite desselben, auf welcher ich hinaufgeklettert war; auch wieder hinuntergegangen feyn!
müßte Mich,
im ei
gentlichsten Verstände, meiner ehemaligen Wie ge der Kindheit, und dem Leibe der Mutter, die mich als Mensch gebahr, wieder genähert
haben! — Mensch,
Eine Erfahrung, die noch kein
so lange die Welt steht, weder selbst
gemacht,
noch an Andern
hat! —
Mithin ist die Abnahme an mensch
wahrgenommen
lichen Kräften bey den Alten; und bey denen, die eine Krankheit in iüngern Iahrm aufreibt; kein Rückgang:
sondern ein wahres Fort
schreiten auf dem Wege ihrer Vollkom menheit überhaupt. Wir wollen bey dieser Gelegenheit noch et
was von denen Menschen sagen, die ein plöz-
licher Tod gerade in der besten Blüthe Orer Jahre und in dem lebhaftesten Gefühl
ihrer menschlichen Kräfte dahin reißt.
Die
Erfahrung lehrt es; daß ein Schlagssuß, oder
ein Blizstrahl des Himmels, oder ein anderes
Ver-
Vorrede.
n
Verhangniß zuweilen einen iungen gesunden. Menschen, der vieleicht gerade in dieser Stunde auf den besondern Gipfel der höchsten Vollkom
menheit seiner individuellen Natur stand ; pldzlich ergreift, und ihn in das Thal des Todes hinabschleudert: ohne daß seine Natur einen
bedachtsamen Schritt zum bequemen Herabstei gen machen konnte, ver unsern Sinnen merk
lich geworden wäre.
Es ist wahr; bey diesen
Beyspielen kann der Gedanke einer Abnahme
in menschlicher Vollkommenheit um so weniger statt finden; weil diese Menschen unmittelbar
von dem Gipfel ihrer menschlichen Voll-
tommenheit abfuhren,
und gleichsam von
demselben verschwunden;
ohne daß Krank
heiten, oder Schwachheiten des Alters sie all
mählich herabgeleitet hatten! und weil ein Je der derselben doch immer auch jenseits des Ber
ges in das ihm noch fremde Thal des Todes hin; kein Einziger aber difseit desselben, in den
ehemaligen
Gängelband
seiner
mensthlichen
Kindheit, oder in den Leib der Mutter zurück
fuhr, die ihn empfangen und gebohren hatte! Allein es scheint doch, als wenn hier, die Natur
von.
Vorrede.
L2
von ihrer alten, und sonst so fest begründeten Regel abwiche; nach der sie in keiner Sache
einen Sprung zulaßt, oder es zugeben kann: daß zwey Haupweranderungen,
zwey ganz
verschiedene Zustande, ohne gehörige Verknü
pfung, die aus kleinern und sich einander vor bereitenden Mittelveranderungen besteht, auf
einander unmittelbar folgen dürften? antworte hierauf:
Ich
i) daß wir bey allen Ver-
mlderungen, die sich in der Natur zutragen, und die von unsern Sinnen entpfunden wer-
dm, doch immer nur das Allgemeine dersel ben, oder das Ganze überhaupt; niemals
aber das Besondere,
oder alle einzelnen
Theile, aus Ivekhen die Veränderung besteht,
bemerken können.
Die Regel ist ganz gewiß
wahr: daß sich in der ganzen Ratur keine
Hauptveränderung, ohne erstaunlich viele Mittelursachen,
an eine vorhergehende
anschließe.
Aber diese Mittelursachen sind
oft so fein,
daß sie von unsern Sinnen gar
nicht bemerkt und unterschieden werden können.
Und sobald dis ist; so bemerken und unterschei
den
wir
wol
die Hauptveränderungen
selbst,
Vorrede.
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selbst, die aufeinander folgen, und deren eine die andere abldset: weil uns aber die Art des
Ablösens und des Aufeinanderfolgens der selben,
oder die natürliche Verbindung und
der wahre Zusammenhang dieser Veränderungeu unbemerkbar bleibt;
so schließen wir oft
übereilt genug, daß die Natur sich selbst ungetreu,
und ihren eigenen AnWertretbaren Ge
setzen abtrünnig geworden sey.
Wir beschul-
digen sie eines Widerspruchs, in den sie mit sich
selbst gerathen; und eines Sprunges, den sie
in ihren Würkungen gemacht haben soll: an
statt daß wir den Fehler an uns selbst suchen,
und uns der Schranken unseres Bemer.kungs - und Beobachtungs - Vermögens bescheiden sollten.
2) Findet man auch hier
die. allgemeine Wahrheit bestätiget, daß sich
nicht zwey Dinge und Veränderungen in der ganzen Natur gleich find. Einige Men schen erreichen ein hohes Alter!
und es war
deutlich air ihnen zu bemerken, daß sie die eine Hälfte chrer Jahre mit dem Ersteigen ihres
Berges; und die andere mit dem Herabgang von demselben, zubrachten.
Sie machten ihre Schritte
14
Vorrede.
Schritte von dem Gipfel ihrer menschlichen Vollkommenheit bis ins Thal des Todes, so langsam und bedächtig; daß man fast Leglichen derselben zählen konnte. Andere, die etwa ei ne tddtende Krankheit in der Blüthe ihrer Jah re ergreift; eilen mit schnellen Schritten von ihrer Höhe herab. Noch andere scheinen uns gleichsam von derftlben zu verschwinden. Al les dis aber lehret nichts mehreres, als daß, so wie in allen Dingen, eine unendliche Mannig faltigkeit herrscht; es also auch unendlich viele Grade des schnellern, oder langsamern Neberganges von dem Zustande der Menschheit zu demienigen Zustande gebe, der auf kenen folgt. Indessen ist doch immer ein Uebergang da! eine große Veränderung, die aus vielen kleinen Theilen und Veränderungen besteht! von de nen die frühern und vorhergehenden, die Ursa chen; und die später eintretenden, die natür lichen Folgen derselben waren. 3) So wie diese Verschiedenheiten überhaupt ihre frühern
Ursachen in dem ganzen Zusammenhänge aller Dinge, lind insonderheit in dem ganzen vor gängigem Daseyn des Menschen, und in den Unter-
Vorrede. Unterscheidungs-Stücken, wodurch er von andern Menschen unterschieden ist, haben: so ha ben sie auch ganz gewiß ihre unausbleibli
chen natürlichen Folgen in dem besondern,
unterfthredenem Entwickelungs - Gange,
den ein Mensch gegen den andern vergli
chen, in seinem Tode ntmt.
Wir haben
schon in dem ersten Theile unserer Sittenlehre,
und, zwar in der Abhandlung von der Fortdauer des Menschen nach dem Tode, behauptet: daß
die Schönheit und das Gesez der Mannigfal
tigkeit in der Welt es erfordere, daß nicht alle
Glieder und Bürger ein und eben derselben
Gattung von Geschöpfen, auf eine und eben
dieselbe Weise, auf demselbigen Wege in ihrem Tode sich entwickeln und vervollkommen könnten: sondern daß es gewiß für eine iede einzelne Gattung von Ge
schöpfen unzehlige Arten und Wege der Entwickelung gebe; die ihre einzelnen Mit
glieder wandern und auf welchen sie sich theilen müßten. leicht.
Und der Erweiß davon ist
Die Subjecte, die da sterben,
sind,
wenn sie schon zu einer Gattung gehören, doch alle
16
Vorrede,
alle in ihren besondern Kräften und in den ein
zelnen Stimmungen ihrer Naturen von einan
der verschieden.
Die Art ihres Todes ist in
tausendfachem Betracht verschieden. und das Alter,
Die Zeit
in welchem sie starben!
der
Grad von Vollkommenheit, den ein Jedes er reicht hatte!
welche erstaunliche und unendliche
Verschiedenheit sinder sich da unter ihnen? Man vergleiche ein Kind von acht Tagen, das
in der Wiege erblaßt; mit einem Manne von großen Fähigkeiten, der im fünfzigsten Jahre
mit großem erworbenen Reichchume der edel
sten Wissenschaften, der nüzlichsten Fettigkei ten, der lehrreichsten Erfahrungen, den Schauplaz verläßt! u. s. w.
Was folgt hieraus?
Eine rede besondere Ursach muß auch
schlechterdings ihre besondere Folgen ha
ben; und diese können wieder zur Hervorbrin gung anderweitige,
ihnen gemäßer Folgen
nicht unkraftiger seyn; als iene ihre eigene Ur
sach zu ihrer Hervorbringung war: weil kei ne einzige Ursach, die einmal da war; auch in
dem spätesten Laufe ihrer Folgen nie aussterbm kann.
Mithin muß ein jedes Wesen,
ein
Vorrede.
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ein ieder Bürger einer zeitigen Gesellschaft auch in seinem Tode seinen eigenen und
besondern
Entwickelungs-Weg gehen;
der ihm denn wieder ein neuer.Grund zu den
besondern Eigenschaften und Bestimmungen
wird, die ihn, ienseit des Grabes, von allen übrigen Bürgern seiner Gesellschaft, zu der er
gehört, unterscheiden.
Zweytens insonderheit.
Wir müssen
nun auch die Erscheinung: daß die Menschen
nicht darauf Acht haben, daß sie auf dem
Wege des Wachsthums in der Vollkom menheit begriffen sind; von derienigen Seite ansehen/ wo diese Unachtsamkeit und Blind
heit die schrecklichsten Fehler in den Beur
theilungen und Behandlungs-Arten, die
sie sich überund gegen einander erlauben,
nach sich zieht.
Wir wollen iezt auf das
menschliche Leben allein und an und für sich
selbst sehen. Wenn der ganze Weg des mensch lichen Lebens, den der Mensch wandert,
ein
Weg zu immer höherer Vollkommenheit über haupt ist; so. muß ihn ia natürlicher Weise , Sittenlehrt. IV. Th.
B
auch
iS
Vorrede.
auch ein ieder einzelner Schritt, den er auf dem
selben zurückkegt, darin immer weiter führen! Ist dis aber;
so muß er beständig aus einer
unvollkomnern Verfassung, in eine vollkom-
nere übergehen.
Er muß also immer einen
unvollkommen Zustand verlassen, wenn er in
einen vollkomnern treten soll!
Folglich sind
die unvollkommen Zustände,
aus denen
er ausgeht, eben so nothwendig; als die
vollkomnern, in die er übergeht.
Diese
könnten so wenig folgen, wenn iene nicht vor angegangen waren; als der höhere Schritt nicht folgen kann, wenn der niedrigere nicht vorher da gewesen wäre. Laßt uns dis auf die Hand
lungen der Menschen anwenden. Der Mensch
hat eine vernünftige Natur; und diese macht
die eigentliche Würde seiner Menschheit aus. Vermöge derselben ist er deutlicher Vorstel
lungen fähig: und die Entschließungen und Handlungen, zu welchen seine Selbstliebe durch
deutliche Vorstellungen seines Verstandes
angetrieben wird;
nennen wir vernünftig
freye Entschließungen und Handlungen. Der Mensch ist ccher nicht pure Vernunft.- son
dern
Vorrede.
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dem er ist auch undeutlicher Vorstellungen;
und diesen zufolge, sinnlich freyer Hand
lungen fähig.
Ja es leben auch zu ieder Zett,
in unendlich grosser Menge,
blos dunkele
Empfindungen in ihm; deren Würkungen wir in der Einleitung,
oder dem ersten Theile
dieses Werks, mit dem Nahmen,
Handlungen bezeichnet haben. daselbst zugleich erwiesen,
unfreye
Wir haben
daß keine einzige
Handlung
des Menschen ganz vernünftig
frey sey:
sondern daß an der vernünftig
freyesten Handlung eines Menschen zu
gleich unzehlig mehrere undeutliche Vor
stellungen; und noch mehrere dunkele Em pfindungen Antheil hatten: daß folglich die vernünftig freyeste Handlung,
zu
gleich aus mehrern sinnlich freyen, und aus noch mehrern unfreyen Handlungen bestünde; und daß sie ienen Nahmen nur dar
um trüge, weil doch einige deutliche Vorstel lungen zu ihrem Erweekungs-und Cntstehungsgrunde gehört hatten.
Ferner; daß es unzeh
lig mehrere Handlungen des Mensthm ge be, die blos sinnlich freye und unfreye zu-
B 2
gleich
Vorrede.
20
gleich wären.
Und endlich: daß die aller
meisten menschlichen Handlungen blos un-
freye seyen, oder aus blos dunklen Empfin dungen entsprangen. Alle menschliche Hand
lungen überhaupt sind also die Würkungen und Resultate ihrer jedesmaligen Em pfindungen und Vorstellungen» —
Nun
stehen die Sinne des Menschen, der auf dem Wege seiner immer mehrern Ausbildung und Vervollkommung begriffen ist,
niemals ver
schlossen und müßig; sondert: samlen stets neue
Eindrücke ein, die das Maas der Empfindun gen und Vorstellungen bey ihm vermehren: und es thut hier nichts, wenn auch viele Em
pfindungen und Vorstellungen, die er schon gehabt hatte, wieder bey ihm einschlafen unt>
durch andere neu hinzukommende verdrängt werden! Das hindert den Wachsthum in der Vollkommenheit so wenig, daß'derselbe es viel mehr erfordert und ganz natürlich mit sich
bringt.
Der Mensch würde ein Magazin wer
den, das mit lauter Widersprüchen angehäuft wäre; wenn ihm seine ehemaligen unreifen Be
griffe, die er von vielen Dingen hatte, und die
ihm
Vorrede.
21
ihm damals seine vollständigste Wahrheiten enthielten, deren er fähig war; in der Folge immer noch als diejenigen vollständigen Wahr heiten in seinem Verstände neben den reichern Begriffen und den größer» Wahrheiten stehen bl- iben sollten, die er sich von denselbigen Sa chen in der Folge eingesamlet hat! Wenn die Sonne schon ausgegangen ist, und in ihrem Glanze da steht; so bedarf es ferner der Nacht lampe nicht mehr, um dabey zu sehen. Eben so wenig machen die Vorstellungen und Hand lungen eines Menschen, der seinen Verstand verlohren hat; hier einen gültigen Einwurf. Denn, wenn man schon sagen will, daß ein solcher Mensch in Ansehung Lener Stücke, ge gen seinen vorigen gesunden Zustand, zurückge kommen zu seyn schiene; so wird- doch keiner leugnen können, daß das Subiect überhaupt und im Ganzen genommen, aufdem We ge seiner fortgehenden Auswickelung ge
blieben: und daß, weil es doch nicht in die Wiege seiner ehemaligen Kindheit zurückgesun ken sey; seine Bahn, die es schreitet, schlech terdings Vorwerks gehen müsse; wenn wir
B 3
schon
22
Vorrede,
schon diese Fortschritte in gewissen einzelnen Stücken, die uns. bey gesunden Menschen die
deutlichsten Merkmahle davon sind, bey ihm nach feiner gegenwärtigen Beschaffenheit nicht wahrnehmen können. Ueberdis setzen wir auch,
wenn wir voll dem Wege der Vervollkommung
reden wollen, auf welchem die Menschen mit ihren Erkenntnissen und Handlungen begriffen
sind, offenbar, gesunde Menschen; und keine
Verrückten voraus.
Ich sage also, ein Je
der Lener Menschen ist, weil sich seine Empfin
dungen und Vorstellungen
stets vermehren,
und seine Handlungen die jedesmaligen noth
wendigen Resultate seiner Empfindungen und
Vorstellungen sind; ein Jeder derselben ist
also mit seinen Handlungen auf dem We ge der immer mehrer« Ausbildung und
Vervollkommung seiner, begriffen. Nun wollen wir der Sache näher treten.
Wenn es schon allgemein wahr ist, daß alle Menschen ohne Allsnahme auf dem Wege ih
rer ununterbrochenen Vervollkommullg über haupt begriffen sind r so ist es doch unmöglich,
daß
Vorreb e. daß auch nur zwey Menschen auf ein und
eben demselben Wege sich entwickel» oder vervollkommen können; auch unmöglich, daß zwey Menschen ein und eben derselben Art
und desselbigen Grades der Vollkommen
Verschiedene Ur sachen müssen auch verschiedene Folgen ha heit fähig seyn könnten.
ben.
Nun bedenke man den erstaunlichen Nm
terschied, der sichin der Besihaffenheit lind den Verhältnissen der festen und stößigen Theile, aus welchen die Menschen bestehen,
befindet;
und der es hindert, daß auch nicht zwey Meir ichen sich vollkommen gleich sind-! Men erwegr
die daraus erwachsende anderweitige Verschie
denheit, die sie in ihren natürlichen Stimmun gen rmd Characteren, in ihrem Empfindlingsund Vorstellungs - Vermögen, in chren Nei
gungen, Trieben, Und Wünsthen, in ihren
handelnden Kräften,
machen nmß!
sich durchaus ungleich
Man rechne die verschiedenen
äusserlichen Verhältnisse uuD Lagen, «t denei? sie sich befinden, mrd die zu ihrer fortdauern den Erziehung Ulrd Ausbildung geboren, hin
zu! u. f.
Was kamr denn einleuchtender B 4
und
24
Vorrede.
und handgreiflicher seyn, als, daß die Men
schen durchaus alle auf verschiedene Art Handeln müssen? daß es platterdings unmög-
lich sey, daß auch 'nur zwey Menschen gefun den werden könnten, deren Handlungs-Reihen von ihrer Geburt bis an ihren Tod über
einstimmig waren? Wenn denn aber doch der
Weg eines Jeden, der Weg ftiner Vervollkommung ist! was folgt alsdenn zugleich
richtiger und gewisser, als: daß ein Jeder auf dem besondern Wege, auf welchem er mit seinen Empfindungen, Erkenntnissen und Handlungen geht; und indem er die
sen Weg wandelt; daß er, sage ich, auch
gerade damit zugleich die Schritte in sei
ner ununterbrochenen Vervollkommung selbst, zurücklege?
Eine Lede Stusse, auf
welcher also ein Mensch in seinen Erkenntnisfen und Handlungen steht, ist, sie mag uns
so tief und so verabscheuungswürdig in unsern
Augen zu seyn scheinen, als sie wolle; ich sage, sie ist für ihn,
seine gegenwärtige höchste
Stusse, auf der er iezt nur stehen konnte! Sie ist ferner gegen die vorhergehende Stusse,
von
Vorrede.
25
von welcher er aus/ nach dieser hin trat; die
wahrhaftig höhere für ihn:
gesezt auch,
daß uns seine kurz vorhergehende Handlung/ die beste Tugend;
und seine darauffolgende,
das schwärzeste Verbrechen wäre!
und diese
gegenwärtige Stuffe, und wenn sie die ab
scheulichste That war!
mußte auch wieder
vorhergehen; wenn er auf der Leiter seiner
Entwickelung zu einer höher» Stuffe seiner Vollkommenheit sollte gelangen können. — Wie sollte ich also alle Unvollkommenheiten
der Menschen überhaupt,
die man unter die
Nahmen Jrthümer, Fehler, Laster, Verbre
chen U. s. w. begreift;
eigentlich ansehen?
Antw, als lauter niedrigere Stuffen der Voll kommenheit,
auf welchen die Menschen stehen
und sich zeigen; und die so nothwendig da seyn,
vorhergehen,
und von ihnen betreten werden
mußten, wenn sie zu höherer Vollkommenheit
gelangen sollten: als es nothwendig ist, daß der Mensch vorher ein Kind seyn muß, wenn er ein Jüngling und Mann wetden soll; daß er vorher iünger und schwächer seyn muß, wenn
er hinterher älter und stärker soll werden kön-
B 5
nen.
Vorrede.
26 nett.
Und wie sollte man bey den einzelnen
Menschen und ihren einzelnen Fehlern, Ver brechen u. s. w., die sie begehen, denken? Ohn-
sireitig so: Dieser Mensch hat eine Handlung begangen, die in meinen und der meisten Men schen Augen ein Verbrechen ist. gestohlen, oder gemordet.
Er hat z. E.
Ich habe eine solche
That nie begangen, und möchte sie auch nie begehen.
Allein er ist auch ein anderer
Mensch, als ich.
Bey ihm war sie das
nothwendige Resultat seiner besondern Stim-
mung der Natur, seiner besondern Neigungen, Empfindungen und Erkenntnisse, seiner Erzie
hung und besondern Lage; kurz, sie gehörte zu dem besondern Entwickelungs-Wege,
auf welchem er sich seiner höhern Vollkom menheit, der er fähig ist; nur nähern kann, und nähern muß.
Und da der Mensth in
der Gesellschaft lebt und nur hauptsächlich durch
die Gesellschaft seine Ausbildung zu höherer Vollkommenheit gewinnen kann; da er in der Einöde, oder auf einer wüsten und von Men
schen verlassenen Insel sich so wenig, als mög
lich, über die vernunftlosen Thiere würde erhe ben
Vorrede.
tj
Bett können; da er ferner auch nur M der Ab
sicht, um glücklicher und vollkomner zu
werden, in der Gesellschaft lebt: so ist diese schuldig , die besten Mittel, die dazu taugen, und die sie in Händen hat, anzuwenden; daß
dieser Mensch, der sich durch fern Verbrechen
ihr erklärt hat, wie weit er noch auf der Bahn seiner Vollkommenheit zurück sey; auf dersekhen gefördert und Vorwerts geholfen werde.
Dis sind, deucht mir, so richtige und wahre
Gedanken, daß ich in der Welt nicht begreife, was ihnen entgegen gesezt werden könne? Aber
wird wol nach diesen natürlichen Grundsätzen
würklich in der Gesellschaft, in den Beurthei
lungen und Behandlungs-Arten der Menschen
verfahren? Gott, welche Verblendung und
Verkehrtheit findet-sich hier! Und wer ist Schuld daran ? Offenbar wieder die so genann
ten Theologen!
Diese Menschen,
welche sich
nun schon einmal über die natürlichen,
metffch-
lichen Wahrheiten hinweg gesezt haben,. und
auf dasienige gar nicht sehen, was ihnen vor dm Füßen liegt; sondern mit lauter angeblich göttlichen, überirrdischen, und übernatürlichen
Wahr-
28
Vorrede
Wahrheiten Handlung treiben:
haben alte
übrigen Stände auch mit sich in die Irre fort gerissen; weil sie fast einen Jeden schon von Kindesbeinen an in ihre Lehrsätze einwickekn,
und ihm den Kopf so verrücken, daß er her nach Zeit Lebens eine schiefe Richtung behalten muß.
Wie viele sind derer weltlichen Stan
des, die sich rühmen können, mit ihren eige-
NM AugM, und nicht vielmehr durch die
Brille zu sehen, die ihnen ihre geistlichen
Lehrer von Kindheit an aufgesezt ha ben? — Und wie beurtheilen die Theologen
den unvollkomnern Zustand,
in welchem sich
ein Mensch durch seine Neigungen und Hand
lungen zeigt?
Anstatt ihn, als die niedrigere
Stusse, anzusehen, welche dieser Mensch auf der Leiter seiner Vollkommenheit, die er zu er
steigen hat, nothwendig vorher betreten mußte, wenn er zu der darauf folgenden höher« gelan
gen wollte und sollte; anstatt diesem Menschen einen vernünftigen und anwendbaren Rath und
gute Anleitung zu geben, wie er nun ohne An stand diese niedrigere Stusse verlassen, und sich auf eine bessere Und höhere erheben solle: An
statt
Vorrede,
29
statt alles dieses, glossiren sie vielmehr mit un
nütze Speculationen, unter dem Vorsitz der
Phantasie, über den Ursprung der menschlichen Unvollkommenheiten überhaupt; leiten sie aus
einem erträumten angebohrnen Verderben
der menschlichen Natur, aus einer allgemei nen Krankheit derselben her; die, nach Aussage der Meisten von ihnen, aus einem unvorsichti
gen giftigen Apfelbiß der ersten menschlichen Stamm-Eltern entstanden seyn, und sich von diesen, auf alle ihre Kinder und Nachkommen
fortgeerbt haben soll; und von der, Andere, die ienen angeblichen Apfelbiß doch.fast zu unkraftig halten, als daß er eine so große Wür-
kung hätte nach sich ziehen können; selbst nicht wissen, woher sie sonst entstanden seyn möge?
Genug sie ist nach ihrer Aller Urtheil da;
dieft angebliche Unordnung, Krankheit
und Verdorbenheit der menschlichen Na tur! Und, da Gott nicht der Urheber davon seyn könne: so müsse, sagen sie, der Mensch
selbst, entweder für sich allein; oder de
concert mit einem Dinge, das sie Teufel
nennen; Schuld daran, seyn. Aus
ZD
Vorrede. Aus dieser von dem Menschen sich selbst
gestifteten Verdorbenheit und Krankheit seiner Natur leiten sie seine Strafwürdigkeit über sei
ne unvollkomneren Zustände, und über seine
unvollkomneren Handlungen her. —
Und da
-er Mensch in beständigen Fortschritten auf
dem Wege seiner Vollkommenheit begriffen ist; folglich alle Augenblicke seines Lebens aus ei
nem unvollkomnern Zustand, in einen vollkom-
nern übergeht und übergehen muß; fb lehren
sie: daß der Mensch nichts, als fündigen
könne; daß sein Tichten und Trachten bö se sey. von Jugend auf und immerdar; daß
er in beständigem Ungehorsam wider den Willen Gottes begriffen seye; und nichts
anders, als Fluch und Strafe von dem
Richter der Welt zu erwarten habe: wo fern dieser nicht aus einer ganz unverdien
ten Barmherzigkeit,
die ihren Grund
außerhalb dem sündigen, verlohrnen Menschmgeschlecht habe; für Einige derselben,
Gnade für Recht dereinst ergehen lasse. Dieser Hoffnung theilhaftig zu werdm, em-
vfehlm. sie gewisse göttliche.Gnadenmittel; denen
31
Dorre d e.
denen sie eine geheimnißvolle,
übernatürliche,
wunderthätige Kraft nachrühmen, die Wür-
kungen der Krankheit der Natur zu dämpfen; wenn sie in der vorgeschriebenen GnadenOrdnung der Bekehrung und Wiederge-
burth gebraucht würden!
Aber selbst diese
Gnaden-Ordnung kann, nach ihrer weitern Lehre, kein Mensch durch eigene Kräfte an
sich bewilligen und bewerkstelligen:
iene
Gnadenmittel Niemand selbst an sich kräf
tig und anschlagend machen! Nein, dazu hat die Krankheit der Natur bey einem ieden Menschen,
nach ihrer Versicherung,
schon
zu weit um sich gegriffen und ihn in zu viele Schwachheit versenkt, als daß er sich die mindeste Selbsthülfe dabey noch geben könnte: sondern es ist hier wieder freye Gnade des
zureichenden Grundes aller Dinge, wenn der Mensch bekehrt, wiedergebohren und durch
iene Gnadenmittel vor dem zukünftigen Zorn bewahret wird. —
Und so sizrakfo, bey die
sen Anweisungen, der arme Mensch mit der
ihm aufgebürdeten Krankheit da; und weiß
nicht, was er machen soll? mit der chm aufgchitt.'
Z2
Vorrede,
gebundenen Krankheit; von der er sich nicht ein Wort zu sagen Miß, wie er dazu gekom
men sey? und von der noch nie ein vernünfti ges Bewußtseyn in irgend einem Menschen, -er ie gelebt hat, oder noch lebt, hat reif wer
den können: daß er sich dieselbe irgend wo
durch selbst zugezogen habe! Ich sage, er sizt mit seiner Krankheit da, die ihm von Kin desbeinen an angedichtet,
angeredet, aufge
bürdet und so fest in den Kopf gepraget ist; daß er als der vollkommenste Malade imaginair« an der Wahrheit ihres Daseyns bey sich gar nicht mehr zweifelt.
Dabey lernt er von Kin
desbeinen an alles, was ihm von den Gua-
denmitteln, durch die einige Menschen geret tet; und von der Gnadm-Ordnung, in der
Einigen geholfen werde, vorgesagt wird; aus wendig.
Er beladet sein Gedächtniß mit einer
Menge von Formeln und geheimnißvollen Re
densarten, von denen weder sein eigener, noch irgend ein Menschen-oder Engel-Verstandet
was entziffern kann; und treibt sich in einem Wirbel von Andachts-Uebungen hemm,
in
denen er vergebens einen festen Ruhepunct für seine
Vorrede. seine Hoffnungen sucht,
33
weil ihnen keine ande
re , als nur eine betäubende und den Schwin
del vermehrende Kraft beywohnt.
Seine
Selbstliebe will, wie es ihr denn auch nicht zu
verdenken ist;
mit der gedroheten Hölle und
dem künftigen ewigen Tode nichts zu thun ha
ben! Gleichwol,
da er seine Bekehrung und
Wiedergeburt nicht selbst bewürken, noch die angepriesenen Gnadenmittel bey sich anschla
gend machen kann; so lebt er zwischen Furcht und Hoffnung der Dinge, die kommen wer den,
sein Leben voll Unruhe dahin! ist froh,
wenn er sich der Gedanken des Todes und der Zukunft entschlagen kann! und sucht sich, wenn
diese Gegenstände in seinen einsamen Stunden,
oder bey besondern Gelegenheiten (ohngeachtet er diese so sehr als möglich flieht) sichzuweilen
dennoch seiner zu sehr bemächtigen, und ihn mürbe ängstigen; sucht sich, so bald als mög
lich, durch Zerstreuungen wieder frische Luft zu schaffen,
und oft durch solche wilde Aus
schweifungen zu entschädigen, in die er nie ge
fallen seyn würde, wenn er nicht durch iene Schreckenbilder in dieselben hineingeiagt worSittenlchrr IV, Th.
C
dM
34
Vorrede.
den wäre! Selbst der Gedanke an die Gott heit bleibt ihm schrecklich; weil bey allem Be
kenntniß seines Mundes, woran er,
Papagey, gewöhnt ist;
wie ein
daß nicht Gott,
sondern er selbst Schuld an seiner unglück lichen Lage auf die Ewigkeit sey; er sich doch immer der natürlichen Frage,
die sein
Menschen-Verstand aufwirft, nicht erwehren kann: „Warum dieser Gott bey seiner All-
„ macht diese verzweifelte Lage für ihn zu-
„gelassen habe? Warum er, dem nichts un„ möglich seyn soll;
sie gleichwol nicht verhl'n-
„dert habe?" Und was für ein vertrauen soll er zu einem Gotte gewinnen, von dem ihm
alles,
was ihm hier unangenehmes begegnet;
als Strafen desselben vorgestellt werden? und von dem er auch nach dem Tode,, die
Verdamniß zu einem ewig unglückseligen
Zustande mehr zu fürchten: als das Gegentheil zu hossen hat? Glücklich sind dieienigcn, die ihr leichtes und zu Zerstreuungen
mehr
geneigtes Temperament noch hindert,
diese finstern und schrecklichen Vorstellungen
nahe an sich kommen 511 lassen! deren Aufmerk
sam-
Vorrede.
35
samkeit mit hundert andern Dingen stets zu sehr
beschäftiget ist; als daß sie das viel zu Herzen
nehmen könnten, was ihnen von ihrer Fluchs
und Todeswürdigkeit bey Gott; und von der Gefahr, den Himmel zu verfehlen,
und der Raub einer ewigen Verdamniß zu werden; von den Geistlichen angedrun
gen werden will! — Aber man nehme dieienigen, die zum ernsthaften Nachdenken über
sich mehr aufgelegt sind! — In welche gren zenlose Verwirrung; in welche furchtbare, mar ternde und oft an die Verzweiflung grenzende Ungewißheit über ihre
künftigeu Schikfale,
werden diese armen Gemüther durch iene un vernünftigen Vorstellungen
oft herumgetrie
ben?— Ich kann es von mir selbst bezeugen,
und denke noch immer mit Schrecken daran; daß, da ich in meiner Jugend durch iene fin stern Lehrsätze, die mir immer so beweglich und unaufhörlich angedrungen wurden; und durch
die Menge von Andachts- Uebungen, in denen
ich herumgeiagt ward; immer, wie auf der
Folter gespannt, gehalten wurde: daß,
bey
dem dadurch in mir lebhaft erregten Wunfch,
C 2
selig
z6
Vorrede.
selig zu werden; und bey der dennoch ver geblichen Marter/ die ich mir nach den dar
über ertheilten Vorschriften anthat, durch Bus se, Bekehrung, Wiedergeburt und Rechtfer
tigung zu iener Hoffnung hindurch zu dringen: daß,
sage ich,
da ich sahe, daß alle meine
quaalvolle Arbeit vergeblich war, und vergeb lich blieb; endlich schon meine ganze Hoffnung,
selig zu werden, völlig zu verschtvittden und an ihrer Statt die Verzweiflung bey mir ein, zutretcn ansing: dergestalt, daß der Entschluß
bey mir schon völlig absolvirt war, ein Selbst mörder zu werden! daß ich mich schon mit dem
dazu erwählten Werkzeuge an denjenigen Ort
hinbcgab, wo ich meinem martervollen Leben etit Ende machen wollte! und daß die Voll
bringung der That unfehlbar erfolgt seyn wür de; wenn sie nicht durch die Dazwischenkunft
eines andern Menschen, dem ich verdächtig ge schienen hatte,
verhindert worden wäre! —
Aber um so viel froher genieße ich auch iezt mein Leben! seitdemich einfehen gelernt: daß alle
jene heillosen und unnatürlichen Lehrsätze, die man für christliche Wahrheiten aus
gibt;
Vorrede.
37
gibt; keine christliche Wahrheiten! son dern müßige Erfindungen und zusammen
gewebte Traume sind, die sich die schwerMige Phantasie der Theologen und Geist
lichen erträumt hat! mit denen sie die ar men Menschen, die nun einmal an ihrem Gängelbande erzogen werden; von ihrer
Kindheit an bis an ihren Tod mürbe äng stigen! und dadurch das vornehmste Hin derniß aller vernünftigen Aufklärung und
Besserung in der Gesellschaft werden! Zugleich werden aber auch dieienigen meiner Leser nicht ganz Mrecht urtheilen;
welche in
den eigenen, zum Theil sehr traurigen Erfah rungen, die ich von den Würkungen ienes ge
wöhnlichen und herschenden Unterrichts der Geistlichen an mir selbst gemacht habe; einen
wichtigen Theil des Aufschlußes möchten finden
wollen, woher ihnen meine dreistere Freymüthigkeit erklärlich werde, mit der ich viekeicht
freyer, als Jemand vor mir gethan, und mei
ner guten Sache zu sehr gewiß, wider die
tyrannische Sclaverey auftrete; in welcher
C 3
die
Z8
Vorrede,
die Geistlichen und Theologen überhaupt den menschlichen Verstand gefesselt halten!
Doch die marternde Unruhen, in welche die Menschen mit ihren eigenen Wünschen und Hoffnungen durch iene finstern Lehrsätze der
Theologen vom moralischen Bösen gesezt wer den; die Bitterkeit,
welche dadurch über ihr
ganzes Leben verbreitet,
und das Hinderniß
der Muthlosigkeit, das ihnen dadurch auf den
Weg ihrer Besserung zur müßigen Bestreitung
und unglücklichen Aufhaltung ihrer Fortschrit te vorgeworfen wird: das alles, sage ich, ist noch lange nicht der ganze Schade, aus entsteht!
der dar
Verwüstend und grausam sind
auch die Würkungen und Folgen, welche Le ner Unterricht, in den Beurtheilungen und
Behandlungen ihrer Nebenmenfchen nach sich zieht.
So bald die Grundsätze einem Je-
den in den Kopf gepraget sind: daß des Men-
schen Neigungen von Natur aufs Böse
gerichtet stehen;
daß der Mensch selbst
Schuld an seiner Verderbniß habe; daß
er deßwegen strafwürdig fey! mit welchen ver-
Vorrede. verdächtigen,
mißtrauischen und
39 menschen
feindlichen Augen muß nun ein Jeder seinen
Nebenmenschen ansehen? drußvollen,
mit welchem ver-
rachsüchtigen Herzen seinen Be
leidiger beurtheilen?
Der anderweitige Lehr
satz : daß der Mensch kein Vermögen zum
Guten habe, kann diesen Widerwillen nicht mäßigen.
Denn, eines Theils sind alle Kö
pfe schon von Jugend auf gewöhnt, ein Galimathiaö von Widersprüchen bey sich zu beher
bergen; und da, wo eine abentheuerliche Hy pothese die andere bestreitet!
ihre Vernunft
unter den Gehorsam des Glaubens aller ZU
gleicher Zeit gefangen zu nehmen: und an dern Theils hat man, um ihnen die Verdau ung dieser Widersprüche desto mehr zu erleich
tern;
die nonsensicalische Distinction ausge-
fpähet, und sie den Grundsätzen, nach welchen ein Mensch den andern beurtheilen müsse, bey-
gesellet: „daß die Gottgefällige Beschaffen
heit, in der der Mensch etwas vor ihm gelte, und eine gegründete Hoffnung zur Seligkeit habe; sehr weit von derienigen
Beschaffenheit unterschieden sey, die der C 4
Mensch
40
Vorrede.
Mensch als ein ehrbarer Bürger
der
menschlichen Gesellschaft haben könne und müsse; weil die besten bürgerlichen Tugenden üt den Augen Gottes höchstens nur glänzende
Laster wären.,, Und hieraus folgert man: daß, weil also die Total- Verderbniß des Menschen
zu allem wahren Guten, ihm doch noch die Uebung dieser bürgerlichen Tugenden mög
lich lasse; der Mensch eben um deßwillen de sto strafbarer sey, wenn er sich dieser glänzen den Laster nicht befleißige! Und so ist nun
also allen gehäßigen Beurtheilungen seines han
delnden Nebenmcnschcn,
allen feindseligen Ge
sinnungen gegen seinen Beleidiger,
Thor geöfnet!
Thür und
Bey den einzelnen Men
schen gewinnet der Privathaß, und die thie rische Rachkegicrde gegen ihre wahre oder ver
meintliche Beleidiger dadurch allen Vorschub,
den diese Leidenschaften nur für sich verlangen können.
Denn die Menschen leben als Bürger
in der Gesellschaft unter einander.
Ihre etwa-
nigen geistlichen, himmlischen, göttlichen und
übernatürlichen Qualitäten, die der Eine vor dem Andern mehr oder weniger besitzen, und daher
Vorrede.
41
daher in den Augen Gottes mehr oder weniger
wohlgefällig seyn mag; gehen ihre bürgerliche Verhältnisse unter einander gar nichts an, und
haben damit nichts zu thun.
Ob der Eine
also mehr, und der Andere weniger betet u. sw. das sind sie geneigt sich unter einander zu schen
ken ; weil alle Andachts - Uebungen an und für sich selbst nur ihre Beziehung auf die Gottheit haben.
Alles dasienige aber, was ihre ge-
genfeitigen bürgerlichen Verhältnisse angeht;
alle Handlungen eines Menschen, die ihre Be
ziehung auf das Wohl seines Nebenbürgers haben;
liegen,
ienen Lehrsätzen zufolge, in
dem Bezirk derienigen Dinge, worüber der
Mensch vollkomne Freyheit habe, 'und wor in ein untadelhaftes Verhalten schlechterdings von ihm gefordert werden könne.' Und wenn er hiev fehtt; wenn er hier der Theorie der
glänzenden Laster entgegen handelt;
so könne
und brauche es ihm nicht zu gute gehalten zu werden.
Er verdiene Verachtung, Haß, Ab
scheu und Rache! — Alles Predigen von Sanftmuth und Versöhnlichkeit, was denn nebenbey
geschicht; macht keinen Eindruck, und kann
C 5
auch
42
Vorrede.
auch keine Kraft haben, Lene verdrußvolle Ge
müthsbewegungen zu unterdrücken: weil von der andern Seite her, Lene obigen Grundsätze diesen Leidenschaften zu stark das Wort reden.
Und so werden also die einzelnen Bürger durch Lene Lehrsätze, in den Beurtheilungen und Be
handlungen ihrer, sie etwa beleidigenden Nebenbürger, ganz von der Wahrheit abgeführt,
die offenbar darin liegt, und nur darin be
steht: daß sie einen Jeden ihrer Neben menschen nut allen seinen Handlungen, als auf seinem eigenen, besondern, und
ihm unterscheidungsweise von andern, be
stimmten Entwickelungs-Wege zu seiner
Vollkommenheit begriffen, ansehen; und
feine verwerfliche That für die niedrigere Stuffe halten sollten, die dieser Mensch
auf der Leiter seiner Vervollkommung
schlechterdings
vorher betreten mußte;
wenn es ihm möglich bleiben sollte, zu der folgenden höhern, die ihm beschieden war, gelangen zu könmn: und daß, wenn sie
auch durch feine That beleidiget würden;
sie ihn deswegen nicht hassen, sondern ihm
viel-
Vorrede.
43
vielmehr alle mögliche gute Hülfe zu sei
ner Besserung leisten sollten! wobey es ih nen immer unbenommen steht, den ihnen etwa von ihm zugefügten wichtigen Schaden durch
den Beystand der Öligkeit sich von ihm, so weit es möglich ist, ersetzen zu lassen.
Aber auch der gesezgebende und richten
de Stand in der Gesellschaft ist durch Lene Lehrsätze der Theologen mit in die Irre fort
gerissen:
auch der sieht die unvollkomnem
Handlungen, oder fogenannten Verbrechen sei ner Bürger nicht in ihrer wahren Gestalt und
mit eigenen Augen;
sondern durch die Brille
an, die ihm die Geistlichen von Kindheit an,
so gut wie iedem andern Menschen, durch ih
ren heiligen Unterricht vom Ursprünge und der
Beschaffenheit des moralischen Bösen in der Welt aufgesezt haben.
brechen angezeigt,
So bald ihm ein Ver
und dieser der ihm beschul
digten That überwiesen ist: so liegen Schwerd
und Rad und Strang, Staupbesen, Halsei
sen, sclavische Gefangenschaft und andere unzehlige Arten von härtern und gelindem Straf-
mit-
Vorrede.
44
mittel» bereit; die nach Maasgabe der, nach lauter unsicher» Maaßstäben taxirten Größe
Les Verbrechens, die That an dem Menschen rächen sollen.
Wird hier wol die allergering
ste Rücksicht auf die unbestreitlichen Wahrhei
ten genommen: daß der Mensch, der nun als
Verbrecher; cher?
gleich viel, ob ein leidenschaftli
ooer vorsezlicher ? da steht; daß dieser
Menjch, sage ich,
nach seiner ganzen indivi
duellen Person, Lage und Stimmung schlech
terdings so handeln mußte, wie er gehan delt hat? — Baß alle zureichenden Gründe seiner That außerhalb seinem VermdgensGebiethe lagen? ihre Wurzeln auch schon in
frühern Saculis, lange vor seiner Geburt hin
auf, geschlagen hatten? und daß kein zurei chender Grund ohne seine Folge bleiben kön
ne? — daß dieser Mensch auf der beson
dern Entwickelungs-Leiter feiner Vervollkomungin seinen Handlungen, gerade die
se Stuffe seiner That betreten mußte; weil
er sonst zu den folgenden Stuffen, die ihm
befthiedm waren, nicht gelangen konn te? — daß er darum in. der Gesellschaft lebt,
und
Vorrede.
45
und feine Kräfte in seinen anderweitigen guten Handlungen zur Beförderung der allgemeinen Wohlfarth zu Hülfe gibt: um von der Gesell«
schäft da,
wo er wieder ihrer Hülfe zu seiner
eigenen Vervollkommung bedarf; auch fortge holfen zu werden? — daß dis auf taufend gu
ten Wegen besser, als durch rachsüchtige und elend machende Strafmittel von derGesellschast bey ihm zu bcwürken stehe? — daß durch alle noch so harten Strafmittel, die blos der That
wegen über ihn verhängt werden,
diese That
selbst doch nie ungeschehen gemacht werden kön
ne? — daß, wenn statt dieser rächenden Straf
mittel, die gemeiniglich zu weiter nichts dienen, als die Summe des Elends auf Erden zu
vermehren; der Uebelthater vielmehr durch gut gewählte BesteruNgs- Mittel auf seiner Bahn der Vervollkommung Vorwerts geholfen
wäre; die Gesellschaft durch den Gewinn eines
gebesserten Bürgers an ihn, sich selbst den größ ten Vortheil gestiftet hätte? — wird, sage ich,
wol auf alle duft Wahrheiten, die ich noch durch hundert Fragen vermehren könnte; bey
den öffentlichen obrigkeitlichen Bestrafungen
die
46
Vorrede.
die mindeste Rücksicht genommen!
Davon
weiß weder die Erfahrung, noch irgend em
gangbares
Gesezbuch
etwas
nachzuweisen.
Man hat blos die That vor Augen, und straft um der geschehenen That willen; ohne sich darum zu bekümmern, was dadurch
sowol bey dem, der die Strafe leidet, als
auch bey Andern, wahrhaftig gebessert werde, oder nicht?—
Ich darf, um mei
ne Behauptung zu rechtfertigen, meine Leser nur auf das Gesezbuch eines der neueste»! Cri-
minalisten verweisen; der noch dazu unter die Gelindesten derselben gerechnet wird.
der bekannte Herr Quistorp.
Es ist
Man darf sein
Gesezbuch nur anfsthlagen; und man wird sich vor Schwerd und Beil, vor Verurteilung
zum Festungs-Bau und andern ungewöhnlich
schweren Arbeiten, vor Zucht-und Spinnhaus, vor Landes-Verweisung, vor öffentlicher Be
strafung mit Ruthen, vor Stellung ins Hals eisen, vor Gefängniß bey Wasser und Brod, vor schweren Geldbußen, vor beständiges Tra
gen einer eisernen Krone mit einer Glocke, oder
einer Schandkette, oder einer Blechtafel, auf der
Vorrede.
47
der Brust, worauf das Verbrechen mit Oehlfarbe
verzeichnet
vor
steht;
Erscheinung
in einem Abscheu erweckenden Anzuge; vor mo nathliches Peitschen
mit Ruthen durch die
Hauptstraßen der Stadt;
vor ungewöhnlich
harten Empfang-und Entlassungs-Schillin
gen tu s. w. ich sage, man wird sich vor allen
Mißhandlungen nicht zu retten wissen;
mit
welchen dieienigen, die auf dem Wege ihrer Vervollkommung, den sie gehen mußten, aus
besondern
auffallenden
Unvollkommenheiten
herauskommen; oder, um die gemeine Spra
che zu reden, die sich gewisser Verbrechen schul
dig gemacht hatten ; nach Stand und Würden
regalirt werden sollen.
Ist bey allen ienm
Strafmitteln wol die allermindeste Rück
sicht auf die zu erzielende Besserung des Uebelthäters genonunen worden? Wahr haftig so wenig; daß vielmehr alles darauf an gelegt ist,
diese Besserung,
ich will nicht sa
gen, zu erschweren; sondern ganz unmöglich zu
machen.
Der Mensch, der in einer Abscheu
erweckenden Kleidung, mit einem Schandblech auf der Brust,
einer Schandkette (vieleicht über
48
Vorrede,
über die Achseln) einer eisernen Krone mit ei
ner Glocke auf dem Kopfe, durch alle Haupt
straßen der Stadt gepeitscht wird! wie soll mir
dieser Mensch noch den kleinsten Gran von Muth und Entschlossenheit übrig behalten,
es
künftig zu versuchen: ob er durch sein besseres Verhalten die Achtung und das Vertrauen sei ner Nebenbürger wieder gewinnen möge? Ist
dadurch nicht dem Entstehen eines ieden solchen guten Gedankens, und der schwächsten Hoff
nung, daß ihm ein solcher Versuch gelingen werde und könne; aller Eingang in seine See le versperrt? mithin aller seiner möglichen Bes
serung mit einemmahle Thür und Thor verna, gelt und verschlossen?
Jedoch, Herr Oui-
storp will zugleich, daß, wenn die Straft vorüber ist, die andern Leute bey VermeidungschwererStxaft nicht davon sprechen, oder dem Gestraften einen Vorwmf ma chen sollen! — Welche unnatürliche Forde rung! Ob Herr Ouistorp auch bedenkt; war
um er den Unglücklichen durch die Straßen ge peitscht hatte? ob er wol bedenken mag, wel ches die größte Zahl von Menschen seyn wer
de,
Vorrede.
49
de , die ein solcher scandalöser Aufzug durch die Hauptstraßen herbeylocken wird? was von der
Erziehung, die diese Classe von Menschen ge nossen hat, und von ihrer Lebensart vernünf
tigerweise nur erwartet werden könne und müs
se?
Sollte er dis bedacht haben;
man fast glauben,
so müßte
daß die ausdrückliche Ab
sicht ienes Verbots keine andere wäre; als nur
Gelegenheit zu verschaffen, daß die Zahl der Verbrecher vermehrt werden möchte;
damit
es der Straflust nicht an Gegenständen fehle, woran sie sich immer beschäftigen und abkühlen
könne.
Und wenn die Leute nichts davon
sprechen sollen; ist ihnen damit auch das den ken daran verboten? Oder faßt das nicht
sprechen von einer Sache, auch das ver
gessen haben der Sache in sich? Oder, ist dem Gemißhandelten etwa auch zugleich der
Glaubens-Artickel mit eingepeitscht worden:
daß, wenn er keinen von seiner erlittenen
Beschimpfung sprechen hört; es ein Zei
chen sey, daß das Andenken daran auch aus ihrem Gedächtnisse verschwunden sey? und er also fernerhin mit aller Freymüthigkeit Wttckilchtt IV. Tb-
D
unter
Vorred e.
5o
unter ihren Augen als ein achtungswerther und unbescholtener Bürger leben und handeln kön
ne?
Noch mehr: Bey gewissen Verbrechet:
soll der Nebelthäter wiederholentlich monath
lich öffentlich gepeitscht werden! Aber, WMN
sich nun der Mensch schon in dem ersten Monathe gebessert und die unverdächtigsten Zeichen der Reue geäußert hatte, die alle Hoff nung gaben, daß sein begangenes Verbrechen
ihm ein solcher Stoß auf dem Wege seiner Bes
serung seyn werde; daß er nun als ein desto besseres Mitglied der Gesellschaft, ihr den an
gerichteten Schaden durch sein folgendes Ver
und doch
halten überflüßig ersetzen werde?
soll er noch immerfort monathlich öf
fentlich gepeitscht werden? —
Freylich
wird durch
die Reue die That selbst nicht
ungeschehen
gemacht!
Aber
wird
sie
es
denn durch die Peitsche? Und was von War
nung für Andere dabey vorgegeben wird;
ist
doch eine abominable Ungerechtigkeit, mit der
man den Menschen, für die künftigen Verbre-
chen Anderer, büßend macht. —
Ferner, der
Mensch soll bey seiner Entlassung aus dem Ge fangn
Vorrede.
51
fängnisse noch eine Tracht Prügel, oder einen
Entlassungs-Schilling mit auf den Weg be kommen! Ich frage dabey: war der Mensch durch die zeitherige Strafen gebessert worden;
oder nicht? Im ersten Falle muß ein Jeder, der nur einen halben Begrif von Gerechtigkeit
hat, es mit Händen greifen; daß es Ungerech tigkeit und Grausamkeit sey, einen guten Men schen umsonst und um nichts, ner vernünftigen Absicht,
d. i. zu gar kei sondern höchstens
um sein Elend zu vermehren, und einer rach
süchtigen Straflust ein Opfer zu bringen; mit
Schlägen zu mißhandeln! War der Mensch
aber noch nicht gebessert; so frage ich: war um war er denn ins Gefängniß gesteckt
und mit Strafen heimgesucht worden; wenn durch alle diese Vorkehrungen am Ende doch nichts'mehreres und besseres heraus kam, als was vorher schon statt fand? Der Mensch
kam als ein Bösewicht ins Gefängniß;
und
wurde auch wieder als ein solcher daraus ent lassen! Wozu also die an ihm verübten Stra
fen? Was für einen geringsten Nutzen haben sie nun! gestiftet?, Was ist die Gesellschaft nun
D 2
an
52
Vorrede.
oit den Menschen gesicherter; als sie vorher war?
Freylich habe ich auch am Schluß des Anhangs von den Todesstrafen zugegeben; daß es wol
zuweilen der Fall werden könne , daß auch alsdenn, wenn der Staat die Gefängnisse in Schu len für erwachsene unartige Bürger verwandelt hatte; irgend einmal ein solcher zu früh, und
ehe seine Besserung noch die nöthige Reife ge wonnen,
daraus
entlassen werden könnte!
Aber ein solcher möglicher und wider Willen und Absicht sich zutragender Fall sieht doch ganz
anders aus, als wenn der Staat durch die feyerliche
Mittheilung
eines
Entlassungs
Schillings , die öffentliche Erklärung von sich
stellet: daß er überzeugt sey, der Uebeltha-
ter sey durch alle erlittenen Strafen im ge
ringsten noch nicht gebessert! man schicke ihn also der Gesellschaft, nach allen unnützen
Manoeuvres, die man mit ihm vorgenommen;
eben so wieder zu,
als man ihn vorher her
aus gegriffen hatte ! —
Und wenn gar der
Entlassungs-Schilling schon mit in dem Ur
theil enthalten war, welches ihn zu dem Ge
fängniß verdammte! -* war das nicht die feyerlich-
Vorrede, erlichste Erklärung schon zum voraus:
daß
man bey allen Strafen, mit welchen man
ihn ängstigen wolle, bey weitem auch nicht einmal die Absicht habe; ihn dadurch bes
sern zu wollen? — Was soll man denn von einer Strafgerechtigkeit denken, die auf solche
Grundsätze gebauet ist? O, möchte man hier ausrufen, ihr heiligen Gefttze der Natur,
nach welchen auch die Menschheit gebildet
ist! gebt doch nie zu,
daß Quistorpische
Grundsätze, und ein Quistorpsches Gesetz buch in der Welt geltend werden! Und wenn
es schon Viele gibt, denen sie zum Stecken pferde dienen; so laßt doch einen Strahl des Lichts in ihre Schädel fallen,
der ihnen die
Wahrheiten sichtbar mache: haß keine unna
türlichen Gesetze; Indern nur solche, die
der menschlichen Natur angemessen und
von ihr abstrahirt sind, das Glück der Ge
sellschaft erhöhen! daß die Gesetze um der Menschen willen; nicht aber die Menschen
um der Gesetze willen, da sind! daß folg
lich, wenn die Forderungen einer angeblK chen Strafgerechtigkeit mit der wahren
D 3
Wohl-
54
Vorrede.
Wohlfarth eines Menschen im Wider
sprüche stehen: nicht von dieser; sondern
von jenen die Ausnahme gemacht wer den müsse! daß eine Gerechtigkeit, die ih re Trophäen auf die Ruinen der Mensch
heit pflanzen wolle; ein wahrer Fluch für die Welt sey! daß also der bekannte Lo
sungs-Satz: Vivat iustitia; pereat munden lebhaftesten Abscheu aller ver nünftigen Menschenfreunde verdiene! dus!
Zweyte Anmerkung.
Soll ich nun kurz
das Resultat angeben, welches aus der gan
zen obigelt Anmerkung und denen Betrachtungen, die sie enthalt; welches ferner aus mei ner ganzen vorgetragenen Sittenlehre; und in
sonderheit auch aus dem Anhänge von den To desstrafen und den ihm beygefügten SchlußBetrachtungen: welches endlich aus dem gan
zen System von der Nothwendigkeit, mit der em Mensth handelt;
mir in Ansehung der
öffentlichen oder obrigkeitlichen Strafge
rechtigkeit unwidersprechlich
zu
folgen
scheint? so ist es dieses: Alle willkürliche Stra-
Vorrede.
4Z
Strafen müssen wegfallen; und an ihrer Statt blos die Besserungs-Mittel aufge
sucht und angewandt werden, die in den jedesmaligen Fallen begangener Verbre
chen, sich als die natürlichsten und besten ausmitteln lassen; um den Uebelthater zu
bessern Erkenntnissen und Gesinnungen,
und einer würdigern Handlungsart zu leiten.
Es ist wahr: ich habe in dem ersten
Theile dieses Werks Pag. 150. die willkürliche Strafen, die der Gesezgeber noch zu den natür
lichen Folgen einer Uebelthat HLnzufügen könn te; einigermaßen und unter der Bedingung ste
hen gelassen: wenn sie nur so gewählt und
angewandt würden, daß sie den Verbre cher auf dem Wege seiner Ausbildung Vor
werts hülfen! Allein die folgenden Ueberlegungen der Sache haben mich zu der Ueberzeu
gung geführt: daß alle willkührliche Stra
fen durchaus verwerflich sind.
Ich begreife
es auch wol, daß bey der Verschiedenheit der Einsichten und Denkungsart, die sich auch un
ter den.Gesezgebern und Richtern befindet; iene allgemeine Bedingung immer noch zu weitlauf-
D 4
tig
z6
Vorrede.
tig seyn, und einem Jeden derselben ein zu of fenes Feld lassen würde, um bald diese, bald
Lene wiiikührliche Strafe für ein geschicktes Bes serungs-Mittel des Uebelthäters zu halten;
so
ungeschickt es auch in der That dazu seyn möch te: daß folglich durch iene bedingliche Einschrän
kung, dem blinden Willkühr ihres Gutachtens, so gut als gar keine Schranken gesezt sind: und
daß, ha die Natur uns unmöglich in den wich tigsten Behandelungen unserer Nebenmenschen
so frey und zügellos gelassen haben könne; daß sie nicht für einen sichern Faden gesorgt haben
sollte,
an welchen sich unsere Vernunft in ih
ren kaltblütigen Ueberlegungen von dieser Sei
te halten könne und solle! man diesen aufsu
chen, ihn zur Richtschnur nehmen, und denn
allen Willkühr schlechterdings aus denGe-
sezbüchem über Verbrechen und Strafen, verbannen müsse.
Die nähern Gründe mei
ner Behauptung sind folgende:
i) Die Natur selbst straft nie willkühr-
lich; sondern sucht lediglich durch die natürKchen Folgen, die sie ieder That augehengt
hat,
57
Vorrede.
hak, den Menschen zu bessern»
Und es ist
unstreitig: daß/ ie mehr wir die Natur zu wserm Lehrmeister nehmen; ie genauer wir ihren
Anweisungen folgen, und uns nach ihren Ge setzen, Regeln, und Verhaltungsarten richtens ie mehr wir uns ihr nähern; und ie mehr UM
fer Weg, den wir gehen, derjenige wird« den sie selbst geht: desto richtiger und sicherer
ist die Straße, die wir zu unserm Glücke wan deln.
Alle Abwege von der wahren Bahn der
Natur, sind Irwege, die ins Verderben leiten,
2) Der Besserungs-Mittel, die die Na
tur für einen Uebelthäter anweiset, sind über all und bey allen Verbrechen, eine so hinläng liche Menge und Zahl vorhanden; daß es gar
keiner willkürlichen Strafmittel bedarf! Dis ist unwidersprechsich gewiß und bis zur vollen Ueberzeugung deutlich zu erweisen.
Und der
ganze Fehler, daß es nicht besser eingesehen wird, rührt meines Erachtens daher:
Man nennt
gemeiniglich alle Strafen, die ein Gefez-
huch über Verbrechen dictirk/ Positive
Strafen.
Run sehe man diese angegebenes
D 5
so
58
Vorrede.
so genannten Positiven Strafen an;
so wird
man finden: daß sie ein Gemengscl von natür
lichen Folgen der That, und von willkührlichen Strafen zugleich, sind; nur mit dem Unterschiede, daß oft von der einen; der alldem Art die Dosis starker ist.
oft von
Eben
deßwegen habe ich auch die Benennung von
Positiven Strafen gänzlich vermieden; weil sie zu weitschweifig ist,
Inhalt hat.
und einen chaotischen
Wollte man also eine vorhande
ne unnatürliche Crkmmal-Ordnung verbessern; so gehörte meines Erachtens nichts weiter da
zu, als: a) Daß man manche angebliche Ver
brechen, die keine würklichen Verbrechen
sind, sondern die der Aberglaube und die Un wissenheit nur dazu gestempelt haben; ganz
aus dem Register der Verbrechen weg streiche.
Z. E. Gotteslästerung, Selbstmord,
Zauberey u. d.
b) Daß die, auf die würklichen der Gesell
schaft schädlichen Verbrechen gesezte Strafen, der Musterung dahin unterworfen werden;
daß man die blos wittkührlichen Strafen,
von
Vorrede.
59
von den natürlichen Folgen der Verbre chen scheide: die leztern allein bevbehalte; und ihnen diejenigen ihrer Art, welche das Geftzbuch etwa anzuführen vergessen ha-
ben mag, noch beyfüge.
Es versteht sich
von selbst, daß hier nur von solchen natürlichen Folgen, die auf den Verbrecher zurückgeleitet
werden sollen, die Rede seyn kann; deren Zu-
rückleitung von Andern weg, und auf den Verbrecher hin, möglich ist! Wo dis der Natur der Sache nach unmöglich ist, z. E. bey
eurer geschehenen Mordthat; da kann derglei
chen Forderung auch nicht statt finden.
Eben
so muß in der Anwendung des Gesetzes, oder
der wirklichen Hinleitung der natürlichen Fol
gen auf den Verbrecher, dahin gesehen werden;
daß dadurch das fernere Bestehen desVer-
brechers, als Bürger überhaupt, nicht
unmöglich gemacht werde! wie hierüber das nöthige in den Schlußbetrachtungen beyge bracht ist, die ich dem Anhänge von den To desstrafen beygefügt habe; und wohin ich also den Leser verweise, um hier die Wiederholung dessen, was dort gesagt ist, zu spahren.
Marr
6s
Vorrede. Man wird aber auch bey genauerer Beur-
Heilung finden, daß unter die Positiven Stra fen eines Gesezbuches viele enthalten sind, die
nur den Schein von willkührlicheu Stra
fen haben; im Grunde absr wahre natürli che Folgen des Verbrechens sind, und als solche geltend bleiben müssen: daß man folglich der
wahrhaftig blos willkührtichen Strafen um so viel mehr entbehren könne; weil der natür lichen gar Sem Mangel ist.
So sind z. E.
Schadens, Ersetzungen; die Leistung einer öf fentlichen Ehrenerklärung über grobe, Andern zugefügre Beschimpfungen und Verleumdun
gen; die Entsetzung vom Dienst, wo ein Mensih
durch feine Verbrechen die Gestllfthaft belehrt hat, daß es ihm durchaus an den zmtt Dienste
nothwendigen Eigenschaften fehle; u. s. w. ganz offenbar natürliche Folgen solcher Verbrechen,
c) Daß man, um die rechte Verhaltungs
art gegen einen Verbrecher wählen zu können; die wahre natürliche Absicht zu Rathe neh-
me; warum?
und mit welcher derselbe,
als Bürger in der Gesellschaft lebe? Diese
Ab-
61
Vorrede.
Absicht ist keine andere, als: durch die Ge
sellschaft glücklicher und vollkomner zu wer den; als er es für sich selbst in der Einöde
bewerkstelligen könnte!
Da also, wo der
Bürger ein Verbrechen begeht; macht er der Gesellschaft gleichsam eine öffentliche Erklärung über seine Beschaffenheit, und über den Gray Don Vollkommenheit und Unvollkommenheit,
in welchem er sich befinde! Er erinnert sie gleich sam dadurch, ihrer Vertragspflicht gegen ihn eingedenk zu seyn;
und fordert sie auf, sich
durch die Beurtheilung seines Standorts,
die
er ihr nun durch seine verübte That so leicht ge
macht habe; zu den Maaßregeln leiten zu las sen, die erforderlich sind, wenn er durch ihre Hülfe wahrhaftig ein besierer, vollkomnerer und glücklicherer Mensch werden solle, als er
es außer der Gesellschaft werden könne.
Ein
jeder öffentlicher Verbrecher redet durch sein
Verbrechen die Gesellschaft gleichsam folgen dermaßen feyerlich an: „Ihr wißt es, meine „ lieben Mitbürger! daß ich mit -er Absicht un-
„ter euch lebe, und -arum meine Kräfte zur „Beförderung euerer Wohlfarth zu Hülfe ge-
„ be;
62
Vorrede.
,,be; damit ihr mich auch in der Vollkommen„ heit und in meinem wahren Glücke forthelfen
„ sollet, wenn ihr mich unvollkommen mit) man gelhaft findet! Nun seht her auf meine verüb„te That! Sie wird euch lehren, wie weit ich „noch auf dem Wege meiner Ausbildung zu ei»
„nem guten Menschen und würdigen Bürger
„zurück bin? Ihr werdet daraus verstehen ler-
„nen können; an welchen gesellschaftlichen Ei„genschaften es mir noch fehle? Hier ist der
„Fall meiner Unmündigkeit; wo ihr mei-
„ne Vormünder seyn müßt! Nehmt euch „also Meiner an; und führt mich menschen„freundlich, und euerer Gesellschafts-Pflicht
„gemäß, auf dem besten Wege, den nicht ich,
„ in meiner Unmündigkeit; sondern ihr, nach
„euern reifern Einsichten anzugeben wissen wer„ der; zu derjenigen Vollkommenheit und wür-
„digen Besthaffenheit, die mir noch mangelt. „Habt ihr dis gethan: so will ich euch hernach „durch meine desto besseren und ersprießlicheren
„Dienste, zu welchen ihr mich tüchtig und ge„ schickt gemacht habt; hinreichend dankbar da-
„für werden."
Dis
Vorred e.
65
Dis natürliche und gerechte Verlangen, welches ein ieder Verbrecher, vermöge seiner Vertrags - Verbindung mit der Gesellschaft;
oder der Absicht, warum er in der Gesellschaft lebt, zufolge;
an die Gesellschaft macht: ent
halt eben den Grund,, warum ich am Schluß des Anhangs von den Todesstrafen behauptet habe,
daß es eine unerläßliche Schuldigkeit
die Gefängnisse in Schu len für Erwachsene zu verwandeln; oder
des Staats sey:
ihllen die Einrichtung zu geben,
daß sie nicht
ferner, wie bisher geschehen, unnütze und elend machende Strafen und Strafmittel, nicht Ker
ker bleiben mögen; worinn ungesittete Bürger
vollends verwahrloset, der Besserungs- Mög lichkeit vollends entrissen,
mW einer wilden
unvernünftigen Rachbegierde,
Nnmenschlich-
keit und Grausamkeit aufgeopfert werden: son
daß sie wohlthätige, bildende und bes sernde Schulen und Anstalten für dieienigen seyn und werden mögen, die es durch ihr tadelhaftes und schädliches Verhalten bewiesen haben, daß sie einer besondern gesellschaftlichen Hülfe und Beystandes zu ihrer dern
64
Vorred e.
ihrer Ausbildung und Vervollkommung bedürfen! Schulen;
in welchen die darinn
aufgenommenm Bürger sich sonst über nichts
zu beklagen llrsach haben müßten,
als höch-
stens über den Verlust der Freyheit; so
lange ihr Bedürfniß ihren Aufenthalt in solcher Anstalt nöthig machte! — Ich gebe es gerne
zu, daß eine solche Gefängniß-Schule keine
eigentliche natürliche Folge irgend eines Verbrechens sey! Aber ich leite ihre Noth
wendigkeit aus der natürlichen Absicht her, mit der der Mensch in der Gesellschaft lebt;
aus der allgemeinen, unbestimmten und unum
schränkten Erwartung,
die er hat: daß die
Gesellschaft da sein Glück und seine Vollkom
menheit durch die besten Mittel, die sie dazu dienlich hält, befördern werde; wo er sich die se Dinge selbst nicht zu verschaffen vermöge. — Wenn man das Wort, Strafe, beybehalten will;
so kann man die natürlichen Folgen
eines Verbrechens, die nicht eigentlich als
Verfügungen anzusehen sind, welche der Ge-
sezgeber; sondern welche die Natur selbst ge troffen und verordnet hat, und die das mensch liche
65
Vorrede.
liche Gesez nur auf den Thäter hinleiten soll;
ich sage, man kann alsdenn diese natürlichen
Folgen mit dem eigentlichen Nahmen der Bes-
serungs-Strafen bezeichnen: hingegen die Aufnahme ins Gefängniß; die Ertheilung ei
nes guten Unterrichts; die vernünftige Anhal
tung zur Ordnung und mäßigen Arbeit in dem selben, als die eigentlichen Besserungs-Mit
tel ansehen, die die wohlthätige Gesellschaft jenen Besserungs-Strafen der Natur hinzufügt, um ihrer Vormundschafts-und Va ter - Pflicht gemäß, den unvollkomnern Bürger
zu einem vollkomnern zu erziehen.
So würde
alsdenn der Staat in der Anwendung seiner
Besserungs-Mittel; Besserung straft;
mit der Natur, die zur
auf ein gemeinschaftliches
Ziel, nemlich der Bervollkommung und Besserung des Uebelthäters hinzvürken! Ja diese
Eintracht könnte in vielen einzelnen Fällen bey den Behandlungs-Arten der Bürger im Ge fängnisse noch genauer wahrgenommen und er halten werden.
Gesezt z. E. es wäre Einer
sehr zänkisch, und könnte mit keinem seiner Brü
der im Gefängnisse verttäglich leben!
StttknlehrelV.TH.
E
Soll
ihm
66
Vorrede,
ihm die Friedfertigkeit eingeprügelt werden? Das erlauben Vernunft,
Gerechtigkeit und
Menschenliebe nicht! Aber man lasse ihm die natürliche Folge feiner Zanksucht fühlen.
Man
entfernte ihn von seinen Mitbürgern; und lasse ihn, so viel mit Gerechtigkeit geschehen kann,
sowol in seiner Wohnung, als bey seinen Ar
beite»/ das Leere und Unbefriedigende der Ein
samkeit empfinden.—
Oder/ ein Anderer ist
bey seinen gesunden Kräften, die er hat, faul! so ist es ein natürliches Gesez: Wer nicht ar
beitet;
soll auch nicht essen! Er kann keinen
Beweist davon führen, daß er ein Recht habe, seine Kräfte im Müßiggänge zu verschleudern;
und daß es eine Schuldigkeit-e^
Gesellschaft
sey, ihn als Müßiggänger ernähren zu müßen! So, sage ich, kann man in den einzelnen Be-
handlungs- Arten der Gefangenen, immer auf
der Bahn der Natur bleiben: und alle Vor
sicht muß nur darauf gerichtet stehen;
daß
schlechterdings nichts von Ungerechtigkeit, litte Menschlichkeit und Grausamkeit mit unterlaufe;
sondern daß man dessm eingedenk bleibe, daß
der
Menfih, der
zu
einem bessert: Menschen,
als
Vorrede.
67
als er zeither war, erzogen werden soll; nicht durch Ungemach, Plagen und Ungerechtigkeit ten, die man ihn leiden läßt, noch mehr ver schlimmert und verwildert werden müsse!
Ich würde also, wenn ich Gesezgeber wä re, es einem ieden Richter bey der Untersu chung eines Angeklagten Verbrechens zur Schuldigkeit machen, daß er nach hinlanglü cher Ausmittelung der Thatsache sowol, als des Thäters, sein Auge auf alle natürliche Folgen des Verbrechens richten sollte , die andern unschuldigen Bürgern zur Last fal
len wollten:' daß er diese, so weit es die
Natur der Sache und das höchst bedürfti ge Bestehen des Thäters erlauben wollten,
gerade von Jenen weg, und auf den Thä ter hinleiken müßte; wofern nicht die be leidigten Theile sich freywillig zur eigenen DuldungundUebertragungdesSchadens,
anstatt des Thäters, entschlößen.
Glaub
te etwa der Beklagte, daß ihm zu viel gesche hen sey: gut! so Mag er seine Klage einem höhern Richterstuhle vorlegen. Ware aber vaS
E a
began-
Vorrede.
68
begangene Verbrechen von so grober Art, daß es die Gesellschaft in gerechte Furcht wider den Verbrecher sezte;
oder hätte dieser durch
mehrere Verbrechen es schon erwieset:, daß es
ihm durchaus an den nöthigen gesellschaftlichen Eigenschaften fehle: so müßte es der Richter zur Pflicht haben, hievon zugleich, mit Ein
reichung des ausgemittelten Verzeichnisses der nächsten natürlichen Folgen des Verbrechens,
dem höhern Richterstuhle Anzeige zu thun; da mit dieser es beurtheilen möge,
ob sich der
Verbrecher zu einem Candidaten der Gefäng
niß-Schule qualificire? —
Man könnte zu
diesem Behufe den Richtern ein allgemeines
Verzeichniß der Verbrechen überhaupt,
die
man für solche Verbrechen grober Art erklärte,
und worüber sie Anzeige thun müßten, in die Hände geben. Durch
diesen
Vorschlag,
deucht mich,
würde mit einemmale der groben Unvollkom menheit abgeholfen seyn,
die die unschickliche
allgemeinen Gesetzes, auf specielle Vorfälle allemal mit sich führen muß. Ein allgemeines Gesez, wornach Anwendung eines
gewisse
Vorrede.
69
gewisse Verbrechen gerade hin abgeurtheilet
werden sollen;
ist nie ein Product sattsamer
Ueberlegungen; und wird in der Anwendung selbst, schlechterdings in jeglichem Falle ohne
alle Ausnahme, bald von dieser, bald von iener, bald von vielen Seiten zugleich,
unge
recht! So bald das eine unbestreitliche Wahr heit ist, daß nicht die Menschen um der
Gesetze wissen; fondem die Gesetze um der Menschen willen da sind: so ist die tyranni sche Ungerechtigkeit handgreiflich,
wenn man
bey der unendlich stattfindenden Verschieden heit der Menschen, diese doch alle in eine ein
zige allgemeine Form des Gesetzes hinein zwingen will! Es ist das eine eben so preißwürdige Weisheit, als wenn allen Schustern
im Lande schlechterdings nur ein einziger Leisten
anbefohlen würde, auf den sie alle und iegliche
Schuhe machell müßten. So müßten denn das Kind und der Erwachsene, die Manns-und
die Weibs- Person und überhaupt alle Men
schen bey aller Verschiedenheit ihrer Füße , die se doch in einerley Schuhe stecken! und so blie
be ihnen,
wenn der Eine über unerträglich E 3
schmerz-
70
Vorrede,
schmerzhafte Preßungen klagte, und der An dere sich allenfalls den Hals darüber bräche; kein anderer Trost dabey übrig, als: daß ein
weises Gesetz es so haben wolle! Die berüchtigte Frage, ob dem Richter
die Auslegung des Gesetzes verstattet wer den dürfe? ob es ihm da, wo er den Buch
staben des Gesetzes mit der vorliegenden That sache, die er nach ienem aburtheilen soll, zu heterogen findet; zu erlauben sey: in die See
le und die Absichten des Gesetzes zu drin gen, und den Sinn desselben zu Rathe zu ziehen? — oder, ob es seine unerläßliche Schuldigkeit sey: sich an den bloßen Buch staben des Gesetzes zu halten? und bey der Untersuchung eines ieglichen Verbrechens einen förmlichen Vernunftschluß zu machen; in desftn Vordersitze das allgemeine Gesez; im Hintersatze die dem Gesetze gemäße oder zuwider laufende Handlung; im Schlüße die Losspre chung oder Anerkennung der gesezmäßigen Stra fe enthalten sey? ich sage, diese berüchtigte,, und , wenn man auf die gegenseitigen Gründe sieht,
Vorrede.
71
sicht, bis auf den heutigen Tag uneutschiedene Frage löset sich sofort als unnüz auf; wenn man meinem Vorschläge Gehör geben will. — Vorläufig will ich nur sagen, daß diese Frage, für welche die Vernunft, so viel auch! darüber gestritten ist, doch keine gerade zu entscheiden de Antwort hat finden können, weil die Grün de von beyden Seiten viel Gewicht zu haben scheinen; daß, sage ich, diese Frage, und der Umstand, daß sie bis diese Stunde noch pro blematisch geblieben ist, ohngeachtet sie die Grundlage der gesezgebenden und richterlichen Seite der Staatsverfassung betrifft und an geht; daß dis, sage ich, uns abermals ein überzeugender und handgreiflicher Beweiß ist: welche kümmerliche und mitleidenswürdige Bewandniß es mit den Gesetzen selbst haben müs se? — auf welche ganz ungewiße und schwan kende Principia diese beruhen müssen? — wie diese Gesetze, die das Licht und die Leuchte der Füße derer seyn sollen, die in der Gesellfthaft wandeln und handeln; dennoch bey allem ih ren Daseyn, wegen ihrer eigenen höchst unvollkomnen Beschaffenheit, einen Iedelt imE 4 merhin
72
Vorrede.
merhin eben so gut im Finstern tappen lassen; als wenn sie gar nicht da wären? — Aber,
wie gesagt,
der ganze Grund dieses Uebels
liegt darinn, daß ein blinder Willkühr die
Gesetze macht! ein Willkühr, der sich von
der Straße, auf welcher die Natur wandelt, entfernt! der, ohngeachtet die handelnden Men
schen mit allen ihren Kräften zur Natur ge
hören;
dennoch bey Abfassung seiner Gesetze
für sie, auf diese Natur keine Rücksicht nimt! von ihr sich nicht belehren und leiten läßt! und
daher solche Vorschrifften und allgemeine Ge
setze ans Tageslicht gebierst, die ihre Anwen dung vielleicht wol im Reiche der Phantasie;
aber gewiß nicht im Reiche der Natur finden können!
Woher käme sonst die immer noch
fortdauernde Frage: ob nach dem Buchsta
ben des einmal vorhandenen Gesetzes ge richtet werden solle? oder, ob dis Gesez durch gehörige Auslegung erst in ein an deres Gesez verwandelt werden müsse; ehe
es eine vernünftige und passende Rich-
fchnur zur Beurtheilung der vorliegenden Sache werden könne? — Doch dis bey Seite
Vorrede.
?Z
Seite gesejt; so habe ich gesagt: Jene Fra
ge liege bis iezt vor dem Richterstuhle der Vernunft und Wahrheit, noch unent schieden; weil sich von beyden Seiten wichti ge Gründe angeben ließen:
Sie sey aber,
wenn man meinem obigen Vorschläge, in Beurtheilung und gerichtlicher Behand lung der Verbrechen und Verbrecher, Ge hör gebe; völlig unnüz. Und die Recht fertigung meiner Behauptung führe ich folgen
dermaßen. Soll der Richter die Freyheit haben, ein
vorliegendes Gesetz nach seinem Gefallen dre hen und auslegen; oder wol gar in gewissen
einzelnen Untersuchungen und Erkennmissen, um dasselbe ganz herum schiffen zu dürfen: so
ist er freylich so güt als ganz zügellos; und so dürften dem Anschein nach seine eigennützigen
Leidenschaften ein freyes Spiel haben, tausend
Ungerechtigkeiten begehen zu können; der Feh
ler zu geschweige»,
die aus seiner Ungeschick
lichkeit herrühren möchten!— Aber
wenn
auf der andern Seite (man erlaube mir diesen
Gleichniß-Ausdruck.
Er ist wahrhaftig so E 5
unedel
Vorrede.
74
unedel nicht, als er dem Stolze und einem
mehr verdorbenen als verfeinerten Geschmack vielleicht scheinen mag,)
der Richter, wie
em Kutschpferd, durchaus in dem Geleise blei
ben soll, das ihm der Buchstabe des Gesetzes zeichnet!
Was wird
hier
herauskommen?
Was für Gesetze hat er vor sich? Lauter all
gemeine! deren Anwendung auf die speci ellen Vorfälle überall, obschon Hier in ei nem kleinern, dort in einem größern Maas-
ft Ungerechtigkeit wird.
Ja, sagt man:
wo der Richter den Vorfall mit dem Gesetze nicht passend findet; wo, nach seiner Ueberzeu
gung, die Anwendung des leztern eine Unge rechtigkeit mit sich fuhren würde: da kann und
soll er dem Gesezgebenden Theile Anzeige dar
über thun und Verhaltungs-Befthle darüber fordern! Ich antworte: Kein einziges all-
gemeinesGesezpaßt ganz auf irgend einen
speciellen Vorfall, der darnach gerichtet werden soll! Folglich müßte der Richter bey allen und ieden Vorfällen, höher» Orts hin berichten,
und um Entscheidung ansuchen.
Mithin wären alle vorhandenen Gesetze ihm keine
Vorrede.
75
keine Richtschnur! Ihr ganzes Daseyn wäre also größtentheils unnüz. —
Und nun wol«
len wir einmal ein unpartheyisches Auge dar« auf richten, auf welcher Seite wol die meisten
Ungerechtigkeiten fallen möchten?
entweder,
wenn der Richter die Auslegungs-Freyheit der Gesetze hätte? oder, wenn er nach dem Buch staben des Gesetzes richten muß? Man neh welche ungeschickte,
me alle Ungerechtigkeiten, eigennützige,
parthcyische,
und leidenschaftli
che Richter in einem Jahre im Staate begehen möchten, wenn ihnen die Auslegung der Ge
setze frey gelassen wäre,
und bringe sie sowol
ihrer Anzahl, als innern Größe nach, meine Summe.
Man nehme auf der andern Seite
alle die Ungerechtigkeiten, welche aus der blin
den Anwendung der vorhandenen allgemeinen
Gesetze auf alle speciellen Vorfälle in einem Jahre würklich entstehen und wodurch die Bür ger gedrückt werden, auch zusammen: und lege
sie in die andere Schaale der Wage.
Welche
Schaale wird die überwiegende seyn? Ich den
ke, die Leztere! Ich weiß es wol,
daß mau
diese Frage gemeiniglich für die allgemeinen
Gesetze,
?6
Dorre de.
Gesetze, und wider die Auslegungs- Freyheit
des Richters, höher« Orts her entscheidet, und sie als so entschieden annimt.
Aber ich behau
pte auch, daß dis eine blos willkührliche Vor aussetzung sey, Wahrheit,
die durch keine Gründe der
welche die Vernunft billigen muß?
te, gerechtfertiget und erwiesen werden kann!
Der gesezgebende Theil ist zugleich der obere
und höhere im Staate; und die Richter sind ihm untergeordnet,
und machen die kleinere
und schwächere Parthey aus! Kein Wunder
also, daß sich Jener das Recht zuspricht:
und daß dieser seine Hand auf den Mund le gen muß! Das Recht des Stärkern entschei
det auch hier; so wie überall in der Welt. Aber,
was die Wahrheit dazu sagen möchte? — das Dürfte eine andere Frage seyn! — Ohngeachtet ich nach meinen Grundsätzen sowol den
Willkühr des Gesezgebers, in Abfassung seiner
allgemeinen und auf falsche Grundsätze beru
henden Gesetze;
als auch den Willkühr des
Richters in Auslegung der Gesetze, verwerfe; und die ganze berüchtigte Frage, von der hier
die Rede ist, wie schon gesagt, für unnütz hal
te:
Vorrede.
77
te: so getraue ich mich doch, wenn doch nun
einmal die Rede davon seyn soll; es unwidersprechlich zu erweisen: daß die Summe der
Ungerechtigkeiten, welche die freygelasse
nen Richter in einem Jahre begehen wür
den, unendlich kleiner seyn würde; als die
Summe der Ungerechtigkeiten wahrhaf tig ist, die iezt, da nach dem Buchstaben des Gesetzes gerichtet werden muß; würklich in einem Iahre begangen werden! Und meine Gründe sind folgende:
«) Man ziehe die Zahl der vernünftigen, gerechten, und unpartheyisch denkenden Man
ner, die im Richteramte stehen;
von der gan
zen Zahl der Richter in einem Staate überhaupt,
ab.
Gesezt, daß auch die Hälfte Schlechtden
kender übrig blieben;
so würde doch von der
andern Hälfte der Gutdenkenden nichts ju be fürchten stehen!
So würden also doch nicht
alle Richter aus Dumheit, oder Eigennuz und
Leidenschaft bey einer größern ihnen bewilligten Freyheit, Ungerechtigkeiten begehen! — Wenn
hingegen nach dem Buchstaben des Gesetzes ge
richtet
78
Vorrede,
richtet werden muß; so ist es offenbar, daß
ein Jeder ohne Ausnahme, auch selbst der gerechteste und rechtschaffenste Mann, als Rich
ter, Ungerechtigkeiten begehen muß!
Ja ie
pünctlicher sein Gehorsam gegen das Gesez ist:
desto häufiger werden ihm die Gelegenheiten zu
Ungerechtigkeiten, die er begehen muß, auf stoßen ; und desto gröber und abscheulicher wer den auch oft diese Ungerechtigkeiten selbst aus fallen! In wie viel tausend Fällen würden
rechtschaffne Richter den vorliegenden Umstan
den der Sache gemäß, mehr mit Gerechtigkeit entscheiden: wenn sie mehrere Freyheit hätten!
wo sie iezt an den Buchstaben des Gesetzes gebunden, mit einer Ungerechtigkeit entscheiden muffen, von der sie selbst überzeugt find! Der Gesezgeber konnte freylich bey Abfassung seines
allgemeinen Gesetzes die Local- und andern be sondern Umstände des einzelnen Falls , der her
nach geschlichtet werden soll, noch nicht ins Auge habem
Aber darum hätte er auch kein
so weitschweifiges allgemeines Gesez schmieden
und zur einzigen Richtschnur hinstellen sollen, m dessen pünctlicher Befolgung alle künftig^
sich
Vorrede.
79
sich so ungleiche und von einander verschiedene
einzelne Vorfälle entschieden werden sollten!
ß) Man bedenke: Mas hält den unge
rechten Richter im Zaum? Etwa das schrift liche oder gedruckte Verboth des Gesezgebers, das ihm alle Ungerechtigkeiten überhaupt mr-
tersagt? und ihn,
wofern er sich dergleichen
schuldig machen würde; schwer zu strafen dro het?
Ist diese allgemeine Warnung bey ihm
der eigentliche Abhaltungs-Grund von Unge rechtigkeiten? Kann er es seyn? — Wahr haftig nicht!
Denn dis Verboth und diese
gedrohete Strafe können ihm so, wie sie aufs
Pappier gedruckt oder geschrieben da stehen, nichts thun und nichts schaden!. Und wenn
Galgen und Rad ihm noch zugleich dabey abgemahlet wären;
so würde er diese Mahlerey
mit sehr stoischen und unempfindlichen Augen ansehen: weil er weiß, daß er ihrentwegen, und insofern sie dort aufs Pappier stehen; ge mächlich und ruhig, so der Himmel will, hun dert Jahr alt werden und endlich im Frieden
zu seinen Vätern versammlet werden könne! — Aber
So
Vorrede.
Aber was hälr denn sonst den ungerechten Rich
ter im Zaum?
Antw. Der Bürger, dem
er Ungerechtigkeiten anthun will! Von diesem fürchtet er, daß er mit einer, ihm durch partheyifches Erkenntniß angethanen Ungerech tigkeit nicht zufrieden seyn, sondern feine Ma
ge weiter bringen, und dadurch Lenes Verboth
und die gedrohete Strafe zu seinem Unglück
wider ihn in Kraft setzen möchte! Hat er hier vor Sicherheit; glaubt er die weitere Klage
des gekränkten Bürgers nicht befürchten zu dür fen: so sind ihm alle noch so ernstlichen Ver
bothe der Ungerechtigkeit und die schwersten gedroheten Strafen kein Damm, der seine Lei-
denschaften in Schranken hielte!
Sie haben
eher kerne Kraft, um Abhaltungs-Gründe von
Ungerechtigkeit für ihn seyn zu können; sie sind
so lange für ihr; gänzlich todt: als der unter
drückte Bürger ihnen durch seine weitere Klage nicht das Leben geben will! — Nun rrehme man einmal an, daß dem Richter die
Auslegung des Gesetzes frey gelassen wäre!
wie viele Freyheiten hätte er dadurch mehr ge wonnen, Ungerechtigkeiten begehen zu können; als
Vorrede.
81
aß; er iezt hat, da er an den Buchstaben des Gesetzes gebunden ist? Wahrhaftig nicht um ein Haar mehr, als ihm der gekränkte Bürger,
wenn dieser das Recht der Appellation frey be halt; gestatten will! —
Noch mehr; wenn
in ienem Fall die Appellation an einen hdhern Richtcrstuhl, der auch nicht an den Buchsta ben des Gesetzes gefesselt wäre, geschahe: so
Würde auch hier die Beurtheilung der Streitsache freyer, und der Vernunft und
Wahrheit gemäßer geschehen können; und der erstere Richter hatte über eine begange
ne Ungerechtigkeit desto mehr zu fürchten. Mein wenn iezt die Appellation geschicht; wie
sieht es da aus? Der folgende Richterstuhl muß sich eben so gut an den Buchstaben des allgemeinen Gesetzes halten; als.der erste Rich
ter! Beging dieser nun eine Ungerechtigkeit; es sey, daß er sie in Befolgung des allgemei nen Gesetzes und um desselben unschicklicher
Beschaffenheit willen, begehen mußte; oder,
war sie seine eigene geflissentliche Ungerechtig keit! hatte er sie alsdenn nur unter den Schutz
und Schirm des allgemeinen Gesetzes zu stel.SMnltbtt iv. Th.
F
len
82
Vorrede.
len verstanden: so bestätiget der zweyte Rich
ter diese Ungerechtigkeit, und macht sie rechts kräftig;
sie mag so grob seyn wie sie wolle!
Denn warum?
Sie ist gesezmaßig!
Nun
müßte aber der erste Richter, wenn er Unge
rechtigkeit begehen wollte,
ein äußerst ver-
wahrloseter Kopf seyn; er. müßte gar zu viele sichtbare Vidßen mit oer größten Ungeschick
lichkeit gegeben haben, und ganz äußerst grob in seiner Verhandelung der Sache zu Werke
gegangen seyn: wenn der zweyte Richter den Ausspruch desselben, gar nicht unter ein all
gemeines Gest; begriffen finden könnte und müßte!
Je allgemeiner,
weitläuftiger und
viel umfassender eine Decke ist; desto mehr läßt sich darunter stellen und verbergm! Je größer und weitläuftiger ein Haus ist, desto mehrere
Familien können darinn wohnen, ohne daß sie
sich selbst seltnen, oder in der mindesten anderweitigen Verbindung mit einander stehen; desto
mehrere heterogene Dinge lassen sich in dasselbe stellen; desto besser laßt sich die Comrebande darum verbergm; desto schwerer ist die Visita tion anzustellen! So geht es auch mit der; all-
gemei-
gemeinen Gesetzen.
Hatte der erste Richter
seine Contrebande der Ungerechtigkeit nur nicht ganz unbesonnen auf der freyen Flur öffentlich zur Schau ausgelegt; fo, daß sie dem zwey
ten Richter gleich beym Eintrit ins Haus in die Augen fallen mußte; hatte Jener nur die kleine Vorsicht gebraucht«, sie irgend in einem Nebenzimmer in einen Winkel zu werfen: so
ist er sicher, daß der zweyte Richter über die Durchsuchung aller Winkel in diesem wcitlauf-
tigen Gebäude so ermüden, und sich zugleich
so darinn verirren werde; daß an keine Auffin dung der verbotenen Waare zu denke»: steht. —
Noch mehr: Je weitläuftiger ein solches Haus
ist; ie mehrere Zimmer es enthält: desto leich ter läßt sich auch für ein iedes Meuble, das sonst in einem oder zwey Zimmern den häß lichsten Contrast mit andern Meubles gemacht haben würde; ein für ihn schicklicher und gehö riger Ort wählen und finden, wo sei»» Daseyn
das Auge nicht beleidiget; sondern wo es wol gar ganz nothwendig hinzugehören scheint, der
gestalt, daß mar» es fehlerhaft finden würde,
wenn, es nicht da wäre.
Ich bi»» kein Jurist;
Vorrede.
84
habe aber nur von weitem den mristischen Cahalen etwas zugesehen und sogleich gemerkt:
die Allgemeinheit und die dar aus folgende Unbestimtheit der Gesetze,
daß gerade
dem unredlichen Juristen die bequemste Gele genheiten darbiethe; seine Ungerechtigkeiten ab setzen und unterbringen zu können.
Und ich
wollte auf der Stelle allen Verzicht darauf
thun, daß mein Kopf eines gesunden Gedan kens fähig wäre!
wofern ich,
wenn ich ein
Jurist wäre; und Ehrlichkeit bey Seite gesezt;
nicht, durch Hülfe der allgemeinelt Gesetze, aus schwarz, weiß, und aus weiß, machen:
schwarz
nicht an den Galgen bringen;
und
vom Galgen retten: nicht züchtigen; und los lasse»! können sollte: wie ma»t es von mir be gehrenwürde!
Will man sagen, daß dis »alles eher zutref
fen würde, wenn dem Richter die Auslegung
der Gesetze frey stünde: so bedenkt man wol nicht,
daß es eine platte Unmöglichkeit sey,
daß alle und iede Auslegung des Gesetzes, alle Ulid iede Aceommodation desselben auf einen
vorlie-
Vorrede. vorliegenden speciellen Fall,
K5
von dem Richter
vermieden werden könne! So bald ein Gesez
allgemein abgefaßt ist; und nun dem speciel len Vorfälle, als ein Hut aufgesezt werden soll: so muß entweder der Kopf nach dem allgemei
nen Hute; oder dieser nach ienem geformt, ge druckt,
gepreßt,
gezwungen werden, wenn
eins für das andere nur scheinbar passend werden soll.
Eins von beyden leidet also Gewalt;
und bleibt nicht mehr, was es war.
Denn
der Hut war ia nicht für den einzelnen Kopf;
sondern für taufend Köpfe zugleich zugefchnitten, die alle von einander verschieden sind! Dis ist doch ganz unleugbar! Nur: mag die Be
quemung des einen, nach dem andern, so ge künstelt seyn, als sie immer wolle; so komm
doch nie etwas natürlich passendes für beyde
Dinge heraus! Es ist immer Zwang, unna türlicher Zwang da,
der den empfindsamen
Theil, der dabey intereßirt ist, leidend macht. Mit andern Worten:
Aus ieder Anwen
dung eines allgemeinen Gesetzes auf einen speciellen Fall springt Ungerechtigkeit her
vor, die dem Bürger angethan wird. — F 3
Noch
Vorrede.
86
Noch mehr , da alle allgemeinen Gesetze, ihrer Natur nach und selbst um ihrer Allgemeinheit
willen, schwankend sind und seyn müssen: so wenn das eine Gesetz
Lars der Richter nur,
seinerLeibenschaft nicht ansteht; zu dem andern, wovon er sich mehr für seine ungerechten Ab
sichten-verspricht, seine Zuflucht nehmen, um
den vorliegenden Fall oemselben anzupassen! Denn accommoditt muß doch bey einem ieden
allgemeinen Gesetze werden; es sey, welches es wolle.
Und so kommt es also nur blos dar
auf bey ihm an, ob er die Kunst zu accommos
diren, gut versteht? um seinen ungerechtesten
Leidenschaften ein freyes, und noch dazu recht liches,
gesezmäßiges Spiel zu machen!
Hat
er denn nur irgend eitlen anbefohlnen allgemei nen Hut dem vorseyenden Kopfe einigermaßen scheinbar applicirt; so ist er vor dem zweyten
Richter schon sicher. anders,
tersuchen.
Denn dieser- hat nichts
als, ob ienes geschehen sey? zu un
Findet er das; so erklärt er den er
sten Richter für gerecht.
Der Hut selbst mag
sich für den Kopf schicken, und auf denselben
recht passen oder nicht! Das. ist alsdenn we der
Vorrede. der die Sorge des erstem , Richters.
87
noch des leztern
Genug, es ist ein gestempelter Hut!
und keiner derselben von allen, die vorhanden sind, paßt genau. —
nes Gesez;
Es ist ein allgemei
nach welchem das Urtheil
rechtskräftig werden muß!!-- Würde dis aber wol geschehen; wenn sowol der erste als der zweyte Richter die Freyheit hatten, mchr
in den Sinn des Gesetzes, der doch auf die
Handhabung der wahrhaften Gerechtig
keit in ieglichemvorliegenden Falle, eigent lich nur abzielen kann und abzielen sollte, dringen zu dürfen? Würde sich denn der er
stere Richter nicht mit seinen Ungerechtigkeiten vor dem zweyten Richter fürchten müssen? Und
auf welcher Seite würde aksdenn mehr Gerech
tigkeit gehandhabet werden?
Entweder da,
wo alle Richter an allgemeine Gesetze gebunden sind? folglich auch keinen weitern Verstand m
ihrem Richterdienste nöthig haben,
als zur
bloßen logicalischen Subsumtion eines Unter
satzes unter seinen Obersatz erforderlich ist?
oder da, wo ihre Beurtheilungskraft um sich schauen müßte;
um die wahrhafte Gerech-
F 4
tigkeit,
8Z
Vorrede.
tigkeit, die die Gesellschaft beglückt, ans Licht zu ziehen? unb die von der sogenannten Ge rechtigkeit, die die allgemeinen Gesetze dazu stempeln, und für Gerechtigkeit ausgeben; oft wie Licht und Finsterniß verschieden ist? Das Urtheil kann immer wahr seyn, wenn es heißt: das Factum, oder die vorliegende Sache ist gesezmäßig entschieden. Aber Gott möchte sich oft über das Gesez selbst erbarmen, nach welchem es entschieden ist! Man wurde sich erschrecklich irren; wenn man unter dem Worte, die Rechte, so wie es im iunstischen Verstände gebraucht wird; solche Gesetze verstehen wollte, die sich vor dem Richterftuhle der Vernunft und Wahrheit, überall als wahrhafte Grundsätze der Gerechtigkeit rechtfertigen könnten! Das mag dem Himmel geklagt seyn, wie es hierinn aussieht! Wir erkennen den Rechten gemäß, heißt nichts mehreres, als: so, wie es die vorhandenen allgemeinen Gesetze haben wollen. Diese mögen nun so weit in die Irre laufen, und fo viele himmelschreyende Ungerechtigkeiten mit sich führen, als sie wollen; darauf kommt es gar
89
Vorred e. gar nicht an.
Genug, sie sind die vorhande
nen Gesetze! und der würdige Nahme, daß sie Rechte genannt werden, soll alle ihre Unvoll
kommenheiten zudecken'.
Warlich, es diente
nichts mehr und nichts besser dazu,
die Zahl
der Processe in der Gesellschaft zu vermindern;
als wenn den Bürgern nur ein deutliches Verizeichniß der theuern und werchen Rechte, wor-
nach die richterlichen Aussprüche geschehen müs
sen; in die Hände gegeben würde!
In tau
send Fällen würde der Bürger alsdenn keine
Klage anstellen; sondern lieber Ungerechtigkei ten von seinem Nebenbürger dulden:
weil er
schon voraussehen könnte, entweder: daß das
Gesez selbst ihn noch mit zehnfach größern Un gerechtigkeiten bedrücken würden oder:
daß
die Allgemeinheit desselben doch für alle Chica
nen und Cabalen der Leidenschaften den weit-
läuftigsten Spielraum enthielte!
Da er aber
jene Rechte nicht kennt; sondern darüber im mer, (und wie es den Schein hat, Mit Fleiß)
in Unwissenheit gelassen wird: so verleitet ihn oft sein gesunder Menschenverstand zu der Hoff
nung, daß er in seiner, an sich vor aller WeltAu-
F 5
gen
Vorrede.
go
gen gerechten Sache, mit seiner Klage da Gehör und Hülfe finden werde, wo man vorgibt,
daß
alles den Rechten nach entschieden werde! Er hofft dis
so lange, bis er die den Rechten
gemäße Entscheidung zu sehen bekommt: und nun gehen ihm erst die Augen darüber auf, was hier,
von Rechtswegen, heißt! und er wünscht
zu spar, daß er nimmermehr diese Rechte um Hülfe angrflehet haben möchte!
Kurz, es ist
eine gegen allen möglichen Widerspruch erweis liche, traurige, höchsttraurige Wahrheit: daß
die vorhandenen unnatürlichen Gesetze
überhaupt, mehrere und gröbere Unge rechtigkeiten begehen, als sich die Bürger
unter einander selbst zufügen: und daß eben die Allgemeinheit der Gesetze dm un
gerechten Richtern das freyeste Feld öffne, wo sie ihre Leidenschaften auftreten lassen;
ihre Rabulisten-Streiche spielen; die Zu
friedenheit, den guten Nahmen und das Vermögen der Bürger plündern; und das Glück der Gesellschaft verwüsten können. Der Verwirrung und Zerstöhrung »'nicht zu ge
denken, die dadurch
in der Denkungsart der
Bürger
Vorrede.
9i
Bürger und in ihren Begriffen von dem, was Gerechtigkeit ist, angerichtet wird; und woraus keine andere, als die traurigsten Würkungen und Folgen für ihre Handlungsar
ten entstehen können und muffen! Noch nie hat em Schiboleth, weß Her
kommens und welcherley Art es auch ftyn moch te,
in der Welt etwas gutes gestiftet! Jenes
hebräische Schiboleth mordete an der Furth
des Jordans zwey und vierzig tausend Ephrai-
miter! — Die auf den Concilien geschmiede ten und sonst festgesezten Symbolen der Religions-Meynungen,
dis theologische Schibo
leth! in welche eiserne Fesseln hat es den mensch lichen Verstand geschlagen! welche Gewaltthä tigkeiten verübt! welche Verwüstungen auf dem
Erdboden angerichtet! welche unzehlbare Men ge von Scheiterhaufen angezündet!
welche
Ströhme des besten Menschenbluts hat es ver gossen!—
Ein juristisches Symbolum, ein
Schiboleth der Gesetze in der Gesellschaft, oder dessen, was allein als Recht und Gerechtig
keit unter den Bürgern angesehen und dafür geach-
§2
Vorrede.
geachtet werden solle;
über welches keinem
Verstände eines Bürgers laut zu denken und zu urtheilen erlaubt seyn; das er sich noch weit
weniger zu tadlen, erdreisten soll! ent Schiboleth, gegen welches alle Richter und die ganze
Nation sich schlechterdings einer absoluten Un mündigkeit bescheiden, und auf die innere Ue
berzeugung bey sich völligen Verzicht thun sol len: daß sie auch Menschenverstand haben, und mit demselben über das, was Recht und Un
recht ist, denken und urtheilen können! wird
und kann, sage ich, ein solches Schiboleth für die Gesellschaft wohlthätiger seyn, als iene wa ren? Läßt sich eine Anschirrung des Verstan
gewis
des
anderer Menschen,
ser
einzelner Menschen , als natürlich denken?
an die Urtheile
Und wenn sie nicht anders, als durch Gewalt geschehen und eingeführt werden kann;
wenn
noch kein Schiboleth anders, als durch Hülfe des weltlichen Arms festgesezt und in Ansehen gebracht werden konnte; 'wenn der Glaube an
dasielbe stets erzwungen werden mußte! macht das ein gutes Vorurtheil,
wohlthätig sey?
daß sein Daseyn
Man verbiethe alles fteye
Urthei-
Vorrede.
93
Urtheilen über die Landes - Gesetze.
Man
mache dem Bürger, blinden Gehorsam zu sei ner einzigen Schuldigkeit.
Der Gesezgebende
Theil im Staate bilde sich ein, zugleich auch
nothwendig der klügste zu seyn.
Er zwinge
alle, die ihm unterworfen sind, an seinen Rich
terstuhl, als an einen unfehlbaren Glauben,
und alle seine Urtheile als Oracul - Sprüche ansehen zu müssen; von welchen auch nicht ein mal an den gesunden Menschenverstand eilte
weitere Appellation erlaubt sey;
mit einem
Worte: er bilde sich ein, daß er gar keiner Zu rechtweisung in seinen Urtheilen von denen, die
seiner Macht unterworfen sind, fähig sey; und
rechne dem Bürger ieden Tadel, den dieser über die Gesezgebung des Landes wagt, zum Hoch verrathe viele Köpfe über
ein Gesez ihre verschiedenen Meynungen sagen
dürfen; wie sehr dadurch die Sache von allen Seiten beleuchtet werde ? wie viele Local - und andere Umstände dabey ans Licht gezogen wer
den, die der Gesezgeber vorher nicht kannte und sahe, und die ihn nun zu ganz richtigern Be stimmungen in Abfassung des Gesetzes leiten? Wie sehr würde dem gesezgebenden Theile im
Staate seine Arbeit erleichtert werden; wenn er
Vorrede.
97
er die freyen Urtheile des Publicums bey Fest-
setzung der Regeln dem Gerechtigkeit nutzen könnte?
und wie sehr würde auch unter den
Burgern die Ueberzeugung,
daß sie mit Ge
rechtigkeit regieret würden, dadurch gewinneu und verbreitet werden? und welche seligen
Früchte würde diese Ueberzeugung für die Her sichende Denkungs- und Handlungsart der Na? tion tragen? — Es ist immer ein böses Zeichen für den innern Gehalt einer Sache, wenn man
ihre nähere Prüfung und Untersuchung nicht zulassen will! — Daher wollen die Theolo
gen die Beleuchtung ihrer Lehrmeinungen
nicht zugeben; weil sie wol wissen, daß
diese keine Prüfung ausstehen können. Eben so würde es ein sehr seichter Gedanke
seyn, der nur von einem sehr flach denkenden
Kopfe zeugte, wenn man fürchten wollte: daß
die Freyheit des Bürgers, öffentliche Lan
desgesetze und Sentenzen critisiren zu dür
fen, eine Zerrüttung im Staate nach sich ziehen könne! Die Vernunft kennt keinen ein zigen Grund für diese Besorgntß; und die Er
fahrung widerspricht ihr ganz.
Haben nicht
G
dis
Gittenlchre, IV- Th»
98
Vorrede.
.die Theologen und Geistlichen von ieher denen, die am Ruder des Staats sitzen,
den Gedan
ken vorgespiegelt, daß große Gefahren der Zer rüttung der bürgerlichen Ordnung durch solche
Urtheile und Schriften zu befürchten stünden, die sichs herausnehmen wollten, die herscheu-
den Religions-Meinungen öffentlich in Zwei
fel zu ziehen? Gleichwol, seitdem der heilige Damm durchgebrochen ist,
und der gesunde
Menschenverstand sich erkühnt hat, seine Bat-
terien gegen die Schutzwehren Per theologischen
Phantasien aufzuführen;
seitdem nun schon
unzehlich Viele sich öffentlich erklärt haben, daß
sie ihren eigenen Weg, den ihnen ihre eigene
Vernunft anwiese, zum Himmel wandern woll ten; und daß sie ferner nicht mehr geneigt wa ren, ihre Vernunft unter dem Gehorsam des Glaubens von den Geistlichen gefangen nehmen
zu lassen: was für Zerrüttung ist denn nun in
der menschlichen Gesellschaft daraus entstan den? Und doch kam es hier angeblicher Weife,
auf die allerwichtigsten Angelegenheiten
des
Menschen, auf Seele und Seligkeit an; Ist
die Welt nun darüber untergegangen? oder steht
Vorrede.
99
steht sie etwa im Begriff unterzugehen? Sind
Zügellosigkeit, wilde Lasterhaftigkeit,
Unter-
tretung aller bürgerlichen Pflichten, Zerrüttung aller gesellschaftlichen Ordnung u. s. w. so ge
wiß die unausbleiblichen Folgen iener Freyheit im Denken und Urtheilen über Religions-Sa
chen geworden; als sie mitandgchtig seufzender Miene vorher prophezeiet wurden? Man sage, was man wolle, so ist es bloße Gaukeley,
mit der man sich selbst täuscht, wenn man be haupten will: daß die Menschen iezt in ih
rer Sittlichkeit zurückkamen ! Wäre auch nur die Möglichkeit dazu da; wem könnte sie
anders zur Schuld gerechnet werden, als dem
Schöpfer? Aber nur die Augen recht aufge
than; und die falschen Grundsätze von Sitt lichkeit, nach denen man zu urtheilen pflegt,
bey Seite geworfen; so wird man bis zur un-
widersprechlichsten Gewißheit es wahr finden,
daß das menschliche Geschlecht im Ganzen sowol, 'als in seinen Theilen, auf dem Wege der immer mehrertt Ausbildung zu seiner Vollkommenheit begriffen sey und unaufhaltsam fortschreite! Derienige soll G 2
wenig-
Ice
Vorrede.
wenigstens noch erst gebohren werden, der das Gegentheil hievon mit Gründen, die die Ver nunft billigen müßte, zu erweisen im Stande
wäre!
Ich kann diese Materie nicht verlassen, oh ne noch einen gewißen Gedanken zu rügen. Man hört nemlich dieiemgen, die über die Ver waltung der Gerechtigkeit in einem Staate wa chen sollen, oft sagen: die Gesetze müssen in
den Augen des Bürgers ein heiliges Anse hen haben: Was mag man sich doch bey dieser Redensart gedenket:.? So wie sie ge meiniglich gebraucht wird, will man meines Erachtens ditz damit sagen: der Bürger solle bey einem vorhandenen Gesetze gar nicht dar an denken, daß dis Gesez der Wille gewisser Menschen gewesen sey, oder noch sey. Er stille sichs also auch gar nicht herausnehmen, es arrch nur in seinem Herzen zu beurtheilen, ob dieser Wille iener Menschen etwas tauge, oder nicht? ob er Gerechtigkeit oder Ungerech tigkeit mir sich führe?. Nein, er solle das einmal vorhandene Gesez ohne alle Rücksicht auf seinen
Vorrede.
lSI
ftinen menschlichen und etwa daher fehlerhaf ten Ursprung, als ein für sich bestehendes, unzubezweifelndes Heiligthum, als eine solche Rechts-Regel anschen, die der unmittelbare
Ausspruch der Gerechtigkeit selbst sey; wider
den gar kein Zweifel und keine fernere Frage Statt finde, ob er auch wahrhaftig gerecht fep,
oder nicht?
Und selbst,
wenn stme ganze ei
gene Urtheilskraft ihn das leztere glaubend ma
chen wolle; so solle er sich selbst verleugnen, und troz allem Widerspruch seines eigenen Vorstellungs - Vermögens, dem ausser ihm befind
lichen Gesetze willige Ehrfurcht und Anbetung
darbringen!— Ob dieirnigen, die dis von Men schen fordern und erwarten können, auch wol Lemals daran gedacht haben mögen,
wenn
eher es dem Menschen seiner Natur nach nur möglich sty, etwas schätzen und ehren zu können? — Kein Mensch unter der Son» nen kann etwas hochhalten und ehren, anders,
als in sofern er ft etwas gutes und solche
Vorzüge an der Sache entdeckt, die eine vorteilhafte Beziehung auf ihn habenr oder, wenn dis auch in der That »licht so seyn.
G 3
sollte;
Vorrede,
lax.
sollte; in sofern er sich dis doch von derselbe« vorstellt/ und als wahr einbildet.
Eben die-,
selbe Sache, die mir verehrungswürdig seyn
soll;
muß mir auch zugleich liebenswerth Eins laßt sich von dem andern mcht
seyn.
trennen.
Und wenn ich diese beiden Dinge
ia scheiden will; so besteht die Liebe zu einer
Sache eigentlich in der Vorstellung, die ich von dem Guten und von dem Glücke
habe, das mir durch iene Sache zugewandt wird.
Die Liebe ist die Freude über den Zu
wachs, den ich in meiner Glükfeligkeit gewin
ne.
Die Ehrerbietung hingegen, die ich ge
gen die Sache empfinde, stellung,
besteht in der Von-,
daß mit iene Vermehrung meiner
Glükftligkeit gerade von dieser Sache, und
sonst von keiner andern herkam; oder ich sie ihr allein zu verdanken habe.
Wir ft-
hen also, Ehrerbietung und Liebe sind ihrer
Natur nach ganz unzertrennbare Gefährten, deren keines ohne das andere gedacht werden kann.
Sobald nun bey einem Menschen die
Meynung vorl einer gewissen Sache vorhanden
ist , daß ihm diese Sache entweder durch
aus
Vorrede.
105
aus Schaden, oder doch wenigstens mehk
Schaden als Vortheil bringe; so kann kei ne Werthschätzung, keine Hochachtung, kecke Ehrfurcht, keck ehrerbiethiges Heilighalten der
Sache, bey ihm aufkommen, und wenn auch die Allmacht selbst zu Hülfe treten und diese
Gemüths - Bewegungen bey ihm erzwingen
wollte!
Denn die Allmacht kann kecke Wi
dersprüche realisiren.
nicht Mensch seyn;
Sie kann den Menschen seine Selbstliebe nicht den
Grundtrieb in ihm seyn lassen, aus welchem alle seine Wünsche, Neigungen,
Gemüchs-
Bewegungen, Entschließungen und Handlun
gen einzig, und allein herftammm müssen: und
ihn bey dieser nothwendigen Verfassung seiner Natur zu gleicher Zeit zwingen, seinen Scha
den und sein Unglück (in sofern es diese Dinge in seinen Augen sind) zu lieben, hochzuschätzen
und zu ehren! Der Bürger wird also nur in
dem Maaße eck Gesez ehren, und ehren kön nen; als er es seinem Erkenntniß nach, lie-
bm kann.
Das Gesez wird also nur so weit
ein heiliges Ansehen in feinen Augen ha ben, als er die Wohlthätigkeit desselben G 4
für
io4
Vorrede.
für sich tvahrnimLl Wo dis Erkenntniß bey
ihm fehlt; wo ihm das Gesez wol gar noch auf ftinen Schaden und auf sein Verderben abzie lend zu seyn scheint: da wird keine Forderung
einer blinden Ehrerbietung und Anbetung, die
er dem Gesetze leisten soll, die Stelle Lener Er kenntniß bey ihm vertreten,
und das wmkm
können, was iene nur allen; bey chm zu wür-
ken fähig wäre.
Freylich wird er sich wol,
wenn es nicht anders seyn kann, dem Gesetze,
Las er verabscheuet, unterwerfen: aber wahr
haftig nicht aus Ehrfurcht gegen das Gesez! sondern blos aus Furcht vor der Gewalt derer, die feine Unterwerfung erzwingen können.
Da
es also bey allem Gehorsam, der gegen die
Gesetze gefordert, und der ihnen geleistet wer
den kann,
auf eines von diesen beyden Stüc
ken ankommt,
entweder:
daß der Bürger
die Wohlthätigkeit des Gesetzes für sich erken
ne, und sich daher demselben willig unterwer
ft;
oder: wenn er Leite nicht zu begreifen im
Stande ist; daß er mit Zwang zur Beobach
tung des Gesetzes angehalten werde: warum spielt man mit Worten, und sucht em drittes dazwi-
Vorrede.
105
dazwischen zu schieben, das gar nicht statt fin
den kann? Warum will man die Gesetze za Götzen machen, denen mit blinder Anbetung geräuchert und geopfert werden soll; da noch nie eine Anbetung irgend eines Götzen in der Welt Statt gefunden hat, bey der die Selbstli^
be nicht ihre Rechnung fand, oder zu finden
glaubte? diese Sache auch um Nr Natur des Menschen willen, nie eine andere Bewandniß
in der Welt wird haben können? Man über zeuge, sage ich nochmals, den Bürger, daß
das Gefez für ihn wohlthätig sey; so fin det sich das Heilighalten desselben bey ihm von
selbst,
ohne daß man darauf zu dringen nö
thig hätte. Seine Ueberzeugung von der Wohl thätigkeit des Gesetzes ist dann selbst in ihm der
unerschütterliche Thron des Ansehens des Ge
setzes, dem er die willigste Ehrfurcht opfert.
Wo diese Ueberzeugung bey ihm nicht hervor gebracht werden kann; da wird auch kein blim des ehrerbietiges Heilighalten des Gefttzes durch
irgend ein Mittel bey ihm bewürkt werden kön nen: denn das
ehren einer Sache ftzt das lie
ben derselben. voraus.
Wenn also gleichwol,
GZ
in
io6
B o r r e d r.
in diesem Falle , die Unterwerfung unter daS
Gesezvon demBürger durchaus gefordert wer den muß; so bleibt dem Staate weiter nichts übrig, als seirrer Vater - unt> Vormundschafts-
Pflicht gegen den Bürger gemäß, die Macht anzuwenden, die er in Händen hat.
Er brin
ge das Gesez in Kraft: und nehme/ wenn es
oberrein nöthig ist, den Bürger in die Gefäng
niß- Schule auf; damit er hier besser verstehen lerne, was zu stinrm Frieden dient.
Ich kehre nach dieser gemachten Digreßion dahin wieder zurück, wo ich ausgeMrgerr war.
Ich hatte oben gesagt: daß die Frage, ob besstre Gerechtigkeit in einem Staate grhandhabet werden würde, wenn der Richter mit sei
nem Urtheile an den Buchstaben des Gesetzes so genau als möglich angeschirret? oder wenn
chm die Auslegung des Gesetzes ftey gelaßen würde? vor dem Richterstuhle der Vemnnft
und Wahrheit noch nicht zum Vortheil der er
steren Behauptung,
wie
man gemeiniglich
fälschlich dis vorausstzt, entschieden sey! lind ich denke" zur richtigern Bewtheilung diestr
Streit-
B o r r e d e.
107
Streitfrage selbst, Winke genug an die Hand
gegebm zu haben.
Ich hatte aber glich oben
gleich hinzugefügt: daß, wenn man meinem
Vorschläge in Beurtheilung und gerichtlicher Behandlung der Verbrechen und Verbrecher Gehör gebe;
jene ganze Frage völlig unnüz
sey! und ich denke, ich schon alles gesagt
daß ich nach dem, was
habe, der vielen Worts fhahren könne, um diese leztere Behauptung
soll ten alle willkührliche Strafen wegfallen; und blos die natürlichen Folgen des Derzu erweisen.
Nach meinem Vorschläge
brechens (so weit dis der Natur der Sache nach möglich ist^ und es das nothdürftige fernere Bestehen des Verbrechers, als Bürger, er,
laubt,) auf den Verbrecher hingeleitet W er den
Dieft natürlichen Folgen kann weder
der Geftzgeber noch der Richter genau zum Voraus wissen und bestimmen.
wenn er geschehen ist, Umstande,
Der Borfalh
und die iedeömakigen
die ihn begleiten, werden sie an
geben und sichtbar machen. Zwar kamt der sezgeber dem Richter ein allgemeines Verzeich-
niß von gewöhnlichen natürlichen Folgen, die dieses
jo$
Vorrede.
dieses oder Lenes Verbrechen gemeiniglich nach sich zu ziehen pflegt, in die Hande geben; um
es bey der Ausmittelung der gegenwärtigen
wahren Folgert einer vorliegenden Uebelthat zu Rathe zu ziehen.
(Und man wird finden,
daß die gewöhnlichen natürlichen Folgen gemei
niglich den Leibes und Lebens Unterhalt und die Verpflegung, oder die Ersetzung des guten Nahmens, oder der zeitlichen Güter betreffen.)
Allein die eigentliche Ausmittelung der wahr haftigen natürlichen Folgen, würklich find,
die es iedesmal
laßt sich doch nie zum voraus
errathen und bestimmen, am allerwenigsten in
Ansehung der Größe derselben: und dis bliebe
also vornehmlich das jedesmalige noth wendige Geschäft des Richters. Hier wa ren auch die Gelegenheiten zu Ungerechtigkei ten von Seiten des Richters um so mehr cou-
pirt; weil sich der Verbrecher schwerlich etwas als eine natürliche Folge (einer That aufbürden lassen würde,, die es sichtbarlich nicht wäre.
Des herrlichen Seegens. zu geschweigen, dec sich durch solche richterliche Verfahrlmgsart über die Begriffe und ußer die Denkungsart
der
Vorrede.
109
der Nation in dem, was Gerechtigkeit und
eine gerechte Aufführung gegen seine Ne benbürger sey und fordere? verbreiten wür de! Es versteht sich übrigens von selbst, daß nur die iedesmaligen nächsten; keinesweges
aber die
entfernten natürlichen Folgen,
oder die Folgen jener Folgen, in Betrachtung und Rechnung gezogen und gebracht wer
den können.
3) Ich könnte*noch mehrere Gründe angeben, die durchaus alle willkührliche Stra
fen als verwerflich darstellen, und die Verban nung derselben aus den Gesezbüchern fordern:
wenn ich nicht einestheils um deöienigen wil len, was ich noch in dieser Vorrede zu sagen
habe, den Raum spahren müßte; und andern-
theils sie sich nicht demienigen, der über diese Sache nachdenken will,
in unzehliger Menge
von selbst darbieten würden.
Indessen will
ich doch noch auf einen Gedanken meine Leser
aufmerksam machen.
Man sehe nemlich die willkührlichen obrig keitlichen Strafen recht an; so wird man fin de^
110
Vorrede.
den, daß sie alle die Natur, die Eigenschaften, und die ganze Besthaffenheit derienigen Uebel an sich hakm, welche die iezt aufgebrachte Lei
denschaft der Rachbegierde eines Bürgers, der sich von seinem Nebenbürger beleidiget zu seyn glaubt, in ihrer ersten Hitze über diesen herzu führen entschlossen und bereit ist.
Wir haben
im dritten Theile dieses Werks pag. 368. ge
zeigt: daß die Rachbegierde kein Bestreben
sey, sich zu vertheidigen^ sondern ein Verlangm, dem, den man für feinen Belei diger halt, zu schaden! Daher wählt diese Leidenschaft eine Menge von Uebeln für ihren angeblichen Feind; ohne sich, darum zu beküm
mern, ob zwischen diesen Uebeln, die sie. ihm zufügt, und demjenigen Verbrechen, das er
begangen hat, oder haben soll, ein natürlicher
vernünftiger Zusammenhang sey, oder nicht? So wie beym Token der Leidenschaften über haupt die Vernunft die schwächste Stimme
führt; so ist es auch ein blindes Glück, wenn die Rachbegierde in ihrer angeblichen Verthei
digung gegen den Feind einmal würktich ein solches Mittel wählt, das die Vernunft billigen
Vorrede.
in
gen und fyr ein gerechtes Vertheidigungs - Mit
tel erkennen muß! —
Findet man nicht,
wem man die positiven Strafen der Oeftzhücher die Musterung paßiren laßt; daß
es mit diesen dieselbige Bewandniß habe?
Noch mehr: In Ansehung sehr vieler und der wichtigsten Verbrechen findet man sogar, daß
unter die positiven Strafen in den Geftzbüchern gerade dieselbigen Uebel ausgenom men sind, die die aufgebrachte Rachbegier de des beleidigten Bürgers in ihrer ersten
wildesten und unbesonnensten Hitze über
feinen Feind hergeführt haben würde! — Welches würde z. E. der erste Ausbruch der
Rachbegierde eines Bürgers seyn, wenn er ei nen Mordbrenner, der ihm fein Haus in Flam men geftzt, bey feiner Frevelthat ertappte? —
Er würde in der ersten Wuth ihn selbst lebendig in die Flammen stoßen! — Oder,
wie würde sich die Rachbegierde der Verwand ten in ihrer ersten Hitze, an dem Mörder ihres
geliebten Freundes rächen? Sie würden ihn
auf der Stelle wieder tödten!— Thut
nun aber der Staat und dje öffentliche Strafgerech-
ii2
Vorrede,
gerechtigkeit nicht dasselbige? Was ist also die öffentliche obrigkeitliche Strafgerechtigkeit in
Ve.rhengung und Vollstreckung ihrer willkührtichen Strafen anders, als : der Stellvertre
ter der unwürdigen einzelnen Rachbegier-
den der Bürger in ihrer wildesten und tut« besonnensten Hitze?— Man wird mir hier einwenden wollen:
Jene sey doch deswegen
-ein guter Stellvertreter von diesen; weil sie durch ihre vorgängige gerichtliche Untersuchun
gen zuförderst den wahren Verbrecher und die
wahre Beschaffenheit seiner That auszumitteln suche;
mithin bey ihrer Stellvertretung die
groben Fehler verhütet würden, die die blinde Rachbegierde des Bürgers in ihrer ersten Hitze
leicht dadurch begehen könnte, daß sie Mit ih
ren Ausbrüchen etwa über einen Unschul
digen, Äs dm vermeintlichen Verbrecher,
herfiele! oder: wenn sie auch den Schul digen traft; diesen zu hart bchandeln möch te! Der beleidigte Bürger handle in lei
denschaftlicher Hiße; die öffentliche Strafgerechtigkeit hingegen mit unintereßirter Kaltblütigkeit! Mein ich antworte hierauf: a) Was
Vorrede.
uz
a) Was das leztere befrist/ daß nemlich die
Rachbegierde des Bürgers seinen Feind zu hart behandeln möchte; so will ich zuvör derst nicht leugnen, daß dis in sehr vielen Fäl len zutrcffen möchte. Aber es ist auch gar mei ne Behauptung nicht: daß die Privat-Rach begierde des Bürgers zügellos gemacht werden solle! Keinesweges. Ich will vielmehr/ daß
sowoldiese,alsdie öffentlich stellvertreten de Rachbegierde der Strafgesetze, gezügelt werden sollen! Eine taugt so wenig, als die Andere.
Sie sind beyde eine Schande für die
Vernunft und Menschheit. Dis vorausgesezt: so dürften sich im übrigen, wenn man
die Erfahrung zu Rathe zieht, die gegenseiti gen Fälle hierinn wol ganz gewiß gegen einanf der aufheben. Wenn es viele Fälle geben möch te, wo die Privat-Rachbegierde des Bürgers seinen Beleidiger zu! hart behandeln möchte: so giebt es ganz gewiß und in der That unzehlige andere Fälle, wo iezt die öffentliche und obrigkeitliche Strafgerechtigkeit härter straft; als Jene nimmermehr gestraft haben würde! Der Raum verstattet es. mir nicht, diesen ErSittenlehre, 1V. Th. H fah-
114
Vorrede.
fahrungs - Saz mit seinen unwidersprechlichen Beweisen iveiter auszuführen.
b) Was das erstere befrist, daß nemlich
die Privat-Rache des Bürgers leicht über ei
nen Unschuldigen herfallen, und diesen als beit vermeintlichen Verbrecher mißhandeln möchte;
da hingegen durch die kaltblütige gerichtliche Untersuchung der wahre Verbrecher zuvörderst ausgemittelt werde: so will ich mich iezt dar auf nicht einmal berufen, daß auch Exempel
genug in der Welt vorhanden sind,
wo die
obrigkeitliche Strafgerechtigkeit es bewiefen hat,
einen Unschuldigen zu bestrafen und zu würgen, so gut verstehe; daß sie die Kunst:
als die Privat-Rache! sondern ich will meine
Leser iezt nur vornehmlich darauf aufmerksam machen, daß lener Vortheil, der durchei
le kaltblütige obrigkeitliche Untersuchung
gewonnen wird,
eben nachher durch die
nachfolgende kaltblütige Vollstreckung der
willkührlichen Strafen wieder verlohren geht; oder, daß der Ruhm der mehrern
UnparHevlichke'it und der richtigern Aus mitte-
Vorrede.
uz
Mittelung des wahren Verbrechers, und
der wahren Beschaffenheit seiner That,
womit sich die obrigkeitliche Strafgerech
tigkeit wider die oft ganz blinden Ausbrü che der Privat-Rache, rühmen möchte;
daß, sage ich, dieser Ruhm dadurch ganz und gar wieder vernichtet wird; daß der Staat dasjenige kaltblütig ausführt, was der Bürger nur in der Hitze der Leiden
schaft gethan haben würde! Die Hitze der Rachbegierde verkühlt sich mit der Zeit wieder
bey dem beleidigt gewesenen Bürger: und so
bald seine Leidenschaft abgespannt ist; tritt die
Vernunft an ihre Stelle.
Nun lauten aber
auch seine Urtheile über seinen Beleidiger und
dessen That ganz anders; als vorher,
Er ist
nun desjenigen Verhaltens gegen seinen Feind
nicht mehr fähig, wozu ihn vorher die Hitze der Leidenschaft hingerissen haben möchte.
Er
wird nun den Mordbrenner nicht mehr verbren
nen;
den Mörder seines Freundes nicht hin
terher auch noch würgen wollen: denn seine
Vernunft begreift es,
daß er dadurch weder
sein Haus, noch seinen Freund wieder gewinH 2
nen
n6
Vorrede.
nen werde! begreift es, daß geschehene Dinge
nicht ungeschehen
gemacht werden können.
Die möglichste Schadloshaltung fürs ge
genwärtige; und die möglichste Sicherstellnng seiner Wohlfarth fürs künftige; wird
worauf sich seine gekränkte
alles seyn,
Selbstliebe mit ihren Forderungen und Wünschen einschränken wird.
Will man
mir nicht glauben: so möchte die Obrigkeit ein
mal die Probe machen; und,' wenn nach einem halben Jahre ein Missethäter zum Schaffst geführet wird; dieienigen Bürger auffordern, die
durch dessen Verbrechen zunächst beleidiget wor
den waren!
Ich sage, hie Obrigkeit möchte
sie nun auffordern, -aß sie ihn selbst tödten
möchten! Würde wol ein Einziger Lust und Kraft bey sich fühlen, ausstrecken zu wollen,
seine Hand wider ihn
oder zu können?
Ja
die Obrigkeit dürfte es diesen Beleidigten nur
frey stellen, daß es von ihrem Urtheile ab
hängen sollte: ob der Missethäter am Le ben gestraft, oder beym Leben erhalten
werden solle?
Wohin würden die Stimmen
fallen? — Nur der verworfenste Charakter,
der
Vorrede.
f 17
der wol eines unversöhnlichen Hasses, aber kei-
ms menschlichen Gefühls fähig wäre;
würde
ihn noch getödtet wissen wollen. —
Allein
was thut nun die stellvertretende, und
eben daher kaltblütige obrigkeitliche Straf gerechtigkeit? Sind die Strafgesetze, nach welchen sie richtet und verdammet, die Urtheile
einer,
von ihrer Heftigkeit schon abgespann
ten, und von ihrer ersten Hitzeschon abgekühl ten Leidenschaft der Rachbegrerde beleidigter
Bürger? oder sind sie nicht vielmehr die Ur theile der erregten,
Leidenschaft?
fordernden und tobenden
Nur die Augen aufgethan; so
wird man das leztere wahr finden!
Die öf
fentliche Strafgerechtigkeit straft also so,
wie der entbrandte beleidigte Theil strafen würde! Sie ist ein Stellvertreter; aber nicht der Vernunft des Bürgers! sondern seiner Leidenschaft! Oder, wenn die Hand lungen der öffentlichen Strafgerechtigkeit als
Handlungen der kaltblütigen Vernunft gelten
was thut denn die kaltblütige Vernunft desgesezgebenden
und angesehen werden sollen:
und richtenden Theils in der Gesellschaft, H 3
indem
ns
Vorrede.
indem sie willkührliche Strafen verhängt und vollzieht? — Sie thut dasjenige, was nur die Leidenschaft des Bürgers in ihrer wil desten Hitze zu thun fähig wäre; was ihm aber seine Vernunft nie zu thun erlauben würde! Wenn das unleugbar ist; sollte sich denn iene öffentliche Strafgerechtigkeit einer solchen un würdigen Stellvertretung nicht bitterlich schä« men?
Dritte Anmerkung.
Ich finde es nö
thig, ehe ich diese Vorrede schließe, noch ei nen gewissen müßigen und nüchternen Einfall
abzufertigen; der, wie ich höre, manche Kö pfe über die gefährlichen Folgen beunruhigen soll, die die Lehre der Nothwendigkeit, ih rer Meynung nach, bey dem großen Haufen nach sich ziehen dürfte. Wofern der Deter minismus, sagen sie, als eine wahre Lehre all gemein erkannt und angenommen werden sollte; so dürfte sie leicht das Losungs-Wort zur Be gehung der ärgsten Bosheiten und Missethaten werden! Welcher Bösewicht wird sich nicht mit Dem Gesetze der Nothwendigkeit, dem er
in
Vorrede.
119
in seinem Handeln unterworfen ist, entschuldi
gen wollen? Und zu welchen neuen Frevel
thaten, an die er vorher nicht dachte, oder die
er sich wenigstens nicht erlaubt haben würde; wird er sich nun durch iene Lehre für berechti get halten?
So, wie man nach dem Inhalt
der zweyten Anmerkung, welche ich in der Vorrede zum dritten Theile gemacht habe, die
kehre der Nothwendigkeit eine ignava ratio schalt; und sie beschuldigen wollte, daß sie den Menschen faul machen und ihm zum Bewe
gungs-Grunde dienen könnte;.um seine Han de müßig in den Schooß zu legen: so fürch
tet man nach diesem gegenwärtigen Einfall von ihr, daß sie den Menschen zu thätig machen, und ihm kräftige Aufforderung seyn werde, al le Bande der Zucht und Ordnung von sich zu
werfen; und unter dem Vorwande, daß er nothwendig handle, seine Kräfte mit wilder Zügellosigkeit zur Zerstöhrung alles gesellschaft
lichen Wohls geschäftig sey»: zu lassen.
Mit
einem Worte:
der
dort fürchten
man:
Mensch würde, von der Lehre der Nothwen digkeit verführt,
zu
wenig thun.
H 4
Hier fürch-
!2Ö
Vorrede.
fürchtet man: Er werde zu viel thun. Ich will meine Antwort in einzelnen Sätzen vor legen. i) Zuförderst muß das schon einen gerechten Verdacht wider diese beschuldigende Behauptun
gen erwecken: daß sie beyde auf gerade entge-
gengesezte und sich einander widerspre chende Extremen hinauslaufen. Wir kön nen, wie in allen dergleichen Fällen, also auch
hier, schon zum voraus vermuthen: daß die
Wahrheit ganz gewiß in der Mitte liegen; und der Determinismus also weder eine Hewfette, noch eine Schleuder für die Thätigkeit her Menschen seyn könne und werde.
3) Ist es sonderbar: daß dieiem'gen, wel che dem Determinismus einen von beyden obi gen Vorwürfen machen, dir Lehre der Noth
wendigkeit selbst, und an und für sich be trachtet, als Wahrheit gelten lasten; wi der deren Beweißgründe sie nichts einzu wenden wissen! uud daß sie folglich zugeben: daß die Lehre von einer ungebundenen Freyheit des Millens em Irrthum sey ! Ich
Vorrede.
121
Ich will nicht blos von denen sagen, die mit
ausdrücklich darüber ihre Erklärung mündlich und schriftlich dahin von sich gegeben haben: daß sie es zugestehen müssen, daß sich wider
das System der Nothwendigkeit, so wie ich es in meinem Werke vorgetragen hatte, ihrer Einsicht nach, nichts mit Grunde einwenden
ließe; daß sie aber doch davon gefährliche Fol
gen auf Die Menschlichen Gemüther befürchte ten: sondern ich behaupte auch, daß ein Ze der, der dem Determinismus dergleichen ge
fährliche Würkungen anschuldigen will, und ihn sonst durch nichts als durch falsche Consequenzenmacherey anzugreifen weiß;
dadurch
schon so gut, wie ausdrücklich eingestehe: daß
er die Lehre der Nothwendigkeit selbst für wahr und unbeftreitlich halte. Denn, wo fern er in den Vernunftschlüßen selbst,
auf
welche sie gebaut ist, eine Lücke entdeckte, die das Gebäude unzusammenhängend und un
haltbar machte: so würde er doch als ein ver nünftiger Gegner seinen Angrif gleich und ge
rade zu auf diese entdeckte schwache Seite des Systems selbst richten; weil, mit dem Umsturz
H 5
dessel-
i22
Vorrede
Desselben, alles übrige, was damit zusammen
hangen könnte und möchte, von selbst über den Haufen fallen müßte!
Allein diese Beurthei-
ler finden das Lager, welches die Wahrheit
der Lehre der Nothwendigkeit sich aufgeschka-
gen hat, von allen Seiten zu fest, als daß ein Angriff auf sie selbst möglich wäre.
Es bleibt
ihnen also nichts übrig, als es abwarten zu müssen, wohin sie etwa bey erfolgtem Aufbruch
ihren Marsch nehmen? und ob sie den Ländern
und Völkem, wohin sie ziehen möchte; See gen und Beglückung? oder Verwüstung und
Fluch zufkchren werde?
Und hier, halten sie
dafür, seye mehr das leztere zu fürchten! als das erstere zu hoffkn!
volle Freunde!
Allein, ihr sorgen
bedenkt euch doch ein wenig
über das, worüber ihr euch Sorge macht! — Wenn ihr zugebet: daß die Lehre der Noth
wendigkeit, Wahrheit; und die Lehre vom
fteyen Willen des Menschen, Irrthum und Lüge sey! und denn iene in ihren Fel gen gefährlich, und diese in den ihrigen
beglückend finden wollt: ist das nicht die halbe Sünde wider den heiligen Geist, der ihr
euch
Vorrede. euch schuldig macht?
123
Ist!: es nicht eine offen
bare Lästerung der Wahrheit; und eine feyer-
liche Lobpreisung der Lügen? — Was für arme verlohrne Wesen wären wir alsdenn;
wenn die Wahrheit uns unglücklich ma chen könnte und müßte? und nur der Irr
thum eine Quelle des Seegens für uns wä
re? Und wie widersprechend;
noch Mehr:
mit welcher ausdrücklichen absichtlichen Anla
ge, um ganz gewiß elend und unglück lich seyn zu sollen; wären wir alsdenn gebil det! da uns Durst und Trieb nach Erkennt
niß; da uns Verstand, Vernunft und die Fä higkeit, Wahrheiten sammlen zu können und
zu müssen,
gegeben sind? wenn gleichwol die
se Wahrheiten das tddtende Gift unserer Ruhe,
Zufriedenheit, Freude und Glückseligkeit wä ren? Ist die Wahrheit das Bessere, und der Irrthum das Schlechtere! so deutlich: Ein
guter Baum könne nichts anders als gute Früchte; und ein fauler Baum könne nichts anders als arge Früchte bringen?-------Fast sollte man glauben, daß der fieberhafte
Anfall, in welchem einmal die Weisheit einer gewiß
Vorrede.
i24
gewissen Academie auf den unglücklichen Wahn geriech: daß die Täuschung desVolks durch
gewisse Irrthümer,
doch wol vielleicht
vortheilhafter seyn möchte; als seine Auf
klärung, so ansteckend gewesen: daß er auch die Sinne vieler zerrüttet habe, deren schlichter
Menschen - Verstand sonst von dergleichen An wandelungen frey geblieben styn würde.
3) Um alles Mißverständniß zu verhüten,
wollen wir die vorliegende Streiffrage genauer bestimmen.
Es ist nicht davon die Frage: ob
nicht der Mensch hinterher, nachdem er gehan
delt hat;
mit dem vollkommensten Rechte sa
gen könne: Ich bin mit meiner Handlung
dem Gesetze derNothwendigkeit unterwor fen gewesen? —
Ich habe es tausendmal
gesagt, daß dis auch der allerärgste Missethä ter von der allerabscheulichsten Handlung, die
er ie begangen hat, der strengsten Wahrheit
gemäß,
sagen könne!
Sondern, es ist davon
die Frage: ob der Gedanke: „Du handelst
nothwendig," irgend einem Menschen ein
besonderer., und für sich kräftiger Antrieb jemals
Vorrede. jemals seyn und werden könne;
125 irgend
eine Handlung, sie sey gut oder böse, zu begehen?
Ob die nackende Vorstellung
der Nothwendigkeit an sich te ein Bestim
mungsgrund,
und ein bewegendes oder
antreibendes Prinzipiumfürden handeln den Menschen seyn und werden könne?
dergestalt, daß ein Mensch aus dem Grmde, weil er weiß, daß er mit seinen Handlun gen überhaupt dem Gesetze der Nothwen
digkeit unterworfen ist, sich zu einer gewis sen Handlung entschließen könne, zu der er sich
sonst nimmermehr entschlossen haben würde; weil er sonst keinen Bewegungsgrund dazu hat
te? — Oder, ob dis vielmehr der ganzen menschlichen Natur, dem ganzen Trieb
werk derselbe» und allen denen Gesetzen,
nach welchen ein Mensch des Handelns nur fähig ist,
widerspreche? Ich denke,
daß
nichts leichter sey, als sich von dieser leztern
Behauptung zu überzeugen.
Denn:
4) Man sage mir doch, wo auch nur der
mindeste vernünftige Grund zu der Besorgniß
liege:
u6
Vorrede,
daß die Lehre der Nothwendigkeit Freveler und Bösewichter bilden könne? liege:
Was macht denn den Menschen handelnd? Ich denke Nichts sonst/
als
seine. Selbstliebe!
Dis ist ia die einzige Triebfeder aller und ieder unserer Handlungen ohne alle Ausnahme. Und wodurch wird diese Selbstliebe gestimmt,
re
giert und gelenkt? Durch nichts anders, als durch die Empfindungen, Vorstellungen, Meynungen und Erkenntnisse, die der Mensch von
seinem Glücke hat!
Wo chm seine iedesmali-
gen Vorstellungen und Erkenntnisse das Ziel seines Glücks anweisen; dahin streckt sich seine
Selbstliebe mit ihren handelnden Kräften. Al le seine sogenannten freyen Handlungen, die er unternimmt, haben cklfo stets die Vermeh rung seiner Glückseligkeit zur einzigen Absicht. Eine andere können sie schlechterdings nicht ha ben;
weil die ganze Einrichtung und Verfas-
snitg seiner menschlichen Natur iene nur einzig u»t> allein zulaßt.
Falle,
Wenn nun also in iedem
wo der Mensch mit Bewußtseyn han
daß er sich nach dem größten Glücke streckt, das er iezt delt, sein Handeln darinn besteht,
Vorrede.
127
iezt für sich zu gewinnen, für möglich halt? wie soll mir denn nun ein Mensch mit Beyseitsez-
zung aller der Berechnungen, ob sein Glück oder
Unglück dadurch gefördert werdet sich zu irgend einer Handlung entschließen,
und sie be
gehen können; pur und allein durch den einfa chen Gedanken dazu getrieben: Er wolle so
handeln; darum, weil alle Handlungen
nothwendig waren? Wenn ein Mensch auch die kleinste und unbedeutendste Handlung un ternehmen;
wenn er ein Blättchen unnützen
Pappiers zerschneiden wollte , unter dem Vor
wande:' „Er habe gar keine Bewegungsgründe dazu, die Mit feinem Glucke in Verbindung standen; seine Selbstliebe sey bey dieser Hand
lung ganz unintereßirt: nein, er handle iezt nur bloß und allein durch die Vorstellung dazu
bewogen, daß alle menschliche Handlungen
nothwendig waren:" wer siehet nicht, daß dis ein nichtiges Vorgeben; und die Absicht,
sich oder Andern ein kleines spashaftes Ver gnügen zu machen, das wahre Interesse sey, das ftlne Selbstliebe bey seiner gegenwärtigen
Handlung habe? Warum zerschneidet er denn
Nicht
V o r r e d e.
i28
nicht aus demselbigen angegebenen Gründeten so leicht eine Schuldforderung von tausend
Pfund, die er an einen Andern in.Handen hat? Offenbar doch wol darum nicht,
weil seine
Selbstliebe den Kaufpreis für ein so kleines
Vergnügen,
zu hoch finden würde!
Oder
will man sagen, daß es doch wol einmal der Fall seyn könne, daß ein Mensch umsonst und
um nichts ein solches Document zerschnitte: so wird man auch zugeben müssen; daß dis von ihm entweder nur in völliger Gedankenlo sigkeit, oder auf Anregmig blos dunkeler Em
pfindungen ohne alles Bewußtseyn geschehen
könnte;
wobey also auch keine Vorstellung,
von der Nothwendigkeit im Handeln, bey ihm ins Spiel käme:
oder alle Welt wird den
Menschen mit Recht für wahnsinnig erklären. — Wer noch mehr braucht, um sich hievon zu über
zeugen,
daß die Vorstellungen von unserm
Glück und Unglück die einzigen Bewegungs
gründe unserer freyen Handlungen sind;
der
entschließe sich einmal iezt, das Buch zuzuma
chen,
und hinzugehen und das erste das beste
Haus in den Brand zu stecken! Er muß aber
hiebey
Vorrede.
119
Hiebey keinen Vorstellungen/ ob ihmdteseHand-
lurg auf irgend eine Artvortheilhaft oder schäd lich seyn werde? ob es das Haus seines Freun des oder Feindes sey? ob es am Tage oder in der Nacht; unter den Augen oder in dek Ab wesenheit anderer Menschen geschehe? mit ei nem Worte, ob Gefahren oder Hostnungen für ihn dabey Statt finden; ich sage, er muß keinen solchen Vorstellungen, die auf feine Selbstliebe den mindesten Bezug haben, dabey Gehör geben! Er thue es, blos um zu zeigen, daß die einfache Vorstellung von der Noth
wendigkeit der menschlichen Handlungen einen Menschen zum Mordbrenner ma
chen könne! Wenn er das kann; so will ich der Erste seyn, der den Determinismum ver flucht.' Wer nur einigermaßen ein halbes Nach denken über diesen Vorwurf übt, der wird sich sogleich überzeugen: daß die Nothwendigkeit selbst gar nicht als eine besondere, würkende Kraft; sondern als eine bloße Eigenschaft der jenigen Dinge angesehen werden müsse, von welchen sie pradicirt wird. Die NothwendigSittenlehre. tv. Th.
I
kech
Vorrede.
rzv
feit, mit der ein Stern, der seine Unterstützung
verkehren hat, von einer Höhe fallt; haftet in ferner überwiegenden Schwere:
und ist
nichts anders, als eine, aus der ganzen Ra
sur und körperlichen Beschaffenheit des Steins
sowol, als atts seiner gegenwärtigen Lage, resultirende Eigenschaft.
Man nehme dem Stei
ne seine Schwere; oder, man gebe ihm eine Urrterftützung:
so ist feine Nothwendigkeit, zu
fallen, vernichtet. —
Nicht anders hat die
Nothwendigkeit im Handeln bey dem Menschen ihren zureichenden Grund irr der ganzen Ein
richtung seiner menschlichen Natur; in der Be-
fthaffenheit seiner Bestandtheile, und der Art, wie sie zusammengesezr sind; in denen daraus
entspringenden Fähigkeiten und Kräften des
Menschen; und in der äußerlichen Lage, in
welcher sich der Mensch mit seinem Vermögen zu empfinden, zu denken Md zu handeln befin
det.
Man verändere diese Dinge; so ist jene
Nothwendigkeit auch verändert.
Die Noth
wendigkeit, sage ich, ist also eine bloße Eigen schaft, die von denen Dingen, deren Eigen
schaft sie
ist,
nicht
getrennt
gedacht werden
kann;
Vorrede. kann;
izr
so wenig, als sich die Rundung eines
Tisches, als etwas besonderes, als von dem Tische selbst getrennt, und als etwas, das
außer ihm da seyn könnte, gedenken läßt. Mit hin gebe man doch auch nicht der Nothwendig keit etwas Schuld,
woran blos die Dinge,
deren blosse Eigenschaft sie ist, die einzige wahre Ursach sind! Man feinde doch die Nothwem
digkeit im Handeln bey demUebelthater nicht an: wenn seine Selbstliebe und die Vorstes lungen, die er von seinem Glücke hatte,
die nothwendigen Triebfedern waren, nach welchen er nothwendig handeln mußte: Oder, mit andern Worten:
Man glaube doch nichtz
daß die Lehre der Nothwendigkeit einen Men-
schen schlimm machen, und zu Schandthaten verleiten könnte,- die er sonst nicht begangen
haben würde: da seine Selbstliebe und die te® desmaligen Vorstellungen von seinem Glücke,
die einzigen Dinge sind, die ihn nur handeln
machen können! Man gebe Acht auf das, was in der Weit
gesihiehk, und man wird finden: daß, wenn ein neuer Lehrsaz auf die Bahn gebracht wird, 2 a
durch
LZ2
Vorrede.
durch welchen eine alte Religions- Meynung, die, sie mag auch in sich so falsch, abenteuer
lich uno dem Wohl der Menschheit schädlich seyn, als sie immer wolle; die doch nun ein mal herrschend geworden war, und seit langer
Zeit unter den öffentlichen allgemeinen Mey
nungen der Menschen das Bürgerrecht gewon nen und behauptet hatte;
ich sage, man wird
es unter den Gewohnheiten in der Welt finden,
daß, wenn ein neuer Lehrsaz auf die Bahn ge bracht wird, durch welchen eine alte schon ge huldigte Religions-Meynung über den Hau fen geworfen wird; daß alsdenn die Vertheydiger der Lejtern^ wenn sie nicht weiter kom
men können, gemeiniglich in das Gefchrey aus brechen:
„Wenn diese Religions-Lehre weg
fallensoll? so sind die Bande zerrissen, die das
Volk noch in Zucht und Ordnung halten! so fallt alles hinweg,
gel war!
was noch Zaum und Zü
so ist allen Lastern Thür und Thor
geöffnet! so kann ein Jeder thun, was er will!" Ich sage,
man nehme einen neuen
Lehrsaz, welchen man wolle;
greift derselbe
ein theologisches Hirngespinst an? so ist ienes blinde
Vorrede.
rzz
blinde Geschrey schon das, auf einen solchen Vorfall längst componkrte Liedchen, das das Heer der achten Theologen und Geistlichen sowol, als auch "derer weltlichen Standes, die ihre Vernunft am geduldigsten von Jenen un ter den Gehorsam des Glaubens hatten gefan gen nehmen lassen, anzustimmen gewiß nicht verfehlen werden. Man kehre den Fall um. Gesezt, die Lehre her Nothwendigkeit wäre die zeither herrschende Lehre gewesen: und es träte
Jemand auf, der da behauptete: daß der Wille des Menschen in seinen Entschließungen frey und unabhängig wäre! so würde Lenes Geschrey nicht weniger gehört werden. Freylich würde es m dem leztern Falle noch mit einigem meh rerem scheinbaren Rechte gemacht werden ktzn. nen; als es in dem gegenwärtigen Falle, wo
der Determinismus dem Jndeterminismo den Krieg ankündiget und ihn aus dem Lande, das er zeither usurpirt hatte, zu verdrengen drohet; geschehen kann. Und ich finde nöthig, dis noch durch ein paar Worte in em naheres Licht. zu setzen.
I 3
Wäre
134
Dorre d e.
Ware der menschliche Wille würklkch frey,
vnd in seinen Würkungen von allen Vorstel
lungen und Bewegungsgründen des Verstan des unabhängig: Gott, welche schreckliche Un
sicherheit wäre alsdenn in der menschlichen Ge
sellschaft für das Wohl eines Jeden da! Ich
wäre La bey meinem besten Freunde nicht sicher, sondern stets der Gefahr ausgesezt; daß es sei nem Willen, der an kein Gutachten, an keine
Motive des Verstandes gebunden, wäre, ein fallen machte: mich pldzlich zu erwürgen! Der
arme Mensch könnte auch selbst nichts dafür, wenn er es thäte.
Es könnten ihm keine Vor
würfe darüber gemacht werden.
Denn sein
Wille wäre ein soaverainer Herr, der keiner
Vernunft unterworfen wäre; sondern aus ei-,
gener Macht und aus eigenem Triebe sich ent
schlösse, wie es ihm gerade einfiele! und seine handelnden Kräfte, durch welche der Entschluß ausgeführt wurde, waren ia die bloßen Instru
mente in der Hand des blinden Willens.
Der
arme Mensch wäre auch keiner Besserung fähig.
Denn wodurch sollte diese bey ihm bewürkt werden?— Etwa durch Unterricht und Vor-
stellun-
rzz
Vorrede.
stellungen? Aber diese Dinge sind ia m'cht das, ienige, wodurch der despotische Wille gezügelt
werden könnte!
Wenn doch diejenigen,
die
die Lehre der Nothwendigkeit, als eine Ver
führerin zu den gröbsten Schandthaten und Zü gellosigkeiten anfeinden tvollen; nur ein klein
wenig nachdenken wollten: was aus emer
ungebundenen Freyherr des Willens für
fchreMche Dinge zu erwarten und zu be fürchten standen; so würden sie über die Ver blendung^ in der sie waren, erschrecken! eine
Verblendung, die so groß ist, daß sie gerade
dasjenige, was die unmittelbare und unausbleibkiche Folge der Freyheit, des Wil
lens, wenn sie würklich wäre, feyn müste;
dem Determinismus Schuld geben wol len, der die fthnur gerade entgegengesezte
Ich habe.schon im
Folgen nach sich zieht:
ersten Theile pag. 164. u. 170, gesagt: „daß,
„wenn eine würklicye Freyheit des Willens, „Statt fände; alsdenu auch die beste Sittenlch-. „ re ganz unnüz seyn würde.
Ermahnen, Blt-
„ten, Drohen, Straftn, Verbrechen, Ve rlohnen, alles würde ganz vergeblich seyn.
«5 4
>» «ölt
13,6
Vorrede.
„Die ganze menschliche Tugend, alle Gesetze, „Regeln, und Verbindlichkeiten würden keine „Kraft und Reize haben. Keine Gelübde, „Eide, und Betheuerungen würden den Men„schen binden und festhalten können; wenn seilt „Wille despotisch; und er in seinen Handlun„gen, nach der Einrichtung seiner Natur, von „allen Bewegungsgründen und Erkenntnissen „unabhängig wäre. Kein Mensch würde ei?
„neu Eharacter haben; tyeil er keine festen „Grundsätze seiner Handlungen hätte. Stün„ve es so mit uns; so würden wir uns auf kei,,nen Menschen, selbst auf unsern besten Freund „nicht verlassen, uns auch nicht einen Augen„ hliek bey. ihm sicher halten können. Kurz, ich „möchte um alles in. der Welt willen nicht in „einer Gesellschaft, leben; wo ein Jeder ohne „alle Betyegungsgründe blinde Entschließun-
„gen fassen,, und ohne irgend eine Regel han„deln könnte l Hier würde ich überall, der Rauh
„'eines bloßen Zufalls seyn."
Die Verfechter der Freyheit des menschlihchen Willens bedenken gar nicht;
daß sie ge? tzado
Vorrede.
137
rade durch diese ihre' Behauptung der
Freyheit, Erz-Fatalisten sind! Was ist der Determinismus?
Was ist der Fatalismus?
Der Determinist behauptet: daß ewige und
unwandelbare, aber zugleich die weisesten
Gesetze da sind, nach welchen alle Verän derungen und Begebenheiten in der Na
tur, mithin auch alle Handlungen der Menschen, nothwendig erfolgen; und nach welchen sich alles zu den herrlichsten Absich
ten und Zwecken entwickeln muß.
Der
Fatalist hingegen behauptet eine solche eiser
ne Nothwendigkeit aller Dinge und Be
gebenheiten, folglich auch der menschlichen Handlungen in der Welt, die von einem blinden Ohngefehr herrührt; an keine Re
geln und Gesetze gebunden ist; auch keine vernünftigen Zwecke und Absichten zum
Ziel hat.
Ich gebe es gerne zu, daß. unsere
christlichen Theologen in Ansehung aller übri gen Begebenheiten in der Natur, eine göttli
che Vorfthung lehren, und folglich in Ansehung der, ausserhalb dem Würkungs - Creyse dee.
Menschen sich zutragenden natürlichen EreigÄ 5
Nisse,
!Z8
Vorrede.
Nisse, keine Fatalisten sind: aber in Ansehung
-er menschlichen Handlungen sind sie durch
ihre Behauptungen einer ungebundenen
Freyheit des menschlichen Willens, die äch testen Fatalisten von der Welt! Sie unter schreiben also gerade dem allerwichtigsten
Hauptartikel des trostlosen Fatalismus!— Wenn also auf einer von beyden Seiten, ent
weder beym Determinismus, oder bey der
Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens, Unglück zu befürchten ist: auf wel che Seite wird sich die Schaale neigen? Warlich nicht auf die Seite des Determinismus, der es lehrt: daß die Selbstliebe die einzige Triebfeder aller menschlichen HaMungen sey!
daß sie selbst aber durch die iedesmaligen Vor stellungen, die der Mensch von feinem Glücke
hat; in ihren Würkungen bestimmt, regiert und gelenkt werde! Hier bin ich also bey mei
nem Freunde sicher; hier weiß ich, wie ich mei
nen Feind auf andere Gedanken und.Entschliessimgen bringen; wie ich dem ruchlosesten Fre-
veter beykommen könne,
um das Triebwerk
und die Gewichte an der Uhr, die er selbst ist,
so
Vorrede.
139
so zu verändern, daß sie einen bessern Ton an geben,
und einen richtigern Schlag
halten
muß! Hingegen bey der fatalistischen Lehre
deS freyen Willens!— Ja, hier würden schon tausendfaches Elend und Unglück dm Erdboden
längst
überschwemmt,
und das
menschliche Geschlecht sich selbst aufgerieben haden: wenn sie wahrhaftig Wahrheit, und nicht vielmehr, zum unaussprechlichen Glück
der Welt und des Menschengeschlechts, eine
Erzlüge wäre! ein bloßes Hirngespinst, mit welchem sich die Phantasie des Menschen etwas
vom Besi'z einer Freyheit vorgauckelt; wäh
rend daß der Mensch selbst, in allen seinen Em pfindungen, Gedanken, Entschließungen, und
Handlungen an daS feste Seil der Nothwen
digkeit wahrhaftig unauflößlich gebunden
einhergeht,
und nolens volens einhergehen
muß!— Diese in actu sich befindende Noth wendigkeit, sage ich, ist noch unser größtes Glück! Wem man aber auf die schrecklichen Folgen sieht, die die Lehre von der Freyheit des
menschlichen Willens fowol in Ansehung Selbstbeurtheilung unserer eigenen Handlun
gen;
Vorrede,
i4 sehr bewunderte Zärtlichkeit der Eltern gegen ihre Kinder; die so sehr gepriesene Freundschafts--Treue;
die oft romanhafte grosmüthigeAufopferung für seinen Freund oder Verwandten; gerade zu ein Laster!
wenn sie gegen die höhere Pflichten gehalten wird, die
man der Gesellschaft schuldig ist.
Ist es nicht un
vernünftig; den Ruhm eines allgemeinen Mens
fthenfreundes, dem kleinen und nur allzuoft phan
tastischen Rahmen der Freundschasts und Verwandrschafrs Liebe,
es sey in welchem Falle es
wolle, aufzuopfern? Die Wohlfarth der großen Ge sellschaft des ganzen Menschengeschlechts,
ist ia das
Ziel, wohin alle Absichten der Vaterlands-Gesellschaft ten und der Privat-Freundschaften und Verwandtschaf
ten gerichtet seyn müssen! Jene große Gesellschaft ist das Ganze; diese kleineren Verbindungen sind die Thei le ieneS Ganzen.
Jede der leztern also, die jener wi
derspricht; ist unanständig und schändlich: und jeder
Vortheil, den du durch die leztern kleinern Verbindun
gen gewinnen könntest; verdient mit Abscheu verwor fen zu werden, wenn er der allgemeinen Wohlfarth
zum Nachtheil gereicht. — Alle Privat-Freundschaf-
ten, alle Verwandtschafts-Verbindungen, die von ei ner blinden Partheylichkeit, von einem Eigennütze, der
sich von der Wohlfarth der übrigen Gesellschaft trennt;
belebt und unterhalten werden: sind um nichts besser als
i 2
eine
164
Von der Gütigkeit überhaupt,
eine öffentliche Räuberbande; als eine nieder
trächtige Rotte von Verrärhern.
Ja iene
sind eben darum, weil sie öffentlich bestehen dürfen, und für ihr Daseyn eine Art von Privilegium haben;
in ihren verwüstenden Würkungen für die Wohlfarth der größer« Gesellschaft,
als diese.
oft tausendmal schädlicher,
Es liegen bey jenen eigennützigen Freund
schafts und Verwandtschafts Verbindungen eben die finstern und unglücklichen Absichten zum Grunde, wie
bey den Räuberbanden: und diese haben im übrigen eben die Kenntzeichen und Eigenschaften der Freund schaft an sich; auf welche iene stolz seyn wollen. Aehnlichkeit der Gemüther und Neigungen, gemeinschaft
liche Vortheile, Verschwiegenheit, Dienstbeflissenheit, Leistung des Beystandes und der Hülfe, gegenseitiges
Vertrauen, ia sogar Zärtlichkeit und eifrige Liebe für einander:
alles dis finde ich bey der Räuber
bande so gut,
als bey ienen Freundschaften
und Verwandtschaften.
Und wie viele Freund
schaften rind Verwandtschaften findet man, die ienen schändlichen Flecken eines niederträchtigen Eigennrißes
nicht an fich tragen? und wo kein Privat-Interesse die Verbundenen oft aufKosten der allgemeinen Men schenliebe handelnd macht?
Nur ein zu schwacher
Kopf, als daß er eine Uebersicht her wahren menschli chen Vollkommenheit und Glückseligkeit fähig wäre; nur
Von der Gütigkeit überhaupt.
165
nur ein zu enges Herz, als daß es eine allgemeine Men schenliebe fassen könnte; gehören dazu; um sich mrc
kleinen und kriechenden Absichten in den engen Zirkel stiner Verwandtschaft und Freundschaft einsperren; hier
nur allein qlles gut, schön, liebens, und lohenswürdtg
finden; hier nur mit eigentlichem Gefühl und würklicher Theilnehmung an Freude und Traurigkeit leben;
und den Bestrebungen feiner Kräfte zur Beförderung der Wohlfarth Anderer, hier das erste und lezte Ziel
setzen zu können!
mehr sich hingegen eine Freund,
schäft auf wahre und für die Gesellschaft ersprießliche
Eigenschaften gründet, die man an dem Freunde wahr nimmt; und ie mehr die Hochachtung und Liebe nur
-en guten Eigenschaften des Freundes angemessen bleibt:
desto vernünftiger, edler und dem Menschen anständi ger ist sie nicht nur; sondern desto fester und sicherer ist auch der Grund der Freundschaft selbst; desto dauerhaf ter wir- sie also auch bestehen. Alle Freundschaft aber,
die die Embilduyg hauptsächlich stiftete; die etwa aus blos müßigem Einfall, oder aus Eigensinn, oder aus
Liebe zum Sonderlichen, oder aus andern Vorvrtheilen entstand; die sich etwa nur auf Gewohnheit^ oder blos se Aehnlichkeit gewisser Neigungen, oder auf Eigen* nuz, auf Gewährung sinnlicher Vergnügungen haupt sächlich gründete; oder, die eine gewisse blos sinnliche Anhänglichkeit an gewisse Personen war, die. uns ge-
L 3
fielen,
166
Von der Gütigkeit überhaupt,
fielen, ohne daß wir selbst sagen konnten, warum? das sind auch gemeiniglich sehr kurze Zeit währende
Freundschaften! Je größer die Hitze der Leidenschaft
war, mit der sie entstanden; desto gewisser und ge
schwinder pflegen sie zu erkalten, und aus diesem Kalt sinn sich endlich wol gar in gegenseitige Verachtung und
bitteren wechselseitigen Haß aufzulösen.
3) Eben so verhält es sich auch mit der Vater«
lands-Liebe.
Auch diese muß ein Zweig der allge
meinen Gütigkeit und Menschenliebe seyn, wenn sie
Billigung und Lob verdienen soll.
Wenn eine Vater
lands-Gesellschaft von einer weisen Obrigkeit durch sol che Gesetze regiert wird, die das Glück der Gesellschaft
zur Absicht haben; die die Kräfte derselben in ihrer
Thätigkeit auf dis Ziel Hinweisen; und die Freyheit zu
handeln, bey den Bürgern nur da einschränken, wo sie für die Wohlfarth des Ganzen zerstöhrend werden wür de; wenn die Einwohner dieses Landes von einem all gemeinen Geiste der Eintracht und des Wetteifers be
lebt werden, sich durch schöne und nüzliche Handlun gen, die zur Abhelfung der Bedürfnisse/ und Vermeh
rung des Glücks in der Gesellschaft dienen, hervorzuthun; und ein Jeder in seinem Berufe nach Maaß
gabe seiner Kräfte hierin dem Vaterkande die besten Dienste zu leisten sich bestrebt; wenn endlich diese ganze
Vater-
Von der Gütigkeit überhaupt.
167
Vaterlands-Gesellschaft, alle Ausländer, als ihre Brü
der ansiehk, die durch weiter nichts, als durch gewisse Grenzlinien auf der Oberfläche der Erde; durch andere
Menschen, die sie zur Obrigkeit habe«; durch andere
Gesetze, nach welchen sie regiert werden; und durch ei
nige andere Unterschiede, -die der Fleck Erde, auf wel
chem sie wohnen, und derHimmelsstrich, unter welchem sie leben, für sie mit sich führen, deren keiner aber die
Gleichheit ihrer menschlichen Naturen überhaupt auf»
hebt; von ihnen geschieden sind: wenn das alles, sage ich, sich bey einer Vaterlands-Gesellschaft befindet; denn kann ein solches Land nicht nur für sich selbst glück lich gepriesen, sondern auch eineLeuchte und ein Serge» für alle benachbarte Lander genannt werde».
Aber,
wenn die Vaterlands-Liebe Verachtung und Haß.ge
gen andere Nationen mit sich führt; wenn sie auf un gerechte Eroberungen, aufVerwüstung fremder Länder
ausgeht; wenn sie sich berechtiget halt, die Rechte der Ausländer kranken zu dürfen, so bald sie dis thun zu
können nur vermag: denn ist die so gepriesene Vater»
landtz - Liebe, und der durch gleisnerische Lobsprüche bis in die Wolken erhobene Patriotismus; eben das Band, welches eine Räuber-Rotte zugleichenAbsich-
ten vereiniget. —- Freylich ist es, wie oben schon ge sagt worden, immer traurig, daß unser gegenwärtiges
Zeitalter noch so viele Wildheit der Sitten mit sich führt; L 4
daß
168
Von der Gütigkeit überhaupt.
daß es insonderheit nochsoviele Vorsteher einzelner gros ser Gesellschaften gibt, die als Sclaven ihrer Leiden schaften mehr von den Eingebungen her Einbildung, als von Urtheilen der Vernunft abhangen; die daher fähig sind, die Kräfte ihrer Unterthanen zur Beein
trächtigung und zu gewaltthätigen Angriffen ihrer
Nachbarn zu mißbrauchen ’ Dadurch wird freylich die angegriffene Gesellschaft in den traurigen Fall der Noth
wehr gefezt; und ihre Glieder werden gezwungen, ihre
Wohlfarth, mit einer Art von Partheylichkeit, als geschieden von. der Wohlfarth der anfallenden Gesellschaft,
anzusehen; sie gegen diese zu vertheydigen; ia ihre Er haltung wol gar in der Unterdrückung unbZerstöhrung
des Glücks der andern Gesellschaft selbst zu suchen! Freylich macht es auch die traurige Möglichkeit, daß solche feindselige Angriffe leicht geschehen könnet«; ei
ner jeden Vaterlands - Gesellschaft immer noch zur
Pflicht, stets gegen ihre Nachbarn auf ihrer Hut zu seyn: um die Gefahr, so viel möglich, abzuhalten;
und wenn sie dennoch einbricht? um gegen dieselbe gerüstet zu seyn.
Allein so rechtmäßig auch die Vorsicht
für ihre Sicherheit ist, welche jene Wildheit der Sit ten einer jeden friedliebenden Gesellschaft nothwendig
macht; so wird doch jene Wildheit selbst, vor dem Richterstuhlc der Vernunft nie ihre Rechtfertigung finden.
Können Unordnungen überhaupt nie die Vorschriften
der
Von der Gütigkeit überhaupt.
169
per Sittenlehre aufheben; so können auch Beleidigun
gen, welche die eine Vaterlands-Gesellschaft der an dern zufügt, und wodurch lene, diese zu ihrer Verthei digung berechtiget;
nie die Pflicht der allgemeinen
Menschenliebe über den Hausen werfenEs ist übrigens billig und gerecht; derjenigen Ge-r
scllfchaft, die mich bey meiner Ankunft als Mensch,
unter sich aufnahm; von der ich meine erste Pflege und Erziehung genossen; deren Liebe und Sorgfalt ich mein.
Daseyn, meine Erhaltung, meine Ausbildung und Brauchbarkeit zunächst zu verdanken habe: es ist, sa
ge ich, billig und gerecht, feinem Vaterlands auch seine Rräfte vorzüglich zu widmen; und sich demselben durch die ernstlichsten Bestrebungen, die
man anwendet, sich um das Wohl desselben auf die be ste Art verdient zu machen; dankbar zu erweisen-
4) Unsinn ist es, die Verschiedenheit der Re ligions-Begriffe und Gebräuche, zur Ersti
ckung des Menschengewühls bey sich kräftig
seyn zu lassen.
Der Begrif eines zureichenden
Grundes aller Dinge ist und bleibt doch, nun ein
mal nur ein allgemeiner Begrifr. von dem sich
durchaus keine einzelnen, näheren Bestimmungen, die
die innere Natur und Beschaffenheit jenes Grundes be
trafen; mit Sicherheit angeben lassen.
L 5
Wir haben
obey^
17o
Von der Gütigkeit überhaupt.
oben gesehen: daß kein einziges noch so vernünf
tiges Wesen mit Deutlichkeit über sich sehen,
und die Hähern Wesen erkennen könne.
Sein
Gesichtöcreiß faßt nur einen Theil dessen, was neben, und unter ihm ist. Vorstellungen,
Mithin sind alle die Bilder,
Erzehlungen und Beschreibungen,
welche sich die Menschen von den inneren Naturen und Wesen ihrer Gottheiten machen; bloße Geschöpfe ihrer
Phantasie. Warum willst du ihnen nun diese unschad-
Üchen Geschöpfe nicht lassen? Warum willst du ver langen, daß das Deinige allein gelten, und von
allen übrigenMenschen auchverehrtundangebetetwer-
den solle? Einen zureichenden Grund von den da seyenden Pingen glauben gewiß alle Menschen, die
einiges Nachdenkens darüber fähig sind. Laß aber den Einen, diesen zureichenden Grund mit dem Nahmen Gott; den Andern und Dritten, mit den Wörtern,
Schicksal und Ohngefehr sich bezeichnen; laß den Vierten sich eine unendliche "Rette von Ursachen darunter vorstellen,
oder, ihn die Unendlichkeit
selbst nennen: u. si w. das alles ändert ihre mensch liche Naturen nicht, die du au ihnen lieben und ehren
sollst. Ketzer,
Daß der Andere, ein Irgläubiger, ein Götzendiener,
ein
ein Ungläubiger
u. s. w. ist; das ist am Ende und beym Lichte besehe»,
doch nichts weiter, als ein Urtheil, das blos deine Ein bildung
Von der Gütigkeit überhaupt.
171
bildlmg nach gewissen von ihr selbst erdachten Regeln fället! Daß er aber vom Scheitel bis zur Fuß» fohle ein tllcnfd) ist, wie du; das ist doch ein Ur«
theil aller deiner Sinne, deines Verstandes, und dei ner Vernunft, dessen Wahrheit du dir auf keine mög
liche Weife ableugnen kannst! Welches Urtheil soll nun mehr gelten und den Vorzug bey dir haben ?
5) Kaum wird es nöthig seyn,auch nur mit einem
Worte der Schuldigkeit,
auch den Feind liebe»
zu müssen ; Erwehnung zu thun.
Der Feind ist
ia auch ein Mensch: und hört ia auch durch die gröste Beleidigung,
nicht auf, es zu seyn!
die er mir anthut, Dy sagst, ia; aber ich
kann und darf doch den Freund mehr liebe», als den
Feind.
Ich antworte: was den Grad der Liebe über
haupt betrift; so würde sich darüber noch wol sehr vie les deiner Behauptung entgegensetzen lasten. Der Un
terschied zwsschen der Liebe des Freundes; und derjeni
gen, mit welcher dein Herz dem Feinde schlagen soll;
liegt hauptsächlich in der Art der Liebe, und in den ver schiedenen Aeusserungen undWürkungen, durch welche
sie sich nach der Verschiedenheit des Gegenstandes - of fenbaren und geschäftig zeigen muß und kann.
Die
Liebe zu deinem Freunde aussert sich durch Zutrauen;
die Liebe zu deinem Wohlthäter, durch Dankbarkeit; die
172
Von der Gütigkeit überhaupt.
die Liebe zu deinem Feinde und Beleidiger, soll sich
durch Mitleiden und brüderliche Zurechtweisung dessel ben rechtfertigen, tteberall also bleibt es doch dieselbige
Liebe, die du Keinem, der Mensch ist, entziehen darfst;
er mag denn auch in seinen übrigen Verhältnissen ge gen dich seyn, wer er wolle? Wir haben oben gesehen, daß der Feind so wenig für seine Beleidigungen kann,
mit denen er dich verfolgt; als der Wohlthäter für sei ne Freygebigkeit, mit der er dich beglückt; weil Bey
de, mit ihren ganzen Empfindungs-Vorstellungs-und
Handlungs-Systemen dem Gesetze der Nothwendig keit unterworfen sind: und wir wollen uns also hier kei
ner unnöthigen Wiederholungen dessen, was schon dar
über gesagt ist, und was ganz natürlich daraus herfließt; schuldig machen.
Dis mag genug zur Beantwortung der hauptsäch lichsten Einwendungen seyn, welche die Einbildung
wider das große Gesez der allgemeinen Menschen
liebe zu machen pflegt.
Die übrigen nichtigen Be
helfe, womit sie dem Partheigeiste das Wort reden,
und die Einschränkungen der Menschenliebe, die ein kriechender Eigennuz in, einzelnen Fällen anräth; be
schönigen will: finden theils in dem, was schon gesagt ist, zugleich mit schon ihre Abfertigung; theils soll ih
nen diese noch in der Folge, so wie die Gelegenheit bey
denen
173
Von der Dienstfertigkeit.
Lenen noch abzuhandelnden Wahrheiten dazu erscheinen
wird, gewähret werden.
II. Worinn äußert sich nun diese allgemeine Menschenliebe insonderheit?
Oder: wel.
ches sind die vornehmsten Tugenden, welche in der Haupttugend der Gütigkeit eingeschlos-
sen liegen? Wir wollen derselben viere angeben. Dienstfertigkeit.
Barmherzigkeit.
1) Die
2) Das Wirleiden und die. 3)
Die Zurechtweisung.
4) Die Dankbarkeit.
A. Von der Dienstfertigkeit. Die Dienstfertigkeit besteht in der Bereits Willigkeit, Andern in ihren Angelegenheiten zur Beförderung ihrer Wohlfarth so viel zu
starren'zu kommen, als nur ohne unsern ei
genen großem Nachtheil möglich ist.
Diese
Tugend verlangt also nicht, daß ich meine eigene Wohl
farth hassen, oder sie der Wohlfarth meines Neben menschen gerade zu aufopfern solle ! Sie verlangt nur,
daß ich mir Mühe geben solle: meine Und meines
Nächsten Angelegenheiten und Bedürfnisse,
und
die beste Art ihnen abzuhelfen; so weit es ohne Vorwiz.
gesche-
174
Von der Dimstfettigkert.
geschehen kann, richtig kennen zu lernen.
Sie erlaubt
mir, daß ich alödenn meiner Wohlfarth überhaupt genommen, den Vorzug vor der Wohlfarth meines wachsten gestatte.
Sie gebiethet mir aber, die
Bedürfnisse
Angelegenheiten
und
meines
LTlächsten ebenfalls als die meinigen anzusehen;
mithin meine Bemühungen und die Aufopferung eines,
in Betracht meiner, kleineren Guts, das mir gehört, nicht zu achten; um seinen Wohlstand durch die Zu
wendung desselben an ihn,
als eines ihm grösseren
Guts, zu erhöhen. — Durch eine jede gesellschaft
liche Tugend, die ich übe, fördere ich zugleich mein ei
genes Glück; weil ich die allgemeine Wohlfarth, mit hin auch meinen Antheil an derselben dadurch größer
mache.
Dis geschicht auch, wie wir bald sehen wer«
den, durch die Dienstfcrtigkeit wahrhaftig, in.vorzüg
lichem Maaße.
Sie ist es, mit der sich der Mensch
in der Gesellschaft, auch bey seinen großmüthigsten und uneigennützigsten Absichten, mit welchen er sie ausübt, doch im Grunde selbst am meisten seegnet und beglückt. Unsere Selbstliebe verliehrt also nichts bey ihr: son
dern, was sie zu verliehren und aufzuopfern scheint;
gewinnt sie mit tausendfachem Wucher.
Aber sie
scheint zu vcrliehren! Das ist wahr; wenn das Au ge nur flüchtig auf der Oberfläche hinweg zu sehen sich
begnügt.
Wo der Fall da ist, der mich zur Dienst
fertig-
Von der Dienstfertige.
175
fertigkeit aufrufft: da fordert diese Tugend, daß ich nicht zunächst meinen eigenen Vortheil; sondem
den Wohlstand des Nächsten zur Absicht haben solle.
Sie fordert sogar ausdrückliche Aufopferungen
von mir ; und sezt denselben nur das Maaß: daß mein geftrmmrer Wohlstand nicht mehr, und auch
nicht so viel, durch diese Aufopferungen lei de; als der gesammre Wohlstand des Näch
sten dadurch gewinne.
Sie verlangt: daß ich
die Angelegenheiten meines Nächsten, jedoch ohne dem
Vorwitz zu stöhnen, gerade zu für die meinigen
halten; und denn nur bey der Besorgung derselben die
. Vorsicht gebrauchen solle: kein größeres Gut für den Gewinn eines kleinern hinzugeben.
Sie
kann also mit keinem kriechenden Eigennuz, der auf
irgend eine Vergeltung von Ruhm, oder Dankbarkeit, oder Gewinn sieht; bestehen.
Sie verlangt vielmehr,
daß meine bloße Kenntniß, die ich von den Bedürfnis sen meines Nächsten erlange, schon hinreichend seyn
soll, mich zu bewegen; auf die besten Mittel zu den ken, wie ich ohne Verletzung höherer Pflichten ienen abhelfen könne: und sie will sich nicht eher befriediget halten; als bis ich diese Abhelfung würklich nach mei
nem besten Vermögen zu bewerkstelligen gesucht habe. Hiezu soll ich mich sofort, als jene Kenntniß bey mir
cintrikt, aufgefordert fühlen; ohne durch fremde Vorstellun-
176
Von der Dienstfertigkcit.
stellungcn und Bitten, oder andere eigennützige Bewe-
gungsgründe mir meine Dienstleistung erst abdringen
zu lasten.
Erlaubt es denn der Fall, daß ich bey der
Hülfe, die ich Meinem Nächsten leiste; zu gleicher Zeit meine eigene Wohlfarth dadurch mit erhöhen kann;
ohne iebdch, daß jene Hülfe dadurch aufhört, eine wah-
re Hülfe für ihn zu seyn: so hak die Tugend der Dienst
fertigkeit nichts darwider.
Z. E. wenn ich Jemanden
zur bestekn Bestreitung seiner Wirthschaft mit Vorschuß
unterstütze; ihn dadurch üuS gegenwärtigem Mangel rette; und in die Möglichkeit setze- feinen RahruNgSstand verbessern Zu können: so erlaubt ste es mir voll
kommen;
nach dem Maaße, als es die Billigkeit
in dem jedesmaligen Falle angibt Und zuläßt; es sey durch Zinsen, oder, auf anderweitige Art; an dem Ge nuß seiner Vortheile , die ich ihm verschaffte, Antheil zu nehmen. Hieraus folgt:
daß also folgende Personen UN-
dienstfertige Menschen genannt zu werden ver
dienen»
t) Diejenigen, die sich, es sey aus Stolz, oder Eigennuz, oder Weichlichkeit und Liebe zur Bequem
lichkeit, oder Leichtsinn, oder Fühllosigkeit und Man gel an Menschenliebe, oder aus Furcht, daß ihnen ih
re jetzige Dienstfertigkeit künftig zur Schuldigkeit gerech-
Von der Dienstfertigkeit.
177
gerechnet werden mögt«, oder sonst aus einer andern schlechten Ursach; die, sage ich, sich gar nicht um Me Angelegenheiten Anderer bekümmern; die einen Jeden sich selbst überlassen, und nur bauini in Lex Gesellschaft zu leben glauben, daß sie sich dien en lasten. Man will hier nicht dem Vorwitze das Wort reden. Dieser ist schon oben bey der Fried serkigkeit verboten worden. Keiner soll sich in solche Ange-l^enheiten des Nächsten mischen, die ihn nichts an gehen; die sich der Nächste selbst besorgen kann und wird, imb wozu er meiner Beyhülfe gar nicht bedarf; an welchenTheil zu nehmen, mich also gar keine Pflicht .auffordert: sondern deren Besorgung dem Nächsten selbst zu überlassen; mirvielmehr die schuldige Achtung, welche ich für seine Freyheit haben soll, gebeut. Ein Mensch, der nicht ganz gedankenlos in derGchllschaft zu leben gewohnt ist, wird diejenigen fremden Angele genheiten, in welche sich nur derVorwiz mischen kann; von allen übrigen, zu deren Theilnehmung ihn die Dienstfertigkeit auffordert, sehr leicht zu unterscheiden wisse«. — Allein diese leztere Gattung von Angele genheiten und Bedürfnissen des Nächsten auch stets so ganz übersehen, und sich seiner Verpstichtung zur Dienstfertigkeit sogar nicht bewußt seyn und werden zu können: das ist denn doch gewiß ein Zeichen eines schlechten uqd unwürdigen Mitgliedes der Gesellschaft; SlttenlehrelV.rh. M und
17%
Von der Dienstferrigkeit.
und ein Beweiß, daß der Undienstfertige keine gesunde
unb vernünftige Begriffe von seiner eigenen wahren
Glückseligkeit und von der achten Würde und Vollkom menheit der menschlichen Natur habe; auch daß ihm -alle edlen Empfindlmgen der wahren Menschenliebe fehlen »Nüssen.
Manche Menschen wollen ihre Undienstfertigkeit
damit entschuldigen, daß sie vorgeben: es sey zu besor-
gen, daß ihnen der heurige Liebesdienst, den
sie leisteten;
in der Zukunft zu einer Schul-
digkeir, die dir Gerechtigkeit von ihnen for dern könne, gerechnet werden mögre.
Allein
diese betens en nicht, a) daß alle Aeußerungen der wah
ren Dienstfertigkeit und Menschenliebe, wenn sie schon
Nur unvollkommene oder Liebes-Pslichten sind; doch immer Pflichten sind und bleiben,
von denen ßch
fein guter Mensch und Bürger einer Gesellschaft auch
nur mit dem schwächsten Scheine des Rechts überhaupt
lossagen könne,
b) Daß es in der Gesellschaft Mit
tel und Wege genug gebe; um den ungerechten und undankbaren Znmuthungen und Anforderungen eines Andern Schenken zu setzen,
c) Daß die Besorgniß:
daß ein gegenwärtiger Liebesdienst künftig Schuldigkeit werden mögte; höchstensdoch mirerst durch eine unzählig oft, und viele Jahre hindurch geschehene Wiederholung
ein
Von der -Diensifertigkeit.
179
ein und eben derselben That, oder der Erweisung der
selben Gefälligkeit, nach allen ihren auch den klein, sten damit verbundenen Umstanden, begründet werde« könne.
Und wie leicht ist eine solche identische Wie
derholung zu vermeiden?
Wie viele Abanderunaeu
derselben biethet die Folge der Zeit an?
Wie viele
macht sie nothwendig? Wo ist stets dasselbe Bedürf
niß in feinen kleinsten Theilen und Umständen für den Nächsten fortdaurend da? u. s. w.
Man müßte sehr
blöde Augen haben, wenn man nicht sehen könnte: daß solche Menschen, die so zärtlich für ihre Rechte wacher,,
daß sie von jedem Liebesdienst, den sie erweisen sollen,
eine Kränkung derselben auf künftige Zeiten schon zum
voraus befürchten; dieseBesorgniß nur zum Vorwan de gebrauchen, worunter sie ihre lieblosen, eigennützi gen und nichtswürdigen Gesinnungen zr> verbergen suchen.
s) Diejenigen, die blos in Worten dienst
fertig stnd.
Die, weil ihnen die Schönheit und der
Werth dieser Tugend wol nicht unbekannt ist;
aber
doch auch nicht in seinem vollen Glanze in die Augen
strahlt; alles zu thun glauben, was von ihnen gefor dert werden könne: rvenn ste in bloßen Zusagen und
Versicherungen
freygebig sind.
ihrer
Dienftferrigkelk
Geftzt, daß auch ein bloßer Leicht,
Von der Dienstfertigkeit.
i8o
sinn die Quelle dieser müßigen Dienstvcrsicherungen wäre; so wird diese Aufführung doch schon von der Ge rechtigkeit verdammt: weil der, den man mit leeren
Verheißungen schmeichelt; dadurch in falscheHoffnun-
gen gesezt, von der Ergreifung anderweitiger Maaßre geln zu seinem Glücke abgehalten; und in seinen Er
wartungen getauscht wird.
Und wie viele ttaurigeFol
gen des Elendes kann dis für ihn nach sich ziehen? Ent springen jene täuschende Versicherungen der Dienstfer
tigkeit aber noch dazu aus Falschheit? so sind sie noch schändlicher; und ein solches Verhalten beraubt den,
der es von sich zeigt, aller Ansprüche auf den Nahmen eines ehrlichen Mannes.
3) Dieiemgen können nicht dienstfertig gegen Andere genannt werden, die, indem sie Andern dienen, sich selbst zur nächsten Absicht dabey haben.
Mancher dient, um seinem Stolze ein Opfer zu brin
gen.
Er ist in die Lage gerathen, daß Andere auf ihn
sehen, und eine Erwartung darüber äußern; waö er in dem vorliegenden Falle thun werde?
Er scharnt
sich, bey ihnen ein nachtheiliges Urtheil wider sich zu veranlassen.
Bey aller innern Gefühllosigkeit gegen
die Bedürfnisse des Nächsten, dient er in seiner Dienst fertigkeit blos sich selbst;
und seinem Stolze.
«Oder, er scheint mit entschlossener Bereitwilligkeit seinem
Bon der DienstfertiZkeit. siinem Machstep zu dienen.
igr
Er thut es aber, weil er
die höflichsten Danksagungen und Demüthigungen von demselben dafür einzuerndten hoffet. — Solche Men«
schen pflegen sich auch hinterher mit ihren, Andern er
zeigten Gefälligkeiten, vhngeachtet sie oft klein und bedeutungslos genug waren; sehr viel zu wissen.
Eines
Andern seine Dienstfertigkeit schränkt sich nur haupt
sächlich auf seine Anverwandten ein; die sein Stolz nicht sinken lassen kann: weil er mit ihnen zu sinken fürchtet.
Noch einen Andern macht sein Eigennuz dienstfertig.
Er erwartet, daß ihm die kleine Aufopferung, die er macht, zehnfach vergolten werden werde.
Er will den,
dem er dient, zu gewissen Gegendiensten, von welchen
er sich größere Vortheile verspricht; sich verbindlich machen.
Hierher gehören auch die übermäßigen
Wucherer; welche mit keinem billigen Zinß zufrie
den, sich der gegenwärtigen Verlegenheit und Noth Anderer bedienen; sich durch die scheinbare Hülfe, die sie ihnen leisten, durch die sie sie aber in noch größere
Noth stürzen, zu bereichern.
Noch ein Anderer dient,
indem er Andern zu dienen scheint, im Grunde nur sei ner eigenen Liebe zur Ruhe und Bequemlichkeit.
Er
dient- um nur der Bitten und Behelligungen Anderer los zu werden u. s. w.
Es ist wahr, die Hülfsbe.
dürftigen gewinnen wörtlich durch diese Menschen eini ge Vortheile für sich.
Aber diese Menschen selbst M 3
können
I8L
Von der Dienstfertigkeit.
können doch nicht Dienstfertige gegen Andere genannt
werden; da sie eigentlich nur ihrem eigenen Stolze, ihrer Habsucht, ihrer Ruhe und andern Leidenschaften dabey Lienen.
Es-ist schon oben gesagt worden: die Tu
gend der Dienstferrigkeit belohne sich allemal selbst reichlich genug.
Aber sie will nicht aus
Lohnsucht und Eigennuz; sondern aus dem Triebe der
Menschenliebe und der Gütigkeit gegen Andere grübet seyn.
4) Dleienigen sind
auch Undienstfertige,
die mit der Leistung ihres Dienstes so lange warten, bis die beste Zeit, ihn anzubringen,
und recht nüzlich für den Andern zu machen,
verstrichen ist.
Es gibt in allen Verlegenheiten ei
nen, gewissen Hauptaugenblick; wo alle Umstände so znsammenstimmen, daß in demselben die Hülfe eines Andern gerade ihre größte Würkung thun kann. Sieht
ein Mensch diesen Augenblick nicht; so ist es ihm frey lich nicht beyzumessen, wenn er ihn mit seiner Dienst fertigkeit versäumt.
Sah er ihn aber; und war er
im Stande, ihn nuhen zu können; ließ er sich aber
durch allerley unnühe Bedenklichkeiten und nichtswür dige Zerstreuungen zum Zaudern und zur Verzögerung
bewegen: so verliehrt hernach seine zu spät angebrach te Dienstferrigkeit ost ihren ganzen Werth.
Zur
rechten
Von der Dienstfertigken.
1.83
rechten Zeit dienen, heißt: doppelt nnh zehn-, fach dienen«
5) Endlich sind diejenigen undienstfertige Menschen; die mit sichtbaren Zeichen des Unwillens und der Verdrossenheit dienen» Dadurch wird her Dienst, den sie leisten; dem, wel chem er geleistet wird, so verbittert r daß gewiß ein Je. der, wenn er irgend ohne densilben leben und fertig werden kann,; ihn mit Abscheu von stch weiset, und, tausendmal lieber seiner Verlegenheit überlasten.zu blei, den wünscht. Ein solcher verdrossener, oder gar mir bittern Vorwüxfen begleiteter Dienst, ist eine wahre Beleidigung, die ich einem Unschuldigen, und noch dazu einem solchen Unschuldigen, her sich ohnehin schon in Verlegenheit oder Kummer befindet; anthue. Ein gefühlloses Herz, in welchem nichts von den Enrpfindungen der Menschenliebe und Dankbarkeit gegen die Gesellschaft anzutreffen; und ein Kopf, der an aller wahren Erkenntniß seiner selbst, seiner eigenen Schwach heiten und Bedürfnisse, und dessen, was ihn vollkommner machen kann, leer ist; gehören dazu, um ein sol cher verdrossener und unhienstfertiger Mensch zu seyn.
Hingegen erhöhet derienige den Werth auch des kleinsten Dienstes, den er leistet, bis. zu seiner höchsten Größe, di« er nur erreichen kann; Hessen ungeheuche^ M 4 te
Von der Dienstfertigkeit.
184
le Menschenliebe seine Augen immer wachsam auf An
dere halt, um ihren billigen Wünschen und wahren Bedürfnissn,
so viel möglich,
zuvor zu kommen;
der auf keine Bitten und besondere Aufforderungen da zu wartet; der mit freundlicher Willigkeit und aus sichtbarem Triebe der aufrichtigen Theilnehmung an des
Andern Wohlfarth, sofort dient, als er nur der Gele
genheit dazu inne wird; und der dabey auf alles dasie-
nige aufmerksam ist, was seine guten Dienste so voll ständig und nützlich, als möglich, machen kann.
Die
ser, sage ich, verdient den Nahmen eines wahrhaf
tig dienstfertigen Menschen.
Wir müssen nun noch die vornehmsten Stücke und Arten,
worinn sich -le Dienstferngkeir beweiset
und an den.Tag legt; näher kennen lernen.
Dis ge-
schicht i) durch die Freygebigkeit 2) durch gefallt, ge Bemühungen, die man für Andere übernimmt.
1) Von der Freygebigkeit.
Cs ist schon oben, sowol bey den Vorschriften, wie wir unsere irrdischen Güter anwenden sollen; als auch
in dem, wasiezt von der Dienstfertigkeitüberhauptge sagt ist; gezeigt worden: daß es die Natur und Ab
sicht deö gest llschaftlichen Lebens erfordere; die Bedürfinste Aliderer als seine eigenen anzusehen, und
die Abhelsung jener eben so gut, als dieser, nur unter der
Von der Dienstfertrgkeit.
185
der einzigen Einschränkung, sich am Herzen liegen zn
lassen, daß nur in dem Falle, wenn mein eigenes und eines andern Menschen Bedürfniß sich gleich sind? oder, wenn gar das meinige zugleich das größere rod.
re? ich -em meinigen meine erste Sorge wid
men dürfe.
Im übrigen bin ich schuldig; aller
Menschen Bedürfnisse ohne Unterschied für die meinige»» zu halten: und in der Abhei lung derselben nach meine»» besten Vermöge»
mich thätig zu beweisen.
So oft nun der Fall
erscheint; dis durch die Anwendung meine- irrdi, fchen Vermöge»»- für Andere bewerkstelligen zu
können und zu müssen: so fordert mich die Tugend
der Freygebigkeit zu dieser willigen Anwendung desselben zu Anderer Besten auf.
Damit nun aber
diese Anwendung weder für unsere eigene, noch Ande rer Wohlfarth, ungerecht; auch für diejenigen, denen
sie zu Gute kommen soll, nicht unnüH ; oder gar schäd lich werden möge; so wollen wir uns einige Regeln der Klugheit merken, denen wir darinn zu folgen ha
ben. Regeln bey der Freygebigkeit.
i) Erhalte dich stets selbst in richtiger Be kanntschaft mir deinem eigenen wahren Ver
mögens - Zustande.
Wenn von der vernünftigen
M 5
Anwen-
Von der Dienstfertigkeit.
r86
Anwendung einer Sache die Rede ist; so muß ich
nothwendig die Sache selbst kennen.
Dem zufolge,
rechne nichts mehreres zu deinem Eigembum, als was würklich dazu gehört.
schen sind fb unbesonnen freygebig,
Viele Men
daß sie Sachen
wegschenken, über die sie gar kein Eigenthums-Recht
haben.
Hierher gehören auch alle diejenigen, die ohne
Bedacht Andern mittheilen; ohngeachret ihr Ver mögens-Zustand mir Schulden beladen ist.
Dasjenige, was mir ein Anderer von seinem Vermö gen geliehen hat, und worüber ich die Pflicht der Zu
rückzahlung noch auf mir habe; oder, was sonst ein Anderer noch rechtlicher Weise an mir zu fordern hat: das kann ich, und wenn es schon noch in Meinem Ver
mögen überhaupt enthalten ist;
Eigenthum ansehen.
doch nicht als mein
Es ist und bleibt ein Eigen
thum dessen, dem ich es schuldig bin.
Mithin würde
«s keine tugendhafte Freygebigkeit seyn, die ich an ei
nem Dürftigen übte; sondern ein würklicher Diebstahl, dessen ich mich gegen den Eigenthümer schuldig machte:
wenn ich aus meinem Vermögen soviel an Andere ver wenden wollte; daß jenes darinn enthaltene fremde Ei-
geythum, ohne Einwilligung dessen, dem es gehört,
angegriffen,
und die Möglichkeit der Zurückzahlung
dadurch in Gefahr gesezt würde. Ich soll nur von dem jenigen, was mir eigenthümlich gehört, freygebig
Von der Dißnstfertigkeik. tzebig seyn.
i§7
Was ich davon nicht bestreiten kann; da
ist die Freygebigkeit keine Pflicht
für mich : der Fall
des Bedürfnisses des Andern mag auch nod) so groß
seyn.
Alles, was mir zu thun dabey übrig bliebe;
wäre die Bemühung: die freye Einwilligung des Ei. genthümers darüber zu suchen, und diesen zu fragen: ob er der Freygebige hier seyn wolle, der jd) nicht
seyn kann?
Diese Regel gebiethet uns auch die nöthige Vor. ficht bey Uebernehmung der Bürgschaften für An.
dere»
Wenn hier die Regeln in Acht genommen wer.
den, welche oben in dem Articul von der Treue, bey
Sck-ließung und Haltung der Vertrage gegeben find;
so wird im übrigen die Beurtheilung nicht schwer seyn, ob? und wie weit ich mich in einem vorseyendem Falle
für einen Andern verbürgen solle? Durch Bürgfihast
mache ich mich verbindlich, etwas für einen Andern, einem Dritten zu leisten; im Fall jener es diesem nicht
selbst leisten wird. Hier habe ich also vornehmlich dar auf Bedacht zu nehnwn i) ob es das Bedürfniß des
Nächsten durchaus erfordere, daß ich für ihn Bürge werde? a) ob mein Vermögens - Zustand es erlaube,
dgß ich mich für ihn verbürgen könne? und obichmich nicht dadurch der Gefahr blos sehe, im. Fall dieErfüt?
suyg feiner Schuldigkeit wn mir gefordert würde;
i83
Volt der Drenstfertigkeik.
dersetbige Unglückliche, oder vielleicht noch unglückli
cher zu werden, als er selbst war? Die folgende Re gel wird hierüber nvch mehr Licht geben.
2) Halte dich in Bekanntschaft mir deinen
eigenen Bedürfnissen.
Da deine eigenen Angele
genheiten überhaupt den Vorzug vor den Angelegenhei
ten deines Nächsten haben: so würde deine Freygebig
keit gegen Andere eine Ungerechtigkeit gegen dich selbst ftyn, wenn du dadurch auch nur eben so sehr deine eige
ne gestimmte Wohlfarth verkümmertest; als der Wohlfarth des Nächsten aufgeholfen würde. Ich sage, deine gestimmte Wohlfarth. Denn wenn du z. E. einem Dürftigen einen Thaler giebst: so verliehest du freylich, wenn blos auf den einzelnen Thaler gesehen
wird, so viel; als der Dürftige gewinnet.
Insofern
dich aber dein Vermögens-Stand doch noch immer der Reichere gegen ihn bleiben laßt: so ist deine gesammto
Wohlfarth in dem Maaße noch nicht verkümmert; als
der seinigen geholfen ist.
Es wird keine Vertauschung
der ganzen Zustände des Reichthums und der Dürftig
keit von dir gefordert; dergestalt, daß du der Dürfti ge werden solltest, der der Nächste war! und dieser das volle Loos deines vorigen Reichthums durch deine
Freygebigkeit gewinnen müßte!
Dadurch würde die
Pflicht der Freygebigkeit wieder aufihn gebracht; sie hinwie-
Von der Dienstfertigkeit.
189
Hinwiederum dir erweisen zu müssen: und auf solche
Art würde diese Tugend in ewigen wechselseitigen müs. sigen Ueberlieferungen irrdischcr Güter an einander be
stehen; bey denen ihr Beyde, weil sie immer nurzwischm euch unterwegeS blieben; endlich verhungern könntet.
So bald du mehr gibst; als deine eigenen eben
so dringenden Bedürfnisse zu geben erlauben: so gibst L>u über dein Vermögen,
Es gibt viele solcher
Unbefpnnenen, die über ihr Vermögen geben: und her
nach, wenn sie selbst drückenden Mangel darüber lei
den; über Undank klagen.
Sie sollten vielmehr ihre
Unbesonnenheit verdammen, die von der Freygebigkeit soweit, als Laster von Tugend; verschieden ist.
Es ist bey den Vorschriften über die Anwendung der irrdischen Güter schon erinnert worden: daß der
Mensch,
so weit er feine künftigen Bedürfnisse mit
Wahrscheinlichkeit vorauöfthm könne; oder auch, in
sofern er überhaupt aufdie Veränderlichkeit aller mensch
lichen Schicksale rechnen müsse; allerdings auf die
Zukunft Bedacht nehmen und Vorsicht üben dürfe.
Die Tugend der Sparsamkeit geboth ihm
daher, alle gegenwärtigen »«nöthigen Ausgaben zu vermeiden; und was er hieran erspahre, zum künf
tigen nöthigern Bedarf aufzuheben.
Sie erlaubte
es ihm aber keinesweges, die gegenwärtigen drinr
gcnben
i9.o
Von der Dienstftttigkeit,
genden Ausgaben, um der ungewissen künftigen willen, abzuweifen.
Die muß auch bey der Freyge
bigkeit angewandt werden.
Wo ich wahrscheinlicher
Weise größere Bedürfnisse für mich, oder einen Näch sten vor der Thür sehe; da muß ich mit meiner Frey,
gebigkeit über die gegenwärtigen kleinern Bedürfnisse meines Nächsten zurückhaltender seyn.
Hingegen, wo
die gegenwärtigen Bedürfnisse des Nächsten durchaus dringend stnd; und nicht durch ihn selbst, aber
wol durch mich abgeholfen werden können: da achte ich
meine, und seine künftigen/ in tausenderley Betracht, ungewissen Bedürfnisse nicht.
Wer weiß, ob sie würk.
lich kommen werden? wer weiß, ob ich sie erlebe? wer weiß, ob nicht, wenn ia dergleichen künftig eintreten sollten; schoss auch wieder andere Mittel vorhanden seyn werden, sie zu befriedigen? u. s. w.
Man hüte sich
hierinn nur, daß uns keine unedle Kleinmüthigkeit;
kein Mißtrauen gegen die Vorsehung; oder auch kein
Geiz, der immer beym größten gegenwärtigen Ueber«
fiuß die Gefahr des größtm künftigen Mangels vorher sehen will; mit falschen Wahrscheinlichkeiten täusche.
Nach dieser Regel nehme ich also auch auf die künfti
gen Bedürfnisse meines Nächsten durch Ein schränkung aller gegenwärtigen unnLrhigen Aus
gaben Bedacht: und wenn Eltern diesen Ueberlegungen in der Besorgung des künftigen Glücks ihrer Kinder
folgen;
Von der Dienstfertigkeit.
191
folgen; so ist ihre Sparsamkeit zum Besten derselben
niu-c zu tadlen.
3) Lerne auch die Bedürfnisse Anderer
unterscheiden und recht beurtheilen.
Es sind
nicht alles wahre Bedürfnisse, was die Menschen dafür auögeben.
Wae die Erhaltung des Lebens und der
Gesundheit nothwendig erfordert; was dazu gehört, uyr einen Menschen in den Stand zu sehen, mit seinen
Kräften und Gaben der Welt ersprießliche Dienste lei sten zu können: das sind wahre Bedürfnisse, auf deren Abhelfung der Freygebige nach seiner besten Einsicht
und Vermögen denken muß; wenn der, bey dem sie
sich finden, sich nicht selbst helfen kann.
Hingegen
alle übrigen Bedürfnisse, die die bloße Einbildung und ungezähmte Leidenschaften dazu machen; verdienen die Aufmerksamkeit des Freygebigen nicht.
Das größte
Vermögen, würde nicht zureichen, sie zu befriedigen.
Eben so würden auch der Gesunde aber zugleich Faule,
und der reiche Geizhals wol schamlos genug seyn; mei
ne Güte anzunehmen.
Aber durch alle dergleichen un
nütze Hülfen und Mildthätigkeiten würd« ich mich nur
der Verschwendung schuldig machen; iene unzufriedne Menschen durch die Befriedigung ihrer ausschweifen
den Wünsche noch mehr verschlimmern, und das Laster bey ihnen nähren; mich selbst aber außer Stand setzen.
192
Von der Dienstfemgkeir.
da, wo es nöthig wäre, gegen die wahrhaftig Dürfti gen freygebig seyn zu können. Auch die Stande und Lebensarten in der Welt ma
chen die Bedürfnisse verschieden.
Z. E. Der Vorneh.
me und Reiche darf vielleicht ein Kleid nicht mehr an
ziehen, ohne sich-einem gerechten Spotte blos zu stel
len; in welchem der Arme noch am Feyertage pranget. Es gehört aber sehr wenig dazu, die verhaltnißmäßi-
gen Bedürfnisse, welche Stand und Lebensart geben, dergestalt zu unterscheiden; daß der Menschenliebe da
nicht zu nahe getreten werde, wo sie es mir durchaus zur Pflicht macht, mich meines Nächsten mit thätiger
Hülfe anzunehmen.
4) Suche deine Freygebigkeit so anzubrin gen und zu beweisen, daß sie die beste tVur#
kung thue; oder, daß durch sie der möglichste Nuz-
zen überhaupt, und für den, der sre zunächst genießt insonderheit, gestiftet werde.
Viele Menschen geben,
ohne zu überlegen, wie sie gebend und was da durch gebessert werden sollet
Ihre Freygebig
keit hilft dem Andern so viel, als gar nichts; blos,
weil sie unrecht angebracht wurde.
Ja sie wird aus
dieser Ursach oft dem, dem man dadurch zu helfen ge.
dachte; noch mehr schädlich. Wir wollen es durch Bey spiele ins Licht setzen.
Gefezt, ich kenne eine, in sehr
dürfti-
Von der Dienstftrtigkeit,
19?
Mistigen Umständen lebende Familie. Mein Vermö gens» Stand erlaubt es mir, ihr mit zwanzig Thalern beyzuftringen. Nun lasse ich eine kostbare Mahlzeit für sie anrichten; wodurch jene zwanzig Thaler gerade drauf gehen. Was für Ruhen habe ich nun durch meine Freygebigkeit gestiftet? Eine einzige Sättigung, die auf einen Tag hinreichen mag? die sie aber von Morgen an, allem vorigen Kummer und Hunger von neuem wieder übexläßt? Wie viel nvzlicher hätte ich meine Freygebigkeit für sie machen können; wenn ich den einen Theil ieneö Geldes dazu angewandt hätte, je nen Armen die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens in der Art und dem Maaße anzuschaffen, daß sie da durch einige Wochen und vielleicht Monathe lang, für die drückendste Noth gesichert gewesen wären ? und wenn ich durch den andern Theil sie in den Stand gesezt hät te, vermittelst eines gewissen Gewerbes oder einer Handthierung sich dm künftigen Unterhalt selbst ver. schaffen zu können? Oder gesezt: ich wollte iene zwan zig Thaler jenen Armen gerade zu selbst in die Hände geben; ohne versichert zu seyn, daß sie auch die Klug heit haben würden, sie zur würklichen Verbesserung ih res Nahrungsstandes anzuwenden? Wenn ich es nun ihrer Unbesonnenheit dadurch möglich gemacht hatte; Ausschweifungen zu begehen, und sich und andern zn schaden: wie viel war denn meine Freygebigkeit werth? Sittenlehr« IV. Th. N 5) Ma-
»94 5)
Vou der Dienstftrtigkeit. Mache dich mit deiner Freygebigkeit
für die weitere Zukunft hinaus, nicht zu Et
was gewissem anheischig; durchaus nothwendig ist.
wenn
es
nicht
Bewahre dir, wo du
sannst, deine Freyheit; dich nach den jedesmaligen
.Umständen richten zu können.
Freylich hat dis oft sei
ne Unbequemlichkeiten für den Andern, auf den sich
unsere Freygebigkeit bezieht.
Man wird sagen: die
ser kann seine Einrichtung besser darnach machen, wenn
er weiß, wie viel ihm meine Güte jährlich gewiß zu-
stießen lassen werde? Allein 1) wenn du nur stets ein
Herz voll Menschenliebe Ley dir bewahrst; so wirst du dich seiner auch ferner annehmen. Du wirst dir die unvollkommne Pflicht, oder den Liebesdienst, nicht nur eben so heilig seyn lassen; als wenn du ihn dir in eine
vollkommne oder Zwangspflicht verwandelt hattest: son
dern du wirst ienen auch williger und fteudiger üben,
als diese.
2) Der Andere kann dir doch in dem, was
blos Liebespflicht ist, mit -Recht keine Vorschriften ma
chen? Wenn es ihm schon behaglicher und bequemer
ist; etwas, als eine vollkommne Schuldigkeit von dir erwarten zu können: so geschieht ihm doch kein Unrecht;
wenn du deine Freyheit vorunnöthigen Fesseln bewahrst.
3) Du entgehst oft dadurch unendlich vielem Verdrusp; wenn du das, was Liebespflicht ist, nicht in Zwangs
pflicht übergehen lassest.
4) Du verhütest dadurch,
daß
Von der Dienstfertigkeit.
195
daß der andere sich nicht vielleicht liederlicher Weise aufdeine Güte verlasse; und in der Zukunft seine Kräf
te da im Müßiggang verschwende, wo er durch pstjchtmäßige Anwendung derselben, ohne deine Hülfe lebe»
könnte.
Die Umstände, Schicksale und Bedürfniss«
der Menschen sind, wie alle Dinge in der Welt, der Veränderung unterworfen. 5) Du raubst dadurch an.
dern, noch Bedürftigern, die dir in der Zukunft vor kommen können; nicht die Möglichkeit, durch dich ge
holfen werden zu können; wenn du dir deine Freyheit bewahrt hast.
6) Du weißt nicht, ob es dir die Zu
kunft möglich lassen wird, der Freygebige bleiben zu können, der du heute seyn kannst?
Hieher gehört auch noch eine andere Betrachtung;
diese nemlich: Allgemeine Einrichtungen und öffentliche
Anstalten zur Verpflegung und Unterstützung derienigen Armen überhaupt, die zu ieder gegenwärtigen Zeit würklich da seyn werden; sind sehr gut und löblich.
Aber, was soll man zu solchen Verpstegungs-und Unterstützungs - Anstalten sagen, die für Personen gewissen Grandes ausschließungsweise schon
zum voraus bestimmt stnd;
ohngeachtet man
nicht weiß, ob nicht viele dieser Personen es gar nicht nöthig haben werden, auf diesem Wege erhalten wer
den zu müssen? Dadurch wird offenbar den würklich
N 2
Armen
Von der Dienstfertigkeit.
196
Armen ist der Gesellschaft, meß Standes sie auch seyn mögen; das BriH geschmälert und entzogen. Hieher gehören z. E. alle Wittwen r Lassen, die aus« schließungsweise für einen gewissen Stand er
richtet sind. Die Erfahrung lehrt es, daß denn so manche Wittwe eines solchen Standes, bey allem an derweitigen Vermögen und gesunden Kräften, die sie besizt, ohne Noth durch fremde Hülfe unterhalten wird: da hingegen andere Wittwen anderer Stände, die jene Wohlthat nicht genießen; ihr Leben in Hunger und Kummer verseufzen müssen. Und wie^ wenn bey so bewandter Sache die andern Stände zur Erhaltung je ner Privat-Casse für einen gewissen einzelnen Stand, noch obenein beytragen müssen? Ist das nicht Unge rechtigkeit? Wo das aber auch nicht ist; wo ein Stand für seine künftigen Wittwe», ohne Unterschied, sie mö gen reich oder arm seyn; allein zusammen legt: heißt das nicht, den Parthey-Geist und Standes-Stolz zum Nachtheil der allgemeinen Menschenliebe, in der Gesellschaft nähren und unterhalten ? Wenn du Jemandem, vermittelst Vorschusses von deinen irrdischen Gütern auf eine gewisse bestimm te Zeit, wo alödenn die Zurückzahlung an dich gesche hen soll, gedienet hast: es zeigt sich aber alödenn die 6)
erweißliche und sichtbar» Unmöglichkeit von
seiner
Bon b:r Dienstfertigkeit.
197
feiner Seite; dir diese, oder überhaupt eine ihm bey dir entstandene Schuld, iezt abtragen zu können: so er.
laubt es dir freylich wol die Gerechtigkeit, auf deine Forderung und die ungesäumte Erfüllung derselben be
stehen zu können.
Die höhere Tugend der Gütig
keit aber ruft dir zu: Sep nicht allzu gerecht! — Sie gebiethet dir, Geduld mit dem gegenwärtigen
Unvermögen deines Nächsten zu haben ; ihm Zeit za lassen; Und es ruhig abzuwarten, ob die Zukunft ihn in den Stand sehen werde, dir bas Deinige zurückge
ben zu können? im Fall Vernunft und Menschenliebe eö dir nicht schon iezt zur Pflicht machen; deine An
sprüche sofort fahren zu lasten, und deine Forderung an ihn zu feinem Besten zu vernichten.
Und gesezt: dei
ne eigenen Umstände nöthigten dich, dir dein Recht an
ihn vor der Hand noch zu bewahren; es entflöhe dir
aber endlich doch die lezte Wahrscheinlichkeit, zu dem selben gelangen zu können: so gebietet dir die Tugend
der Freygebigkeit; mir willigem und zufriedenem Herzen die Handschrift, sie mag nun auf hun dert Groschen, oder auf taufend Pfund lauten; zu zerreissen.
Du bist kein Menschenfreund;
wossrn du deinen Schuldner bey seinem erweißlichen
Unvermögen durch die Macht der Gerechtigkeit drängst, oder auch nur mit beleidigenden Vorwürfen verfolgst.
N 3
7) Du
198
Von der Dienstfertigkeit.
7) Du kannst nicht aller Menschen wahre Bedürf nisse wissen und kennen; noch weniger ihnen allen ab
helfen. Deine Verpflichtung zur Freygebigkeit schränkt
sich also nur auf diejenigen ein, die dir jedesmal als derselben bedürftig, bekannt werden.
Es
werden sich ihrer auch für dein Vermögen überall hin reichend genug finden.
Unter diesen aber muß deine
Freygebigkeit durchaus unpartheyisch seyn. Nichts, als das würklich größere Bedürfniß darf dem Einen den
Vorzug vor dem Andern in deinen Augen geben. Kei
ne Freundschaft; keine, es sey Bluts - oder StandeSBerwantzschaft; kein Religions-Wahn; kein Stolz,
oderEigennuh, oder irgend eine andere falsche Neben-
Absicht darf dich hier seitwertS leiten: wenn du auf den Nahmen eines Menschenfreundes Anspruch machen willst.
Hast du cirt Herz, daö würdiger Gesinnungen
fähig ist; so werden deine Augen gewiß scharf genug se
hen, und auch den geheimen Kummer entdecken, der hier, oder da, im Verborgenen an einem menschlichen Herzen nagt: und deine freygebige Rechte wird da un-
bemerkt Hülfe und Rettung hinschaffe«, wo bis dahin
vergebens darnach geseufzet ward.
Kann denn schon,
weil kein sterbliches Auge der Zeuge deiner edlen That war; auch keine laute Dankbarkeit deinen Namen nen
nen:-wie schadlos werden dich dein inneres Bewußt
seyn , der frohe Anblick des Geholfenen, und die noch dank-
Von der DicusifertigkttL
199
dankvollem Empfindungen des Herzens halten, mit welchen dieser seinen unbekannten Wohlthäter desto ge
rührter ftegnet; ie sorgfältiger sich derselbe seinen Au-
gen entzog.
2) Die Dienstfertl'gkeit zeigt sich auch in ge fälligen Bemühungen, die man für An dere übernimmt. Wir wollen hiev a) von der Fürsprache mfonB
derheir,
und dcnn b) von den übrige» gefällt«
gen Bemühungen
für
Andere
überhaupt
das nöthigste bemerken.. a) Die Fürsprache^ welche man für Jemanden einzulegen, Gelegenheit hat; kann mancherley Absich
ten haben.
Die vornehmsten und gewöhnlichsten der
selben sind: entweder; Jemanden wegen seiner be gangenen Fehler billige Nachsicht und Schonung bey
dem beleidigten Theilezuverschaffen; oder, Jem an, des Unschuld zu vertheidigen; oder. Andere geneigt
Zll machen, einem Hülfsbedürftigen diejenige Hülfe
und Gtmstbezeugung wiederfahren zu lassen, der ma» ihn für würdig und bedürftig hält; unb die man ihm
doch nicht unmittelbar ftlbst erweisen kann. i) Da alle Handlungen des Menschen natürliche
Folgen seines jedesmaligen Empßndungs- und Vorstellungs- Systems sind; die Beleidigungen auch um
Von der Dienstfertigkeit.
aoo
der verschiedenen Einsichten, Neigungen, Kräfte und
Beschaffenheiten der Menschen willen, nicht ausblei ben können: Da ferner nicht ein Jeder, der sich für be leidiget halt; sich auf die beste Art gegen seinen angeb
lichen Feindzu verhalten weiß: so ist es durchaus Pflicht;
so viel man kann, durch seine Vermittelungen den Un willen zu stillen, den Jemand wider seinen Beleidiger gefaßt hat.
Der Menschenfreund findet sich überall,
wo sich ihm eine Gelegenheit darzu darbeut; aufgefordert: den zornigen Theil zu besänftigen, und dem für schuldig gehaltenem Nachsicht zu verschaffen. — Diese Pflicht ist in unsern Tagen um so viel nothwendiger; je weniger die Wahrheit noch allgemein eingesehcn wird:
-aß ein ieder Mensch mit allen seinen freyen Handlungen an dem Maaße seiner Erkennt
niß gebunden ist; ger,
folglich selbst der Beleidi
in dem Augenblicke,
da er beleidigte,
nicht anders handeln konnte,
kenntniß es mit sich brachte.
als fein Er Ich sage, jene
Pflicht der Fürsprache ist um so viel nothwendiger: ie
mehr noch immer dem Menschen ein, von seinem Ver stände und gesamten Erkenntniß unabhängiger Wille
angedichtet wird, über den man ihn so ost strafbar fin. den will; und ie mehr selbst die öffentlichen Ge
setze auf diesen Irthum gebauet; mithin von
ungerechter Strenge sind.
Was man also thun kann,
Von der Dienstfertigkekt.
201
kann, um sowol dem richtenden Theile der Gesellschaft; als auch dem in einzelner» Fällen beleidigten, und über Las Vergehen seines Nächsten aufgebrachten Bürger; sanftere, gelindere, und nachsichtsvollere Gesinnungen gegen den, der gefehlt hat, einzusiößen: gehört unter die theuersten Pflichten der Menschenliebe. — Es wird in der Folge bey den liebreichen'Zurechtweisungen, die ich dem Irrenden schuldig bin, gezeigt werden: wie rnan sich in Absicht auf diesen zu verhalten habe; um auch ihn zu bessern Einsichten, und dadurch zu einem bessern Verhalten zu leiten. Allein iezt ist die Rede nur von der pflichtmäßigen Fürsprache, durch die ich ihm bey dem beleidigten Theile, oder der Obrigkeit, Nachsicht zu verschaffen suchen soll. Um diese Pflicht recht üben zu können; muß man sich den nöthigen Grad von Klugheit anschaffen: um sich die gesammte sagen, sowol des Beleidigers, als des Beleidigten, nach ih. ren Erkenntnissen, Neigungen, Gesinnungen, äusser lichen und innerlichen Beschaffenheiten und Verhältnis sen; ferner, um sich die Beleidigung selbst, nach ihrer Beschaffenheit, Ursachen und Folgen recht vorstellen; und denn die best« Art wählen zu können, in der man seine Fürsprache mit der Hoffnung des glücklichsten Er folges anzubringen habe. Diese habe denn einen Ge genstand, welchen sie wolle; so muß sie doch stets die allgemeine Eigenschaft haben; daß sie nicht wider N 5 die
208
Vott der Dienstfertigkeit.
die innerliche Aufrichtigkeit streite,
mit der
ich als ein ehrlicher Mann einem reden Men schen ohne
Ausnahme verpflichtet bin! —•
Je mehr man sich von den verschiedenen Graden des menschlichen Erkenntniß-Vermögens, und von der
nothwendigen Abhängigkeit aller menschlichen Hand lungen von ihrem jedesmaligen EmpfindungS-und Vor-
stellungs-Sysieme überzeugt: desto williger wird man seyn, sich überall, wo man nur kann, nach seinem be
sten Vermögen des Irrenden und Fehlenden gegen den, der über ihn zürnen will, anzunehmen.
Und ie mehr
man die einzelnen Menschen, mit denen man es dabey zu thun hak; nach ihren besondern Grundsäßen, Nei
gungen, Leidenschaften, und Verhältnissen insonderheit kennt: desto fähiger wird man seyn, seine Fürsprache
recht anzubringen; und desto gewisser wird der gute Er
folg derselben, unserer menschenfreundlichen Absicht und Erwartung entsprechen.
2) Bey Vertheidigung der Unschuld haben wir uns vornehmlich vorzusehen: daß wir uns i) von der Unschuld dessen ,
überzeugen.
den wir vertheidigen wollen; recht
2) Diese Vertheidigung selbst, aus die
beste Art führen: dergestalt, daß die Unschuld selbst
nicht nur ins möglichste Licht gefezt werde; sondern un
sere Vertheidigung selbst, auch keine Uebertretung hö
herer
Von der Dienstfertigkeit.
203
herer Pflichten, keine Aufopferung eines grössern Guts, und insonderheit keine würkliche Beleidigung Anderer, und desjenigen, gegen den sie gerichtet ist, mit sich
führe.
tt>tv dürfen nicht gegen den Einen ge
recht; und gegen den Andern ungerecht seyn.
3) Wenn wir bey unserer Fürsprache für Jeman den die Absicht haben; Andere geneigt zu machen, ihm
das Glück zuzuwenden, welches, unserer Meynung
nach, von ihnen abhangt: so wollen wir sie zu einer
Freygebigkeit und Güte bewegen, die wir in dem vor
seyenden Falle gern selbst üben möchten; aber nicht üben können.
Wir müssen also die Regeln dabey zu,
gleich in Acht nehmen, die bey der Freygebigkeit vor
geschrieben sind.
Wir müssen insonderheit prüfen: ob
der, dem wir ein gewisses Glück zuwenden wollen; desselben auch wahrhaftig bedürftig fty? oder, wenn es die Beförderung zu einem gewissen öffentlichen Amte
in der Gesellschaft betrifft? ob durch unsere Empfeh lung des Einen; nicht ein anderer Geschickterer zurück-
gesezt werde? mithin die Wohlfarth der Gesellschaft durch unser Verlangen in Gefahr gerathe, verwahrlo set und verrathen zu werden ? ob überhaupt unsere Ver wendung für den Einen; nicht zugleich eine Ungerech
tigkeit gegen einen, oder mehrere Andere sey? ob viel leicht blos Einbildung und Leidenschaft, oder Frenndschast
Ddn der Dienstfettlgketk.
204
fchast und Verwandschaft, Jenen uns so empfehlungs
würdig machen? Wir müssen ferner überlegen; ob der, beydem wir etwas suchen, auch im Stande sey, unser Verlangen zu erfüllen? ob wir nicht vielleicht schon selbst hinlängliche abrathende Gründe sehen, de
nen erwerbe folgen müssen; weil die Vernunft sie billi get? In diesem Falle würde unsere Fürsprache nicht blos
vergeblich, sondern auch ungerecht seyn; weil sie eine unnöthige Behelligung des Andern wäre, und etwas unrechtmäßiges von ihm begehrte. —
Wir müssen
endlich, wenn wir auch von der Güte unserer Absichten und der Möglichkeit ihrer Erfüllung bey dem Andern, überzeugt zu seyn glauben; es doch nie vergessen: daß ticv,
von dem wir etwas erhalren wollen;
feine Freyheit und das Recht behalten müsse,
für sich selbst zv urtheilen; sich selbst zu ent
schliessen;
und nach seinem eigenen Gutbe-
stnden zu handeln.
Wir dürfen es also nie als ei-
ve Beleidigung ansehen, wenn er unsere Empfehlung
verwirft; und andern Gründen folgt, als die wir ihm vorgelegt haben.
Bey dem Anbringen der Fürsprache
selbst müssen wie die Klugheit beweisen, die oben em pfohlen ist: und mir Beybehalrung verwahren Aufrichtigkeit gegen Jedermann, uns nach der
Erkenntniß, den Neigungen und dem Geschmack deßienigcn richten, den wir zum Vortheil eines Dritten ein-
Von der Dienstfertigkelt-
205
einnehmen wollen; wenn unsere Empfehlung keinen widrigen, sondern glücklichen Erfolg haben soll. b) Von den anderweitigen gefälligen Be mühungen für andere überhaupt.
Hieher gehört jede willige Uebernehmung gewisser Geschäfte für Andere; und jede theilnehmende Besor gung ihrer Angelegenheiten, von welcher Art sie auch ftyn mag; wenn sie nur ohne Ungerechtigkeit gegen Andere, zur Erhöhung der Wohlfarth und Zuftiedenheit Jener abzielt, unb dazu nothwendig iss. Es versseht sich von selbst: daß hier von keinen solchen Angelegen heiten die Rede ist, an deren Besorgung der Vorrats nur Theil nehmen kann. Dis wäre wider die Regeln der Friedfertigkeit: und die Gütigkeit kann nichts befehlen, raas^die Gerechtigkeit verbiethet. Nein, es gibt andere Angelegenheiten, über die der Nächste mich entweder um meine Dienstfertigkelt an gesprochen hat; oder, von denen ich doch mit Wahr scheinlichkeit voraus sehen kann: daß er meine fteywillige Theilnehmung daran, als keine Beleidigung seiner Freyheit; sondern als ein Zeichen meiner Freund schaft gegen sich ansehen werde: Angelegenheiten, wo ich mit Beybehaltung der Gerechtigkeit und Menschen liebe gegen Jedermann, seine Zuftiedenheit und sein Glück erhöhen, und ihn durch meine Dienstftrtigkeit mft
206
Volk der Dienstfertigkeit.
mir zur Dankbarkeit und Gegenliebe verbinden kann. Das Auge des Menschenfreundes sieht solche Gelegen heiten bald: und sie blos sehen; ist ihm Aufforderung genug, so viel von seiner Zeit, von seinem Vermögen
und selbstvon seinen persönlichen Bemühungen darauf zu verwenden; um dem Nächsten indem Grade gefäl
lig zu werden, als es die Umstände zulassen wollen.
Er wendet seine möglichste Klugheit an; um seinen Dienst demselben so nüzlich, als möglich, zu machen.
Er stellt sich in Gedanken in des Andern Stelle; und untersucht, welche Art seines Verhaltens dabey dem
Nächsten die größte Freude machen und den meisten Vortheil bringen würde? Diese wählt er für sich; und
der Gedanke: dem Andern dienen, und ihn über die Beförderung seines Glücks froh machen
zu können, erleichtert ihm auch saure Mühen und
Beschwerlichkeiten, mit welchen sein Dienst verbunden ist,
Es ist nicht möglich, alle die Vorfälle anzufüh
ren , wo wir durch unsere gefällige Bemühungen die
Zufriedenheit des Nächsten bauen können.
Zeit, Um
stände, und jedesmalige Bedürfnisse geben sie uns an. Indessen gehören, die willige und liebreiche Pflege in
Krankheiten, und die gewissenhafte Uebernehmung und Führung der Vormundschaften vorzüglich hieher.
Bey den leztern haben wir freylich unsere Kräfte und Lage in der Welt zu prüfen; ob sie uns die Ueberneh-
mung
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit, 207 mung derselben zum Vortheil der Unmündigen erlau.
ben? damit wir uns keiner Verwahrlosung derselben
schuldig machen: im übrigen aber, mit der möglichsten Treue, die väterlichen Pflichten,
auch selbst unter
sauern Beschwerden, zu üben; und uns dabey nach
denen Vorschriften zu richten, die uns die öffentlichen
Gesetze darin zu befolgen gebiethen.
B. Von dem Mitleiden und der Barm
herzigkeit. Die Gütigkeit oder Menschenliebe zeigt sich ferner in dem Mirleiden unv den Erweisungen der
Barmherzigkeit gegen Elende und
dende.
Um des besondern Gegenstandes willen, auf
welchen sich dit se Tugenden beziehen; scheiden wir sie
von der allgemeinen Dienstfertigkeit, und wollen sie
besonders erwegen.
Der besondere Gegenstand des
Mitleidens und der Barmherzigkeit sind, vorzüglich nothleidende Menschen, die unter schmerzhaften Empfindungen seufzen.
Diese Empfindungen mögen
nun aus würklichen Schmerzen des Leibes; oder aus
kummervollen Vorstellungen, von denen sie geplaget werden;
oder aus der besonders traurigen Lage entstc-
hen, in der sie sich in Ansehung ihrer äußern Umstan de, Verhältnisse und Verbindungen in der Gesellschaft
befin-
208 Vom Mitleide» und der Barmherzigkeit, befinden. Es ist wahr: die Pflichten der Dienstfertigkeit und Freygebigkeit, von denen wir vorhin gere det haben, forderten schon zu Werken der Barmherzig keit auf, und sezken ein gewisses Mitleiden voraus. Allein, iene Dienstfertigkeit erstreckt sich vornehmlich über die leichtern Fälle, wo ich das Glück meines Näch sten verbessern kann. Das Mitleiden hingegen, wo von wir hier reden, wird eigentlich nur bey harten und dringendem Fällen seiner Noth rege; und die Barm herzigkeit in denselben geschäftig. Ueberdiö wollten wir dort die Materie nicht zu sehr anhäufen; sondern durch eine schickliche Absondemng, die uns möglich schien, dem Leser die Uebersicht des Ganzen leichter machen.
I. Vom Mitleiden. Ein Mensch muß von sehr harter Gemüthsart und dabey durch Erziehung, Vomrtheile und Gewohnheit sehr abgestählet seyn; wenn er bey dem Anblick einer außerordentlichen Noth des Nächsten keine Erschütte rung in seinem Inwendigen fühlt. Unsere Selbstliebe ist ein unauslöschlich reger Trieb nach unserer Glückse ligkeit: und faßt das heftige Verlangen in sich, unser Leben, unsere Zufriedenheit, unsere Ehre, Güterund Freyheit zu erhalten; und alles dasjenige von uns zu entfernen, was uns mit Schmerz, Kummer, Schon-
Vom Mktleidett und der Barmherzigkeit. 209
de, drückender Armuth, Sclaverey und Tod bedrohet« Kennen wir gleich diese Uebel oft nicht aus eigener Er fahrung; so zwingt uns doch jenes starke Verlangen nach den entgegengeftzten Gütern, ste zu verabscheuen. — So bald wir nun einen andern Menschen sehen: so überzeugt uns schon der bloße Anblick, daß wir ihn für ein Wesen annehmen müssen, das uns gleich iss. Wir finden in ihm unsere eigene Na tur. Wir sehen ihn auö demselben Stoff gebauet, aus welchem wir selbst zusammengesezt sind; und alle seine Glieder undTheile auf dieselbe Art geordnet, wie bey uns. Wir können uns heimlich des Schlußes nicht erwehren, daß seiner äußerlichen sichtbaren Aehn. lichkeit und Gleichheit, die er mit uns hat, zufolge; ihn auch inwendig eine ähnliche Selbstliebe treiben, und er in den verschiedenen Lagen, in welchen unsere Selbstliebe sich freuen, oder fürchten, oder zagen wür de; dieselbigen Empfindungen hafien werde. Daher die schnelle Würkung, welche der Anblick seiner gegen wärtigen jage auf uns macht! Wir sehen ihn sich freuen: und es müssen ausdrückliche Hindernisse, und ein besonderes Gegengewicht sich bey uns befinden; wenn seine Freude nicht sogleich sich uns mittheilen, und auch unsere Gesichtszüge schon zum voraus aufheitern sollte; ehe wir selbst noch einmal die Ursach seiner Freu de wissen. Wir hören ihn klagen: und fangen schon S'ttenlehrelV.rh. 0 an
21 o Vom Mitleidett und der Barmherzigkeit, an zu fürchten.
Wir sehen ihn zittern und ängstliche
Bewegungen machen: und eö überfallt uns schon eine
Bangigkeit;
ehe wir noch einmal die Ursach seines
Schmerzes verstehen.
Wir sehen eine Last, die ihn
zerschmettern will, über ihn, der sorgenlos darunter
steht, herabfallen: und wir zittern an seiner Statt an Handen und Füssen.
Wir werden auf unserm sicher»
sten Standorte, wo wir den geraden Erdboden unmit
telbar unter unsern Füßen haben, schwindlicht: wenn wir ihn auf einer, gefährlichen Höhe, etwa auf einer
Thurmspitze, klettern sehen.
Ich höre, daß auf der
See ein Schiff unkergegangen sey.
Ich habe keinen
einzigen von den darauf befindlich gewesenen Menschen
gekannt.
Ich gedenke mich aber augenblicklich in ihre
Stelle: Und nun überfällt mich ein Grausen, indem
ich mit ihnen sinke.
Eben ms dem Grunde «stauch
bey allen außerordentlichen Unglücksfällen- bey wel chen ei» Mensch leidet;
der Zulauf der übrigen
Menschen so groß: weii die Leiden einer mensch lichen LIarur, eine allgemeine Angelegenheit für sie alle sind;
und sie sich alle mir ihrer
Selbstliebe darinn verwickelt fühlen.
Es er
schallt die Nachricht, daß in der Nahe ein Mensch hin gerichtet werde«« soll! Habe ich diesen Menschen gar vorher gekannt? so schwebt mir das Bild von seiner
Person in der größten Lebhaftigkeit vor Augen; und die
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
211
die Vorstellung seines Schicksals wiegelt meine Selbst» liebe zu den unruhigsten Bewegungen einer quälenden Furcht.für ihn aus
Vielleicht lasse ich durch die Ue«
berlegung r daß ich sein Unglück doch nicht hintertreib ben könne; und meinem fruchtlosen Mitleiden nur zu
einer mich folternden Größe anzuwachsen, Gelegenheit geben würde; mich .abhalken, auf der Gerichtsstäte zu
erscheinen.
Aber Hunderte undTaufende wirds geben,
die dem Drang« ihres Gefühls nicht widerstehen kön
nen»
Es ist Etwas in ihnen, das sie nicht zurück
bleiben läßt; das sie Schaarenweis dahin zusammen»
treibt. Sie fühlen stch alle selbst zu stark bey dem Ver fall intereßivt. — Sie sehen den Unglücklichen zum
Schaffot wandern!
So gleich gedenken sie sich selbst
in feint Stelle; wandern in Gedanken an Seiner Statt diese schreckliche Bahn;
legen sich bei jedem
Schritt die entsezliche Frage vor: wie ihnen zu Muthe seyn würde; wenn sie iezt seine -Fußtapfen zeichnen
müßten 3 Sie werden von allen Empfindungen über fallen; von welchen unsere Selbstliebe bey ihrer Zärt
lichkeit für das Leben, im Angesichte einer unvermeid» lichen Gefahr eines gewaltsanren Todes ergriffen wer» den muß» — Je näher die Gefahr heran rückt; de»
sto mehr reißt sie unsere ganze Aufmerksamkeit an sich: Wir verliehren das Bewußtseyn alles dessen, was uni
und neben uns ist; und haben für nichts anderes eine*
0 s
tziedälir
212
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
Gedanken mehr, was uns sonst auch noch so sehr ein genommen haben möchte.
Und woher dis? daher,
weil wir iezt ganz und allein in des Unglücklichen
Stelle stehen: und in ihm unsere menschliche riatuv in der größten Gefahr; urid unsere Selbstliebe von ihrer empfindlichsten Seire
angegriffen sehen.
Selbst das Bewußtseyn: daß
bey der Gleichheit der Namren;
Verschiedenheit
doch eine
der Personen Statt finde;
wird immer schwacher: und verliehet sich bey einigen in ihren Nerven zu zart gestimmten Zuschauern biswei
len s> gänzlich, daß sie selbst in Ohnmacht, öder wol
gar todt zur Erden sinken! Auch der Eindruck, den ein solcher unnatürlicher Auftritt bey den Andern zurück laßt: kann nicht sogleich; sondern nur durch die Länge der Zeit, und durch die folgende Menge und Abwech
selung anderer, die Aufmerksamkeit zerstreuenden Ge genstände erst wieder gemildert und getilget werden.
Aus allen diesen Erscheinungen, die uns die Er
fahrung liefert; geht die unwidersprechliche Wahrheit hervor: daß die Sympathie eine leibliche Toch
ter der Selbstliebe sey.
wir würden kein
Gefühl für unsers Gleichen haben;
wir es für uns selbst nicht!
hätten
Freylich ist dieses
Gefühl nach Maaßgabe der verschiedenen Beschaffen-
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.
213
Heiken der Menschen in ihren festen und siüßigen Thei len deS Cörperö; den Graden nach tpifer ihnen verschie
den.
Und noch mehr Verschiedenheit können Erzie
hung, Grundsätze und Gewohnheiten einführcn. lein es fehlt doch in keinem Menschen ganz.
Al
Eben so
wenig kann auch die Sympathie in irgend einem Men schen , durch irgend ein Mittel, mit der Wurzel aus-
gerottet werden.
Ehe dis geschahe; müßten einem
Menschen nicht nur alle die Beweise, die ihm seine Sinne geben, daß der Andere ein Mensch, wie er,
sey; ausgelöscht: sondern selbst seine ganze menschliche Natur zerstöhrt;
und seine Selbstliebe, die keinen
Schmerz lieben und kein Glück hassen kann; vernich
tet werden.
Eben daher kommt es auch, daß wir gegen andere Geschöpfe ein Mirleiden nach dem Maaße mehr, oder weniger/ oder gar nicht
fühlen;
als ihre tlaruren unserer menschli
chen Narur näher, oder entfernter verwandt
sind. Wir sehen an einem Thiere mehr Uebereinstim mung mit dem Menschen, als an einem Baume; und
noch weniger an einem Steine.
Ich zerschlage daher
einen Stein; ohne daß es mir einmal ein fällt, daß
derselbe etwas dabey empfinden könne: und eben deß wegen auch ohne das mindeste eigene Gefühl von eini-
0 3
gern
? 14
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
gem Mitleiden.
Hingegen für einen Baum, dessen
(eben schon sichtbarer ist; gibt die menschliche Sprache
schon aus dem Gebiethe der menschlichen Empfindun gen , Worte zur Bezeichnung seines Zustandes her. Man sagt von einem Baume, der auf einem seiner
Matur recht angemessenem Grunde und Boden in volsein Wachsthum« steht: Er stehe stolz da-l er brüste sich! er fühle sich in seiner Wollust!
Hingegen von
hem, der auf einem seiner Natur widersprechendem
Boden nicht fort will:
Er kümmere und jammere!
Eine abgepflückte Blume sieht man mit einer Art von
Anmuth und Theilnehmung verwelken.
Oder: Man
par etwa genölhiget, einen gesunden und frischen Baum
obzuhauen.
Und wenn er auch gar keine Fruchtbar
keit hatte, die uns ihn werth machen konnte; so ist
hoch «in gewisses, dunkeles, unastgenehmes Gefühl
bey uns da, das uns der Anblick seines zerstöhrten Le hens erweckt.
Sehen wir vollends auf die Thiere; so
ist der Mensch gegen ihre unglückliche Lage eines Mit-
teidens fähig, dessen er sich deutlich bewußt ist.
Es
geht uns nahe, die Verzückungen eines Thiers in sei nem schmerzhaften Leiden mit anzusehen: Und ie nä her dis Thier am Menschen stehr;
ie weiter
sich seine tlatuv vom Pflanzenreiche entfernt: desto deutlicher ist unsere Vorstellung seines dchmerzetls; desto lebhafter unsere theilneh-
mende
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. mcnde Empfindung.
Nervenbau,
215
Ein Mensch von feinerem
und der durch gegenseitige Gewohnheit
nicht abgehärtet ist; ist nicht im Stande, ein solches Thier zu todten, oder todten zu sehen.
Eine Fliege
oder Mücke kann er allenfalls todtschlagen: weil ihr
Standort näher am Pflanzenreiche fällt.
Unsere gan
ze Sympathie mit den Thieren gründet sich also offen
bar auf die größere Uebereinstimmung unk»
Aehnlichkeie, die wir zwischen den Naturen derselben und der menschlichen Natur bemer ken.
Wir finden an den uns näher stehenden Thie
ren, so wie an uns selbst, einen Knochenbau, der mit
Fleisih: und dieses mit einer Haut überzogen ist. Wir
finden auch ihre Adern mit Blm gefüllt.
Wir finden
Sehnen und Nerven, Sinne und sinnliche Werkzeuge,
Glieder, Triebe, freye Bewegbarkcit, thätiges Leben u. f. w. bey ihnen, wie beym Menschen.
Je starker
diese Ueberernstimmung und Aehnlichkeit ih
rer Natur mir der unfrigen, in unsere Sinne fällt:
desto
weniger
können wir uns des
Schluffes auf ähnliche Empfindungen, die
sie nach Maaßgabe einet ähnlichen Natur haben müßen, erwehren.
So bald wir sie also
sich freuen oder leiden sehen: fühlt sich unsere- eigene
Natur, nach dem Maaße der Verwandtschaft mit der ihrigen; zu gleichen Empfindungen aufgeforderr. wir O 4
fin-
216
Vom Mitleidm und der Barmherzigkeit,
finden uns, nach diesem Maasstabe, selbst in den Thieren; und unsere Selbstliebe freuet sich, oderzit»
tert in diesem Verhältnisse mit ihnen. Daß die Sympathie kein besonderer erster
Grundtrieb in der menschlichen Natur sey: sondern blos als eine Frucht und würkung
aus dem einzigen Grundrriebe der Selbstlie
be stamme; ist auch aus folgenden Gründen noch erweißlich:
a) Weil wir gerade nur in der Art und dem Maaße mitempfinden; als es unser eigenesEmpfindungö »und
Erkenntniß - Vermögen jedesmal erlaubt und mit sich bringt: keineöweges aber in der Art und in dem
Maaße; in welchem wir den außer uns Leidenden em pfinden sehen.
Z. E. Gesezt, ich sehe einen Menschen,
bey seinen schwachern Einsichten, über ein ihm zuge
stossenes Unglück mehr jammern; als diS Unglück nach meiner bessern Einsicht beiammertzu werden ver
dient: so wird ia mein Mirleiden bey weitem nicht an feinen trostlosen Rümmer reichen können? In andern Fällen werde ich mich vielleicht gar über
sein Jammern wundern; und es überhaupt frem de, oder thöricht finden; oder gar darüber la
chen. u. s. w.
Alles dis könnte aber nicht seyn; wenn
Sympathie ein Grundtrieb der menschlichen Natur wäre!
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.
217
wäre! AlSdenn müßte ich überall aufdieselbeArtund
in demselben Maaße mitfühlen; wie mein leidender
Nächster selbst fühlt.
So bald aber Sympathie die
Würkung meiner Selbstliebe ist; die nur durch meine
Empfindungen und Vorstellungen in ihren Würkunge» bestimmt wird: so lasten sich jene Erscheinungen gleich
daraus erklären; und können natürlicher Weise nicht anders erfolgen, als sie gefunden werden.
b) Die Menschenopfer, auf den Altaren desAberglaubens gebracht; die Grausamkeiten, mit welchen
die Wilden ihre Feinde langsam 311 Tode quälen; alle Jammer-Scenen, welche eine rach, und blutdürstige
Leidenschaft ie aufgestellet hat; alle diese Unmenschlich, feiten, sage ich, würden sich gar nicht erklären lassen; sie hätten unmöglich würklich werden können: wenn die
Sympathie für sich ein reiner Grundrrieb der Menschheit;
Md keine, bloße würkung der
Selbstliebe wäre.
Die Selbstliebe kann alle jene
schreckliche Thaten würfen: so bald sie durch gewisse Empfindungen und undeutliche Vorstellungen von dem,
was ihr Glück betrifft, dazu gestimmt wird.
Lebte aber
die Sympathie, als ein unmittelbarer, und von der
Selbstliebe unabhängiger erster Grundtrieb in unserer Natur; so müßte das Entstehen jedes mord-und blut
dürstigen, ia selbst schon jedes nur im kleinsten Grad«
0 5
feind-
218 Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. feindseligen Gedankens gegen einen andern Menschen,
überallvölligunmöglich seyn.
Ein solcher Gedanke;
ia die bloße Fähigkeit ihn fassen zu können; wäre alsdenn der menschlichen Natur schnurgerade widerspre
chend.
Was hätte denn unterdessen und während der
Zeit, da die Aachbegierde tödtete, der Grundtrieb der
Sympathie in diesem Menschen gemacht?-Hätte er unterdessen etwa im eigentlichen Verstände geschlafen? Oder, ist etwa die tödtende Rachbegicrde auch ein
Grundtrieb der Menschheit? der, wenn er will, den Grundtrieb der Sympathie übermannen kann? Wel
cher Widerspruch wäre denn in der menschlichen Natur angebracht? Da dis aber unmöglich ist; welcher Wi
derspruch liegt folglich in bett Begriffen? und welche
lächerliche Behauptungen stießen aus der Meynung: daß Sympathie ein erster Grundtrieb
für
sich; und keine würkung des einzigen Grund-» triebes der Selbstliebe seyn solle.
c) Woher kommt es denn, daß, wenn unserem
Freunde, und einem Fremden; oder gär unserem Fein, de; wenn, sage ich, diesen verschiedenen Menschen zu
gleicher Zeit ein gleich harter Unfall betroffen hat: daß alödenn unser Mitlciden mit dem freunde, das groß, te ist? Das könnte doch auch nicht statt finden; wenn
Sympathie ein Grundtrieb wäre.
Dieser müßte ge gen
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.
219
gen den Feind so stark; als gegen den Freund sich zei» gen.
Ader kommt jene Erscheinung nicht daher; weil
sich unsere Selbstliebe bey dem Freunde am meisten in«
tereßirt findet?
Aus dem allen, was bisher gesagt ist; ergibt sich nun aufs deutlichste: daß wir durch unsere Selbst
liebe zum Mitleiden gestimmt stndr und daß di? nach dem Maaße von uns stärker, oder
schwächer, gefühlt wird; je nachdem unsere Vorstellung von den schmerzhaften Empfin-
Hungcn dos Leidenden, genauer mir der Vor stellung übercincrifte,
dir wir uns von un#
ferm eigenen schmerzhaften Gefühle machen, das wir in feiner Lage haben würden.
Da,
wo wir uns diese Vorstellung gar nicht ma chen können;
oder ste doch würklich nicht
haben; findet auch Vein Mitleiden start. Mein, was kann nun in Ansehung des Mit
leidens gegen seinen nothleidenden wachsten, von dcmienigen gefordert werden; der den Nahmen ei
nes Menschenfreundes führen will? Es ist offenbar; daß, da die Menschen in ihren einzelnen natürlichen
sigen Theile, woraus sie bestehen, insonderheit in An. sehung ihres Bluts und Nervenbaus, so sehr verschie
den
820
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
den sind; man daher auch schlechterdings nicht von
mehrer» Menschen, die zugleich Zeugen von ein und
eben demselben Unglücksfaüe ihres Nächsten sind; for*
der» könne: daß sie alle einerley starke Bewe gung des Mitleides fühlen sollen.
Ich sage,
dieser Forderung widersprechen iene natürliche Verschie denheiten, welche ihren Personen zukommen.
Und
diese sind mit der größten Weisheit und Güte zu den
besten Absichten von dem Schöpfer unter sie eingesührt. Denn zu geschweigen, daß diese Verschiedenheiten zu
der Schönheit der Welt, die aus der Mannigfaltigkeit
ihrer Theile überhaupt erwachst; nothwendig erforder lich waren: so ist dadurch zugleich auch für alle Arcen der Hülfsbedürfrigen am vollständig
sten gesorgt.
Ein einzelner Mensch kann und soll
nicht aller Noth abhelfen.
Die gesamte Noth
aller Menschen in der Gesellschaft, ist eine all
gemeine Angelegenheit aller Mitglieder.
Jene
ist von vielfacher Art. Es müssen also auch vielfach ge
stimmte Menschen da seyn; von denen ein Jeder da
fühlt; und da stärker, als der Andere, fühlt: wo gerade sein, ihm angewiesenes Theil von jener allge
meinen Noth, liegt; dem er abzuhelfen bestimmt und
geschickt gemacht ist. —
Allein darauf werden wir
nun sehen müssen, wenn wir Menschenfreunde seyn wollen; daß diese reine, natürliche Anlage bey uns durch
keine
VomMitleiden und der Barmherzigkeit.
22t
keine fremde Zusätze verdorben; daß dieser Grundriß, diese ursprüngliche Zeichnung und Bildung unfererNa-
kur, durch keine falschen Züge verstellt; daß diese schö. ne natürliche Stimmung unserer Selbstliebe, durch
keine unnatürlichen Gewohnheiten, und verwerfungs würdige Grundsätze verstimmt; sondern vielmehr das
kheilnc 1 nende Gefühl der Menschheit, in der Lauter keit bey uns erhalten werde; in welcher es einen» Jeder»'
»»Sch der besondern Einrichtung seiner Natur mit auf
die Welt gegeben ist: und daß es nach den Vorschrif ten vernünftiger Grundsätze in seinen Würkungen so
gelenkt werde; daß dadurch eine immer größere Ver edelung unftrer Gesinnungen und unsers ganzen Cha. raetxrs., und eine immer wohlthätigere Beförderung
der Wohlfarth Anderer bewürkt werden möge.
Wir
wollen uns zu dem Ende folgende Regeln merken..
Reget«. 1) Erhalte stets den Gedanken lebhaft bey dir:
daß ein Leder anderer Mensch, er sey in seinen äußerlichen Umständen, nes Gleiche»» sey.
wer er wollet
dei
Laß dich keinen Unterschied der
Stände und Lebensarten, des Reichthums, der Erzie
hung, der Sitten und Aufführung, der Bildung, der Gemüthsart, der Erkenntnisse, des Vaterlandes, der
Verwandtschaft und Freundschaft, oder wie er nur Nah»
men
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit
222
men haben mag; irre machen.
Alle diese und andere
Unterschiede verändern in derHauptsache, nehmlich der menschlichen Natur,die er mit dir gemein hat; nichts.
Sie betreffen entweder nur blos äußerliche Verhält
nisse in der Gesellschaft; oder doch nur außerwesentliche Stücke an dem Menschen selbst.
Im übrigen ist
er ein Mensch, wie du: undalles, war^norh-
wendig zur menschlichen tTatur gehört;
be
findet sich bey ihm nicht mehr, und nicht we niger; als bey dir.
Er hat Fleisch und Blut, Kno
chen und Nerven, Glieder, Sinne, Empfindungen,
Selbstliebe, Denkvermögen, Triebe, Wünsche, Hoff nungen ii. s. w. so gut; als du.
Mag sich doch in den
Verhältnissen dieser Dinge unter einander ein Unter«
schied bey ihm befinden: so sind sie doch selbst, bey ihm so gut ; als bey dir, da.
Du wünschest dich glücklich,
und strebst unaufhörlich nach der Vermehrung deines
Glücks.
Der Fürst, und der Bettler; der so genann
te Lasterhafte, und der Tugendhafte; der Kluge, und Dumme; der Große, und Kleine; mit einem Work: alleMenschen werden durch dieselbigen WutiV sche getrieben.
Du stichst Noth und Schmerz.
Ein jeder Anderer verabscheuet diese Dinge nicht weni ger.
Du verlangst, daß ein Jeder ehrlich, gerecht,
aufrichtig, friedfertig, treu, dienstfertig, sanftmüthig, liebreich mit dir umgehen solle» Ein jeder Anderer ver langt
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. langt dasselbe.
223
Du bist mit deinem Nebenmenschen
auf einerley Wege in die Welt gekommen; und hast ei
nerley großen Beruf und Bestimmung mit ihm» Er,
und du,zwar zwcyMenschen; aberdochbeyde; Men Je unwidersprechlichcr sich diese Wahrheit vor
schen.
deiner« Sinnen, und vor deinem Verstände rechtferti get; desto weniger vergiß eö: in dem Andern, stets
dich selbst zu finden; dich selbst zu lieben; und seine Angelegenheiten/ als die deinigen anzu
sehen ; desto ernstlicher entferne alle die falschen Vor« urtheile von dir, die dich fühllos gegen deinen Nächsten
machen,
jfl'ctn höherer Stand in der Welt,
keine
Verschiedenheit der Religions-Gebräuche und Meynun gen, kein Unterschied der Sitten und des Vaterlan des, u. s. w. hebt die Gleichheit deiner LTlamr mir der seinigen auf.
Alles, was dir in der Ju
gend von schlechten Leuren unter der Bedeutung gesagt ist: als gäbe es gewisse Menschen, die nach Ur«'
theil und Recht das Loos der Verachtung tragen müß,
ten; die keiner besondern Aufmerksamkeit werth wären; deren angebohrne Schuldigkeit es sey: daß ste stch
alles vo>« Andern gefallen lasten müßten u. s. w.
Das sind lüderliche und verabscheuungswürdige Grund
fähe; denen du entsagen mußt, weil dir Sinne und Vernunft weit stärkere Beweise für das Gegentheil füh ren.
Die Stände in der Welt führen nur äußerliche
Beztr-
224
Vom Mitleidm und der Barmherzigkeit.
Beziehungen in der Gesellschaft mit sich; und legen
dem Einen, diese; dem Andern, iene Pflichten auf; die aber alle für das Wohl der Gesellschaft nöthig sind:
von denen also keine, über den, der sie übt, eine Ver ächtlichkeit führen kann.
Jedes Mitglied in der Ge-
sellfthafk hat seinen Plaz, auf dem es steht: und füllet
denselben so gut aus, als es kann, und als zum Wohl Und wenn schon der
der Gesellschaft erforderlich ist.
Eine, der Gesellschaft mehrere Dienste zu leisten scheint,
als der Andere: so ist doch Keiner unnüz; und Keiner
kann fehlen; ohne daß viel Gutes in der Gesellschaft weniger rväöe, und dagegen viel Zerrüttung gestiftet
würde.
a) Eine jede Art von Noch,
detneu Nächsten stehest;
in der du
macht ihn deines
Mitleidens in dem Maaße würdig, als diese Noch groß ist!
Dis ist der wahre Gesichtspunct,
den du überall nehmen mußt.
Das gewöhnliche Ur-
cheil, was man insgemein hört:
der Mensch ist
ftldst Schuld daran, daß es ihm so übel gehr: er hak es nichr besser haben wollen: ihm gefchicht ganz recht u. f. w>:
ich sage, dergleichen
Urtheile gehören zu den allerlieblosesten; und können
nur aus einem Munde erschallen, der ju einem Kopfe voll wüster Vorurtheile und blinder Eigenliebe gehört.
Der
Vom Mitleiden uud der Barmherzigkeit.
Der Tugendhafte, meinst du,
225
verdiene in vor»
kommenden Fällen mehr Mitleiden; als derLaster-
hafre^ Aber,
wen nennst du denn tugendhaft^
und wen lasterhaft?
da du weißt,
daß ein über
Mensch in seinen steyen Handlungen an dem Maaße
seiner Erkenntniß gebunden ist! und dis Erkenntniß
das Resultat von der besondern Anlage und Einrichtung seiner Natur, seiner Kräfte, der Beschaffenheit seine-
Bluts, seiner natürlichen Neigungen, seiner Sinne, seines Empfindungs- und Denkvermögens, seiner Er» ziehung, seines genossenen Unterrichts, seiner gehabten Gelegenheiten, und tausend ariderer innern und äußern
Umstände und Verhältnisse ist, die sich der Mensch nicht selber wählen, geben, ordnen und einrichken konn te; sondern in die er gesezt und gestellet wurde; die er
annehmen mußte, wie sie ihm gegeben wurden; und
gegen welche sich so wenig ein möglicher Widerstand von Seiten des Menschen denken laßt; als er sich sei*
ner Geburth widersetzen konnte? oder sich künftig seinem Tode wird widersetzen können?
Wenn ein Jeder
sich selbst liebt; und lieben muß; und unmög lich hasten kann ? so sahe der Unglückliche, und in
deinen Augen Lasterhafte, ia vorher nicht: daß sine
Handlung dis Unglück zur gewissen und unansbleibli« chen Folge haben würde! sonst würde er iene gewiß um
terlassen haben.
Wtnnlchs? iv Th.
Wenn ein ieder Mensch in der fol-
P
gen«
2 26
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
genden Zeit klüger wird, als er in der vergangenen war; so würdest du hartherziger Richter deines Näch
sten, an deinem vorigen Verhalten auch Flecken genug
finden können; wenn dich deine stolze Eigenliebe nicht blendete.
Und wenn deine Vergehungen dich in ihren
Folgen nicht so unglücklich machten; als ihn die feint»
gen? so danke es deinem guten Schicksal«! und halte es für kein Verdienst von dir: deinen Nächsten aber
sieh« nicht als einen Strafwürdigen in Rücksicht auf
das vergangene; sondern als einen Besserung^ fä higen in Absicht auf die Zukunft; in seiner gegen#
wärrigen Noth aber als einenUnglücklichen an; dem seine bloße Noch, fte komme her, woher fte
wolle? und wenn fte tausendmal die Folge sei ner eigenen^Thorheie-war?
auf dein Mittels
den und auf deinen Beystand gerechten Ans spruch gibt.
Dem zu Folge, ist also mich an dem
Mörder, und dem gröbsten Lasterhaften, der je gelebt hat, oder leben wird; nichts vorhanden: was dir feine menschliche Natur in deinen Augen verstellen und ver
dunkeln; oder ihn deines theilnehmenden Gefühls an seinen Schicksalen unwürdig machen könnte.
3) So wie du dich vor elenden Grundsätzen, die dein Menschen - Gefühl gegen Andere ersticken können;
hüten mußt: so hast du dis auch in Absicht sol cher
Vom Mitleidm und der Barmherzigkeit.
227
«Her Gewohnheiten nöthig,
die einen Hart
sinn zur Folge haben können.
Wenn du oft Ge
legenheit hast, traurige Vorfälle deiner Nebenmenschen zu sehen; so verliehrt sich allmählig dieZärtlichkeitdei
nes Gefühls.
Jener^ Kraft, einen lebendigen Ein
druck auf dich zu machen; wird geschwächt.
Du wirst
ihrer gewohnt: und diese Gewohnheit stählt dich viel
leicht so gegen sie ab; daß du endlich ganz gleichgültig und fühllos gegen sie werden kannst.
Es wird nicht
verlangt, daß du, um dieser Unempfindlichkeit vorzubeugcn:
die Bekanntschaft und den Anblick
aller solcher traurigen Vorfälle fliehen und
vermeiden sollst!
Keinesweges.
Solche weichli
che Sclaven der Zärtlichkeit ihrer Sinne, und der ei«
gennühigen Liebe ihrer Ruhe, verdienen gewiß von die ser Seite keine Achtung.
Sie sind schlechte Mitglie
der der Gesellschaft; und die Entschuldigung: daß sie
dergleichen Vorfälle nicht sehen oder hören können; ist in den meisten Fällen kein Beweiß ihrer zärtlichen Men«
schenliebe;
sondern jener Sclaverey,
Schande gereicht.
die ihnen zur
Ein anderes wäre es; wenn höhe
re Pflichten es mir untersagten, der Zeuge eines sos. chen Vorfalls zu seyn; oder ich mit ganzer Gewißheit überzeugt wäre: daß ich zur Abhelfung des Elendes
durch meine Gegenwart nicht das geringste bewürken könnte.
—
Im übrigen wird hier nur verlangt: D a
daß,
228
Vom Milleiden und der Barmherzigkeit,
daß, ie häufiger dir dergleichen Vorfälle vor
kommen;
du desto öfter und lebhafter die
Bewegungsgründe zur
Menschenliebe und
zum Mitleiden in deinem Andenken zu erneu
ern und sie dir gegenwärtig zu erhalten suchen
sollest: damit dis Menschen-Gefühl nicht all-
mählig bey dir verlösche; und fuhllose Härte sich an seine Stelle seye.
Dis haben sich inson
derheit diejenigen zu merken, welche einen kranken, oder gebrechlichen, oder sonst nothleidcnden und elen
den Menschen lange Zeit um sich haben müssen: wie auch diejenigen, die sich zur VertheÜügvng des Vater
landes; und diejenigen, welche sich zur Heilung und
Pflege der Elenden in Hospitälern und Lazarethen ha ben verpflichtenkassm.
4) Da wir deßwegen des Mitleidens fähig gemacht
sind; daß wir dadurch zu thätigen Hülfsleistungen ge gen den Nothleidenden erweckt würden; so siehe, so
viel möglich, auch dahin; daß die Aufwallungen
des Mirleidens nicht so stark, heftig und leb-
haft bey dir werden; daß ste dich zu Lenen Erweisungen der
machen.
thätigen Hülfe unthätig
Hiezu gehört; daß du durch di« lebhafte
Vorstellung und Erwegung:
daß
die Leistung
würklrcher Hülfe dem Unglücklichen zuträgli
cher,
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 229 eher, als müßiges Mitleiden sey, theils deine
Sinne in ihrer zu großen Zärtlichkeit zu bezwingen;
theils die zu heftigen Aufwallungen deines Bluts zu
dampfen; und überhaupt deine zu lebhafte Empfind lichkeit in solchen Fallen zu mäßigen suchest.
s) Ich muß mich hüten;
eine Noch, in
der mein Nächster seufze, darum gerade zu
für klein und keiner Aufmerksamkeit werth zu achten: weil sie es in meinen Augen zu seyn scheint! Es kann in der That seyn; daß wenn mich
derselbe Unfall getroffen hätte: ich weniger dabey ge
fühlt haben würde; als er.
Wir haben nicht alle ei
nerley empfindlichen Nervenbau, einerley Beschaffen
heit des ganzen Cörpers, einerley Einsichten, u. s. w.
Mithin kann derselbige Schmerz für ihn allerdings größer und empfindlicher seyn, als für mich.
Ich
würde aber wider die Menschenliebe handeln, wenn ich
schlechterdings lenen natürlichen Unterschied nicht ach ten; sondern mich zum einzigen Maaßstabe in der Be urtheilung Anderer annehmen wollte.
Die Menschen
liebe gebiethet mir vielmehr; mich in des Andern
Stelle hinein zu denken: und nun vernünftig aus zumachen; was von seiner Seite mit Billigkeit ge wünscht werden könne? und von meiner Seite der
Gerechtigkeit und Gütigkeit zu Folge gethan werden
Pz
müsse?
2Zo
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
müsse? Dem zu Folge wird mir auch der Kummer
des Nächsten nicht gleichgültig seyn dürfen; welcher
bey ihm blos aus falschen Vorstellungen der Einbildung entstanden.
Je mehr folternde Kraft diese für ihn ha
ben; desto mehr soll mein Mitleiden sich dahin thätig öussern, daß ich meine bessern Einsichten zu seinem
Troste und überhaupt zur Erleichterung und Hinweg schaffung seines Kummers anwende.
II. Von der Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit besteht in den thäti gen Erweisungen des Mirleidens ; oder, in der
würklichen Beflissenheit, den Nothleidenden alle die Hülfe, die man kann, würklich zu leisten: damit ihr
Unglück entweder geendlget, oder doch erleichtert werde.
Wir haben hier alle die Regeln wahrzunehmen, die in dem ganzen Capitel von der Dienstfertigkeit gegeben
fmb; und wollen denselben noch einige nähere Bestim mungen beyfügen.
a) Die Erweisungen der Barmherzigkeit
können und müssen schon mehr unter der Herrschaft und Leitung der Vernunft stehen;
als von den bloßen Empfindungen des Mit leidens erwartet werden kann.
Deßwegen müs
sen die Fälle/ wo eine eilfertige und ungesäumte Hülfslristung durchaus nothwendig ist; wo jeder Zeitverlust die
Vom Mitleidcn und der Barmherzigkeit. 231
die folgende Rettung unmöglich machen würde: von demenigen Fällen sorgfältig unterschieden werden; bie einen Aufschub jener Hülfe zulassen. Die Größe des Guts und der Gefahr, in der es schwebt; die be sondere Zusammenstimmung der Umstände, die seine Rettung iezt hoffen lassen, und die ich fernerhin zu er, warten keine Wahrscheinlichkeit habe; geben mir hier vornehmlich den Wink, dem ich folgen soll. In al len übrigen Fällen aber, wo entweder ein kleineres Gut nur in Gefahr; oder, diese selbst, wenn auch ein grösseres Gut von ihr bedrohet wird; doch noch nicht so dringend ist; daß sie mir nicht Zeit zu reifernjUeberlegungen dessen ließe, was am besten von meiner Seite dabey zu thun seyn möchte: da muß ich mich mit mei, nen HüssSletstungen nicht übereilen; sondern mir so viel Zeit lassen, als nöthig ist, die Gefahr wenigstens erst recht von allen Seiten kennen zu lernen; und alsdenn zu beurtheilen, welches die ersprießlichsten Mittel seyn möchten, derselben aufs beste abzuhelfen ? Die Ersah, rung lehrt: daß ein Mensch, der diese Regel zu beob achten versäumt; oft übereilt die ungeschicktesten Mittel ergreift: die, anstatt die Noth zu mindern, sie in über schwenglichem Maaße vermehren: wie dis z.E. oft in Krankheiten durch unbedachtsame Wahl der Arzney mittel geschicht. Mache ich mich in den dringenden Nothfällen einer solchen schädlichen Uebereilung schulP 4 Wg;
2Z2 Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
big; so rechtfertigen mich die Umstande hier eher,
als da, wo die Gefahr keine Eilfertigkeit nothwendig machte.
Eben so kann ich auch leicht durch die er.
sten Aufwallungen meines Mirleidens erhizr,
in meinen
Hülfsleistungen ergiebiger
seyn:
als es nicht nur das Bedürfniß meines Näch»
sten erforderte; sondern auch meine eigene tVohlfarrh verstattet.
Die Barmherzigkeit soll
sich nicht so weit gegen den Nächsten ergießen, daß
ich selbst darüber der BarmßerzigkeitAndever bedürftig werde! Die Selbstliebe sezt der Menschenliebe ihr Maaß
und ihre Schranken.
Zu dem Ende thue ich in den
meisten Fällen besser: wenn ich den ersten Einge
bungen des Mtüeidens nicht gerade zu ganz;
sondern nur so weit in der Uebung der Barm herzigkeit folge; daß die Noth vors erste nur
erleichtert, und ihr gegenwärtiger zu Harrer Druck gemindert werde.
Dadurch gewinne ich
Zeit, weitere Maaßregeln zu wählen; um der Wohl, farth des Nächsten auf die beste Art zu statten zu kommen; ohne gegen die meinige ungerecht zu werden»
Wider diese Regel verstossen z.E. diejenigen, die, wenn
sie einen Menschen in drückender Armuth, Hunger
und Blöße leiden sehen; dadurch zum Mitleiden be wegt.
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 233
rvfgt, ihr reichliches Allmosen blindlings weggeben: ohne die Vernunft zu fragen, was? und wie sie geben sollen? ohne die eigentliche Beschaffenheit der Noth; und die beste Art, ihr abzuhelfen; ohnedaS, wüsste sich selbst und Andern schuldig sind? und was vielleicht gar die Gerechtigkeit noch von ihnen für Andere zu for dern hat? zu bedenken. Es wäre z. E. vors erste ge nug gewesen: den Hungrigen iezt zu sättige»; oder den Nachten fi> weit zu kleiden, daß der gegenwärtigen Le bens-Gefahr abgeholfen wäre; und denn weiter, mit Rücksicht auf den eigenen Vermögensstand und der fer« nern Noth des Nächsten, solche Ueberlegungen zu ma chen, und solche Maaßregeln zu weitern thätigen Hülfs. leistungen zu fassen; daß Selbstliebe, Gerechtig keit und Menschenliebe überall damit hätten beste hen können. Oft ist auch nur blos der gegenwärtige Druck der Last so groß, daß sie dem Leidenden die Frey« heit benimmt, seine eigenen Kräfte, die er noch hat; zu seinem Heile anwenden zu können. Es ist nichts weiter nöthig; als ihm nur iezt beyzuspringen; ihm die gegenwärtige Last etwas zu erleichtern: und st> gewinnt er Freyheit, das übrige zu seiner völligen Los wickelung selbst thun zu können: ich hingegen behalte das Vermögen, welches ich hier sonst durch überflüßige Hülfe verlohren haben würde; um noch andern Noth leidenden beyspringen zu können. — Oft sind auch die P 5 jammer-
234
Vom Mktleideir und der Barmherzigkeit
jammervollsten Klagen des Nächsten nur bloße lügen
hafte Vorwände; deren Wahrheit erst untersucht M werden verdient: oder, wenn sie auch gegründet
sind; so könnte vielleicht der Leidende ihnen hinlänglich
selbst abhelfen! wenn er nur gewisse Unordnungen ab stellen; seiner Faulheit, oder andern unartigen Ge
wohnheiten und Neigungen entsagen wollte.
Es gibt
deren gar zu viele, die über Undienstfertigkeit, Härte und Unbarmherzigkeit klagen; theils, weil sie keine
Menschen finden können, die ihren Müßiggang ernäh ren, ihre Unordnungen unterhalten, oder ihrem Eigen-
nuz undHabsucht fröhnen wollen: theils,weil sieihre Verlegenheiten ohne Unterschied für die größten hal ten, und Andern die Freyheit streitig machen wollen,
mit ihren HAfSleistlMgrn sich anderwerks und dahin wenden zu dürfen; wo nach ihren Einsichten «ine grös
sere Noth sie hinrufft.
Jene verlangen: ihre Noth
solle immer für die grössere angesehen, und ihnen vor allen Andern der Vorzug gegeben werden! Der Hel
fende soll nicht selbst urtheilen; sondern sich nach ihrem Urtheile richten! Und wenn das nicht geschicht; denn
wird über himmelschreyendc Undienstfertigkeit und Unbarmherzigkeit geklagt-.
Keinesweges aber muß dis dahin gemißdeutet wer
den;
als wollte man den Hartherzigen das
lVorr reden r oder, als wollte man denen, die, wenn
sie
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 235
sie bey ihrer sonstigen Abneigung von Werken der BarmHerzigkeit, sich doch zuweilen des Mitleidens nicht er wehren können; lind denn in dem ersten Gefühl dessel ben sich mildthätig zeigen; hinterher aber ihrer Gaben sich immer wieder gereuen zu lassen gewohnt sind: als wollte man, sage ich, diesen Menschen einen Rath ge ben , wie sie ihr Mitleiden entweder ganz müßig vor übergehen ; oder wenigstens auf die wohlfeilste Art befriedigen könnten! Es gibt solche Sclaven des Unbestandes und Wankelmuths und habsüchtiger Neigun gen, denen man rathen möchte; nur gleich in der ersten Hiye ihres blinden Mitleidens so viel zu geben, als sie iezt entschlossen sind: weil nur wenig Zeit verlaufen darf; um ienes mitleidige Gefühl durch Leichtsinn oder Geiz ganz wieder bey ihnen erstickt zu finden. Nein, der wahre Menschenfreund kann oft den ersten Eingebungen seines Mitleidens seine Folgsamkeit versagen; um mit seiner Vernunft dar über zu Rache zu gehen: was Selbstliebe e was Gerechtigkeit? was Menschenliebe fordernd Aber sein Mitleihen wird darum während dieser kalt blütigen Ueberlegungen nicht erfrieren! Seine Men schenliebe wird auch nach späterer Zeit, wenn die erste Hitze jener Empfindungen verraucht ist; ihre Rechte behalten, und sie desto vortheilhafter für den Noth leidenden geltend zu machen wissen. Die
2Z6 Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. b) Die Erweisungen der Barmherzigkeit müssen
sich in ihrer Art nach der Art der Noth richten, unter welcher der Nächste seufzt.
Den Hungrigen zu spei
sen; den Nackten zu kleiden; den Kranken zu pflegen,
und ihm zur Genesting behülflich zu seyn; den verlas senen Unmündigen zu erziehen; den Schuldigen loszu lassen ; die unterdrückte Unschuld zu vertheydigen; mit
einem Worte: sich eines jeden Bedrängten so anzuneh men, wie es die Natur der Sache zu seiner Rettung
erfordert; das alles gebeut die Tugend der Barmher zigkeit: und ich muß meine Hülfe auch so lange fort,
sehen; als ich sehe: baß der Leidende derselben von mir
bedarf; und ich sie ihm ohneVerlehunghöhererPflichren leisten kann. c) Da, wo Vernunft, Gerechtigkeit und Men
schenliebe die Erweisungen der Barmherzigkeit von dir fordern, dir auch die Art und Größe derselben bestim
men; da können keine andere Entschuldigun
gen und Scheingründe, mir weichen sich der
Harre
und Unbarmherzige zu decken sucht,
etwas gelten.
Hieher gehören vornehmlich
i) Der Vorwand: daß mau des Seinigen selbst bedürfe;
oder, es doch in der Zukunft
nöthig haben könne.
Da in allen Fallen, dei
nen eigenen Bedürfnissen, wenn sie so groß, als des Nach-
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 237
Nächsten seine sind; der Vorzug verstattet ist; und da, wo du beyde nicht befriedigen kannst; keine Wohl« thätigkeit von dir gefordert wird: so sind es gewiß in den übrigen Fällen kleinere eigene Bedürfnisse, die dir deine blinde Einbildung und Leidenschaften so groß vorstellen; daß du sie, wider die Forderungen der Men schenliebe, den größern Bedürfnissen des Nächsten vorziehen willst. Jener Vorwand ist also in diesen Fällen blos ein Zeugniß deiner Lieblosigkeit und deines kriechenden Eigennuhes. Durch vernünftige Wohlthätigkeit ist noch Niemand in Man gel gerathen. — Willst du aus Vorsicht für die Zukunft, dich der gegenwärtigen Erweisungen der Barmherzigkeit enthalten? so bedenkst du nicht, daß die Tugend der Sparsamkeit nur die unnöthigen Ausgaben einzuschränken befehle: um nicht allein dei ne, und deines Nächsten gegenwärtigen dringenden Bedürfnisse befriedigen zu können; sondern, wenn eS die Umstände ertSuben, auch wider die künftige beyderseitige Noth gerüstet zu seyn: keinesweges aber die gegenwärtige Noth deines Nächsten von dir zu wei sen ; um den ungewissen Zufällen der Zukunft gewach« ftn zu seyn. Wer weiß, ob die Zukunft Unfall für dich mit sich führen werde? ob du sie vielleicht gar erleben wirst? und ob du nicht vielmehr in Rücksicht auf dein nahes Grab, als ein geiziger Narr sammlest? Noch
238
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
mehr.
IVirb dich dem Geld und Gur vor al
ler künftigen Noch mir Sicherheit schützend
Und wenn, nach bewiesener Unbarmherzigkeit in deinem Wohlstände, dein Schicksal dereinst doch traurig wer
den sollte? wo willst inr dir alsdenn das Herz herneh-
men, die Barmherzigkeit bey andem zu suchen, oder für dich von ihnen zu erwarten, die du vocher selbst ge gen Keinen üben mochtest? Hingegen werden rau
fend Hände bereit seyn, dich in deinem Unfall zu halten;
wenn man dich als einen mirleis
digen, menschenfreundlichen und gutthätigen Menschen in deinemlVohlstande gekannt har.
UeberauS elend und kümmerlich muß es auch mit dei nen Begriffen von der aüwaltenden Vorsehung ausse
hen; ^venn-u dich ponder Furcht vor dem Mangel der Zukunft, von den Uebungen der Menschenliebe abhal-
kcn lastest.
2) Man muß für seine Rinder sorgen.
Antwort: Darwiderhabeichnichts.
Aber die Be
dürfnisse deiner Kinder müssen sich nur ebenfalls die
Vergleichung mit den Bedürfnissen deinerübrigen Nebenmcnschen gefallen lassen: und wenn du deine eige^ nen kleinern Bedürfnisse, den größer» Bedürfnissen
deines Nächsten nicht vorziehen darfst; so darfst du «S
noch viel weniger bey deinen Rindern.
Wenn dir dein
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
239
dein Stolz und deine Gnbildung nur keine besondere Art von Erziehung derselben als nothwendig vorschreibt:
so wirst du auch bey allen vernünftigen Uebungen det Wohlthätigkeit nie außer Stande seyn; deine Kinder
zu vernünftigen Menschen zu erziehen, und sie wahrhaf
tig glücklich zu machen.
Die Sorge vieler Eltern für
ihre Kinder geht blos dahin, daß sie ihnen große Reich thümer hinterlassen mögen! Daher sind ihre Hande ge
gen ftemde Nothleidende verschlossen; und sie spahren wol gar an der Erziehung selbst.
Man frage die Er
fahrung: ob, i.m Ganzen genommen, die Kinder der Reichen? oder der Armen? gewöhnlicher Weise die besseren Menschen werden? ob großes Erbgut öfter
glücklicher, als unglücklicher mache? und falle denn das Urtheil, was von der Sorge derjenigen Eltern für
ihre Kinder zu halten sey, die mit Verleugnung aller
Pflichten der Menschenliebe und Gutthatigkeit gegen andere Nothleidende, jenen Schaße spahren, und ih
nen dadurch die Wege zur Ueppigkeit und zu allerley Ausschweifungen bahnen? — Noch mehr: Bey all zu vielen Eltern sind die Kinder auch nur ein bloßer
falscher Vorwand, womit sie ihre Unbarmherzigkeit und eigene Habsucht zu decken suchen.
Dis sicht man
aufs deutlichste daran: daß viele Eltern, wenn sie alt
werden; und an ihren Schwachheiten merken, daß sie ihre gesammletenEiüter bald werden verlassen müssen;
ihre
240
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
ihre Kinder bloß darum am meisten mit Verdruß anseHen, weil diese ihre gewissen Erbnehmrr seyn werden.
3) Die Gutthärigkeir sey nur eine Pflicht
der Reichen.
Antwort: Sie ist eine Pflicht al
ler Menschen; imd so bald du einen siehst, der noch
dürftiger ist, als du; so bist du gegen ihn der Reiche. Es wird ia nicht gefordert; daß du es der Summe nach,
in der Mildthätigkeit den noch Reichern, als du, gleich
thun sollest? Deine eigenen eben so dringenden Bedürf nisse, und der Grad von Möglichkeit,
oder Unmög,
üchkeit, der daraus für dich entsteht, Mdern beysprin-
gen zu können; ist der Maaßstab, nach welchem sich deine Gutthätigkeit gegen Andere richten soll.
wechsele in Gedanken die Lagen.
Ver
Sehe dich in des
noch Aermern und Elender« Stelle, als du bist; und ihn in der deinigen;
und frage dich: was du dir
denn von dem, dem dein besseres Loos gefal len wäre, wünschen würdest i Mag es doch im merhin viele Menschen geben, sage ich, die ihr größe
rer Reichthum in den Stand sezt, mit größern Sum men den Armen wohlthätig beyzuspringen: so kannst du dich doch auch nicht eher von der Verpflichtung zu denjenigen Wohlthaten, die dir dein kleineres Eigen,
thum erlaubt, lossagen; bis du bewiesen haben wirst,
paß du unter, allen Menschen, die dir bekannt sind, der allere
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 241 allerärmste seyest.
Ueberdis so gibt es auch viele
Arten der Bedürfnisse, und der Uebungen der Barm
herzigkeit; die auf Reichthum und Armuth gar keine ÄKziehung haben.
4) wenn ich schor» Niemandem etwas ge
be; so nehme ich doch auch Reinem etwas.
Ich bin doch »richt ungerecht gegen Andere; und die Werke der Barmherzigkeit sind doch der Freyheit des Menschen überladen! Antwort: Sie sind ihr überlas
sen ; aber nicht so: daß du dich ganz von ihnen lossa gen dürftest.
Der Ruhm der Gerechtigkeit ist nicht
weit her; und allemal der kümmerlichste und ärmste, der sich denken läßt.
Es fühlt sich Keiner darum zur
Hochachtung und Dankbarkeit gegen dich verpflichtet;
weil du kein Räuber bist! Gerechtigkeit ist deine unerläßliche Schuldigkeit; zu deren Uebung dich die Gesellsthaft mit Gewalt anhatken kann.
Ueberdis ist
beine Unbarmherzigkeit, von einer andern Seite betrach
tet, eine wahre Ungerechtigkeit.
Warum leben Reiche
und Arme neben einander? Warum sind dem Einen mehr, dem Andern weniger irrdische Güter zugewor fen ? Ohnstrettig darum, daß die Wohlhabendern sich
der Dürftigern annehmen sollen! Alles Vermöge« der
einzelnen Bürger zusammengenommen;
ist der allgemeine Schaz der ganzen Gesell-
. Sittlicher IV,
Q
schast.
242
Vom Mitleiden und der Barmherzigkett,
schäft.
Und das Rechr des Eigenthums eines
Bürgers kann also, in Beziehung auf die ganze Gesellschaft überhaupt, nichts mehr seyn, alö:
das
Recht der
eigenen Verwaltung eines
Theils ienes allgemeinen Schatzes, zum Be ste» der ganzen Gesellschaft.
Mithin ist durch
die gesellschaftliche Verbindung, der Arme und Noth« leidende auf meine Güter auch angewiesen. Er
hat auch Ansprüche darauf.
Wenn ich ihm nun das
jenige vorcnthalte, was mir für ihn gegeben war ? wgK bin ich mehr und weniger; als-ein Mensch, der.Andem
raubt, was ihnen gehört?
t) Man har von seinen Wohlthaten doch
keinen Dank.
Undank ist der Welt Lohn.
Antwort: Also kannst du nichts guts thun, ohne krie chende eigennühige Absichten dabey zu haben ? so fehlt
es dir also noch am eigentlichen Menschen. Gefühl? Warlich, ist eine Tugend, die sich selbst belohnt; so ist es die Wohlthätigkeit! Gesezt auch, daß die Früch
te derselben dir nicht unmittelbar von dem kommen, den du wohlkhatest; so sind Andere da, die deine Hand
lungen bemerken, und dir ihre Hände wieder reichen werden; wenn du sinken willst. —
Aber selbst die
Menschenliebe fordert ia , daß du bey den Aufopferun
gen, die du ihrentwegen zu machen hast; nicht zunächst auf
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.
243
auf deinen Vortheil: sondern auf die Rettung Ande rer sehen sollst! Jene Entschuldigung ist ia also, ein
offenes Bekenntniß: daß nichts vo» Menschen liebe;
sondern
lauter kriechender Eigennuz
in dir wohne,
und deine Handlungen regie
re! Du gehörst unter die Gattung von Undienstfcrtigen; die sich bey aller ihrer Dienstsertigkeit im Grunde
nur selbst zum ZiÄ haben. — Die Klagen über Un
dank gehören unter die häufigsten in der Welt; aber auch oft unter die ungerechtesten. Dis würde sich bald
zeigen; wenn ein Jeder dieser Klager die wahren Ab
sichten gestehen wollte; mit welchen er dem Andern
wohlthat. Wie ost würden da Absichten zum Vorschein
kommen, die der andere nicht erfüllen und befriedigen
kann; ohne in seine äußerste Beschimpfung, oder an derweitige große Zerrüttung seines Wohls willigen zn sollen.
Zu geschweigen, daß die Menschen oft von ih
ren Wohlthaten selbst ausschweifend erhabene Begriffs habe«; ohngeachtet sie im Grunde nichts bedeuten: und
daß sie oft etwas, Wohlthat, nennen, wobey dieser Nahme völlig gemißbraucht wird.
6) Ich will was thun, wenn ich sterbe»
Ich will durch meine Vermächtnisse Arme und Noth leidende glücklich matben.
Antwort! Du willst dich
also gegen, die Wohlthätigkeit wehren;
Ä s
so
lange
244
Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,
lange du dich nur wehren kannst?
und wenn
dis gar nicht mehr angeht; alsdenn erst an die Armen denken? Könntest du also ewig als Mensch imBesiz
deiner zeitlichen Güter bleiben;
so möchten tausend
Nothleidend« stets um dich her iammern: von dir wür den sie nichts zur Erleichterung ihrerRvth zu erwarten
haben? Was soll ich von deiner Menschenliebe denken? Du willst selbst keine beweisen; die Erbm sollen es thun:
Aber wenn die Unglücklichen,
dte es
bey deinem Leben sind, durch dich nicht geholfen
werden; was werden denn die zu hoffen haben, welche es vielleicht zur Teil deines Absthiedes seyn
möchten? Aller übrigen Bedenklichkeiten, die deinen Vorsaz begleiten, iezt nicht zu gedenken; so frage ich,
vb die Erfahrung es nicht lehre: daß solche Menschen durch dergleichen Vermächtnisse insgemein tausend
Weitläufigkeiten ausgesezt werden, die eö sehr zweifel
haft machen; ob sie das geringste dadurch gewinnen werden? — Ich habe nichts darwider, daß, wenn
du in deinen gesunden Tagen, als ein menschenfreund liches Glied der Gesellschaft, einen vernünftigen Ge
brauch von deinen Gütern gemacht hast; du auch noch denUeberrest derselben bey deinem Abschiede mit wohl
wollendem Herzen vertheilen mögest. Aber, seine ganze Wohlthätigkeit bis auf die Stunde seines Ausgangs
aus diesem Leben verspahren! kann nur dereigennühige und
Vom Mitleiden tmtr der Barmherzigkeit. und menschenfeindliche Charakter.
245
Um diesen nicht
an dir kommen zu lassen; so bedenke: wie liebenswür
dig die Tugend der Wohlthätigkeit; wie anständig es dem Menschen sey, für die menschliche Natur zu füh-
ken, und sich ihrer überall anzunehmen, wo man sie
leiden sieht! Wie seelig es sey, aus Bekümmerten und
Niedergeschlagenen, frohe Menschen zu machen! Wie man sonst durch seine Härte und Unbarmherzigkeit selbst
Schuld daran werden könne;
wenn Jene von aller
Hülse verlassen, zuGewaltthätigkeiten und Beleidigun gen der Gerechtigkeit schreiten! Wie wellig ich lvissen könne, ob Meiner »licht vielleicht noch weit traurigere
Schicksale in meinem hiesigen Leben noch erwarten? Wie wohl es mir alsdenn so wol, als doch gewiß ein
mal in den lezken Stunden meines Lebens thun werde; wenn ich alsdenn in die Hände barmherziger Menschen fallen tonne! Wie sehr mich also mein
eigenes Bestes auffordere; mir bey guter Zeit andere
Menschen durch mein« Wohlthätigkeit zur Gegenliebe und Dankbarkeit zu verbinden!
C. Die Gütigkeit zeigt sich ferner in den sanftmüchigen Belehrungen/
oder Zurechtwei
sungen des Nächsten. Wir wissen, daß der Wille des Menschen mit sei
nen Handlungen, von seinem Erkenntniß abhange; Q 3
diese
846
Von der Zurechtweisung.
hieß: aber dm Graden nach nicht bey allen Menschen
gleich sey; jedoch bey einem Jeden erweitert und ver-
mehrt werden könne.
Da mich nun die Menschenliebe
jur Beförderung der gesamten Wohlfarth und Voll
kommenheit des Nächsten verbindet: so fordert sie auch,
haß ich zur Berichtigung und Erweiterung
seiner Einsichten so viel beyrragen solle, als durch mich geschehen kann; damit er seineGaben
und Kräfte immer besser zur Vermehrung feines eige
nen , und des Glücks der Gesellschaft zu gebrauchen im Stande sey.
Mein wie kann ich alle Mmschm, und in allen Wahrheiten unterrichten? Antwort: Alle Menschen kann und soll ich nicht zurechtweisen. Die ist für einen
einzelnen Menschm ganz unmöglich; und wie wir oben gesehen haben, auch gar keine Forderung der Men schenliebe,
Ich mag auf dem Erdboden leben, wo ich
will; befinde ich mich nur in einer menschlichen Gesell,
fchastr so wird es mir nie an Gelegenheiten fehlen kön.
neu, die einzelnen Vorschriften der Gütigkeit auszu. üben, Das ganze Mißions-Geschäfte in fremde Lan
der, und unter die entferntestm Völker, ist daher ein
sehr eitles Unternehmen.
Wenn der Mensch um sich
her nichts mehr zu bessern und in der Vollkommenheit
zu fördern fände; wenn es sich denken ließe, daß Alle, die umundneben ihn lebten, mit ihren Einsichten schon
auf
Von der Zurechtweisung.
247
auf der äussersten Grenzlinie des menschlichen Wissens
ständen: denn möchten ihn Menschenliebe, und die Besorgniß, daß seine Kräfte sonst ohne Uebung verro
sten möchten, treiben: die Enden der Erden mit der Absicht zu durchirren; umfich Unwissende aufzusuchen,
und sie durch das Uebermaaß seiner Weisheit zu er
leuchten! Allein, dis ist nirgends der Fall; und wir haben oben gesehen: baß ie mehr ich zur Erleuchtmrg
derjenigen Gesellschaft, die ich mein Vaterland nenne, oder unket welche mich sonst mein Beruf gestellet hak, beytrage: desto nüzlicher werde ich auch den Auslän
dern.
Eine ganze erleuchtete Gesellschaft ist für sich
«ine Sonne, die ihre Strahlen weit um sich her ver breitet, und auch benachbarte und entfernte Länder Hella
macht.
Die Weisheit eines einzelnen Menschen hin
gegen ist für sich, eine bloße einzelne Nachtlampe.
Wie
viel wird er erleuchten, wenn er mit ihr den ganzen Erdkreiß durchläuft? Noch mehr4 Bey der erstaunlichen
Verschiedenheit, die sich unter den Menschen in Anse hung ihrer Gaben, Fähigkeiten und Neigungen beßn-
det; bin ich ia unmöglich geschickt: alle Menschen zu« rechtzuweifen.
Wo finde ich das Land, dessen Einge-
hohrne ohne Ausnahme in ihren Erkenntniß-Fähigkei
ten unter mir stehen? oder, deren Vervyllkommung schlechterdings aus meinen Unterricht wartet? Daß
sich dis diejenigen, welche, um Juden und Heiden zu Q 4
bekeh-
248
Von der Zurechtweisung.
bekehren und zu erleuchten, die Welt durchlaufen; und
auch diejenigen, die iene zu dieser müßigen Arbeit aus senden, einbilden! ist wol wahr.
Aber die Erfahrung
lehrt auch, daß es ein bloßer Traum ihrer Einbildung
sey. Was wird durch solche herumlaufende Apostel aus
gerichtet? Vielleicht, daß fremde Völker durch sie aus einem Irrthume heraus; aber dagegen auch gewiß in
zehn andere hineingeführt werden, auf die ihr gesun der Verstand sonst nie gefallen wäre? daß ihnen solche
hohe Lehren geprediget werden; vor denen die Vernunft erschrecken muß,wenn sie sie bedenken will? daß ihnen
Andachts- Uebungen angepriesen werden, die sie um kein Haar glücklicher machen? ihnen Pflichten ange
drungen und aufgebürdet werden; die ihnen zu nichts
nützen? u. s. w.
Und was sind es für Haupteigen-
jchasten, die einen Menschen zu einem solchen Apostel amte tüchtig und geschickt machen? Ist es etwa ein außerordentliches Uebermaaß von Weisheit und Ver stand, das er besitzen muß, und daS ihn über seine Zeit,
genossensichtbarerhebt? KeineswegeS. Eine vorzüg liche Lust zum müßigen Herumlaufen auf dem Erdbo
den! eine ausschweifend fromme Einbildungskraft! und der stolze Wahn, daß er sich dadurch ausserordentliche
Vergeltungen des Himmels vor denjenigen verdienen
werde, die im Lande bleiben, und sich redlich nähren!
das, sage ich, sind die vornehmsten Erfordernisse zur Tüchtig-
Von der Zurechtweisung.
249
Tüchtigkeit eines Juden - und Heiden • Bekehrers. —-
Nein, die Pflicht der liebreichen Zurechtweisung soll nur
in demienigen Creise von Menschen geübt werden, in deren Gesellschaft und nähern Verbindung du mit dei nem anderweitigen Berufe lebst.
Führt dich
dieser dein Beruf unter fremde Völkerschaften! alsdenn wandelt freylich die Pflicht der Zurechtweisung mit
dahin.
Diese aber zur eigentlichen Absicht seiner from
men Wanderschaften zu machen; oder, ausBekehrunge -
Sucht ein hcrumlaufender Apostel zu werden; das
fordert die Menschenliebe nicht-
Allein soll ich denn alle die, mit denen ich ttt
Gesellschaft lebe; zurechtweisen? nicht.
—
Auch das
Diese Pflicht hat vielmehr von ihnen nur dieic.
nigen zu ihrem Gegenstände; aus deren Reden oder Handlungen du wahrnimmst, daß es ihnen an gewis
sen nothwendigen Kenntnissen fehle, die, wenn fle bey ihnen da waren, sie viel bester zu ihrem eigenen und
Anderer Glück würden handeln lasten; deren Abwesen heit aber auch sie zu ihrem eigenen oder Anderer Scha
den handeln laßt.
Dis sezt voraus, daß du dich eige
ner bessern Einsichten in der vorliegenden Sache, als
die ihrigen sind, wahrhaftig bewußt seyn, und volle
Ueberzeugung davon haben müssest.
Die Umstande,
Verhältnisse, Verbindungen und anderweitige BeschafQ 5
fenhei
2Z0
Von der Zurechtweisung.
fenheiten aber, in welchen du dich mit demjenigen, der
der Zurechtweisung bedarf, befindest: müssendichdenn lehren, ob? und wie die Zurechtweisung selbst würklich
angebracht und ausgeführt werden müsse? Es ist übrigens kaum nöthig, zu bemerken; daß die
Zurechtweisung, von welcher wir hier reden, nur ein
Theil desgesammten wechselseitigen Unterrichts sey; den
sich Menschen unter einander geben: weil sich jene zu nächst nur auf diejenigen Wahrheiten bezieht, deren
Einsicht ein besseres sittliches Verhalten bey ihnen zur nächsten und unmittelbaren Folge haben.
Die Zurechtweisung selbst kann nun da, wo die Menschenliebe sie von mir fordert; theils durch meü wen mündlichen Unterricht und wörtliche Vor
stellungen,
die ich dem Nächsten mache:
theils
durch mein lehrendes Beyspiel, das ich ihm in meiner bessern Handlungsart gebe, geschehen.
Wir
wollen uns folgende Regeln merken, die hauptsächlich
hier in Acht genommen zu werden verdienen.
Regeln. i) Hüte dich gar sehr, das Zurechtweifen
Anderer nicht zu einer Gewohnheit hey dir
zu machen! dich nicht immer, so oft du mit einem Menschen zusammen kommst, oder ihn handeln siehst,
in
Von der Zurechtweisung.
2ZI
in den Fall gesezt zu glauben, daß du ihn znrechtweisen könnest und müssest! oder einen Jeden immer so
finden zu wollen, daß er deiner Zurechtweisung bedür fe! Es gehört gar viel dazu, wie wir bald sehen wer
den , der Sittenlehrer Anderer in einzelnen Vorfällen mit Nutzen zu seyn! Ständen die Menschen alle würk-
lich in der Reihe, wie sie ihren bessern Einsichten nach auf einander folgten; so würde ein Jeder feinen ver-
hältnißmaßigen Standort gegen den Andern sehen.
Er würde die Gabe seiner Zurechtweisung also nur bey
denen anzubringen möglich halten; die er unter sich gestellet fände: hingegen mit dem Gefühl eines Lehr
lings gegen seinen Meister, zu denen hinaufschauendie über ibn ständen.
Da aber ieneReihe nicht ge-
fiellet steht; fordern die Menschen auf dem Erdboden durch einander laufen: so ist ein Jeder über seinen unbe zeichneten Standort gegen den Andern gemeiniglich ei
fersüchtig, und bemüht, durch sein Tadlen und Zurecht
weisen Anderer, die unentschiedene Wahrheit zu ent scheiden, und es außer allen Zweifel zu setzen: daß
er ihr Vordermann sey!
Je größer denn der
Grad der Eigenliebe und des Stolzes bey einem Men
schen ist: desto unruhiger machen ihn diese Leidenschaf ten ; um jenen Proceß überall, wo er mit Andern z«.-
sammenkommt, anzufangrn: und desto ungestümer;
ihn zu seinem Vortheil entscheiden zu wollen»
Hüte
dich
LZ»
Bott der Zurechtweisung.
dich vor diesem Fehler; und ie weniger es entschieden ist, ob Du? oder der Anderes in jener Reihe der
Erstere sey? desto mehr, laß dich diese Ungewißheit
zur Bescheidenheit leiten.
Vergiß eS nicht: daß, du
magst stehen, auf welcher Stelle du willst, du doch immer zu denjenigen Wesen gehörst, die alle täglich,
lernen müssen! für deren Jeglichen es unzehr^ lig mehr Wahrheiten gibt, die er noch nichd
stehr;
als die Summe derer ist,
die er ver
steht! daß du also selbst in tausend Fallen der Zurecht-, Weisung von Andern fähig und bedürftig seyest! Be
denke dabey, daß fast kein Mensch im gesell-,
schaftlichen Leben unerträglicher und lästiger
sey; als derjenige, der immer lehren und zurechkwei-
sen, tadlen, bessern und einem Jeden seine Weisheit aufdringen will; der dadurch immer Andere für un
mündig gegen sich erklärt; ihnen ihre Freyheitund das Recht, was sie haben, für sich selbst urtheilen zu
dürfen, kränkt; und dadurch das redendste Zeugniß von sich ablegk, daß eine blinde und unmäßige Eigen liebe ihn beherrsche; von der es denn obenein die Er
fahrung noch dazu lehrt, daß sie gemeiniglich mit einer
ausgezeichneten Unwissenheit in einem Hause wohne.—
Dis trifft auch bey vielen öffentlich angestellten Lehrern zu.
Manche derselben würden vielleicht ihren Stand
ort in irner großen Menschen- Reihe tief unter alle die
jenigen
Von der Zurechtweisung.
253
ienigen wegfinden; die sie lehren wollen und sol
len, würde.
wenn nähere Untersuchung darüber eingestellt Indessen hat sie ihr Schicksal einmal zu dem
Beruf des Lehrens verurtheilt! Aber, wie ungereimt ist es nun auch, wenn sie sich einbilden: daß mit der ihnen äusserlich geschehenen Uebertragung der Pflicht des Lehrens und Zurechtweisenö; ihnen auch die hin
längliche Geschicklichkeit, sie üben zu können; und die Vollmacht, ste gegen einen jeden an
dern Menschen, und in allen Fällen üben zu müssen, übertragen sey:? Je weniger sie ihre
wörtliche Ueberlegenheit an Einsichten über Andere zei gen und erweißlich machen können: desto mehr neh
men sie zu Blendwerken, durch welche sie sich aber
selbst am meisten täuschen, ihre Zuflucht: und verhül len sich in ein Gewand von Heiligkeit, das der Einfäl
tige anstaunt; und wozu der Kluge und Vernünftige die Achseln zucken muß.
2) Kommt dir ein solcher Fall vor, wo du dich
deinem Nächsten zur Zurechtweisung verbunden hältest;
so lerne den Vorfall erst recht kennen, und übereile dich in deiner Zurechtweisung nicht.
Es kann auch seyn, daß du, nach Grundsätzen, die
von der Einbildung stammen; etwas für unrecht hältest: was dem Nächsten sein besseres Wissen zu
thun
254
Von der Zurechtweisung.
thun erlaubt; oder wol gar pflichtmäßig macht?
Dis mußt du besonders aus der anderweitigen Kennt niß, die du von seinen Gaben, Fähigkeiten, von sei ner Denkungs- und Handlungsart hast, beurtheilen.
In diesem Falle suche lieber Belehrung von ihm; als daß du verwegen seyn solltest, ihn zurechtweise«» zu tbollen. Gesezt aber, daß diese Bedenklichkeit nicht
statt hatte; so suche den Vorfall mit allen seinen we
sentlichen Umständen, Ursachen und wahrscheinlichen Folgen recht unter deinen Gesichtspunct zu nehmen. Siehe darauf, ob der Irrthum, woher der Fehler .dei
nes Nächsten in seiner Aufführung kam; öder dm er sonst zu haben äusserte; von vieler oder weniger Bedeu
tung ? von großen oder kleinen nachtheiligen Folgen
für seine? oder Anderer Wohlfarth sey, oder werden
könne? Aus welchen Quellen er bey ihm entspringe? Was für Vorerkenntnisse dem Nächsten fehlm; die, wenn sie bey ihrn da gewesen wären, das Entstehen je nes Irrthums gar nicht hätten möglich werden lassen? Siehe auf die Person des Irrenden; auf seine Haupt-
neigungen; auf seine Fähigkeiten; auf die Erziehung,
welche er genossen; auf die Gewohnheiten, welche er angcnomlnen; auf die äußerliche Lage, Verhältnisse und Verbindungen, in welchen er in der Welt steht, n. s. w.
Das alles wird dir, sowol die richtige Beur
theilung seines gegenwärtige«« Irrthums oder Fehlers;
als
Volt der Zurechtweisung,
255
als auch die Wahl der besten Art, wie du die Zurecht weisung seiner anzustellen habest? erleichtern.
3) Da es der Zweck der Zurechtweisung ist, den Irrenden
aus einer gewissen Unwissenheit,
die ihm oder Andern sehr schädlich werden
kann, zur Erkenntniß einer gewissen ihm wich tigen Wahrheit überzufühcen; so richte deine
Zurechtweisung sorgfältig so ein, daß dieser Zweck da durch erreicht werden möge.
Dem zufolge mußt du
a) deine Gedanken so deutlich, als es dir möglich ist, mit den Gründen, aus welchen ihre Wahrheiterweiß lich ist, ihm vorlegen: die Unstatthaftigkeit seiner entgegengesezten Meynung, und den Widerspruch, in
welchem sie mit andern, von ihm selbst als ausgemach
te Wahrheiten anerkannten Grundsätzen, steht; ihm eben so deutlich zeigen: ihn auf die ganz verschiedenen Folgen, die euere verschiedene Meynungen für seine und
Anderer Wohlfarth haben; aufmerksam machen: seine
Zweifel mit Aufmerksamkeit anhören: da,wo «rRecht hat, ihm willig nachgeben: in den übrigen Stücken sie
mit sanftmüthigem Ernste so ausführlich und deutlich
beantworten; daß du wenigstens, so viel an dir liegt, dein möglichstes thuest, um ihn zur Ueberzeugung zu leiten,
b) Vergiß es bey deiner ganzen Zurechtwei-
simg nie, daß die Beystimmung des Andern zu deinen Behaup-
356
Von der Zurechtweisung.
Behauptungen schlechterdings nie erzwungen werden
könne oder dürfe: daß der Andere das Recht des eigenen Urcheilens überall frey behalten muß»
sc: daß dir nichts weiter, als die deutliche Auseinan
dersetzung deiner Gründe für deine gegenseitige Mey nung zukomme: und du zufrieden seyn müssest, wenn
du dein möglichstes hierin» gethan; sollte gleich der Nächste dadurch nicht zur Aenderung seiner Grundsätze
gebracht worden seyn, die Fehler,
c) Vergiß eö ferner nicht, daß
welche derselbe beging, und.um welcher
willen du ihn einer Zurechtweisung bedürftig findest; ganz natürliche Folgen, entweder seiner Erkenntniß, oder gar seiner natürlichen Beschaffenheit des CörperS
und Bluts waren: daß iene, da die zureichenden Grün de zu denselben einmal vorhanden waren, auch noth
wendig erfolgen mußten: daß sich der Mensch weder
sein Erkenntniß, noch sein Blut selbst gegeben hatte; .auch mit keiner wilden Freyheit sich diese Dinge um
schaffen könne: und daß folglich die ganze Zurechtwei
sung blos um seiner Besserungs-Fähigkeit willen gut und nöthig sey! d) Vergiß es endlich nicht, daß die Selbstliebe eines jeden Menschen bey einer jeden Ent deckung einer Unvollkommenheit an sich, in Eifersucht
gerathe: daß folglich eine jede noch so liebreiche Zurecht
weisung, wenn sie Ueberzeugung des Fehlers würkt; eine Unzufriedenheit mit sich selbst schon nochwendig
Von der Zurechtweisung. stifte:
257
daß also um so viel mehr alle übrigen
Ursachen der Unzufriedenheit,
die von dir
Herkommen können; aufs sorgfältigste vermie den werden müssen:
wenn die gute Absicht
der Zurechtweisung erreicht werden solle.
Wenn bu diese Grundsätze dir lebhaft gedenkst, und
sie dir beym Anfang und der Fortsetzung deiner Zu rechtweisung gegenwärtig seyn lässest: so werden sie dir alle Ncchthaberey, alles ungestüme Poltern und Be
schuldigen eines boshaften Willens und vorsizlicher muthwilligen Absichten des Andern, alle bittere Vor würfe und grobe Behandlungen, und alle die unschickliche Aufführung gegen deinen Nächsten verbiethen, die zu nichts weiter dient, als ihn zu erbittern; dich, als
feinen Feind und Beleidiger kennen zu lernen; und ihn
gegen alle Annahme einer bessern Ueberzeugung zu ver
härten.
Sie werden dir vielmehr Bescheidenheit ge
gen seine Person, gegen seine Freyheit, Rechte und Stand; Sanftmuth in deinen Worten; Freundlich
keit in deinem ganzen äusserlichen Betragen gegen ihn
empfehlen: und nur so weit die Aeusserungen des Ern. stes verstatten; als es die Aufrichtigkeit und Liebe zu
seiner Wohlfarth von dir fordern.
Es ist ein Haupt-
augenmerk, das man bey den Zurechtweisungen seines
aU# beleb
Nächsten zu nehmen hak; daß man durchaus
Sltfvlchrr iv. ry.
R
Von der Zurechlwetsung.
258
beleidigende Kränkungen seiner Ehrlicbe uni
so mehr verhöre;
da,
wie schon gesagt,
selbst
die bloße Bemerkung der fehlerhafren Seite
an sich,
für ihn schon demüthigend ist.
Zu
dem Ende ist es auch nöthig: daß man die Zurechtwei
sung, so viel möglich, insgemein und ohne ande,
re Zeugen vornehme.
Will fch meinen Nächsten öf
fentlich tadeln, so erfolgt eben die Würkung, als wenn
ich ihn insgeheim mit Grobheiten anfalle.
Er ver-
liehrt den ganzen rechten Gesichtspunct mit einemmale.
Er sieht alsdenn nicht mehr auf seinen Fehler, den er begangen Hal;
sondern auf die gegenwärtige
Beleidigung und Kränkung seiner Ehre, die ich ihm
zufüge.
Dis, weiß er, war keine unmittelbare
und nothwendige Folge seines Versehens; fern,
dem ste kommt ihm von mir her.
Er erkennt al
so in mir einen gegenwärtigen Feind von sich! und die Grobheit, mit der ich ihn behandele; und seine Vor stellung von der Schande, die ich ihm bey Andern ma
che , lassen ihn weiter gar nicht an seinen begangener» Fehler denken: sondern wiegeln fein Herz zur Widersezlichkeit und Rachbegierde wider seinen gegenwärtigen
Feirrd auf. bringe;
Jedes Wort, das ich nun weiter hervor
ist ihm nun lauter neue Bel«idigung!
Er
prüft nun nichts mehr: denn er erwartet von seinem Feinde nichts guts; sondern lauter Absicht ihm zu scha-
Von der Zurechtweisung. den. —
259
Hingegen, wenn ich der zärtlichen Empfin
dung, die er für seine Ehre hat, auf alle mögliche
Weise schone; wenn ich zu dem Ende mit ihm in der
Einsamkeit und unter vier Augen spreche: so wird er diese gütige Schonung fühlen und schaßen.
Sie wird
eine unglaubliche Würkungaufsein Gemüth machen. Je gewöhnlicher sich die Menschen ihre Fehler offene lieh vorzuwerfen pflegen: desto mehr Rührung und
Ueberzeugung von unserer Liebe macht es; wenn man von dieser schlechten Gewohnheit abgehk, und mit sti
mm irrendem Nächsten im Geheim sanftinüthig
spricht.
Und gesezt, er befinde sich gerade zu der Zeit,
da er gröblich fehlt, in Gesellschaft! so beurtheile cs,
ob die Zurechtweisung nicht einen Aufschub leide? Ist dis? so schiebe sie ia bis dahin auf, da du mit ihm al lein zu sprechen Gelegenheit hast. — Wäre aber kein
Zeitverlust um der schlimmen Würkungen des Fehlers
willen rathsam? so stehe zu, daß dli ihm auf die von den Andern unbemerkteste Art, die dir möglich ist, ei
nige Winke geben könnest. — Jedermann weiß, wel che beredte Redner, unsere Augen, Mienen, Geber
den, unser Stillschweigen und unser ganzes, obschon den Worten nach stummes, äußerliches Betragen seyn können! Hättest du aber ia das Reden für nokhwen,
dig?
so wähle die gelindeste Art der Vorstellungen^
Kleide etwa deine Zurechtweisung in Fragen um eigene
R 9
Gelehe
Von der Zurechlwesiung.
s6o
Belehrung ein: trage sie als Zweifel vor, die du ha best; ob die vielleicht gute Absicht, welche dein Näch
ster bey seiner Verhaltungsart haben möge; auch er reicht werden möchte? u. s. w. und suche iezt nur so
viel zu bewürken, daß die schädlichen folgenifet* nes Irrhums und Fehlers aufgehalren wer
den.
Die übrige vollständige Zurechtweisung aber
verspahre bis auf eine gelegentliche Stunde der Ein samkeit mit ihm.
Alsdenn laß dir deine Klugheitideir
besten Weg zeigen, den du mit ihm gehen mußt. — Richte dich vornehmlich auch, in deinen Vorstellungen an ihn, nach seinen besondern Neigungen, die du an ihm kennst, so viel nehmlich, als die wahre innerliche
Aufrichtigkeit dis verstattet! Und gesezt,
du kenne-
teft jene nicht genau? so nimm gerade zu die Selbst
liebe, als den ungezweifelt gewissen Haupttrieb, bcy ihm an; und richte deine Vorstellungen so ein, daß sich jene durchaus für eine bessere Art des künftigen Ver
haltens, als sein vergangenes war, intereßirt finden müsse. —
Um allen widrigen Eindruck zu schwächen,
den eine jede noch so sanfte Zurechtweisung dennoch ih
rer Natur nach darum auf den Menschen macht; weil durch dieselbe sein Blick auf seine schwache Seite gelei
tet wird, deren Wahrnehmung nicht anders, als de müthigend für ihn seyn kann: so gestehe ihm lieber dei
ne eigenen Fehler auch, deren du dich an dir selbst be wußt
Von der Zurechtweisung.
261
wußt geworden; so weit die Klugheit dis in dem vor
seyenden Falle erlaubt! Gib dich zu einem Mit genossen der fehlerhaften und verbesserlichen Menschen bey ihm an.
fehlen, sey!
Stelle ihm vor; daß,
das allgemeine Loos aller Menschen
der Vorrheil eines Jeden es aber auch
erfordere, die erkannten Fehler abzulegen! —
Dadurch machst du ihm Muth.
Er findet fich durch
deine Zurechtweisung nicht unter dich gedemürhi-
ger; sondern noch neben dir stehend.
Mit einem
Worte: Suche, so viel du kannst, es ihm recht'sicht bar zu machen, daß keine stolze Erhebung über seine Person; kein Trieb zu tadeln und Flecken an ihm zu finden; keine Rachsucht, ihn kranken und etwanige al
te Beleidigungen vergelten zu wollen; oder sonst irgend
eine unedle und ihn beleidigende Leidenschaft an deiner Seite: sondern vielmehr wahre aufrichtige Liebe zu feiner wohlsttrch, die Triebfeder deiner Zu-
rechkweisung sey.
Alödenn kannst du sicher seyn, daß,
da kein Mensch sich selbst und sein eigen Glück hassen kann; auch der Roheste, so bald er sieht, daß man seine Rechte anerkennt und ehrt; und ihn durchaus nicht zu beleidigen die Absicht habe;
sondern ihn vielmehr
herzlich liebe, und aus Liebe zu ihm rede: daß, sage
ich,
selbst der sonst roheste Mensch sein Herz deiner
Zurechtweisung willig öffnen werde. Und sollte er auch
262
Von der Zurechtweisung,
durch deine Vorstellung nicht zurechtgewiesen und ihm die Ueberzeugung beygebracht werden können, die du wünschest: so wird doch wenigstens der Erbitterung da durch bey ihm vorgebeugt, und deine gute Absicht iw seinen Augen gerechtfertiget seyn.
4) Oft ist eS auch gut, alle Worte bey der Zurecht weisung zu spahren: wenn man nemlich Gelegenheit hat, durch sein eigenes Verhalten, den irrenden und fehlenden Nächsten hinlänglich aufmerksam auf die bes sere Art zu machen, wie er sich hätte verhalten sollen! und künftig zu verhalten habe! Beyspiele haben eine ungemein lehrende 2xvaft. Sie zeigen nicht nur, was zu thun sey? sondern auch wie es gethan werden müsse? Ein gutes Beyspiel ist eine zwar still schweigende, aber sehr nachdrückliche Bestrafung für den, der schlecht handelt, und eben deswegen, weil es seiner Empfindlichkeit schont; so mächtig! ihn zu rüh. ren, zu überzeugen und zu bessern. Es findet in seinen Würkungen, keines von den Hindernissen vor sich; welche sich der mündlichen Erinnerung und Zurecht weisung entgegenstellen. — Bey dem Beyspiel ist kein Schein von Tadelsucht; kein Schein einer unartigen Begierde, über den Nächsten zu herschen. Nicht einmal der Verdacht findet dabey statt: daß der besser Handelnderem, der schlechter gehandelt hatte, den gering.
Von der Zurechtweisung.
r6z
geringsten Verdruß durch Vorwürfe machen wolle. Es gibt hundert Vorfälle, wo die mündliche Vor# ftellungen fast gar nicht mit Ruhen angebracht wer»
den können! das Beyspiel hingegen alles ausznrich. ten vermögend ist! Und es gibt andere hundert Falle,
wo das, was durch sehr viele und weitläuftige wörtli.
che Vorstellungen endlich in den Gang gebracht werden kann; durch ein einziges gutes Beyspiel in der Ge
schwindigkeit entschieden ist! hart gegen einen Unglücklichen.
Ein Mensch ist z. E. Er fühlt keinMitlei-
den und denkt an keine Uebung der Barmherzigkeit.
Er weiset die Bitten des Elenden mit bittern Vorwür fen von sich. —
Wie viele Vorstellungen hatte ich
nöthig, um ihn von seiner unedlen Denkungsart und
von seinem schlechten Betragen zu überzeugen; und zu demjenigen zu bewegen, was Menschenliebe von ihm
fordert? Statt aller Worte nehme ich mich des Un
glücklichen nach meinem besten Vermögen vor seinen Augen selbst an! —
Nun sieht er meine Geschäftig,
feit, alles zu thun, was in meinem Vermögen steht;
die Thränen des Leidenden abzutrocknen, und ihm sein Schicksal erträglich zu machen!. Er sieht das froh«
Gefühl der Dankbarkeit, das den Niedergefthlagenen
wieder belebt! —
Mein Verhalten macht dem
seinigen stille, aber dabey nagende Vorwürfe! Er fängt ay,
sich seiner bewiesenen Harte zu schämen: R 4
trit
264
Von der Zurechtweisung.
trit mit seiner Hülfe auch hinzu: und nimmt sich vor,
künftig auch edelmüthiger gegen Nothleidende zu den
ken und zu handeln. —
Ich bin überall schuldig,
gut zu handeln; bin auch da gut zu handeln schul dig, wo kein sterbliches Auge meine guten Thaten be
merkt; bin sogar schuldig, da, wo bey Andern der
Verdacht entstehen könnte, daß Stolz oder Eigennuz, daß Erwartung des Ruhms und der Dankbarkeit die Triebfedern meiner guten Handlungen seyn möchten; lieber im Stillen und Verborgenem meine Rechtschaf
fenheit thätig seyn zu lassen. Aber, bey dem allen bin
ich auch schuldig; da, wo mein Beyspiel Andere bes sern und zurechtweisen kann;
mein Licht leuchten
zu lasten vor den Leuten: daß sie meine guten
Werke sehen; sich daraus Regeln für ihr ei genes Verhalten nehmen; und zu einem ähn
lichen, rechtschaffenen Betragen aufgefordert fühlen mögen.
Du aber, der du zurechtgewiesen wirst, bedenke:
daß es dein größter Vortheil ist,
wenn du
aus Irthum zur bessern Wahrheit geführet
wirst! Zürne nicht über deinen Wohlthäter; gesezt auch, daß seine Zurechtweisung hart und bitter wäre!
Denn du widersetzest dich sonst deinem eigenem Vor theile.
Verlange nicht von ihm, daß er selbst vor
her fehlerlos seyn solle;
ehe er dich radlen
wollet
Von der Dankbarkeit wolle! Nimm die Regeln wahr,
265
welche oben im
zweyten Theile, bey dem Selbsterkenntniß, gege ben sind.
D. Von der Dankbarkeit. Da es. Gottlob, zur Ehre der Menschheit noch
nicht Mode in der Welt geworben ist. Jemandem da-
für zu danken; daß er kein Räuber, kein Ehrenschän-er,
kein Zanksüchtiger, kein Mörder, u. s. w. ist!
oder, da man die Beobachtung der Pflichten der Ge
rechtigkeit für die erste, unerläßliche Schuldigkeit eines reden Mitgliedes der Gesellschaft hält; um derentwil
len er noch auf keine Dankbarkeit der übrigen Bürger gegen sich, Anspruch machen dürfe: so werden aller mal Erweisungen der Gütigkeit vorausgesezr,
wenn die Dankbarkeit sich sehen laßen soff.
Noch
mehr: Da die Dankbarkeit selbst, nur nach dem Gra
de, als derjenige, der Wohlthaten empfangen hat, diese Wohlthaten für sich schäzt!
erfolgen kann; sie
folglich von dem Urtheile desselben über die, ihm aus Menschenliebe erzeigte Güte, abhängt:
so kann sie nicht zu den strengen Pflichten der Gerech tigkeit gezählet werden; sondern ihre Vorschriften müs sen in der Sittenlehre ihren Plah nach den Abhandlun
gen der Tugenden der Gütigkeit einnehmen; um denie-
R 5
nigen.
Voll der Dankbarkeit.
266
trigeit, der die Früchte dieser Gütigkeit auf irgend eine
Art von Andern genossen hat, zu lehren: welche wür
dige Gesinnungen, und welches anständige Betragen
er gegen den Menschenfreund
anzunehmen und zu be-
ebachten habe.
Die Tugend der Dankbarkeit-fordert, daß ich die Wohlthaten, Dienste und Gefälligkeiten, welche
mir Andere erwiesen haben, mir möglich ist,
erkennen; und so viel
durch Gegenwohlcharen und
Dienste zu vergelten/
bemüht seyn solle.
erste heißt auch Erkenntlichkeit:
eigentliche Dankbarkeit.
Das
das andere; die
Um diesen Forderungen
nachzukommen; so merke dir folgende Regeln:
Regeln. i) Sep aufmerksam auf das viele Gute,
daß dir die Menschenliebe Anderer zuwendek. Hüte dich, anzusehen.
schaft.
alles für Schuldigkeit von ihnen Du lebst in einer menschlichen Gesell
Es kann gar nicht anders seyn; als daß dir
sehr viel Gutes von Andern wiederfahrt, was diechlosGerechtigkeit ihnen nicht auferlegte, es dir abstatten
zu müssen!
Es sind ganz gewiß unzehlige Früchte und
Beweise ihrer Menschenliebe darunter!
nicht sowol
Es ist hier
von dem allgemeinem Guten die
Rede,
267
Von der Dankbarkeit.
ßtebe, das dir die Gesellschaft überhaupt zuwendet; der du daher auch mit einer allgemeinen Dank,
barkeit verpflichtet bist:
als vielmehr von den
einzelnen Liebesdiensten; die dir diejenigen, die um und neben dir leben, erweisen.
Wenn du nur ei
nige Achtsamkeit darauf hast: so werden sich dei
ne Klagen über böse Menschen vermindern, und du wirst erstaunlich mehrere Wohlthäter,
denen du zur Dankbarkeit verpstichtet bist,
darunter finden; als du geglaubt hast. 2) Unterscheide das Gute, was dir von Andern wiederfährt, sowol seinem Werthe, als der Gesinnung nach, mit welcher eS dir zugewandt wurde:
Große Wohlthaten, durch die ich aus großer
Verlegenheit gerissen wurde, verdienen größere Dank barkeit, als kleinere Gefälligkeiten.
Aber auch die
gute, uneigennützige, liebesvolle Abstcht des Gebers; und die Verleugnung, welche er dabey für sich zu üben
hatte; erhöhenden Werthseiner Gabe und seines Dien» steS, und fordern deine stärkere Erkenntlichkeit.
3) Bedenke: daß du durch die erhaltene»
wohltharen und Dienste zu thätigen Ge genbeweisungen
deiner
gegen
Liebe
Wohlthäter verpflichtet bist.
den
Das macht ei
gentlich das Wesen der Dankbarkeit aus.
Wo du Ge legen-
S68
Von der Dankbarkeik.
legenheit hast, deinem Wohlthäter seine Liebe durch den-
ne Dienste, Gefälligkeiten und Wvhlthaten wieder zu
vergelten; dergestalt, daß du dabey ein ehrlicher und aufrichtiger Mann gegen alle übrige Menschen bleiben
kannst; da mußt du kein böser Schuldner blei ben.
Es ist wahr: die'Menschenliebe überhaupt for
derte schon alle Dienstfertigkeit: und rechn der Fall er scheint; auch Mitleiden und Barmherzigkeit gegen dei
nen gewesenen Wohlthäter,
insofern er blos ein
Mensch und dein Nächster ist! Allein die Dank barkeit behält doch noch eine besondere Kraft, mit
der sie dich nicht nur noch aufmerksamer auf die Fälle, wo du dienen kannst, und noch bereitwilliger machen
muß, deinen Dienst deinem Wohlthäter würklich auf
die beste Art zu leisten; und die dabey vorkommenden
Beschwerlichkeiten nicht zu achten: sondern auch in ge wissen Fällen,
deinem Wohlthäter den Vor
zug vor Andern, in deiner Dienstferrigkeir zu geben.
Gesezt z.iE. du findest zwey Menschen in
gleich großer Noth, deren einen du nur retten kannst. War einer darunter dein ehemaliger Wohlthäter? so tritt die Dankbarkeit, mit der du ihm verpflichtet bist,
zu den übrigen Beweggründen der Menschenliebe hin
zu; und bestimmt die Hülfe, die du leisten kannst, zu feinem Vortheile.
Glaube
Von der Dankbarkeit.
269
Glaube auch nicht, daß die Pflicht der Dankbarkeit
damit abgethan sey; wenn du Gelegenheit hast, deinem
Wohlthäter in der Folge einen eben so großen Dienst
wieder zu leisten, als er dir geleistet hatte! Keineö-
weges.
Dadurch hast du nur die nackende Thathand
lung an sich, erwiedert: aber noch nicht ihren ganzen Werth bezahlt; keineswegeö noch nicht der Gütig keit geantwortet, die deinen Wohlthäter zu jenem Lie
besdienste vermochte und bewog!
Die empfangene
Wohlkhat an sich führte schon eine gewisse Verbindlich-
keit über dich her, mit der du deinem Wohlthäter be sonders verpflichtet wurdest.
Ein eben so großer Ge
gendienst, den du ihm etwa hernach leisten kannst, und würklich leistest; ist also nur ein bloßer Abtrag deiner Schuld an ihn; eine Zurückgabe ienerWohlthat selbst.
Hingegen seine frühere Liebe, die er dir bewies, war keine Frucht seiner Dankbarkeit, mit der er dir etwa verpflichtet gewesen wäre: sondern die bloße
Würkung seiner freyen Menschenliebe.
Willst
du also nicht blos als ein gerechter Mann;
sondern
auch als ein Menschenfreund dankbar seyn: so mußt
du nie glauben, ihm bezahlt zu haben; sondern stets ein dankbares Herz gegen ihn behalten; und die Erweisungen deiner Dankbarkeit überall da in deinem Leben
gegen ihn fortseßen, wo keine höhere Pflichten dieselbe
zurückhalten. —
Gesezt aber, daß du außer Stan.
270
Von der Dankbarkeit.
de wärest, ihm seine Wohlthaten durch Gegendienste vergelten zu könnest: so ist es genug, wen» du ein er kenntliches und dankvolles Herz bey dir unterhältest; das bereit ist, wenn die Zukunft es möglich machen sollte; sich in thätigen Erweisungen der Dankbarkeit gegen ihn zu öffnen. 4) Nie und in keinem einzigen Falle kann dich die Dankbarkeit verpflichten; etwas für deinen Wohlthäter zu thun, wodurch di pflichten der Gerechtigkeit gegen einen Drit ten, oder gegen Andere übertreten werden! Alle Pflichten der Gerechtigkeit gehen den Pflichten der Gütigkeit vor: und jene werden von diesen vorausgesezt! Gütigkeit gegen den Einen, die auf Ungerechtigkeit gegen den Andern gebauek ist; ist ein Verbrechen, das ein jeder ehrlicher Mann und Menschenfreund verabscheuen muß!
5) Bedenke, daß die Dankbarkeit die Pflicht beet ienigen ist, der die wohlchae empfangen harr daß sie sich auf die Schatzung gründe, mit welcherdle» ser den Werth der empfangenen Wohlthak bey sich an schlagt, und nur anschlagen kann: daß es also auf sei ne Empfindungen und Vorstellungen und auf sein Ur theil eigentlich und hauptsächlich ankomme; ob er etwas für Wohlthak für sich halten könne? und wie groß er dieselbe
dieselbe für sich ansehe? daß es also auch auf sein Ur theil eigentlich ankommen müsse, ob? und zu wie vie ler Dankbarkeit er sich verpflichtet halten könne? — Hierin versehen es die Menschen insgemein; und die VernachlaßiguNg dieser Regel ist die Haupt-Quelle der ewigen Klagen, die über den Undank in der Welt geführet werden. Die Redensart, Undank ist der Weir Lohn, ist zum Sprüchwort« geworden. Aber hat denn dis Sprüchwort so allgemeinen Grund? Es wäre doch schlimm, wenn die Menschen wahrhaftig so herrschend bösartig wären, als sie ienes Sprüchwort angebcn will! Wir wollen sehen, was dran ist. Wer sind diejenigen, die jene Klage im Munde führen? Offenbar sind es die Austheiler der Wohlthaten; nicht, die Empfänger derselben: oder, es sind die jenigen, welche glauben Andern Wohlthaten erwie sen zu haben; wofür ihnen diese den Dank schuldig ge blieben seyn sollen. Sind das aber nicht zweyerley Menschm; die mit verschiedenen Augen ein und eben dieselbe Sache ansehen und beurtheilen? Kann nicht der Eine, etwas als Gabe, die er gibt, ansehen: was der Andere, der es empfängt, nicht dafür hält? was dieser als Schuldigkeit von Jenem, oder wol gar als ein Uebel und als eine Beleidigung ansieht, die ihm zugefügt wird? Oder, kann Jener nicht den Wetth seiner Gabe höher rechnen; als ihn Dieser schätzen kann?
272
Von der Dankbarkeit.
kann? Kann Jener nicht eine Dankbarkeit von Die sen, verlangen: die Dieser, seiner Meynung nach, ohne Ungerechtigkeit zu begehen, nicht abstatten kann? oder, die seine Kräfte übersteigt? u. s. w. Wieviele tausend Falle lasten sich gedenken; die alle für sich, von der Allgemeinheit des Sprüchworts: Undank ist der Welr Lohn, Abzüge zu machen, verlangen? Wie viele mögen übrig bleiben, die die Wahrheit desselben stehen lasten, oder erweisen könnten? — Mich dünkt, die Allgemeinheit des Sprüchworts ist daher entstan den: weil sich ein Jeder zu viel, Wohlthäter gegen Andere zu seyn; einbilder. Daher sinder ein Jeder, Undankbare gegen sich! Da her die ewige und allgemeineKlage über Undank! Da her'auch die Versicherung der Moralisten, daß derUndank unter die schwärzesten Laster gehöre! Du, der du so klagst und urtheilst! gib die Wagschaale, mit der du deine Wohlthaten abwiegst, dem Andern in die Hand, der deine Wohlthat genossen haben soll, und höre: welche Schaale, ob deiner Wohlthat i oder sei ner Dankbarkeit? erschweret, oder leichter, als die andere findet? Und wenn du dich denn auch nicht ver. pflichtet zu seyn glaubst; sein dir widersprechendes Ur theil allein fürwahr gelten lassen zu müssen: so beweise wenigstens die Bescheidenheit, und mache zwischen euere beyden verschiedenen Urtheile einen Durchschnitt; so
Von der Dankbarkeit,
273
so wird wahrscheinlicher Weise, die gefunde ne Mittelzahl euch am sichersten dahin füh
ren, wo in diesem Falle die Wahrheit zwi
schen euch ruhen möchte.
Ueberhaupt aber be
denke: daß der Geber sich nur um das Wohl
thun;
keinesweges aber darum zu beküm
mern habe, ob bey dem Empfänger Dank
oder Undank erfolgen werdet Wo du Gelegen heit hast, gutes thun zu können; da sollst du ohne alle Rücksicht auf etwanigen Dank oder Undank, der dir
dafür werden möchte, gutes thun.
Dann thust du.
deinePflicht! Ob der Andere die feinige thut? geht
dich hier nichts an»
Um aber dem Undank hierdurch nicht das Wort zu reden; so wollen wir noch diejenigen kennen lernen,
welche mit Recht Undankbare genannt zu werden verdienen. 1) Dieienigen sind Undankbare, die das Gute, was die Menschenliebe Anderer ihnen zuwendet; als ei
nen Abtrag der Schuld ansehen, den sie vermöge der Gerechtigkeit von Jenen erwarten konnten: wofür sie
sich also gar nicht dankpflichtig gegen sie erkennen.
Der
Stolz macht viele Menschen von großen Vorzügen, dir sie vor Andern voraus besitzen, träumend! und läßt sie diese, als solche, ansehen; die mit der Schuldigkeit ge»
otttenlehrelV.TH.
S
bohren
bohren sind, ihnen Ehrerbiethung, Dienste, Aufwar« rung, und Beystand leisten zu wüsten! Daher neh« men sie die Wohlthaten, die ihnen von Andern erwie« sen werden, als einen Zoll hin, der ihnen ihrer Mey. nung nach, ohne Himmelschreyende Ungerechtigkeit zu begehen', nicht versagt werden konnte; als ein Opfer, das ihren großen Verdiensten und Vollkommenheiten gebührte: und fürchten wol gar, schon fast zu viel zu thun; wenn sie es die, die ihnen Gutes erweisen, durch ein freundliches Gesicht merken lasten, daß sie mit ih ren Diensten zufrieden sind! Die hochmüthigsierr Menschen sind gemeiniglich auch die undankbarsien: weil ihre erhabenen, ausschweifenden Ein bildungen , die sie von sich unterhalten, es ihnen als unnöthig angeben, auf Mittel zu denken, wie sie sich lösen mögen? wenn ein Anderer gegen sie liebreich und freygebig ist.
2) Diejenigen sind Undankbare, die sich wei gern, bey bequemen Gelegenheiten die genossene Wohl« that zurEhre ihrer Wohlthäter zu bekennen. Wcrsich nicht schämte, eine Wohlthat von dem Andern anzu nehmen ; warum will er sich denn schämen, eö zur Ehre seines Wohlthäters bey guter Gelegenheit zu gestehen? Ein solches Bekennmiß ist gewiß die kleinste Erwiede rung, die man den Liebesdiensten der Grvßmuth und
Von der Dankbarkeit.
275
des Mitleids machen kann. Einmal ist sich der Mensch
doch nicht, allein, selbst genug! Er bedarf des Bey
standes Anderer in tausend Fallen.
Warum will ich
mich denn der gegenseitigen Abhängigkeit schämen, die
ich doch nicht ableugnen kann? Warum eine stolze Miene gegen den annehmen, der mich in meiner HülsS-
bedürfligkeit mit seiner Güte untersiüzte?
3) Diejenigen sind Undankbare, welche die ge
nossene Wohlthat, wenn sie sie nicht ganz ableugnen können; doch hinterher verkleinern.
Zu der Zeit, da
der Undankbare die Wohlthat genoß, war sie ihm wol
sehr wichtig.
Aber nachher thun Viele, als wäre ih
nen nichts daran gelegen gewesen; weil sie ihre abgehol
fenen Bedürfniste nun nicht mehr fo fühlen. Entwe der schreiben sie die empfangenen Wvhlthaten schlech
ten Ursachen und Absichten zu.
Der Wohlthäter, sa
gen sie, habe nur seinem Stolze und Eigennutz gedient. Er sey durch vorgeschossene größere Dienste zur Dank
barkeit verpflichtet gewesen, u. s. w.
Dder, sie sa
gen : Die Wohlthak selbst sey eine sehr gemeine Gefäl ligkeit gewesen, die ein jeder Anderer seinem Neben
menschen auch erwiesen haben würde; dir dem Geber nichts gekostet habe; und dergleichen.
Solche Be
trachtungen wurden vorher, da die Noth gegenwärtig war, nicht angestettt! Nun, da sie hinterher kommen!
S »
zeuge«
276
Von der Dankbarkeit.
zeugen sie von einem sehr störrigen Stolze, den eine hö
here Gütigkeit beleidiget hat, und der sich nicht über
winden kann, eine Verbindlichkeit von sich einzugestehen; von einem hämischen Neide, der den Menschen
nicht ruhen laßt,bis er iencGroßmuth benaget und ih ren Glan; verdunkelt hat; und von einem Herzen, das selbst gewohnt seyn muß, seine scheinbaren Werke der
GroßmuthauskricchendenBewegungsgründenzuüben,
und daher Andern auch solche Unlauterkeiten zutrauen kann.
4) Diejenigen sind Undankbare, die die ihnen
erzeigten Wohlthäter auf eine sehr unschickliche Art er wiedern. Z. E. Wenn sie ihre Vergeltung genau nach dem Maaße der ihnen geleisteten Wohlthat und Hülfe
abmessen.
Diö kann in vielen Fällen Undank werden.
Denn, wie wir vorher gesehen haben, derjenige, der
mir zuerst seine Güte erzeigte, handelte damals aus freyer Menschenliebe.
Er war mir, der Gerech-
tigkeic nach, nichts besonders schuldig.
Ich hin
gegen stehe, nach genossener wohlchar, in der
Verpflichtung zur Dankbarkeit gegen ihn. mir Gefälligkeit erzeigt.
Er hatte
Erwiedere ich blos die That;
so bleibe ich ihm die Erwiederung seiner Gefälligkeit schuldig! (Döcr, der Dienst, den er mir erzeigt hat, kann nach Verhältniß seiner Umstände, ungemein
Von der Dankbarkeit. großmüthig von seiner Seite gewesen seyn.
277 Will ich
bey meinen nun vermögendem Umständen, in Abhel« fung seiner Noth, und Beweisung meiner Dankbar« feit nicht weiter gehen, sondern nur gerade eben so viel thun, als er nur thun konnte; da ich doch Zu
mehrerem im Stande bin; und sein Bedürfniß auch
größere Hülfe erfordert: so kann vielleicht eine Gutthäkigkeit von meiner Seite gegen meinen alten Wohl thäter herauskommen; die schon gegen einen Fremden zu kärglich genannt zu werden verdiente. Womit habe
ich ihm denn seine Großmmh erwiedert, die er in
Betracht seines eingeschränkten Vermögens gegen mich bewiest?
Ich habe alsdenn noch gar keine
Dankbarkeit ausgeübt.
Dder, die Wohlthat,
welche er mir erwiest, war vielleicht damals für mich und mein ganzes Glück entscheidend l Sie war viel leicht ihrem Inhalte nach, von keinem großen Belang; aber in Beziehung auf mich und auf meine damalige
Lage, äusserst wichtig! Ich bedurfte ihrer schlechter dings! Mir mußte sie nicht ausbleiben; weil ich nur
durch sie vom völligen Untergange gerettet werden konnte! — Und er sprang mir zur rechten Stunde da mit bey! —- Es gibt oft so sonderbare, kleine GcfälS Z
lig.
278
Von der Dankbarkeit.
ligkeiten, die so gütig und verbindlich erwiesen; so ge nau zur rechten Zeit, und den besondern Umständen an gemessen, angebracht; und in ihren Folgen so wichtig
und Vortheilhaft für uns sind: daß sie nicht anders, als
durch die Zuneigung und ergebenste Freundschaft unsers ganzen Lebens, völlig erstattet werden können. Gefezt,
mein menschenfreundlichster Nächster, war dieser gefast
lige Retter für mich! und ich hatte ihm meine ganze
Erhaltung und mein ganzes Glück zu danken! — Nun ist er in Noth.
Diefelbige Hülfe dem
Maaße nach, die er mir erwies; und die zu
meiner Rettung auch hinlänglich und nur nöthig war;
kann ibn iezt noch nicht retten! Sie muß großer seyn, wenn derfelbige Erfolg für ihn entstehen soll. kann auch mehr thun.
Ich
Meine Wohlfarth und Ver
mögen erlauben es, ihm mit einem größerem Auf wand ,der Retter zu werden; der er'mir mit einem kleinerem ward!
Aber nein; ich will ihm nur
dasselbe bestimmte Maaß des Beystandes zurück
geben; welches ich von ihm empfangen hatte! Und was thue ich denn? Der Dienst, den ich ihm leiste, hilft ihm nichts.
Also leiste ich ihm gar keinen; da'er
mir doch den allergrößten geleistet hatte! — Ich
bin
Von der Dankbarkeit.
279
bin mit aller meiner angeblichen Dankbarkeit ein un
dankbarer Mensch.
5) Diejenigen sind Undankbare, die die em» pfangene Wohlthat zu der guten Absicht nicht anwen
den, zu welcher sie ihnen der Menschenfreund verliehen
hatte.
Ein Jeder hat nach feinem Eigenthumsrechte
die Freyheit; den Gebrauch seines Vermögens nach
seiner Einsicht zu bestimmen: folglich, wenn er mein Wohlthäter wird; auch das Recht, wenn er will, mir
die Anwendung vorzuschreiben,
welche ich
von seiner tVohlrhar machen soll! Ließ ich mir
diS gefallen; und nahm ich unter der vorgeschriebenen Bedingung, seine Wohlthat an: so ist es eine wahre
Kränkung seines Eigenthums. Rechts, wenn ich seine Gaben zu einem fremden Behufe, wider seine Vor»
schrift und ahne seine Einwilligung anwende.
Ich
mache dadurch, daß dem Wohlthäter, so bald er eS inne wird, seine Wohlthat gereuet: und er in künfti-
gen Fällen mich ohne Hülfe läßt. — Je entfernter die von mir gewählte Absicht, von der seinigen ist;
desto mehr reize ich seinen Unwillen, und desto undank barer bin ich gegen ihn.
Und gesezt, daß meine Ab»
S 4
sicht
2yo
Von der Dankbarkeit,
sicht ersprießlicher für mein Wohl wäre, als die seinige: so bin ich doch nicht befugt, sie bereinigen ohne feine Einwilligung vorzuziehen. Fände ich die seinige ganz schädlich für mich; so werde ich seine ganze Wohlthat nicht annehmen. Sie ist alsdenn keine für mich. Folg, lich bin ich schuldig, da, wo ich sie anzunehmen für gut finde, mich nach seinem Willen zu richten. Aeusserst undankbar wäre es, die empfangene Wohlthat sogar zum absichtlichen Verdruß und Schaden deöWohlthäterö zu mißbrauchen..
6) Endlich sind diejenigen Undankbare, die die empfangenen Wohlthaten so leicht wieder vergessen: und wenn ihnen etwa in der Folge der Zeit von ihren ehe maligen Wohlthätern eine kleine Beleidigung aufstößt; diese in vollem Unwillen und Verdruß so stark empfin den können, als wenn keine Spur des Andenkens an die genossene Güte bey ihnen mehr offen geblieben wäre, die ihre Empfindlichkeit mäßigen könnte: ober, als wenn sie ihren gegenwärtigen Beleidiger nie in der Ei genschaft eines gütigen Freundes und Wohlthäters; sondern von ieher als einen abgesagten Feind von sich kennen zu lernen, Gelegenheit gehabt hatten. Vielleicht lag
Von der Dankbarkeit.
281
lag bey der ganzen Beleidigung nur ein Mißverständ niß zum Grunde? Vielleicht war sie blos die Würkung
einer plözlichen Aufwallung des Bluts?
Der Dienst
hingegen, welchen er uns ehemals leistete, war vielleicht die Frucht seiner UeberleguNg, und einer entschlossenen
Gütigkeit bey ihm gewesen? — Sollte diese uns nicht
nachsehend gegen jene machen ? — Vielleicht war die
ehemalige Wohlthat so groß, daß sie billig eine ganze Menge geringer Beleidigungen aufwiegen sollte? Und sollte nicht eine iede genossene Wohlthat dis Gewicht in
unsern Augen haben? Ist, wie wir oben gezeigt ha ben, eine allzu große Empfindlichkeit, der Zorn, und
iede Feindschaft gegen den fehlenden Nächstenüberhaupt
einem vernünftigen Menschen unanständig; so muß ge wiß diese Empfindlichkeit und Rachbegierde gegen ei
nen ehemaligen Wohlthäter im höchsten Grade unan
ständig und unverantwortlich seyn.
Je schändlicher und verhaßter das Laster der Un dankbarkeit ist; ie mehr es die Wohlthäter von ferne
ren Hülfsleistungen abschreckt; ie anständiger hingegen einem jeden vernünftigen Menschen die Tugend der
Dankbarkeit allgemein gehalten wird; ie gewisser sie
S 5
ihm
2§2
Von der Dankbarkeit,
ihm die fernem Unterstützungen Anderer versichert;
ie
genauer überhaupt diese Tugend die Menschen unter ein ander zu gegenseitigen Liebesdiensten verbindet: desto
ernstlicher und sorgfältiger fliehe ienes Laster; und be fleißige dich dieser Tugend!
Ende des vierten Theils des Versuchs einer Anleitung
zur SLLtenlehre für alle Menschen
ohne Unterschied der Religionen.
Anhang.
Anhang von den Todesstrafen.
mim dürste es nun wol »och nöthig seyn, von
der Ungerechtigkeit aller Todesstrafen ohne Ausnahme, noch ein Wort zu sagen: wenn das, was ich in diesem ganzen Werke meiner Sitten
lehre vorgetragen habe; nur mit einer halben Aufmerk-
sämkeit erwogen ist.
Und in der That war es auch,
mein wahrer Vorsaz nicht, den versprochenen Anhang
von den Todesstrafen diesem Werke würklich beyzufü-
gen.
Ich wollte vielmehr durch die Ankündigung des
stlben auf den Titelblättern aller Theile, nur den Leser
bewegen, zugleich schon mit der Rücksicht auf die To desstrafen, mein Buch zu lesen: und diese schrecklichste Sitte unter die Menschen, nach denen Grundsahen zu
prüfen, deren Richtigkeit ich in demselben ausser Zwei, fel gesezt zu haben glaube.
Aus diesem Grunde habe
ich auch hin und wieder da, wo mir besondere Gelegen heiten dazu aufstießen, mich in nähere Erörterungen dieser traurigen Angelegenheit eingelassen, als nöthig
gewesen seyn würde; wenn ich davon besonders und
aus»
284
Von den Todesstrafen.
ausführlicher zu reden entschlossen gewesen Ware.
Indessen habe ich mich hernach doch bedacht, und eS für gut gehalten; nicht, eine ausführliche und weit-
läuftige Abhandlung; denn deren bedarf eö nicht! son
dern nur einen kurzen summarischen Auszug der HauptLründe, aus welchen die Ungerechtigkeit aller Todes
strafen hervorgeht, dem Leser vor Augen zu kegen. Um ihn desto kürzer zu fassen, werde ich da, wo es nöthig
ist, auf dieienigen Stellen in der Sittenlehre meines Buchs Hinweisen; wo die hier einschlagenden Grund
sätze ausführlicher und im Zusammenhänge vorgetra gen sind.
Ich werde ferner, da die Vernünftigsten
unter den Vertheidigern der Todesstrafen, selbst zuge
ben, daß der vorsezliche Mord das wichtigste und eigentliche Verbrechensey, auf welches iene Strafe erkannt werden könne und müffel
da sie gar nicht abgeneigt sind, sich alle übrigen Arten von Verbrechen, von den rodeswürdigen Misse
thaten abdiugcn zu lassen: ich werde, sage ich, eS
mir also gerade gleich zum Zweck nehmen, die Unge rechtigkeit
der Hinrichtung
eines Mörders
zu erweisen: weil alsdenn mit diesem Erweise, al
les, was für die Rechtmäßigkeit der Lebensstrafe über irgend ein anderes Verbrechen gesagt werden mag, von selbst über den Haufen fallt.
Ich
Von den Todesstrafen.
2Z5
Ich behaupte also: daß alle und jede Todes strafen, ohne irgend einige Ausnahme,
ungerecht st'nd: und führe den Erweiß mei
ner Behauptung aus folgenden Gründen. 1) Weil ein jeder Mensch, er sey ein Heiliger, oder
«in Verbrecher, von welcher Art er nur gedacht werden
kann und mag; auch den vorsezlichen Mörder, den Landesverrather, den Menschenfresser nicht ausgenommen; weil ein jeder Mensch/ sage ich, mir allen sei
nen Handlungen, in ihren großen und kleinen
Theilen; auch in allen, dieselben begleitenden Umstanden; unter dem Gesetze der absoluten Nothwendigkeit stchr.
Ihn um einer vollbrach
ten und durch ihn geschehenen That willen, darum, weil
sie seine Thar ist, strafen! heißt: ihn unschuldig strafen! heißt: ihn deßwegen strafen; weil er der
Mensch ist, der er ist! und zu dem er sich nicht selbst gemacht halte, sondern vom Schöpfer dazu gemacht worden war! heißt: ihn darum strafen, daß er kein
anderer Mensch ist, als der er würklich ist: da er
sich doch zu keinem andern Menschen machen konnte! und derSchöpfer ihn ebenfalls zu keinem andern Men schen machen konnte, oder wollte! er auch kein an
derer Mensch seyn kann, als der er jedesmal ist! heißt: ihn darum strafen, daß er feine Natur
und Stinunung, fein Blut, Temperament, feine Ge burt
»86
Von Den Todesstrafen.
burk und Erziehung, feine Erkenntnisse, seine Verbin dungen mit andern Dingen, seine gesamte Lage in der Welt; alle Umstände, die hier zusammen trafen, kurz:
daß er alles, was zum würklich werden seiner That et was beykrug, nicht anders ordnete: als diese Dinge
geordnet waren; und sich in ihrem würklichen Daseyn ergaben! da es doch ausserhalb dem Gebiethe seines
Vermögens lag, das mindeste darin verändern zu kön
nen ! Den vorstzlichsten und grausamsten Mörder am
Leben strafen, heißt also: da der zureichende Grund seiner Thar in dem ganzen Zusammenhänge aller Dinge verwehr und da war, und kein zureichender Grund ohne seine Folge bleibe»
kann: jenen Mörder also, sage ich, um seiner That
willen strafen; heißt nichts anders, als: ihn darum tödren, weit er, starr der würklich vorhande
nen welr, nicht eine andere Welt geschaffen habe. (vid. im erstell Theile, das Capitel von Frey heit und Nothwendigkeit: und im dritten Theile, das
Capitel von den angebohrnen Rechten deS Menschen.) Von Besserungsstrafen, die über den Mörder ganz wohl zu verhangen sind, ist hier nicht die Rede.
2) Die Todesstrafe ist ungerecht; weil sie wider den Vertrag läuft,
den der Bürger
mit der Gesellschaft errichtet har.
Oder, wenn man
Von den Todesstrafen.
287
man lieber will: weitste dertzanzen Abstchtwü
verspricht, mit welcher der Mensch nur ein zig und allein in der Gesellschaft lebe; und mit
der er auch nur darinn leben zu können, durch seine .Natur gezwungen ist.
Seine Absicht ist: durch die
Gesellschaft glücklicher zu werden. dern ihn auch Besserungö - Strafen.
Hiezu för
Diese bewilliget
er also, vermöge lener Hauptabsicht, über sich; so oft sie die Gesellschaft über ihn zu verhängen nöthig findet.
Aber Todesstrafe ist kein Bestcrungs- Mittel;
sondern sie vernichtet den Bürger/als Bürger und Mensch, gänzlich.
Sie streitet also wider seine ganze
Absicht, mit der er in die menschliche Gesellschaft trat, und mit der er nur darinn leben kann.
Sie streitet
wider seine menschliche Natur selbst.
Die Gesellschaft hatte auch von ihrer Seite, ver
möge jenes Vertrages, ihn so, wie er war; mit denen Kräften,
Fähigkeiten,
Neigungen u. s. w., die er
hatte, unter sich ausgenommen: folglich auch alles,
was daraus bey ihm entstehen und folgen würde, zum voraus bewilliget, und seine künftigen Handlun gen genehmiget; oder sich bey denselben so zu ver halten verheißen, wie eö die Absicht, welche jeden Bür
ger mit der Gesellschaft vereiniget, erfordere.
Da die
se Absicht aber aufdie Vermehrung seines Glücks
geht;
288
Von den Todesstrafen.
geht ; so faßt sie keinesweges sein Unglück, oder hie
Zerstohrung seines Lebens in sich: mithin erlaubt sie auch keine andere, als Besterungs - Strafen über den Mörder zu verhcngen. (vid. im dritten Thei
le die Capitel, r) von der Gesellschaft überhaupt, 2) von den angebohrnen Rechten der Menschheit, 3) von der Treue, dix neunte Regel.)
Es ist nichts gesagt, wenn Roußeau die Recht»
Mäßigkeit der Todesstrafe aus der Vertragsmaßigen Unterwerfung des Verbrechers gegen den Staat erweisen will.
Roußeau sagt, unb die Her
ren Runde und Schall beten ihm wider Herr Barcks hausen nach:
Um einer beständigen Todes
gefahr, (welcher nemlich der Bürger von seinen Nebenbürgern auögesezk seyn soll) zu entkommen; um
einer ununterbrochenen Furcht vor dem Ver luste von Ehre, Leben, oder Vermögen über hoben zu seyn: sezc der Bürger dem Staate
fein Leben zum Pfande; im Fall er selbst ie# mals diese Verbrechen gegen Andere begehe»» würde.
den;
Ec macht sich verbindlich, zu ster-
im Fall er ein Meuchelmörder, ein
Straßenrauber, oder rebellischer Sröhrer der gemeinen Sicherheit wird.
Und dis thut er;
um selbst vor Meuchelmörder»», Straßenräu,
Hern und Rebellen sicher zu seyn.
Die Armse
ligkeit
Von den Todesstrafen.
289
ligkeit dieses Arguments kuckt ihm aus allen Falten
hervor.
Denn
a) lebe ich. Gottlob, nicht unter lauter Mördern und Straßenräubern.
Die Mordsuchr ist keine
wesentliche Eigenschaft der menschlichen Via« tur: dergestalt, daß ich mich da, wo ich Menschen
sähe,
auch in beständiger Todesgefahr zu seyn,
gedenken müßte. Es ist die seltenste und unwahrscheim
lichste Todesark; die ich mir,
als mir bevorstehend,
gedenken kann: daß ich einmal von einem Mitbürger erschlagen werden sollte! Mithin werde ich auch von der angeblichen, ununterbrochenen Furcht die ser beständigen Todesgefahr, gar nicht gefoltert.
Und so, wie es hierinn mit mir ist; so ist es mit an-
Dis sehe ich daraus: daß
der» Menschen auch.
wenn ich würklich eine solche ununterbrochene Furcht dagegen äußerte? ich mich der gewissen Gefahr
aussehen würde; von Andern für einen verrückten Men
schen angesehen zu werden, den man nachö IrrhauS transportiren müßte.
Der Seefahrer, dem die To
desgefahren tausendmal näher und wahrscheinlicher sind; der keine Stunde dafür sicher ist, daß er nicht auf eine Klippe gerathe, oder ein Sturm sein Schiff umwerfe; fühlt nicht einmal eine
solche
ununterbrochene
Furcht: und würde sich schämen, und es als Belei
digung ansehen; wenn sie ihm nachgesagt werden könn. Stitenlchre IV,
Tb.
T
te,
290
Von den Todesstrafen.
te, oder wollte.
Die obige Behauptung sezt also vor
aus: daß alle Menschen, lauter blutdürstige Tiger; und auch zu gleicher Zeit, lauter furchtsame Hasen sind,
b) Der Bürger soll also nach obiger Angabe dem Staate versprochen haben, zu sterben: im Fall er
ie ein Mörder würdet Und dis Versprechen soll er darum gethan haben; damit er selbst vor der
Gefahr, von feinem Nebenbürger ermordet zu werden, vom Staate sicher gestellt werdet Und der Staat soll auch jenes Versprechen angenom
men; und dem Bürger dagegen, die Bedingung des Sicherstellens feines Lebens vor andern Mör
dern, verheißen haben?------ Gesezt dieser,
in
Roußeaus Phantasie erträumte Contract, ließe sich als würklich errichtet denken: so frage ich, wer von beyden Tomrahenten hält in der Thar,
so,
wie die Sache in der Weir da stehr und vor gefunden wird,
Bürger.
sein XVort/
Ohnstreitig der
Denn, wird dieser ein Mörder; so schlagt
ihm der Staat den Kopf herunter.
Aber wo bleibt
denn der Staat mit seinem Versprechen, das
er dem Ermordeten gethan hatte: sein Leben in Si cherheit erhalten zu wollen t Mörder,
Statte denn der
ein Mörder werden können; wenn der
Staat seine Schuldigkeit, die ihm der Contract gegen den
Von den Todesstrafen.
291
den Entleibten auflegte, beobachtet hakte? Wer ist
denn also der erste treulose und bundbrüchige Theil; so oft ein Bürger ermordet wird? Ich denke der Staat! Oder, hatte dieser keine Sicherheit verheißen? sondern
nur das Ropfabschlagen können, sich ausbedungen?
Stand er vermöge des Vertrages nur mit
dem Mörder? aber nicht mir dem Entleibten, in Verbindung? Oder, hatte er diesem nur so lange das Leben zu sichern verheißen; als gar keine Todesge
fahr in der weiten Gotteswelt für ihn noch nicht vor handen war? So war der entleibte Bürger ein sehr einfältiger Mensch; da er iencn unnützen Vertrag schloß:
und so leistete ihm der Staat einen sehr müßigen Dienst! Ich denke, eher brauche ich nicht Schuz und Sicher stellung meines Lebens; als nur in der würklich vor handenen Gefahr?
Und wenn ich nicht die be-
trüglichste Verhandlung von Seiten des Staats, bey der Errichtung ienes Vertrages annehmen soll; so hat te mir derselbe diesen Schuz auf die Stunde der Ge
fahr, auch würklich verheißen.
Erfüllt er nun aber
wol sein Wort zu der Zeit, da der Mörder über mich herfallt? Nein. — Staat da,
Nun die Gefahr da ist, ist kein
der mich sicher stellete! Er läßt
mich vielmehr, troh der übernommenen heiligen Ver
bindlichkeit, mich zu sichern; und troh des von mit
entgegen, genommenen kostbarsten Unterpfandes meines T s
Blurs
292
Von den Todesstrafen.
Bluts und Lebens zur unverbrüchlichen Haltung des
Vertrages von meiner Seite; ich sage, der Staat läßt
mich, trotz alles heiligen Vertrages, mausetodt schla gen : und wacht denn spat hinterher, wenn mein Leben, das er sicher stellen und erhalten sollte und wollte, nun schon in allen Lüsten unwiederruflichverflogen ist; wacht,
sage ich, denn erst hinterher auf: will sich nun Hie Miene geben, als ob er mein Leben verthcydigen und seine Vertrags - Psiicht für mich ühen wolle; und —
übt sie auch würklich. —
Aber wie denn? — so;
Haß er nun einen andern Bürger, desstn Le
den er auch sicher zu stellen ,- deschworen har
re; selbst rodrschlägr! Und warum dis? Darum;
weil dieser seine Vertrags- Pflicht gegen den Staat so wenig gehalten hgtte; als der Staat die (einige gegen mich gehalten hatte: darum; weil, nachdem der Staat
der erste Treulose geworden war: der Mörder sich un terstanden hatte, der zweyte zu werden! Und wenn der Mörder nicht hätte Mörder werden können; im Fall
Her Staat seine Vertrags-Pflicht, mein Leben si
cher zu halten, beobachtet hätte: so sind also bey des: sowol die Ermordung Meiner; als die nachfol gende Hinrichtung meines Mörders; zwey Mordtha
ten, welche beyde auf der Rechnung des Staats stehen!
Und so will also der ganze, obige, erträumte Roußeau-
sche Uukerwerfungs-Vertrag nichkS anders sagen, als: Jeder
Von den Todesstrafen.
293
Jeder Bürger habe dem Staate umsonst und um nichts das Recht zugestanden: frey morden zu können.
Oder, will man sagen: der Staat könne mein Leben vor der Gefahr der Ermordung nicht sicher stel
len? Wolan, so kann ihm auch der Bürger unter dieser Bedingung nicht das Recht zugestanden haben,
ihn selbst zu rödren, im Fall er Mörder wer. den sollre!
Und wenn denn doch ein dahin lauten'
der Unterwerfungs-Vertrag chimarirt werden soll; so
müßte er so lauten: Der Bürger verspricht dem
Staate, aufden Fall, wenn er einen mindern ermorden sollte;
mit dem Leben zu büßen:
unter der Bedingung:
daß, im Fall er selbst
von einem andern Bürger ermordet werden
sollte;
der Staat diesen Mörder auch tobt-
schlagen wolle.
Aber denn frage ich auch alle gut
denkende und gesittete Menschen; ob sie ie einen solchen
Vertrag mit dem Staate errichtet haben? oder ihn zu errichten fähig sind? Nur der Rachsüchtigste, dessen
Rachbegierde auch noch nach seinem Tode Befriedi gung sucht; könnte ein solches Verlangen an den Staat machen wollen.
Und kein gesitteter Staat; sondern
nur ein eben so menschenfeindlicher und blutdürstiger Tyrann, könnte einem solchen Begehren des rachsüch
tigen Bürgers Gehör geben, und sich zur Leistung sei-
T 3
ner
Von den Todesstrafen.
294
ner Forderung verbinden.
Ich wenigstens bezeuge es
an meinem Theile hiemit feyerlich, daß ich nie einen
solchen Vertrag mit dem Staate geschlossen; der dahin
ginge: daß, wenn ich einmal das Unglück gt#
habt hatte,
et mordet worden zu seyn;
der
Staat menten Mörder hinterher auch todt?
schlagen solle.
Denn das könnte mir doch alsdenn
ferner nichts helfen.
Der Staat mag meinen Mörder
durch die besten dazu dienlichen Mittel zu bessern su
chen ; damit ein besserer und nüzlicherer Bürger aus ihm werde, bewiesen hat.
als er sich durch die Ermordung Meiner
Das ist es alles, was ich für den Mör
der selbst, und für die zurückgelassene Gesellschaft, von dem Staate verlange.
Die Rücksicht auf mich aber;
der ich nun nicht mehr als Mensch und Bürger da bin;
kann sich der Staat spahren: weil sie sehr müßig und
unnüz seyn würde. Um derienigen Leser willen, die vielleicht mit den Streitschriften über die Rechtmäßigkeit der Todesstra
fen weniger bekannt seyn möchten; will ich hier sagen; daß Beccaria aus dem Grunde die Unrechtmäßigkeit derselben behauptet hatte: weil kein Mensch das
Recht habe, sich selbst zu tödten; folglich ein solches Recht über sich,
auch nimmermehr
dem Staate übertragen könne.
Was ich selbst
nicht habe; kann ich auch keinem Andern geben. Die
Von den Todesstrafen.
295
Die unbestreitliche Wahrheit dieses Grundsatzes war zu
fühlbar; als daß sie nicht den lebhaftesten Eindruck hak
te machen sollen.
Denn, was man auch von dem
Selbstmorde halten mag: man sehe ihn entweder
al« die Folge einer Krankheit dcS-Menschen an; so war hier kein gesunder, vernünftiger Mensch; mithin konnten nur verrückte, oder in ihren Gehirnfibern ver stimmte Menschen, dem Staate ein solches Recht über
tragen: oder, man halte den Selbstmord nach der orthodoxen Meynung , für ein Laster; so müßte der Mensch ein Recht haben, Laster begehen, und auch
den Staat zu Lasterthaten bevollmächtigen zu können:
kurz, was man auch von dem Selbstmorde hal ten will und mag; so dient er doch zu keinem Beweise,
daß der Mensch ein Recht habe, zu todten.
sich selbst
Mithin war und blieb die angeblich ge
schehen seyn sollende Ueberrragung eines solchen
Rechts an de« Staat, eine Chimäre.
Um dieser
Batterie anS-rweichen, haben sich-die Vertheidiger der
Todesstrafen gekrümmt und gewunden; um irgendwo einen haltbaren Ort aufzufinden; wo sie eine Gegen batterie anlegen könnten.
Sie haben zu dem Ende
das ganze Zeughaus des Naturrechts auögeplündert; in Hoffnung, irgend ein solches Geschüj darunter zu
finden, das jene donnernde Wahrheit zum Schweigen bringen könnte.
Aber alles vergebens.
T 4
Wahrheit
blieb
296
Von den Todesstrafen,
blieb Wahrheit, und schwieg nicht.
Die Hoffnung,
sich noch halten zu können; fing schon an, in Verzweiflung überzugehen: als ihnen, zu ihrer unaussprechlü
chen Freude, die Phantasie eines Roußeau,
icne,
von ihr selbst aufgefundene Urkunde eines alten Unter,
werfungö-Vertrages zwischen dem Bürger und dem
Staate, vorträumte.
Was thut der Mensch in der
Verzweifiung nicht? So viel Mitleiden der Vernunft, wie wir gesehen haben, auch jene Urkunde für sich for
dert : so griffen doch die Vertheidiger der Todesstrafen mit beyden Händen nach derselben ; und wollen uns bis
diese Stunde noch immer weiß machenr sie enthalte ei« nen unumstößlichen Beweiß, daß das Recht: Bür
ger tobten zu dürfen,
eine, von allen Bürgern
dem Staate zugestandene und übertragene Freyheit
sey.
Der Leser wird nun urtheilen können, was für
ein leeres Geschwäz diese Behauptung sey ?
3) Die Todesstrafe ist ungerecht; weil ste
feine Vertheidigung des von dem Mörder Entleibten ist.
Vertheidigung ist nur so lange mög,
lich und denkbar, theils: als das Gur da ist, das vertheidiget werden kann: theils: so lange der
feindliche Angrif auf das Gut dauert.
Sind
diese beyden Stücke, oder'auch nur das lezte allein, vor,
übergegangen; so fällt der ganze Begrif von Verthei digung
Von den Todesstrafen.
297
digung weg: und jede fernere Vertheidigung, die matt
noch führen will; ist ein Geschäft der Phantasie und
eine Chimäre. Wenn zwey feindliche Flotten sich schla gen ; und ein Schiff wird durchbohrt und sinkt in den Abgrund, so wird es auch dein einfältigsten Matrosen
nicht mehr einfallen, daß noch eine Vertheidigung des
schon auf den Abgrund ruhenden Schiffes, auf irgend eine Art möglich sey.
Alles, was hinterher, wenn das
Gut schon verlohren gegangen ist;
in Beziehung
auf dasselbe, noch geschehen kann, ist: Forderung der Schadens, Ersetzung, so weit diese möglich ist.
Was aber denn ferner noch außer dieser Forde
rung, in Absicht auf das veklohren gegangene Gut mehreres geschicht, oder geschehen mag; find
Ausbrüche
und
Wirkungen
der
Rachbe-
Zierde. Im Falle der Nothwehr konnte der angegrif
fene Bürger sein Leben nur so lange vertheidigen wolEr konnte mit Auf.
len, als es noch da war!
Opferung des Lebens seines Gegners, das (einige zu
vertheidigen suchen.
Denn der Vortheil und Gewinn
von dieser Arbeit war ihm die Rettung und Erhal
tung seines eigenen Lebens.
Ist dis Leben aber
schon weg; so kann es durch keine Hinrichtung des Mör ders zurückgebracht werden.
Mithin geschicht diese
Hinrichtung ohne die Absicht, welche der Angegrif-
T 5
ftne
s§8
Von bett Todesstrafen.
fene im Falle der Nothwehr würklich hatte; und die
ihn auch berechtigte, seinem Feinde, wo möglich, das
Leben nehmen zu dürfen.
Der Lall der Nothwehr
hört aifo mir dem Leben des Ermordeten auf;
und kann nicht hinterher noch auf den Staat übergetragen werden.
Zugeschweigen, daß man
alle vernünftigen Begriffe von Nothwehr vernich
ten; und Unsinn an ihre Stelle setzen müßte: wenn man sich einen ganzen Staat, wider einen ein
zelnen Bürger, in einem Lalle der Nothwehr
gedenken wollte,
(vid. im dritten Theile, im Ca
pitel von der Friedfertigkeit, die Abhandlungen von
Vertheidigung und Nothwehr.) 4) Die Todesstrafen find auch ungerecht,
insofern ste tVarnungsstrafen für Andere seyn
sollen.
Was heißt das: Ein Mensch soll um seines
begangenen Verbrechens willen am Leben gestraft wer
den ; damit andere Menschen sich daran spiegeln und
von der künftigen Begehung ähnlicher Verbrechen sich dadurch abschrecken lassen mögen? Heißt es nicht so
viel, als: Jener Mensch st-ll für die künftigen möglichen Verbrechen Anderer iezr buffen? a) Der Mensch, welcher hingerichtet wird, soll
also für andere Menfchen, und an ihrer Statt
leiden, gestraft und getödtet werden! Er sott also das
alt-
Von dm Todesstrafen.
299
alttestamentliche, mosaische, allgemeine Sündopfer seyn; auf welches das ganze Israel seine Sünden legt,
und seine Missethaten bekennt? Er soll also in Frem
der Nahmen geschlachtet werden? Gore, welche
Ungerechtigkeit!
Ich
denke,
die
Gerechtigkeit
fordert: Der Sohn solle nicht tragen die Missethat Les Vaters;
und der Vater solle nicht tragen die
Missethat des Sohns? sondern des Gerechten Gerech. tigkeit solle über ihm selbst seyn; und des Ungerecht ten Ungerechtigkeit solle auch über ihm selbst seyn? Ich wenigstens von meiner Seite, will also so feyer-
lich, als möglich, und ein für allemal dawider prote« flirt haben: daß um Meinet, um meines Besten
willen; um den Saamen der Tugend bey mir ausgehend und wachsend zu machen:
kein
Mensch geschlachtet werde! Behüte Gott! Sie
würde mir abscheulich seyn, die ganze Tugend; wenn sie sonst nicht hätte wachsen wollen: als daß der Acker
dazu vorher mir fremdem Menschenblure ges dünget werden müssen! Nein:
Meine eige
ne Gerechtigkeit mag über mir selbst seyn ! und meine eigene Ungerechtigkeit mag auch
immer und ewiglich über mir selbst seyn und bleiben!
b) Das alttestamentliche Israel legte seine schon beganHenkn.Sünden auf den erwählten allgemeinen Sünden,
Von den Todesstrafen»
goo
Sündenbock; und bekannte seine schon verübten Missethaten auf dessen Haupt: und ließ ihn denn noch dazu mit dieser Ladung frey und lebendig in die Wüsten
laufen.
Das christliche Israel ist, nach Verhältniß
der vielen Jahrtausende, um die es später, als jenes, lebt:
auch klüger geworden, als jenes war.
Es legt
nicht, seine begangenen Sünden; nein, es legt
seine künftigen Verbrechen,
die es vielleicht
noch einmal begehen möchte! die aber iezt noch blos im
Reiche der Möglichkeit und Unmöglichkeit stecken; auf
das Haupt desjenigen Menschen, den es zur warNUNI unter sich schlachtet.
Es treibt also einen
wahren Ablaskram mit dieser Warnungöstrafe!
der
denn aber am Ende demjenigen doch nichts hilft; der
hinterher in den unglücklichen Fall kommt, seiner zu bedürfen.
Der Mensch, welcher zur Warnung Ande
rer hingerrchtet wird; wird also um fremde Ver
brechen hingerichret,
die noch nicht einmal
begangen fmd k von denen es auch Keiner iezt noch
nicht weiß, wer sie begehen wirb ? Keiner es weiß, ob
irgend einer von denen Menschen, die solche Verbrechen künftig etwa begehen möchten, iezt einmal ein Au
gen-oder Ohrenzeuge von der Hinrichtung dieses Men
schen zu seiner Warnung und Abschrcckurig von ähnlicher That sey? ob die künftigen Mörder vielleicht
ein
Von den Todesstrafen.
301
cm Wort davon gehört haben; daß dieser Mensch schon jum voraus um ihrer Sünde willen gestraft und ge
martert sey, und sein Leben zum Schuldopfer für sie, Jini) zu ihrer Warnung habe hingeben müssen?
Ob
vielleicht nicht vielmehr von allen denen Menschen, wel« ,che bey der Execution gegenwärtig waren, oder von
ihr etwas hörten;
kein Einziger einer solchen
Warnung bedürfte? weil vielleicht für keinem der. selben in dem Buche der Schicksale, der Vorfall bestimmt war: daß er ie ein Mörder werden würde? weil vielleicht indem ganzen Zusammenhänge aller Din.
ge, oder der ganzen Welt, nichts von einem zureichen.
den Grunde enthalten war: baß er ie ein Mörder wer. Len könne?
Und doch wurde zur Warnung dieser
Menschen, ein Mensch zur Schlachtbank geführt? —
Gott! sind denn alle Menschen, oder auch nur die
meisten, zu Mördern bestimmt?— O ihr, denen cö so viel darum zu thun ist; die schreckliche Gewohn
heit, Menscher» mir kaltem Blure ums Leben zu bringen, noch ferner in der Welt im Gange zu
erhalten!
Ihr Vertheydiger der Todesstrafen!
die
ihr ihnen daher das Wort reden wollt; weil sie nach euerer Versicherung die unfehlbaren Abschreckungsmit.
fei Anderer von ähnlichen Verbrechen seyn sollen! er füllt, ehe ihr den Beyfall der Vernunft für euch fordert
und erwartet; vorher folgende Bedingungen! Erstlich:
302
Von den Todesstrafen.
Erstlich: Bringt dietenigen zu Haufen, die einer solchen Warnung bedürfen.
Wählet aus
dem großen Haufen der Menschen dleienigen heraus,
und versammlet sie aufden Gerichtsplaz, wo ihr Men schen-Blut rauchen lassen wollt; dieienigen, unter
deren künftige Schicksale der Fall, Mörder zu wer den, mit verhandelt steht! Denn diese sind es al
lein, auf die sich der Gedanke von Warnung noch mit einiger möglichen Beziehung denken liesse.
Alle
Uebrigen aber, die der Warnung nicht bedür
fen, iagt hinweg, und sorget, daß sie kein Work da von erfahren: damit ein unmenschlicher Auftrik, nicht
menschliche Empfindungen in ihnen ersticke; nicht der Rachsucht das Wort bey ihnen rede; sie nicht Unmensch-
lich werden, und auch morden lehre!
Zweytene: Gebet auf Jene, denen zu Liebe ihr
das Blutgerüste gebauet hattet, um ihnen ein warnen des Schauspiel zu geben, in der Folge Acht: ob euer
re Absicht an ihnen erreicht worden? ob sie, in deren Schicksals-Buche es verzeichnet stand, daß sie
Mörder werden würden, nun durch euere blutigen Dor-
kehrungen davor verwahr?geblieben sind ?—Und wenn
ihr diese beyden Forderungen, die durch alle Ewigkei ten nicht von euch zu erfüllen stehen, dennoch geleistet hattet? wenn ihr die vielen Menschen, die einer sol chen
chen Warnung bedurften, aus dem großen Haufen zu wählen, sie aus allen Uebrigen herauszufinden, und auf den Gerichtsplaz allein zu versamlen verstanden hak. tek? (Denn, ein Mensch, der dergleichen Warnung bedurfte- war für ein solches Schauspiel zu wenig und desselben nicht werth: weil eins, gegen eins gerechnet, sich aufhebt; und ich, wenn ich zwanzig Thaler, mit einem Verluste von zwanzig Thalern, gewonnen habe, noch nichts gewonnen habe.) Wenn ferner euere Warnung bey Jenen angeschlagen, und es erweislich wäre: daß sie nun durch dieselbe geschreckt, nicht die Mörder geworden wären, die sie sonst gewiß geworden seyn würden? Nun denn sezt euch Drittens hin, und nehmet alle euere Vernunft und Wissenschaft zusammen, um einen auch nur schein baren Erweis aufzufinden: daß es recht sey, einen Menschen zur Schlachtbank zu führen ! sein Blut zu vergießen! und ihn zu Tode zu martern! damit An dere durch sein Blur und seinen Tod geheilec werden mögen i c) Kein einziges Verbrechen wird genau wieder holt; dergestalt, daß es dajselbige wäre. Es sind andere Menschen, andere Bewegungsgründe, an dere Vorwürfe und Gegenstände, andere Umstände, andere Folgen, u. s. w. die das zweyte Verbrechen von
304
Von den Todesstrafen.
von dem ersten unterscheiden; wenn schon beyde einer ley Art zu seyn scheinen. Sollte die Todesstrafe also eine Warnung für Andere, im strengsten Ver stände seyn: so müßte dasselbe Verbrechen, um best sentwillen ein Mensch hingerichtet wurde, nach allen feinen kleinsten Umstanden aufs genaueste wiederholt werden können. Diö ist aber schon darum nicht mehr möglich; weil derselbige Mensch, als Thäter, nicht mehr da ist. Und keine Wahrheit ist einleuchtender, als die: daß andere Menschen, andere Menschen sind. Zu geschweigen, daß, wenn auch derselbige Mensch noch da wäre; fluch ihm doch die genaue WieVerholung derselbigen That nach allen Umständen, ewig unmöglich bleiben müßte! Die Todesstrafe kann also nur eine Warnung im allerallgemeinsten Ver stände seyn. Je allgemeiner eine Wahrheit aber ist; desto schwerer ist ihre Anwendung auf die allerspeciellesten Falle zu machen, die unter ihr begriffen sind. Es ist z. E. eine allgemeineWahrheit: daß Gott die Welt gut geschaffen habe: und daß sie noch immer iezt, so wie sie da steht, ein, seiner Macht', Weisheit, Güte und Heiligkeit würdiges Werk sey! Wie schwer wird «ö aber dem Armen, dem Kranken, dem Unglücklichen, dem unschuldig Leidenden u. s.w. die Anwendung jener allgemeinen Wahrheit auf ihre einzelnen und be sonderen Lagen zu machen? Es ist eine allgemeine Wahr-
Von den Todesstrafen.
305
Wahrheit: daß ich die ««nöthigen Ausgaben ver meiden muffe; wenn ich, die nöthigen machen zu können, im Stande bleiben will! eine allgemeine Wahr heit: daß alle, auch die kleinsten Ausschweifungen im Genuß Ser Nahrungsmittel und des Vergnügens ver mieden werden müssen; wenn der Mensch gesund blei ben wolle, rc. Aber wo lebt der Mensch, der, wenn er auch die beste Entschlossenheit dazu hatte; die un mittelbare Anwendung jener allgemeinen Wahrheiten auf alle dahin gehörigen, und ihm vorkommenden speciellen Falle zu machen im Stande wäre? Der zwey te Fall ist immer schon wieder ein ariderer, als der er ste war. Ich will ein Beyspiel von denColic-Krank« heiten hernehmen, die etwa aus einem zu reichlichen Genüße dieses oder ienes Nahrungsmittels entstehen. So viel ich weiß, hat kein Mensch mit Colicken gern etwas zu thun; wenn schon die Gesetze bis iezt noch kei ne Todesstrafe darauf gesezt haben, daß man sich der gleichen nicht zuziehen solle. Keiner wird auch da seyn, der dergleichen nicht schon an Andern erlebt hatte; daihm hätte zur Warnung dienen sollen: ia vielleicht kei ner, der sich in seinem Leben durch diese oder iene Spei se nicht schon selbst dergleichen zugezogen haben sollte! Das Beyspiel Ariderer wird das unkräftigste War nungsmittel für ihn geblieben seyn: denn er kennt tau send Verschiedenheiten, die zwischen ihm und dem AnSlttealchrelV. TbU dem
3
kere Stimmungsgrund seiner Selbstliebe ftyn können? Ist hier nicht der offenbarste Widerspruch?
Sezt
nicht wenigstens, wenn die abhaltende Leidenschaft der Furcht vor der Todesstrafe, an die Stell« der rachgie
rigen antreibenden Leidenschaft bey ihm treten soll; der
gestalt, daß iene nun in ihm die stärkere würde: fezt das nicht wenigstens einen gewisser» ruhigen ZwiU 4
schm-
3i2
Von den Todesstrafen.
schen - Augenblick voraus, in welchem diese Verwechs«. lung der sich widersprechenden Leidenschaften geschehe» könne? einen Augenblick, der, er mag nun kurz oder lang seyn; doch wenigstens dazu hinreicht; daß die ei. ne Leidenschaft die andere ablösen könne ? einen Augen blick also, wo sich das wilde Toben der erstern Leiden, schäft wenigstens so weit lege; daß die entgegenstehen, den Empfindungen und Vorstellungen doch nur eintr«. ten, und ihre Kraft zur Hervorbringung einer, der alten entgegengesezten Richtung des Menschen und sei. ner Selbstliebe anspannen können? Und wenn man mm bedenkt, daß hier, von sich gerade zu wider sprechende!» Leidenschaften, deren eine die ande re verdrängen soll, die Rede ist! daß die eine dersel. ben schon da ist; die andere aber erstgebohrenwer. den solle! daß die vorhandene in ihrer größten Stärke iezt schon lebe und den Menschen antreibe; die andere also, in noch grösserer Stärke erscheinen und auftreten müsse , wenn sie iene in Fesseln schlagen solle! gleichwol die zweyte, während der Regie rungszeit der ersteren, erst entstehen solle! folglich nur so weit entstehen, und so weit wachsen könne; als es die schon Regierende zulasse! ich sage, wenn man das alles bedenkt: denn muß man sich eine Psychologie aus Utopien herholen, um dar
aus auch nur solchen Leuten, die die Utopi
sche
Von den Todesstrafen.
313
fd)t Sprache verstehen, es erweisen zu wel
len; daß eine solche Veränderung und Um# kehrung des Menschen in seinem leidenschaft
lichen Zustande, das Werk eines kurzen Au genblicks seyn könne.
Wenn ein paar wilde Pfer
de in den Koller gerathen; und nun den Wagen, vor
welchem sie gespannt sind, über Stock und Block, Berg und Thal mit sich dahin reißen; wie mag nun der Fuhr mann, der den Zügel verlohren hat; sie mitten in ih
rer zügellosen Wuth sogleich halten? Wie soll er so
fort, mitten in ihrem unaufhaltsamen Lauft, ein Paar
andere und vernünftigere Pferde vorlegen? Wo Haler diese gleich bey der Hand? Uns gesezt, er begegnete dergleichen; wie soll er sie anschirren, ehe die Alten ab. gespannt sind ? und wie kann er dis; ehe er sie zum Ske,
hen gebracht hat? Und wodurch bringt et sie dazu?
Muß er nicht «arten, bis sie von selbst stehen? es sey nun, daß sie ausgeraset haben und rnüde geworden sind: oder, daß ein ftemdes Hinderniß, das er ihnen gar
nicht vorsehen konnte; sondern das sich, ohne sein Zu
thun, gerade zum Glück vorfand; ihrem fernern Lauft Schranken sezt? Geschicht dis nun, ehe der Wagen umgeworfen, zerschmettert, und denen darauf sitzen
den Menschen die Halse gebrochen sind; so ist egut: und alle Welt nennt' es ein Glück. Ge
schieht es aber nachher, wenn alles ienes Unglück U 5
schon
gi4
Von den Todesstrafen.
schon gestiftet, und der Fuhrmann etwa allein mitdem
Leben davon gekommen ist; was soll nun mit die sem vorgenommen werden? Nach dem Urtheil der Vertheidiger der Todesstrafen muß nun der Fuhr
mann auch geköpft, oder gerädert, oder gehangen wer den! Und warum dis? — Darum, weil er nach den Lehrsätzen der Psychologie dieser Herren das Unglück
hatte verhüten und die Pferde entweder gar nicht hätte
sollen kollerigt werden lassen; oder sie doch mitten In ihrem wilden Laufe zur rechten Zeit plötz lich hätte anhalren Sönnen! — Freylich, wenn
lene Psychologie solche kräftige Beschwörungs-Formeln
enthält; durch die, so bald sie der Fuhrmann ausge sprochen hätte, die Pferde zum Stillstehen hätten ge
bracht werden können; so läßt sich die Sache hören.
Aber denn hätten die Herren auch dafür sorgen sollen, daß der Fuhrmann vorher zum Hexenmeister zugestuzt, und in jene Zauberey-Künste von Jugend auf ringe-
wiesen worden war«. Sie hätten ferner auch dafür sor gen müssen, daß ihm nun in der Angst und Leidenschaft,
mit welcher er da saß, sein Gedächtniß treu geblieben wäre; und daß es ihm etwa kein« falsche, sondern di« gerade hieher gehörige Formel dargeboten hätte. — Man könnte die Herren, welche der Todesstrafe durch
aus, und wider alle Erfahrung, eine würkfame und hinlängliche tVarmmgskrafe zur Verhütung der
Von den Todesstrafen.
3’5
der Verbrechen daher nachrühmen wollen; weil durch dieselbe die natürliche Furcht des Menschen vor den Tod erweckt werde; und diese als eine stärkere Lei denschaft in ihm, der zum Morde antreibenden Leiden schaft sich entgegensetzen, und die leztere in ihrer Würkung aufhalten werde: (wozu die beweisenden Belege, daß dis der gewisse Erfolg der Sache, in dem Gemü the des vor einer Mordthat stehenden Menschen seyn werde und müsse; in i^ret Psychologie occuleezu fin den seyn sollen.) Man könnte, sage ich, diese Her ren sehr bald zum Stillschweigen bringen; wenn man sie mit ihrem eigenen Schwerdte schlagen, und sie aus ihrem eigenen Munde und nach dem Codex ihrer eige nen Psychologie richten wollte. Ich schließe so: wenn nach euerer Versicherung die Furcht vor der Todesstrafe schon in dem leidenschaftlichsten Zustande eines Menschen, als ein kräftiges und unfehlbar würksames Mittel, der zum
Morde antreibenden Leidenschaft widerste hen kann; so muß sie noch vielmehr diese Arast und würkung in den leichteren Ver gehungen haben, wo sie nur schwächere an treibende Reizungen zu überwinden hat! Wis set also, ihr Vertheidiger der Todesstrafen! darf der Landesherr nur sprechen: daß euch von nun an, auch
die kleinsten Vergehungen, die ihr begehen könn tet;
•gi6
Von den Todesstrafen:
tet; sie mögen Nahmen haben, wie.sie wollen, und von so unbedeutender Beschaffenheit, als möglich, seyn; bey Strafe des Todes untersagt werden. Je klei ner das Vergehen ist; desto größer ist die Furcht des Todes, als Gegengewicht: desto leichter muß euch also lenes nach den Grundsätzen eurer Psychologie, vermit telst der Furcht vor der Todesstrafe, zu vermeiden ste hen! — Und was würde nun herauskommen? Wir würden an diesen Herren mit einem male die voll« fönt innen Heiligen vor uns finden, und zu bewundern haben; nach welchen sich die Welt schon so lange, als sie steht, vergebens umgesehen hat. Und eö könnte nicht fehlen; von Morgen und Abend her würden die Menschen zusammenströhmen, um diese raren Früchte anzustaunen, die der Erdboden, aller ersinnlichen Mü he, die man sich darum gegeben gehabt, ohngeachtet, -och noch nie bis dahin hat tragen wollen: und die auch sonst noch nimmermehr nicht der Natur abgezwungen seyn würden; wofern man nicht auf den Einfall gera then wäre, sie in ein Treibhaus zu stellen, das von al len Seiten her durch Todesgefahren, Todesfurcht und Todesschrecken erhitzt worden wäre! Alles dis, was hier gesagt ist, wird dadurch noch stärker und einleuchtender, wenn man bedenkt, daß es bey dem blos leidenschaftlichen Mörder insgemein
Von den Todesstrafen.
317
mein die Rachbegierde sey, die ihn zu seiner Fr«, velthat antreibt: daß aber unter Men Leidenschaften keine sey, die, wenn sie einmal zügellos geworden, den Menschen mit so unwiderstehliger Kraft dahin reißt, und es ieder andern abhaltenden Betrachtung so un» möglich macht, neben ihr in ihm aufzukommen; als die Rachbegierde. Ein in voller Rachsucht ent. fiammter Mensch schttietnichkS. Er hat sonst für nicht» einen Sinn und Gedanken, als nur seinem Feinde wehe zu thun. Und wenn man ihm zu der Zeit, da er über seinen Feind wütet; Schwerd und Rad vorzeigke, die ihn strafen würden; so würde er denken: id) will gern wieder sterben, wenn ich nur meinen Todfeind vorher vernichtet habe! So verhalt eö sich mit andern Leidenschaften nicht. Sie sind ihrer Nati'r nach ruhiger: und wenn auf ihren Antrieb der Mensch ein Mörder ward, so mußte ihnen gewiß die Rachbegierde zu Hülfe treten, wofern er noch den Nahmen eines blos leidenschaftlichen Mörders verdienen sollte, Für ftch alleine, ist auster der
Rachbegierde, sonst kerne einzige Leidenschaft fähig, den Menschen zu einem leidenschaftli chen Mörder zu machen.
Aber nun, wie sieht es mit dem vorfttzlichen Mörder aus.? Wenn gleich, wie schon eben gesagt'
3i8
Von den Todesstrafen,
ist, auch bey diesem irgend eine Leidenschaft, die erst« und wahre Quelle seiner Entschließung ist; so kann man doch nicht sagen, daß die That in der blinden Hihe ei
ner wüthenden Rachbegierde verübt wurde.
Sie war
zugleich, wiewol bey dem Einen mehr, bey dem Andern
weniger, die Folge gewisser Ueberkgungett. Sollte also hier nicht die Furcht vor der To
desstrafe ein kräftiger Gegengedanke der
den Entschluß
zum
seyn,
Morde durchaus
nicht aufkommen liesset —
Die Erfahrung
sagt, nein! Man frage einen jeden vorsetzlichen Mörder: Ob er nte in seinem Leden davon gt-
hört habe, daß Mörder wieder am Leben ge straft werdend Er wird, Ja, darauf antworten.
Man sollte noch die zweyte Frage an ihn thun, die man
aber, vhngeachtet sie der ganzen Sache, wovon hier die Rede ist, den Aufschluß gibt, überall zu thun vergißt;
nemlich: Ob er nie gehört habe, daß eine Mord
that begangen sey; wo man den Thäter nicht habe ausfindig machen, ihn folglich auch nicht am Leben strafen können/ Er würde als-
denn auch. Ja, antworten.
Man könnte noch eine
dritte Frage an ihn ergehen lassen: Ob er, da er sich zur Mordthat entschlossen, mehr geglaubt habe, unter diejenigen Mörder zu gerathen,
die entdeckt, und hernach wieder hingerichrek würr
Von den Todesstrafen, würde»? oder, unter dieienigen, welche un
entdeckt blieben? und ich will alles verlohren ha ben, wofern er das lezrere nicht mehr für sich
gehofft,
als
das erstere gefurchter har! —
Man stelle sich einen Menschen vor, der es erfahren
hat, daß eine beträchtliche Summe Geldes an einem bestimmten Tage auf einem Postwagen fortgesandt wer
den werde.
Er entschließt sich, diöGeld, wo möglich,
an sich zu bringen; und sollte eö auch nicht anders, als mit der Ermordung des Fuhrmanns, geschehen können.
Er lauert dem Wagen zur Nachtzeit in einem Walde auf.
Er kennt den Fuhrmann als einenstarkenMen-
schen, und überlegt also, durch welche Mittel, und auf
welche hinterlistige und meuchelmörderische Art er ihn über die Seite bringen wolle.
Er muß viele Stunden
warten, ehe der Wagen kommen will; und hat also im
mer noch Zeit, sein ganzes Vorhaben von allen Sek
ten zu überdenken: und er thut dis würklich. kommt der Wagen.
Endlich
Er findet den Fuhrmann, wie er
es wünschte, allein, und ohne Gefehrten.
Er macht
sich an ihn; und es glückt ihm auch, dessen Uebermann
zu werden, ihn zu ermorden, und sich des Geldes zu
bemächtigen.
Allein er wird nachher entdeckt, einge
zogen, und als ein Mörder hingerichtet.
Nun frage
ich, wenn dieser Mensch zu der Zeit, da er im Wal
de lauerte, schon die Gewißheit gehabt hätte, daß der
Z2o
Von den Todesstrafen.
der Lohn seiner Arbeit, seine unfehlbare Hin richtung seyn würde; so, wie er dies« Gewißheit
iezr hat, da er wörtlich zum Schaffst geführt wird;
würde ihm auch wol die mindeste Lust zum Raube und Morde angewandelc seyn? Gleich
wol wußte er es ia aber doch, daß auf Straßenraub,
und auf Mord, Lebensstrafen gedrohet stehen? Woher kam es denn, haß diese Wissenschaft ihn nicht abhielt/ Vermuthlich und unstreitig wol daher, weil
er zugleich wußte, daß kein Dieb gehangen werden könne, der nicht vorher gefangen sey:
und weil er in Absicht aüf dis Langen sich nach
seinen gemachten Ueberlegungen und Anstal ten mehr sicher, als unsicher hielt! So lange
also, wenn man auch all« übrigen Gründe bey Seite sehen wollte, die wider die Todesstrafen reden; solan ge, sage ich, die Todesstrafen nicht zu so gewissen und unausbleiblichen Folgen des Mordes gemacht werden
können, dergestalt, daß schlechterdings und ohne alle Ausnahme ein jeder Mörder aufs Schaffst kommt,
und für eine» Jeden derselbe» die Hoffnung
des Entkommens absolut unmöglich ist:
so
lange können die Todesstrafen auch nie das unfehlbar kräftige Warnungsmittel für vorsezliche Mörder
werden, wofür man sie, und noch dazu wider alle Er. fahrung, auszugeben, unverständig genug ist.
Dee »orfez«
vorsezliche Mörder hatte die Todesstrafe selbst, die er nachher leiden soll, zu der Zeit noch gar nichr in der lVagschaale, als seine Selbstliebe Gewinn und Verlust bey ihrer Entschließung zum Morde ab« wog! Keinesweges. Der Gewinn war da; das Geld lag auf dem Wagen. Diese Schaale hatte also ihr volles Gewicht. Hingegen in der andern Schaale lag noch nicht Gchwerd und Aad! sondern nur die bloße Gefahr der Todesstrafe! die bloße Möglich« feit; du kannst ertappt und hingerichtek werden! Und zwischen dieser Möglichkeit, und der lVüvklichkeir, lagen noch tausend Dinge darzwischen, von denen er sich schmeichelte, daß sie die Möglichkeit nie mit der Wirklichkeit Zusammenstößen lassen sollten. Je mehr Ueberlegungen er gemacht; ie beste« re Anstalten er für sich getroffen zu haben meynke: de sto kleiner war die Gefahr in feinen Augen geworden. Die Vertheidiger der Todesstrafen muffen also behau pten: nicht, daß die Todesstrafe selbst, sondern, daß die Gefahr der Todesstrafe ein unfehlbares Abschreckungö. Mittel vom Morde sey. Sie müssen behaupten: daß die bloße Gefahr, dieselbige Würkung überall auf das menschliche Gemüth mache; wel che das gefürchtete Unglück selbst nur zu machen im Stande ist: kurz, daß Möglichkeit so viel gelte; als würklichkeit! Und das wäre doch eine BrSitteolthktiv.rb,
*$.
Hail»
Z22
Von den Todesstrafen.
hauptung wider alle Natur, Vernunft und Erfahrung.
Wir leben in Ansehung aller unser« Absichten und Wünsche, alles unsern Vornehmens und aller Ersah,
rungen, die wir machen, in beständigen Gefah. ren.
Der Strohm der Veränderungen aller Dinge,
ist ein Strohm voll lauter Gefahren.
Wir werden al
so überhaupt an Gefahren gewöhnt.
Der Landmann
kann keine Mehr Korn aussäen; ohne die Gefahr da
bey zu haben, daß ein Hagelschlag oder sonst ein Zu fall alle seine besten Hoffnungen vereitele.
So geht
es uns in allen Dingen, in allem unserm Vornehmen,
Thun und Lassen. Wir werden also mit Gefahren über haupt von Jugend auf vertraut gemacht. Sollten nun
die blossen Gefahren dieselbige Würkung auf un sere Entschließungen und Handlungen machen; als das
Unglück selbst,
wenn es gegenwärtig wäre; was
würde der Landmann alsdenn thun? — Er würde
keine Metze Korn feien,
Kein Mensch würde ein Pferd
besteigen: denn die Möglichkeit, den Hals brechen zu
können; steigt mit ihm hinauf u. s. w.
Was geschicht
daher? Was lehrt die Erfahrung? Sie lehrt uns dis: i) Aus blossen Gefahren überhaupt, machen wir uns
nichts; und können uns nichts daraus machen: dem»
sie sind bey gar keiner Sache ganz vermeidlich; und
die hlosse Gefahr fuhrt noch keine Gewißheit mir sich, daß das Unglück unfehlbar und «naus?
Von den Todesstrafen.
323
unausbleiblich kommen werde, und kommen
muffe.
2) Da es grössere und kleinere Gefahren,
stwol in Ansehung des wichtigern oder unwichtigern
als auch der mehrern
Guts, das zu verliehren steht;
Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit dieses Ver
lustes gibt: da ferner bey allen Gefahren, die man
von der einen Seite über sich bewilliget; auf der andern Seite auch jedesmal «Hoffnungen stakt finden, irgend
ein grösseres oder kleineres Gut zu gewinnen! und diese Hoffnungen auch so,
wie jene Gefahren, ihr«
Grade der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit
haben: so berechnet ein Jeder in allen ihm vorkommen
den Fallen,
wo er sich mit Bewußtseyn entschließt;
vorher feine Gefahr des Verlustes, Hoffnung des Gewinns,
und feine
und das Verhältniß
der gegenseitigen Wahrscheinlichkeiten und Unwahr
scheinlichkeiten derselben gegen einander; so gut er kann.
Und wo denn feine Selbstliebe nach die
ser Berechnung ihren grösser» Vortheil zu se hen glaubt; dahin fallen seine Entschließun
gen, aus.
Bestreben,
Handlungen und Arbeiten
Ist ihm denn die Wahrscheinlichkeit des Ver
lustes grösser, als die Wahrscheinlichkeit des Gewinns; so wird er sich nichts mit der Sache oder Handlung zu
thun machen.
Ist ihm aber auch die Wahrscheinlich
keit des Gewinns grösser,
als die des Verlustes ; st r a
Met
Von den Todesstrafe».
324
achtet er der Gefahr nicht.
So sind daher Beyspiele
genug vorhanden und aus Acten erweißlich: daß, wenn
z. E. Diebe gehenkt worden sind; es unter den gegen wärtigen Zuschauern solche gegeben hat, die während
der Execution gestohlen haben.
Und so schlug jener
Mörder im Walde den Fuhrmann todt: weil ihm
die Hoffnung seines Gewiyns wahrsicheinliF
eher war,
als die Gefahr feines Verlustes;
und so handelte er auch dem wahren psycho logischen System seiner menschlichen Vlarur
gemäß; wenn e§ schon das von der Phantasie erträum»
ke psychologische System anders und besser wissen will. — Das geht uns hier gar nichts an, daß ein Anderer
das Verhältniß zwischen Gefahr und Hoffnung ; zwi schen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit; zwi
schen das Gut, welches zu gewinnen stand, und das jenige, welches dagegen aufs Spiel gesezt wurde; an
ders finden kann: als der Mörder es fand! Hier ist sich eine ieder Mensch sein eigener Rechenmei
ster.
Es kommt nicht auf die Urtheile eines Frem
den; nein, es kommt auf die Urtheile an, die der Thäter davon hatte.
von tene»,
Denn von diesen, und nicht
hing seine Entschließung und That ab.
Sie müssen und können also auch nur allein in Rech nung gebracht werden; wenn seine That nach ihrem
Entstehungs-Grunde beurtheilet werden soll.
Für derr
vorsez-
Von den Todesstrafe
325
vorsezliche» Mörder sind also die Todesstra
fen bey weiten die kräftigen Warnungen nicht,
wofür man sie ausgeben will; so lange zwischen der wörtlichen Todesstrafe selbst,
und der
blossen Gefahr derselben, ein unbcstreitlicher Un terschied statt findet, und ewig wird statt finden müssen.
Es ist offenbar,
daß der vorsezliche Mord
weit eher zu hindern steht, als der leidenschaftliche, der eine Frucht der wilden Rachbegierde ist: und daß
auch der vorsezliche Mörder weit leichter zu bestem ist; als der leidenschaftliche Mörder.
Denn der
vorsezliche Mord ist nicht blos die Frucht einer blinden
Leidenschaft; sondern Zligleich die Folge gewißer Ueber»
legungen und gewisser Grundsahe, nach welchen der
Mensch handelte. veränderlich.
Die Grundsahe aber sind nicht un
Der Mensch kann zu andern und
bessern Einsichten geleitet werden, die ein solches Ver brechen nicht zulassen; sondern ein für die Gesellschaft
vortheilhastereö Verhalten bey ihm erzeugen.
Wer
vermag aber dem von Natur sehr leidensthaftlich, zor nig und rachsüchtig gestimmten Menschen sein Blut abzuzapfen, und seinen ganzen Nervenbau sanfter zu stim-
mxn?
Hier müssen also,
nebst den allgemeinen
Besserungs-Mitteln, noch besondere; die seiner zu
thierischen Natur naher angemessen sind, angebracht
T 3
werden.
326 werden.
Von bett Todesstrafe». Jczt wollen wir nur, da ttfir von dem vor,
sezlichen Mörder reden; in Absicht auf diesen, einige Vorschläge thun.
Erstlich:
Die Lehrer und so genannten Geistli.
chen müßten besser angehaltcn werden;
anstatt ihres
dogmatsschcn Kauderwelsches, wobey weder Gott, noch der Engel, noch der Mensch etwas denken können; imb
wodurch sie die Phantasie ihrer Zuhörer immer ins geist liche, überirrdische und übernatürliche schwärmend ma-
chm und erhalten: ich sage,. sie müßten angehalten werden: ihre Zuhörer, statt ienes unnützen Wustes; mit den Vortheilen, die das gesellschaftliche
Leben gewährt,
und mit den pflichten be
kannt zu machen, die man zu beobachten hat,
um icner Vortheile aus der Gesellschaft theil haftig zu werden.
Sie müßten, statt der unver
ständlichen Dogmatic, mehr Moral lehren. Und dis könnte dadurch sehr leicht bewürkt werden: a) wenn die Consistoria und alle diejenigen, welche die Geschicklich
keit der zu bestellenden Lehrer zu prüfen haben; ange
wiesen würden: ihr vornehmstes unb eigentliches Au
genmerk auf die Kenntnisse zu richten, die der Candidat in der Moral hat.
b) Wenn bey einem vorgefal-
lenen kaltblütigen Verbrechen nicht blos der Ver
brecher, stndem auch ftm Lehrer, mit zur Verantwor-
.Von den Todesstrafen. antwortung gezogen würde. —
317
In wiefern alSdenn
mehrere oder wenigere gültige Entschuldigungsgründe in den einzelnen vorhandenen Fallen für den Lehrer noch stattfanden; würde sehr leicht ausgemittelt werden kön
nen.
Es ist handgreiflich gewiß; daß, wenn un
zählige v-rsezliche Mörder bessere Begriffe von ihrer wahren menschlichen Glückseligkeit
und
den gesellschaftlichen Pflichten,
deren
Beobachtung sie in den Genuß Lener Glück
seligkeit sezr; gehabt hätten: sie nimmermehr die Mörder hätten werden können, die sie der heillose Wirwarr von Religionsbegriffen wer
den ließ,
der ihnen von Jugend auf beyge
bracht worden war.
Die beste Religion für einen
Menschen kann doch nur diejenige seyn, die ihn zu
einem guten Menschen und Bürger in der Ge sellschaft bildet.
Und das könne« doch auch nur die
besten Grundsätze für ihn seyn, die iHv auf dem nächsten und geradesten Wege zu jenem Ziele leiten.
geht den Menschen, der in der Natur lebt,
Was
und
zur Natur gehört, das UebernarürUche an? Was geht ihn das göttliche an? da kein Mensch die Gott
heit kepnt, noch den mindesten positiven Begriff von ihr hat, oder haben kann ? Man lehre de« Menschen
.Mensch seyn; und von Tage zu Tage ein im mer befferer Mensch werden: das ist es, was £ 4
man
328
Von bett Todesstrafen,
man von einem öffentlichen Lehrer in der menschlich«» Gesellschaft fordern kann.
Und wenn dieser das nicht
leisten kann; so Lage man den blinden Leiter vom Lehr« stuhle weg.
Zweitens:
Der Staat sollte ein wachsameres
Auge darauf haben, daß der Nahrungsstand für jede Art von Bürgern, insonderheit sirr die unterste, er
leichtert; der Fleiß ermuntert; und die Hindernisse, so
viel möglich, weggeräumt würden, die so manchem Menschen die Erwerblmg des nothdürftigsten Brodts
für sich und die Seinigen unmöglich, und daher den Tod wünschenöwerth machen.
Drittens: Die Strenge aller derjenigen Gesetze, welche die Natur zwingen und in Fesseln schlagen wol
len, sollte gemildert; und die Gesetze selbst sollten mehr der VZatttv gemäß eingerichtet werden.
tur laßt sich nicht ungestraft beleidigen!
Die Na Sie spottet
eines jeden Widerspruchs, der ihr gemacht wird: und sie rächt sich in dem Maaße grausam ; als man ihr un gerechte Gewalt anthun wollte! Dis findet insonder
heit in Ansehung der Eher Gesetze statt: und ver dient bey der Untersuchung der Ursache»» des Rin
dermords; wie auch bey denjenigen Mordthaten, zu rvelchen der Affect der Liebe die Veranlassung gab; er.
wogen zu werden.
Man
Von den Todesstrafen.
329
Man könnte zu den vorsezlichen Mördern auch noch bieienigen zehlen; welche um, ihrer Meynung nach, gewiß seelig zu werden; den Tod der Gerechten auf dem Schaffote sterben wollen, und deswegen ei ne Mordthat begehen. Allein auch bey diesen Men schen ist es handgreiflich, daß die Todesstrafe kein lVarnungsr Mittel für ste sey; da es gerade ih re Absicht war, dieselbe leide» zu wollen! und sie, um diese Absicht zu erreichen, die Mordthat begin gen! Ja es ist sichtbar, daß der Staat durch seine gewöhnlichen Hinrichtungen der Mör der, iene Menschen im allereigentlichsten Ver stände zu ihrem Verbrechen gereizt, und ste das Morden ausdrücklich gelehrt habe. Rich, tete der Staat keinen Mörder hin; überliesse er ihn den Vorwürfen seines Gewissens durch fein ganzes Leben
hindurch: so hätte ienen Menschen gerade diejenige Er fahrung gefehlt, die den Vorsaz zum Morde bey ihnen «zeugen konnte; und sie hätten dagegen an den Bey spielen' derer, die als ehemalige Mörder, nun mit ge schlagenem Herzen die übrigen Tage ihres Lebens leb ten ; eine ganz andere Erfahrung gemacht; die den Ge danken: in ihre Fußtapfen treten zu wollen; nie und nimmermehr bey ihnen würde haben aufkommen lassen. Eben so begreiflich ist es, daß durch ihre Hin
richtung, kein folgender Phantast gewarnt; aber T 5
wol
330
Vott dm Todesstrafen.
wol noch starker zu einem ähnlichen Verbrechen aufgemuntert werden könne! Zugleich sieht man aber
auch aus diesen Beyspielen, was für erstaunlichen
Schaden die unsinnigen Lehren der Geistlichen anrich ten: wenn sie, anstatt die Menschen auf dis Leben,
vnd auf die Pflichten und Vortheile desselben zu vey-
weisen; ihre Phantasie nur immer mit Bildern vom Himmel erfüllen, und durch die wilden Vorstellungen
von der Hölle und den Schwierigkeiten, seelig zu wer
den , die Selbstliebe der Schwachen am Verstände so .aufwiegeln; daß sie auf die unsinnigsten und schrecklich-
stenMittel verfällt, einer angeblichen ewigen Verdammniß zu entrinnen, und den Himmel zu gewinnen.
d) Die Todesstrafen sind auch darum, als 100at# nungs • Strafen vor Verbrechen',
unnüz und
vergeblich: weil ein Staat, oder eine Gesellschaft meh rerer Menschen, ohne Verbrecher undenkbar ist.
Es ist ein Glaucom, das wir den Theologen zu dan ken haben,
wenn man sich einbildet: daß Laster,
Verbrechen rc. mregerottet werden
können.
So lange nicht alle Menschen einerley Grad von mensch licher Vollkommenheit besitzen; so lange sie sich hierinn
einander vorgehen und folgen müssen: so lange müssen Ei nige, Unmündigere; Andere, Mündigere seyn. Je ne müssen also auch unverständiger ; und diese, ver
ständiger handeln.
Das ist: Jene müssen gegen
Diese
331
Von den Todesstrafen»
Diese gerechnet, Verbrecher; und Diese, gegen Jene gerechnet,
Tugendhafte seyn.
grösser die Gesellschaft ist,
Und ie
desto mehrere Arten von
Verbrechern und von Tugendhaften müssen darinn exi-
stiren.
Jene auörotten wollen; heißt: sich ein Phan
tasma von Gesellschaft träumen, dessen Existenz un
möglich ist.
Besserungö - Mittel anzuwenden; ist gut
und nöthig.
Aber Warnungs. Strafen, die die Ab
sicht haben, gewisse Verbrechen mit der Zeit ganz zu
vertilgen, und aus der Gesellschaft wegzuschaffen; kön nen nur von denen angerathen und vertheidiget werden,
denen es an Menschen-Kenntniß und an richtigen Be
griffen, von den Regeln und Gesehen, fehlt; nach wel chen die Menschen sowol, als die übrigen Dinge m
der Natur, gebauet und eingerichtet sind.
(Vid. tm
gten Theile, die Abhandlung von der menschlichen Ge sellschaft überhaupt.)
Die Erfahrung lehrt es auch,
daß, trotz aller Exeeutionen, es dennoch immer noch Mörder gibt: ia, daß es da die meisten Mörder gibt, wo hie häufigsten Hinrichtungen stattßnden.
Ein of
fenbarer Beweist; wie wenig man der Todesstrafe «ine
warnende Kraft vor Verbrechen zuschreiben könne! da
sie vielmehr st ganz eigentlich dazu dient, die wild-
heir und Rohigkeir in den Girren der Mena
schon zu nähren und zu erhalten; und ste,
rachsüchtig seyn und morden, zu lehren! Wen«
ZZ2
Von Len Todesstrafe».
Wenn ich behaupte, daß es unmöglich sey, 6te Verbrechen auszurotten; so leugne ich damit keines-
weges, daß sie vermindert werden können.
Aber
dis wird warlich nicht durch Todesstrafen bewürkt wer
den; sondern kann nur als die Würkung ganz anderer
Mittel, und insonderheit eines bessern Unterrichts und vernünftigerer Grundsätze erwartet wekden, die man den Menschen von Jugend auf beybringt. z) Der schwarze Flecken der Ungerechtigkeit
wird auch von den Todesstrafen durch den nichtigen
Vorwand nicht abgewischt; wenn man wider alle Na tur, Vernunft, und Erfahrung behaupten will: daß
die Sicherheit der Gesellschaft die Hinrich tung eines Mörders nothwendig mache. Ich weiß gar nicht, was ich davon denken soll;
wenn ich in den Schriften der Vertheidiger der Todesstrafen immer lese: „die Todesstrafe sey darum nicht abzuschaffen, weil sie dem Staate eine absolute Si
cherheit gegen den Verbrecher gewähret" —
Sie sey das kräftigste Mittel in der Narur, die Menschen von Verbrechen zurückzuhalten, und den
Staat gegen ähnliche Eingriffe des Verbrechens zu si chern?
„Sie sey die einzige, allgemein würk-
same und sichere Strafet — „Sie sey das un
fehlbar würkfame Sicherungs-Mittel für den
den Staats u. s. ro.„ Wollen die Herren damit so viel sagen, als: Der Hingerichtete Mörder tonne ferner den Staat nicht mehr unsicher machend oder, kein Bürger dürfe ferner de. fürchten, von dem schon auf dem Rade gesiochrenen Menschen noch erschlagen werden zu tonnen, so bedürfte es doch wol so vielen Geräu sches, DemonstrirenS, und gehäufter Versicherungen nicht, um uns zum Glauben an diese neue Wahrheit zu bewegen ! Ich denke, ein jedes altes Weib wird sich wol überzeugt halten: daß sie von dem Menschen, dem der Kopf schon vor den Füßen liegt, nichts ferner für ihr Leben zu furchten habe? VorS Spucken möchte ihr allenfalls noch bange seyn!
Wir wollen indessen doch die so sehr gerühmte Si cherheit, welche der Galgen dem Staate gewähren soll, etwas naher kennen lernen.
a) Wenn keine große Gesellschaft ohne Verbrecher denkbar ist; so ist ia, denke ich, die, als Folge da her entstehende Unsicherheit ebenfalls etwas, das sich von der Gesellschaft nicht trennen läßt? Wer die vollkommenste Sicherheit genießen will, von keinem andern Menschen ie tobtgeschlagen werden zu können: der schlage sich entweder selber todt, ober er nehme seinen WohnplaH auf einer wüsten und unbe-
334
Von den Todesstrafen,
unbewohnten Insel, wo er der einzige Mensch ist und bis an feinen Tod bleibt. (Vid. im ersten Theil, pag. 153.156. unb im dritten Theile, die Abhandlung von der menschlichen Gesellschaft überhaupt.) b) Jeder Bürger bewilliget auch durch sein Seyn, und Leben in der Gesellschaft, die möglichen, ungewisse»« Gefahren, welche ihn in derselben tref fen können: und er zieht diese, bei» gewissen Gefah ren des Untergangs in der Einöde, vor! Trift ihn also die Gefahr, ermordet zu werden, würklichso war eS eine von ihm, wenn schon nicht mit Gewißheit erwar tete, doch auf den unwahrscheinlichen Fall des Würklichwerdens, bewilligte Gefahr! (Vid. im dritten Theile die Abhandlung von der menschlichen Gesellschaft.)
c) Wird ein Bürger von einem Mörder entleibt; so kann Jenem, die nachherige Hinrichtung des Mör ders, zu feiner Sicherheit nichts mehr helfen! Der Mörder hätte früher hingerichkek werden müssen, ehe er Mörder ward; wenn das Leben jenes Bürgers vor ihm hätte gesichert bleiben sollen. Daß er aber alsdenn ganz unschuldig würde hingerichket worden seyn; läßt sich doch wol an fünf Fingern abzehlen? d) Und wird nicht diese handgreifliche Ungerechtig. keit würklich begangen, wenn der Mörder eines Bür-
Von den Todesstrafen,
335
gers, der Sicherheit der übrigen lebenden Dür.
ger früher aufgeopfert wird, ehe diese von ihm
angegriffen sind? Er war nur Mörder, in Rück sicht auf den von ihm Entleibten! Dieses Leh rern seine Sicherheit konnte aber durch Jenes Hinrich
tung nicht mehr bewürkt werden: denn der Erschlagene war schon todt! — In Ansehung der übrigen, noch
lebendm Bürger, war er noch nicht Mörder gewor
den! — Wenn er also für ihre Sicherheit aufge. opfert wird; so wird er früher gestraft, als er gesün-
diget hat! über Verbrechen gestraft, wovon der gewisse
Erweiß, daß er sie begangen haben würde, absolut un
möglich zu führen ist! Und das ist doch wol Un gerechtigkeit? —
Der Mörder wird also für t>ie
Sicherheit des schon Entleibten, zu spät; mithin un nützer weise: und für die Sicherheit der noch leben
dm Bürger, zu früh; mithin ungerechter Wei
se hingerichtet.
Es ist gewiß so kümmerlich, als möglich, gedacht;
rind zeuget von einer mitleidenswürdigen Armseligkeit des Geistes, wenn man das einfaltige Vorurtheil: wer einmal das Unglück gehabt har, ein Mör
der zu werden; der muß und wird nun immer fort morden, für eine ausgemachte Wahrheit halten kann.
Lehrt es nicht die Erfahrung, daß die allermei
sten
336
Von den Todesstrafen.
sten Mörder bald nach der That von der lebhaftesten
und schmerzlichsten Reue ergriffen werden? dergestalt, daß Viele willig ihrem eigenen fernern Leben entsagen, und ihre Hinrichtung fordern; weil sie den Gedanken
und das eigene Bewußtseyn, Mörder geworden zu seyn, nicht ertragen können? dergestalt, baß sie ihren Hin*
gang zum Blutgerüste selbst noch als die einzige Ent schädigung ansehen, die sie der Gesellschaft; vornehm*
lich aber sich selbst und ihrem unheilbar verwundeten Gewissen machen können? Nun frage ich einen jeden
Menschen, ob er sich wol mit seinem Leben künftig bey
einem solchen reuigen Sünder unsicher halten könne? Warlich, wenn ich mich bey einem Menschen vor der Gefahr, von ihm ermordet zu werden, sicher hielte: so wäre es bey diesem, dem die Verbrechen in seiner
allerschwärzesten und verabscheuungswürdigsten Gestalt stets vor Augen schwebt; und der durch die quälenden
Vorwürfe, womit es ihn überall verfolgt, so mürbe ge martert wirb; daß er mir immer ein Gegenstand des
Mitleides, der Aufmunterungen und liebreicher Trö stungen würde seyn müssen.
Selbst für den leiden,
fchafrlichen Mörder möchte ich fast gut sagen, und
von ihm behaupten: daß kein anderes Mittel ihn so sehr herumwcrfcn, und zu menschlichem Gesinnungen auf
die ganze Zeit seines Lebens stimmen würde; als das martervolle Andenken dessen, wie weit ihn seine Leiden,
schäft
Von den Todesstrafen.
337
fchast schon geführt habe! Und bey den vorseylichen Mördern kommt ia alles nur auf bessere Grund sätze an. Diese würden sich bey den Allermeisten ver üben sogleich nach der That von selbst einfinden. Die That selbst würde ihnen die Quelle seyn, aus der sie ih nen zufiößen. Und gesetzt, daß es Einige gäbe, bey denen schädliche Vorurtheile, Neigungen und dahin einschlagende Gewohnheiten so fest gewurzelt hatten; daß diese Besserung so bald nicht bey ihnen zu hoffen stände: so hat sie ia der Staat in seiner Gewalt! und so ist dieser ia vermöge des, mit dem Bürger errichte, ten Vertrages schuldig, da für die pervollkommutig und das Glück desselben zu sorgen, wo dieser sein Bestes nicht selbst besorgen kann! Denn darum lebt der Mensch in der Gesell schaft! Und so kann ia der Staat auch durch die Ge fangenhaltung desselben, die übrigen Bürger so lange vor einen solchen Menschen sichern; bis die Ueberzeu gung von der erfolgten Besserung der Gesinnungen des selben seine Loslassung erlaubt! Man bedenke Hiebey noch, wie viele ausserordentlich kräftige BesserungsMittel es für einen solchen Menschen gebe, der so tief gefallen war? Man gedenke sich selbst in seine Stelle. Der Anblick eines jeden Menschen, und insonderheit der Verwandten des Entleibten! ihre Zurückhaltung gegen uns, die wir selbst rechtfertigen müßten! tedrS Sitttnlchrk IV, Tb. 9) Gute,
338
Von den Todesstrafen.
Gute, was sie uns angedeihen ließen! u. f. w. würden
das nicht die quälendsten Vorwürfe seyn, die uns durchs ganze Leben marterten? Würden wir dadurch nicht so
demüthig, so bescheiden, so dienstwillig, so sanftmü-
thig und duldend gegen Jedermann gemacht werden; daß man sagen kann: der Staat raube sich durch seine
Hinrichkung'der Mörder, Menschen, die, da sie nun einmal auf einen sehr unglücklichen Weg gerathen wa
ren, doch auch Zugleich durch die größten Beschwerden, die sie darauf gefunden, so voll demselben abgeschreckt sind; daß die sicherste Hoffnung statt findet: Sie wer
den nun mit ganz besonderer und einer ausserordentlichen Vorsicht ihren Fuß auf der rechten Bahn zu erhalten
silchen; um weder auf tonen, noch irgend einen andern
Jrweg in ihrem Leben ie wieder zu gerathen? Es ist ganz gewiß, daß, wenn von Sicherheit die Rede ist, utid die Sache mit dem rechten Auge angesehen wird, der Staat mehr Ursach behalten werde, auf die Si
cherheit des 'Mörders, wider die Rachbegier-
de der andern Bürger; als aus die Sicherheit
dieser, wider Jenes fernern Mordlust,
Be
dacht zu nehmen! Die Gefangennehmung des Mörders
dürfte wol in den allermeisten Fallen blos zur Sicher heit des Mörders selbst nöthig bleiben; um ihn nicht
ein Opfer der blinden Rachbegierde der Verwandten des Entleibten werden zu lassen.
Und in den allersel-
tensten
Von den Todesstrafen, kensten Fällen dürste vielleicht die Sicherstellung der Gesellschaft vor einen Mörder, jene Verhastnehmung
auf eine Zeitlang nöthig machen.
Je sanftmüthiger
und menschenfreundlicher aber auch der Staat mit einem
so unglücklich gewordenen Menschen verführe; desis mehr würden allmahlig auch die Triebe der Rachbegier« de bey den Bürgern gegen einen solchen Unglücklichen
gezügelt werdend da hingegen bieft Leidenschaft:
iezr von der Hinrichtung des Mörders alle ihre wilde Befriedigung erwartet; mithin durch diese schreckliche und unwürdige Sitte genahrekundun,
terhalkcn wird.
Dis wären nun die hauptsächlichsten Gründe, wes» che, wie ich denke, die Unrechtmäßigkeit der Todes« strafen überlaut erweisen. Ich will nun dieser Abhand« lung noch einige Gedanken anschließen, von denen ich
wol wünschte: daß sie dieienigen, die am Ruder des Staats sitzen, ihrer ernsthaften Erwegnng werth fin
den möchten.
Da alle Strafen nur die Absicht der Besse
rung des Uebelthärers haben dürfen, und zu die« fern Zweck allein gewählt werden müssen; wenn sie nicht ungerecht, unnatürlich und grausam werden sollen: so
ist das/ was man öffentliche Genugthuung neu«
tret, um derentwillen Jemand gestraft werden müße, P s
nichts
340
Von den Todesstrafen,
nichts weiter, als ein unwürdiger Deckmantel
der Rachbegierde.
Eine große Gesellschaft kann
nicht verlangen, daß es keine Verbrecher unter sie ge
ben solle! und wenn ein solcher hervortritt; so kann sie ihn nicht um ihrenkwillen strafen! KeineSwegeS:
Wenn sie dis thut; fo ist es bloße Würkung der Rach lust, die sie sich erlaubte
Sie darf nur den Verbre
cher um seines eigenen Vortheils willen; oder, zu der wohlthätigen Absicht, ihn zu bessern, strafen.
Diese Wohlthat ist sie ihm, als Vertragspflicht, und zufolge der Absicht, mit welcher er in der Gesellschaft
lebt; schuldig.
Mithin, sage ich nochmals , ist das,
was man unter der absichtlichen Redensart: der Ver brecher müsse der öffentlichen Genugthuung
halber gestraft werden, verbirgt; nichts weiter, als,
unwürdige öffentliche Rachlust!
Man
sollte zur Ehre der Vernunft und Menschheit diese ver
werfungswürdige Absicht aus der Criminal- Ordnung
auöstreichen. Allein wie soll denn nun der Verbrecher zu seiner
Besserung gestraft werden? Welches ist der allgemei ne und natürlichste Grundsaz, den man in der Wahl und Bestimmung der Besserungsstrafen überall zu be folgen hatte? Die Vlarur soll ihn uns selbst an die
Hand geben.
Wir gehen warlich am sichersten, wenn
wir sie zum Lehrer nehmen; und auf die Gesetze mer ken.
Von den Todesstrafen.
34i
ken, welche Gott in dieselbe gelegt hat; und aus wel. chen die Verfahrungsart hervorgehk, wie er die Men schen über ihre Thorheiten zu ihrer Besserung straft.
Alle Dinge, ohne Ausnahme, mithin auch
alle menschliche Handlungen, haben ihre tu# türlichen Folgen.
Durch diese natürlichen
Folgen, und sonst durch nichts anderes, be lohnt Gott die guten Handlungen der Men
schen : und durch ste bestraft er auch nur ihre
bösen Thaten.
Wenn ich mich z. E. den zügello.
fen Ausschweifungen der Wollust überlasse; so kann we
der ich, noch sonst ein Arzt die daraus folgende Zer. siöhrung meiner Gesundheit verhindern. Ich zeige mich
meinem Nächsten als ein Falscher: und in dem Augenblick sinkt auch das Vertrauen, das er zu mir hatte,
dahin.
Ich werde durch meine Fahrläßigkeit mit
Feuer, Ursach an der Verbrennung meines HauseS,
das alle meine zeitlichen Güter in sich faßte; und mei.
ne Verarmung ist die unausbleibliche Folge davon, u. f. w.
Was folgen hieraus für Regeln für die mensch.
liche Gesezgebung über Verbrechen und Strafen? Of fenbar folgende:
a) In allen denen Fallen, wo die natürlichen, schädlichen
Folgen
eines Verbrechens den
Verbrecher selbst und allein treffen; da straft
9) 3
ihn
I4S ihn schon
Von den Todesstrafen. die tlatut: zu seiner Besserung.
Mithin kann da der Criminal-Richter wegbleiben. Die
Natur bedarf feiner Hülfe und seines Beystandes nicht;
und er wird auch warlich keine klügeren Verfügungen zu treffen wissen, als Jene für sich selbst und ohne ihn,
zu machen im Stande ist.
Alle Hinzuthuung ander
weitiger willkührlicher Strafen von Seiten der Obrigkeit, ist ungerecht; weil sie zu weiter nichts die nen, als den Menschen, der schon durch die schädlichen Folgen seiner Handlung sich geschadet hatte; noch elen-
der, folglich zu einem für die Gesellschaft noch untauglichern Bürger zu machen.
Will man sagen, daß der
Bürger dadurch, daß er seinem Privatwohl zunächst
allein schade, doch auch dem allgemeinenWohl der Ge sellschaft Nachtheil verursache; weil er ein Mitglied die
ser Gesellschaft sey; diese also sich als ein, von ihm be
leidigter Theil, auch bey seinen Privatvergehungen an
sehen könne: so vergißt man wol, daß der Bürger nicht blos ein Mitglied der Gesellschaft; sondern auch
ein besonderes, für sich bestehendes wesen sey; das seine eigene, von der Gesellschaft unabhän gige Persönlichkeit hat; dem man also auch seine eigene Freyheit zu handeln, als ein ihm angebvhrnes Recht,
da ungekränkt lasten mäst', wo seine Handlungen kei nen unmittelbaren schädlichen Einfluß auf die Ge
sellschaft; sondern nur aus ihn allein haben. Man
Von den Todesstrafen.
343
ist, nach -er zeitherigen falschen Angabe der angebohrnen Rechte der Menschheit, leider immer geneigt, den
Bürger für eine bloße Eigenschaft der Gesell
schaft anzusehen; die von derselben getrennt, so we nig gedacht werden könne, als sich die Röthe deö Zin nobers, von dem Körper des Zinnobers selbst, getrennt
denken laße.
Und auf diesen falschen Wahn gründet
sich die unrechtmäßige Befugniß, welche man sich an maßet: den Bürger da strafen zu wollen, wo er nicht wider die Gesellschaft, oder wider einen andern Bür ger; sondern blos wider sich selbst gehandelt hak.
Von einem verrückten Menschen, der sich sein eigen
HauS in den Brand sezt, ist hier nicht die Rede. Ein jeder im Kopfe gesunder Mensch aber wird ohnehin für
sich selbst so gut und vorkheilhaft zu handeln siichen, als
er nur kann, und es einsieht.
Dieser braucht durch
keine willkürlichen Zwangs-und Strafmittel dazu an gehalten zu werden.
Handelt er würklich zu seinem
Schaden; so ist es ein sicheres Zeichen, daß eö ihm an
Erkenntniß dessen fehlt, was zu seinem eigenen Frie den dient. Und zu dieser wohlthätigen Erkenntniß will ihn die Natur durch die bittern natürlichen Folgen lei
ten, die sie seiner Thorheit anhängt.
Will der Staat
also auch etwas für ihn thun; so sorge er, daß die Anrichtung dieses Erkenntnisses durch guten vernünftigen
Unterricht bey ihm gefördert werde! Und wenn Jenem P 4
dis
344
Von den Todesstrafen,
dis in allen einzelnen Fällen besonders zu besorgen, un möglich ist; so wache er überhaupt dafür, daß ein ver nünftiger Unterricht, der wahrhaftig zur Besserung der Menschen dient, in der Gesellschaft statt finde und im Gange sey. b) In denienigen Fällen, wo die natürlichen schäd lichen Folgen eines Verbrechens nicht den Verbre cher selbst; sondern einen, oder mehrere andere Bürger treffen wollen; da müssen die Gesetze diese Folgen von den andern unschuldigen Bürgern ab-und auf den Thäter selbst hinzuleiten suchen: so weit nemlich, als dis eines Theils der Natur der Sache nach, möglich ist; und als es andern Theils die nothwendige Rückficht auf die Er haltung des Verbrechers, als einen Bürger, und auf fein ferneres Bestehen in der Gesellschaft überhaupt, zulassen will.
i) Können die natürlichen schädlichen Folgen von den Andern ganz ab - und aufde»« Thäter al lein hingeleirer werden; dergestalt, daß sein Be stehen, als Mensch und Bürger überhaupt, nur dabey noch möglich bleibt; mögen gleich seine äusserliche Lage und Umstände im übrigen dadurch noch so sehr verfchlimmert werden: so ist dis, wie ein Jeder leicht sieht, die natürlichst« und beste Besserungs-Strafe, die er sich zuge-
Von den Todesstrafen.
345
zugezogen hat; und die ihn auch um so viel kräftiger und gewisser von seiner Thorheit heilen wird, weil er wider ihre Gerechtigkeit nicht mit einer Sylbe murren kann.
Es sind immer die natürlichen Folgen seiner ei«
genen Handlung; von denen er nach dem Urtheil seiner
eigenen Vernunft nicht verlangen kann, daß sie ein An derer, als er tragen solle: so wenig als er erwarten kann ; daß, wenn er durch Fahrlaßigkeit an der Ver
brennung seines eigenen Hauses Schuld geworden; die daraus entstehende Verarmung auf einen Andern, als ihn selbst, fallen könne, werde, und müsse.
2) Sollte aber,
wenn alle natürlichen Folgen
der That auf den Verbrecher zurückgeleitet würden;
sein ferneres Bestehen, als Mensch und Bürger, da durch ganz unmöglich werden; sollte er dadurch außer Stand kommen, die nothwendigsten Bedürfnisse seines
menschlichen Lebens befriedigen zu können: so fordern
es die Gerechtigkeit, Menschenliebe und gesellschaftli che Verbindungen der er lebt; ihn nur einen so gros
sen Theil der schädlichen Folgen seines Verbrechens tragen zu lassen, daß sein nothwendiges Bestehen da durch möglich bleibt.
Es wird das immer für ihn so
viel Strafe seyn; als wenn ein Anderer, der alle Fol
gen seiner That selbst kragen kann; sie auch würk-
lich zu seinem Schaden selbst tragen muß. 9) 5
Den übri«
346
Von den Todesstrafen.
übrigen Theil von schädlichen natürlichen Folgen, die »euer Verbrecher nicht selbst tragen kann; muß entwe
der der, auf hen sie zunächst fielen, um der gesellschaftlichen Verbindung willen, in welcher er lebt,
und aus welcher ihm doch auch so viele andere Vorthei le zuströhmen, tragen: oder die Gesellschaft muß,
im Fall sie Jenem allein zu schwer würden; sie unter
stch »ertheilen.
Denn, wenn die Gesellschaft es sich
gefallen laßt, oft an einem großen Vortheil, den ein einzelnes Mitglied ihr stiftet, gemeinschaftlichen Antheil zu nehmen: warum sollte sie auch nicht an ei
nem großen Schaden, den ein anderes Mitglied
ihr einmal verursacht; gemeinschaftlichen Theil nehmen wollen und müssen? 3) Sollte die Zurückleitung der Folgen
auf den Verbrecher selbst, der natur der Sa che nach unmöglich seyn; wie z. E. bey einer ge schehenen Mordthat! wo dem Entleibten der Tod nicht obgenommen, und auf den Mörder so gelegt werden kann, daß Jener dadurch wieder lebendig würde: so leite man so viele der übrigen Folgen, die noch damit
vergesellschaftet sind, auf den Verbrecher zurück; als
sein nothwendiges Bestehen erlaubt.
Im übrigen su
che man ihm durch die besten Mittel, von denen wir
noch ein paar Worte reden wollen, weiter zu seiner Bes serung förderlich zu seyn.
Von den Todesstrafen.
347
Zuförderst muß ich nur sagen:
Erstlich: Man vergesse es nicht, daß hier nur
von Grundsätzen,
nach welchen gestraft werden müs
se, die Rede sey.
Und da sind die eben angeführten
unstreitig die allerftchcrstcn und wahresten: weil sie un mittelbar aus dem Criminal-Gcsezbuch entlehnt sind.
derNarur
Die CTatur straft, wie einen Jeden
die kleinste Aufmerksamkeit und die tägliche Erfahrung
lehrt, nach keinen andern Regeln.
Und da wirMen,
schen alle, mithin auch der Verbrecher und seine han delnden Kräfte zur Natur gehören:
so gehen wir
überall, sowol zu unserm eigenen Glück, als auch zum Glück der Gesellschaft, den sichersten Weg, wenn wir
uns in unsern Verfahrungsarken dcrienigen Bahn, so viel als möglich, nähern; welche sie uns selbst durch
ihre eigenen Vcrfahrungsarten bezeichnet: was auch die Theologen,
die allen Menschen schon die Köpft
verrückt haben,. und auö deren Gewäsch im Grunde
die unnatürlichen Gesetze in der Gesellschaft herstam men; dawider sagen mögen.
Sie ist handgreiflich die
Ueberzeugung, so bald man sich nur den Kleister ft
vieler theologischen Grundsätze aus den Augen wischt;
daß die Menge so vieler unnatürlichen Gesetze selbst, die noch in der Gesellschaft starr fin den;
unter die reichsten und erZiebigsten (DueU
348
Voll den Todesstrafen.
«Quellen des meisten Elendes in der menschli chen Gesellschaft gehören. Zweyten-: Aus obigen, aus der Criminal-Ordnung der Natur selbst, gezogenen Grundsätzen, lö
set sich nun auch die berühmte Frage, welche die Leh rer des Criminal - Rechts immer noch beschäftiget; größtentheils als unnüz auf: Nach welchem Maaß-
stabe die Größe eines Verbrechens zu berech nen sey;* um darnach die Größe der Strafe
bejAmmen zu können.
Ob, nach dem Scha
den, der dem Staate daraus erwuchs?
oder nach
dem willen und der Absicht, mit welcher der
Verbrecher handelte? oder nach irgend einem andern
Verhältnisse? Schon der Umstand, daß man sich bis iezt noch nicht über diese Frage hat vereinigen können; ist ein übles Zeichen von ihrem inneren Werthe: und lehret uns deutlich genug; was von dem ganzen Gebäu de der Criminal-Ordnung zu halten sey, das auf ein
Prinzipium beruhet,' das in sich selbst noch unsicher
und ungewiß ist, und dessen Wahrheit noch nicht ausgemacht worden? Soll der angerichrere Scha de die Größe des Verbrechens bestimmen? so hat der sonst gut und menschenfreundlich denkende und handeln
de Mensch, durch eine einzelne Fahrläßigkeit, die er mit seinem brennenden Lichte beging; und wodurch er an
Von den Todesstrafen.
349
an der Einäscherung einer ganzen Stadt Ursach ward;
dasselbe Verbrechen begangen, was der geflissentlichste
Oder soll die Absicht bey
Mordbrenner beging.
der Thar entscheiden? so hat der, der seinem Näch
sten einen Groschen mit Absicht stahl; ein so großes
Verbrechen begangen, als der, der mit diebischer Ab
sicht hundert tausend Thaler entwandte; oder, der mit Absicht ein Haus in den Brand steckte und alle Ein-
wohner mit verbrandte.
Denn volle und zureichende
Absicht ist in dem einen Falle so gut, als wie in dem andern da.
Oder will man sagen: Man muß alles,
sowol die Größe des Schadens, als die Absicht des Thäters und iedes anderes hier einschlagendes
Verhältniß zusammen rechnen; und hieraus den Maaß stab zur richtigen Ausmessung der Grösse des Verbre
chens bilden: so sieht man wol nicht, daß man dadurch im Grunde nichts gewinne und nichts gewinnen kön
ne; weil alsdenn ganz gewiß in jedem einzelnen Falle,
ohne Ausnahme, irgend ein Prinzipium dem andern widersprechen wird.
Gesezt der Schade ist groß;
so spricht vielleicht die beste Absicht für den Thäter! Oder ist auch zugleich ein böser Wille erweißlich: so
reden vielleicht die dringenden Veranlassungen, welche
der Verbrecher zur Begehung seiner That hatte; oder
seine Erziehung; oder seine anderweitige Unwissenheit; oder sonst ein starker Entschuldigungsgrund ihm auf
der
35o
Von den Todesstrafen.
der andern Seite das Wort! Wie viel Licht hat man nun für eine sichere Beurtheilung des Factums gewan nen? Wie viel bin ich gebessert; wenn ich in einem
Labyrinthe, oder finstern Walde, wo ich selbst nicht
Bescheid weiß; statt eines blinden Wegweisers, zeh.
ne derselben annehme, die alle auch blind find? und von denen mich Jeder einen besondern Weg; folglich der Eine zu derselben Zeit rechts führen will, wo mich der Andere nach der linken Seite hinzerrct? der Eins
mich vorwärts, der Andere rückwärts haben will? Und
wenn man denn vollends noch dazu nimmt, daß ein je der Mensch, mit allem, was zu ihm gehört; mit fei
ner Erziehung, seiner jedesmaligen innern und äußern
Lage, seinen Umständen, Neigungen, Gedanken, Vor stellungen, Urtheilen, Absichten, und mit allen seinen
Handlungen, sie mögen Tugenden oder Verbrechen seyn, nach ihren größten und allerklcinsten Theilen; unter
dem Gesetze einer absoluten Nothwendigkeit stehr? daß das, was man freyer Wille des Men
schen nennt, nichts weiter, als eine Chimäre ist? Gott! was soll man denn zu den gewöhnlichen Maaß stäben sagen, nach welchen in menschlichen Gerichten die Größe eines Verbrechens beurtheilt wird; um es nach Verdienst und Würdigkeit, und einer angeblichen Gerechtigkeit gemäß,
zu bestrafen?
Warum irret
man doch mit seinen blinden Wegweisern in der Wü.
sten
Vor: den Todesstrafen,
35i
sten herum: wenn uns die hellsehende, und in ihren Anweisungen unfehlbare, und einzig zuverlaßigc Vta#
tut- selbst zur Seiten steht; und uns selbst den Weg leiten will, den wir wandeln müssen, um zu dem ge suchten Ziele der Gerechtigkeit zu gelangen? „Beküm-
„ mert euch doch nicht um so viele Untersuchungen, und „zerarbeitct euch nicht unnüherweise in denselben, ruft „ sie den Gesezgebern und Richtern zu; wenn ihr die „ Verbrechen der Menschen und ihre verdienten Stra-
„feti bestimmen wollt! Seht auf mich, wie ich es „ mache! Ich strafe den Thoren durch die natürlichen
„Folgen seiner Thorheit. „Leitet
die
Folget meinem Beyspiele!
natürlichen schädlichen Folgen,
„welche aus der Uedelthat des Einen, auf „das Glück des Andern fallen wollen; so weit
„es der ITlarur der Sache nach möglich ist,
„lind so weit sie Jener nur tragen kann, oh„ne das er darüber aufhören müßte,
„euer V7ebcnbürgcr zu seyn; „zurück!
ferner
auf ihn selbst
Weiter kann keine Strafgerechtigkeic
„gehen. Und von dieser ist doch hier allein nur die Re« „ de.
Dabey kann es euch aber auch gleichgültig fern,
„ob der Verbrecher mir Absicht, oder ohne Absicht?
„ zu großem oder kleinem Schaden Anderer gchan„delr habe? ob euch schon dis in Ansehung seiner wei-
„ ter zu besorgenden Besserung, einen Unterricht an
352
Von den Todesstrafen.
„bie Hand geben kann; welche besten anderweitigen „ Mittel ihr zu dieser Absicht für ihn zu wählen habt.» — Gesezt also, ich seye aus Ermüdung vor meinem bren«enden Lichte eingeschlafen. Es entsteht daraus eine Feuersbrunst, die nicht nur mein Haus, sondern auch die Häuser meiner nächsten Nachbaren verzehrt. Al lein ich habe auswärts noch einige sichere Capitalia ste hen, durch die entweder ganz, oder zum Theil meine Nachbarn enschädiget werden könnten. Was sagen hier Natur, Vernunft und Gerechtigkeit? Sie sa gen: diese Capitalia gehören nun deinen Nachbarn zu ihrer Entschädigung: und wenn diese damit noch nicht vollendet werden kann; so muß von deinem künftigen Verdienste so viel dazu hergegeben werden, als dein nothdürstiges Bestehen und deine dringendsten Bedürf nisse nur verstatten mögen. •— Aber ich habe diesen Brand doch nicht aus boshafter Absicht veranstaltet? Er war ia nur die Folge menschlicher Schwachheit? Antwort: Das thut nichts; willst du es nicht eine Strafe deiner Unachtsamkeit nennen: so nenne es ein Unglück. Auf den Nahmen kommt es nicht an, den man dem Kinde gibt. Genug es war die natürliche Folge deiner Schwachheit, oder deines Verbrechens, eben so gut; als dir deine Capitalia verbrandt seyn wür den, wenn sie zu der Zeit mit in deinem Hause gelegen hätten. Wollen.dir deine Nachbarn etwas, oder al les
Von den Todesstrafen. tes erlassen; so ist dis Güte von ihnen.
353 Die Gerech-
tigkeit macht es ihnen aber so lange nicht zur Pflicht,
als du dein eigener Sündentrager seyn kannst.
Gcsezt
aber, ich hatte nichts von anderweitigem Vermögen meinen durch mich verunglückten Nachbarn Entschädi
gung machen zu können? Nun wolan, wo nichts ist;
da hak der Kayser sein Recht verlohren.
So fallen
mir also blos nur die anderweitigen natürlichen Folgen
meiner daraus entstandenen eigenen Armuth, und des Unwillensund Verdrusses meiner Nachbaren, zur Last;
wowider es vielleicht der Staat noch obenein zur Pflicht hat, mich in Schuz zu nehmen.
Allein welches sind nun im übrigen die besten Besterungs - Mittel, tvoöutxb der lief delrhäter zu einem künftigen bessern Menschen
für sich, und zu einem bessern Bürger für die Gesellschaft gemacht werden mag? a) Ist der Vorfall von der 2(rt, und der Thäter von solchen bekantiten Gesinnungen, daß es wahrschein
lich ist; die natürlichen schädlichen Folgen, welche der Leztere empsindet, werden neben dem allgemeinen guten
Unterricht, der in der Gesellschaft eingeführt ist; ihn
von selbst bessern: warum wollten es der Gest;, gebet und Richter nicht dabey bewenden las sen t Zumal da weder eine öffentliche, noch eine Pri
vat-Rachlust ein Opfer für sich verlangen dürfen.
b) Hat aber der Staat Ursach, an der baldigen Besserung des Uebelthaters auf jenem allgemeinen We« ge, zu zweifeln;: und dagegen noch mehrere Unordnung
Mtttealepre iv. Th.
Z
gen
Von dm Todesstrafen.
354
gen von ihm zu befürchten:
Verhaft.
so nehme er ihn in
Allein ich muß hierbey sagen, daß es mir
durchaus ungerecht zu seyn scheint: wenn das (ße*-
fänIniß von Seiten des Graars, Bürger,
über einen
als Strafe, verhängt wird.
Der
Bürger selbst mag sichs Strafe nennen: um dessen Be griffe und Meynungen hierüber bekümmern wir uns iezt
Aber der Staat sollte das Gefäng
hier nicht.
niß nie als Strafe verhengen; es nie als Zweck,
sondern nur stets als ein Mittel, um die Besserung des Uebelthäters desto besser bewürken zu können, an
wenden. —
Die Verhaftnehmung muß, wenn sie
nicht in einzelnen Fällen blos die Absicht hat, den sonst
guten Menschen, der sich einmal gröblich versehen hat, wider die ersten Anfälle der Rachbegierde derer, die
Lurch ihn gelitten haben, zu sichern; ich sage, sie muß bey allen übrigen Verbrechern zu dem Zweck geschehen:
um sie durch nähern Unterricht, der ihnen im Gcfänguisse in den gesellschaftlichen Pflichten
errherler würde,
wohnen
müssen,
und dem sie durchaus beyzu
bessern Erkenntnissen
und Gesinnungen zu bringen.
Zu dieser Ab«
sicht sollte man dafür sorgen: Erstlich: daß bey den Gefangenen die be
sten und geschicktesten Sittenlehrer angestels
ter würden.
Denn hier ist gerade eine Gesellschaft
von Menschen, die sich durch ihr Verhalten selbst als eines bessern Unterrichts höchst bedürftig, ausgezeichnet
und
Von den Todesstrafen. und angegeben haben.
355
Man könnte lieber, wenn ia
eins von beyden seyn sollte; die neun imb neunzig Ge
rechten , die draußen sind, und der Buße nicht bedür fen, gehen lassen; und sollte sich am vorzüglichsten und
eigentlichsten derer annehmen, die sich als Unwissende und Sünder öffentlich dargestellet haben. den bedürfen des Arztes weniger,
Die Gesun
als die Kranken.
Aber welche erschreckliche Versaumniß herrscht nicht von
dieser Seite? Wie blind sind die Staaten in dieser wich tigsten Angelegenheit der Menschheit und ihrer Natio nen?
Sind nicht die in Gefängnissen befind
lichen Menschen gemeiniglich die,
in Anse-
hung aller benörhigten Hülfe und Mittel zu ihrer Besserung, Allerverlassensten? Und wäre
es gleichwol nicht die größte Schuldigkeit
eines Staats,
zu welcher ihn sein eigener größter Vortheil antrciben
sollte:
für den besten Unterricht, der den ge
fangenen Verbrechern gegeben würde, angelegentlichste Sorge zu tragen,
die
damit er
diese iezt unthätigen und untauglichen Bürger, bald gebessert wieder erhielte? Was hilft es ihm,
eine
Menge von Missethätern mit seiner größten Beschwer
de, und zur eigenen ungerechten Quaal der armen Leute selbst, sich eingesperrcr zu halten; die er, wenn er woll te, sich alle in gute Bürger umschaffen könnte ? Ist
das nicht eine schreckliche Verwahrlosung, und eines der verwüstendsten Hanprübel in der Gesellschaft! dem doch so leicht abgehsl-
sen werden konnte;
wenn man nur gesundeZ -
re
356
Von den Todesstrafen,
re Begriffe über die Natur und Beschaffen,
heit des Menschen annehmen wollte? Zweitens: Die Gefangenen sollten gut ge
halten werden.
Sie sind keine verabscheuungs,
würdige: sind sind unglückliche,
unwijfcnde,
kranke Bürger, die des Micleidcns, der