Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religionen: Teil 4 [Reprint 2022 ed.] 9783112627761


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Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religionen: Teil 4 [Reprint 2022 ed.]
 9783112627761

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Versuch einer Anleitung zur

S i t t e ii l e h r e für

alle

Menschen,

ohne Unterschied der Religionen, nebst einem Anhänge

von den Todesstrafen. Vierter Theil.

Berlin, 1790. bey Christian Gottfried Schöne.

Vorrede zum vierten Theile.

denke, daß es meinen Lesern nicht mißfällig seyn werde, wenn ich auch in der

Vorrede zu diesem vierten und lezten Theile meiner Sittenlehre fortfahre; ihnen einige Betrachtungen, unter dem Titel von Anmerkungen, zur genauern Prüfung und eigenen gefälligen Beurtheilung vorzulegen. Ich will

nur bitten, alle Brillen der Vorurtheile, wenn es möglich ist, bey Seite zu werfen: und mit einer unbefangenen Vernunft über dasiem'ge. was ich sagen werde, zu richten. Verdammt mich alsdenn diese; gut! so habe ich verlohrne Sache; für die keine weitere Appellation an einen höher» Richterstuhl statt findet. Winkt sie mir aber auch ihren Beyfall zu; so werden

A 2

meine

Vorred e.

4

meine Ohren gegen allen Widerspruch/ den die

Phantasie mit dem ganzen Heere ihrer Vorurtheile mir machen möchte, taub stylt.

Erste Anmerkung.

Es

ist sonderbar,

daß sich die Menschen darin nicht finden können,

-aß sie auf dem Wege des Wachsthums in der Vollkommenheit begriffen sind; ohnerachtet sie doch die kleinste Aufmerksamkeit

auf sich, und Andere, davon belehren könnte. Wir wollen die Sache erstlich überhaupt; und

zum andern

von der besondern Seite ansehen,

wo diese Unachtsamkeit,

in den Beurtheilun­

gen und Behandlungsarten der Mettschen un­

tereinander, die schrecklichsten Fehler verursacht

und nach sich zieht.

Erstlich überhaupt:

Wie leicht ist es,

sich von den Fortschritten zu überzeugen, die ein Mensch unaufhaltsam auf dem Wege seiner Vollkommenheit macht? man sehe ein Kind

an, wie es sich zu einem Jünglinge: und aus

diesem, zu der Vollkommenheit eines Mannes entwickelt;

und endlich zu einem Alter voll Er­

fahrungen reift? Wer waren wir in der Wiege?

wer

Vorrede.

§

wer im Gängelbande? Wer im zehnten, zwan­

zigsten, dreyßigsten Jahre? u. s. w.

Und was

man auch von den Schwachheiten des ho­

hen Alters sagen will, die den Menschen wie­ der zu dem Unvermögen der Kindheit zurückzu­ führen scheinen;

so ist es gewiß,

daß diese

Erscheinung nur nicht mit dem rechten Auge

angesehen wird.

Das menschliche Leben ftmit

offenbar von einer doppelten Seite beurtheilt

werden.

Erstlich, an und für sich allein; zum

andern, als ein Theil des ganzen unendlichen Daseyns desienigen Wesens, daß iezt Mensch ist.

Dieienigen, die einen Rückgang in der

Vollkommenheit an einem alten Menschen be­ merken wollen:

sehen blos allein auf sein

menschliches Leben; beurtheilen dasselbe als ent für sich bestehendes Ganzes ; und verges­

sen, das ganze ununterbrochene Daseyn des Subiccts unter ihren Gesichtspunct zu nehmen,

wovon sein menschliches Leben nur

ein Theil ist.

Sie finden in den frühern Jah­

ren des Menschen die unleugbaren Spuren der Fortschritte, die er in seiner Ausbildung macht. Wenn aber dis bis zu einer gewissen Stusse

A 3

des

6

Vorrede.

des Atters fortgegangen ist; so verliehren sich

diese Spuren des Wachsthums wieder allmählig

in

eine

zunehmende

Schwachheiten,

Dunkelheit

von

die den Menschen endlich in

die vollen undurchdringlichen Finsternisse des

Todes überführen.

Diese Erscheinung, sage

ich, würde ihnen aufhdren räthselhaft zu seyn; wenn sie daran dächren, Leben nicht

daß das menschliche

das ganze Daseyn des Menschen

in sich faßte! sondern nichts weiter als nur ein

gewisser Theil und Abschnitt seines unend­ lichen Daseyns wäre: und daß alle die ver­ schiedenen Zustande und Ordnungen, durch welche der Mensch sowol

wurde,

gewandert ist;

der Zukunft,

vorher,

ehe er Mensch

als auch,

die er in

wenn er aufgehört hat, Mensch

zu seyn, ins unendliche zu durchwandern hä­

kelt wird;

aufs genaueste Zusammenhängen:

dergestalt, daß in dem Uebergange aus der ei­

nen Ordnung zu der andern,

auch nicht der

Man kann für einen jeden Menschen ohne Aus­ nahme, er sterbe früh, oder spat, einen gewissen Punct seines menschlichen Lebens annehkleinste Sprung statt finden könne.

Vorrede.

7

annehmen; in welchem er für feine indi­

viduelle Person und Menschheit, den höch­ sten Grad seiner menschlichen Dollkommenheit, deren er fähig war, und die ihm

nach dem ganzen Zusammenhänge aller

Dinge nur bestimmt seyn konnte; erreicht

hat! . Von diesem Punct an muß seine allmählige Hinneigung, seine stuffenmaßige Annäherung zu dem folgenden höherm Orden, in welchen er, nach seiner Menschheit, ausgenommen werden soll; angehen. Bey sehr vielen Men­ sche»! ist uns diese Abnahme ihrer menschlichen Kräfte, diese ihre Annäherung zu einem hohem

Zustande, merklich. Diejenigen, welche der beste»! Gesundheit genießen, und ein sehr ho­ hes Alter erreichen; stehe»» gemeiniglich gegen das fünfzigste Jahr auf den höchster» Gipfel der Vollkommenheit ihrer menschlichen Natur! und wen»» sic diesen erstiegen habe»»: so gehen sie den Berg auf der andern Seite wieder herab; um in dem Thale des Todes die Me­ tamorphose zr» leide»», in der ihre menschliche Natur, die nicht weiter zu gehen vermochte; von einer hohem abgelöset wird, die erfor-

A 4

derlich

Vorrede.

Lerlich ist, um einen folgenden noch höhem Berg, als der zurückgelegte menschliche war, ersteigen zu können.

Dieienigen,

welche frü­

her, und durch irgend eine Krankheit in iünA^rn Jahren aufgerieben wurden, hatten eben­ falls für ihre individuelle Personen und Mensch­ heit einen gewissen, ihnen bestimmt gewesenen

höchsten Gipfel ihrer menschlichen Vollkom­ menheit erreicht.

Sobald aber der Saame

Ser Krankheitbey ihnen zu keimen anfing; so

traf mit ihm zugleich auch der Befehl an ihre Menschliche Natur bey ihnen ein:

allgemach

einzupacken, und sich zum Abzüge anzuschicken.

Hieraus ergibt sich,

wie ich denke,

deutlich

genug, daß. alst» schlechterdings kein Rückgang

in der Vollkommenheit des Wesens, das wir Mensch nennen, überhaupt statt finde; sobald

man nur die ganze Würde dess'lben nicht auf fein menschliches Daseyn einschrankt:

son­

dern seinen Blick auf die ganze Dauer dessel­ ben,

auf sein ununterbrochenes Daseyn ver­

breitet, und seine unaufhaltsam fortwachsende Vollkommenheit durch alle auf einander fol­

genden Zustände stiller veränderten Naturen

in

Vorrede. in der Verbindung überschaut.

9 Wenn ich ei­

nen Berg hinaufsteige; so sehen es alle Zu­ schauer/ daß ich immer höher und höher zu

stehen komme!

Wenn ich aber,

nachdem ich

den Gipse! erreicht hatte; auf der andern Sei­ te den Berg wieder herunter steige: so deucht ihnen , daß mein Heraufsteigen vergebliche Ar­

beit war; weil sie nur den ein zigen Berg ins Auge habe»,

und die unendliche, fortlaufen­

de Kette von folgenden noch höhern Bergen,

die ich noch zu ersteigen habe, Allein,

nicht sehen.

wenn mein Herabsteigen bis zum Fuß

des folgenden höhern Berges nöthig war, um

hier meine alte Kleidung ab-und einen neuen

Reise-Habit anzulegen,

der sich für den fer­

nern Weg, den ich zu machen habe, und für

die veränderte Luft, die ich auf dem folgenden

höhern Gipfel finden werde, sthickt; um mich hier mit den bessern Ferngläsern zu versehen, durch die ich von dem folgenden höhern Stand­

puncte den erweiterten Schauplatz übersehen,

und die grdßern Reichthümer von Scbönheiten, die er mir vorlegen wird,

wabrnehmen

könne: war denn mein Herabsteigen jenes BerA 5

ges

io

Vorrede.

ges, ein Rückgang, den ich machte? So müßte ich auf derselbigen Seite desselben, auf welcher ich hinaufgeklettert war; auch wieder hinuntergegangen feyn!

müßte Mich,

im ei­

gentlichsten Verstände, meiner ehemaligen Wie­ ge der Kindheit, und dem Leibe der Mutter, die mich als Mensch gebahr, wieder genähert

haben! — Mensch,

Eine Erfahrung, die noch kein

so lange die Welt steht, weder selbst

gemacht,

noch an Andern

hat! —

Mithin ist die Abnahme an mensch­

wahrgenommen

lichen Kräften bey den Alten; und bey denen, die eine Krankheit in iüngern Iahrm aufreibt; kein Rückgang:

sondern ein wahres Fort­

schreiten auf dem Wege ihrer Vollkom­ menheit überhaupt. Wir wollen bey dieser Gelegenheit noch et­

was von denen Menschen sagen, die ein plöz-

licher Tod gerade in der besten Blüthe Orer Jahre und in dem lebhaftesten Gefühl

ihrer menschlichen Kräfte dahin reißt.

Die

Erfahrung lehrt es; daß ein Schlagssuß, oder

ein Blizstrahl des Himmels, oder ein anderes

Ver-

Vorrede.

n

Verhangniß zuweilen einen iungen gesunden. Menschen, der vieleicht gerade in dieser Stunde auf den besondern Gipfel der höchsten Vollkom­

menheit seiner individuellen Natur stand ; pldzlich ergreift, und ihn in das Thal des Todes hinabschleudert: ohne daß seine Natur einen

bedachtsamen Schritt zum bequemen Herabstei­ gen machen konnte, ver unsern Sinnen merk­

lich geworden wäre.

Es ist wahr; bey diesen

Beyspielen kann der Gedanke einer Abnahme

in menschlicher Vollkommenheit um so weniger statt finden; weil diese Menschen unmittelbar

von dem Gipfel ihrer menschlichen Voll-

tommenheit abfuhren,

und gleichsam von

demselben verschwunden;

ohne daß Krank­

heiten, oder Schwachheiten des Alters sie all­

mählich herabgeleitet hatten! und weil ein Je­ der derselben doch immer auch jenseits des Ber­

ges in das ihm noch fremde Thal des Todes hin; kein Einziger aber difseit desselben, in den

ehemaligen

Gängelband

seiner

mensthlichen

Kindheit, oder in den Leib der Mutter zurück­

fuhr, die ihn empfangen und gebohren hatte! Allein es scheint doch, als wenn hier, die Natur

von.

Vorrede.

L2

von ihrer alten, und sonst so fest begründeten Regel abwiche; nach der sie in keiner Sache

einen Sprung zulaßt, oder es zugeben kann: daß zwey Haupweranderungen,

zwey ganz

verschiedene Zustande, ohne gehörige Verknü­

pfung, die aus kleinern und sich einander vor­ bereitenden Mittelveranderungen besteht, auf

einander unmittelbar folgen dürften? antworte hierauf:

Ich

i) daß wir bey allen Ver-

mlderungen, die sich in der Natur zutragen, und die von unsern Sinnen entpfunden wer-

dm, doch immer nur das Allgemeine dersel­ ben, oder das Ganze überhaupt; niemals

aber das Besondere,

oder alle einzelnen

Theile, aus Ivekhen die Veränderung besteht,

bemerken können.

Die Regel ist ganz gewiß

wahr: daß sich in der ganzen Ratur keine

Hauptveränderung, ohne erstaunlich viele Mittelursachen,

an eine vorhergehende

anschließe.

Aber diese Mittelursachen sind

oft so fein,

daß sie von unsern Sinnen gar

nicht bemerkt und unterschieden werden können.

Und sobald dis ist; so bemerken und unterschei­

den

wir

wol

die Hauptveränderungen

selbst,

Vorrede.

13

selbst, die aufeinander folgen, und deren eine die andere abldset: weil uns aber die Art des

Ablösens und des Aufeinanderfolgens der­ selben,

oder die natürliche Verbindung und

der wahre Zusammenhang dieser Veränderungeu unbemerkbar bleibt;

so schließen wir oft

übereilt genug, daß die Natur sich selbst ungetreu,

und ihren eigenen AnWertretbaren Ge­

setzen abtrünnig geworden sey.

Wir beschul-

digen sie eines Widerspruchs, in den sie mit sich

selbst gerathen; und eines Sprunges, den sie

in ihren Würkungen gemacht haben soll: an­

statt daß wir den Fehler an uns selbst suchen,

und uns der Schranken unseres Bemer.kungs - und Beobachtungs - Vermögens bescheiden sollten.

2) Findet man auch hier

die. allgemeine Wahrheit bestätiget, daß sich

nicht zwey Dinge und Veränderungen in der ganzen Natur gleich find. Einige Men­ schen erreichen ein hohes Alter!

und es war

deutlich air ihnen zu bemerken, daß sie die eine Hälfte chrer Jahre mit dem Ersteigen ihres

Berges; und die andere mit dem Herabgang von demselben, zubrachten.

Sie machten ihre Schritte

14

Vorrede.

Schritte von dem Gipfel ihrer menschlichen Vollkommenheit bis ins Thal des Todes, so langsam und bedächtig; daß man fast Leglichen derselben zählen konnte. Andere, die etwa ei­ ne tddtende Krankheit in der Blüthe ihrer Jah­ re ergreift; eilen mit schnellen Schritten von ihrer Höhe herab. Noch andere scheinen uns gleichsam von derftlben zu verschwinden. Al­ les dis aber lehret nichts mehreres, als daß, so wie in allen Dingen, eine unendliche Mannig­ faltigkeit herrscht; es also auch unendlich viele Grade des schnellern, oder langsamern Neberganges von dem Zustande der Menschheit zu demienigen Zustande gebe, der auf kenen folgt. Indessen ist doch immer ein Uebergang da! eine große Veränderung, die aus vielen kleinen Theilen und Veränderungen besteht! von de­ nen die frühern und vorhergehenden, die Ursa­ chen; und die später eintretenden, die natür­ lichen Folgen derselben waren. 3) So wie diese Verschiedenheiten überhaupt ihre frühern

Ursachen in dem ganzen Zusammenhänge aller Dinge, lind insonderheit in dem ganzen vor­ gängigem Daseyn des Menschen, und in den Unter-

Vorrede. Unterscheidungs-Stücken, wodurch er von andern Menschen unterschieden ist, haben: so ha­ ben sie auch ganz gewiß ihre unausbleibli­

chen natürlichen Folgen in dem besondern,

unterfthredenem Entwickelungs - Gange,

den ein Mensch gegen den andern vergli­

chen, in seinem Tode ntmt.

Wir haben

schon in dem ersten Theile unserer Sittenlehre,

und, zwar in der Abhandlung von der Fortdauer des Menschen nach dem Tode, behauptet: daß

die Schönheit und das Gesez der Mannigfal­

tigkeit in der Welt es erfordere, daß nicht alle

Glieder und Bürger ein und eben derselben

Gattung von Geschöpfen, auf eine und eben

dieselbe Weise, auf demselbigen Wege in ihrem Tode sich entwickeln und vervollkommen könnten: sondern daß es gewiß für eine iede einzelne Gattung von Ge­

schöpfen unzehlige Arten und Wege der Entwickelung gebe; die ihre einzelnen Mit­

glieder wandern und auf welchen sie sich theilen müßten. leicht.

Und der Erweiß davon ist

Die Subjecte, die da sterben,

sind,

wenn sie schon zu einer Gattung gehören, doch alle

16

Vorrede,

alle in ihren besondern Kräften und in den ein­

zelnen Stimmungen ihrer Naturen von einan­

der verschieden.

Die Art ihres Todes ist in

tausendfachem Betracht verschieden. und das Alter,

Die Zeit

in welchem sie starben!

der

Grad von Vollkommenheit, den ein Jedes er­ reicht hatte!

welche erstaunliche und unendliche

Verschiedenheit sinder sich da unter ihnen? Man vergleiche ein Kind von acht Tagen, das

in der Wiege erblaßt; mit einem Manne von großen Fähigkeiten, der im fünfzigsten Jahre

mit großem erworbenen Reichchume der edel­

sten Wissenschaften, der nüzlichsten Fettigkei­ ten, der lehrreichsten Erfahrungen, den Schauplaz verläßt! u. s. w.

Was folgt hieraus?

Eine rede besondere Ursach muß auch

schlechterdings ihre besondere Folgen ha­

ben; und diese können wieder zur Hervorbrin­ gung anderweitige,

ihnen gemäßer Folgen

nicht unkraftiger seyn; als iene ihre eigene Ur­

sach zu ihrer Hervorbringung war: weil kei­ ne einzige Ursach, die einmal da war; auch in

dem spätesten Laufe ihrer Folgen nie aussterbm kann.

Mithin muß ein jedes Wesen,

ein

Vorrede.

17

ein ieder Bürger einer zeitigen Gesellschaft auch in seinem Tode seinen eigenen und

besondern

Entwickelungs-Weg gehen;

der ihm denn wieder ein neuer.Grund zu den

besondern Eigenschaften und Bestimmungen

wird, die ihn, ienseit des Grabes, von allen übrigen Bürgern seiner Gesellschaft, zu der er

gehört, unterscheiden.

Zweytens insonderheit.

Wir müssen

nun auch die Erscheinung: daß die Menschen

nicht darauf Acht haben, daß sie auf dem

Wege des Wachsthums in der Vollkom­ menheit begriffen sind; von derienigen Seite ansehen/ wo diese Unachtsamkeit und Blind­

heit die schrecklichsten Fehler in den Beur­

theilungen und Behandlungs-Arten, die

sie sich überund gegen einander erlauben,

nach sich zieht.

Wir wollen iezt auf das

menschliche Leben allein und an und für sich

selbst sehen. Wenn der ganze Weg des mensch­ lichen Lebens, den der Mensch wandert,

ein

Weg zu immer höherer Vollkommenheit über­ haupt ist; so. muß ihn ia natürlicher Weise , Sittenlehrt. IV. Th.

B

auch

iS

Vorrede.

auch ein ieder einzelner Schritt, den er auf dem­

selben zurückkegt, darin immer weiter führen! Ist dis aber;

so muß er beständig aus einer

unvollkomnern Verfassung, in eine vollkom-

nere übergehen.

Er muß also immer einen

unvollkommen Zustand verlassen, wenn er in

einen vollkomnern treten soll!

Folglich sind

die unvollkommen Zustände,

aus denen

er ausgeht, eben so nothwendig; als die

vollkomnern, in die er übergeht.

Diese

könnten so wenig folgen, wenn iene nicht vor­ angegangen waren; als der höhere Schritt nicht folgen kann, wenn der niedrigere nicht vorher da gewesen wäre. Laßt uns dis auf die Hand­

lungen der Menschen anwenden. Der Mensch

hat eine vernünftige Natur; und diese macht

die eigentliche Würde seiner Menschheit aus. Vermöge derselben ist er deutlicher Vorstel­

lungen fähig: und die Entschließungen und Handlungen, zu welchen seine Selbstliebe durch

deutliche Vorstellungen seines Verstandes

angetrieben wird;

nennen wir vernünftig

freye Entschließungen und Handlungen. Der Mensch ist ccher nicht pure Vernunft.- son­

dern

Vorrede.

19

dem er ist auch undeutlicher Vorstellungen;

und diesen zufolge, sinnlich freyer Hand­

lungen fähig.

Ja es leben auch zu ieder Zett,

in unendlich grosser Menge,

blos dunkele

Empfindungen in ihm; deren Würkungen wir in der Einleitung,

oder dem ersten Theile

dieses Werks, mit dem Nahmen,

Handlungen bezeichnet haben. daselbst zugleich erwiesen,

unfreye

Wir haben

daß keine einzige

Handlung

des Menschen ganz vernünftig

frey sey:

sondern daß an der vernünftig

freyesten Handlung eines Menschen zu­

gleich unzehlig mehrere undeutliche Vor­

stellungen; und noch mehrere dunkele Em­ pfindungen Antheil hatten: daß folglich die vernünftig freyeste Handlung,

zu­

gleich aus mehrern sinnlich freyen, und aus noch mehrern unfreyen Handlungen bestünde; und daß sie ienen Nahmen nur dar­

um trüge, weil doch einige deutliche Vorstel­ lungen zu ihrem Erweekungs-und Cntstehungsgrunde gehört hatten.

Ferner; daß es unzeh­

lig mehrere Handlungen des Mensthm ge­ be, die blos sinnlich freye und unfreye zu-

B 2

gleich

Vorrede.

20

gleich wären.

Und endlich: daß die aller­

meisten menschlichen Handlungen blos un-

freye seyen, oder aus blos dunklen Empfin­ dungen entsprangen. Alle menschliche Hand­

lungen überhaupt sind also die Würkungen und Resultate ihrer jedesmaligen Em­ pfindungen und Vorstellungen» —

Nun

stehen die Sinne des Menschen, der auf dem Wege seiner immer mehrern Ausbildung und Vervollkommung begriffen ist,

niemals ver­

schlossen und müßig; sondert: samlen stets neue

Eindrücke ein, die das Maas der Empfindun­ gen und Vorstellungen bey ihm vermehren: und es thut hier nichts, wenn auch viele Em­

pfindungen und Vorstellungen, die er schon gehabt hatte, wieder bey ihm einschlafen unt>

durch andere neu hinzukommende verdrängt werden! Das hindert den Wachsthum in der Vollkommenheit so wenig, daß'derselbe es viel­ mehr erfordert und ganz natürlich mit sich

bringt.

Der Mensch würde ein Magazin wer­

den, das mit lauter Widersprüchen angehäuft wäre; wenn ihm seine ehemaligen unreifen Be­

griffe, die er von vielen Dingen hatte, und die

ihm

Vorrede.

21

ihm damals seine vollständigste Wahrheiten enthielten, deren er fähig war; in der Folge immer noch als diejenigen vollständigen Wahr­ heiten in seinem Verstände neben den reichern Begriffen und den größer» Wahrheiten stehen bl- iben sollten, die er sich von denselbigen Sa­ chen in der Folge eingesamlet hat! Wenn die Sonne schon ausgegangen ist, und in ihrem Glanze da steht; so bedarf es ferner der Nacht­ lampe nicht mehr, um dabey zu sehen. Eben so wenig machen die Vorstellungen und Hand­ lungen eines Menschen, der seinen Verstand verlohren hat; hier einen gültigen Einwurf. Denn, wenn man schon sagen will, daß ein solcher Mensch in Ansehung Lener Stücke, ge­ gen seinen vorigen gesunden Zustand, zurückge­ kommen zu seyn schiene; so wird- doch keiner leugnen können, daß das Subiect überhaupt und im Ganzen genommen, aufdem We­ ge seiner fortgehenden Auswickelung ge­

blieben: und daß, weil es doch nicht in die Wiege seiner ehemaligen Kindheit zurückgesun­ ken sey; seine Bahn, die es schreitet, schlech­ terdings Vorwerks gehen müsse; wenn wir

B 3

schon

22

Vorrede,

schon diese Fortschritte in gewissen einzelnen Stücken, die uns. bey gesunden Menschen die

deutlichsten Merkmahle davon sind, bey ihm nach feiner gegenwärtigen Beschaffenheit nicht wahrnehmen können. Ueberdis setzen wir auch,

wenn wir voll dem Wege der Vervollkommung

reden wollen, auf welchem die Menschen mit ihren Erkenntnissen und Handlungen begriffen

sind, offenbar, gesunde Menschen; und keine

Verrückten voraus.

Ich sage also, ein Je­

der Lener Menschen ist, weil sich seine Empfin­

dungen und Vorstellungen

stets vermehren,

und seine Handlungen die jedesmaligen noth­

wendigen Resultate seiner Empfindungen und

Vorstellungen sind; ein Jeder derselben ist

also mit seinen Handlungen auf dem We­ ge der immer mehrer« Ausbildung und

Vervollkommung seiner, begriffen. Nun wollen wir der Sache näher treten.

Wenn es schon allgemein wahr ist, daß alle Menschen ohne Allsnahme auf dem Wege ih­

rer ununterbrochenen Vervollkommullg über­ haupt begriffen sind r so ist es doch unmöglich,

daß

Vorreb e. daß auch nur zwey Menschen auf ein und

eben demselben Wege sich entwickel» oder vervollkommen können; auch unmöglich, daß zwey Menschen ein und eben derselben Art

und desselbigen Grades der Vollkommen­

Verschiedene Ur­ sachen müssen auch verschiedene Folgen ha­ heit fähig seyn könnten.

ben.

Nun bedenke man den erstaunlichen Nm

terschied, der sichin der Besihaffenheit lind den Verhältnissen der festen und stößigen Theile, aus welchen die Menschen bestehen,

befindet;

und der es hindert, daß auch nicht zwey Meir­ ichen sich vollkommen gleich sind-! Men erwegr

die daraus erwachsende anderweitige Verschie­

denheit, die sie in ihren natürlichen Stimmun­ gen rmd Characteren, in ihrem Empfindlingsund Vorstellungs - Vermögen, in chren Nei­

gungen, Trieben, Und Wünsthen, in ihren

handelnden Kräften,

machen nmß!

sich durchaus ungleich

Man rechne die verschiedenen

äusserlichen Verhältnisse uuD Lagen, «t denei? sie sich befinden, mrd die zu ihrer fortdauern­ den Erziehung Ulrd Ausbildung geboren, hin­

zu! u. f.

Was kamr denn einleuchtender B 4

und

24

Vorrede.

und handgreiflicher seyn, als, daß die Men­

schen durchaus alle auf verschiedene Art Handeln müssen? daß es platterdings unmög-

lich sey, daß auch 'nur zwey Menschen gefun­ den werden könnten, deren Handlungs-Reihen von ihrer Geburt bis an ihren Tod über­

einstimmig waren? Wenn denn aber doch der

Weg eines Jeden, der Weg ftiner Vervollkommung ist! was folgt alsdenn zugleich

richtiger und gewisser, als: daß ein Jeder auf dem besondern Wege, auf welchem er mit seinen Empfindungen, Erkenntnissen und Handlungen geht; und indem er die­

sen Weg wandelt; daß er, sage ich, auch

gerade damit zugleich die Schritte in sei­

ner ununterbrochenen Vervollkommung selbst, zurücklege?

Eine Lede Stusse, auf

welcher also ein Mensch in seinen Erkenntnisfen und Handlungen steht, ist, sie mag uns

so tief und so verabscheuungswürdig in unsern

Augen zu seyn scheinen, als sie wolle; ich sage, sie ist für ihn,

seine gegenwärtige höchste

Stusse, auf der er iezt nur stehen konnte! Sie ist ferner gegen die vorhergehende Stusse,

von

Vorrede.

25

von welcher er aus/ nach dieser hin trat; die

wahrhaftig höhere für ihn:

gesezt auch,

daß uns seine kurz vorhergehende Handlung/ die beste Tugend;

und seine darauffolgende,

das schwärzeste Verbrechen wäre!

und diese

gegenwärtige Stuffe, und wenn sie die ab­

scheulichste That war!

mußte auch wieder

vorhergehen; wenn er auf der Leiter seiner

Entwickelung zu einer höher» Stuffe seiner Vollkommenheit sollte gelangen können. — Wie sollte ich also alle Unvollkommenheiten

der Menschen überhaupt,

die man unter die

Nahmen Jrthümer, Fehler, Laster, Verbre­

chen U. s. w. begreift;

eigentlich ansehen?

Antw, als lauter niedrigere Stuffen der Voll­ kommenheit,

auf welchen die Menschen stehen

und sich zeigen; und die so nothwendig da seyn,

vorhergehen,

und von ihnen betreten werden

mußten, wenn sie zu höherer Vollkommenheit

gelangen sollten: als es nothwendig ist, daß der Mensch vorher ein Kind seyn muß, wenn er ein Jüngling und Mann wetden soll; daß er vorher iünger und schwächer seyn muß, wenn

er hinterher älter und stärker soll werden kön-

B 5

nen.

Vorrede.

26 nett.

Und wie sollte man bey den einzelnen

Menschen und ihren einzelnen Fehlern, Ver­ brechen u. s. w., die sie begehen, denken? Ohn-

sireitig so: Dieser Mensch hat eine Handlung begangen, die in meinen und der meisten Men­ schen Augen ein Verbrechen ist. gestohlen, oder gemordet.

Er hat z. E.

Ich habe eine solche

That nie begangen, und möchte sie auch nie begehen.

Allein er ist auch ein anderer

Mensch, als ich.

Bey ihm war sie das

nothwendige Resultat seiner besondern Stim-

mung der Natur, seiner besondern Neigungen, Empfindungen und Erkenntnisse, seiner Erzie­

hung und besondern Lage; kurz, sie gehörte zu dem besondern Entwickelungs-Wege,

auf welchem er sich seiner höhern Vollkom­ menheit, der er fähig ist; nur nähern kann, und nähern muß.

Und da der Mensth in

der Gesellschaft lebt und nur hauptsächlich durch

die Gesellschaft seine Ausbildung zu höherer Vollkommenheit gewinnen kann; da er in der Einöde, oder auf einer wüsten und von Men­

schen verlassenen Insel sich so wenig, als mög­

lich, über die vernunftlosen Thiere würde erhe­ ben

Vorrede.

tj

Bett können; da er ferner auch nur M der Ab­

sicht, um glücklicher und vollkomner zu

werden, in der Gesellschaft lebt: so ist diese schuldig , die besten Mittel, die dazu taugen, und die sie in Händen hat, anzuwenden; daß

dieser Mensch, der sich durch fern Verbrechen

ihr erklärt hat, wie weit er noch auf der Bahn seiner Vollkommenheit zurück sey; auf dersekhen gefördert und Vorwerts geholfen werde.

Dis sind, deucht mir, so richtige und wahre

Gedanken, daß ich in der Welt nicht begreife, was ihnen entgegen gesezt werden könne? Aber

wird wol nach diesen natürlichen Grundsätzen

würklich in der Gesellschaft, in den Beurthei­

lungen und Behandlungs-Arten der Menschen

verfahren? Gott, welche Verblendung und

Verkehrtheit findet-sich hier! Und wer ist Schuld daran ? Offenbar wieder die so genann­

ten Theologen!

Diese Menschen,

welche sich

nun schon einmal über die natürlichen,

metffch-

lichen Wahrheiten hinweg gesezt haben,. und

auf dasienige gar nicht sehen, was ihnen vor dm Füßen liegt; sondern mit lauter angeblich göttlichen, überirrdischen, und übernatürlichen

Wahr-

28

Vorrede

Wahrheiten Handlung treiben:

haben alte

übrigen Stände auch mit sich in die Irre fort­ gerissen; weil sie fast einen Jeden schon von Kindesbeinen an in ihre Lehrsätze einwickekn,

und ihm den Kopf so verrücken, daß er her­ nach Zeit Lebens eine schiefe Richtung behalten muß.

Wie viele sind derer weltlichen Stan­

des, die sich rühmen können, mit ihren eige-

NM AugM, und nicht vielmehr durch die

Brille zu sehen, die ihnen ihre geistlichen

Lehrer von Kindheit an aufgesezt ha­ ben? — Und wie beurtheilen die Theologen

den unvollkomnern Zustand,

in welchem sich

ein Mensch durch seine Neigungen und Hand­

lungen zeigt?

Anstatt ihn, als die niedrigere

Stusse, anzusehen, welche dieser Mensch auf der Leiter seiner Vollkommenheit, die er zu er­

steigen hat, nothwendig vorher betreten mußte, wenn er zu der darauf folgenden höher« gelan­

gen wollte und sollte; anstatt diesem Menschen einen vernünftigen und anwendbaren Rath und

gute Anleitung zu geben, wie er nun ohne An­ stand diese niedrigere Stusse verlassen, und sich auf eine bessere Und höhere erheben solle: An­

statt

Vorrede,

29

statt alles dieses, glossiren sie vielmehr mit un­

nütze Speculationen, unter dem Vorsitz der

Phantasie, über den Ursprung der menschlichen Unvollkommenheiten überhaupt; leiten sie aus

einem erträumten angebohrnen Verderben

der menschlichen Natur, aus einer allgemei­ nen Krankheit derselben her; die, nach Aussage der Meisten von ihnen, aus einem unvorsichti­

gen giftigen Apfelbiß der ersten menschlichen Stamm-Eltern entstanden seyn, und sich von diesen, auf alle ihre Kinder und Nachkommen

fortgeerbt haben soll; und von der, Andere, die ienen angeblichen Apfelbiß doch.fast zu unkraftig halten, als daß er eine so große Wür-

kung hätte nach sich ziehen können; selbst nicht wissen, woher sie sonst entstanden seyn möge?

Genug sie ist nach ihrer Aller Urtheil da;

dieft angebliche Unordnung, Krankheit

und Verdorbenheit der menschlichen Na­ tur! Und, da Gott nicht der Urheber davon seyn könne: so müsse, sagen sie, der Mensch

selbst, entweder für sich allein; oder de

concert mit einem Dinge, das sie Teufel

nennen; Schuld daran, seyn. Aus

ZD

Vorrede. Aus dieser von dem Menschen sich selbst

gestifteten Verdorbenheit und Krankheit seiner Natur leiten sie seine Strafwürdigkeit über sei­

ne unvollkomneren Zustände, und über seine

unvollkomneren Handlungen her. —

Und da

-er Mensch in beständigen Fortschritten auf

dem Wege seiner Vollkommenheit begriffen ist; folglich alle Augenblicke seines Lebens aus ei­

nem unvollkomnern Zustand, in einen vollkom-

nern übergeht und übergehen muß; fb lehren

sie: daß der Mensch nichts, als fündigen

könne; daß sein Tichten und Trachten bö­ se sey. von Jugend auf und immerdar; daß

er in beständigem Ungehorsam wider den Willen Gottes begriffen seye; und nichts

anders, als Fluch und Strafe von dem

Richter der Welt zu erwarten habe: wo­ fern dieser nicht aus einer ganz unverdien­

ten Barmherzigkeit,

die ihren Grund

außerhalb dem sündigen, verlohrnen Menschmgeschlecht habe; für Einige derselben,

Gnade für Recht dereinst ergehen lasse. Dieser Hoffnung theilhaftig zu werdm, em-

vfehlm. sie gewisse göttliche.Gnadenmittel; denen

31

Dorre d e.

denen sie eine geheimnißvolle,

übernatürliche,

wunderthätige Kraft nachrühmen, die Wür-

kungen der Krankheit der Natur zu dämpfen; wenn sie in der vorgeschriebenen GnadenOrdnung der Bekehrung und Wiederge-

burth gebraucht würden!

Aber selbst diese

Gnaden-Ordnung kann, nach ihrer weitern Lehre, kein Mensch durch eigene Kräfte an

sich bewilligen und bewerkstelligen:

iene

Gnadenmittel Niemand selbst an sich kräf­

tig und anschlagend machen! Nein, dazu hat die Krankheit der Natur bey einem ieden Menschen,

nach ihrer Versicherung,

schon

zu weit um sich gegriffen und ihn in zu viele Schwachheit versenkt, als daß er sich die mindeste Selbsthülfe dabey noch geben könnte: sondern es ist hier wieder freye Gnade des

zureichenden Grundes aller Dinge, wenn der Mensch bekehrt, wiedergebohren und durch

iene Gnadenmittel vor dem zukünftigen Zorn bewahret wird. —

Und so sizrakfo, bey die­

sen Anweisungen, der arme Mensch mit der

ihm aufgebürdeten Krankheit da; und weiß

nicht, was er machen soll? mit der chm aufgchitt.'

Z2

Vorrede,

gebundenen Krankheit; von der er sich nicht ein Wort zu sagen Miß, wie er dazu gekom­

men sey? und von der noch nie ein vernünfti­ ges Bewußtseyn in irgend einem Menschen, -er ie gelebt hat, oder noch lebt, hat reif wer­

den können: daß er sich dieselbe irgend wo­

durch selbst zugezogen habe! Ich sage, er sizt mit seiner Krankheit da, die ihm von Kin­ desbeinen an angedichtet,

angeredet, aufge­

bürdet und so fest in den Kopf gepraget ist; daß er als der vollkommenste Malade imaginair« an der Wahrheit ihres Daseyns bey sich gar nicht mehr zweifelt.

Dabey lernt er von Kin­

desbeinen an alles, was ihm von den Gua-

denmitteln, durch die einige Menschen geret­ tet; und von der Gnadm-Ordnung, in der

Einigen geholfen werde, vorgesagt wird; aus­ wendig.

Er beladet sein Gedächtniß mit einer

Menge von Formeln und geheimnißvollen Re­

densarten, von denen weder sein eigener, noch irgend ein Menschen-oder Engel-Verstandet­

was entziffern kann; und treibt sich in einem Wirbel von Andachts-Uebungen hemm,

in

denen er vergebens einen festen Ruhepunct für seine

Vorrede. seine Hoffnungen sucht,

33

weil ihnen keine ande­

re , als nur eine betäubende und den Schwin­

del vermehrende Kraft beywohnt.

Seine

Selbstliebe will, wie es ihr denn auch nicht zu

verdenken ist;

mit der gedroheten Hölle und

dem künftigen ewigen Tode nichts zu thun ha­

ben! Gleichwol,

da er seine Bekehrung und

Wiedergeburt nicht selbst bewürken, noch die angepriesenen Gnadenmittel bey sich anschla­

gend machen kann; so lebt er zwischen Furcht und Hoffnung der Dinge, die kommen wer­ den,

sein Leben voll Unruhe dahin! ist froh,

wenn er sich der Gedanken des Todes und der Zukunft entschlagen kann! und sucht sich, wenn

diese Gegenstände in seinen einsamen Stunden,

oder bey besondern Gelegenheiten (ohngeachtet er diese so sehr als möglich flieht) sichzuweilen

dennoch seiner zu sehr bemächtigen, und ihn mürbe ängstigen; sucht sich, so bald als mög­

lich, durch Zerstreuungen wieder frische Luft zu schaffen,

und oft durch solche wilde Aus­

schweifungen zu entschädigen, in die er nie ge­

fallen seyn würde, wenn er nicht durch iene Schreckenbilder in dieselben hineingeiagt worSittenlchrr IV, Th.

C

dM

34

Vorrede.

den wäre! Selbst der Gedanke an die Gott­ heit bleibt ihm schrecklich; weil bey allem Be­

kenntniß seines Mundes, woran er,

Papagey, gewöhnt ist;

wie ein

daß nicht Gott,

sondern er selbst Schuld an seiner unglück­ lichen Lage auf die Ewigkeit sey; er sich doch immer der natürlichen Frage,

die sein

Menschen-Verstand aufwirft, nicht erwehren kann: „Warum dieser Gott bey seiner All-

„ macht diese verzweifelte Lage für ihn zu-

„gelassen habe? Warum er, dem nichts un„ möglich seyn soll;

sie gleichwol nicht verhl'n-

„dert habe?" Und was für ein vertrauen soll er zu einem Gotte gewinnen, von dem ihm

alles,

was ihm hier unangenehmes begegnet;

als Strafen desselben vorgestellt werden? und von dem er auch nach dem Tode,, die

Verdamniß zu einem ewig unglückseligen

Zustande mehr zu fürchten: als das Gegentheil zu hossen hat? Glücklich sind dieienigcn, die ihr leichtes und zu Zerstreuungen

mehr

geneigtes Temperament noch hindert,

diese finstern und schrecklichen Vorstellungen

nahe an sich kommen 511 lassen! deren Aufmerk­

sam-

Vorrede.

35

samkeit mit hundert andern Dingen stets zu sehr

beschäftiget ist; als daß sie das viel zu Herzen

nehmen könnten, was ihnen von ihrer Fluchs­

und Todeswürdigkeit bey Gott; und von der Gefahr, den Himmel zu verfehlen,

und der Raub einer ewigen Verdamniß zu werden; von den Geistlichen angedrun­

gen werden will! — Aber man nehme dieienigen, die zum ernsthaften Nachdenken über

sich mehr aufgelegt sind! — In welche gren­ zenlose Verwirrung; in welche furchtbare, mar­ ternde und oft an die Verzweiflung grenzende Ungewißheit über ihre

künftigeu Schikfale,

werden diese armen Gemüther durch iene un­ vernünftigen Vorstellungen

oft herumgetrie­

ben?— Ich kann es von mir selbst bezeugen,

und denke noch immer mit Schrecken daran; daß, da ich in meiner Jugend durch iene fin­ stern Lehrsätze, die mir immer so beweglich und unaufhörlich angedrungen wurden; und durch

die Menge von Andachts- Uebungen, in denen

ich herumgeiagt ward; immer, wie auf der

Folter gespannt, gehalten wurde: daß,

bey

dem dadurch in mir lebhaft erregten Wunfch,

C 2

selig

z6

Vorrede.

selig zu werden; und bey der dennoch ver­ geblichen Marter/ die ich mir nach den dar­

über ertheilten Vorschriften anthat, durch Bus­ se, Bekehrung, Wiedergeburt und Rechtfer­

tigung zu iener Hoffnung hindurch zu dringen: daß,

sage ich,

da ich sahe, daß alle meine

quaalvolle Arbeit vergeblich war, und vergeb­ lich blieb; endlich schon meine ganze Hoffnung,

selig zu werden, völlig zu verschtvittden und an ihrer Statt die Verzweiflung bey mir ein, zutretcn ansing: dergestalt, daß der Entschluß

bey mir schon völlig absolvirt war, ein Selbst­ mörder zu werden! daß ich mich schon mit dem

dazu erwählten Werkzeuge an denjenigen Ort

hinbcgab, wo ich meinem martervollen Leben etit Ende machen wollte! und daß die Voll­

bringung der That unfehlbar erfolgt seyn wür­ de; wenn sie nicht durch die Dazwischenkunft

eines andern Menschen, dem ich verdächtig ge­ schienen hatte,

verhindert worden wäre! —

Aber um so viel froher genieße ich auch iezt mein Leben! seitdemich einfehen gelernt: daß alle

jene heillosen und unnatürlichen Lehrsätze, die man für christliche Wahrheiten aus­

gibt;

Vorrede.

37

gibt; keine christliche Wahrheiten! son­ dern müßige Erfindungen und zusammen­

gewebte Traume sind, die sich die schwerMige Phantasie der Theologen und Geist­

lichen erträumt hat! mit denen sie die ar­ men Menschen, die nun einmal an ihrem Gängelbande erzogen werden; von ihrer

Kindheit an bis an ihren Tod mürbe äng­ stigen! und dadurch das vornehmste Hin­ derniß aller vernünftigen Aufklärung und

Besserung in der Gesellschaft werden! Zugleich werden aber auch dieienigen meiner Leser nicht ganz Mrecht urtheilen;

welche in

den eigenen, zum Theil sehr traurigen Erfah­ rungen, die ich von den Würkungen ienes ge­

wöhnlichen und herschenden Unterrichts der Geistlichen an mir selbst gemacht habe; einen

wichtigen Theil des Aufschlußes möchten finden

wollen, woher ihnen meine dreistere Freymüthigkeit erklärlich werde, mit der ich viekeicht

freyer, als Jemand vor mir gethan, und mei­

ner guten Sache zu sehr gewiß, wider die

tyrannische Sclaverey auftrete; in welcher

C 3

die

Z8

Vorrede,

die Geistlichen und Theologen überhaupt den menschlichen Verstand gefesselt halten!

Doch die marternde Unruhen, in welche die Menschen mit ihren eigenen Wünschen und Hoffnungen durch iene finstern Lehrsätze der

Theologen vom moralischen Bösen gesezt wer­ den; die Bitterkeit,

welche dadurch über ihr

ganzes Leben verbreitet,

und das Hinderniß

der Muthlosigkeit, das ihnen dadurch auf den

Weg ihrer Besserung zur müßigen Bestreitung

und unglücklichen Aufhaltung ihrer Fortschrit­ te vorgeworfen wird: das alles, sage ich, ist noch lange nicht der ganze Schade, aus entsteht!

der dar­

Verwüstend und grausam sind

auch die Würkungen und Folgen, welche Le­ ner Unterricht, in den Beurtheilungen und

Behandlungen ihrer Nebenmenfchen nach sich zieht.

So bald die Grundsätze einem Je-

den in den Kopf gepraget sind: daß des Men-

schen Neigungen von Natur aufs Böse

gerichtet stehen;

daß der Mensch selbst

Schuld an seiner Verderbniß habe; daß

er deßwegen strafwürdig fey! mit welchen ver-

Vorrede. verdächtigen,

mißtrauischen und

39 menschen­

feindlichen Augen muß nun ein Jeder seinen

Nebenmenschen ansehen? drußvollen,

mit welchem ver-

rachsüchtigen Herzen seinen Be­

leidiger beurtheilen?

Der anderweitige Lehr­

satz : daß der Mensch kein Vermögen zum

Guten habe, kann diesen Widerwillen nicht mäßigen.

Denn, eines Theils sind alle Kö­

pfe schon von Jugend auf gewöhnt, ein Galimathiaö von Widersprüchen bey sich zu beher­

bergen; und da, wo eine abentheuerliche Hy­ pothese die andere bestreitet!

ihre Vernunft

unter den Gehorsam des Glaubens aller ZU

gleicher Zeit gefangen zu nehmen: und an­ dern Theils hat man, um ihnen die Verdau­ ung dieser Widersprüche desto mehr zu erleich­

tern;

die nonsensicalische Distinction ausge-

fpähet, und sie den Grundsätzen, nach welchen ein Mensch den andern beurtheilen müsse, bey-

gesellet: „daß die Gottgefällige Beschaffen­

heit, in der der Mensch etwas vor ihm gelte, und eine gegründete Hoffnung zur Seligkeit habe; sehr weit von derienigen

Beschaffenheit unterschieden sey, die der C 4

Mensch

40

Vorrede.

Mensch als ein ehrbarer Bürger

der

menschlichen Gesellschaft haben könne und müsse; weil die besten bürgerlichen Tugenden üt den Augen Gottes höchstens nur glänzende

Laster wären.,, Und hieraus folgert man: daß, weil also die Total- Verderbniß des Menschen

zu allem wahren Guten, ihm doch noch die Uebung dieser bürgerlichen Tugenden mög­

lich lasse; der Mensch eben um deßwillen de­ sto strafbarer sey, wenn er sich dieser glänzen­ den Laster nicht befleißige! Und so ist nun

also allen gehäßigen Beurtheilungen seines han­

delnden Nebenmcnschcn,

allen feindseligen Ge­

sinnungen gegen seinen Beleidiger,

Thor geöfnet!

Thür und

Bey den einzelnen Men­

schen gewinnet der Privathaß, und die thie­ rische Rachkegicrde gegen ihre wahre oder ver­

meintliche Beleidiger dadurch allen Vorschub,

den diese Leidenschaften nur für sich verlangen können.

Denn die Menschen leben als Bürger

in der Gesellschaft unter einander.

Ihre etwa-

nigen geistlichen, himmlischen, göttlichen und

übernatürlichen Qualitäten, die der Eine vor dem Andern mehr oder weniger besitzen, und daher

Vorrede.

41

daher in den Augen Gottes mehr oder weniger

wohlgefällig seyn mag; gehen ihre bürgerliche Verhältnisse unter einander gar nichts an, und

haben damit nichts zu thun.

Ob der Eine

also mehr, und der Andere weniger betet u. sw. das sind sie geneigt sich unter einander zu schen­

ken ; weil alle Andachts - Uebungen an und für sich selbst nur ihre Beziehung auf die Gottheit haben.

Alles dasienige aber, was ihre ge-

genfeitigen bürgerlichen Verhältnisse angeht;

alle Handlungen eines Menschen, die ihre Be­

ziehung auf das Wohl seines Nebenbürgers haben;

liegen,

ienen Lehrsätzen zufolge, in

dem Bezirk derienigen Dinge, worüber der

Mensch vollkomne Freyheit habe, 'und wor­ in ein untadelhaftes Verhalten schlechterdings von ihm gefordert werden könne.' Und wenn er hiev fehtt; wenn er hier der Theorie der

glänzenden Laster entgegen handelt;

so könne

und brauche es ihm nicht zu gute gehalten zu werden.

Er verdiene Verachtung, Haß, Ab­

scheu und Rache! — Alles Predigen von Sanftmuth und Versöhnlichkeit, was denn nebenbey

geschicht; macht keinen Eindruck, und kann

C 5

auch

42

Vorrede.

auch keine Kraft haben, Lene verdrußvolle Ge­

müthsbewegungen zu unterdrücken: weil von der andern Seite her, Lene obigen Grundsätze diesen Leidenschaften zu stark das Wort reden.

Und so werden also die einzelnen Bürger durch Lene Lehrsätze, in den Beurtheilungen und Be­

handlungen ihrer, sie etwa beleidigenden Nebenbürger, ganz von der Wahrheit abgeführt,

die offenbar darin liegt, und nur darin be­

steht: daß sie einen Jeden ihrer Neben­ menschen nut allen seinen Handlungen, als auf seinem eigenen, besondern, und

ihm unterscheidungsweise von andern, be­

stimmten Entwickelungs-Wege zu seiner

Vollkommenheit begriffen, ansehen; und

feine verwerfliche That für die niedrigere Stuffe halten sollten, die dieser Mensch

auf der Leiter seiner Vervollkommung

schlechterdings

vorher betreten mußte;

wenn es ihm möglich bleiben sollte, zu der folgenden höhern, die ihm beschieden war, gelangen zu könmn: und daß, wenn sie

auch durch feine That beleidiget würden;

sie ihn deswegen nicht hassen, sondern ihm

viel-

Vorrede.

43

vielmehr alle mögliche gute Hülfe zu sei­

ner Besserung leisten sollten! wobey es ih­ nen immer unbenommen steht, den ihnen etwa von ihm zugefügten wichtigen Schaden durch

den Beystand der Öligkeit sich von ihm, so weit es möglich ist, ersetzen zu lassen.

Aber auch der gesezgebende und richten­

de Stand in der Gesellschaft ist durch Lene Lehrsätze der Theologen mit in die Irre fort­

gerissen:

auch der sieht die unvollkomnem

Handlungen, oder fogenannten Verbrechen sei­ ner Bürger nicht in ihrer wahren Gestalt und

mit eigenen Augen;

sondern durch die Brille

an, die ihm die Geistlichen von Kindheit an,

so gut wie iedem andern Menschen, durch ih­

ren heiligen Unterricht vom Ursprünge und der

Beschaffenheit des moralischen Bösen in der Welt aufgesezt haben.

brechen angezeigt,

So bald ihm ein Ver­

und dieser der ihm beschul­

digten That überwiesen ist: so liegen Schwerd

und Rad und Strang, Staupbesen, Halsei­

sen, sclavische Gefangenschaft und andere unzehlige Arten von härtern und gelindem Straf-

mit-

Vorrede.

44

mittel» bereit; die nach Maasgabe der, nach lauter unsicher» Maaßstäben taxirten Größe

Les Verbrechens, die That an dem Menschen rächen sollen.

Wird hier wol die allergering­

ste Rücksicht auf die unbestreitlichen Wahrhei­

ten genommen: daß der Mensch, der nun als

Verbrecher; cher?

gleich viel, ob ein leidenschaftli­

ooer vorsezlicher ? da steht; daß dieser

Menjch, sage ich,

nach seiner ganzen indivi­

duellen Person, Lage und Stimmung schlech­

terdings so handeln mußte, wie er gehan­ delt hat? — Baß alle zureichenden Gründe seiner That außerhalb seinem VermdgensGebiethe lagen? ihre Wurzeln auch schon in

frühern Saculis, lange vor seiner Geburt hin­

auf, geschlagen hatten? und daß kein zurei­ chender Grund ohne seine Folge bleiben kön­

ne? — daß dieser Mensch auf der beson­

dern Entwickelungs-Leiter feiner Vervollkomungin seinen Handlungen, gerade die­

se Stuffe seiner That betreten mußte; weil

er sonst zu den folgenden Stuffen, die ihm

befthiedm waren, nicht gelangen konn­ te? — daß er darum in. der Gesellschaft lebt,

und

Vorrede.

45

und feine Kräfte in seinen anderweitigen guten Handlungen zur Beförderung der allgemeinen Wohlfarth zu Hülfe gibt: um von der Gesell«

schäft da,

wo er wieder ihrer Hülfe zu seiner

eigenen Vervollkommung bedarf; auch fortge­ holfen zu werden? — daß dis auf taufend gu­

ten Wegen besser, als durch rachsüchtige und elend machende Strafmittel von derGesellschast bey ihm zu bcwürken stehe? — daß durch alle noch so harten Strafmittel, die blos der That

wegen über ihn verhängt werden,

diese That

selbst doch nie ungeschehen gemacht werden kön­

ne? — daß, wenn statt dieser rächenden Straf­

mittel, die gemeiniglich zu weiter nichts dienen, als die Summe des Elends auf Erden zu

vermehren; der Uebelthater vielmehr durch gut gewählte BesteruNgs- Mittel auf seiner Bahn der Vervollkommung Vorwerts geholfen

wäre; die Gesellschaft durch den Gewinn eines

gebesserten Bürgers an ihn, sich selbst den größ­ ten Vortheil gestiftet hätte? — wird, sage ich,

wol auf alle duft Wahrheiten, die ich noch durch hundert Fragen vermehren könnte; bey

den öffentlichen obrigkeitlichen Bestrafungen

die

46

Vorrede.

die mindeste Rücksicht genommen!

Davon

weiß weder die Erfahrung, noch irgend em

gangbares

Gesezbuch

etwas

nachzuweisen.

Man hat blos die That vor Augen, und straft um der geschehenen That willen; ohne sich darum zu bekümmern, was dadurch

sowol bey dem, der die Strafe leidet, als

auch bey Andern, wahrhaftig gebessert werde, oder nicht?—

Ich darf, um mei­

ne Behauptung zu rechtfertigen, meine Leser nur auf das Gesezbuch eines der neueste»! Cri-

minalisten verweisen; der noch dazu unter die Gelindesten derselben gerechnet wird.

der bekannte Herr Quistorp.

Es ist

Man darf sein

Gesezbuch nur anfsthlagen; und man wird sich vor Schwerd und Beil, vor Verurteilung

zum Festungs-Bau und andern ungewöhnlich

schweren Arbeiten, vor Zucht-und Spinnhaus, vor Landes-Verweisung, vor öffentlicher Be­

strafung mit Ruthen, vor Stellung ins Hals­ eisen, vor Gefängniß bey Wasser und Brod, vor schweren Geldbußen, vor beständiges Tra­

gen einer eisernen Krone mit einer Glocke, oder

einer Schandkette, oder einer Blechtafel, auf der

Vorrede.

47

der Brust, worauf das Verbrechen mit Oehlfarbe

verzeichnet

vor

steht;

Erscheinung

in einem Abscheu erweckenden Anzuge; vor mo­ nathliches Peitschen

mit Ruthen durch die

Hauptstraßen der Stadt;

vor ungewöhnlich

harten Empfang-und Entlassungs-Schillin­

gen tu s. w. ich sage, man wird sich vor allen

Mißhandlungen nicht zu retten wissen;

mit

welchen dieienigen, die auf dem Wege ihrer Vervollkommung, den sie gehen mußten, aus

besondern

auffallenden

Unvollkommenheiten

herauskommen; oder, um die gemeine Spra­

che zu reden, die sich gewisser Verbrechen schul­

dig gemacht hatten ; nach Stand und Würden

regalirt werden sollen.

Ist bey allen ienm

Strafmitteln wol die allermindeste Rück­

sicht auf die zu erzielende Besserung des Uebelthäters genonunen worden? Wahr­ haftig so wenig; daß vielmehr alles darauf an­ gelegt ist,

diese Besserung,

ich will nicht sa­

gen, zu erschweren; sondern ganz unmöglich zu

machen.

Der Mensch, der in einer Abscheu

erweckenden Kleidung, mit einem Schandblech auf der Brust,

einer Schandkette (vieleicht über

48

Vorrede,

über die Achseln) einer eisernen Krone mit ei­

ner Glocke auf dem Kopfe, durch alle Haupt­

straßen der Stadt gepeitscht wird! wie soll mir

dieser Mensch noch den kleinsten Gran von Muth und Entschlossenheit übrig behalten,

es

künftig zu versuchen: ob er durch sein besseres Verhalten die Achtung und das Vertrauen sei­ ner Nebenbürger wieder gewinnen möge? Ist

dadurch nicht dem Entstehen eines ieden solchen guten Gedankens, und der schwächsten Hoff­

nung, daß ihm ein solcher Versuch gelingen werde und könne; aller Eingang in seine See­ le versperrt? mithin aller seiner möglichen Bes­

serung mit einemmahle Thür und Thor verna, gelt und verschlossen?

Jedoch, Herr Oui-

storp will zugleich, daß, wenn die Straft vorüber ist, die andern Leute bey VermeidungschwererStxaft nicht davon sprechen, oder dem Gestraften einen Vorwmf ma­ chen sollen! — Welche unnatürliche Forde­ rung! Ob Herr Ouistorp auch bedenkt; war­

um er den Unglücklichen durch die Straßen ge­ peitscht hatte? ob er wol bedenken mag, wel­ ches die größte Zahl von Menschen seyn wer­

de,

Vorrede.

49

de , die ein solcher scandalöser Aufzug durch die Hauptstraßen herbeylocken wird? was von der

Erziehung, die diese Classe von Menschen ge­ nossen hat, und von ihrer Lebensart vernünf­

tigerweise nur erwartet werden könne und müs­

se?

Sollte er dis bedacht haben;

man fast glauben,

so müßte

daß die ausdrückliche Ab­

sicht ienes Verbots keine andere wäre; als nur

Gelegenheit zu verschaffen, daß die Zahl der Verbrecher vermehrt werden möchte;

damit

es der Straflust nicht an Gegenständen fehle, woran sie sich immer beschäftigen und abkühlen

könne.

Und wenn die Leute nichts davon

sprechen sollen; ist ihnen damit auch das den­ ken daran verboten? Oder faßt das nicht

sprechen von einer Sache, auch das ver­

gessen haben der Sache in sich? Oder, ist dem Gemißhandelten etwa auch zugleich der

Glaubens-Artickel mit eingepeitscht worden:

daß, wenn er keinen von seiner erlittenen

Beschimpfung sprechen hört; es ein Zei­

chen sey, daß das Andenken daran auch aus ihrem Gedächtnisse verschwunden sey? und er also fernerhin mit aller Freymüthigkeit Wttckilchtt IV. Tb-

D

unter

Vorred e.

5o

unter ihren Augen als ein achtungswerther und unbescholtener Bürger leben und handeln kön­

ne?

Noch mehr: Bey gewissen Verbrechet:

soll der Nebelthäter wiederholentlich monath­

lich öffentlich gepeitscht werden! Aber, WMN

sich nun der Mensch schon in dem ersten Monathe gebessert und die unverdächtigsten Zeichen der Reue geäußert hatte, die alle Hoff­ nung gaben, daß sein begangenes Verbrechen

ihm ein solcher Stoß auf dem Wege seiner Bes­

serung seyn werde; daß er nun als ein desto besseres Mitglied der Gesellschaft, ihr den an­

gerichteten Schaden durch sein folgendes Ver­

und doch

halten überflüßig ersetzen werde?

soll er noch immerfort monathlich öf­

fentlich gepeitscht werden? —

Freylich

wird durch

die Reue die That selbst nicht

ungeschehen

gemacht!

Aber

wird

sie

es

denn durch die Peitsche? Und was von War­

nung für Andere dabey vorgegeben wird;

ist

doch eine abominable Ungerechtigkeit, mit der

man den Menschen, für die künftigen Verbre-

chen Anderer, büßend macht. —

Ferner, der

Mensch soll bey seiner Entlassung aus dem Ge­ fangn

Vorrede.

51

fängnisse noch eine Tracht Prügel, oder einen

Entlassungs-Schilling mit auf den Weg be­ kommen! Ich frage dabey: war der Mensch durch die zeitherige Strafen gebessert worden;

oder nicht? Im ersten Falle muß ein Jeder, der nur einen halben Begrif von Gerechtigkeit

hat, es mit Händen greifen; daß es Ungerech­ tigkeit und Grausamkeit sey, einen guten Men­ schen umsonst und um nichts, ner vernünftigen Absicht,

d. i. zu gar kei­ sondern höchstens

um sein Elend zu vermehren, und einer rach­

süchtigen Straflust ein Opfer zu bringen; mit

Schlägen zu mißhandeln! War der Mensch

aber noch nicht gebessert; so frage ich: war­ um war er denn ins Gefängniß gesteckt

und mit Strafen heimgesucht worden; wenn durch alle diese Vorkehrungen am Ende doch nichts'mehreres und besseres heraus kam, als was vorher schon statt fand? Der Mensch

kam als ein Bösewicht ins Gefängniß;

und

wurde auch wieder als ein solcher daraus ent­ lassen! Wozu also die an ihm verübten Stra­

fen? Was für einen geringsten Nutzen haben sie nun! gestiftet?, Was ist die Gesellschaft nun

D 2

an

52

Vorrede.

oit den Menschen gesicherter; als sie vorher war?

Freylich habe ich auch am Schluß des Anhangs von den Todesstrafen zugegeben; daß es wol

zuweilen der Fall werden könne , daß auch alsdenn, wenn der Staat die Gefängnisse in Schu­ len für erwachsene unartige Bürger verwandelt hatte; irgend einmal ein solcher zu früh, und

ehe seine Besserung noch die nöthige Reife ge­ wonnen,

daraus

entlassen werden könnte!

Aber ein solcher möglicher und wider Willen und Absicht sich zutragender Fall sieht doch ganz

anders aus, als wenn der Staat durch die feyerliche

Mittheilung

eines

Entlassungs­

Schillings , die öffentliche Erklärung von sich

stellet: daß er überzeugt sey, der Uebeltha-

ter sey durch alle erlittenen Strafen im ge­

ringsten noch nicht gebessert! man schicke ihn also der Gesellschaft, nach allen unnützen

Manoeuvres, die man mit ihm vorgenommen;

eben so wieder zu,

als man ihn vorher her­

aus gegriffen hatte ! —

Und wenn gar der

Entlassungs-Schilling schon mit in dem Ur­

theil enthalten war, welches ihn zu dem Ge­

fängniß verdammte! -* war das nicht die feyerlich-

Vorrede, erlichste Erklärung schon zum voraus:

daß

man bey allen Strafen, mit welchen man

ihn ängstigen wolle, bey weitem auch nicht einmal die Absicht habe; ihn dadurch bes­

sern zu wollen? — Was soll man denn von einer Strafgerechtigkeit denken, die auf solche

Grundsätze gebauet ist? O, möchte man hier ausrufen, ihr heiligen Gefttze der Natur,

nach welchen auch die Menschheit gebildet

ist! gebt doch nie zu,

daß Quistorpische

Grundsätze, und ein Quistorpsches Gesetz­ buch in der Welt geltend werden! Und wenn

es schon Viele gibt, denen sie zum Stecken­ pferde dienen; so laßt doch einen Strahl des Lichts in ihre Schädel fallen,

der ihnen die

Wahrheiten sichtbar mache: haß keine unna­

türlichen Gesetze; Indern nur solche, die

der menschlichen Natur angemessen und

von ihr abstrahirt sind, das Glück der Ge­

sellschaft erhöhen! daß die Gesetze um der Menschen willen; nicht aber die Menschen

um der Gesetze willen, da sind! daß folg­

lich, wenn die Forderungen einer angeblK chen Strafgerechtigkeit mit der wahren

D 3

Wohl-

54

Vorrede.

Wohlfarth eines Menschen im Wider­

sprüche stehen: nicht von dieser; sondern

von jenen die Ausnahme gemacht wer­ den müsse! daß eine Gerechtigkeit, die ih­ re Trophäen auf die Ruinen der Mensch­

heit pflanzen wolle; ein wahrer Fluch für die Welt sey! daß also der bekannte Lo­

sungs-Satz: Vivat iustitia; pereat munden lebhaftesten Abscheu aller ver­ nünftigen Menschenfreunde verdiene! dus!

Zweyte Anmerkung.

Soll ich nun kurz

das Resultat angeben, welches aus der gan­

zen obigelt Anmerkung und denen Betrachtungen, die sie enthalt; welches ferner aus mei­ ner ganzen vorgetragenen Sittenlehre; und in­

sonderheit auch aus dem Anhänge von den To­ desstrafen und den ihm beygefügten SchlußBetrachtungen: welches endlich aus dem gan­

zen System von der Nothwendigkeit, mit der em Mensth handelt;

mir in Ansehung der

öffentlichen oder obrigkeitlichen Strafge­

rechtigkeit unwidersprechlich

zu

folgen

scheint? so ist es dieses: Alle willkürliche Stra-

Vorrede.

4Z

Strafen müssen wegfallen; und an ihrer Statt blos die Besserungs-Mittel aufge­

sucht und angewandt werden, die in den jedesmaligen Fallen begangener Verbre­

chen, sich als die natürlichsten und besten ausmitteln lassen; um den Uebelthater zu

bessern Erkenntnissen und Gesinnungen,

und einer würdigern Handlungsart zu leiten.

Es ist wahr: ich habe in dem ersten

Theile dieses Werks Pag. 150. die willkürliche Strafen, die der Gesezgeber noch zu den natür­

lichen Folgen einer Uebelthat HLnzufügen könn­ te; einigermaßen und unter der Bedingung ste­

hen gelassen: wenn sie nur so gewählt und

angewandt würden, daß sie den Verbre­ cher auf dem Wege seiner Ausbildung Vor­

werts hülfen! Allein die folgenden Ueberlegungen der Sache haben mich zu der Ueberzeu­

gung geführt: daß alle willkührliche Stra­

fen durchaus verwerflich sind.

Ich begreife

es auch wol, daß bey der Verschiedenheit der Einsichten und Denkungsart, die sich auch un­

ter den.Gesezgebern und Richtern befindet; iene allgemeine Bedingung immer noch zu weitlauf-

D 4

tig

z6

Vorrede.

tig seyn, und einem Jeden derselben ein zu of­ fenes Feld lassen würde, um bald diese, bald

Lene wiiikührliche Strafe für ein geschicktes Bes­ serungs-Mittel des Uebelthäters zu halten;

so

ungeschickt es auch in der That dazu seyn möch­ te: daß folglich durch iene bedingliche Einschrän­

kung, dem blinden Willkühr ihres Gutachtens, so gut als gar keine Schranken gesezt sind: und

daß, ha die Natur uns unmöglich in den wich­ tigsten Behandelungen unserer Nebenmenschen

so frey und zügellos gelassen haben könne; daß sie nicht für einen sichern Faden gesorgt haben

sollte,

an welchen sich unsere Vernunft in ih­

ren kaltblütigen Ueberlegungen von dieser Sei­

te halten könne und solle! man diesen aufsu­

chen, ihn zur Richtschnur nehmen, und denn

allen Willkühr schlechterdings aus denGe-

sezbüchem über Verbrechen und Strafen, verbannen müsse.

Die nähern Gründe mei­

ner Behauptung sind folgende:

i) Die Natur selbst straft nie willkühr-

lich; sondern sucht lediglich durch die natürKchen Folgen, die sie ieder That augehengt

hat,

57

Vorrede.

hak, den Menschen zu bessern»

Und es ist

unstreitig: daß/ ie mehr wir die Natur zu wserm Lehrmeister nehmen; ie genauer wir ihren

Anweisungen folgen, und uns nach ihren Ge­ setzen, Regeln, und Verhaltungsarten richtens ie mehr wir uns ihr nähern; und ie mehr UM

fer Weg, den wir gehen, derjenige wird« den sie selbst geht: desto richtiger und sicherer

ist die Straße, die wir zu unserm Glücke wan­ deln.

Alle Abwege von der wahren Bahn der

Natur, sind Irwege, die ins Verderben leiten,

2) Der Besserungs-Mittel, die die Na­

tur für einen Uebelthäter anweiset, sind über­ all und bey allen Verbrechen, eine so hinläng­ liche Menge und Zahl vorhanden; daß es gar

keiner willkürlichen Strafmittel bedarf! Dis ist unwidersprechsich gewiß und bis zur vollen Ueberzeugung deutlich zu erweisen.

Und der

ganze Fehler, daß es nicht besser eingesehen wird, rührt meines Erachtens daher:

Man nennt

gemeiniglich alle Strafen, die ein Gefez-

huch über Verbrechen dictirk/ Positive

Strafen.

Run sehe man diese angegebenes

D 5

so

58

Vorrede.

so genannten Positiven Strafen an;

so wird

man finden: daß sie ein Gemengscl von natür­

lichen Folgen der That, und von willkührlichen Strafen zugleich, sind; nur mit dem Unterschiede, daß oft von der einen; der alldem Art die Dosis starker ist.

oft von

Eben

deßwegen habe ich auch die Benennung von

Positiven Strafen gänzlich vermieden; weil sie zu weitschweifig ist,

Inhalt hat.

und einen chaotischen

Wollte man also eine vorhande­

ne unnatürliche Crkmmal-Ordnung verbessern; so gehörte meines Erachtens nichts weiter da­

zu, als: a) Daß man manche angebliche Ver­

brechen, die keine würklichen Verbrechen

sind, sondern die der Aberglaube und die Un­ wissenheit nur dazu gestempelt haben; ganz

aus dem Register der Verbrechen weg­ streiche.

Z. E. Gotteslästerung, Selbstmord,

Zauberey u. d.

b) Daß die, auf die würklichen der Gesell­

schaft schädlichen Verbrechen gesezte Strafen, der Musterung dahin unterworfen werden;

daß man die blos wittkührlichen Strafen,

von

Vorrede.

59

von den natürlichen Folgen der Verbre­ chen scheide: die leztern allein bevbehalte; und ihnen diejenigen ihrer Art, welche das Geftzbuch etwa anzuführen vergessen ha-

ben mag, noch beyfüge.

Es versteht sich

von selbst, daß hier nur von solchen natürlichen Folgen, die auf den Verbrecher zurückgeleitet

werden sollen, die Rede seyn kann; deren Zu-

rückleitung von Andern weg, und auf den Verbrecher hin, möglich ist! Wo dis der Natur der Sache nach unmöglich ist, z. E. bey

eurer geschehenen Mordthat; da kann derglei­

chen Forderung auch nicht statt finden.

Eben

so muß in der Anwendung des Gesetzes, oder

der wirklichen Hinleitung der natürlichen Fol­

gen auf den Verbrecher, dahin gesehen werden;

daß dadurch das fernere Bestehen desVer-

brechers, als Bürger überhaupt, nicht

unmöglich gemacht werde! wie hierüber das nöthige in den Schlußbetrachtungen beyge­ bracht ist, die ich dem Anhänge von den To­ desstrafen beygefügt habe; und wohin ich also den Leser verweise, um hier die Wiederholung dessen, was dort gesagt ist, zu spahren.

Marr

6s

Vorrede. Man wird aber auch bey genauerer Beur-

Heilung finden, daß unter die Positiven Stra­ fen eines Gesezbuches viele enthalten sind, die

nur den Schein von willkührlicheu Stra­

fen haben; im Grunde absr wahre natürli­ che Folgen des Verbrechens sind, und als solche geltend bleiben müssen: daß man folglich der

wahrhaftig blos willkührtichen Strafen um so viel mehr entbehren könne; weil der natür­ lichen gar Sem Mangel ist.

So sind z. E.

Schadens, Ersetzungen; die Leistung einer öf­ fentlichen Ehrenerklärung über grobe, Andern zugefügre Beschimpfungen und Verleumdun­

gen; die Entsetzung vom Dienst, wo ein Mensih

durch feine Verbrechen die Gestllfthaft belehrt hat, daß es ihm durchaus an den zmtt Dienste

nothwendigen Eigenschaften fehle; u. s. w. ganz offenbar natürliche Folgen solcher Verbrechen,

c) Daß man, um die rechte Verhaltungs­

art gegen einen Verbrecher wählen zu können; die wahre natürliche Absicht zu Rathe neh-

me; warum?

und mit welcher derselbe,

als Bürger in der Gesellschaft lebe? Diese

Ab-

61

Vorrede.

Absicht ist keine andere, als: durch die Ge­

sellschaft glücklicher und vollkomner zu wer­ den; als er es für sich selbst in der Einöde

bewerkstelligen könnte!

Da also, wo der

Bürger ein Verbrechen begeht; macht er der Gesellschaft gleichsam eine öffentliche Erklärung über seine Beschaffenheit, und über den Gray Don Vollkommenheit und Unvollkommenheit,

in welchem er sich befinde! Er erinnert sie gleich­ sam dadurch, ihrer Vertragspflicht gegen ihn eingedenk zu seyn;

und fordert sie auf, sich

durch die Beurtheilung seines Standorts,

die

er ihr nun durch seine verübte That so leicht ge­

macht habe; zu den Maaßregeln leiten zu las­ sen, die erforderlich sind, wenn er durch ihre Hülfe wahrhaftig ein besierer, vollkomnerer und glücklicherer Mensch werden solle, als er

es außer der Gesellschaft werden könne.

Ein

jeder öffentlicher Verbrecher redet durch sein

Verbrechen die Gesellschaft gleichsam folgen­ dermaßen feyerlich an: „Ihr wißt es, meine „ lieben Mitbürger! daß ich mit -er Absicht un-

„ter euch lebe, und -arum meine Kräfte zur „Beförderung euerer Wohlfarth zu Hülfe ge-

„ be;

62

Vorrede.

,,be; damit ihr mich auch in der Vollkommen„ heit und in meinem wahren Glücke forthelfen

„ sollet, wenn ihr mich unvollkommen mit) man­ gelhaft findet! Nun seht her auf meine verüb„te That! Sie wird euch lehren, wie weit ich „noch auf dem Wege meiner Ausbildung zu ei»

„nem guten Menschen und würdigen Bürger

„zurück bin? Ihr werdet daraus verstehen ler-

„nen können; an welchen gesellschaftlichen Ei„genschaften es mir noch fehle? Hier ist der

„Fall meiner Unmündigkeit; wo ihr mei-

„ne Vormünder seyn müßt! Nehmt euch „also Meiner an; und führt mich menschen„freundlich, und euerer Gesellschafts-Pflicht

„gemäß, auf dem besten Wege, den nicht ich,

„ in meiner Unmündigkeit; sondern ihr, nach

„euern reifern Einsichten anzugeben wissen wer„ der; zu derjenigen Vollkommenheit und wür-

„digen Besthaffenheit, die mir noch mangelt. „Habt ihr dis gethan: so will ich euch hernach „durch meine desto besseren und ersprießlicheren

„Dienste, zu welchen ihr mich tüchtig und ge„ schickt gemacht habt; hinreichend dankbar da-

„für werden."

Dis

Vorred e.

65

Dis natürliche und gerechte Verlangen, welches ein ieder Verbrecher, vermöge seiner Vertrags - Verbindung mit der Gesellschaft;

oder der Absicht, warum er in der Gesellschaft lebt, zufolge;

an die Gesellschaft macht: ent­

halt eben den Grund,, warum ich am Schluß des Anhangs von den Todesstrafen behauptet habe,

daß es eine unerläßliche Schuldigkeit

die Gefängnisse in Schu­ len für Erwachsene zu verwandeln; oder

des Staats sey:

ihllen die Einrichtung zu geben,

daß sie nicht

ferner, wie bisher geschehen, unnütze und elend machende Strafen und Strafmittel, nicht Ker­

ker bleiben mögen; worinn ungesittete Bürger

vollends verwahrloset, der Besserungs- Mög­ lichkeit vollends entrissen,

mW einer wilden

unvernünftigen Rachbegierde,

Nnmenschlich-

keit und Grausamkeit aufgeopfert werden: son­

daß sie wohlthätige, bildende und bes­ sernde Schulen und Anstalten für dieienigen seyn und werden mögen, die es durch ihr tadelhaftes und schädliches Verhalten bewiesen haben, daß sie einer besondern gesellschaftlichen Hülfe und Beystandes zu ihrer dern

64

Vorred e.

ihrer Ausbildung und Vervollkommung bedürfen! Schulen;

in welchen die darinn

aufgenommenm Bürger sich sonst über nichts

zu beklagen llrsach haben müßten,

als höch-

stens über den Verlust der Freyheit; so

lange ihr Bedürfniß ihren Aufenthalt in solcher Anstalt nöthig machte! — Ich gebe es gerne

zu, daß eine solche Gefängniß-Schule keine

eigentliche natürliche Folge irgend eines Verbrechens sey! Aber ich leite ihre Noth­

wendigkeit aus der natürlichen Absicht her, mit der der Mensch in der Gesellschaft lebt;

aus der allgemeinen, unbestimmten und unum­

schränkten Erwartung,

die er hat: daß die

Gesellschaft da sein Glück und seine Vollkom­

menheit durch die besten Mittel, die sie dazu dienlich hält, befördern werde; wo er sich die­ se Dinge selbst nicht zu verschaffen vermöge. — Wenn man das Wort, Strafe, beybehalten will;

so kann man die natürlichen Folgen

eines Verbrechens, die nicht eigentlich als

Verfügungen anzusehen sind, welche der Ge-

sezgeber; sondern welche die Natur selbst ge­ troffen und verordnet hat, und die das mensch­ liche

65

Vorrede.

liche Gesez nur auf den Thäter hinleiten soll;

ich sage, man kann alsdenn diese natürlichen

Folgen mit dem eigentlichen Nahmen der Bes-

serungs-Strafen bezeichnen: hingegen die Aufnahme ins Gefängniß; die Ertheilung ei­

nes guten Unterrichts; die vernünftige Anhal­

tung zur Ordnung und mäßigen Arbeit in dem­ selben, als die eigentlichen Besserungs-Mit­

tel ansehen, die die wohlthätige Gesellschaft jenen Besserungs-Strafen der Natur hinzufügt, um ihrer Vormundschafts-und Va­ ter - Pflicht gemäß, den unvollkomnern Bürger

zu einem vollkomnern zu erziehen.

So würde

alsdenn der Staat in der Anwendung seiner

Besserungs-Mittel; Besserung straft;

mit der Natur, die zur

auf ein gemeinschaftliches

Ziel, nemlich der Bervollkommung und Besserung des Uebelthäters hinzvürken! Ja diese

Eintracht könnte in vielen einzelnen Fällen bey den Behandlungs-Arten der Bürger im Ge­ fängnisse noch genauer wahrgenommen und er­ halten werden.

Gesezt z. E. es wäre Einer

sehr zänkisch, und könnte mit keinem seiner Brü­

der im Gefängnisse verttäglich leben!

StttknlehrelV.TH.

E

Soll

ihm

66

Vorrede,

ihm die Friedfertigkeit eingeprügelt werden? Das erlauben Vernunft,

Gerechtigkeit und

Menschenliebe nicht! Aber man lasse ihm die natürliche Folge feiner Zanksucht fühlen.

Man

entfernte ihn von seinen Mitbürgern; und lasse ihn, so viel mit Gerechtigkeit geschehen kann,

sowol in seiner Wohnung, als bey seinen Ar­

beite»/ das Leere und Unbefriedigende der Ein­

samkeit empfinden.—

Oder/ ein Anderer ist

bey seinen gesunden Kräften, die er hat, faul! so ist es ein natürliches Gesez: Wer nicht ar­

beitet;

soll auch nicht essen! Er kann keinen

Beweist davon führen, daß er ein Recht habe, seine Kräfte im Müßiggänge zu verschleudern;

und daß es eine Schuldigkeit-e^

Gesellschaft

sey, ihn als Müßiggänger ernähren zu müßen! So, sage ich, kann man in den einzelnen Be-

handlungs- Arten der Gefangenen, immer auf

der Bahn der Natur bleiben: und alle Vor­

sicht muß nur darauf gerichtet stehen;

daß

schlechterdings nichts von Ungerechtigkeit, litte Menschlichkeit und Grausamkeit mit unterlaufe;

sondern daß man dessm eingedenk bleibe, daß

der

Menfih, der

zu

einem bessert: Menschen,

als

Vorrede.

67

als er zeither war, erzogen werden soll; nicht durch Ungemach, Plagen und Ungerechtigkeit ten, die man ihn leiden läßt, noch mehr ver­ schlimmert und verwildert werden müsse!

Ich würde also, wenn ich Gesezgeber wä­ re, es einem ieden Richter bey der Untersu­ chung eines Angeklagten Verbrechens zur Schuldigkeit machen, daß er nach hinlanglü cher Ausmittelung der Thatsache sowol, als des Thäters, sein Auge auf alle natürliche Folgen des Verbrechens richten sollte , die andern unschuldigen Bürgern zur Last fal­

len wollten:' daß er diese, so weit es die

Natur der Sache und das höchst bedürfti­ ge Bestehen des Thäters erlauben wollten,

gerade von Jenen weg, und auf den Thä­ ter hinleiken müßte; wofern nicht die be­ leidigten Theile sich freywillig zur eigenen DuldungundUebertragungdesSchadens,

anstatt des Thäters, entschlößen.

Glaub­

te etwa der Beklagte, daß ihm zu viel gesche­ hen sey: gut! so Mag er seine Klage einem höhern Richterstuhle vorlegen. Ware aber vaS

E a

began-

Vorrede.

68

begangene Verbrechen von so grober Art, daß es die Gesellschaft in gerechte Furcht wider den Verbrecher sezte;

oder hätte dieser durch

mehrere Verbrechen es schon erwieset:, daß es

ihm durchaus an den nöthigen gesellschaftlichen Eigenschaften fehle: so müßte es der Richter zur Pflicht haben, hievon zugleich, mit Ein­

reichung des ausgemittelten Verzeichnisses der nächsten natürlichen Folgen des Verbrechens,

dem höhern Richterstuhle Anzeige zu thun; da­ mit dieser es beurtheilen möge,

ob sich der

Verbrecher zu einem Candidaten der Gefäng­

niß-Schule qualificire? —

Man könnte zu

diesem Behufe den Richtern ein allgemeines

Verzeichniß der Verbrechen überhaupt,

die

man für solche Verbrechen grober Art erklärte,

und worüber sie Anzeige thun müßten, in die Hände geben. Durch

diesen

Vorschlag,

deucht mich,

würde mit einemmale der groben Unvollkom­ menheit abgeholfen seyn,

die die unschickliche

allgemeinen Gesetzes, auf specielle Vorfälle allemal mit sich führen muß. Ein allgemeines Gesez, wornach Anwendung eines

gewisse

Vorrede.

69

gewisse Verbrechen gerade hin abgeurtheilet

werden sollen;

ist nie ein Product sattsamer

Ueberlegungen; und wird in der Anwendung selbst, schlechterdings in jeglichem Falle ohne

alle Ausnahme, bald von dieser, bald von iener, bald von vielen Seiten zugleich,

unge­

recht! So bald das eine unbestreitliche Wahr­ heit ist, daß nicht die Menschen um der

Gesetze wissen; fondem die Gesetze um der Menschen willen da sind: so ist die tyranni­ sche Ungerechtigkeit handgreiflich,

wenn man

bey der unendlich stattfindenden Verschieden­ heit der Menschen, diese doch alle in eine ein­

zige allgemeine Form des Gesetzes hinein­ zwingen will! Es ist das eine eben so preißwürdige Weisheit, als wenn allen Schustern

im Lande schlechterdings nur ein einziger Leisten

anbefohlen würde, auf den sie alle und iegliche

Schuhe machell müßten. So müßten denn das Kind und der Erwachsene, die Manns-und

die Weibs- Person und überhaupt alle Men­

schen bey aller Verschiedenheit ihrer Füße , die­ se doch in einerley Schuhe stecken! und so blie­

be ihnen,

wenn der Eine über unerträglich E 3

schmerz-

70

Vorrede,

schmerzhafte Preßungen klagte, und der An­ dere sich allenfalls den Hals darüber bräche; kein anderer Trost dabey übrig, als: daß ein

weises Gesetz es so haben wolle! Die berüchtigte Frage, ob dem Richter

die Auslegung des Gesetzes verstattet wer­ den dürfe? ob es ihm da, wo er den Buch­

staben des Gesetzes mit der vorliegenden That­ sache, die er nach ienem aburtheilen soll, zu heterogen findet; zu erlauben sey: in die See­

le und die Absichten des Gesetzes zu drin­ gen, und den Sinn desselben zu Rathe zu ziehen? — oder, ob es seine unerläßliche Schuldigkeit sey: sich an den bloßen Buch­ staben des Gesetzes zu halten? und bey der Untersuchung eines ieglichen Verbrechens einen förmlichen Vernunftschluß zu machen; in desftn Vordersitze das allgemeine Gesez; im Hintersatze die dem Gesetze gemäße oder zuwider laufende Handlung; im Schlüße die Losspre­ chung oder Anerkennung der gesezmäßigen Stra­ fe enthalten sey? ich sage, diese berüchtigte,, und , wenn man auf die gegenseitigen Gründe sieht,

Vorrede.

71

sicht, bis auf den heutigen Tag uneutschiedene Frage löset sich sofort als unnüz auf; wenn man meinem Vorschläge Gehör geben will. — Vorläufig will ich nur sagen, daß diese Frage, für welche die Vernunft, so viel auch! darüber gestritten ist, doch keine gerade zu entscheiden­ de Antwort hat finden können, weil die Grün­ de von beyden Seiten viel Gewicht zu haben scheinen; daß, sage ich, diese Frage, und der Umstand, daß sie bis diese Stunde noch pro­ blematisch geblieben ist, ohngeachtet sie die Grundlage der gesezgebenden und richterlichen Seite der Staatsverfassung betrifft und an­ geht; daß dis, sage ich, uns abermals ein überzeugender und handgreiflicher Beweiß ist: welche kümmerliche und mitleidenswürdige Bewandniß es mit den Gesetzen selbst haben müs­ se? — auf welche ganz ungewiße und schwan­ kende Principia diese beruhen müssen? — wie diese Gesetze, die das Licht und die Leuchte der Füße derer seyn sollen, die in der Gesellfthaft wandeln und handeln; dennoch bey allem ih­ ren Daseyn, wegen ihrer eigenen höchst unvollkomnen Beschaffenheit, einen Iedelt imE 4 merhin

72

Vorrede.

merhin eben so gut im Finstern tappen lassen; als wenn sie gar nicht da wären? — Aber,

wie gesagt,

der ganze Grund dieses Uebels

liegt darinn, daß ein blinder Willkühr die

Gesetze macht! ein Willkühr, der sich von

der Straße, auf welcher die Natur wandelt, entfernt! der, ohngeachtet die handelnden Men­

schen mit allen ihren Kräften zur Natur ge­

hören;

dennoch bey Abfassung seiner Gesetze

für sie, auf diese Natur keine Rücksicht nimt! von ihr sich nicht belehren und leiten läßt! und

daher solche Vorschrifften und allgemeine Ge­

setze ans Tageslicht gebierst, die ihre Anwen­ dung vielleicht wol im Reiche der Phantasie;

aber gewiß nicht im Reiche der Natur finden können!

Woher käme sonst die immer noch

fortdauernde Frage: ob nach dem Buchsta­

ben des einmal vorhandenen Gesetzes ge­ richtet werden solle? oder, ob dis Gesez durch gehörige Auslegung erst in ein an­ deres Gesez verwandelt werden müsse; ehe

es eine vernünftige und passende Rich-

fchnur zur Beurtheilung der vorliegenden Sache werden könne? — Doch dis bey Seite

Vorrede.

?Z

Seite gesejt; so habe ich gesagt: Jene Fra­

ge liege bis iezt vor dem Richterstuhle der Vernunft und Wahrheit, noch unent­ schieden; weil sich von beyden Seiten wichti­ ge Gründe angeben ließen:

Sie sey aber,

wenn man meinem obigen Vorschläge, in Beurtheilung und gerichtlicher Behand­ lung der Verbrechen und Verbrecher, Ge­ hör gebe; völlig unnüz. Und die Recht­ fertigung meiner Behauptung führe ich folgen­

dermaßen. Soll der Richter die Freyheit haben, ein

vorliegendes Gesetz nach seinem Gefallen dre­ hen und auslegen; oder wol gar in gewissen

einzelnen Untersuchungen und Erkennmissen, um dasselbe ganz herum schiffen zu dürfen: so

ist er freylich so güt als ganz zügellos; und so dürften dem Anschein nach seine eigennützigen

Leidenschaften ein freyes Spiel haben, tausend

Ungerechtigkeiten begehen zu können; der Feh­

ler zu geschweige»,

die aus seiner Ungeschick­

lichkeit herrühren möchten!— Aber

wenn

auf der andern Seite (man erlaube mir diesen

Gleichniß-Ausdruck.

Er ist wahrhaftig so E 5

unedel

Vorrede.

74

unedel nicht, als er dem Stolze und einem

mehr verdorbenen als verfeinerten Geschmack vielleicht scheinen mag,)

der Richter, wie

em Kutschpferd, durchaus in dem Geleise blei­

ben soll, das ihm der Buchstabe des Gesetzes zeichnet!

Was wird

hier

herauskommen?

Was für Gesetze hat er vor sich? Lauter all­

gemeine! deren Anwendung auf die speci­ ellen Vorfälle überall, obschon Hier in ei­ nem kleinern, dort in einem größern Maas-

ft Ungerechtigkeit wird.

Ja, sagt man:

wo der Richter den Vorfall mit dem Gesetze nicht passend findet; wo, nach seiner Ueberzeu­

gung, die Anwendung des leztern eine Unge­ rechtigkeit mit sich fuhren würde: da kann und

soll er dem Gesezgebenden Theile Anzeige dar­

über thun und Verhaltungs-Befthle darüber fordern! Ich antworte: Kein einziges all-

gemeinesGesezpaßt ganz auf irgend einen

speciellen Vorfall, der darnach gerichtet werden soll! Folglich müßte der Richter bey allen und ieden Vorfällen, höher» Orts hin berichten,

und um Entscheidung ansuchen.

Mithin wären alle vorhandenen Gesetze ihm keine

Vorrede.

75

keine Richtschnur! Ihr ganzes Daseyn wäre also größtentheils unnüz. —

Und nun wol«

len wir einmal ein unpartheyisches Auge dar« auf richten, auf welcher Seite wol die meisten

Ungerechtigkeiten fallen möchten?

entweder,

wenn der Richter die Auslegungs-Freyheit der Gesetze hätte? oder, wenn er nach dem Buch­ staben des Gesetzes richten muß? Man neh­ welche ungeschickte,

me alle Ungerechtigkeiten, eigennützige,

parthcyische,

und leidenschaftli­

che Richter in einem Jahre im Staate begehen möchten, wenn ihnen die Auslegung der Ge­

setze frey gelassen wäre,

und bringe sie sowol

ihrer Anzahl, als innern Größe nach, meine Summe.

Man nehme auf der andern Seite

alle die Ungerechtigkeiten, welche aus der blin­

den Anwendung der vorhandenen allgemeinen

Gesetze auf alle speciellen Vorfälle in einem Jahre würklich entstehen und wodurch die Bür­ ger gedrückt werden, auch zusammen: und lege

sie in die andere Schaale der Wage.

Welche

Schaale wird die überwiegende seyn? Ich den­

ke, die Leztere! Ich weiß es wol,

daß mau

diese Frage gemeiniglich für die allgemeinen

Gesetze,

?6

Dorre de.

Gesetze, und wider die Auslegungs- Freyheit

des Richters, höher« Orts her entscheidet, und sie als so entschieden annimt.

Aber ich behau­

pte auch, daß dis eine blos willkührliche Vor­ aussetzung sey, Wahrheit,

die durch keine Gründe der

welche die Vernunft billigen muß?

te, gerechtfertiget und erwiesen werden kann!

Der gesezgebende Theil ist zugleich der obere

und höhere im Staate; und die Richter sind ihm untergeordnet,

und machen die kleinere

und schwächere Parthey aus! Kein Wunder

also, daß sich Jener das Recht zuspricht:

und daß dieser seine Hand auf den Mund le­ gen muß! Das Recht des Stärkern entschei­

det auch hier; so wie überall in der Welt. Aber,

was die Wahrheit dazu sagen möchte? — das Dürfte eine andere Frage seyn! — Ohngeachtet ich nach meinen Grundsätzen sowol den

Willkühr des Gesezgebers, in Abfassung seiner

allgemeinen und auf falsche Grundsätze beru­

henden Gesetze;

als auch den Willkühr des

Richters in Auslegung der Gesetze, verwerfe; und die ganze berüchtigte Frage, von der hier

die Rede ist, wie schon gesagt, für unnütz hal­

te:

Vorrede.

77

te: so getraue ich mich doch, wenn doch nun

einmal die Rede davon seyn soll; es unwidersprechlich zu erweisen: daß die Summe der

Ungerechtigkeiten, welche die freygelasse­

nen Richter in einem Jahre begehen wür­

den, unendlich kleiner seyn würde; als die

Summe der Ungerechtigkeiten wahrhaf­ tig ist, die iezt, da nach dem Buchstaben des Gesetzes gerichtet werden muß; würklich in einem Iahre begangen werden! Und meine Gründe sind folgende:

«) Man ziehe die Zahl der vernünftigen, gerechten, und unpartheyisch denkenden Man­

ner, die im Richteramte stehen;

von der gan­

zen Zahl der Richter in einem Staate überhaupt,

ab.

Gesezt, daß auch die Hälfte Schlechtden­

kender übrig blieben;

so würde doch von der

andern Hälfte der Gutdenkenden nichts ju be­ fürchten stehen!

So würden also doch nicht

alle Richter aus Dumheit, oder Eigennuz und

Leidenschaft bey einer größern ihnen bewilligten Freyheit, Ungerechtigkeiten begehen! — Wenn

hingegen nach dem Buchstaben des Gesetzes ge­

richtet

78

Vorrede,

richtet werden muß; so ist es offenbar, daß

ein Jeder ohne Ausnahme, auch selbst der gerechteste und rechtschaffenste Mann, als Rich­

ter, Ungerechtigkeiten begehen muß!

Ja ie

pünctlicher sein Gehorsam gegen das Gesez ist:

desto häufiger werden ihm die Gelegenheiten zu

Ungerechtigkeiten, die er begehen muß, auf­ stoßen ; und desto gröber und abscheulicher wer­ den auch oft diese Ungerechtigkeiten selbst aus­ fallen! In wie viel tausend Fällen würden

rechtschaffne Richter den vorliegenden Umstan­

den der Sache gemäß, mehr mit Gerechtigkeit entscheiden: wenn sie mehrere Freyheit hätten!

wo sie iezt an den Buchstaben des Gesetzes gebunden, mit einer Ungerechtigkeit entscheiden muffen, von der sie selbst überzeugt find! Der Gesezgeber konnte freylich bey Abfassung seines

allgemeinen Gesetzes die Local- und andern be­ sondern Umstände des einzelnen Falls , der her­

nach geschlichtet werden soll, noch nicht ins Auge habem

Aber darum hätte er auch kein

so weitschweifiges allgemeines Gesez schmieden

und zur einzigen Richtschnur hinstellen sollen, m dessen pünctlicher Befolgung alle künftig^

sich

Vorrede.

79

sich so ungleiche und von einander verschiedene

einzelne Vorfälle entschieden werden sollten!

ß) Man bedenke: Mas hält den unge­

rechten Richter im Zaum? Etwa das schrift­ liche oder gedruckte Verboth des Gesezgebers, das ihm alle Ungerechtigkeiten überhaupt mr-

tersagt? und ihn,

wofern er sich dergleichen

schuldig machen würde; schwer zu strafen dro­ het?

Ist diese allgemeine Warnung bey ihm

der eigentliche Abhaltungs-Grund von Unge­ rechtigkeiten? Kann er es seyn? — Wahr­ haftig nicht!

Denn dis Verboth und diese

gedrohete Strafe können ihm so, wie sie aufs

Pappier gedruckt oder geschrieben da stehen, nichts thun und nichts schaden!. Und wenn

Galgen und Rad ihm noch zugleich dabey abgemahlet wären;

so würde er diese Mahlerey

mit sehr stoischen und unempfindlichen Augen ansehen: weil er weiß, daß er ihrentwegen, und insofern sie dort aufs Pappier stehen; ge­ mächlich und ruhig, so der Himmel will, hun­ dert Jahr alt werden und endlich im Frieden

zu seinen Vätern versammlet werden könne! — Aber

So

Vorrede.

Aber was hälr denn sonst den ungerechten Rich­

ter im Zaum?

Antw. Der Bürger, dem

er Ungerechtigkeiten anthun will! Von diesem fürchtet er, daß er mit einer, ihm durch partheyifches Erkenntniß angethanen Ungerech­ tigkeit nicht zufrieden seyn, sondern feine Ma­

ge weiter bringen, und dadurch Lenes Verboth

und die gedrohete Strafe zu seinem Unglück

wider ihn in Kraft setzen möchte! Hat er hier­ vor Sicherheit; glaubt er die weitere Klage

des gekränkten Bürgers nicht befürchten zu dür­ fen: so sind ihm alle noch so ernstlichen Ver­

bothe der Ungerechtigkeit und die schwersten gedroheten Strafen kein Damm, der seine Lei-

denschaften in Schranken hielte!

Sie haben

eher kerne Kraft, um Abhaltungs-Gründe von

Ungerechtigkeit für ihn seyn zu können; sie sind

so lange für ihr; gänzlich todt: als der unter­

drückte Bürger ihnen durch seine weitere Klage nicht das Leben geben will! — Nun rrehme man einmal an, daß dem Richter die

Auslegung des Gesetzes frey gelassen wäre!

wie viele Freyheiten hätte er dadurch mehr ge­ wonnen, Ungerechtigkeiten begehen zu können; als

Vorrede.

81

aß; er iezt hat, da er an den Buchstaben des Gesetzes gebunden ist? Wahrhaftig nicht um ein Haar mehr, als ihm der gekränkte Bürger,

wenn dieser das Recht der Appellation frey be­ halt; gestatten will! —

Noch mehr; wenn

in ienem Fall die Appellation an einen hdhern Richtcrstuhl, der auch nicht an den Buchsta­ ben des Gesetzes gefesselt wäre, geschahe: so

Würde auch hier die Beurtheilung der Streitsache freyer, und der Vernunft und

Wahrheit gemäßer geschehen können; und der erstere Richter hatte über eine begange­

ne Ungerechtigkeit desto mehr zu fürchten. Mein wenn iezt die Appellation geschicht; wie

sieht es da aus? Der folgende Richterstuhl muß sich eben so gut an den Buchstaben des allgemeinen Gesetzes halten; als.der erste Rich­

ter! Beging dieser nun eine Ungerechtigkeit; es sey, daß er sie in Befolgung des allgemei­ nen Gesetzes und um desselben unschicklicher

Beschaffenheit willen, begehen mußte; oder,

war sie seine eigene geflissentliche Ungerechtig­ keit! hatte er sie alsdenn nur unter den Schutz

und Schirm des allgemeinen Gesetzes zu stel.SMnltbtt iv. Th.

F

len

82

Vorrede.

len verstanden: so bestätiget der zweyte Rich­

ter diese Ungerechtigkeit, und macht sie rechts­ kräftig;

sie mag so grob seyn wie sie wolle!

Denn warum?

Sie ist gesezmaßig!

Nun

müßte aber der erste Richter, wenn er Unge­

rechtigkeit begehen wollte,

ein äußerst ver-

wahrloseter Kopf seyn; er. müßte gar zu viele sichtbare Vidßen mit oer größten Ungeschick­

lichkeit gegeben haben, und ganz äußerst grob in seiner Verhandelung der Sache zu Werke

gegangen seyn: wenn der zweyte Richter den Ausspruch desselben, gar nicht unter ein all­

gemeines Gest; begriffen finden könnte und müßte!

Je allgemeiner,

weitläuftiger und

viel umfassender eine Decke ist; desto mehr läßt sich darunter stellen und verbergm! Je größer und weitläuftiger ein Haus ist, desto mehrere

Familien können darinn wohnen, ohne daß sie

sich selbst seltnen, oder in der mindesten anderweitigen Verbindung mit einander stehen; desto

mehrere heterogene Dinge lassen sich in dasselbe stellen; desto besser laßt sich die Comrebande darum verbergm; desto schwerer ist die Visita­ tion anzustellen! So geht es auch mit der; all-

gemei-

gemeinen Gesetzen.

Hatte der erste Richter

seine Contrebande der Ungerechtigkeit nur nicht ganz unbesonnen auf der freyen Flur öffentlich zur Schau ausgelegt; fo, daß sie dem zwey­

ten Richter gleich beym Eintrit ins Haus in die Augen fallen mußte; hatte Jener nur die kleine Vorsicht gebraucht«, sie irgend in einem Nebenzimmer in einen Winkel zu werfen: so

ist er sicher, daß der zweyte Richter über die Durchsuchung aller Winkel in diesem wcitlauf-

tigen Gebäude so ermüden, und sich zugleich

so darinn verirren werde; daß an keine Auffin­ dung der verbotenen Waare zu denke»: steht. —

Noch mehr: Je weitläuftiger ein solches Haus

ist; ie mehrere Zimmer es enthält: desto leich­ ter läßt sich auch für ein iedes Meuble, das sonst in einem oder zwey Zimmern den häß­ lichsten Contrast mit andern Meubles gemacht haben würde; ein für ihn schicklicher und gehö­ riger Ort wählen und finden, wo sei»» Daseyn

das Auge nicht beleidiget; sondern wo es wol gar ganz nothwendig hinzugehören scheint, der­

gestalt, daß mar» es fehlerhaft finden würde,

wenn, es nicht da wäre.

Ich bi»» kein Jurist;

Vorrede.

84

habe aber nur von weitem den mristischen Cahalen etwas zugesehen und sogleich gemerkt:

die Allgemeinheit und die dar­ aus folgende Unbestimtheit der Gesetze,

daß gerade

dem unredlichen Juristen die bequemste Gele­ genheiten darbiethe; seine Ungerechtigkeiten ab­ setzen und unterbringen zu können.

Und ich

wollte auf der Stelle allen Verzicht darauf

thun, daß mein Kopf eines gesunden Gedan­ kens fähig wäre!

wofern ich,

wenn ich ein

Jurist wäre; und Ehrlichkeit bey Seite gesezt;

nicht, durch Hülfe der allgemeinelt Gesetze, aus schwarz, weiß, und aus weiß, machen:

schwarz

nicht an den Galgen bringen;

und

vom Galgen retten: nicht züchtigen; und los­ lasse»! können sollte: wie ma»t es von mir be­ gehrenwürde!

Will man sagen, daß dis »alles eher zutref­

fen würde, wenn dem Richter die Auslegung

der Gesetze frey stünde: so bedenkt man wol nicht,

daß es eine platte Unmöglichkeit sey,

daß alle und iede Auslegung des Gesetzes, alle Ulid iede Aceommodation desselben auf einen

vorlie-

Vorrede. vorliegenden speciellen Fall,

K5

von dem Richter

vermieden werden könne! So bald ein Gesez

allgemein abgefaßt ist; und nun dem speciel­ len Vorfälle, als ein Hut aufgesezt werden soll: so muß entweder der Kopf nach dem allgemei­

nen Hute; oder dieser nach ienem geformt, ge­ druckt,

gepreßt,

gezwungen werden, wenn

eins für das andere nur scheinbar passend werden soll.

Eins von beyden leidet also Gewalt;

und bleibt nicht mehr, was es war.

Denn

der Hut war ia nicht für den einzelnen Kopf;

sondern für taufend Köpfe zugleich zugefchnitten, die alle von einander verschieden sind! Dis ist doch ganz unleugbar! Nur: mag die Be­

quemung des einen, nach dem andern, so ge­ künstelt seyn, als sie immer wolle; so komm

doch nie etwas natürlich passendes für beyde

Dinge heraus! Es ist immer Zwang, unna­ türlicher Zwang da,

der den empfindsamen

Theil, der dabey intereßirt ist, leidend macht. Mit andern Worten:

Aus ieder Anwen­

dung eines allgemeinen Gesetzes auf einen speciellen Fall springt Ungerechtigkeit her­

vor, die dem Bürger angethan wird. — F 3

Noch

Vorrede.

86

Noch mehr , da alle allgemeinen Gesetze, ihrer Natur nach und selbst um ihrer Allgemeinheit

willen, schwankend sind und seyn müssen: so wenn das eine Gesetz

Lars der Richter nur,

seinerLeibenschaft nicht ansteht; zu dem andern, wovon er sich mehr für seine ungerechten Ab­

sichten-verspricht, seine Zuflucht nehmen, um

den vorliegenden Fall oemselben anzupassen! Denn accommoditt muß doch bey einem ieden

allgemeinen Gesetze werden; es sey, welches es wolle.

Und so kommt es also nur blos dar­

auf bey ihm an, ob er die Kunst zu accommos

diren, gut versteht? um seinen ungerechtesten

Leidenschaften ein freyes, und noch dazu recht­ liches,

gesezmäßiges Spiel zu machen!

Hat

er denn nur irgend eitlen anbefohlnen allgemei­ nen Hut dem vorseyenden Kopfe einigermaßen scheinbar applicirt; so ist er vor dem zweyten

Richter schon sicher. anders,

tersuchen.

Denn dieser- hat nichts

als, ob ienes geschehen sey? zu un­

Findet er das; so erklärt er den er­

sten Richter für gerecht.

Der Hut selbst mag

sich für den Kopf schicken, und auf denselben

recht passen oder nicht! Das. ist alsdenn we­ der

Vorrede. der die Sorge des erstem , Richters.

87

noch des leztern

Genug, es ist ein gestempelter Hut!

und keiner derselben von allen, die vorhanden sind, paßt genau. —

nes Gesez;

Es ist ein allgemei­

nach welchem das Urtheil

rechtskräftig werden muß!!-- Würde dis aber wol geschehen; wenn sowol der erste als der zweyte Richter die Freyheit hatten, mchr

in den Sinn des Gesetzes, der doch auf die

Handhabung der wahrhaften Gerechtig­

keit in ieglichemvorliegenden Falle, eigent­ lich nur abzielen kann und abzielen sollte, dringen zu dürfen? Würde sich denn der er­

stere Richter nicht mit seinen Ungerechtigkeiten vor dem zweyten Richter fürchten müssen? Und

auf welcher Seite würde aksdenn mehr Gerech­

tigkeit gehandhabet werden?

Entweder da,

wo alle Richter an allgemeine Gesetze gebunden sind? folglich auch keinen weitern Verstand m

ihrem Richterdienste nöthig haben,

als zur

bloßen logicalischen Subsumtion eines Unter­

satzes unter seinen Obersatz erforderlich ist?

oder da, wo ihre Beurtheilungskraft um sich schauen müßte;

um die wahrhafte Gerech-

F 4

tigkeit,

8Z

Vorrede.

tigkeit, die die Gesellschaft beglückt, ans Licht zu ziehen? unb die von der sogenannten Ge­ rechtigkeit, die die allgemeinen Gesetze dazu stempeln, und für Gerechtigkeit ausgeben; oft wie Licht und Finsterniß verschieden ist? Das Urtheil kann immer wahr seyn, wenn es heißt: das Factum, oder die vorliegende Sache ist gesezmäßig entschieden. Aber Gott möchte sich oft über das Gesez selbst erbarmen, nach welchem es entschieden ist! Man wurde sich erschrecklich irren; wenn man unter dem Worte, die Rechte, so wie es im iunstischen Verstände gebraucht wird; solche Gesetze verstehen wollte, die sich vor dem Richterftuhle der Vernunft und Wahrheit, überall als wahrhafte Grundsätze der Gerechtigkeit rechtfertigen könnten! Das mag dem Himmel geklagt seyn, wie es hierinn aussieht! Wir erkennen den Rechten gemäß, heißt nichts mehreres, als: so, wie es die vorhandenen allgemeinen Gesetze haben wollen. Diese mögen nun so weit in die Irre laufen, und fo viele himmelschreyende Ungerechtigkeiten mit sich führen, als sie wollen; darauf kommt es gar

89

Vorred e. gar nicht an.

Genug, sie sind die vorhande­

nen Gesetze! und der würdige Nahme, daß sie Rechte genannt werden, soll alle ihre Unvoll­

kommenheiten zudecken'.

Warlich, es diente

nichts mehr und nichts besser dazu,

die Zahl

der Processe in der Gesellschaft zu vermindern;

als wenn den Bürgern nur ein deutliches Verizeichniß der theuern und werchen Rechte, wor-

nach die richterlichen Aussprüche geschehen müs­

sen; in die Hände gegeben würde!

In tau­

send Fällen würde der Bürger alsdenn keine

Klage anstellen; sondern lieber Ungerechtigkei­ ten von seinem Nebenbürger dulden:

weil er

schon voraussehen könnte, entweder: daß das

Gesez selbst ihn noch mit zehnfach größern Un­ gerechtigkeiten bedrücken würden oder:

daß

die Allgemeinheit desselben doch für alle Chica­

nen und Cabalen der Leidenschaften den weit-

läuftigsten Spielraum enthielte!

Da er aber

jene Rechte nicht kennt; sondern darüber im­ mer, (und wie es den Schein hat, Mit Fleiß)

in Unwissenheit gelassen wird: so verleitet ihn oft sein gesunder Menschenverstand zu der Hoff­

nung, daß er in seiner, an sich vor aller WeltAu-

F 5

gen

Vorrede.

go

gen gerechten Sache, mit seiner Klage da Gehör und Hülfe finden werde, wo man vorgibt,

daß

alles den Rechten nach entschieden werde! Er hofft dis

so lange, bis er die den Rechten

gemäße Entscheidung zu sehen bekommt: und nun gehen ihm erst die Augen darüber auf, was hier,

von Rechtswegen, heißt! und er wünscht

zu spar, daß er nimmermehr diese Rechte um Hülfe angrflehet haben möchte!

Kurz, es ist

eine gegen allen möglichen Widerspruch erweis­ liche, traurige, höchsttraurige Wahrheit: daß

die vorhandenen unnatürlichen Gesetze

überhaupt, mehrere und gröbere Unge­ rechtigkeiten begehen, als sich die Bürger

unter einander selbst zufügen: und daß eben die Allgemeinheit der Gesetze dm un­

gerechten Richtern das freyeste Feld öffne, wo sie ihre Leidenschaften auftreten lassen;

ihre Rabulisten-Streiche spielen; die Zu­

friedenheit, den guten Nahmen und das Vermögen der Bürger plündern; und das Glück der Gesellschaft verwüsten können. Der Verwirrung und Zerstöhrung »'nicht zu ge­

denken, die dadurch

in der Denkungsart der

Bürger

Vorrede.

9i

Bürger und in ihren Begriffen von dem, was Gerechtigkeit ist, angerichtet wird; und woraus keine andere, als die traurigsten Würkungen und Folgen für ihre Handlungsar­

ten entstehen können und muffen! Noch nie hat em Schiboleth, weß Her­

kommens und welcherley Art es auch ftyn moch­ te,

in der Welt etwas gutes gestiftet! Jenes

hebräische Schiboleth mordete an der Furth

des Jordans zwey und vierzig tausend Ephrai-

miter! — Die auf den Concilien geschmiede­ ten und sonst festgesezten Symbolen der Religions-Meynungen,

dis theologische Schibo­

leth! in welche eiserne Fesseln hat es den mensch­ lichen Verstand geschlagen! welche Gewaltthä­ tigkeiten verübt! welche Verwüstungen auf dem

Erdboden angerichtet! welche unzehlbare Men­ ge von Scheiterhaufen angezündet!

welche

Ströhme des besten Menschenbluts hat es ver­ gossen!—

Ein juristisches Symbolum, ein

Schiboleth der Gesetze in der Gesellschaft, oder dessen, was allein als Recht und Gerechtig­

keit unter den Bürgern angesehen und dafür geach-

§2

Vorrede.

geachtet werden solle;

über welches keinem

Verstände eines Bürgers laut zu denken und zu urtheilen erlaubt seyn; das er sich noch weit

weniger zu tadlen, erdreisten soll! ent Schiboleth, gegen welches alle Richter und die ganze

Nation sich schlechterdings einer absoluten Un­ mündigkeit bescheiden, und auf die innere Ue­

berzeugung bey sich völligen Verzicht thun sol­ len: daß sie auch Menschenverstand haben, und mit demselben über das, was Recht und Un­

recht ist, denken und urtheilen können! wird

und kann, sage ich, ein solches Schiboleth für die Gesellschaft wohlthätiger seyn, als iene wa­ ren? Läßt sich eine Anschirrung des Verstan­

gewis­

des

anderer Menschen,

ser

einzelner Menschen , als natürlich denken?

an die Urtheile

Und wenn sie nicht anders, als durch Gewalt geschehen und eingeführt werden kann;

wenn

noch kein Schiboleth anders, als durch Hülfe des weltlichen Arms festgesezt und in Ansehen gebracht werden konnte; 'wenn der Glaube an

dasielbe stets erzwungen werden mußte! macht das ein gutes Vorurtheil,

wohlthätig sey?

daß sein Daseyn

Man verbiethe alles fteye

Urthei-

Vorrede.

93

Urtheilen über die Landes - Gesetze.

Man

mache dem Bürger, blinden Gehorsam zu sei­ ner einzigen Schuldigkeit.

Der Gesezgebende

Theil im Staate bilde sich ein, zugleich auch

nothwendig der klügste zu seyn.

Er zwinge

alle, die ihm unterworfen sind, an seinen Rich­

terstuhl, als an einen unfehlbaren Glauben,

und alle seine Urtheile als Oracul - Sprüche ansehen zu müssen; von welchen auch nicht ein­ mal an den gesunden Menschenverstand eilte

weitere Appellation erlaubt sey;

mit einem

Worte: er bilde sich ein, daß er gar keiner Zu­ rechtweisung in seinen Urtheilen von denen, die

seiner Macht unterworfen sind, fähig sey; und

rechne dem Bürger ieden Tadel, den dieser über die Gesezgebung des Landes wagt, zum Hoch­ verrathe viele Köpfe über

ein Gesez ihre verschiedenen Meynungen sagen

dürfen; wie sehr dadurch die Sache von allen Seiten beleuchtet werde ? wie viele Local - und andere Umstände dabey ans Licht gezogen wer­

den, die der Gesezgeber vorher nicht kannte und sahe, und die ihn nun zu ganz richtigern Be­ stimmungen in Abfassung des Gesetzes leiten? Wie sehr würde dem gesezgebenden Theile im

Staate seine Arbeit erleichtert werden; wenn er

Vorrede.

97

er die freyen Urtheile des Publicums bey Fest-

setzung der Regeln dem Gerechtigkeit nutzen könnte?

und wie sehr würde auch unter den

Burgern die Ueberzeugung,

daß sie mit Ge­

rechtigkeit regieret würden, dadurch gewinneu und verbreitet werden? und welche seligen

Früchte würde diese Ueberzeugung für die Her­ sichende Denkungs- und Handlungsart der Na? tion tragen? — Es ist immer ein böses Zeichen für den innern Gehalt einer Sache, wenn man

ihre nähere Prüfung und Untersuchung nicht zulassen will! — Daher wollen die Theolo­

gen die Beleuchtung ihrer Lehrmeinungen

nicht zugeben; weil sie wol wissen, daß

diese keine Prüfung ausstehen können. Eben so würde es ein sehr seichter Gedanke

seyn, der nur von einem sehr flach denkenden

Kopfe zeugte, wenn man fürchten wollte: daß

die Freyheit des Bürgers, öffentliche Lan­

desgesetze und Sentenzen critisiren zu dür­

fen, eine Zerrüttung im Staate nach sich ziehen könne! Die Vernunft kennt keinen ein­ zigen Grund für diese Besorgntß; und die Er­

fahrung widerspricht ihr ganz.

Haben nicht

G

dis

Gittenlchre, IV- Th»

98

Vorrede.

.die Theologen und Geistlichen von ieher denen, die am Ruder des Staats sitzen,

den Gedan­

ken vorgespiegelt, daß große Gefahren der Zer­ rüttung der bürgerlichen Ordnung durch solche

Urtheile und Schriften zu befürchten stünden, die sichs herausnehmen wollten, die herscheu-

den Religions-Meinungen öffentlich in Zwei­

fel zu ziehen? Gleichwol, seitdem der heilige Damm durchgebrochen ist,

und der gesunde

Menschenverstand sich erkühnt hat, seine Bat-

terien gegen die Schutzwehren Per theologischen

Phantasien aufzuführen;

seitdem nun schon

unzehlich Viele sich öffentlich erklärt haben, daß

sie ihren eigenen Weg, den ihnen ihre eigene

Vernunft anwiese, zum Himmel wandern woll­ ten; und daß sie ferner nicht mehr geneigt wa­ ren, ihre Vernunft unter dem Gehorsam des Glaubens von den Geistlichen gefangen nehmen

zu lassen: was für Zerrüttung ist denn nun in

der menschlichen Gesellschaft daraus entstan­ den? Und doch kam es hier angeblicher Weife,

auf die allerwichtigsten Angelegenheiten

des

Menschen, auf Seele und Seligkeit an; Ist

die Welt nun darüber untergegangen? oder steht

Vorrede.

99

steht sie etwa im Begriff unterzugehen? Sind

Zügellosigkeit, wilde Lasterhaftigkeit,

Unter-

tretung aller bürgerlichen Pflichten, Zerrüttung aller gesellschaftlichen Ordnung u. s. w. so ge­

wiß die unausbleiblichen Folgen iener Freyheit im Denken und Urtheilen über Religions-Sa­

chen geworden; als sie mitandgchtig seufzender Miene vorher prophezeiet wurden? Man sage, was man wolle, so ist es bloße Gaukeley,

mit der man sich selbst täuscht, wenn man be­ haupten will: daß die Menschen iezt in ih­

rer Sittlichkeit zurückkamen ! Wäre auch nur die Möglichkeit dazu da; wem könnte sie

anders zur Schuld gerechnet werden, als dem

Schöpfer? Aber nur die Augen recht aufge­

than; und die falschen Grundsätze von Sitt­ lichkeit, nach denen man zu urtheilen pflegt,

bey Seite geworfen; so wird man bis zur un-

widersprechlichsten Gewißheit es wahr finden,

daß das menschliche Geschlecht im Ganzen sowol, 'als in seinen Theilen, auf dem Wege der immer mehrertt Ausbildung zu seiner Vollkommenheit begriffen sey und unaufhaltsam fortschreite! Derienige soll G 2

wenig-

Ice

Vorrede.

wenigstens noch erst gebohren werden, der das Gegentheil hievon mit Gründen, die die Ver­ nunft billigen müßte, zu erweisen im Stande

wäre!

Ich kann diese Materie nicht verlassen, oh­ ne noch einen gewißen Gedanken zu rügen. Man hört nemlich dieiemgen, die über die Ver­ waltung der Gerechtigkeit in einem Staate wa­ chen sollen, oft sagen: die Gesetze müssen in

den Augen des Bürgers ein heiliges Anse­ hen haben: Was mag man sich doch bey dieser Redensart gedenket:.? So wie sie ge­ meiniglich gebraucht wird, will man meines Erachtens ditz damit sagen: der Bürger solle bey einem vorhandenen Gesetze gar nicht dar­ an denken, daß dis Gesez der Wille gewisser Menschen gewesen sey, oder noch sey. Er stille sichs also auch gar nicht herausnehmen, es arrch nur in seinem Herzen zu beurtheilen, ob dieser Wille iener Menschen etwas tauge, oder nicht? ob er Gerechtigkeit oder Ungerech­ tigkeit mir sich führe?. Nein, er solle das einmal vorhandene Gesez ohne alle Rücksicht auf seinen

Vorrede.

lSI

ftinen menschlichen und etwa daher fehlerhaf­ ten Ursprung, als ein für sich bestehendes, unzubezweifelndes Heiligthum, als eine solche Rechts-Regel anschen, die der unmittelbare

Ausspruch der Gerechtigkeit selbst sey; wider

den gar kein Zweifel und keine fernere Frage Statt finde, ob er auch wahrhaftig gerecht fep,

oder nicht?

Und selbst,

wenn stme ganze ei­

gene Urtheilskraft ihn das leztere glaubend ma­

chen wolle; so solle er sich selbst verleugnen, und troz allem Widerspruch seines eigenen Vorstellungs - Vermögens, dem ausser ihm befind­

lichen Gesetze willige Ehrfurcht und Anbetung

darbringen!— Ob dieirnigen, die dis von Men­ schen fordern und erwarten können, auch wol Lemals daran gedacht haben mögen,

wenn

eher es dem Menschen seiner Natur nach nur möglich sty, etwas schätzen und ehren zu können? — Kein Mensch unter der Son» nen kann etwas hochhalten und ehren, anders,

als in sofern er ft etwas gutes und solche

Vorzüge an der Sache entdeckt, die eine vorteilhafte Beziehung auf ihn habenr oder, wenn dis auch in der That »licht so seyn.

G 3

sollte;

Vorrede,

lax.

sollte; in sofern er sich dis doch von derselbe« vorstellt/ und als wahr einbildet.

Eben die-,

selbe Sache, die mir verehrungswürdig seyn

soll;

muß mir auch zugleich liebenswerth Eins laßt sich von dem andern mcht

seyn.

trennen.

Und wenn ich diese beiden Dinge

ia scheiden will; so besteht die Liebe zu einer

Sache eigentlich in der Vorstellung, die ich von dem Guten und von dem Glücke

habe, das mir durch iene Sache zugewandt wird.

Die Liebe ist die Freude über den Zu­

wachs, den ich in meiner Glükfeligkeit gewin­

ne.

Die Ehrerbietung hingegen, die ich ge­

gen die Sache empfinde, stellung,

besteht in der Von-,

daß mit iene Vermehrung meiner

Glükftligkeit gerade von dieser Sache, und

sonst von keiner andern herkam; oder ich sie ihr allein zu verdanken habe.

Wir ft-

hen also, Ehrerbietung und Liebe sind ihrer

Natur nach ganz unzertrennbare Gefährten, deren keines ohne das andere gedacht werden kann.

Sobald nun bey einem Menschen die

Meynung vorl einer gewissen Sache vorhanden

ist , daß ihm diese Sache entweder durch­

aus

Vorrede.

105

aus Schaden, oder doch wenigstens mehk

Schaden als Vortheil bringe; so kann kei­ ne Werthschätzung, keine Hochachtung, kecke Ehrfurcht, keck ehrerbiethiges Heilighalten der

Sache, bey ihm aufkommen, und wenn auch die Allmacht selbst zu Hülfe treten und diese

Gemüths - Bewegungen bey ihm erzwingen

wollte!

Denn die Allmacht kann kecke Wi­

dersprüche realisiren.

nicht Mensch seyn;

Sie kann den Menschen seine Selbstliebe nicht den

Grundtrieb in ihm seyn lassen, aus welchem alle seine Wünsche, Neigungen,

Gemüchs-

Bewegungen, Entschließungen und Handlun­

gen einzig, und allein herftammm müssen: und

ihn bey dieser nothwendigen Verfassung seiner Natur zu gleicher Zeit zwingen, seinen Scha­

den und sein Unglück (in sofern es diese Dinge in seinen Augen sind) zu lieben, hochzuschätzen

und zu ehren! Der Bürger wird also nur in

dem Maaße eck Gesez ehren, und ehren kön­ nen; als er es seinem Erkenntniß nach, lie-

bm kann.

Das Gesez wird also nur so weit

ein heiliges Ansehen in feinen Augen ha­ ben, als er die Wohlthätigkeit desselben G 4

für

io4

Vorrede.

für sich tvahrnimLl Wo dis Erkenntniß bey

ihm fehlt; wo ihm das Gesez wol gar noch auf ftinen Schaden und auf sein Verderben abzie­ lend zu seyn scheint: da wird keine Forderung

einer blinden Ehrerbietung und Anbetung, die

er dem Gesetze leisten soll, die Stelle Lener Er­ kenntniß bey ihm vertreten,

und das wmkm

können, was iene nur allen; bey chm zu wür-

ken fähig wäre.

Freylich wird er sich wol,

wenn es nicht anders seyn kann, dem Gesetze,

Las er verabscheuet, unterwerfen: aber wahr­

haftig nicht aus Ehrfurcht gegen das Gesez! sondern blos aus Furcht vor der Gewalt derer, die feine Unterwerfung erzwingen können.

Da

es also bey allem Gehorsam, der gegen die

Gesetze gefordert, und der ihnen geleistet wer­

den kann,

auf eines von diesen beyden Stüc­

ken ankommt,

entweder:

daß der Bürger

die Wohlthätigkeit des Gesetzes für sich erken­

ne, und sich daher demselben willig unterwer­

ft;

oder: wenn er Leite nicht zu begreifen im

Stande ist; daß er mit Zwang zur Beobach­

tung des Gesetzes angehalten werde: warum spielt man mit Worten, und sucht em drittes dazwi-

Vorrede.

105

dazwischen zu schieben, das gar nicht statt fin­

den kann? Warum will man die Gesetze za Götzen machen, denen mit blinder Anbetung geräuchert und geopfert werden soll; da noch nie eine Anbetung irgend eines Götzen in der Welt Statt gefunden hat, bey der die Selbstli^

be nicht ihre Rechnung fand, oder zu finden

glaubte? diese Sache auch um Nr Natur des Menschen willen, nie eine andere Bewandniß

in der Welt wird haben können? Man über­ zeuge, sage ich nochmals, den Bürger, daß

das Gefez für ihn wohlthätig sey; so fin­ det sich das Heilighalten desselben bey ihm von

selbst,

ohne daß man darauf zu dringen nö­

thig hätte. Seine Ueberzeugung von der Wohl­ thätigkeit des Gesetzes ist dann selbst in ihm der

unerschütterliche Thron des Ansehens des Ge­

setzes, dem er die willigste Ehrfurcht opfert.

Wo diese Ueberzeugung bey ihm nicht hervor­ gebracht werden kann; da wird auch kein blim des ehrerbietiges Heilighalten des Gefttzes durch

irgend ein Mittel bey ihm bewürkt werden kön­ nen: denn das

ehren einer Sache ftzt das lie­

ben derselben. voraus.

Wenn also gleichwol,

GZ

in

io6

B o r r e d r.

in diesem Falle , die Unterwerfung unter daS

Gesezvon demBürger durchaus gefordert wer­ den muß; so bleibt dem Staate weiter nichts übrig, als seirrer Vater - unt> Vormundschafts-

Pflicht gegen den Bürger gemäß, die Macht anzuwenden, die er in Händen hat.

Er brin­

ge das Gesez in Kraft: und nehme/ wenn es

oberrein nöthig ist, den Bürger in die Gefäng­

niß- Schule auf; damit er hier besser verstehen lerne, was zu stinrm Frieden dient.

Ich kehre nach dieser gemachten Digreßion dahin wieder zurück, wo ich ausgeMrgerr war.

Ich hatte oben gesagt: daß die Frage, ob besstre Gerechtigkeit in einem Staate grhandhabet werden würde, wenn der Richter mit sei­

nem Urtheile an den Buchstaben des Gesetzes so genau als möglich angeschirret? oder wenn

chm die Auslegung des Gesetzes ftey gelaßen würde? vor dem Richterstuhle der Vemnnft

und Wahrheit noch nicht zum Vortheil der er­

steren Behauptung,

wie

man gemeiniglich

fälschlich dis vorausstzt, entschieden sey! lind ich denke" zur richtigern Bewtheilung diestr

Streit-

B o r r e d e.

107

Streitfrage selbst, Winke genug an die Hand

gegebm zu haben.

Ich hatte aber glich oben

gleich hinzugefügt: daß, wenn man meinem

Vorschläge in Beurtheilung und gerichtlicher Behandlung der Verbrechen und Verbrecher Gehör gebe;

jene ganze Frage völlig unnüz

sey! und ich denke, ich schon alles gesagt

daß ich nach dem, was

habe, der vielen Worts fhahren könne, um diese leztere Behauptung

soll­ ten alle willkührliche Strafen wegfallen; und blos die natürlichen Folgen des Derzu erweisen.

Nach meinem Vorschläge

brechens (so weit dis der Natur der Sache nach möglich ist^ und es das nothdürftige fernere Bestehen des Verbrechers, als Bürger, er,

laubt,) auf den Verbrecher hingeleitet W er­ den

Dieft natürlichen Folgen kann weder

der Geftzgeber noch der Richter genau zum Voraus wissen und bestimmen.

wenn er geschehen ist, Umstande,

Der Borfalh

und die iedeömakigen

die ihn begleiten, werden sie an­

geben und sichtbar machen. Zwar kamt der sezgeber dem Richter ein allgemeines Verzeich-

niß von gewöhnlichen natürlichen Folgen, die dieses

jo$

Vorrede.

dieses oder Lenes Verbrechen gemeiniglich nach sich zu ziehen pflegt, in die Hande geben; um

es bey der Ausmittelung der gegenwärtigen

wahren Folgert einer vorliegenden Uebelthat zu Rathe zu ziehen.

(Und man wird finden,

daß die gewöhnlichen natürlichen Folgen gemei­

niglich den Leibes und Lebens Unterhalt und die Verpflegung, oder die Ersetzung des guten Nahmens, oder der zeitlichen Güter betreffen.)

Allein die eigentliche Ausmittelung der wahr­ haftigen natürlichen Folgen, würklich find,

die es iedesmal

laßt sich doch nie zum voraus

errathen und bestimmen, am allerwenigsten in

Ansehung der Größe derselben: und dis bliebe

also vornehmlich das jedesmalige noth­ wendige Geschäft des Richters. Hier wa­ ren auch die Gelegenheiten zu Ungerechtigkei­ ten von Seiten des Richters um so mehr cou-

pirt; weil sich der Verbrecher schwerlich etwas als eine natürliche Folge (einer That aufbürden lassen würde,, die es sichtbarlich nicht wäre.

Des herrlichen Seegens. zu geschweigen, dec sich durch solche richterliche Verfahrlmgsart über die Begriffe und ußer die Denkungsart

der

Vorrede.

109

der Nation in dem, was Gerechtigkeit und

eine gerechte Aufführung gegen seine Ne­ benbürger sey und fordere? verbreiten wür­ de! Es versteht sich übrigens von selbst, daß nur die iedesmaligen nächsten; keinesweges

aber die

entfernten natürlichen Folgen,

oder die Folgen jener Folgen, in Betrachtung und Rechnung gezogen und gebracht wer­

den können.

3) Ich könnte*noch mehrere Gründe angeben, die durchaus alle willkührliche Stra­

fen als verwerflich darstellen, und die Verban­ nung derselben aus den Gesezbüchern fordern:

wenn ich nicht einestheils um deöienigen wil­ len, was ich noch in dieser Vorrede zu sagen

habe, den Raum spahren müßte; und andern-

theils sie sich nicht demienigen, der über diese Sache nachdenken will,

in unzehliger Menge

von selbst darbieten würden.

Indessen will

ich doch noch auf einen Gedanken meine Leser

aufmerksam machen.

Man sehe nemlich die willkührlichen obrig­ keitlichen Strafen recht an; so wird man fin­ de^

110

Vorrede.

den, daß sie alle die Natur, die Eigenschaften, und die ganze Besthaffenheit derienigen Uebel an sich hakm, welche die iezt aufgebrachte Lei­

denschaft der Rachbegierde eines Bürgers, der sich von seinem Nebenbürger beleidiget zu seyn glaubt, in ihrer ersten Hitze über diesen herzu­ führen entschlossen und bereit ist.

Wir haben

im dritten Theile dieses Werks pag. 368. ge­

zeigt: daß die Rachbegierde kein Bestreben

sey, sich zu vertheidigen^ sondern ein Verlangm, dem, den man für feinen Belei­ diger halt, zu schaden! Daher wählt diese Leidenschaft eine Menge von Uebeln für ihren angeblichen Feind; ohne sich, darum zu beküm­

mern, ob zwischen diesen Uebeln, die sie. ihm zufügt, und demjenigen Verbrechen, das er

begangen hat, oder haben soll, ein natürlicher

vernünftiger Zusammenhang sey, oder nicht? So wie beym Token der Leidenschaften über­ haupt die Vernunft die schwächste Stimme

führt; so ist es auch ein blindes Glück, wenn die Rachbegierde in ihrer angeblichen Verthei­

digung gegen den Feind einmal würktich ein solches Mittel wählt, das die Vernunft billigen

Vorrede.

in

gen und fyr ein gerechtes Vertheidigungs - Mit­

tel erkennen muß! —

Findet man nicht,

wem man die positiven Strafen der Oeftzhücher die Musterung paßiren laßt; daß

es mit diesen dieselbige Bewandniß habe?

Noch mehr: In Ansehung sehr vieler und der wichtigsten Verbrechen findet man sogar, daß

unter die positiven Strafen in den Geftzbüchern gerade dieselbigen Uebel ausgenom­ men sind, die die aufgebrachte Rachbegier­ de des beleidigten Bürgers in ihrer ersten

wildesten und unbesonnensten Hitze über

feinen Feind hergeführt haben würde! — Welches würde z. E. der erste Ausbruch der

Rachbegierde eines Bürgers seyn, wenn er ei­ nen Mordbrenner, der ihm fein Haus in Flam­ men geftzt, bey feiner Frevelthat ertappte? —

Er würde in der ersten Wuth ihn selbst lebendig in die Flammen stoßen! — Oder,

wie würde sich die Rachbegierde der Verwand­ ten in ihrer ersten Hitze, an dem Mörder ihres

geliebten Freundes rächen? Sie würden ihn

auf der Stelle wieder tödten!— Thut

nun aber der Staat und dje öffentliche Strafgerech-

ii2

Vorrede,

gerechtigkeit nicht dasselbige? Was ist also die öffentliche obrigkeitliche Strafgerechtigkeit in

Ve.rhengung und Vollstreckung ihrer willkührtichen Strafen anders, als : der Stellvertre­

ter der unwürdigen einzelnen Rachbegier-

den der Bürger in ihrer wildesten und tut« besonnensten Hitze?— Man wird mir hier einwenden wollen:

Jene sey doch deswegen

-ein guter Stellvertreter von diesen; weil sie durch ihre vorgängige gerichtliche Untersuchun­

gen zuförderst den wahren Verbrecher und die

wahre Beschaffenheit seiner That auszumitteln suche;

mithin bey ihrer Stellvertretung die

groben Fehler verhütet würden, die die blinde Rachbegierde des Bürgers in ihrer ersten Hitze

leicht dadurch begehen könnte, daß sie Mit ih­

ren Ausbrüchen etwa über einen Unschul­

digen, Äs dm vermeintlichen Verbrecher,

herfiele! oder: wenn sie auch den Schul­ digen traft; diesen zu hart bchandeln möch­ te! Der beleidigte Bürger handle in lei­

denschaftlicher Hiße; die öffentliche Strafgerechtigkeit hingegen mit unintereßirter Kaltblütigkeit! Mein ich antworte hierauf: a) Was

Vorrede.

uz

a) Was das leztere befrist/ daß nemlich die

Rachbegierde des Bürgers seinen Feind zu hart behandeln möchte; so will ich zuvör­ derst nicht leugnen, daß dis in sehr vielen Fäl­ len zutrcffen möchte. Aber es ist auch gar mei­ ne Behauptung nicht: daß die Privat-Rach­ begierde des Bürgers zügellos gemacht werden solle! Keinesweges. Ich will vielmehr/ daß

sowoldiese,alsdie öffentlich stellvertreten­ de Rachbegierde der Strafgesetze, gezügelt werden sollen! Eine taugt so wenig, als die Andere.

Sie sind beyde eine Schande für die

Vernunft und Menschheit. Dis vorausgesezt: so dürften sich im übrigen, wenn man

die Erfahrung zu Rathe zieht, die gegenseiti­ gen Fälle hierinn wol ganz gewiß gegen einanf der aufheben. Wenn es viele Fälle geben möch­ te, wo die Privat-Rachbegierde des Bürgers seinen Beleidiger zu! hart behandeln möchte: so giebt es ganz gewiß und in der That unzehlige andere Fälle, wo iezt die öffentliche und obrigkeitliche Strafgerechtigkeit härter straft; als Jene nimmermehr gestraft haben würde! Der Raum verstattet es. mir nicht, diesen ErSittenlehre, 1V. Th. H fah-

114

Vorrede.

fahrungs - Saz mit seinen unwidersprechlichen Beweisen iveiter auszuführen.

b) Was das erstere befrist, daß nemlich

die Privat-Rache des Bürgers leicht über ei­

nen Unschuldigen herfallen, und diesen als beit vermeintlichen Verbrecher mißhandeln möchte;

da hingegen durch die kaltblütige gerichtliche Untersuchung der wahre Verbrecher zuvörderst ausgemittelt werde: so will ich mich iezt dar­ auf nicht einmal berufen, daß auch Exempel

genug in der Welt vorhanden sind,

wo die

obrigkeitliche Strafgerechtigkeit es bewiefen hat,

einen Unschuldigen zu bestrafen und zu würgen, so gut verstehe; daß sie die Kunst:

als die Privat-Rache! sondern ich will meine

Leser iezt nur vornehmlich darauf aufmerksam machen, daß lener Vortheil, der durchei­

le kaltblütige obrigkeitliche Untersuchung

gewonnen wird,

eben nachher durch die

nachfolgende kaltblütige Vollstreckung der

willkührlichen Strafen wieder verlohren geht; oder, daß der Ruhm der mehrern

UnparHevlichke'it und der richtigern Aus­ mitte-

Vorrede.

uz

Mittelung des wahren Verbrechers, und

der wahren Beschaffenheit seiner That,

womit sich die obrigkeitliche Strafgerech­

tigkeit wider die oft ganz blinden Ausbrü­ che der Privat-Rache, rühmen möchte;

daß, sage ich, dieser Ruhm dadurch ganz und gar wieder vernichtet wird; daß der Staat dasjenige kaltblütig ausführt, was der Bürger nur in der Hitze der Leiden­

schaft gethan haben würde! Die Hitze der Rachbegierde verkühlt sich mit der Zeit wieder

bey dem beleidigt gewesenen Bürger: und so­

bald seine Leidenschaft abgespannt ist; tritt die

Vernunft an ihre Stelle.

Nun lauten aber

auch seine Urtheile über seinen Beleidiger und

dessen That ganz anders; als vorher,

Er ist

nun desjenigen Verhaltens gegen seinen Feind

nicht mehr fähig, wozu ihn vorher die Hitze der Leidenschaft hingerissen haben möchte.

Er

wird nun den Mordbrenner nicht mehr verbren­

nen;

den Mörder seines Freundes nicht hin­

terher auch noch würgen wollen: denn seine

Vernunft begreift es,

daß er dadurch weder

sein Haus, noch seinen Freund wieder gewinH 2

nen

n6

Vorrede.

nen werde! begreift es, daß geschehene Dinge

nicht ungeschehen

gemacht werden können.

Die möglichste Schadloshaltung fürs ge­

genwärtige; und die möglichste Sicherstellnng seiner Wohlfarth fürs künftige; wird

worauf sich seine gekränkte

alles seyn,

Selbstliebe mit ihren Forderungen und Wünschen einschränken wird.

Will man

mir nicht glauben: so möchte die Obrigkeit ein­

mal die Probe machen; und,' wenn nach einem halben Jahre ein Missethäter zum Schaffst geführet wird; dieienigen Bürger auffordern, die

durch dessen Verbrechen zunächst beleidiget wor­

den waren!

Ich sage, hie Obrigkeit möchte

sie nun auffordern, -aß sie ihn selbst tödten

möchten! Würde wol ein Einziger Lust und Kraft bey sich fühlen, ausstrecken zu wollen,

seine Hand wider ihn

oder zu können?

Ja

die Obrigkeit dürfte es diesen Beleidigten nur

frey stellen, daß es von ihrem Urtheile ab­

hängen sollte: ob der Missethäter am Le­ ben gestraft, oder beym Leben erhalten

werden solle?

Wohin würden die Stimmen

fallen? — Nur der verworfenste Charakter,

der

Vorrede.

f 17

der wol eines unversöhnlichen Hasses, aber kei-

ms menschlichen Gefühls fähig wäre;

würde

ihn noch getödtet wissen wollen. —

Allein

was thut nun die stellvertretende, und

eben daher kaltblütige obrigkeitliche Straf­ gerechtigkeit? Sind die Strafgesetze, nach welchen sie richtet und verdammet, die Urtheile

einer,

von ihrer Heftigkeit schon abgespann­

ten, und von ihrer ersten Hitzeschon abgekühl­ ten Leidenschaft der Rachbegrerde beleidigter

Bürger? oder sind sie nicht vielmehr die Ur­ theile der erregten,

Leidenschaft?

fordernden und tobenden

Nur die Augen aufgethan; so

wird man das leztere wahr finden!

Die öf­

fentliche Strafgerechtigkeit straft also so,

wie der entbrandte beleidigte Theil strafen würde! Sie ist ein Stellvertreter; aber nicht der Vernunft des Bürgers! sondern seiner Leidenschaft! Oder, wenn die Hand­ lungen der öffentlichen Strafgerechtigkeit als

Handlungen der kaltblütigen Vernunft gelten

was thut denn die kaltblütige Vernunft desgesezgebenden

und angesehen werden sollen:

und richtenden Theils in der Gesellschaft, H 3

indem

ns

Vorrede.

indem sie willkührliche Strafen verhängt und vollzieht? — Sie thut dasjenige, was nur die Leidenschaft des Bürgers in ihrer wil­ desten Hitze zu thun fähig wäre; was ihm aber seine Vernunft nie zu thun erlauben würde! Wenn das unleugbar ist; sollte sich denn iene öffentliche Strafgerechtigkeit einer solchen un­ würdigen Stellvertretung nicht bitterlich schä« men?

Dritte Anmerkung.

Ich finde es nö­

thig, ehe ich diese Vorrede schließe, noch ei­ nen gewissen müßigen und nüchternen Einfall

abzufertigen; der, wie ich höre, manche Kö­ pfe über die gefährlichen Folgen beunruhigen soll, die die Lehre der Nothwendigkeit, ih­ rer Meynung nach, bey dem großen Haufen nach sich ziehen dürfte. Wofern der Deter­ minismus, sagen sie, als eine wahre Lehre all­ gemein erkannt und angenommen werden sollte; so dürfte sie leicht das Losungs-Wort zur Be­ gehung der ärgsten Bosheiten und Missethaten werden! Welcher Bösewicht wird sich nicht mit Dem Gesetze der Nothwendigkeit, dem er

in

Vorrede.

119

in seinem Handeln unterworfen ist, entschuldi­

gen wollen? Und zu welchen neuen Frevel­

thaten, an die er vorher nicht dachte, oder die

er sich wenigstens nicht erlaubt haben würde; wird er sich nun durch iene Lehre für berechti­ get halten?

So, wie man nach dem Inhalt

der zweyten Anmerkung, welche ich in der Vorrede zum dritten Theile gemacht habe, die

kehre der Nothwendigkeit eine ignava ratio schalt; und sie beschuldigen wollte, daß sie den Menschen faul machen und ihm zum Bewe­

gungs-Grunde dienen könnte;.um seine Han­ de müßig in den Schooß zu legen: so fürch­

tet man nach diesem gegenwärtigen Einfall von ihr, daß sie den Menschen zu thätig machen, und ihm kräftige Aufforderung seyn werde, al­ le Bande der Zucht und Ordnung von sich zu

werfen; und unter dem Vorwande, daß er nothwendig handle, seine Kräfte mit wilder Zügellosigkeit zur Zerstöhrung alles gesellschaft­

lichen Wohls geschäftig sey»: zu lassen.

Mit

einem Worte:

der

dort fürchten

man:

Mensch würde, von der Lehre der Nothwen­ digkeit verführt,

zu

wenig thun.

H 4

Hier fürch-

!2Ö

Vorrede.

fürchtet man: Er werde zu viel thun. Ich will meine Antwort in einzelnen Sätzen vor­ legen. i) Zuförderst muß das schon einen gerechten Verdacht wider diese beschuldigende Behauptun­

gen erwecken: daß sie beyde auf gerade entge-

gengesezte und sich einander widerspre­ chende Extremen hinauslaufen. Wir kön­ nen, wie in allen dergleichen Fällen, also auch

hier, schon zum voraus vermuthen: daß die

Wahrheit ganz gewiß in der Mitte liegen; und der Determinismus also weder eine Hewfette, noch eine Schleuder für die Thätigkeit her Menschen seyn könne und werde.

3) Ist es sonderbar: daß dieiem'gen, wel­ che dem Determinismus einen von beyden obi­ gen Vorwürfen machen, dir Lehre der Noth­

wendigkeit selbst, und an und für sich be­ trachtet, als Wahrheit gelten lasten; wi­ der deren Beweißgründe sie nichts einzu­ wenden wissen! uud daß sie folglich zugeben: daß die Lehre von einer ungebundenen Freyheit des Millens em Irrthum sey ! Ich

Vorrede.

121

Ich will nicht blos von denen sagen, die mit

ausdrücklich darüber ihre Erklärung mündlich und schriftlich dahin von sich gegeben haben: daß sie es zugestehen müssen, daß sich wider

das System der Nothwendigkeit, so wie ich es in meinem Werke vorgetragen hatte, ihrer Einsicht nach, nichts mit Grunde einwenden

ließe; daß sie aber doch davon gefährliche Fol­

gen auf Die Menschlichen Gemüther befürchte­ ten: sondern ich behaupte auch, daß ein Ze­ der, der dem Determinismus dergleichen ge­

fährliche Würkungen anschuldigen will, und ihn sonst durch nichts als durch falsche Consequenzenmacherey anzugreifen weiß;

dadurch

schon so gut, wie ausdrücklich eingestehe: daß

er die Lehre der Nothwendigkeit selbst für wahr und unbeftreitlich halte. Denn, wo­ fern er in den Vernunftschlüßen selbst,

auf

welche sie gebaut ist, eine Lücke entdeckte, die das Gebäude unzusammenhängend und un­

haltbar machte: so würde er doch als ein ver­ nünftiger Gegner seinen Angrif gleich und ge­

rade zu auf diese entdeckte schwache Seite des Systems selbst richten; weil, mit dem Umsturz

H 5

dessel-

i22

Vorrede

Desselben, alles übrige, was damit zusammen­

hangen könnte und möchte, von selbst über den Haufen fallen müßte!

Allein diese Beurthei-

ler finden das Lager, welches die Wahrheit

der Lehre der Nothwendigkeit sich aufgeschka-

gen hat, von allen Seiten zu fest, als daß ein Angriff auf sie selbst möglich wäre.

Es bleibt

ihnen also nichts übrig, als es abwarten zu müssen, wohin sie etwa bey erfolgtem Aufbruch

ihren Marsch nehmen? und ob sie den Ländern

und Völkem, wohin sie ziehen möchte; See­ gen und Beglückung? oder Verwüstung und

Fluch zufkchren werde?

Und hier, halten sie

dafür, seye mehr das leztere zu fürchten! als das erstere zu hoffkn!

volle Freunde!

Allein, ihr sorgen­

bedenkt euch doch ein wenig

über das, worüber ihr euch Sorge macht! — Wenn ihr zugebet: daß die Lehre der Noth­

wendigkeit, Wahrheit; und die Lehre vom

fteyen Willen des Menschen, Irrthum und Lüge sey! und denn iene in ihren Fel­ gen gefährlich, und diese in den ihrigen

beglückend finden wollt: ist das nicht die halbe Sünde wider den heiligen Geist, der ihr

euch

Vorrede. euch schuldig macht?

123

Ist!: es nicht eine offen­

bare Lästerung der Wahrheit; und eine feyer-

liche Lobpreisung der Lügen? — Was für arme verlohrne Wesen wären wir alsdenn;

wenn die Wahrheit uns unglücklich ma­ chen könnte und müßte? und nur der Irr­

thum eine Quelle des Seegens für uns wä­

re? Und wie widersprechend;

noch Mehr:

mit welcher ausdrücklichen absichtlichen Anla­

ge, um ganz gewiß elend und unglück­ lich seyn zu sollen; wären wir alsdenn gebil­ det! da uns Durst und Trieb nach Erkennt­

niß; da uns Verstand, Vernunft und die Fä­ higkeit, Wahrheiten sammlen zu können und

zu müssen,

gegeben sind? wenn gleichwol die­

se Wahrheiten das tddtende Gift unserer Ruhe,

Zufriedenheit, Freude und Glückseligkeit wä­ ren? Ist die Wahrheit das Bessere, und der Irrthum das Schlechtere! so deutlich: Ein

guter Baum könne nichts anders als gute Früchte; und ein fauler Baum könne nichts anders als arge Früchte bringen?-------Fast sollte man glauben, daß der fieberhafte

Anfall, in welchem einmal die Weisheit einer gewiß

Vorrede.

i24

gewissen Academie auf den unglücklichen Wahn geriech: daß die Täuschung desVolks durch

gewisse Irrthümer,

doch wol vielleicht

vortheilhafter seyn möchte; als seine Auf­

klärung, so ansteckend gewesen: daß er auch die Sinne vieler zerrüttet habe, deren schlichter

Menschen - Verstand sonst von dergleichen An­ wandelungen frey geblieben styn würde.

3) Um alles Mißverständniß zu verhüten,

wollen wir die vorliegende Streiffrage genauer bestimmen.

Es ist nicht davon die Frage: ob

nicht der Mensch hinterher, nachdem er gehan­

delt hat;

mit dem vollkommensten Rechte sa­

gen könne: Ich bin mit meiner Handlung

dem Gesetze derNothwendigkeit unterwor­ fen gewesen? —

Ich habe es tausendmal

gesagt, daß dis auch der allerärgste Missethä­ ter von der allerabscheulichsten Handlung, die

er ie begangen hat, der strengsten Wahrheit

gemäß,

sagen könne!

Sondern, es ist davon

die Frage: ob der Gedanke: „Du handelst

nothwendig," irgend einem Menschen ein

besonderer., und für sich kräftiger Antrieb jemals

Vorrede. jemals seyn und werden könne;

125 irgend

eine Handlung, sie sey gut oder böse, zu begehen?

Ob die nackende Vorstellung

der Nothwendigkeit an sich te ein Bestim­

mungsgrund,

und ein bewegendes oder

antreibendes Prinzipiumfürden handeln­ den Menschen seyn und werden könne?

dergestalt, daß ein Mensch aus dem Grmde, weil er weiß, daß er mit seinen Handlun­ gen überhaupt dem Gesetze der Nothwen­

digkeit unterworfen ist, sich zu einer gewis­ sen Handlung entschließen könne, zu der er sich

sonst nimmermehr entschlossen haben würde; weil er sonst keinen Bewegungsgrund dazu hat­

te? — Oder, ob dis vielmehr der ganzen menschlichen Natur, dem ganzen Trieb­

werk derselbe» und allen denen Gesetzen,

nach welchen ein Mensch des Handelns nur fähig ist,

widerspreche? Ich denke,

daß

nichts leichter sey, als sich von dieser leztern

Behauptung zu überzeugen.

Denn:

4) Man sage mir doch, wo auch nur der

mindeste vernünftige Grund zu der Besorgniß

liege:

u6

Vorrede,

daß die Lehre der Nothwendigkeit Freveler und Bösewichter bilden könne? liege:

Was macht denn den Menschen handelnd? Ich denke Nichts sonst/

als

seine. Selbstliebe!

Dis ist ia die einzige Triebfeder aller und ieder unserer Handlungen ohne alle Ausnahme. Und wodurch wird diese Selbstliebe gestimmt,

re­

giert und gelenkt? Durch nichts anders, als durch die Empfindungen, Vorstellungen, Meynungen und Erkenntnisse, die der Mensch von

seinem Glücke hat!

Wo chm seine iedesmali-

gen Vorstellungen und Erkenntnisse das Ziel seines Glücks anweisen; dahin streckt sich seine

Selbstliebe mit ihren handelnden Kräften. Al­ le seine sogenannten freyen Handlungen, die er unternimmt, haben cklfo stets die Vermeh­ rung seiner Glückseligkeit zur einzigen Absicht. Eine andere können sie schlechterdings nicht ha­ ben;

weil die ganze Einrichtung und Verfas-

snitg seiner menschlichen Natur iene nur einzig u»t> allein zulaßt.

Falle,

Wenn nun also in iedem

wo der Mensch mit Bewußtseyn han­

daß er sich nach dem größten Glücke streckt, das er iezt delt, sein Handeln darinn besteht,

Vorrede.

127

iezt für sich zu gewinnen, für möglich halt? wie soll mir denn nun ein Mensch mit Beyseitsez-

zung aller der Berechnungen, ob sein Glück oder

Unglück dadurch gefördert werdet sich zu irgend einer Handlung entschließen,

und sie be­

gehen können; pur und allein durch den einfa­ chen Gedanken dazu getrieben: Er wolle so

handeln; darum, weil alle Handlungen

nothwendig waren? Wenn ein Mensch auch die kleinste und unbedeutendste Handlung un­ ternehmen;

wenn er ein Blättchen unnützen

Pappiers zerschneiden wollte , unter dem Vor­

wande:' „Er habe gar keine Bewegungsgründe dazu, die Mit feinem Glucke in Verbindung standen; seine Selbstliebe sey bey dieser Hand­

lung ganz unintereßirt: nein, er handle iezt nur bloß und allein durch die Vorstellung dazu

bewogen, daß alle menschliche Handlungen

nothwendig waren:" wer siehet nicht, daß dis ein nichtiges Vorgeben; und die Absicht,

sich oder Andern ein kleines spashaftes Ver­ gnügen zu machen, das wahre Interesse sey, das ftlne Selbstliebe bey seiner gegenwärtigen

Handlung habe? Warum zerschneidet er denn

Nicht

V o r r e d e.

i28

nicht aus demselbigen angegebenen Gründeten so leicht eine Schuldforderung von tausend

Pfund, die er an einen Andern in.Handen hat? Offenbar doch wol darum nicht,

weil seine

Selbstliebe den Kaufpreis für ein so kleines

Vergnügen,

zu hoch finden würde!

Oder

will man sagen, daß es doch wol einmal der Fall seyn könne, daß ein Mensch umsonst und

um nichts ein solches Document zerschnitte: so wird man auch zugeben müssen; daß dis von ihm entweder nur in völliger Gedankenlo­ sigkeit, oder auf Anregmig blos dunkeler Em­

pfindungen ohne alles Bewußtseyn geschehen

könnte;

wobey also auch keine Vorstellung,

von der Nothwendigkeit im Handeln, bey ihm ins Spiel käme:

oder alle Welt wird den

Menschen mit Recht für wahnsinnig erklären. — Wer noch mehr braucht, um sich hievon zu über­

zeugen,

daß die Vorstellungen von unserm

Glück und Unglück die einzigen Bewegungs­

gründe unserer freyen Handlungen sind;

der

entschließe sich einmal iezt, das Buch zuzuma­

chen,

und hinzugehen und das erste das beste

Haus in den Brand zu stecken! Er muß aber

hiebey

Vorrede.

119

Hiebey keinen Vorstellungen/ ob ihmdteseHand-

lurg auf irgend eine Artvortheilhaft oder schäd­ lich seyn werde? ob es das Haus seines Freun­ des oder Feindes sey? ob es am Tage oder in der Nacht; unter den Augen oder in dek Ab­ wesenheit anderer Menschen geschehe? mit ei­ nem Worte, ob Gefahren oder Hostnungen für ihn dabey Statt finden; ich sage, er muß keinen solchen Vorstellungen, die auf feine Selbstliebe den mindesten Bezug haben, dabey Gehör geben! Er thue es, blos um zu zeigen, daß die einfache Vorstellung von der Noth­

wendigkeit der menschlichen Handlungen einen Menschen zum Mordbrenner ma­

chen könne! Wenn er das kann; so will ich der Erste seyn, der den Determinismum ver­ flucht.' Wer nur einigermaßen ein halbes Nach­ denken über diesen Vorwurf übt, der wird sich sogleich überzeugen: daß die Nothwendigkeit selbst gar nicht als eine besondere, würkende Kraft; sondern als eine bloße Eigenschaft der­ jenigen Dinge angesehen werden müsse, von welchen sie pradicirt wird. Die NothwendigSittenlehre. tv. Th.

I

kech

Vorrede.

rzv

feit, mit der ein Stern, der seine Unterstützung

verkehren hat, von einer Höhe fallt; haftet in ferner überwiegenden Schwere:

und ist

nichts anders, als eine, aus der ganzen Ra­

sur und körperlichen Beschaffenheit des Steins

sowol, als atts seiner gegenwärtigen Lage, resultirende Eigenschaft.

Man nehme dem Stei­

ne seine Schwere; oder, man gebe ihm eine Urrterftützung:

so ist feine Nothwendigkeit, zu

fallen, vernichtet. —

Nicht anders hat die

Nothwendigkeit im Handeln bey dem Menschen ihren zureichenden Grund irr der ganzen Ein­

richtung seiner menschlichen Natur; in der Be-

fthaffenheit seiner Bestandtheile, und der Art, wie sie zusammengesezr sind; in denen daraus

entspringenden Fähigkeiten und Kräften des

Menschen; und in der äußerlichen Lage, in

welcher sich der Mensch mit seinem Vermögen zu empfinden, zu denken Md zu handeln befin­

det.

Man verändere diese Dinge; so ist jene

Nothwendigkeit auch verändert.

Die Noth­

wendigkeit, sage ich, ist also eine bloße Eigen­ schaft, die von denen Dingen, deren Eigen­

schaft sie

ist,

nicht

getrennt

gedacht werden

kann;

Vorrede. kann;

izr

so wenig, als sich die Rundung eines

Tisches, als etwas besonderes, als von dem Tische selbst getrennt, und als etwas, das

außer ihm da seyn könnte, gedenken läßt. Mit­ hin gebe man doch auch nicht der Nothwendig­ keit etwas Schuld,

woran blos die Dinge,

deren blosse Eigenschaft sie ist, die einzige wahre Ursach sind! Man feinde doch die Nothwem

digkeit im Handeln bey demUebelthater nicht an: wenn seine Selbstliebe und die Vorstes lungen, die er von seinem Glücke hatte,

die nothwendigen Triebfedern waren, nach welchen er nothwendig handeln mußte: Oder, mit andern Worten:

Man glaube doch nichtz

daß die Lehre der Nothwendigkeit einen Men-

schen schlimm machen, und zu Schandthaten verleiten könnte,- die er sonst nicht begangen

haben würde: da seine Selbstliebe und die te® desmaligen Vorstellungen von seinem Glücke,

die einzigen Dinge sind, die ihn nur handeln­

machen können! Man gebe Acht auf das, was in der Weit

gesihiehk, und man wird finden: daß, wenn ein neuer Lehrsaz auf die Bahn gebracht wird, 2 a

durch

LZ2

Vorrede.

durch welchen eine alte Religions- Meynung, die, sie mag auch in sich so falsch, abenteuer­

lich uno dem Wohl der Menschheit schädlich seyn, als sie immer wolle; die doch nun ein­ mal herrschend geworden war, und seit langer

Zeit unter den öffentlichen allgemeinen Mey­

nungen der Menschen das Bürgerrecht gewon­ nen und behauptet hatte;

ich sage, man wird

es unter den Gewohnheiten in der Welt finden,

daß, wenn ein neuer Lehrsaz auf die Bahn ge­ bracht wird, durch welchen eine alte schon ge­ huldigte Religions-Meynung über den Hau­ fen geworfen wird; daß alsdenn die Vertheydiger der Lejtern^ wenn sie nicht weiter kom­

men können, gemeiniglich in das Gefchrey aus­ brechen:

„Wenn diese Religions-Lehre weg­

fallensoll? so sind die Bande zerrissen, die das

Volk noch in Zucht und Ordnung halten! so fallt alles hinweg,

gel war!

was noch Zaum und Zü­

so ist allen Lastern Thür und Thor

geöffnet! so kann ein Jeder thun, was er will!" Ich sage,

man nehme einen neuen

Lehrsaz, welchen man wolle;

greift derselbe

ein theologisches Hirngespinst an? so ist ienes blinde

Vorrede.

rzz

blinde Geschrey schon das, auf einen solchen Vorfall längst componkrte Liedchen, das das Heer der achten Theologen und Geistlichen sowol, als auch "derer weltlichen Standes, die ihre Vernunft am geduldigsten von Jenen un­ ter den Gehorsam des Glaubens hatten gefan­ gen nehmen lassen, anzustimmen gewiß nicht verfehlen werden. Man kehre den Fall um. Gesezt, die Lehre her Nothwendigkeit wäre die zeither herrschende Lehre gewesen: und es träte

Jemand auf, der da behauptete: daß der Wille des Menschen in seinen Entschließungen frey und unabhängig wäre! so würde Lenes Geschrey nicht weniger gehört werden. Freylich würde es m dem leztern Falle noch mit einigem meh­ rerem scheinbaren Rechte gemacht werden ktzn. nen; als es in dem gegenwärtigen Falle, wo

der Determinismus dem Jndeterminismo den Krieg ankündiget und ihn aus dem Lande, das er zeither usurpirt hatte, zu verdrengen drohet; geschehen kann. Und ich finde nöthig, dis noch durch ein paar Worte in em naheres Licht. zu setzen.

I 3

Wäre

134

Dorre d e.

Ware der menschliche Wille würklkch frey,

vnd in seinen Würkungen von allen Vorstel­

lungen und Bewegungsgründen des Verstan­ des unabhängig: Gott, welche schreckliche Un­

sicherheit wäre alsdenn in der menschlichen Ge­

sellschaft für das Wohl eines Jeden da! Ich

wäre La bey meinem besten Freunde nicht sicher, sondern stets der Gefahr ausgesezt; daß es sei­ nem Willen, der an kein Gutachten, an keine

Motive des Verstandes gebunden, wäre, ein­ fallen machte: mich pldzlich zu erwürgen! Der

arme Mensch könnte auch selbst nichts dafür, wenn er es thäte.

Es könnten ihm keine Vor­

würfe darüber gemacht werden.

Denn sein

Wille wäre ein soaverainer Herr, der keiner

Vernunft unterworfen wäre; sondern aus ei-,

gener Macht und aus eigenem Triebe sich ent­

schlösse, wie es ihm gerade einfiele! und seine handelnden Kräfte, durch welche der Entschluß ausgeführt wurde, waren ia die bloßen Instru­

mente in der Hand des blinden Willens.

Der

arme Mensch wäre auch keiner Besserung fähig.

Denn wodurch sollte diese bey ihm bewürkt werden?— Etwa durch Unterricht und Vor-

stellun-

rzz

Vorrede.

stellungen? Aber diese Dinge sind ia m'cht das, ienige, wodurch der despotische Wille gezügelt

werden könnte!

Wenn doch diejenigen,

die

die Lehre der Nothwendigkeit, als eine Ver­

führerin zu den gröbsten Schandthaten und Zü­ gellosigkeiten anfeinden tvollen; nur ein klein

wenig nachdenken wollten: was aus emer

ungebundenen Freyherr des Willens für

fchreMche Dinge zu erwarten und zu be­ fürchten standen; so würden sie über die Ver­ blendung^ in der sie waren, erschrecken! eine

Verblendung, die so groß ist, daß sie gerade

dasjenige, was die unmittelbare und unausbleibkiche Folge der Freyheit, des Wil­

lens, wenn sie würklich wäre, feyn müste;

dem Determinismus Schuld geben wol­ len, der die fthnur gerade entgegengesezte

Ich habe.schon im

Folgen nach sich zieht:

ersten Theile pag. 164. u. 170, gesagt: „daß,

„wenn eine würklicye Freyheit des Willens, „Statt fände; alsdenu auch die beste Sittenlch-. „ re ganz unnüz seyn würde.

Ermahnen, Blt-

„ten, Drohen, Straftn, Verbrechen, Ve­ rlohnen, alles würde ganz vergeblich seyn.

«5 4

>» «ölt

13,6

Vorrede.

„Die ganze menschliche Tugend, alle Gesetze, „Regeln, und Verbindlichkeiten würden keine „Kraft und Reize haben. Keine Gelübde, „Eide, und Betheuerungen würden den Men„schen binden und festhalten können; wenn seilt „Wille despotisch; und er in seinen Handlun„gen, nach der Einrichtung seiner Natur, von „allen Bewegungsgründen und Erkenntnissen „unabhängig wäre. Kein Mensch würde ei?

„neu Eharacter haben; tyeil er keine festen „Grundsätze seiner Handlungen hätte. Stün„ve es so mit uns; so würden wir uns auf kei,,nen Menschen, selbst auf unsern besten Freund „nicht verlassen, uns auch nicht einen Augen„ hliek bey. ihm sicher halten können. Kurz, ich „möchte um alles in. der Welt willen nicht in „einer Gesellschaft, leben; wo ein Jeder ohne „alle Betyegungsgründe blinde Entschließun-

„gen fassen,, und ohne irgend eine Regel han„deln könnte l Hier würde ich überall, der Rauh

„'eines bloßen Zufalls seyn."

Die Verfechter der Freyheit des menschlihchen Willens bedenken gar nicht;

daß sie ge? tzado

Vorrede.

137

rade durch diese ihre' Behauptung der

Freyheit, Erz-Fatalisten sind! Was ist der Determinismus?

Was ist der Fatalismus?

Der Determinist behauptet: daß ewige und

unwandelbare, aber zugleich die weisesten

Gesetze da sind, nach welchen alle Verän­ derungen und Begebenheiten in der Na­

tur, mithin auch alle Handlungen der Menschen, nothwendig erfolgen; und nach welchen sich alles zu den herrlichsten Absich­

ten und Zwecken entwickeln muß.

Der

Fatalist hingegen behauptet eine solche eiser­

ne Nothwendigkeit aller Dinge und Be­

gebenheiten, folglich auch der menschlichen Handlungen in der Welt, die von einem blinden Ohngefehr herrührt; an keine Re­

geln und Gesetze gebunden ist; auch keine vernünftigen Zwecke und Absichten zum

Ziel hat.

Ich gebe es gerne zu, daß. unsere

christlichen Theologen in Ansehung aller übri­ gen Begebenheiten in der Natur, eine göttli­

che Vorfthung lehren, und folglich in Ansehung der, ausserhalb dem Würkungs - Creyse dee.

Menschen sich zutragenden natürlichen EreigÄ 5

Nisse,

!Z8

Vorrede.

Nisse, keine Fatalisten sind: aber in Ansehung

-er menschlichen Handlungen sind sie durch

ihre Behauptungen einer ungebundenen

Freyheit des menschlichen Willens, die äch­ testen Fatalisten von der Welt! Sie unter­ schreiben also gerade dem allerwichtigsten

Hauptartikel des trostlosen Fatalismus!— Wenn also auf einer von beyden Seiten, ent­

weder beym Determinismus, oder bey der

Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens, Unglück zu befürchten ist: auf wel­ che Seite wird sich die Schaale neigen? Warlich nicht auf die Seite des Determinismus, der es lehrt: daß die Selbstliebe die einzige Triebfeder aller menschlichen HaMungen sey!

daß sie selbst aber durch die iedesmaligen Vor­ stellungen, die der Mensch von feinem Glücke

hat; in ihren Würkungen bestimmt, regiert und gelenkt werde! Hier bin ich also bey mei­

nem Freunde sicher; hier weiß ich, wie ich mei­

nen Feind auf andere Gedanken und.Entschliessimgen bringen; wie ich dem ruchlosesten Fre-

veter beykommen könne,

um das Triebwerk

und die Gewichte an der Uhr, die er selbst ist,

so

Vorrede.

139

so zu verändern, daß sie einen bessern Ton an­ geben,

und einen richtigern Schlag

halten

muß! Hingegen bey der fatalistischen Lehre

deS freyen Willens!— Ja, hier würden schon tausendfaches Elend und Unglück dm Erdboden

längst

überschwemmt,

und das

menschliche Geschlecht sich selbst aufgerieben haden: wenn sie wahrhaftig Wahrheit, und nicht vielmehr, zum unaussprechlichen Glück

der Welt und des Menschengeschlechts, eine

Erzlüge wäre! ein bloßes Hirngespinst, mit welchem sich die Phantasie des Menschen etwas

vom Besi'z einer Freyheit vorgauckelt; wäh­

rend daß der Mensch selbst, in allen seinen Em­ pfindungen, Gedanken, Entschließungen, und

Handlungen an daS feste Seil der Nothwen­

digkeit wahrhaftig unauflößlich gebunden

einhergeht,

und nolens volens einhergehen

muß!— Diese in actu sich befindende Noth­ wendigkeit, sage ich, ist noch unser größtes Glück! Wem man aber auf die schrecklichen Folgen sieht, die die Lehre von der Freyheit des

menschlichen Willens fowol in Ansehung Selbstbeurtheilung unserer eigenen Handlun­

gen;

Vorrede,

i4 sehr bewunderte Zärtlichkeit der Eltern gegen ihre Kinder; die so sehr gepriesene Freundschafts--Treue;

die oft romanhafte grosmüthigeAufopferung für seinen Freund oder Verwandten; gerade zu ein Laster!

wenn sie gegen die höhere Pflichten gehalten wird, die

man der Gesellschaft schuldig ist.

Ist es nicht un­

vernünftig; den Ruhm eines allgemeinen Mens

fthenfreundes, dem kleinen und nur allzuoft phan­

tastischen Rahmen der Freundschasts und Verwandrschafrs Liebe,

es sey in welchem Falle es

wolle, aufzuopfern? Die Wohlfarth der großen Ge­ sellschaft des ganzen Menschengeschlechts,

ist ia das

Ziel, wohin alle Absichten der Vaterlands-Gesellschaft ten und der Privat-Freundschaften und Verwandtschaf­

ten gerichtet seyn müssen! Jene große Gesellschaft ist das Ganze; diese kleineren Verbindungen sind die Thei­ le ieneS Ganzen.

Jede der leztern also, die jener wi­

derspricht; ist unanständig und schändlich: und jeder

Vortheil, den du durch die leztern kleinern Verbindun­

gen gewinnen könntest; verdient mit Abscheu verwor­ fen zu werden, wenn er der allgemeinen Wohlfarth

zum Nachtheil gereicht. — Alle Privat-Freundschaf-

ten, alle Verwandtschafts-Verbindungen, die von ei­ ner blinden Partheylichkeit, von einem Eigennütze, der

sich von der Wohlfarth der übrigen Gesellschaft trennt;

belebt und unterhalten werden: sind um nichts besser als

i 2

eine

164

Von der Gütigkeit überhaupt,

eine öffentliche Räuberbande; als eine nieder­

trächtige Rotte von Verrärhern.

Ja iene

sind eben darum, weil sie öffentlich bestehen dürfen, und für ihr Daseyn eine Art von Privilegium haben;

in ihren verwüstenden Würkungen für die Wohlfarth der größer« Gesellschaft,

als diese.

oft tausendmal schädlicher,

Es liegen bey jenen eigennützigen Freund­

schafts und Verwandtschafts Verbindungen eben die finstern und unglücklichen Absichten zum Grunde, wie

bey den Räuberbanden: und diese haben im übrigen eben die Kenntzeichen und Eigenschaften der Freund­ schaft an sich; auf welche iene stolz seyn wollen. Aehnlichkeit der Gemüther und Neigungen, gemeinschaft­

liche Vortheile, Verschwiegenheit, Dienstbeflissenheit, Leistung des Beystandes und der Hülfe, gegenseitiges

Vertrauen, ia sogar Zärtlichkeit und eifrige Liebe für einander:

alles dis finde ich bey der Räuber­

bande so gut,

als bey ienen Freundschaften

und Verwandtschaften.

Und wie viele Freund­

schaften rind Verwandtschaften findet man, die ienen schändlichen Flecken eines niederträchtigen Eigennrißes

nicht an fich tragen? und wo kein Privat-Interesse die Verbundenen oft aufKosten der allgemeinen Men­ schenliebe handelnd macht?

Nur ein zu schwacher

Kopf, als daß er eine Uebersicht her wahren menschli­ chen Vollkommenheit und Glückseligkeit fähig wäre; nur

Von der Gütigkeit überhaupt.

165

nur ein zu enges Herz, als daß es eine allgemeine Men­ schenliebe fassen könnte; gehören dazu; um sich mrc

kleinen und kriechenden Absichten in den engen Zirkel stiner Verwandtschaft und Freundschaft einsperren; hier

nur allein qlles gut, schön, liebens, und lohenswürdtg

finden; hier nur mit eigentlichem Gefühl und würklicher Theilnehmung an Freude und Traurigkeit leben;

und den Bestrebungen feiner Kräfte zur Beförderung der Wohlfarth Anderer, hier das erste und lezte Ziel

setzen zu können!

mehr sich hingegen eine Freund,

schäft auf wahre und für die Gesellschaft ersprießliche

Eigenschaften gründet, die man an dem Freunde wahr­ nimmt; und ie mehr die Hochachtung und Liebe nur

-en guten Eigenschaften des Freundes angemessen bleibt:

desto vernünftiger, edler und dem Menschen anständi­ ger ist sie nicht nur; sondern desto fester und sicherer ist auch der Grund der Freundschaft selbst; desto dauerhaf­ ter wir- sie also auch bestehen. Alle Freundschaft aber,

die die Embilduyg hauptsächlich stiftete; die etwa aus blos müßigem Einfall, oder aus Eigensinn, oder aus

Liebe zum Sonderlichen, oder aus andern Vorvrtheilen entstand; die sich etwa nur auf Gewohnheit^ oder blos­ se Aehnlichkeit gewisser Neigungen, oder auf Eigen* nuz, auf Gewährung sinnlicher Vergnügungen haupt­ sächlich gründete; oder, die eine gewisse blos sinnliche Anhänglichkeit an gewisse Personen war, die. uns ge-

L 3

fielen,

166

Von der Gütigkeit überhaupt,

fielen, ohne daß wir selbst sagen konnten, warum? das sind auch gemeiniglich sehr kurze Zeit währende

Freundschaften! Je größer die Hitze der Leidenschaft

war, mit der sie entstanden; desto gewisser und ge­

schwinder pflegen sie zu erkalten, und aus diesem Kalt­ sinn sich endlich wol gar in gegenseitige Verachtung und

bitteren wechselseitigen Haß aufzulösen.

3) Eben so verhält es sich auch mit der Vater«

lands-Liebe.

Auch diese muß ein Zweig der allge­

meinen Gütigkeit und Menschenliebe seyn, wenn sie

Billigung und Lob verdienen soll.

Wenn eine Vater­

lands-Gesellschaft von einer weisen Obrigkeit durch sol­ che Gesetze regiert wird, die das Glück der Gesellschaft

zur Absicht haben; die die Kräfte derselben in ihrer

Thätigkeit auf dis Ziel Hinweisen; und die Freyheit zu

handeln, bey den Bürgern nur da einschränken, wo sie für die Wohlfarth des Ganzen zerstöhrend werden wür­ de; wenn die Einwohner dieses Landes von einem all­ gemeinen Geiste der Eintracht und des Wetteifers be­

lebt werden, sich durch schöne und nüzliche Handlun­ gen, die zur Abhelfung der Bedürfnisse/ und Vermeh­

rung des Glücks in der Gesellschaft dienen, hervorzuthun; und ein Jeder in seinem Berufe nach Maaß­

gabe seiner Kräfte hierin dem Vaterkande die besten Dienste zu leisten sich bestrebt; wenn endlich diese ganze

Vater-

Von der Gütigkeit überhaupt.

167

Vaterlands-Gesellschaft, alle Ausländer, als ihre Brü­

der ansiehk, die durch weiter nichts, als durch gewisse Grenzlinien auf der Oberfläche der Erde; durch andere

Menschen, die sie zur Obrigkeit habe«; durch andere

Gesetze, nach welchen sie regiert werden; und durch ei­

nige andere Unterschiede, -die der Fleck Erde, auf wel­

chem sie wohnen, und derHimmelsstrich, unter welchem sie leben, für sie mit sich führen, deren keiner aber die

Gleichheit ihrer menschlichen Naturen überhaupt auf»

hebt; von ihnen geschieden sind: wenn das alles, sage ich, sich bey einer Vaterlands-Gesellschaft befindet; denn kann ein solches Land nicht nur für sich selbst glück­ lich gepriesen, sondern auch eineLeuchte und ein Serge» für alle benachbarte Lander genannt werde».

Aber,

wenn die Vaterlands-Liebe Verachtung und Haß.ge­

gen andere Nationen mit sich führt; wenn sie auf un­ gerechte Eroberungen, aufVerwüstung fremder Länder

ausgeht; wenn sie sich berechtiget halt, die Rechte der Ausländer kranken zu dürfen, so bald sie dis thun zu

können nur vermag: denn ist die so gepriesene Vater»

landtz - Liebe, und der durch gleisnerische Lobsprüche bis in die Wolken erhobene Patriotismus; eben das Band, welches eine Räuber-Rotte zugleichenAbsich-

ten vereiniget. —- Freylich ist es, wie oben schon ge­ sagt worden, immer traurig, daß unser gegenwärtiges

Zeitalter noch so viele Wildheit der Sitten mit sich führt; L 4

daß

168

Von der Gütigkeit überhaupt.

daß es insonderheit nochsoviele Vorsteher einzelner gros­ ser Gesellschaften gibt, die als Sclaven ihrer Leiden­ schaften mehr von den Eingebungen her Einbildung, als von Urtheilen der Vernunft abhangen; die daher fähig sind, die Kräfte ihrer Unterthanen zur Beein­

trächtigung und zu gewaltthätigen Angriffen ihrer

Nachbarn zu mißbrauchen ’ Dadurch wird freylich die angegriffene Gesellschaft in den traurigen Fall der Noth­

wehr gefezt; und ihre Glieder werden gezwungen, ihre

Wohlfarth, mit einer Art von Partheylichkeit, als geschieden von. der Wohlfarth der anfallenden Gesellschaft,

anzusehen; sie gegen diese zu vertheydigen; ia ihre Er­ haltung wol gar in der Unterdrückung unbZerstöhrung

des Glücks der andern Gesellschaft selbst zu suchen! Freylich macht es auch die traurige Möglichkeit, daß solche feindselige Angriffe leicht geschehen könnet«; ei­

ner jeden Vaterlands - Gesellschaft immer noch zur

Pflicht, stets gegen ihre Nachbarn auf ihrer Hut zu seyn: um die Gefahr, so viel möglich, abzuhalten;

und wenn sie dennoch einbricht? um gegen dieselbe gerüstet zu seyn.

Allein so rechtmäßig auch die Vorsicht

für ihre Sicherheit ist, welche jene Wildheit der Sit­ ten einer jeden friedliebenden Gesellschaft nothwendig

macht; so wird doch jene Wildheit selbst, vor dem Richterstuhlc der Vernunft nie ihre Rechtfertigung finden.

Können Unordnungen überhaupt nie die Vorschriften

der

Von der Gütigkeit überhaupt.

169

per Sittenlehre aufheben; so können auch Beleidigun­

gen, welche die eine Vaterlands-Gesellschaft der an­ dern zufügt, und wodurch lene, diese zu ihrer Verthei­ digung berechtiget;

nie die Pflicht der allgemeinen

Menschenliebe über den Hausen werfenEs ist übrigens billig und gerecht; derjenigen Ge-r

scllfchaft, die mich bey meiner Ankunft als Mensch,

unter sich aufnahm; von der ich meine erste Pflege und Erziehung genossen; deren Liebe und Sorgfalt ich mein.

Daseyn, meine Erhaltung, meine Ausbildung und Brauchbarkeit zunächst zu verdanken habe: es ist, sa­

ge ich, billig und gerecht, feinem Vaterlands auch seine Rräfte vorzüglich zu widmen; und sich demselben durch die ernstlichsten Bestrebungen, die

man anwendet, sich um das Wohl desselben auf die be­ ste Art verdient zu machen; dankbar zu erweisen-

4) Unsinn ist es, die Verschiedenheit der Re­ ligions-Begriffe und Gebräuche, zur Ersti­

ckung des Menschengewühls bey sich kräftig

seyn zu lassen.

Der Begrif eines zureichenden

Grundes aller Dinge ist und bleibt doch, nun ein­

mal nur ein allgemeiner Begrifr. von dem sich

durchaus keine einzelnen, näheren Bestimmungen, die

die innere Natur und Beschaffenheit jenes Grundes be­

trafen; mit Sicherheit angeben lassen.

L 5

Wir haben

obey^

17o

Von der Gütigkeit überhaupt.

oben gesehen: daß kein einziges noch so vernünf­

tiges Wesen mit Deutlichkeit über sich sehen,

und die Hähern Wesen erkennen könne.

Sein

Gesichtöcreiß faßt nur einen Theil dessen, was neben, und unter ihm ist. Vorstellungen,

Mithin sind alle die Bilder,

Erzehlungen und Beschreibungen,

welche sich die Menschen von den inneren Naturen und Wesen ihrer Gottheiten machen; bloße Geschöpfe ihrer

Phantasie. Warum willst du ihnen nun diese unschad-

Üchen Geschöpfe nicht lassen? Warum willst du ver­ langen, daß das Deinige allein gelten, und von

allen übrigenMenschen auchverehrtundangebetetwer-

den solle? Einen zureichenden Grund von den da­ seyenden Pingen glauben gewiß alle Menschen, die

einiges Nachdenkens darüber fähig sind. Laß aber den Einen, diesen zureichenden Grund mit dem Nahmen Gott; den Andern und Dritten, mit den Wörtern,

Schicksal und Ohngefehr sich bezeichnen; laß den Vierten sich eine unendliche "Rette von Ursachen darunter vorstellen,

oder, ihn die Unendlichkeit

selbst nennen: u. si w. das alles ändert ihre mensch­ liche Naturen nicht, die du au ihnen lieben und ehren

sollst. Ketzer,

Daß der Andere, ein Irgläubiger, ein Götzendiener,

ein

ein Ungläubiger

u. s. w. ist; das ist am Ende und beym Lichte besehe»,

doch nichts weiter, als ein Urtheil, das blos deine Ein­ bildung

Von der Gütigkeit überhaupt.

171

bildlmg nach gewissen von ihr selbst erdachten Regeln fället! Daß er aber vom Scheitel bis zur Fuß» fohle ein tllcnfd) ist, wie du; das ist doch ein Ur«

theil aller deiner Sinne, deines Verstandes, und dei­ ner Vernunft, dessen Wahrheit du dir auf keine mög­

liche Weife ableugnen kannst! Welches Urtheil soll nun mehr gelten und den Vorzug bey dir haben ?

5) Kaum wird es nöthig seyn,auch nur mit einem

Worte der Schuldigkeit,

auch den Feind liebe»

zu müssen ; Erwehnung zu thun.

Der Feind ist

ia auch ein Mensch: und hört ia auch durch die gröste Beleidigung,

nicht auf, es zu seyn!

die er mir anthut, Dy sagst, ia; aber ich

kann und darf doch den Freund mehr liebe», als den

Feind.

Ich antworte: was den Grad der Liebe über­

haupt betrift; so würde sich darüber noch wol sehr vie­ les deiner Behauptung entgegensetzen lasten. Der Un­

terschied zwsschen der Liebe des Freundes; und derjeni­

gen, mit welcher dein Herz dem Feinde schlagen soll;

liegt hauptsächlich in der Art der Liebe, und in den ver­ schiedenen Aeusserungen undWürkungen, durch welche

sie sich nach der Verschiedenheit des Gegenstandes - of­ fenbaren und geschäftig zeigen muß und kann.

Die

Liebe zu deinem Freunde aussert sich durch Zutrauen;

die Liebe zu deinem Wohlthäter, durch Dankbarkeit; die

172

Von der Gütigkeit überhaupt.

die Liebe zu deinem Feinde und Beleidiger, soll sich

durch Mitleiden und brüderliche Zurechtweisung dessel­ ben rechtfertigen, tteberall also bleibt es doch dieselbige

Liebe, die du Keinem, der Mensch ist, entziehen darfst;

er mag denn auch in seinen übrigen Verhältnissen ge­ gen dich seyn, wer er wolle? Wir haben oben gesehen, daß der Feind so wenig für seine Beleidigungen kann,

mit denen er dich verfolgt; als der Wohlthäter für sei­ ne Freygebigkeit, mit der er dich beglückt; weil Bey­

de, mit ihren ganzen Empfindungs-Vorstellungs-und

Handlungs-Systemen dem Gesetze der Nothwendig­ keit unterworfen sind: und wir wollen uns also hier kei­

ner unnöthigen Wiederholungen dessen, was schon dar­

über gesagt ist, und was ganz natürlich daraus herfließt; schuldig machen.

Dis mag genug zur Beantwortung der hauptsäch­ lichsten Einwendungen seyn, welche die Einbildung

wider das große Gesez der allgemeinen Menschen­

liebe zu machen pflegt.

Die übrigen nichtigen Be­

helfe, womit sie dem Partheigeiste das Wort reden,

und die Einschränkungen der Menschenliebe, die ein kriechender Eigennuz in, einzelnen Fällen anräth; be­

schönigen will: finden theils in dem, was schon gesagt ist, zugleich mit schon ihre Abfertigung; theils soll ih­

nen diese noch in der Folge, so wie die Gelegenheit bey

denen

173

Von der Dienstfertigkeit.

Lenen noch abzuhandelnden Wahrheiten dazu erscheinen

wird, gewähret werden.

II. Worinn äußert sich nun diese allgemeine Menschenliebe insonderheit?

Oder: wel.

ches sind die vornehmsten Tugenden, welche in der Haupttugend der Gütigkeit eingeschlos-

sen liegen? Wir wollen derselben viere angeben. Dienstfertigkeit.

Barmherzigkeit.

1) Die

2) Das Wirleiden und die. 3)

Die Zurechtweisung.

4) Die Dankbarkeit.

A. Von der Dienstfertigkeit. Die Dienstfertigkeit besteht in der Bereits Willigkeit, Andern in ihren Angelegenheiten zur Beförderung ihrer Wohlfarth so viel zu

starren'zu kommen, als nur ohne unsern ei­

genen großem Nachtheil möglich ist.

Diese

Tugend verlangt also nicht, daß ich meine eigene Wohl­

farth hassen, oder sie der Wohlfarth meines Neben­ menschen gerade zu aufopfern solle ! Sie verlangt nur,

daß ich mir Mühe geben solle: meine Und meines

Nächsten Angelegenheiten und Bedürfnisse,

und

die beste Art ihnen abzuhelfen; so weit es ohne Vorwiz.

gesche-

174

Von der Dimstfettigkert.

geschehen kann, richtig kennen zu lernen.

Sie erlaubt

mir, daß ich alödenn meiner Wohlfarth überhaupt genommen, den Vorzug vor der Wohlfarth meines wachsten gestatte.

Sie gebiethet mir aber, die

Bedürfnisse

Angelegenheiten

und

meines

LTlächsten ebenfalls als die meinigen anzusehen;

mithin meine Bemühungen und die Aufopferung eines,

in Betracht meiner, kleineren Guts, das mir gehört, nicht zu achten; um seinen Wohlstand durch die Zu­

wendung desselben an ihn,

als eines ihm grösseren

Guts, zu erhöhen. — Durch eine jede gesellschaft­

liche Tugend, die ich übe, fördere ich zugleich mein ei­

genes Glück; weil ich die allgemeine Wohlfarth, mit­ hin auch meinen Antheil an derselben dadurch größer­

mache.

Dis geschicht auch, wie wir bald sehen wer«

den, durch die Dienstfcrtigkeit wahrhaftig, in.vorzüg­

lichem Maaße.

Sie ist es, mit der sich der Mensch

in der Gesellschaft, auch bey seinen großmüthigsten und uneigennützigsten Absichten, mit welchen er sie ausübt, doch im Grunde selbst am meisten seegnet und beglückt. Unsere Selbstliebe verliehrt also nichts bey ihr: son­

dern, was sie zu verliehren und aufzuopfern scheint;

gewinnt sie mit tausendfachem Wucher.

Aber sie

scheint zu vcrliehren! Das ist wahr; wenn das Au­ ge nur flüchtig auf der Oberfläche hinweg zu sehen sich

begnügt.

Wo der Fall da ist, der mich zur Dienst­

fertig-

Von der Dienstfertige.

175

fertigkeit aufrufft: da fordert diese Tugend, daß ich nicht zunächst meinen eigenen Vortheil; sondem

den Wohlstand des Nächsten zur Absicht haben solle.

Sie fordert sogar ausdrückliche Aufopferungen

von mir ; und sezt denselben nur das Maaß: daß mein geftrmmrer Wohlstand nicht mehr, und auch

nicht so viel, durch diese Aufopferungen lei­ de; als der gesammre Wohlstand des Näch­

sten dadurch gewinne.

Sie verlangt: daß ich

die Angelegenheiten meines Nächsten, jedoch ohne dem

Vorwitz zu stöhnen, gerade zu für die meinigen

halten; und denn nur bey der Besorgung derselben die

. Vorsicht gebrauchen solle: kein größeres Gut für den Gewinn eines kleinern hinzugeben.

Sie

kann also mit keinem kriechenden Eigennuz, der auf

irgend eine Vergeltung von Ruhm, oder Dankbarkeit, oder Gewinn sieht; bestehen.

Sie verlangt vielmehr,

daß meine bloße Kenntniß, die ich von den Bedürfnis­ sen meines Nächsten erlange, schon hinreichend seyn

soll, mich zu bewegen; auf die besten Mittel zu den­ ken, wie ich ohne Verletzung höherer Pflichten ienen abhelfen könne: und sie will sich nicht eher befriediget halten; als bis ich diese Abhelfung würklich nach mei­

nem besten Vermögen zu bewerkstelligen gesucht habe. Hiezu soll ich mich sofort, als jene Kenntniß bey mir

cintrikt, aufgefordert fühlen; ohne durch fremde Vorstellun-

176

Von der Dienstfertigkcit.

stellungcn und Bitten, oder andere eigennützige Bewe-

gungsgründe mir meine Dienstleistung erst abdringen

zu lasten.

Erlaubt es denn der Fall, daß ich bey der

Hülfe, die ich Meinem Nächsten leiste; zu gleicher Zeit meine eigene Wohlfarth dadurch mit erhöhen kann;

ohne iebdch, daß jene Hülfe dadurch aufhört, eine wah-

re Hülfe für ihn zu seyn: so hak die Tugend der Dienst­

fertigkeit nichts darwider.

Z. E. wenn ich Jemanden

zur bestekn Bestreitung seiner Wirthschaft mit Vorschuß

unterstütze; ihn dadurch üuS gegenwärtigem Mangel rette; und in die Möglichkeit setze- feinen RahruNgSstand verbessern Zu können: so erlaubt ste es mir voll­

kommen;

nach dem Maaße, als es die Billigkeit

in dem jedesmaligen Falle angibt Und zuläßt; es sey durch Zinsen, oder, auf anderweitige Art; an dem Ge­ nuß seiner Vortheile , die ich ihm verschaffte, Antheil zu nehmen. Hieraus folgt:

daß also folgende Personen UN-

dienstfertige Menschen genannt zu werden ver­

dienen»

t) Diejenigen, die sich, es sey aus Stolz, oder Eigennuz, oder Weichlichkeit und Liebe zur Bequem­

lichkeit, oder Leichtsinn, oder Fühllosigkeit und Man­ gel an Menschenliebe, oder aus Furcht, daß ihnen ih­

re jetzige Dienstfertigkeit künftig zur Schuldigkeit gerech-

Von der Dienstfertigkeit.

177

gerechnet werden mögt«, oder sonst aus einer andern schlechten Ursach; die, sage ich, sich gar nicht um Me Angelegenheiten Anderer bekümmern; die einen Jeden sich selbst überlassen, und nur bauini in Lex Gesellschaft zu leben glauben, daß sie sich dien en lasten. Man will hier nicht dem Vorwitze das Wort reden. Dieser ist schon oben bey der Fried serkigkeit verboten worden. Keiner soll sich in solche Ange-l^enheiten des Nächsten mischen, die ihn nichts an­ gehen; die sich der Nächste selbst besorgen kann und wird, imb wozu er meiner Beyhülfe gar nicht bedarf; an welchenTheil zu nehmen, mich also gar keine Pflicht .auffordert: sondern deren Besorgung dem Nächsten selbst zu überlassen; mirvielmehr die schuldige Achtung, welche ich für seine Freyheit haben soll, gebeut. Ein Mensch, der nicht ganz gedankenlos in derGchllschaft zu leben gewohnt ist, wird diejenigen fremden Angele­ genheiten, in welche sich nur derVorwiz mischen kann; von allen übrigen, zu deren Theilnehmung ihn die Dienstfertigkeit auffordert, sehr leicht zu unterscheiden wisse«. — Allein diese leztere Gattung von Angele­ genheiten und Bedürfnissen des Nächsten auch stets so ganz übersehen, und sich seiner Verpstichtung zur Dienstfertigkeit sogar nicht bewußt seyn und werden zu können: das ist denn doch gewiß ein Zeichen eines schlechten uqd unwürdigen Mitgliedes der Gesellschaft; SlttenlehrelV.rh. M und

17%

Von der Dienstferrigkeit.

und ein Beweiß, daß der Undienstfertige keine gesunde

unb vernünftige Begriffe von seiner eigenen wahren

Glückseligkeit und von der achten Würde und Vollkom­ menheit der menschlichen Natur habe; auch daß ihm -alle edlen Empfindlmgen der wahren Menschenliebe fehlen »Nüssen.

Manche Menschen wollen ihre Undienstfertigkeit

damit entschuldigen, daß sie vorgeben: es sey zu besor-

gen, daß ihnen der heurige Liebesdienst, den

sie leisteten;

in der Zukunft zu einer Schul-

digkeir, die dir Gerechtigkeit von ihnen for­ dern könne, gerechnet werden mögre.

Allein

diese betens en nicht, a) daß alle Aeußerungen der wah­

ren Dienstfertigkeit und Menschenliebe, wenn sie schon

Nur unvollkommene oder Liebes-Pslichten sind; doch immer Pflichten sind und bleiben,

von denen ßch

fein guter Mensch und Bürger einer Gesellschaft auch

nur mit dem schwächsten Scheine des Rechts überhaupt

lossagen könne,

b) Daß es in der Gesellschaft Mit­

tel und Wege genug gebe; um den ungerechten und undankbaren Znmuthungen und Anforderungen eines Andern Schenken zu setzen,

c) Daß die Besorgniß:

daß ein gegenwärtiger Liebesdienst künftig Schuldigkeit werden mögte; höchstensdoch mirerst durch eine unzählig oft, und viele Jahre hindurch geschehene Wiederholung

ein

Von der -Diensifertigkeit.

179

ein und eben derselben That, oder der Erweisung der­

selben Gefälligkeit, nach allen ihren auch den klein, sten damit verbundenen Umstanden, begründet werde« könne.

Und wie leicht ist eine solche identische Wie­

derholung zu vermeiden?

Wie viele Abanderunaeu

derselben biethet die Folge der Zeit an?

Wie viele

macht sie nothwendig? Wo ist stets dasselbe Bedürf­

niß in feinen kleinsten Theilen und Umständen für den Nächsten fortdaurend da? u. s. w.

Man müßte sehr

blöde Augen haben, wenn man nicht sehen könnte: daß solche Menschen, die so zärtlich für ihre Rechte wacher,,

daß sie von jedem Liebesdienst, den sie erweisen sollen,

eine Kränkung derselben auf künftige Zeiten schon zum

voraus befürchten; dieseBesorgniß nur zum Vorwan­ de gebrauchen, worunter sie ihre lieblosen, eigennützi­ gen und nichtswürdigen Gesinnungen zr> verbergen suchen.

s) Diejenigen, die blos in Worten dienst­

fertig stnd.

Die, weil ihnen die Schönheit und der

Werth dieser Tugend wol nicht unbekannt ist;

aber

doch auch nicht in seinem vollen Glanze in die Augen

strahlt; alles zu thun glauben, was von ihnen gefor­ dert werden könne: rvenn ste in bloßen Zusagen und

Versicherungen

freygebig sind.

ihrer

Dienftferrigkelk

Geftzt, daß auch ein bloßer Leicht,

Von der Dienstfertigkeit.

i8o

sinn die Quelle dieser müßigen Dienstvcrsicherungen wäre; so wird diese Aufführung doch schon von der Ge­ rechtigkeit verdammt: weil der, den man mit leeren

Verheißungen schmeichelt; dadurch in falscheHoffnun-

gen gesezt, von der Ergreifung anderweitiger Maaßre­ geln zu seinem Glücke abgehalten; und in seinen Er­

wartungen getauscht wird.

Und wie viele ttaurigeFol­

gen des Elendes kann dis für ihn nach sich ziehen? Ent­ springen jene täuschende Versicherungen der Dienstfer­

tigkeit aber noch dazu aus Falschheit? so sind sie noch schändlicher; und ein solches Verhalten beraubt den,

der es von sich zeigt, aller Ansprüche auf den Nahmen eines ehrlichen Mannes.

3) Dieiemgen können nicht dienstfertig gegen Andere genannt werden, die, indem sie Andern dienen, sich selbst zur nächsten Absicht dabey haben.

Mancher dient, um seinem Stolze ein Opfer zu brin­

gen.

Er ist in die Lage gerathen, daß Andere auf ihn

sehen, und eine Erwartung darüber äußern; waö er in dem vorliegenden Falle thun werde?

Er scharnt

sich, bey ihnen ein nachtheiliges Urtheil wider sich zu veranlassen.

Bey aller innern Gefühllosigkeit gegen

die Bedürfnisse des Nächsten, dient er in seiner Dienst­ fertigkeit blos sich selbst;

und seinem Stolze.

«Oder, er scheint mit entschlossener Bereitwilligkeit seinem

Bon der DienstfertiZkeit. siinem Machstep zu dienen.

igr

Er thut es aber, weil er

die höflichsten Danksagungen und Demüthigungen von demselben dafür einzuerndten hoffet. — Solche Men«

schen pflegen sich auch hinterher mit ihren, Andern er­

zeigten Gefälligkeiten, vhngeachtet sie oft klein und bedeutungslos genug waren; sehr viel zu wissen.

Eines

Andern seine Dienstfertigkeit schränkt sich nur haupt­

sächlich auf seine Anverwandten ein; die sein Stolz nicht sinken lassen kann: weil er mit ihnen zu sinken fürchtet.

Noch einen Andern macht sein Eigennuz dienstfertig.

Er erwartet, daß ihm die kleine Aufopferung, die er macht, zehnfach vergolten werden werde.

Er will den,

dem er dient, zu gewissen Gegendiensten, von welchen

er sich größere Vortheile verspricht; sich verbindlich machen.

Hierher gehören auch die übermäßigen

Wucherer; welche mit keinem billigen Zinß zufrie­

den, sich der gegenwärtigen Verlegenheit und Noth Anderer bedienen; sich durch die scheinbare Hülfe, die sie ihnen leisten, durch die sie sie aber in noch größere

Noth stürzen, zu bereichern.

Noch ein Anderer dient,

indem er Andern zu dienen scheint, im Grunde nur sei­ ner eigenen Liebe zur Ruhe und Bequemlichkeit.

Er

dient- um nur der Bitten und Behelligungen Anderer los zu werden u. s. w.

Es ist wahr, die Hülfsbe.

dürftigen gewinnen wörtlich durch diese Menschen eini­ ge Vortheile für sich.

Aber diese Menschen selbst M 3

können

I8L

Von der Dienstfertigkeit.

können doch nicht Dienstfertige gegen Andere genannt

werden; da sie eigentlich nur ihrem eigenen Stolze, ihrer Habsucht, ihrer Ruhe und andern Leidenschaften dabey Lienen.

Es-ist schon oben gesagt worden: die Tu­

gend der Dienstferrigkeit belohne sich allemal selbst reichlich genug.

Aber sie will nicht aus

Lohnsucht und Eigennuz; sondern aus dem Triebe der

Menschenliebe und der Gütigkeit gegen Andere grübet seyn.

4) Dleienigen sind

auch Undienstfertige,

die mit der Leistung ihres Dienstes so lange warten, bis die beste Zeit, ihn anzubringen,

und recht nüzlich für den Andern zu machen,

verstrichen ist.

Es gibt in allen Verlegenheiten ei­

nen, gewissen Hauptaugenblick; wo alle Umstände so znsammenstimmen, daß in demselben die Hülfe eines Andern gerade ihre größte Würkung thun kann. Sieht

ein Mensch diesen Augenblick nicht; so ist es ihm frey­ lich nicht beyzumessen, wenn er ihn mit seiner Dienst­ fertigkeit versäumt.

Sah er ihn aber; und war er

im Stande, ihn nuhen zu können; ließ er sich aber

durch allerley unnühe Bedenklichkeiten und nichtswür­ dige Zerstreuungen zum Zaudern und zur Verzögerung

bewegen: so verliehrt hernach seine zu spät angebrach­ te Dienstferrigkeit ost ihren ganzen Werth.

Zur

rechten

Von der Dienstfertigken.

1.83

rechten Zeit dienen, heißt: doppelt nnh zehn-, fach dienen«

5) Endlich sind diejenigen undienstfertige Menschen; die mit sichtbaren Zeichen des Unwillens und der Verdrossenheit dienen» Dadurch wird her Dienst, den sie leisten; dem, wel­ chem er geleistet wird, so verbittert r daß gewiß ein Je. der, wenn er irgend ohne densilben leben und fertig werden kann,; ihn mit Abscheu von stch weiset, und, tausendmal lieber seiner Verlegenheit überlasten.zu blei, den wünscht. Ein solcher verdrossener, oder gar mir bittern Vorwüxfen begleiteter Dienst, ist eine wahre Beleidigung, die ich einem Unschuldigen, und noch dazu einem solchen Unschuldigen, her sich ohnehin schon in Verlegenheit oder Kummer befindet; anthue. Ein gefühlloses Herz, in welchem nichts von den Enrpfindungen der Menschenliebe und Dankbarkeit gegen die Gesellschaft anzutreffen; und ein Kopf, der an aller wahren Erkenntniß seiner selbst, seiner eigenen Schwach­ heiten und Bedürfnisse, und dessen, was ihn vollkommner machen kann, leer ist; gehören dazu, um ein sol­ cher verdrossener und unhienstfertiger Mensch zu seyn.

Hingegen erhöhet derienige den Werth auch des kleinsten Dienstes, den er leistet, bis. zu seiner höchsten Größe, di« er nur erreichen kann; Hessen ungeheuche^ M 4 te

Von der Dienstfertigkeit.

184

le Menschenliebe seine Augen immer wachsam auf An­

dere halt, um ihren billigen Wünschen und wahren Bedürfnissn,

so viel möglich,

zuvor zu kommen;

der auf keine Bitten und besondere Aufforderungen da­ zu wartet; der mit freundlicher Willigkeit und aus sichtbarem Triebe der aufrichtigen Theilnehmung an des

Andern Wohlfarth, sofort dient, als er nur der Gele­

genheit dazu inne wird; und der dabey auf alles dasie-

nige aufmerksam ist, was seine guten Dienste so voll­ ständig und nützlich, als möglich, machen kann.

Die­

ser, sage ich, verdient den Nahmen eines wahrhaf­

tig dienstfertigen Menschen.

Wir müssen nun noch die vornehmsten Stücke und Arten,

worinn sich -le Dienstferngkeir beweiset

und an den.Tag legt; näher kennen lernen.

Dis ge-

schicht i) durch die Freygebigkeit 2) durch gefallt, ge Bemühungen, die man für Andere übernimmt.

1) Von der Freygebigkeit.

Cs ist schon oben, sowol bey den Vorschriften, wie wir unsere irrdischen Güter anwenden sollen; als auch

in dem, wasiezt von der Dienstfertigkeitüberhauptge­ sagt ist; gezeigt worden: daß es die Natur und Ab­

sicht deö gest llschaftlichen Lebens erfordere; die Bedürfinste Aliderer als seine eigenen anzusehen, und

die Abhelsung jener eben so gut, als dieser, nur unter der

Von der Dienstfertrgkeit.

185

der einzigen Einschränkung, sich am Herzen liegen zn

lassen, daß nur in dem Falle, wenn mein eigenes und eines andern Menschen Bedürfniß sich gleich sind? oder, wenn gar das meinige zugleich das größere rod.

re? ich -em meinigen meine erste Sorge wid­

men dürfe.

Im übrigen bin ich schuldig; aller

Menschen Bedürfnisse ohne Unterschied für die meinige»» zu halten: und in der Abhei­ lung derselben nach meine»» besten Vermöge»

mich thätig zu beweisen.

So oft nun der Fall

erscheint; dis durch die Anwendung meine- irrdi, fchen Vermöge»»- für Andere bewerkstelligen zu

können und zu müssen: so fordert mich die Tugend

der Freygebigkeit zu dieser willigen Anwendung desselben zu Anderer Besten auf.

Damit nun aber

diese Anwendung weder für unsere eigene, noch Ande­ rer Wohlfarth, ungerecht; auch für diejenigen, denen

sie zu Gute kommen soll, nicht unnüH ; oder gar schäd­ lich werden möge; so wollen wir uns einige Regeln der Klugheit merken, denen wir darinn zu folgen ha­

ben. Regeln bey der Freygebigkeit.

i) Erhalte dich stets selbst in richtiger Be­ kanntschaft mir deinem eigenen wahren Ver­

mögens - Zustande.

Wenn von der vernünftigen

M 5

Anwen-

Von der Dienstfertigkeit.

r86

Anwendung einer Sache die Rede ist; so muß ich

nothwendig die Sache selbst kennen.

Dem zufolge,

rechne nichts mehreres zu deinem Eigembum, als was würklich dazu gehört.

schen sind fb unbesonnen freygebig,

Viele Men­

daß sie Sachen

wegschenken, über die sie gar kein Eigenthums-Recht

haben.

Hierher gehören auch alle diejenigen, die ohne

Bedacht Andern mittheilen; ohngeachret ihr Ver­ mögens-Zustand mir Schulden beladen ist.

Dasjenige, was mir ein Anderer von seinem Vermö­ gen geliehen hat, und worüber ich die Pflicht der Zu­

rückzahlung noch auf mir habe; oder, was sonst ein Anderer noch rechtlicher Weise an mir zu fordern hat: das kann ich, und wenn es schon noch in Meinem Ver­

mögen überhaupt enthalten ist;

Eigenthum ansehen.

doch nicht als mein

Es ist und bleibt ein Eigen­

thum dessen, dem ich es schuldig bin.

Mithin würde

«s keine tugendhafte Freygebigkeit seyn, die ich an ei­

nem Dürftigen übte; sondern ein würklicher Diebstahl, dessen ich mich gegen den Eigenthümer schuldig machte:

wenn ich aus meinem Vermögen soviel an Andere ver­ wenden wollte; daß jenes darinn enthaltene fremde Ei-

geythum, ohne Einwilligung dessen, dem es gehört,

angegriffen,

und die Möglichkeit der Zurückzahlung

dadurch in Gefahr gesezt würde. Ich soll nur von dem­ jenigen, was mir eigenthümlich gehört, freygebig

Von der Dißnstfertigkeik. tzebig seyn.

i§7

Was ich davon nicht bestreiten kann; da

ist die Freygebigkeit keine Pflicht

für mich : der Fall

des Bedürfnisses des Andern mag auch nod) so groß

seyn.

Alles, was mir zu thun dabey übrig bliebe;

wäre die Bemühung: die freye Einwilligung des Ei. genthümers darüber zu suchen, und diesen zu fragen: ob er der Freygebige hier seyn wolle, der jd) nicht

seyn kann?

Diese Regel gebiethet uns auch die nöthige Vor. ficht bey Uebernehmung der Bürgschaften für An.

dere»

Wenn hier die Regeln in Acht genommen wer.

den, welche oben in dem Articul von der Treue, bey

Sck-ließung und Haltung der Vertrage gegeben find;

so wird im übrigen die Beurtheilung nicht schwer seyn, ob? und wie weit ich mich in einem vorseyendem Falle

für einen Andern verbürgen solle? Durch Bürgfihast

mache ich mich verbindlich, etwas für einen Andern, einem Dritten zu leisten; im Fall jener es diesem nicht

selbst leisten wird. Hier habe ich also vornehmlich dar­ auf Bedacht zu nehnwn i) ob es das Bedürfniß des

Nächsten durchaus erfordere, daß ich für ihn Bürge werde? a) ob mein Vermögens - Zustand es erlaube,

dgß ich mich für ihn verbürgen könne? und obichmich nicht dadurch der Gefahr blos sehe, im. Fall dieErfüt?

suyg feiner Schuldigkeit wn mir gefordert würde;

i83

Volt der Drenstfertigkeik.

dersetbige Unglückliche, oder vielleicht noch unglückli­

cher zu werden, als er selbst war? Die folgende Re­ gel wird hierüber nvch mehr Licht geben.

2) Halte dich in Bekanntschaft mir deinen

eigenen Bedürfnissen.

Da deine eigenen Angele­

genheiten überhaupt den Vorzug vor den Angelegenhei­

ten deines Nächsten haben: so würde deine Freygebig­

keit gegen Andere eine Ungerechtigkeit gegen dich selbst ftyn, wenn du dadurch auch nur eben so sehr deine eige­

ne gestimmte Wohlfarth verkümmertest; als der Wohlfarth des Nächsten aufgeholfen würde. Ich sage, deine gestimmte Wohlfarth. Denn wenn du z. E. einem Dürftigen einen Thaler giebst: so verliehest du freylich, wenn blos auf den einzelnen Thaler gesehen

wird, so viel; als der Dürftige gewinnet.

Insofern

dich aber dein Vermögens-Stand doch noch immer der Reichere gegen ihn bleiben laßt: so ist deine gesammto

Wohlfarth in dem Maaße noch nicht verkümmert; als

der seinigen geholfen ist.

Es wird keine Vertauschung

der ganzen Zustände des Reichthums und der Dürftig­

keit von dir gefordert; dergestalt, daß du der Dürfti­ ge werden solltest, der der Nächste war! und dieser das volle Loos deines vorigen Reichthums durch deine

Freygebigkeit gewinnen müßte!

Dadurch würde die

Pflicht der Freygebigkeit wieder aufihn gebracht; sie hinwie-

Von der Dienstfertigkeit.

189

Hinwiederum dir erweisen zu müssen: und auf solche

Art würde diese Tugend in ewigen wechselseitigen müs. sigen Ueberlieferungen irrdischcr Güter an einander be­

stehen; bey denen ihr Beyde, weil sie immer nurzwischm euch unterwegeS blieben; endlich verhungern könntet.

So bald du mehr gibst; als deine eigenen eben

so dringenden Bedürfnisse zu geben erlauben: so gibst L>u über dein Vermögen,

Es gibt viele solcher

Unbefpnnenen, die über ihr Vermögen geben: und her­

nach, wenn sie selbst drückenden Mangel darüber lei­

den; über Undank klagen.

Sie sollten vielmehr ihre

Unbesonnenheit verdammen, die von der Freygebigkeit soweit, als Laster von Tugend; verschieden ist.

Es ist bey den Vorschriften über die Anwendung der irrdischen Güter schon erinnert worden: daß der

Mensch,

so weit er feine künftigen Bedürfnisse mit

Wahrscheinlichkeit vorauöfthm könne; oder auch, in­

sofern er überhaupt aufdie Veränderlichkeit aller mensch­

lichen Schicksale rechnen müsse; allerdings auf die

Zukunft Bedacht nehmen und Vorsicht üben dürfe.

Die Tugend der Sparsamkeit geboth ihm

daher, alle gegenwärtigen »«nöthigen Ausgaben zu vermeiden; und was er hieran erspahre, zum künf­

tigen nöthigern Bedarf aufzuheben.

Sie erlaubte

es ihm aber keinesweges, die gegenwärtigen drinr

gcnben

i9.o

Von der Dienstftttigkeit,

genden Ausgaben, um der ungewissen künftigen willen, abzuweifen.

Die muß auch bey der Freyge­

bigkeit angewandt werden.

Wo ich wahrscheinlicher

Weise größere Bedürfnisse für mich, oder einen Näch­ sten vor der Thür sehe; da muß ich mit meiner Frey,

gebigkeit über die gegenwärtigen kleinern Bedürfnisse meines Nächsten zurückhaltender seyn.

Hingegen, wo

die gegenwärtigen Bedürfnisse des Nächsten durchaus dringend stnd; und nicht durch ihn selbst, aber

wol durch mich abgeholfen werden können: da achte ich

meine, und seine künftigen/ in tausenderley Betracht, ungewissen Bedürfnisse nicht.

Wer weiß, ob sie würk.

lich kommen werden? wer weiß, ob ich sie erlebe? wer weiß, ob nicht, wenn ia dergleichen künftig eintreten sollten; schoss auch wieder andere Mittel vorhanden seyn werden, sie zu befriedigen? u. s. w.

Man hüte sich

hierinn nur, daß uns keine unedle Kleinmüthigkeit;

kein Mißtrauen gegen die Vorsehung; oder auch kein

Geiz, der immer beym größten gegenwärtigen Ueber«

fiuß die Gefahr des größtm künftigen Mangels vorher­ sehen will; mit falschen Wahrscheinlichkeiten täusche.

Nach dieser Regel nehme ich also auch auf die künfti­

gen Bedürfnisse meines Nächsten durch Ein­ schränkung aller gegenwärtigen unnLrhigen Aus­

gaben Bedacht: und wenn Eltern diesen Ueberlegungen in der Besorgung des künftigen Glücks ihrer Kinder

folgen;

Von der Dienstfertigkeit.

191

folgen; so ist ihre Sparsamkeit zum Besten derselben

niu-c zu tadlen.

3) Lerne auch die Bedürfnisse Anderer

unterscheiden und recht beurtheilen.

Es sind

nicht alles wahre Bedürfnisse, was die Menschen dafür auögeben.

Wae die Erhaltung des Lebens und der

Gesundheit nothwendig erfordert; was dazu gehört, uyr einen Menschen in den Stand zu sehen, mit seinen

Kräften und Gaben der Welt ersprießliche Dienste lei­ sten zu können: das sind wahre Bedürfnisse, auf deren Abhelfung der Freygebige nach seiner besten Einsicht

und Vermögen denken muß; wenn der, bey dem sie

sich finden, sich nicht selbst helfen kann.

Hingegen

alle übrigen Bedürfnisse, die die bloße Einbildung und ungezähmte Leidenschaften dazu machen; verdienen die Aufmerksamkeit des Freygebigen nicht.

Das größte

Vermögen, würde nicht zureichen, sie zu befriedigen.

Eben so würden auch der Gesunde aber zugleich Faule,

und der reiche Geizhals wol schamlos genug seyn; mei­

ne Güte anzunehmen.

Aber durch alle dergleichen un­

nütze Hülfen und Mildthätigkeiten würd« ich mich nur

der Verschwendung schuldig machen; iene unzufriedne Menschen durch die Befriedigung ihrer ausschweifen­

den Wünsche noch mehr verschlimmern, und das Laster bey ihnen nähren; mich selbst aber außer Stand setzen.

192

Von der Dienstfemgkeir.

da, wo es nöthig wäre, gegen die wahrhaftig Dürfti­ gen freygebig seyn zu können. Auch die Stande und Lebensarten in der Welt ma­

chen die Bedürfnisse verschieden.

Z. E. Der Vorneh.

me und Reiche darf vielleicht ein Kleid nicht mehr an­

ziehen, ohne sich-einem gerechten Spotte blos zu stel­

len; in welchem der Arme noch am Feyertage pranget. Es gehört aber sehr wenig dazu, die verhaltnißmäßi-

gen Bedürfnisse, welche Stand und Lebensart geben, dergestalt zu unterscheiden; daß der Menschenliebe da

nicht zu nahe getreten werde, wo sie es mir durchaus zur Pflicht macht, mich meines Nächsten mit thätiger

Hülfe anzunehmen.

4) Suche deine Freygebigkeit so anzubrin­ gen und zu beweisen, daß sie die beste tVur#

kung thue; oder, daß durch sie der möglichste Nuz-

zen überhaupt, und für den, der sre zunächst genießt insonderheit, gestiftet werde.

Viele Menschen geben,

ohne zu überlegen, wie sie gebend und was da­ durch gebessert werden sollet

Ihre Freygebig­

keit hilft dem Andern so viel, als gar nichts; blos,

weil sie unrecht angebracht wurde.

Ja sie wird aus

dieser Ursach oft dem, dem man dadurch zu helfen ge.

dachte; noch mehr schädlich. Wir wollen es durch Bey­ spiele ins Licht setzen.

Gefezt, ich kenne eine, in sehr

dürfti-

Von der Dienstftrtigkeit,

19?

Mistigen Umständen lebende Familie. Mein Vermö­ gens» Stand erlaubt es mir, ihr mit zwanzig Thalern beyzuftringen. Nun lasse ich eine kostbare Mahlzeit für sie anrichten; wodurch jene zwanzig Thaler gerade drauf gehen. Was für Ruhen habe ich nun durch meine Freygebigkeit gestiftet? Eine einzige Sättigung, die auf einen Tag hinreichen mag? die sie aber von Morgen an, allem vorigen Kummer und Hunger von neuem wieder übexläßt? Wie viel nvzlicher hätte ich meine Freygebigkeit für sie machen können; wenn ich den einen Theil ieneö Geldes dazu angewandt hätte, je­ nen Armen die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens in der Art und dem Maaße anzuschaffen, daß sie da­ durch einige Wochen und vielleicht Monathe lang, für die drückendste Noth gesichert gewesen wären ? und wenn ich durch den andern Theil sie in den Stand gesezt hät­ te, vermittelst eines gewissen Gewerbes oder einer Handthierung sich dm künftigen Unterhalt selbst ver. schaffen zu können? Oder gesezt: ich wollte iene zwan­ zig Thaler jenen Armen gerade zu selbst in die Hände geben; ohne versichert zu seyn, daß sie auch die Klug­ heit haben würden, sie zur würklichen Verbesserung ih­ res Nahrungsstandes anzuwenden? Wenn ich es nun ihrer Unbesonnenheit dadurch möglich gemacht hatte; Ausschweifungen zu begehen, und sich und andern zn schaden: wie viel war denn meine Freygebigkeit werth? Sittenlehr« IV. Th. N 5) Ma-

»94 5)

Vou der Dienstftrtigkeit. Mache dich mit deiner Freygebigkeit

für die weitere Zukunft hinaus, nicht zu Et­

was gewissem anheischig; durchaus nothwendig ist.

wenn

es

nicht

Bewahre dir, wo du

sannst, deine Freyheit; dich nach den jedesmaligen

.Umständen richten zu können.

Freylich hat dis oft sei­

ne Unbequemlichkeiten für den Andern, auf den sich

unsere Freygebigkeit bezieht.

Man wird sagen: die­

ser kann seine Einrichtung besser darnach machen, wenn

er weiß, wie viel ihm meine Güte jährlich gewiß zu-

stießen lassen werde? Allein 1) wenn du nur stets ein

Herz voll Menschenliebe Ley dir bewahrst; so wirst du dich seiner auch ferner annehmen. Du wirst dir die unvollkommne Pflicht, oder den Liebesdienst, nicht nur eben so heilig seyn lassen; als wenn du ihn dir in eine

vollkommne oder Zwangspflicht verwandelt hattest: son­

dern du wirst ienen auch williger und fteudiger üben,

als diese.

2) Der Andere kann dir doch in dem, was

blos Liebespflicht ist, mit -Recht keine Vorschriften ma­

chen? Wenn es ihm schon behaglicher und bequemer

ist; etwas, als eine vollkommne Schuldigkeit von dir erwarten zu können: so geschieht ihm doch kein Unrecht;

wenn du deine Freyheit vorunnöthigen Fesseln bewahrst.

3) Du entgehst oft dadurch unendlich vielem Verdrusp; wenn du das, was Liebespflicht ist, nicht in Zwangs­

pflicht übergehen lassest.

4) Du verhütest dadurch,

daß

Von der Dienstfertigkeit.

195

daß der andere sich nicht vielleicht liederlicher Weise aufdeine Güte verlasse; und in der Zukunft seine Kräf­

te da im Müßiggang verschwende, wo er durch pstjchtmäßige Anwendung derselben, ohne deine Hülfe lebe»

könnte.

Die Umstände, Schicksale und Bedürfniss«

der Menschen sind, wie alle Dinge in der Welt, der Veränderung unterworfen. 5) Du raubst dadurch an.

dern, noch Bedürftigern, die dir in der Zukunft vor­ kommen können; nicht die Möglichkeit, durch dich ge­

holfen werden zu können; wenn du dir deine Freyheit bewahrt hast.

6) Du weißt nicht, ob es dir die Zu­

kunft möglich lassen wird, der Freygebige bleiben zu können, der du heute seyn kannst?

Hieher gehört auch noch eine andere Betrachtung;

diese nemlich: Allgemeine Einrichtungen und öffentliche

Anstalten zur Verpflegung und Unterstützung derienigen Armen überhaupt, die zu ieder gegenwärtigen Zeit würklich da seyn werden; sind sehr gut und löblich.

Aber, was soll man zu solchen Verpstegungs-und Unterstützungs - Anstalten sagen, die für Personen gewissen Grandes ausschließungsweise schon

zum voraus bestimmt stnd;

ohngeachtet man

nicht weiß, ob nicht viele dieser Personen es gar nicht nöthig haben werden, auf diesem Wege erhalten wer­

den zu müssen? Dadurch wird offenbar den würklich

N 2

Armen

Von der Dienstfertigkeit.

196

Armen ist der Gesellschaft, meß Standes sie auch seyn mögen; das BriH geschmälert und entzogen. Hieher gehören z. E. alle Wittwen r Lassen, die aus« schließungsweise für einen gewissen Stand er­

richtet sind. Die Erfahrung lehrt es, daß denn so manche Wittwe eines solchen Standes, bey allem an­ derweitigen Vermögen und gesunden Kräften, die sie besizt, ohne Noth durch fremde Hülfe unterhalten wird: da hingegen andere Wittwen anderer Stände, die jene Wohlthat nicht genießen; ihr Leben in Hunger und Kummer verseufzen müssen. Und wie^ wenn bey so bewandter Sache die andern Stände zur Erhaltung je­ ner Privat-Casse für einen gewissen einzelnen Stand, noch obenein beytragen müssen? Ist das nicht Unge­ rechtigkeit? Wo das aber auch nicht ist; wo ein Stand für seine künftigen Wittwe», ohne Unterschied, sie mö­ gen reich oder arm seyn; allein zusammen legt: heißt das nicht, den Parthey-Geist und Standes-Stolz zum Nachtheil der allgemeinen Menschenliebe, in der Gesellschaft nähren und unterhalten ? Wenn du Jemandem, vermittelst Vorschusses von deinen irrdischen Gütern auf eine gewisse bestimm­ te Zeit, wo alödenn die Zurückzahlung an dich gesche­ hen soll, gedienet hast: es zeigt sich aber alödenn die 6)

erweißliche und sichtbar» Unmöglichkeit von

seiner

Bon b:r Dienstfertigkeit.

197

feiner Seite; dir diese, oder überhaupt eine ihm bey dir entstandene Schuld, iezt abtragen zu können: so er.

laubt es dir freylich wol die Gerechtigkeit, auf deine Forderung und die ungesäumte Erfüllung derselben be­

stehen zu können.

Die höhere Tugend der Gütig­

keit aber ruft dir zu: Sep nicht allzu gerecht! — Sie gebiethet dir, Geduld mit dem gegenwärtigen

Unvermögen deines Nächsten zu haben ; ihm Zeit za lassen; Und es ruhig abzuwarten, ob die Zukunft ihn in den Stand sehen werde, dir bas Deinige zurückge­

ben zu können? im Fall Vernunft und Menschenliebe eö dir nicht schon iezt zur Pflicht machen; deine An­

sprüche sofort fahren zu lasten, und deine Forderung an ihn zu feinem Besten zu vernichten.

Und gesezt: dei­

ne eigenen Umstände nöthigten dich, dir dein Recht an

ihn vor der Hand noch zu bewahren; es entflöhe dir

aber endlich doch die lezte Wahrscheinlichkeit, zu dem­ selben gelangen zu können: so gebietet dir die Tugend

der Freygebigkeit; mir willigem und zufriedenem Herzen die Handschrift, sie mag nun auf hun­ dert Groschen, oder auf taufend Pfund lauten; zu zerreissen.

Du bist kein Menschenfreund;

wossrn du deinen Schuldner bey seinem erweißlichen

Unvermögen durch die Macht der Gerechtigkeit drängst, oder auch nur mit beleidigenden Vorwürfen verfolgst.

N 3

7) Du

198

Von der Dienstfertigkeit.

7) Du kannst nicht aller Menschen wahre Bedürf­ nisse wissen und kennen; noch weniger ihnen allen ab­

helfen. Deine Verpflichtung zur Freygebigkeit schränkt

sich also nur auf diejenigen ein, die dir jedesmal als derselben bedürftig, bekannt werden.

Es

werden sich ihrer auch für dein Vermögen überall hin­ reichend genug finden.

Unter diesen aber muß deine

Freygebigkeit durchaus unpartheyisch seyn. Nichts, als das würklich größere Bedürfniß darf dem Einen den

Vorzug vor dem Andern in deinen Augen geben. Kei­

ne Freundschaft; keine, es sey Bluts - oder StandeSBerwantzschaft; kein Religions-Wahn; kein Stolz,

oderEigennuh, oder irgend eine andere falsche Neben-

Absicht darf dich hier seitwertS leiten: wenn du auf den Nahmen eines Menschenfreundes Anspruch machen willst.

Hast du cirt Herz, daö würdiger Gesinnungen

fähig ist; so werden deine Augen gewiß scharf genug se­

hen, und auch den geheimen Kummer entdecken, der hier, oder da, im Verborgenen an einem menschlichen Herzen nagt: und deine freygebige Rechte wird da un-

bemerkt Hülfe und Rettung hinschaffe«, wo bis dahin

vergebens darnach geseufzet ward.

Kann denn schon,

weil kein sterbliches Auge der Zeuge deiner edlen That war; auch keine laute Dankbarkeit deinen Namen nen­

nen:-wie schadlos werden dich dein inneres Bewußt­

seyn , der frohe Anblick des Geholfenen, und die noch dank-

Von der DicusifertigkttL

199

dankvollem Empfindungen des Herzens halten, mit welchen dieser seinen unbekannten Wohlthäter desto ge­

rührter ftegnet; ie sorgfältiger sich derselbe seinen Au-

gen entzog.

2) Die Dienstfertl'gkeit zeigt sich auch in ge­ fälligen Bemühungen, die man für An­ dere übernimmt. Wir wollen hiev a) von der Fürsprache mfonB

derheir,

und dcnn b) von den übrige» gefällt«

gen Bemühungen

für

Andere

überhaupt

das nöthigste bemerken.. a) Die Fürsprache^ welche man für Jemanden einzulegen, Gelegenheit hat; kann mancherley Absich­

ten haben.

Die vornehmsten und gewöhnlichsten der­

selben sind: entweder; Jemanden wegen seiner be­ gangenen Fehler billige Nachsicht und Schonung bey

dem beleidigten Theilezuverschaffen; oder, Jem an, des Unschuld zu vertheidigen; oder. Andere geneigt

Zll machen, einem Hülfsbedürftigen diejenige Hülfe

und Gtmstbezeugung wiederfahren zu lassen, der ma» ihn für würdig und bedürftig hält; unb die man ihm

doch nicht unmittelbar ftlbst erweisen kann. i) Da alle Handlungen des Menschen natürliche

Folgen seines jedesmaligen Empßndungs- und Vorstellungs- Systems sind; die Beleidigungen auch um

Von der Dienstfertigkeit.

aoo

der verschiedenen Einsichten, Neigungen, Kräfte und

Beschaffenheiten der Menschen willen, nicht ausblei­ ben können: Da ferner nicht ein Jeder, der sich für be­ leidiget halt; sich auf die beste Art gegen seinen angeb­

lichen Feindzu verhalten weiß: so ist es durchaus Pflicht;

so viel man kann, durch seine Vermittelungen den Un­ willen zu stillen, den Jemand wider seinen Beleidiger gefaßt hat.

Der Menschenfreund findet sich überall,

wo sich ihm eine Gelegenheit darzu darbeut; aufgefordert: den zornigen Theil zu besänftigen, und dem für schuldig gehaltenem Nachsicht zu verschaffen. — Diese Pflicht ist in unsern Tagen um so viel nothwendiger; je weniger die Wahrheit noch allgemein eingesehcn wird:

-aß ein ieder Mensch mit allen seinen freyen Handlungen an dem Maaße seiner Erkennt­

niß gebunden ist; ger,

folglich selbst der Beleidi­

in dem Augenblicke,

da er beleidigte,

nicht anders handeln konnte,

kenntniß es mit sich brachte.

als fein Er­ Ich sage, jene

Pflicht der Fürsprache ist um so viel nothwendiger: ie

mehr noch immer dem Menschen ein, von seinem Ver­ stände und gesamten Erkenntniß unabhängiger Wille

angedichtet wird, über den man ihn so ost strafbar fin. den will; und ie mehr selbst die öffentlichen Ge­

setze auf diesen Irthum gebauet; mithin von

ungerechter Strenge sind.

Was man also thun kann,

Von der Dienstfertigkekt.

201

kann, um sowol dem richtenden Theile der Gesellschaft; als auch dem in einzelner» Fällen beleidigten, und über Las Vergehen seines Nächsten aufgebrachten Bürger; sanftere, gelindere, und nachsichtsvollere Gesinnungen gegen den, der gefehlt hat, einzusiößen: gehört unter die theuersten Pflichten der Menschenliebe. — Es wird in der Folge bey den liebreichen'Zurechtweisungen, die ich dem Irrenden schuldig bin, gezeigt werden: wie rnan sich in Absicht auf diesen zu verhalten habe; um auch ihn zu bessern Einsichten, und dadurch zu einem bessern Verhalten zu leiten. Allein iezt ist die Rede nur von der pflichtmäßigen Fürsprache, durch die ich ihm bey dem beleidigten Theile, oder der Obrigkeit, Nachsicht zu verschaffen suchen soll. Um diese Pflicht recht üben zu können; muß man sich den nöthigen Grad von Klugheit anschaffen: um sich die gesammte sagen, sowol des Beleidigers, als des Beleidigten, nach ih. ren Erkenntnissen, Neigungen, Gesinnungen, äusser­ lichen und innerlichen Beschaffenheiten und Verhältnis­ sen; ferner, um sich die Beleidigung selbst, nach ihrer Beschaffenheit, Ursachen und Folgen recht vorstellen; und denn die best« Art wählen zu können, in der man seine Fürsprache mit der Hoffnung des glücklichsten Er­ folges anzubringen habe. Diese habe denn einen Ge­ genstand, welchen sie wolle; so muß sie doch stets die allgemeine Eigenschaft haben; daß sie nicht wider N 5 die

208

Vott der Dienstfertigkeit.

die innerliche Aufrichtigkeit streite,

mit der

ich als ein ehrlicher Mann einem reden Men­ schen ohne

Ausnahme verpflichtet bin! —•

Je mehr man sich von den verschiedenen Graden des menschlichen Erkenntniß-Vermögens, und von der

nothwendigen Abhängigkeit aller menschlichen Hand­ lungen von ihrem jedesmaligen EmpfindungS-und Vor-

stellungs-Sysieme überzeugt: desto williger wird man seyn, sich überall, wo man nur kann, nach seinem be­

sten Vermögen des Irrenden und Fehlenden gegen den, der über ihn zürnen will, anzunehmen.

Und ie mehr

man die einzelnen Menschen, mit denen man es dabey zu thun hak; nach ihren besondern Grundsäßen, Nei­

gungen, Leidenschaften, und Verhältnissen insonderheit kennt: desto fähiger wird man seyn, seine Fürsprache

recht anzubringen; und desto gewisser wird der gute Er­

folg derselben, unserer menschenfreundlichen Absicht und Erwartung entsprechen.

2) Bey Vertheidigung der Unschuld haben wir uns vornehmlich vorzusehen: daß wir uns i) von der Unschuld dessen ,

überzeugen.

den wir vertheidigen wollen; recht

2) Diese Vertheidigung selbst, aus die

beste Art führen: dergestalt, daß die Unschuld selbst

nicht nur ins möglichste Licht gefezt werde; sondern un­

sere Vertheidigung selbst, auch keine Uebertretung hö­

herer

Von der Dienstfertigkeit.

203

herer Pflichten, keine Aufopferung eines grössern Guts, und insonderheit keine würkliche Beleidigung Anderer, und desjenigen, gegen den sie gerichtet ist, mit sich

führe.

tt>tv dürfen nicht gegen den Einen ge­

recht; und gegen den Andern ungerecht seyn.

3) Wenn wir bey unserer Fürsprache für Jeman­ den die Absicht haben; Andere geneigt zu machen, ihm

das Glück zuzuwenden, welches, unserer Meynung

nach, von ihnen abhangt: so wollen wir sie zu einer

Freygebigkeit und Güte bewegen, die wir in dem vor­

seyenden Falle gern selbst üben möchten; aber nicht üben können.

Wir müssen also die Regeln dabey zu,

gleich in Acht nehmen, die bey der Freygebigkeit vor­

geschrieben sind.

Wir müssen insonderheit prüfen: ob

der, dem wir ein gewisses Glück zuwenden wollen; desselben auch wahrhaftig bedürftig fty? oder, wenn es die Beförderung zu einem gewissen öffentlichen Amte

in der Gesellschaft betrifft? ob durch unsere Empfeh­ lung des Einen; nicht ein anderer Geschickterer zurück-

gesezt werde? mithin die Wohlfarth der Gesellschaft durch unser Verlangen in Gefahr gerathe, verwahrlo­ set und verrathen zu werden ? ob überhaupt unsere Ver­ wendung für den Einen; nicht zugleich eine Ungerech­

tigkeit gegen einen, oder mehrere Andere sey? ob viel­ leicht blos Einbildung und Leidenschaft, oder Frenndschast

Ddn der Dienstfettlgketk.

204

fchast und Verwandschaft, Jenen uns so empfehlungs­

würdig machen? Wir müssen ferner überlegen; ob der, beydem wir etwas suchen, auch im Stande sey, unser Verlangen zu erfüllen? ob wir nicht vielleicht schon selbst hinlängliche abrathende Gründe sehen, de­

nen erwerbe folgen müssen; weil die Vernunft sie billi­ get? In diesem Falle würde unsere Fürsprache nicht blos

vergeblich, sondern auch ungerecht seyn; weil sie eine unnöthige Behelligung des Andern wäre, und etwas unrechtmäßiges von ihm begehrte. —

Wir müssen

endlich, wenn wir auch von der Güte unserer Absichten und der Möglichkeit ihrer Erfüllung bey dem Andern, überzeugt zu seyn glauben; es doch nie vergessen: daß ticv,

von dem wir etwas erhalren wollen;

feine Freyheit und das Recht behalten müsse,

für sich selbst zv urtheilen; sich selbst zu ent­

schliessen;

und nach seinem eigenen Gutbe-

stnden zu handeln.

Wir dürfen es also nie als ei-

ve Beleidigung ansehen, wenn er unsere Empfehlung

verwirft; und andern Gründen folgt, als die wir ihm vorgelegt haben.

Bey dem Anbringen der Fürsprache

selbst müssen wie die Klugheit beweisen, die oben em­ pfohlen ist: und mir Beybehalrung verwahren Aufrichtigkeit gegen Jedermann, uns nach der

Erkenntniß, den Neigungen und dem Geschmack deßienigcn richten, den wir zum Vortheil eines Dritten ein-

Von der Dienstfertigkelt-

205

einnehmen wollen; wenn unsere Empfehlung keinen widrigen, sondern glücklichen Erfolg haben soll. b) Von den anderweitigen gefälligen Be­ mühungen für andere überhaupt.

Hieher gehört jede willige Uebernehmung gewisser Geschäfte für Andere; und jede theilnehmende Besor­ gung ihrer Angelegenheiten, von welcher Art sie auch ftyn mag; wenn sie nur ohne Ungerechtigkeit gegen Andere, zur Erhöhung der Wohlfarth und Zuftiedenheit Jener abzielt, unb dazu nothwendig iss. Es versseht sich von selbst: daß hier von keinen solchen Angelegen­ heiten die Rede ist, an deren Besorgung der Vorrats nur Theil nehmen kann. Dis wäre wider die Regeln der Friedfertigkeit: und die Gütigkeit kann nichts befehlen, raas^die Gerechtigkeit verbiethet. Nein, es gibt andere Angelegenheiten, über die der Nächste mich entweder um meine Dienstfertigkelt an­ gesprochen hat; oder, von denen ich doch mit Wahr­ scheinlichkeit voraus sehen kann: daß er meine fteywillige Theilnehmung daran, als keine Beleidigung seiner Freyheit; sondern als ein Zeichen meiner Freund­ schaft gegen sich ansehen werde: Angelegenheiten, wo ich mit Beybehaltung der Gerechtigkeit und Menschen­ liebe gegen Jedermann, seine Zuftiedenheit und sein Glück erhöhen, und ihn durch meine Dienstftrtigkeit mft

206

Volk der Dienstfertigkeit.

mir zur Dankbarkeit und Gegenliebe verbinden kann. Das Auge des Menschenfreundes sieht solche Gelegen­ heiten bald: und sie blos sehen; ist ihm Aufforderung genug, so viel von seiner Zeit, von seinem Vermögen

und selbstvon seinen persönlichen Bemühungen darauf zu verwenden; um dem Nächsten indem Grade gefäl­

lig zu werden, als es die Umstände zulassen wollen.

Er wendet seine möglichste Klugheit an; um seinen Dienst demselben so nüzlich, als möglich, zu machen.

Er stellt sich in Gedanken in des Andern Stelle; und untersucht, welche Art seines Verhaltens dabey dem

Nächsten die größte Freude machen und den meisten Vortheil bringen würde? Diese wählt er für sich; und

der Gedanke: dem Andern dienen, und ihn über die Beförderung seines Glücks froh machen

zu können, erleichtert ihm auch saure Mühen und

Beschwerlichkeiten, mit welchen sein Dienst verbunden ist,

Es ist nicht möglich, alle die Vorfälle anzufüh­

ren , wo wir durch unsere gefällige Bemühungen die

Zufriedenheit des Nächsten bauen können.

Zeit, Um­

stände, und jedesmalige Bedürfnisse geben sie uns an. Indessen gehören, die willige und liebreiche Pflege in

Krankheiten, und die gewissenhafte Uebernehmung und Führung der Vormundschaften vorzüglich hieher.

Bey den leztern haben wir freylich unsere Kräfte und Lage in der Welt zu prüfen; ob sie uns die Ueberneh-

mung

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit, 207 mung derselben zum Vortheil der Unmündigen erlau.

ben? damit wir uns keiner Verwahrlosung derselben

schuldig machen: im übrigen aber, mit der möglichsten Treue, die väterlichen Pflichten,

auch selbst unter

sauern Beschwerden, zu üben; und uns dabey nach

denen Vorschriften zu richten, die uns die öffentlichen

Gesetze darin zu befolgen gebiethen.

B. Von dem Mitleiden und der Barm­

herzigkeit. Die Gütigkeit oder Menschenliebe zeigt sich ferner in dem Mirleiden unv den Erweisungen der

Barmherzigkeit gegen Elende und

dende.

Um des besondern Gegenstandes willen, auf

welchen sich dit se Tugenden beziehen; scheiden wir sie

von der allgemeinen Dienstfertigkeit, und wollen sie

besonders erwegen.

Der besondere Gegenstand des

Mitleidens und der Barmherzigkeit sind, vorzüglich nothleidende Menschen, die unter schmerzhaften Empfindungen seufzen.

Diese Empfindungen mögen

nun aus würklichen Schmerzen des Leibes; oder aus

kummervollen Vorstellungen, von denen sie geplaget werden;

oder aus der besonders traurigen Lage entstc-

hen, in der sie sich in Ansehung ihrer äußern Umstan­ de, Verhältnisse und Verbindungen in der Gesellschaft

befin-

208 Vom Mitleide» und der Barmherzigkeit, befinden. Es ist wahr: die Pflichten der Dienstfertigkeit und Freygebigkeit, von denen wir vorhin gere­ det haben, forderten schon zu Werken der Barmherzig­ keit auf, und sezken ein gewisses Mitleiden voraus. Allein, iene Dienstfertigkeit erstreckt sich vornehmlich über die leichtern Fälle, wo ich das Glück meines Näch­ sten verbessern kann. Das Mitleiden hingegen, wo­ von wir hier reden, wird eigentlich nur bey harten und dringendem Fällen seiner Noth rege; und die Barm­ herzigkeit in denselben geschäftig. Ueberdiö wollten wir dort die Materie nicht zu sehr anhäufen; sondern durch eine schickliche Absondemng, die uns möglich schien, dem Leser die Uebersicht des Ganzen leichter machen.

I. Vom Mitleiden. Ein Mensch muß von sehr harter Gemüthsart und dabey durch Erziehung, Vomrtheile und Gewohnheit sehr abgestählet seyn; wenn er bey dem Anblick einer außerordentlichen Noth des Nächsten keine Erschütte­ rung in seinem Inwendigen fühlt. Unsere Selbstliebe ist ein unauslöschlich reger Trieb nach unserer Glückse­ ligkeit: und faßt das heftige Verlangen in sich, unser Leben, unsere Zufriedenheit, unsere Ehre, Güterund Freyheit zu erhalten; und alles dasjenige von uns zu entfernen, was uns mit Schmerz, Kummer, Schon-

Vom Mktleidett und der Barmherzigkeit. 209

de, drückender Armuth, Sclaverey und Tod bedrohet« Kennen wir gleich diese Uebel oft nicht aus eigener Er­ fahrung; so zwingt uns doch jenes starke Verlangen nach den entgegengeftzten Gütern, ste zu verabscheuen. — So bald wir nun einen andern Menschen sehen: so überzeugt uns schon der bloße Anblick, daß wir ihn für ein Wesen annehmen müssen, das uns gleich iss. Wir finden in ihm unsere eigene Na­ tur. Wir sehen ihn auö demselben Stoff gebauet, aus welchem wir selbst zusammengesezt sind; und alle seine Glieder undTheile auf dieselbe Art geordnet, wie bey uns. Wir können uns heimlich des Schlußes nicht erwehren, daß seiner äußerlichen sichtbaren Aehn. lichkeit und Gleichheit, die er mit uns hat, zufolge; ihn auch inwendig eine ähnliche Selbstliebe treiben, und er in den verschiedenen Lagen, in welchen unsere Selbstliebe sich freuen, oder fürchten, oder zagen wür­ de; dieselbigen Empfindungen hafien werde. Daher die schnelle Würkung, welche der Anblick seiner gegen­ wärtigen jage auf uns macht! Wir sehen ihn sich freuen: und es müssen ausdrückliche Hindernisse, und ein besonderes Gegengewicht sich bey uns befinden; wenn seine Freude nicht sogleich sich uns mittheilen, und auch unsere Gesichtszüge schon zum voraus aufheitern sollte; ehe wir selbst noch einmal die Ursach seiner Freu­ de wissen. Wir hören ihn klagen: und fangen schon S'ttenlehrelV.rh. 0 an

21 o Vom Mitleidett und der Barmherzigkeit, an zu fürchten.

Wir sehen ihn zittern und ängstliche

Bewegungen machen: und eö überfallt uns schon eine

Bangigkeit;

ehe wir noch einmal die Ursach seines

Schmerzes verstehen.

Wir sehen eine Last, die ihn

zerschmettern will, über ihn, der sorgenlos darunter

steht, herabfallen: und wir zittern an seiner Statt an Handen und Füssen.

Wir werden auf unserm sicher»

sten Standorte, wo wir den geraden Erdboden unmit­

telbar unter unsern Füßen haben, schwindlicht: wenn wir ihn auf einer, gefährlichen Höhe, etwa auf einer

Thurmspitze, klettern sehen.

Ich höre, daß auf der

See ein Schiff unkergegangen sey.

Ich habe keinen

einzigen von den darauf befindlich gewesenen Menschen

gekannt.

Ich gedenke mich aber augenblicklich in ihre

Stelle: Und nun überfällt mich ein Grausen, indem

ich mit ihnen sinke.

Eben ms dem Grunde «stauch

bey allen außerordentlichen Unglücksfällen- bey wel­ chen ei» Mensch leidet;

der Zulauf der übrigen

Menschen so groß: weii die Leiden einer mensch­ lichen LIarur, eine allgemeine Angelegenheit für sie alle sind;

und sie sich alle mir ihrer

Selbstliebe darinn verwickelt fühlen.

Es er­

schallt die Nachricht, daß in der Nahe ein Mensch hin­ gerichtet werde«« soll! Habe ich diesen Menschen gar vorher gekannt? so schwebt mir das Bild von seiner

Person in der größten Lebhaftigkeit vor Augen; und die

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

211

die Vorstellung seines Schicksals wiegelt meine Selbst» liebe zu den unruhigsten Bewegungen einer quälenden Furcht.für ihn aus

Vielleicht lasse ich durch die Ue«

berlegung r daß ich sein Unglück doch nicht hintertreib ben könne; und meinem fruchtlosen Mitleiden nur zu

einer mich folternden Größe anzuwachsen, Gelegenheit geben würde; mich .abhalken, auf der Gerichtsstäte zu

erscheinen.

Aber Hunderte undTaufende wirds geben,

die dem Drang« ihres Gefühls nicht widerstehen kön­

nen»

Es ist Etwas in ihnen, das sie nicht zurück­

bleiben läßt; das sie Schaarenweis dahin zusammen»

treibt. Sie fühlen stch alle selbst zu stark bey dem Ver­ fall intereßivt. — Sie sehen den Unglücklichen zum

Schaffot wandern!

So gleich gedenken sie sich selbst

in feint Stelle; wandern in Gedanken an Seiner Statt diese schreckliche Bahn;

legen sich bei jedem

Schritt die entsezliche Frage vor: wie ihnen zu Muthe seyn würde; wenn sie iezt seine -Fußtapfen zeichnen

müßten 3 Sie werden von allen Empfindungen über­ fallen; von welchen unsere Selbstliebe bey ihrer Zärt­

lichkeit für das Leben, im Angesichte einer unvermeid» lichen Gefahr eines gewaltsanren Todes ergriffen wer» den muß» — Je näher die Gefahr heran rückt; de»

sto mehr reißt sie unsere ganze Aufmerksamkeit an sich: Wir verliehren das Bewußtseyn alles dessen, was uni

und neben uns ist; und haben für nichts anderes eine*

0 s

tziedälir

212

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

Gedanken mehr, was uns sonst auch noch so sehr ein­ genommen haben möchte.

Und woher dis? daher,

weil wir iezt ganz und allein in des Unglücklichen

Stelle stehen: und in ihm unsere menschliche riatuv in der größten Gefahr; urid unsere Selbstliebe von ihrer empfindlichsten Seire

angegriffen sehen.

Selbst das Bewußtseyn: daß

bey der Gleichheit der Namren;

Verschiedenheit

doch eine

der Personen Statt finde;

wird immer schwacher: und verliehet sich bey einigen in ihren Nerven zu zart gestimmten Zuschauern biswei­

len s> gänzlich, daß sie selbst in Ohnmacht, öder wol

gar todt zur Erden sinken! Auch der Eindruck, den ein solcher unnatürlicher Auftritt bey den Andern zurück­ laßt: kann nicht sogleich; sondern nur durch die Länge der Zeit, und durch die folgende Menge und Abwech­

selung anderer, die Aufmerksamkeit zerstreuenden Ge­ genstände erst wieder gemildert und getilget werden.

Aus allen diesen Erscheinungen, die uns die Er­

fahrung liefert; geht die unwidersprechliche Wahrheit hervor: daß die Sympathie eine leibliche Toch­

ter der Selbstliebe sey.

wir würden kein

Gefühl für unsers Gleichen haben;

wir es für uns selbst nicht!

hätten

Freylich ist dieses

Gefühl nach Maaßgabe der verschiedenen Beschaffen-

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.

213

Heiken der Menschen in ihren festen und siüßigen Thei­ len deS Cörperö; den Graden nach tpifer ihnen verschie­

den.

Und noch mehr Verschiedenheit können Erzie­

hung, Grundsätze und Gewohnheiten einführcn. lein es fehlt doch in keinem Menschen ganz.

Al­

Eben so

wenig kann auch die Sympathie in irgend einem Men­ schen , durch irgend ein Mittel, mit der Wurzel aus-

gerottet werden.

Ehe dis geschahe; müßten einem

Menschen nicht nur alle die Beweise, die ihm seine Sinne geben, daß der Andere ein Mensch, wie er,

sey; ausgelöscht: sondern selbst seine ganze menschliche Natur zerstöhrt;

und seine Selbstliebe, die keinen

Schmerz lieben und kein Glück hassen kann; vernich­

tet werden.

Eben daher kommt es auch, daß wir gegen andere Geschöpfe ein Mirleiden nach dem Maaße mehr, oder weniger/ oder gar nicht

fühlen;

als ihre tlaruren unserer menschli­

chen Narur näher, oder entfernter verwandt

sind. Wir sehen an einem Thiere mehr Uebereinstim­ mung mit dem Menschen, als an einem Baume; und

noch weniger an einem Steine.

Ich zerschlage daher

einen Stein; ohne daß es mir einmal ein fällt, daß

derselbe etwas dabey empfinden könne: und eben deß­ wegen auch ohne das mindeste eigene Gefühl von eini-

0 3

gern

? 14

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

gem Mitleiden.

Hingegen für einen Baum, dessen

(eben schon sichtbarer ist; gibt die menschliche Sprache

schon aus dem Gebiethe der menschlichen Empfindun­ gen , Worte zur Bezeichnung seines Zustandes her. Man sagt von einem Baume, der auf einem seiner

Matur recht angemessenem Grunde und Boden in volsein Wachsthum« steht: Er stehe stolz da-l er brüste sich! er fühle sich in seiner Wollust!

Hingegen von

hem, der auf einem seiner Natur widersprechendem

Boden nicht fort will:

Er kümmere und jammere!

Eine abgepflückte Blume sieht man mit einer Art von

Anmuth und Theilnehmung verwelken.

Oder: Man

par etwa genölhiget, einen gesunden und frischen Baum

obzuhauen.

Und wenn er auch gar keine Fruchtbar­

keit hatte, die uns ihn werth machen konnte; so ist

hoch «in gewisses, dunkeles, unastgenehmes Gefühl

bey uns da, das uns der Anblick seines zerstöhrten Le­ hens erweckt.

Sehen wir vollends auf die Thiere; so

ist der Mensch gegen ihre unglückliche Lage eines Mit-

teidens fähig, dessen er sich deutlich bewußt ist.

Es

geht uns nahe, die Verzückungen eines Thiers in sei­ nem schmerzhaften Leiden mit anzusehen: Und ie nä­ her dis Thier am Menschen stehr;

ie weiter

sich seine tlatuv vom Pflanzenreiche entfernt: desto deutlicher ist unsere Vorstellung seines dchmerzetls; desto lebhafter unsere theilneh-

mende

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. mcnde Empfindung.

Nervenbau,

215

Ein Mensch von feinerem

und der durch gegenseitige Gewohnheit

nicht abgehärtet ist; ist nicht im Stande, ein solches Thier zu todten, oder todten zu sehen.

Eine Fliege

oder Mücke kann er allenfalls todtschlagen: weil ihr

Standort näher am Pflanzenreiche fällt.

Unsere gan­

ze Sympathie mit den Thieren gründet sich also offen­

bar auf die größere Uebereinstimmung unk»

Aehnlichkeie, die wir zwischen den Naturen derselben und der menschlichen Natur bemer­ ken.

Wir finden an den uns näher stehenden Thie­

ren, so wie an uns selbst, einen Knochenbau, der mit

Fleisih: und dieses mit einer Haut überzogen ist. Wir

finden auch ihre Adern mit Blm gefüllt.

Wir finden

Sehnen und Nerven, Sinne und sinnliche Werkzeuge,

Glieder, Triebe, freye Bewegbarkcit, thätiges Leben u. f. w. bey ihnen, wie beym Menschen.

Je starker

diese Ueberernstimmung und Aehnlichkeit ih­

rer Natur mir der unfrigen, in unsere Sinne fällt:

desto

weniger

können wir uns des

Schluffes auf ähnliche Empfindungen, die

sie nach Maaßgabe einet ähnlichen Natur haben müßen, erwehren.

So bald wir sie also

sich freuen oder leiden sehen: fühlt sich unsere- eigene

Natur, nach dem Maaße der Verwandtschaft mit der ihrigen; zu gleichen Empfindungen aufgeforderr. wir O 4

fin-

216

Vom Mitleidm und der Barmherzigkeit,

finden uns, nach diesem Maasstabe, selbst in den Thieren; und unsere Selbstliebe freuet sich, oderzit»

tert in diesem Verhältnisse mit ihnen. Daß die Sympathie kein besonderer erster

Grundtrieb in der menschlichen Natur sey: sondern blos als eine Frucht und würkung

aus dem einzigen Grundrriebe der Selbstlie­

be stamme; ist auch aus folgenden Gründen noch erweißlich:

a) Weil wir gerade nur in der Art und dem Maaße mitempfinden; als es unser eigenesEmpfindungö »und

Erkenntniß - Vermögen jedesmal erlaubt und mit sich bringt: keineöweges aber in der Art und in dem

Maaße; in welchem wir den außer uns Leidenden em­ pfinden sehen.

Z. E. Gesezt, ich sehe einen Menschen,

bey seinen schwachern Einsichten, über ein ihm zuge­

stossenes Unglück mehr jammern; als diS Unglück nach meiner bessern Einsicht beiammertzu werden ver­

dient: so wird ia mein Mirleiden bey weitem nicht an feinen trostlosen Rümmer reichen können? In andern Fällen werde ich mich vielleicht gar über

sein Jammern wundern; und es überhaupt frem­ de, oder thöricht finden; oder gar darüber la­

chen. u. s. w.

Alles dis könnte aber nicht seyn; wenn

Sympathie ein Grundtrieb der menschlichen Natur wäre!

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.

217

wäre! AlSdenn müßte ich überall aufdieselbeArtund

in demselben Maaße mitfühlen; wie mein leidender

Nächster selbst fühlt.

So bald aber Sympathie die

Würkung meiner Selbstliebe ist; die nur durch meine

Empfindungen und Vorstellungen in ihren Würkunge» bestimmt wird: so lasten sich jene Erscheinungen gleich

daraus erklären; und können natürlicher Weise nicht anders erfolgen, als sie gefunden werden.

b) Die Menschenopfer, auf den Altaren desAberglaubens gebracht; die Grausamkeiten, mit welchen

die Wilden ihre Feinde langsam 311 Tode quälen; alle Jammer-Scenen, welche eine rach, und blutdürstige

Leidenschaft ie aufgestellet hat; alle diese Unmenschlich, feiten, sage ich, würden sich gar nicht erklären lassen; sie hätten unmöglich würklich werden können: wenn die

Sympathie für sich ein reiner Grundrrieb der Menschheit;

Md keine, bloße würkung der

Selbstliebe wäre.

Die Selbstliebe kann alle jene

schreckliche Thaten würfen: so bald sie durch gewisse Empfindungen und undeutliche Vorstellungen von dem,

was ihr Glück betrifft, dazu gestimmt wird.

Lebte aber

die Sympathie, als ein unmittelbarer, und von der

Selbstliebe unabhängiger erster Grundtrieb in unserer Natur; so müßte das Entstehen jedes mord-und blut­

dürstigen, ia selbst schon jedes nur im kleinsten Grad«

0 5

feind-

218 Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. feindseligen Gedankens gegen einen andern Menschen,

überallvölligunmöglich seyn.

Ein solcher Gedanke;

ia die bloße Fähigkeit ihn fassen zu können; wäre alsdenn der menschlichen Natur schnurgerade widerspre­

chend.

Was hätte denn unterdessen und während der

Zeit, da die Aachbegierde tödtete, der Grundtrieb der

Sympathie in diesem Menschen gemacht?-Hätte er unterdessen etwa im eigentlichen Verstände geschlafen? Oder, ist etwa die tödtende Rachbegicrde auch ein

Grundtrieb der Menschheit? der, wenn er will, den Grundtrieb der Sympathie übermannen kann? Wel­

cher Widerspruch wäre denn in der menschlichen Natur angebracht? Da dis aber unmöglich ist; welcher Wi­

derspruch liegt folglich in bett Begriffen? und welche

lächerliche Behauptungen stießen aus der Meynung: daß Sympathie ein erster Grundtrieb

für

sich; und keine würkung des einzigen Grund-» triebes der Selbstliebe seyn solle.

c) Woher kommt es denn, daß, wenn unserem

Freunde, und einem Fremden; oder gär unserem Fein, de; wenn, sage ich, diesen verschiedenen Menschen zu

gleicher Zeit ein gleich harter Unfall betroffen hat: daß alödenn unser Mitlciden mit dem freunde, das groß, te ist? Das könnte doch auch nicht statt finden; wenn

Sympathie ein Grundtrieb wäre.

Dieser müßte ge­ gen

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.

219

gen den Feind so stark; als gegen den Freund sich zei» gen.

Ader kommt jene Erscheinung nicht daher; weil

sich unsere Selbstliebe bey dem Freunde am meisten in«

tereßirt findet?

Aus dem allen, was bisher gesagt ist; ergibt sich nun aufs deutlichste: daß wir durch unsere Selbst­

liebe zum Mitleiden gestimmt stndr und daß di? nach dem Maaße von uns stärker, oder

schwächer, gefühlt wird; je nachdem unsere Vorstellung von den schmerzhaften Empfin-

Hungcn dos Leidenden, genauer mir der Vor­ stellung übercincrifte,

dir wir uns von un#

ferm eigenen schmerzhaften Gefühle machen, das wir in feiner Lage haben würden.

Da,

wo wir uns diese Vorstellung gar nicht ma­ chen können;

oder ste doch würklich nicht

haben; findet auch Vein Mitleiden start. Mein, was kann nun in Ansehung des Mit­

leidens gegen seinen nothleidenden wachsten, von dcmienigen gefordert werden; der den Nahmen ei­

nes Menschenfreundes führen will? Es ist offenbar; daß, da die Menschen in ihren einzelnen natürlichen

sigen Theile, woraus sie bestehen, insonderheit in An. sehung ihres Bluts und Nervenbaus, so sehr verschie­

den

820

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

den sind; man daher auch schlechterdings nicht von

mehrer» Menschen, die zugleich Zeugen von ein und

eben demselben Unglücksfaüe ihres Nächsten sind; for*

der» könne: daß sie alle einerley starke Bewe­ gung des Mitleides fühlen sollen.

Ich sage,

dieser Forderung widersprechen iene natürliche Verschie­ denheiten, welche ihren Personen zukommen.

Und

diese sind mit der größten Weisheit und Güte zu den

besten Absichten von dem Schöpfer unter sie eingesührt. Denn zu geschweigen, daß diese Verschiedenheiten zu

der Schönheit der Welt, die aus der Mannigfaltigkeit

ihrer Theile überhaupt erwachst; nothwendig erforder­ lich waren: so ist dadurch zugleich auch für alle Arcen der Hülfsbedürfrigen am vollständig­

sten gesorgt.

Ein einzelner Mensch kann und soll

nicht aller Noth abhelfen.

Die gesamte Noth

aller Menschen in der Gesellschaft, ist eine all­

gemeine Angelegenheit aller Mitglieder.

Jene

ist von vielfacher Art. Es müssen also auch vielfach ge­

stimmte Menschen da seyn; von denen ein Jeder da

fühlt; und da stärker, als der Andere, fühlt: wo gerade sein, ihm angewiesenes Theil von jener allge­

meinen Noth, liegt; dem er abzuhelfen bestimmt und

geschickt gemacht ist. —

Allein darauf werden wir

nun sehen müssen, wenn wir Menschenfreunde seyn wollen; daß diese reine, natürliche Anlage bey uns durch

keine

VomMitleiden und der Barmherzigkeit.

22t

keine fremde Zusätze verdorben; daß dieser Grundriß, diese ursprüngliche Zeichnung und Bildung unfererNa-

kur, durch keine falschen Züge verstellt; daß diese schö. ne natürliche Stimmung unserer Selbstliebe, durch

keine unnatürlichen Gewohnheiten, und verwerfungs­ würdige Grundsätze verstimmt; sondern vielmehr das

kheilnc 1 nende Gefühl der Menschheit, in der Lauter­ keit bey uns erhalten werde; in welcher es einen» Jeder»'

»»Sch der besondern Einrichtung seiner Natur mit auf

die Welt gegeben ist: und daß es nach den Vorschrif­ ten vernünftiger Grundsätze in seinen Würkungen so

gelenkt werde; daß dadurch eine immer größere Ver­ edelung unftrer Gesinnungen und unsers ganzen Cha. raetxrs., und eine immer wohlthätigere Beförderung

der Wohlfarth Anderer bewürkt werden möge.

Wir

wollen uns zu dem Ende folgende Regeln merken..

Reget«. 1) Erhalte stets den Gedanken lebhaft bey dir:

daß ein Leder anderer Mensch, er sey in seinen äußerlichen Umständen, nes Gleiche»» sey.

wer er wollet

dei­

Laß dich keinen Unterschied der

Stände und Lebensarten, des Reichthums, der Erzie­

hung, der Sitten und Aufführung, der Bildung, der Gemüthsart, der Erkenntnisse, des Vaterlandes, der

Verwandtschaft und Freundschaft, oder wie er nur Nah»

men

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit

222

men haben mag; irre machen.

Alle diese und andere

Unterschiede verändern in derHauptsache, nehmlich der menschlichen Natur,die er mit dir gemein hat; nichts.

Sie betreffen entweder nur blos äußerliche Verhält­

nisse in der Gesellschaft; oder doch nur außerwesentliche Stücke an dem Menschen selbst.

Im übrigen ist

er ein Mensch, wie du: undalles, war^norh-

wendig zur menschlichen tTatur gehört;

be­

findet sich bey ihm nicht mehr, und nicht we­ niger; als bey dir.

Er hat Fleisch und Blut, Kno­

chen und Nerven, Glieder, Sinne, Empfindungen,

Selbstliebe, Denkvermögen, Triebe, Wünsche, Hoff­ nungen ii. s. w. so gut; als du.

Mag sich doch in den

Verhältnissen dieser Dinge unter einander ein Unter«

schied bey ihm befinden: so sind sie doch selbst, bey ihm so gut ; als bey dir, da.

Du wünschest dich glücklich,

und strebst unaufhörlich nach der Vermehrung deines

Glücks.

Der Fürst, und der Bettler; der so genann­

te Lasterhafte, und der Tugendhafte; der Kluge, und Dumme; der Große, und Kleine; mit einem Work: alleMenschen werden durch dieselbigen WutiV sche getrieben.

Du stichst Noth und Schmerz.

Ein jeder Anderer verabscheuet diese Dinge nicht weni­ ger.

Du verlangst, daß ein Jeder ehrlich, gerecht,

aufrichtig, friedfertig, treu, dienstfertig, sanftmüthig, liebreich mit dir umgehen solle» Ein jeder Anderer ver­ langt

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. langt dasselbe.

223

Du bist mit deinem Nebenmenschen

auf einerley Wege in die Welt gekommen; und hast ei­

nerley großen Beruf und Bestimmung mit ihm» Er,

und du,zwar zwcyMenschen; aberdochbeyde; Men­ Je unwidersprechlichcr sich diese Wahrheit vor

schen.

deiner« Sinnen, und vor deinem Verstände rechtferti­ get; desto weniger vergiß eö: in dem Andern, stets

dich selbst zu finden; dich selbst zu lieben; und seine Angelegenheiten/ als die deinigen anzu­

sehen ; desto ernstlicher entferne alle die falschen Vor« urtheile von dir, die dich fühllos gegen deinen Nächsten

machen,

jfl'ctn höherer Stand in der Welt,

keine

Verschiedenheit der Religions-Gebräuche und Meynun­ gen, kein Unterschied der Sitten und des Vaterlan­ des, u. s. w. hebt die Gleichheit deiner LTlamr mir der seinigen auf.

Alles, was dir in der Ju­

gend von schlechten Leuren unter der Bedeutung gesagt ist: als gäbe es gewisse Menschen, die nach Ur«'

theil und Recht das Loos der Verachtung tragen müß,

ten; die keiner besondern Aufmerksamkeit werth wären; deren angebohrne Schuldigkeit es sey: daß ste stch

alles vo>« Andern gefallen lasten müßten u. s. w.

Das sind lüderliche und verabscheuungswürdige Grund­

fähe; denen du entsagen mußt, weil dir Sinne und Vernunft weit stärkere Beweise für das Gegentheil füh­ ren.

Die Stände in der Welt führen nur äußerliche

Beztr-

224

Vom Mitleidm und der Barmherzigkeit.

Beziehungen in der Gesellschaft mit sich; und legen

dem Einen, diese; dem Andern, iene Pflichten auf; die aber alle für das Wohl der Gesellschaft nöthig sind:

von denen also keine, über den, der sie übt, eine Ver­ ächtlichkeit führen kann.

Jedes Mitglied in der Ge-

sellfthafk hat seinen Plaz, auf dem es steht: und füllet

denselben so gut aus, als es kann, und als zum Wohl Und wenn schon der

der Gesellschaft erforderlich ist.

Eine, der Gesellschaft mehrere Dienste zu leisten scheint,

als der Andere: so ist doch Keiner unnüz; und Keiner

kann fehlen; ohne daß viel Gutes in der Gesellschaft weniger rväöe, und dagegen viel Zerrüttung gestiftet

würde.

a) Eine jede Art von Noch,

detneu Nächsten stehest;

in der du

macht ihn deines

Mitleidens in dem Maaße würdig, als diese Noch groß ist!

Dis ist der wahre Gesichtspunct,

den du überall nehmen mußt.

Das gewöhnliche Ur-

cheil, was man insgemein hört:

der Mensch ist

ftldst Schuld daran, daß es ihm so übel gehr: er hak es nichr besser haben wollen: ihm gefchicht ganz recht u. f. w>:

ich sage, dergleichen

Urtheile gehören zu den allerlieblosesten; und können

nur aus einem Munde erschallen, der ju einem Kopfe voll wüster Vorurtheile und blinder Eigenliebe gehört.

Der

Vom Mitleiden uud der Barmherzigkeit.

Der Tugendhafte, meinst du,

225

verdiene in vor»

kommenden Fällen mehr Mitleiden; als derLaster-

hafre^ Aber,

wen nennst du denn tugendhaft^

und wen lasterhaft?

da du weißt,

daß ein über

Mensch in seinen steyen Handlungen an dem Maaße

seiner Erkenntniß gebunden ist! und dis Erkenntniß

das Resultat von der besondern Anlage und Einrichtung seiner Natur, seiner Kräfte, der Beschaffenheit seine-

Bluts, seiner natürlichen Neigungen, seiner Sinne, seines Empfindungs- und Denkvermögens, seiner Er» ziehung, seines genossenen Unterrichts, seiner gehabten Gelegenheiten, und tausend ariderer innern und äußern

Umstände und Verhältnisse ist, die sich der Mensch nicht selber wählen, geben, ordnen und einrichken konn­ te; sondern in die er gesezt und gestellet wurde; die er

annehmen mußte, wie sie ihm gegeben wurden; und

gegen welche sich so wenig ein möglicher Widerstand von Seiten des Menschen denken laßt; als er sich sei*

ner Geburth widersetzen konnte? oder sich künftig seinem Tode wird widersetzen können?

Wenn ein Jeder

sich selbst liebt; und lieben muß; und unmög­ lich hasten kann ? so sahe der Unglückliche, und in

deinen Augen Lasterhafte, ia vorher nicht: daß sine

Handlung dis Unglück zur gewissen und unansbleibli« chen Folge haben würde! sonst würde er iene gewiß um

terlassen haben.

Wtnnlchs? iv Th.

Wenn ein ieder Mensch in der fol-

P

gen«

2 26

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

genden Zeit klüger wird, als er in der vergangenen war; so würdest du hartherziger Richter deines Näch­

sten, an deinem vorigen Verhalten auch Flecken genug

finden können; wenn dich deine stolze Eigenliebe nicht blendete.

Und wenn deine Vergehungen dich in ihren

Folgen nicht so unglücklich machten; als ihn die feint»

gen? so danke es deinem guten Schicksal«! und halte es für kein Verdienst von dir: deinen Nächsten aber

sieh« nicht als einen Strafwürdigen in Rücksicht auf

das vergangene; sondern als einen Besserung^ fä­ higen in Absicht auf die Zukunft; in seiner gegen#

wärrigen Noth aber als einenUnglücklichen an; dem seine bloße Noch, fte komme her, woher fte

wolle? und wenn fte tausendmal die Folge sei­ ner eigenen^Thorheie-war?

auf dein Mittels

den und auf deinen Beystand gerechten Ans spruch gibt.

Dem zu Folge, ist also mich an dem

Mörder, und dem gröbsten Lasterhaften, der je gelebt hat, oder leben wird; nichts vorhanden: was dir feine menschliche Natur in deinen Augen verstellen und ver­

dunkeln; oder ihn deines theilnehmenden Gefühls an seinen Schicksalen unwürdig machen könnte.

3) So wie du dich vor elenden Grundsätzen, die dein Menschen - Gefühl gegen Andere ersticken können;

hüten mußt: so hast du dis auch in Absicht sol­ cher

Vom Mitleidm und der Barmherzigkeit.

227

«Her Gewohnheiten nöthig,

die einen Hart­

sinn zur Folge haben können.

Wenn du oft Ge­

legenheit hast, traurige Vorfälle deiner Nebenmenschen zu sehen; so verliehrt sich allmählig dieZärtlichkeitdei­

nes Gefühls.

Jener^ Kraft, einen lebendigen Ein­

druck auf dich zu machen; wird geschwächt.

Du wirst

ihrer gewohnt: und diese Gewohnheit stählt dich viel­

leicht so gegen sie ab; daß du endlich ganz gleichgültig und fühllos gegen sie werden kannst.

Es wird nicht

verlangt, daß du, um dieser Unempfindlichkeit vorzubeugcn:

die Bekanntschaft und den Anblick

aller solcher traurigen Vorfälle fliehen und

vermeiden sollst!

Keinesweges.

Solche weichli­

che Sclaven der Zärtlichkeit ihrer Sinne, und der ei«

gennühigen Liebe ihrer Ruhe, verdienen gewiß von die­ ser Seite keine Achtung.

Sie sind schlechte Mitglie­

der der Gesellschaft; und die Entschuldigung: daß sie

dergleichen Vorfälle nicht sehen oder hören können; ist in den meisten Fällen kein Beweiß ihrer zärtlichen Men«

schenliebe;

sondern jener Sclaverey,

Schande gereicht.

die ihnen zur

Ein anderes wäre es; wenn höhe­

re Pflichten es mir untersagten, der Zeuge eines sos. chen Vorfalls zu seyn; oder ich mit ganzer Gewißheit überzeugt wäre: daß ich zur Abhelfung des Elendes

durch meine Gegenwart nicht das geringste bewürken könnte.



Im übrigen wird hier nur verlangt: D a

daß,

228

Vom Milleiden und der Barmherzigkeit,

daß, ie häufiger dir dergleichen Vorfälle vor­

kommen;

du desto öfter und lebhafter die

Bewegungsgründe zur

Menschenliebe und

zum Mitleiden in deinem Andenken zu erneu­

ern und sie dir gegenwärtig zu erhalten suchen

sollest: damit dis Menschen-Gefühl nicht all-

mählig bey dir verlösche; und fuhllose Härte sich an seine Stelle seye.

Dis haben sich inson­

derheit diejenigen zu merken, welche einen kranken, oder gebrechlichen, oder sonst nothleidcnden und elen­

den Menschen lange Zeit um sich haben müssen: wie auch diejenigen, die sich zur VertheÜügvng des Vater­

landes; und diejenigen, welche sich zur Heilung und

Pflege der Elenden in Hospitälern und Lazarethen ha­ ben verpflichtenkassm.

4) Da wir deßwegen des Mitleidens fähig gemacht

sind; daß wir dadurch zu thätigen Hülfsleistungen ge­ gen den Nothleidenden erweckt würden; so siehe, so

viel möglich, auch dahin; daß die Aufwallungen

des Mirleidens nicht so stark, heftig und leb-

haft bey dir werden; daß ste dich zu Lenen Erweisungen der

machen.

thätigen Hülfe unthätig

Hiezu gehört; daß du durch di« lebhafte

Vorstellung und Erwegung:

daß

die Leistung

würklrcher Hülfe dem Unglücklichen zuträgli­

cher,

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 229 eher, als müßiges Mitleiden sey, theils deine

Sinne in ihrer zu großen Zärtlichkeit zu bezwingen;

theils die zu heftigen Aufwallungen deines Bluts zu

dampfen; und überhaupt deine zu lebhafte Empfind­ lichkeit in solchen Fallen zu mäßigen suchest.

s) Ich muß mich hüten;

eine Noch, in

der mein Nächster seufze, darum gerade zu

für klein und keiner Aufmerksamkeit werth zu achten: weil sie es in meinen Augen zu seyn scheint! Es kann in der That seyn; daß wenn mich

derselbe Unfall getroffen hätte: ich weniger dabey ge­

fühlt haben würde; als er.

Wir haben nicht alle ei­

nerley empfindlichen Nervenbau, einerley Beschaffen­

heit des ganzen Cörpers, einerley Einsichten, u. s. w.

Mithin kann derselbige Schmerz für ihn allerdings größer und empfindlicher seyn, als für mich.

Ich

würde aber wider die Menschenliebe handeln, wenn ich

schlechterdings lenen natürlichen Unterschied nicht ach­ ten; sondern mich zum einzigen Maaßstabe in der Be­ urtheilung Anderer annehmen wollte.

Die Menschen­

liebe gebiethet mir vielmehr; mich in des Andern

Stelle hinein zu denken: und nun vernünftig aus­ zumachen; was von seiner Seite mit Billigkeit ge­ wünscht werden könne? und von meiner Seite der

Gerechtigkeit und Gütigkeit zu Folge gethan werden

Pz

müsse?

2Zo

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

müsse? Dem zu Folge wird mir auch der Kummer

des Nächsten nicht gleichgültig seyn dürfen; welcher

bey ihm blos aus falschen Vorstellungen der Einbildung entstanden.

Je mehr folternde Kraft diese für ihn ha­

ben; desto mehr soll mein Mitleiden sich dahin thätig öussern, daß ich meine bessern Einsichten zu seinem

Troste und überhaupt zur Erleichterung und Hinweg­ schaffung seines Kummers anwende.

II. Von der Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit besteht in den thäti­ gen Erweisungen des Mirleidens ; oder, in der

würklichen Beflissenheit, den Nothleidenden alle die Hülfe, die man kann, würklich zu leisten: damit ihr

Unglück entweder geendlget, oder doch erleichtert werde.

Wir haben hier alle die Regeln wahrzunehmen, die in dem ganzen Capitel von der Dienstfertigkeit gegeben

fmb; und wollen denselben noch einige nähere Bestim­ mungen beyfügen.

a) Die Erweisungen der Barmherzigkeit

können und müssen schon mehr unter der Herrschaft und Leitung der Vernunft stehen;

als von den bloßen Empfindungen des Mit­ leidens erwartet werden kann.

Deßwegen müs­

sen die Fälle/ wo eine eilfertige und ungesäumte Hülfslristung durchaus nothwendig ist; wo jeder Zeitverlust die

Vom Mitleidcn und der Barmherzigkeit. 231

die folgende Rettung unmöglich machen würde: von demenigen Fällen sorgfältig unterschieden werden; bie einen Aufschub jener Hülfe zulassen. Die Größe des Guts und der Gefahr, in der es schwebt; die be­ sondere Zusammenstimmung der Umstände, die seine Rettung iezt hoffen lassen, und die ich fernerhin zu er, warten keine Wahrscheinlichkeit habe; geben mir hier vornehmlich den Wink, dem ich folgen soll. In al­ len übrigen Fällen aber, wo entweder ein kleineres Gut nur in Gefahr; oder, diese selbst, wenn auch ein grösseres Gut von ihr bedrohet wird; doch noch nicht so dringend ist; daß sie mir nicht Zeit zu reifernjUeberlegungen dessen ließe, was am besten von meiner Seite dabey zu thun seyn möchte: da muß ich mich mit mei, nen HüssSletstungen nicht übereilen; sondern mir so viel Zeit lassen, als nöthig ist, die Gefahr wenigstens erst recht von allen Seiten kennen zu lernen; und alsdenn zu beurtheilen, welches die ersprießlichsten Mittel seyn möchten, derselben aufs beste abzuhelfen ? Die Ersah, rung lehrt: daß ein Mensch, der diese Regel zu beob­ achten versäumt; oft übereilt die ungeschicktesten Mittel ergreift: die, anstatt die Noth zu mindern, sie in über­ schwenglichem Maaße vermehren: wie dis z.E. oft in Krankheiten durch unbedachtsame Wahl der Arzney­ mittel geschicht. Mache ich mich in den dringenden Nothfällen einer solchen schädlichen Uebereilung schulP 4 Wg;

2Z2 Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

big; so rechtfertigen mich die Umstande hier eher,

als da, wo die Gefahr keine Eilfertigkeit nothwendig machte.

Eben so kann ich auch leicht durch die er.

sten Aufwallungen meines Mirleidens erhizr,

in meinen

Hülfsleistungen ergiebiger

seyn:

als es nicht nur das Bedürfniß meines Näch»

sten erforderte; sondern auch meine eigene tVohlfarrh verstattet.

Die Barmherzigkeit soll

sich nicht so weit gegen den Nächsten ergießen, daß

ich selbst darüber der BarmßerzigkeitAndever bedürftig werde! Die Selbstliebe sezt der Menschenliebe ihr Maaß

und ihre Schranken.

Zu dem Ende thue ich in den

meisten Fällen besser: wenn ich den ersten Einge­

bungen des Mtüeidens nicht gerade zu ganz;

sondern nur so weit in der Uebung der Barm­ herzigkeit folge; daß die Noth vors erste nur

erleichtert, und ihr gegenwärtiger zu Harrer Druck gemindert werde.

Dadurch gewinne ich

Zeit, weitere Maaßregeln zu wählen; um der Wohl, farth des Nächsten auf die beste Art zu statten zu kommen; ohne gegen die meinige ungerecht zu werden»

Wider diese Regel verstossen z.E. diejenigen, die, wenn

sie einen Menschen in drückender Armuth, Hunger

und Blöße leiden sehen; dadurch zum Mitleiden be­ wegt.

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 233

rvfgt, ihr reichliches Allmosen blindlings weggeben: ohne die Vernunft zu fragen, was? und wie sie geben sollen? ohne die eigentliche Beschaffenheit der Noth; und die beste Art, ihr abzuhelfen; ohnedaS, wüsste sich selbst und Andern schuldig sind? und was vielleicht gar die Gerechtigkeit noch von ihnen für Andere zu for­ dern hat? zu bedenken. Es wäre z. E. vors erste ge­ nug gewesen: den Hungrigen iezt zu sättige»; oder den Nachten fi> weit zu kleiden, daß der gegenwärtigen Le­ bens-Gefahr abgeholfen wäre; und denn weiter, mit Rücksicht auf den eigenen Vermögensstand und der fer« nern Noth des Nächsten, solche Ueberlegungen zu ma­ chen, und solche Maaßregeln zu weitern thätigen Hülfs. leistungen zu fassen; daß Selbstliebe, Gerechtig­ keit und Menschenliebe überall damit hätten beste­ hen können. Oft ist auch nur blos der gegenwärtige Druck der Last so groß, daß sie dem Leidenden die Frey« heit benimmt, seine eigenen Kräfte, die er noch hat; zu seinem Heile anwenden zu können. Es ist nichts weiter nöthig; als ihm nur iezt beyzuspringen; ihm die gegenwärtige Last etwas zu erleichtern: und st> gewinnt er Freyheit, das übrige zu seiner völligen Los­ wickelung selbst thun zu können: ich hingegen behalte das Vermögen, welches ich hier sonst durch überflüßige Hülfe verlohren haben würde; um noch andern Noth­ leidenden beyspringen zu können. — Oft sind auch die P 5 jammer-

234

Vom Mktleideir und der Barmherzigkeit

jammervollsten Klagen des Nächsten nur bloße lügen­

hafte Vorwände; deren Wahrheit erst untersucht M werden verdient: oder, wenn sie auch gegründet

sind; so könnte vielleicht der Leidende ihnen hinlänglich

selbst abhelfen! wenn er nur gewisse Unordnungen ab­ stellen; seiner Faulheit, oder andern unartigen Ge­

wohnheiten und Neigungen entsagen wollte.

Es gibt

deren gar zu viele, die über Undienstfertigkeit, Härte und Unbarmherzigkeit klagen; theils, weil sie keine

Menschen finden können, die ihren Müßiggang ernäh­ ren, ihre Unordnungen unterhalten, oder ihrem Eigen-

nuz undHabsucht fröhnen wollen: theils,weil sieihre Verlegenheiten ohne Unterschied für die größten hal­ ten, und Andern die Freyheit streitig machen wollen,

mit ihren HAfSleistlMgrn sich anderwerks und dahin wenden zu dürfen; wo nach ihren Einsichten «ine grös­

sere Noth sie hinrufft.

Jene verlangen: ihre Noth

solle immer für die grössere angesehen, und ihnen vor allen Andern der Vorzug gegeben werden! Der Hel­

fende soll nicht selbst urtheilen; sondern sich nach ihrem Urtheile richten! Und wenn das nicht geschicht; denn

wird über himmelschreyendc Undienstfertigkeit und Unbarmherzigkeit geklagt-.

Keinesweges aber muß dis dahin gemißdeutet wer­

den;

als wollte man den Hartherzigen das

lVorr reden r oder, als wollte man denen, die, wenn

sie

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 235

sie bey ihrer sonstigen Abneigung von Werken der BarmHerzigkeit, sich doch zuweilen des Mitleidens nicht er­ wehren können; lind denn in dem ersten Gefühl dessel­ ben sich mildthätig zeigen; hinterher aber ihrer Gaben sich immer wieder gereuen zu lassen gewohnt sind: als wollte man, sage ich, diesen Menschen einen Rath ge­ ben , wie sie ihr Mitleiden entweder ganz müßig vor­ übergehen ; oder wenigstens auf die wohlfeilste Art befriedigen könnten! Es gibt solche Sclaven des Unbestandes und Wankelmuths und habsüchtiger Neigun­ gen, denen man rathen möchte; nur gleich in der ersten Hiye ihres blinden Mitleidens so viel zu geben, als sie iezt entschlossen sind: weil nur wenig Zeit verlaufen darf; um ienes mitleidige Gefühl durch Leichtsinn oder Geiz ganz wieder bey ihnen erstickt zu finden. Nein, der wahre Menschenfreund kann oft den ersten Eingebungen seines Mitleidens seine Folgsamkeit versagen; um mit seiner Vernunft dar­ über zu Rache zu gehen: was Selbstliebe e was Gerechtigkeit? was Menschenliebe fordernd Aber sein Mitleihen wird darum während dieser kalt­ blütigen Ueberlegungen nicht erfrieren! Seine Men­ schenliebe wird auch nach späterer Zeit, wenn die erste Hitze jener Empfindungen verraucht ist; ihre Rechte behalten, und sie desto vortheilhafter für den Noth leidenden geltend zu machen wissen. Die

2Z6 Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. b) Die Erweisungen der Barmherzigkeit müssen

sich in ihrer Art nach der Art der Noth richten, unter welcher der Nächste seufzt.

Den Hungrigen zu spei­

sen; den Nackten zu kleiden; den Kranken zu pflegen,

und ihm zur Genesting behülflich zu seyn; den verlas­ senen Unmündigen zu erziehen; den Schuldigen loszu­ lassen ; die unterdrückte Unschuld zu vertheydigen; mit

einem Worte: sich eines jeden Bedrängten so anzuneh­ men, wie es die Natur der Sache zu seiner Rettung

erfordert; das alles gebeut die Tugend der Barmher­ zigkeit: und ich muß meine Hülfe auch so lange fort,

sehen; als ich sehe: baß der Leidende derselben von mir

bedarf; und ich sie ihm ohneVerlehunghöhererPflichren leisten kann. c) Da, wo Vernunft, Gerechtigkeit und Men­

schenliebe die Erweisungen der Barmherzigkeit von dir fordern, dir auch die Art und Größe derselben bestim­

men; da können keine andere Entschuldigun­

gen und Scheingründe, mir weichen sich der

Harre

und Unbarmherzige zu decken sucht,

etwas gelten.

Hieher gehören vornehmlich

i) Der Vorwand: daß mau des Seinigen selbst bedürfe;

oder, es doch in der Zukunft

nöthig haben könne.

Da in allen Fallen, dei­

nen eigenen Bedürfnissen, wenn sie so groß, als des Nach-

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 237

Nächsten seine sind; der Vorzug verstattet ist; und da, wo du beyde nicht befriedigen kannst; keine Wohl« thätigkeit von dir gefordert wird: so sind es gewiß in den übrigen Fällen kleinere eigene Bedürfnisse, die dir deine blinde Einbildung und Leidenschaften so groß vorstellen; daß du sie, wider die Forderungen der Men­ schenliebe, den größern Bedürfnissen des Nächsten vorziehen willst. Jener Vorwand ist also in diesen Fällen blos ein Zeugniß deiner Lieblosigkeit und deines kriechenden Eigennuhes. Durch vernünftige Wohlthätigkeit ist noch Niemand in Man­ gel gerathen. — Willst du aus Vorsicht für die Zukunft, dich der gegenwärtigen Erweisungen der Barmherzigkeit enthalten? so bedenkst du nicht, daß die Tugend der Sparsamkeit nur die unnöthigen Ausgaben einzuschränken befehle: um nicht allein dei­ ne, und deines Nächsten gegenwärtigen dringenden Bedürfnisse befriedigen zu können; sondern, wenn eS die Umstände ertSuben, auch wider die künftige beyderseitige Noth gerüstet zu seyn: keinesweges aber die gegenwärtige Noth deines Nächsten von dir zu wei­ sen ; um den ungewissen Zufällen der Zukunft gewach« ftn zu seyn. Wer weiß, ob die Zukunft Unfall für dich mit sich führen werde? ob du sie vielleicht gar erleben wirst? und ob du nicht vielmehr in Rücksicht auf dein nahes Grab, als ein geiziger Narr sammlest? Noch

238

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

mehr.

IVirb dich dem Geld und Gur vor al­

ler künftigen Noch mir Sicherheit schützend

Und wenn, nach bewiesener Unbarmherzigkeit in deinem Wohlstände, dein Schicksal dereinst doch traurig wer­

den sollte? wo willst inr dir alsdenn das Herz herneh-

men, die Barmherzigkeit bey andem zu suchen, oder für dich von ihnen zu erwarten, die du vocher selbst ge­ gen Keinen üben mochtest? Hingegen werden rau­

fend Hände bereit seyn, dich in deinem Unfall zu halten;

wenn man dich als einen mirleis

digen, menschenfreundlichen und gutthätigen Menschen in deinemlVohlstande gekannt har.

UeberauS elend und kümmerlich muß es auch mit dei­ nen Begriffen von der aüwaltenden Vorsehung ausse­

hen; ^venn-u dich ponder Furcht vor dem Mangel der Zukunft, von den Uebungen der Menschenliebe abhal-

kcn lastest.

2) Man muß für seine Rinder sorgen.

Antwort: Darwiderhabeichnichts.

Aber die Be­

dürfnisse deiner Kinder müssen sich nur ebenfalls die

Vergleichung mit den Bedürfnissen deinerübrigen Nebenmcnschen gefallen lassen: und wenn du deine eige^ nen kleinern Bedürfnisse, den größer» Bedürfnissen

deines Nächsten nicht vorziehen darfst; so darfst du «S

noch viel weniger bey deinen Rindern.

Wenn dir dein

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

239

dein Stolz und deine Gnbildung nur keine besondere Art von Erziehung derselben als nothwendig vorschreibt:

so wirst du auch bey allen vernünftigen Uebungen det Wohlthätigkeit nie außer Stande seyn; deine Kinder

zu vernünftigen Menschen zu erziehen, und sie wahrhaf­

tig glücklich zu machen.

Die Sorge vieler Eltern für

ihre Kinder geht blos dahin, daß sie ihnen große Reich­ thümer hinterlassen mögen! Daher sind ihre Hande ge­

gen ftemde Nothleidende verschlossen; und sie spahren wol gar an der Erziehung selbst.

Man frage die Er­

fahrung: ob, i.m Ganzen genommen, die Kinder der Reichen? oder der Armen? gewöhnlicher Weise die besseren Menschen werden? ob großes Erbgut öfter

glücklicher, als unglücklicher mache? und falle denn das Urtheil, was von der Sorge derjenigen Eltern für

ihre Kinder zu halten sey, die mit Verleugnung aller

Pflichten der Menschenliebe und Gutthatigkeit gegen andere Nothleidende, jenen Schaße spahren, und ih­

nen dadurch die Wege zur Ueppigkeit und zu allerley Ausschweifungen bahnen? — Noch mehr: Bey all­ zu vielen Eltern sind die Kinder auch nur ein bloßer

falscher Vorwand, womit sie ihre Unbarmherzigkeit und eigene Habsucht zu decken suchen.

Dis sicht man

aufs deutlichste daran: daß viele Eltern, wenn sie alt

werden; und an ihren Schwachheiten merken, daß sie ihre gesammletenEiüter bald werden verlassen müssen;

ihre

240

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

ihre Kinder bloß darum am meisten mit Verdruß anseHen, weil diese ihre gewissen Erbnehmrr seyn werden.

3) Die Gutthärigkeir sey nur eine Pflicht

der Reichen.

Antwort: Sie ist eine Pflicht al­

ler Menschen; imd so bald du einen siehst, der noch

dürftiger ist, als du; so bist du gegen ihn der Reiche. Es wird ia nicht gefordert; daß du es der Summe nach,

in der Mildthätigkeit den noch Reichern, als du, gleich

thun sollest? Deine eigenen eben so dringenden Bedürf­ nisse, und der Grad von Möglichkeit,

oder Unmög,

üchkeit, der daraus für dich entsteht, Mdern beysprin-

gen zu können; ist der Maaßstab, nach welchem sich deine Gutthätigkeit gegen Andere richten soll.

wechsele in Gedanken die Lagen.

Ver­

Sehe dich in des

noch Aermern und Elender« Stelle, als du bist; und ihn in der deinigen;

und frage dich: was du dir

denn von dem, dem dein besseres Loos gefal­ len wäre, wünschen würdest i Mag es doch im­ merhin viele Menschen geben, sage ich, die ihr größe­

rer Reichthum in den Stand sezt, mit größern Sum­ men den Armen wohlthätig beyzuspringen: so kannst du dich doch auch nicht eher von der Verpflichtung zu denjenigen Wohlthaten, die dir dein kleineres Eigen,

thum erlaubt, lossagen; bis du bewiesen haben wirst,

paß du unter, allen Menschen, die dir bekannt sind, der allere

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit. 241 allerärmste seyest.

Ueberdis so gibt es auch viele

Arten der Bedürfnisse, und der Uebungen der Barm­

herzigkeit; die auf Reichthum und Armuth gar keine ÄKziehung haben.

4) wenn ich schor» Niemandem etwas ge­

be; so nehme ich doch auch Reinem etwas.

Ich bin doch »richt ungerecht gegen Andere; und die Werke der Barmherzigkeit sind doch der Freyheit des Menschen überladen! Antwort: Sie sind ihr überlas­

sen ; aber nicht so: daß du dich ganz von ihnen lossa­ gen dürftest.

Der Ruhm der Gerechtigkeit ist nicht

weit her; und allemal der kümmerlichste und ärmste, der sich denken läßt.

Es fühlt sich Keiner darum zur

Hochachtung und Dankbarkeit gegen dich verpflichtet;

weil du kein Räuber bist! Gerechtigkeit ist deine unerläßliche Schuldigkeit; zu deren Uebung dich die Gesellsthaft mit Gewalt anhatken kann.

Ueberdis ist

beine Unbarmherzigkeit, von einer andern Seite betrach­

tet, eine wahre Ungerechtigkeit.

Warum leben Reiche

und Arme neben einander? Warum sind dem Einen mehr, dem Andern weniger irrdische Güter zugewor­ fen ? Ohnstrettig darum, daß die Wohlhabendern sich

der Dürftigern annehmen sollen! Alles Vermöge« der

einzelnen Bürger zusammengenommen;

ist der allgemeine Schaz der ganzen Gesell-

. Sittlicher IV,

Q

schast.

242

Vom Mitleiden und der Barmherzigkett,

schäft.

Und das Rechr des Eigenthums eines

Bürgers kann also, in Beziehung auf die ganze Gesellschaft überhaupt, nichts mehr seyn, alö:

das

Recht der

eigenen Verwaltung eines

Theils ienes allgemeinen Schatzes, zum Be­ ste» der ganzen Gesellschaft.

Mithin ist durch

die gesellschaftliche Verbindung, der Arme und Noth« leidende auf meine Güter auch angewiesen. Er

hat auch Ansprüche darauf.

Wenn ich ihm nun das­

jenige vorcnthalte, was mir für ihn gegeben war ? wgK bin ich mehr und weniger; als-ein Mensch, der.Andem

raubt, was ihnen gehört?

t) Man har von seinen Wohlthaten doch

keinen Dank.

Undank ist der Welt Lohn.

Antwort: Also kannst du nichts guts thun, ohne krie­ chende eigennühige Absichten dabey zu haben ? so fehlt

es dir also noch am eigentlichen Menschen. Gefühl? Warlich, ist eine Tugend, die sich selbst belohnt; so ist es die Wohlthätigkeit! Gesezt auch, daß die Früch­

te derselben dir nicht unmittelbar von dem kommen, den du wohlkhatest; so sind Andere da, die deine Hand­

lungen bemerken, und dir ihre Hände wieder reichen werden; wenn du sinken willst. —

Aber selbst die

Menschenliebe fordert ia , daß du bey den Aufopferun­

gen, die du ihrentwegen zu machen hast; nicht zunächst auf

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit.

243

auf deinen Vortheil: sondern auf die Rettung Ande­ rer sehen sollst! Jene Entschuldigung ist ia also, ein

offenes Bekenntniß: daß nichts vo» Menschen­ liebe;

sondern

lauter kriechender Eigennuz

in dir wohne,

und deine Handlungen regie­

re! Du gehörst unter die Gattung von Undienstfcrtigen; die sich bey aller ihrer Dienstsertigkeit im Grunde

nur selbst zum ZiÄ haben. — Die Klagen über Un­

dank gehören unter die häufigsten in der Welt; aber auch oft unter die ungerechtesten. Dis würde sich bald

zeigen; wenn ein Jeder dieser Klager die wahren Ab­

sichten gestehen wollte; mit welchen er dem Andern

wohlthat. Wie ost würden da Absichten zum Vorschein

kommen, die der andere nicht erfüllen und befriedigen

kann; ohne in seine äußerste Beschimpfung, oder an­ derweitige große Zerrüttung seines Wohls willigen zn sollen.

Zu geschweigen, daß die Menschen oft von ih­

ren Wohlthaten selbst ausschweifend erhabene Begriffs habe«; ohngeachtet sie im Grunde nichts bedeuten: und

daß sie oft etwas, Wohlthat, nennen, wobey dieser Nahme völlig gemißbraucht wird.

6) Ich will was thun, wenn ich sterbe»

Ich will durch meine Vermächtnisse Arme und Noth­ leidende glücklich matben.

Antwort! Du willst dich

also gegen, die Wohlthätigkeit wehren;

Ä s

so

lange

244

Vom Mitleiden und der Barmherzigkeit,

lange du dich nur wehren kannst?

und wenn

dis gar nicht mehr angeht; alsdenn erst an die Armen denken? Könntest du also ewig als Mensch imBesiz

deiner zeitlichen Güter bleiben;

so möchten tausend

Nothleidend« stets um dich her iammern: von dir wür­ den sie nichts zur Erleichterung ihrerRvth zu erwarten

haben? Was soll ich von deiner Menschenliebe denken? Du willst selbst keine beweisen; die Erbm sollen es thun:

Aber wenn die Unglücklichen,

dte es

bey deinem Leben sind, durch dich nicht geholfen

werden; was werden denn die zu hoffen haben, welche es vielleicht zur Teil deines Absthiedes seyn

möchten? Aller übrigen Bedenklichkeiten, die deinen Vorsaz begleiten, iezt nicht zu gedenken; so frage ich,

vb die Erfahrung es nicht lehre: daß solche Menschen durch dergleichen Vermächtnisse insgemein tausend

Weitläufigkeiten ausgesezt werden, die eö sehr zweifel­

haft machen; ob sie das geringste dadurch gewinnen werden? — Ich habe nichts darwider, daß, wenn

du in deinen gesunden Tagen, als ein menschenfreund­ liches Glied der Gesellschaft, einen vernünftigen Ge­

brauch von deinen Gütern gemacht hast; du auch noch denUeberrest derselben bey deinem Abschiede mit wohl­

wollendem Herzen vertheilen mögest. Aber, seine ganze Wohlthätigkeit bis auf die Stunde seines Ausgangs

aus diesem Leben verspahren! kann nur dereigennühige und

Vom Mitleiden tmtr der Barmherzigkeit. und menschenfeindliche Charakter.

245

Um diesen nicht

an dir kommen zu lassen; so bedenke: wie liebenswür­

dig die Tugend der Wohlthätigkeit; wie anständig es dem Menschen sey, für die menschliche Natur zu füh-

ken, und sich ihrer überall anzunehmen, wo man sie

leiden sieht! Wie seelig es sey, aus Bekümmerten und

Niedergeschlagenen, frohe Menschen zu machen! Wie man sonst durch seine Härte und Unbarmherzigkeit selbst

Schuld daran werden könne;

wenn Jene von aller

Hülse verlassen, zuGewaltthätigkeiten und Beleidigun­ gen der Gerechtigkeit schreiten! Wie wellig ich lvissen könne, ob Meiner »licht vielleicht noch weit traurigere

Schicksale in meinem hiesigen Leben noch erwarten? Wie wohl es mir alsdenn so wol, als doch gewiß ein­

mal in den lezken Stunden meines Lebens thun werde; wenn ich alsdenn in die Hände barmherziger Menschen fallen tonne! Wie sehr mich also mein

eigenes Bestes auffordere; mir bey guter Zeit andere

Menschen durch mein« Wohlthätigkeit zur Gegenliebe und Dankbarkeit zu verbinden!

C. Die Gütigkeit zeigt sich ferner in den sanftmüchigen Belehrungen/

oder Zurechtwei­

sungen des Nächsten. Wir wissen, daß der Wille des Menschen mit sei­

nen Handlungen, von seinem Erkenntniß abhange; Q 3

diese

846

Von der Zurechtweisung.

hieß: aber dm Graden nach nicht bey allen Menschen

gleich sey; jedoch bey einem Jeden erweitert und ver-

mehrt werden könne.

Da mich nun die Menschenliebe

jur Beförderung der gesamten Wohlfarth und Voll­

kommenheit des Nächsten verbindet: so fordert sie auch,

haß ich zur Berichtigung und Erweiterung

seiner Einsichten so viel beyrragen solle, als durch mich geschehen kann; damit er seineGaben

und Kräfte immer besser zur Vermehrung feines eige­

nen , und des Glücks der Gesellschaft zu gebrauchen im Stande sey.

Mein wie kann ich alle Mmschm, und in allen Wahrheiten unterrichten? Antwort: Alle Menschen kann und soll ich nicht zurechtweisen. Die ist für einen

einzelnen Menschm ganz unmöglich; und wie wir oben gesehen haben, auch gar keine Forderung der Men­ schenliebe,

Ich mag auf dem Erdboden leben, wo ich

will; befinde ich mich nur in einer menschlichen Gesell,

fchastr so wird es mir nie an Gelegenheiten fehlen kön.

neu, die einzelnen Vorschriften der Gütigkeit auszu. üben, Das ganze Mißions-Geschäfte in fremde Lan­

der, und unter die entferntestm Völker, ist daher ein

sehr eitles Unternehmen.

Wenn der Mensch um sich

her nichts mehr zu bessern und in der Vollkommenheit

zu fördern fände; wenn es sich denken ließe, daß Alle, die umundneben ihn lebten, mit ihren Einsichten schon

auf

Von der Zurechtweisung.

247

auf der äussersten Grenzlinie des menschlichen Wissens

ständen: denn möchten ihn Menschenliebe, und die Besorgniß, daß seine Kräfte sonst ohne Uebung verro­

sten möchten, treiben: die Enden der Erden mit der Absicht zu durchirren; umfich Unwissende aufzusuchen,

und sie durch das Uebermaaß seiner Weisheit zu er­

leuchten! Allein, dis ist nirgends der Fall; und wir haben oben gesehen: baß ie mehr ich zur Erleuchtmrg

derjenigen Gesellschaft, die ich mein Vaterland nenne, oder unket welche mich sonst mein Beruf gestellet hak, beytrage: desto nüzlicher werde ich auch den Auslän­

dern.

Eine ganze erleuchtete Gesellschaft ist für sich

«ine Sonne, die ihre Strahlen weit um sich her ver­ breitet, und auch benachbarte und entfernte Länder Hella

macht.

Die Weisheit eines einzelnen Menschen hin­

gegen ist für sich, eine bloße einzelne Nachtlampe.

Wie

viel wird er erleuchten, wenn er mit ihr den ganzen Erdkreiß durchläuft? Noch mehr4 Bey der erstaunlichen

Verschiedenheit, die sich unter den Menschen in Anse­ hung ihrer Gaben, Fähigkeiten und Neigungen beßn-

det; bin ich ia unmöglich geschickt: alle Menschen zu« rechtzuweifen.

Wo finde ich das Land, dessen Einge-

hohrne ohne Ausnahme in ihren Erkenntniß-Fähigkei­

ten unter mir stehen? oder, deren Vervyllkommung schlechterdings aus meinen Unterricht wartet? Daß

sich dis diejenigen, welche, um Juden und Heiden zu Q 4

bekeh-

248

Von der Zurechtweisung.

bekehren und zu erleuchten, die Welt durchlaufen; und

auch diejenigen, die iene zu dieser müßigen Arbeit aus­ senden, einbilden! ist wol wahr.

Aber die Erfahrung

lehrt auch, daß es ein bloßer Traum ihrer Einbildung

sey. Was wird durch solche herumlaufende Apostel aus­

gerichtet? Vielleicht, daß fremde Völker durch sie aus einem Irrthume heraus; aber dagegen auch gewiß in

zehn andere hineingeführt werden, auf die ihr gesun­ der Verstand sonst nie gefallen wäre? daß ihnen solche

hohe Lehren geprediget werden; vor denen die Vernunft erschrecken muß,wenn sie sie bedenken will? daß ihnen

Andachts- Uebungen angepriesen werden, die sie um kein Haar glücklicher machen? ihnen Pflichten ange­

drungen und aufgebürdet werden; die ihnen zu nichts

nützen? u. s. w.

Und was sind es für Haupteigen-

jchasten, die einen Menschen zu einem solchen Apostel­ amte tüchtig und geschickt machen? Ist es etwa ein außerordentliches Uebermaaß von Weisheit und Ver­ stand, das er besitzen muß, und daS ihn über seine Zeit,

genossensichtbarerhebt? KeineswegeS. Eine vorzüg­ liche Lust zum müßigen Herumlaufen auf dem Erdbo­

den! eine ausschweifend fromme Einbildungskraft! und der stolze Wahn, daß er sich dadurch ausserordentliche

Vergeltungen des Himmels vor denjenigen verdienen

werde, die im Lande bleiben, und sich redlich nähren!

das, sage ich, sind die vornehmsten Erfordernisse zur Tüchtig-

Von der Zurechtweisung.

249

Tüchtigkeit eines Juden - und Heiden • Bekehrers. —-

Nein, die Pflicht der liebreichen Zurechtweisung soll nur

in demienigen Creise von Menschen geübt werden, in deren Gesellschaft und nähern Verbindung du mit dei­ nem anderweitigen Berufe lebst.

Führt dich

dieser dein Beruf unter fremde Völkerschaften! alsdenn wandelt freylich die Pflicht der Zurechtweisung mit

dahin.

Diese aber zur eigentlichen Absicht seiner from­

men Wanderschaften zu machen; oder, ausBekehrunge -

Sucht ein hcrumlaufender Apostel zu werden; das

fordert die Menschenliebe nicht-

Allein soll ich denn alle die, mit denen ich ttt

Gesellschaft lebe; zurechtweisen? nicht.



Auch das

Diese Pflicht hat vielmehr von ihnen nur dieic.

nigen zu ihrem Gegenstände; aus deren Reden oder Handlungen du wahrnimmst, daß es ihnen an gewis­

sen nothwendigen Kenntnissen fehle, die, wenn fle bey ihnen da waren, sie viel bester zu ihrem eigenen und

Anderer Glück würden handeln lasten; deren Abwesen­ heit aber auch sie zu ihrem eigenen oder Anderer Scha­

den handeln laßt.

Dis sezt voraus, daß du dich eige­

ner bessern Einsichten in der vorliegenden Sache, als

die ihrigen sind, wahrhaftig bewußt seyn, und volle

Ueberzeugung davon haben müssest.

Die Umstande,

Verhältnisse, Verbindungen und anderweitige BeschafQ 5

fenhei

2Z0

Von der Zurechtweisung.

fenheiten aber, in welchen du dich mit demjenigen, der

der Zurechtweisung bedarf, befindest: müssendichdenn lehren, ob? und wie die Zurechtweisung selbst würklich

angebracht und ausgeführt werden müsse? Es ist übrigens kaum nöthig, zu bemerken; daß die

Zurechtweisung, von welcher wir hier reden, nur ein

Theil desgesammten wechselseitigen Unterrichts sey; den

sich Menschen unter einander geben: weil sich jene zu­ nächst nur auf diejenigen Wahrheiten bezieht, deren

Einsicht ein besseres sittliches Verhalten bey ihnen zur nächsten und unmittelbaren Folge haben.

Die Zurechtweisung selbst kann nun da, wo die Menschenliebe sie von mir fordert; theils durch meü wen mündlichen Unterricht und wörtliche Vor­

stellungen,

die ich dem Nächsten mache:

theils

durch mein lehrendes Beyspiel, das ich ihm in meiner bessern Handlungsart gebe, geschehen.

Wir

wollen uns folgende Regeln merken, die hauptsächlich

hier in Acht genommen zu werden verdienen.

Regeln. i) Hüte dich gar sehr, das Zurechtweifen

Anderer nicht zu einer Gewohnheit hey dir

zu machen! dich nicht immer, so oft du mit einem Menschen zusammen kommst, oder ihn handeln siehst,

in

Von der Zurechtweisung.

2ZI

in den Fall gesezt zu glauben, daß du ihn znrechtweisen könnest und müssest! oder einen Jeden immer so

finden zu wollen, daß er deiner Zurechtweisung bedür­ fe! Es gehört gar viel dazu, wie wir bald sehen wer­

den , der Sittenlehrer Anderer in einzelnen Vorfällen mit Nutzen zu seyn! Ständen die Menschen alle würk-

lich in der Reihe, wie sie ihren bessern Einsichten nach auf einander folgten; so würde ein Jeder feinen ver-

hältnißmaßigen Standort gegen den Andern sehen.

Er würde die Gabe seiner Zurechtweisung also nur bey

denen anzubringen möglich halten; die er unter sich gestellet fände: hingegen mit dem Gefühl eines Lehr­

lings gegen seinen Meister, zu denen hinaufschauendie über ibn ständen.

Da aber ieneReihe nicht ge-

fiellet steht; fordern die Menschen auf dem Erdboden durch einander laufen: so ist ein Jeder über seinen unbe­ zeichneten Standort gegen den Andern gemeiniglich ei­

fersüchtig, und bemüht, durch sein Tadlen und Zurecht­

weisen Anderer, die unentschiedene Wahrheit zu ent­ scheiden, und es außer allen Zweifel zu setzen: daß

er ihr Vordermann sey!

Je größer denn der

Grad der Eigenliebe und des Stolzes bey einem Men­

schen ist: desto unruhiger machen ihn diese Leidenschaf­ ten ; um jenen Proceß überall, wo er mit Andern z«.-

sammenkommt, anzufangrn: und desto ungestümer;

ihn zu seinem Vortheil entscheiden zu wollen»

Hüte

dich

LZ»

Bott der Zurechtweisung.

dich vor diesem Fehler; und ie weniger es entschieden ist, ob Du? oder der Anderes in jener Reihe der

Erstere sey? desto mehr, laß dich diese Ungewißheit

zur Bescheidenheit leiten.

Vergiß eS nicht: daß, du

magst stehen, auf welcher Stelle du willst, du doch immer zu denjenigen Wesen gehörst, die alle täglich,

lernen müssen! für deren Jeglichen es unzehr^ lig mehr Wahrheiten gibt, die er noch nichd

stehr;

als die Summe derer ist,

die er ver­

steht! daß du also selbst in tausend Fallen der Zurecht-, Weisung von Andern fähig und bedürftig seyest! Be­

denke dabey, daß fast kein Mensch im gesell-,

schaftlichen Leben unerträglicher und lästiger

sey; als derjenige, der immer lehren und zurechkwei-

sen, tadlen, bessern und einem Jeden seine Weisheit aufdringen will; der dadurch immer Andere für un­

mündig gegen sich erklärt; ihnen ihre Freyheitund das Recht, was sie haben, für sich selbst urtheilen zu

dürfen, kränkt; und dadurch das redendste Zeugniß von sich ablegk, daß eine blinde und unmäßige Eigen­ liebe ihn beherrsche; von der es denn obenein die Er­

fahrung noch dazu lehrt, daß sie gemeiniglich mit einer

ausgezeichneten Unwissenheit in einem Hause wohne.—

Dis trifft auch bey vielen öffentlich angestellten Lehrern zu.

Manche derselben würden vielleicht ihren Stand­

ort in irner großen Menschen- Reihe tief unter alle die­

jenigen

Von der Zurechtweisung.

253

ienigen wegfinden; die sie lehren wollen und sol­

len, würde.

wenn nähere Untersuchung darüber eingestellt Indessen hat sie ihr Schicksal einmal zu dem

Beruf des Lehrens verurtheilt! Aber, wie ungereimt ist es nun auch, wenn sie sich einbilden: daß mit der ihnen äusserlich geschehenen Uebertragung der Pflicht des Lehrens und Zurechtweisenö; ihnen auch die hin­

längliche Geschicklichkeit, sie üben zu können; und die Vollmacht, ste gegen einen jeden an­

dern Menschen, und in allen Fällen üben zu müssen, übertragen sey:? Je weniger sie ihre

wörtliche Ueberlegenheit an Einsichten über Andere zei­ gen und erweißlich machen können: desto mehr neh­

men sie zu Blendwerken, durch welche sie sich aber

selbst am meisten täuschen, ihre Zuflucht: und verhül­ len sich in ein Gewand von Heiligkeit, das der Einfäl­

tige anstaunt; und wozu der Kluge und Vernünftige die Achseln zucken muß.

2) Kommt dir ein solcher Fall vor, wo du dich

deinem Nächsten zur Zurechtweisung verbunden hältest;

so lerne den Vorfall erst recht kennen, und übereile dich in deiner Zurechtweisung nicht.

Es kann auch seyn, daß du, nach Grundsätzen, die

von der Einbildung stammen; etwas für unrecht hältest: was dem Nächsten sein besseres Wissen zu

thun

254

Von der Zurechtweisung.

thun erlaubt; oder wol gar pflichtmäßig macht?

Dis mußt du besonders aus der anderweitigen Kennt­ niß, die du von seinen Gaben, Fähigkeiten, von sei­ ner Denkungs- und Handlungsart hast, beurtheilen.

In diesem Falle suche lieber Belehrung von ihm; als daß du verwegen seyn solltest, ihn zurechtweise«» zu tbollen. Gesezt aber, daß diese Bedenklichkeit nicht

statt hatte; so suche den Vorfall mit allen seinen we­

sentlichen Umständen, Ursachen und wahrscheinlichen Folgen recht unter deinen Gesichtspunct zu nehmen. Siehe darauf, ob der Irrthum, woher der Fehler .dei­

nes Nächsten in seiner Aufführung kam; öder dm er sonst zu haben äusserte; von vieler oder weniger Bedeu­

tung ? von großen oder kleinen nachtheiligen Folgen

für seine? oder Anderer Wohlfarth sey, oder werden

könne? Aus welchen Quellen er bey ihm entspringe? Was für Vorerkenntnisse dem Nächsten fehlm; die, wenn sie bey ihrn da gewesen wären, das Entstehen je­ nes Irrthums gar nicht hätten möglich werden lassen? Siehe auf die Person des Irrenden; auf seine Haupt-

neigungen; auf seine Fähigkeiten; auf die Erziehung,

welche er genossen; auf die Gewohnheiten, welche er angcnomlnen; auf die äußerliche Lage, Verhältnisse und Verbindungen, in welchen er in der Welt steht, n. s. w.

Das alles wird dir, sowol die richtige Beur­

theilung seines gegenwärtige«« Irrthums oder Fehlers;

als

Volt der Zurechtweisung,

255

als auch die Wahl der besten Art, wie du die Zurecht­ weisung seiner anzustellen habest? erleichtern.

3) Da es der Zweck der Zurechtweisung ist, den Irrenden

aus einer gewissen Unwissenheit,

die ihm oder Andern sehr schädlich werden

kann, zur Erkenntniß einer gewissen ihm wich­ tigen Wahrheit überzufühcen; so richte deine

Zurechtweisung sorgfältig so ein, daß dieser Zweck da­ durch erreicht werden möge.

Dem zufolge mußt du

a) deine Gedanken so deutlich, als es dir möglich ist, mit den Gründen, aus welchen ihre Wahrheiterweiß­ lich ist, ihm vorlegen: die Unstatthaftigkeit seiner entgegengesezten Meynung, und den Widerspruch, in

welchem sie mit andern, von ihm selbst als ausgemach­

te Wahrheiten anerkannten Grundsätzen, steht; ihm eben so deutlich zeigen: ihn auf die ganz verschiedenen Folgen, die euere verschiedene Meynungen für seine und

Anderer Wohlfarth haben; aufmerksam machen: seine

Zweifel mit Aufmerksamkeit anhören: da,wo «rRecht hat, ihm willig nachgeben: in den übrigen Stücken sie

mit sanftmüthigem Ernste so ausführlich und deutlich

beantworten; daß du wenigstens, so viel an dir liegt, dein möglichstes thuest, um ihn zur Ueberzeugung zu leiten,

b) Vergiß es bey deiner ganzen Zurechtwei-

simg nie, daß die Beystimmung des Andern zu deinen Behaup-

356

Von der Zurechtweisung.

Behauptungen schlechterdings nie erzwungen werden

könne oder dürfe: daß der Andere das Recht des eigenen Urcheilens überall frey behalten muß»

sc: daß dir nichts weiter, als die deutliche Auseinan­

dersetzung deiner Gründe für deine gegenseitige Mey­ nung zukomme: und du zufrieden seyn müssest, wenn

du dein möglichstes hierin» gethan; sollte gleich der Nächste dadurch nicht zur Aenderung seiner Grundsätze

gebracht worden seyn, die Fehler,

c) Vergiß eö ferner nicht, daß

welche derselbe beging, und.um welcher

willen du ihn einer Zurechtweisung bedürftig findest; ganz natürliche Folgen, entweder seiner Erkenntniß, oder gar seiner natürlichen Beschaffenheit des CörperS

und Bluts waren: daß iene, da die zureichenden Grün­ de zu denselben einmal vorhanden waren, auch noth­

wendig erfolgen mußten: daß sich der Mensch weder

sein Erkenntniß, noch sein Blut selbst gegeben hatte; .auch mit keiner wilden Freyheit sich diese Dinge um­

schaffen könne: und daß folglich die ganze Zurechtwei­

sung blos um seiner Besserungs-Fähigkeit willen gut und nöthig sey! d) Vergiß es endlich nicht, daß die Selbstliebe eines jeden Menschen bey einer jeden Ent­ deckung einer Unvollkommenheit an sich, in Eifersucht

gerathe: daß folglich eine jede noch so liebreiche Zurecht­

weisung, wenn sie Ueberzeugung des Fehlers würkt; eine Unzufriedenheit mit sich selbst schon nochwendig

Von der Zurechtweisung. stifte:

257

daß also um so viel mehr alle übrigen

Ursachen der Unzufriedenheit,

die von dir

Herkommen können; aufs sorgfältigste vermie­ den werden müssen:

wenn die gute Absicht

der Zurechtweisung erreicht werden solle.

Wenn bu diese Grundsätze dir lebhaft gedenkst, und

sie dir beym Anfang und der Fortsetzung deiner Zu­ rechtweisung gegenwärtig seyn lässest: so werden sie dir alle Ncchthaberey, alles ungestüme Poltern und Be­

schuldigen eines boshaften Willens und vorsizlicher muthwilligen Absichten des Andern, alle bittere Vor­ würfe und grobe Behandlungen, und alle die unschickliche Aufführung gegen deinen Nächsten verbiethen, die zu nichts weiter dient, als ihn zu erbittern; dich, als

feinen Feind und Beleidiger kennen zu lernen; und ihn

gegen alle Annahme einer bessern Ueberzeugung zu ver­

härten.

Sie werden dir vielmehr Bescheidenheit ge­

gen seine Person, gegen seine Freyheit, Rechte und Stand; Sanftmuth in deinen Worten; Freundlich­

keit in deinem ganzen äusserlichen Betragen gegen ihn

empfehlen: und nur so weit die Aeusserungen des Ern. stes verstatten; als es die Aufrichtigkeit und Liebe zu

seiner Wohlfarth von dir fordern.

Es ist ein Haupt-

augenmerk, das man bey den Zurechtweisungen seines

aU# beleb

Nächsten zu nehmen hak; daß man durchaus

Sltfvlchrr iv. ry.

R

Von der Zurechlwetsung.

258

beleidigende Kränkungen seiner Ehrlicbe uni

so mehr verhöre;

da,

wie schon gesagt,

selbst

die bloße Bemerkung der fehlerhafren Seite

an sich,

für ihn schon demüthigend ist.

Zu

dem Ende ist es auch nöthig: daß man die Zurechtwei­

sung, so viel möglich, insgemein und ohne ande,

re Zeugen vornehme.

Will fch meinen Nächsten öf­

fentlich tadeln, so erfolgt eben die Würkung, als wenn

ich ihn insgeheim mit Grobheiten anfalle.

Er ver-

liehrt den ganzen rechten Gesichtspunct mit einemmale.

Er sieht alsdenn nicht mehr auf seinen Fehler, den er begangen Hal;

sondern auf die gegenwärtige

Beleidigung und Kränkung seiner Ehre, die ich ihm

zufüge.

Dis, weiß er, war keine unmittelbare

und nothwendige Folge seines Versehens; fern,

dem ste kommt ihm von mir her.

Er erkennt al­

so in mir einen gegenwärtigen Feind von sich! und die Grobheit, mit der ich ihn behandele; und seine Vor­ stellung von der Schande, die ich ihm bey Andern ma­

che , lassen ihn weiter gar nicht an seinen begangener» Fehler denken: sondern wiegeln fein Herz zur Widersezlichkeit und Rachbegierde wider seinen gegenwärtigen

Feirrd auf. bringe;

Jedes Wort, das ich nun weiter hervor­

ist ihm nun lauter neue Bel«idigung!

Er

prüft nun nichts mehr: denn er erwartet von seinem Feinde nichts guts; sondern lauter Absicht ihm zu scha-

Von der Zurechtweisung. den. —

259

Hingegen, wenn ich der zärtlichen Empfin­

dung, die er für seine Ehre hat, auf alle mögliche

Weise schone; wenn ich zu dem Ende mit ihm in der

Einsamkeit und unter vier Augen spreche: so wird er diese gütige Schonung fühlen und schaßen.

Sie wird

eine unglaubliche Würkungaufsein Gemüth machen. Je gewöhnlicher sich die Menschen ihre Fehler offene lieh vorzuwerfen pflegen: desto mehr Rührung und

Ueberzeugung von unserer Liebe macht es; wenn man von dieser schlechten Gewohnheit abgehk, und mit sti­

mm irrendem Nächsten im Geheim sanftinüthig

spricht.

Und gesezt, er befinde sich gerade zu der Zeit,

da er gröblich fehlt, in Gesellschaft! so beurtheile cs,

ob die Zurechtweisung nicht einen Aufschub leide? Ist dis? so schiebe sie ia bis dahin auf, da du mit ihm al­ lein zu sprechen Gelegenheit hast. — Wäre aber kein

Zeitverlust um der schlimmen Würkungen des Fehlers

willen rathsam? so stehe zu, daß dli ihm auf die von den Andern unbemerkteste Art, die dir möglich ist, ei­

nige Winke geben könnest. — Jedermann weiß, wel­ che beredte Redner, unsere Augen, Mienen, Geber­

den, unser Stillschweigen und unser ganzes, obschon den Worten nach stummes, äußerliches Betragen seyn können! Hättest du aber ia das Reden für nokhwen,

dig?

so wähle die gelindeste Art der Vorstellungen^

Kleide etwa deine Zurechtweisung in Fragen um eigene

R 9

Gelehe

Von der Zurechlwesiung.

s6o

Belehrung ein: trage sie als Zweifel vor, die du ha­ best; ob die vielleicht gute Absicht, welche dein Näch­

ster bey seiner Verhaltungsart haben möge; auch er­ reicht werden möchte? u. s. w. und suche iezt nur so

viel zu bewürken, daß die schädlichen folgenifet* nes Irrhums und Fehlers aufgehalren wer­

den.

Die übrige vollständige Zurechtweisung aber

verspahre bis auf eine gelegentliche Stunde der Ein­ samkeit mit ihm.

Alsdenn laß dir deine Klugheitideir

besten Weg zeigen, den du mit ihm gehen mußt. — Richte dich vornehmlich auch, in deinen Vorstellungen an ihn, nach seinen besondern Neigungen, die du an ihm kennst, so viel nehmlich, als die wahre innerliche

Aufrichtigkeit dis verstattet! Und gesezt,

du kenne-

teft jene nicht genau? so nimm gerade zu die Selbst­

liebe, als den ungezweifelt gewissen Haupttrieb, bcy ihm an; und richte deine Vorstellungen so ein, daß sich jene durchaus für eine bessere Art des künftigen Ver­

haltens, als sein vergangenes war, intereßirt finden müsse. —

Um allen widrigen Eindruck zu schwächen,

den eine jede noch so sanfte Zurechtweisung dennoch ih­

rer Natur nach darum auf den Menschen macht; weil durch dieselbe sein Blick auf seine schwache Seite gelei­

tet wird, deren Wahrnehmung nicht anders, als de­ müthigend für ihn seyn kann: so gestehe ihm lieber dei­

ne eigenen Fehler auch, deren du dich an dir selbst be­ wußt

Von der Zurechtweisung.

261

wußt geworden; so weit die Klugheit dis in dem vor­

seyenden Falle erlaubt! Gib dich zu einem Mit­ genossen der fehlerhaften und verbesserlichen Menschen bey ihm an.

fehlen, sey!

Stelle ihm vor; daß,

das allgemeine Loos aller Menschen

der Vorrheil eines Jeden es aber auch

erfordere, die erkannten Fehler abzulegen! —

Dadurch machst du ihm Muth.

Er findet fich durch

deine Zurechtweisung nicht unter dich gedemürhi-

ger; sondern noch neben dir stehend.

Mit einem

Worte: Suche, so viel du kannst, es ihm recht'sicht­ bar zu machen, daß keine stolze Erhebung über seine Person; kein Trieb zu tadeln und Flecken an ihm zu finden; keine Rachsucht, ihn kranken und etwanige al­

te Beleidigungen vergelten zu wollen; oder sonst irgend

eine unedle und ihn beleidigende Leidenschaft an deiner Seite: sondern vielmehr wahre aufrichtige Liebe zu feiner wohlsttrch, die Triebfeder deiner Zu-

rechkweisung sey.

Alödenn kannst du sicher seyn, daß,

da kein Mensch sich selbst und sein eigen Glück hassen kann; auch der Roheste, so bald er sieht, daß man seine Rechte anerkennt und ehrt; und ihn durchaus nicht zu beleidigen die Absicht habe;

sondern ihn vielmehr

herzlich liebe, und aus Liebe zu ihm rede: daß, sage

ich,

selbst der sonst roheste Mensch sein Herz deiner

Zurechtweisung willig öffnen werde. Und sollte er auch

262

Von der Zurechtweisung,

durch deine Vorstellung nicht zurechtgewiesen und ihm die Ueberzeugung beygebracht werden können, die du wünschest: so wird doch wenigstens der Erbitterung da­ durch bey ihm vorgebeugt, und deine gute Absicht iw seinen Augen gerechtfertiget seyn.

4) Oft ist eS auch gut, alle Worte bey der Zurecht­ weisung zu spahren: wenn man nemlich Gelegenheit hat, durch sein eigenes Verhalten, den irrenden und fehlenden Nächsten hinlänglich aufmerksam auf die bes­ sere Art zu machen, wie er sich hätte verhalten sollen! und künftig zu verhalten habe! Beyspiele haben eine ungemein lehrende 2xvaft. Sie zeigen nicht nur, was zu thun sey? sondern auch wie es gethan werden müsse? Ein gutes Beyspiel ist eine zwar still­ schweigende, aber sehr nachdrückliche Bestrafung für den, der schlecht handelt, und eben deswegen, weil es seiner Empfindlichkeit schont; so mächtig! ihn zu rüh. ren, zu überzeugen und zu bessern. Es findet in seinen Würkungen, keines von den Hindernissen vor sich; welche sich der mündlichen Erinnerung und Zurecht­ weisung entgegenstellen. — Bey dem Beyspiel ist kein Schein von Tadelsucht; kein Schein einer unartigen Begierde, über den Nächsten zu herschen. Nicht einmal der Verdacht findet dabey statt: daß der besser Handelnderem, der schlechter gehandelt hatte, den gering.

Von der Zurechtweisung.

r6z

geringsten Verdruß durch Vorwürfe machen wolle. Es gibt hundert Vorfälle, wo die mündliche Vor# ftellungen fast gar nicht mit Ruhen angebracht wer»

den können! das Beyspiel hingegen alles ausznrich. ten vermögend ist! Und es gibt andere hundert Falle,

wo das, was durch sehr viele und weitläuftige wörtli.

che Vorstellungen endlich in den Gang gebracht werden kann; durch ein einziges gutes Beyspiel in der Ge­

schwindigkeit entschieden ist! hart gegen einen Unglücklichen.

Ein Mensch ist z. E. Er fühlt keinMitlei-

den und denkt an keine Uebung der Barmherzigkeit.

Er weiset die Bitten des Elenden mit bittern Vorwür­ fen von sich. —

Wie viele Vorstellungen hatte ich

nöthig, um ihn von seiner unedlen Denkungsart und

von seinem schlechten Betragen zu überzeugen; und zu demjenigen zu bewegen, was Menschenliebe von ihm

fordert? Statt aller Worte nehme ich mich des Un­

glücklichen nach meinem besten Vermögen vor seinen Augen selbst an! —

Nun sieht er meine Geschäftig,

feit, alles zu thun, was in meinem Vermögen steht;

die Thränen des Leidenden abzutrocknen, und ihm sein Schicksal erträglich zu machen!. Er sieht das froh«

Gefühl der Dankbarkeit, das den Niedergefthlagenen

wieder belebt! —

Mein Verhalten macht dem

seinigen stille, aber dabey nagende Vorwürfe! Er fängt ay,

sich seiner bewiesenen Harte zu schämen: R 4

trit

264

Von der Zurechtweisung.

trit mit seiner Hülfe auch hinzu: und nimmt sich vor,

künftig auch edelmüthiger gegen Nothleidende zu den­

ken und zu handeln. —

Ich bin überall schuldig,

gut zu handeln; bin auch da gut zu handeln schul­ dig, wo kein sterbliches Auge meine guten Thaten be­

merkt; bin sogar schuldig, da, wo bey Andern der

Verdacht entstehen könnte, daß Stolz oder Eigennuz, daß Erwartung des Ruhms und der Dankbarkeit die Triebfedern meiner guten Handlungen seyn möchten; lieber im Stillen und Verborgenem meine Rechtschaf­

fenheit thätig seyn zu lassen. Aber, bey dem allen bin

ich auch schuldig; da, wo mein Beyspiel Andere bes­ sern und zurechtweisen kann;

mein Licht leuchten

zu lasten vor den Leuten: daß sie meine guten

Werke sehen; sich daraus Regeln für ihr ei­ genes Verhalten nehmen; und zu einem ähn­

lichen, rechtschaffenen Betragen aufgefordert fühlen mögen.

Du aber, der du zurechtgewiesen wirst, bedenke:

daß es dein größter Vortheil ist,

wenn du

aus Irthum zur bessern Wahrheit geführet

wirst! Zürne nicht über deinen Wohlthäter; gesezt auch, daß seine Zurechtweisung hart und bitter wäre!

Denn du widersetzest dich sonst deinem eigenem Vor­ theile.

Verlange nicht von ihm, daß er selbst vor­

her fehlerlos seyn solle;

ehe er dich radlen

wollet

Von der Dankbarkeit wolle! Nimm die Regeln wahr,

265

welche oben im

zweyten Theile, bey dem Selbsterkenntniß, gege­ ben sind.

D. Von der Dankbarkeit. Da es. Gottlob, zur Ehre der Menschheit noch

nicht Mode in der Welt geworben ist. Jemandem da-

für zu danken; daß er kein Räuber, kein Ehrenschän-er,

kein Zanksüchtiger, kein Mörder, u. s. w. ist!

oder, da man die Beobachtung der Pflichten der Ge­

rechtigkeit für die erste, unerläßliche Schuldigkeit eines reden Mitgliedes der Gesellschaft hält; um derentwil­

len er noch auf keine Dankbarkeit der übrigen Bürger gegen sich, Anspruch machen dürfe: so werden aller mal Erweisungen der Gütigkeit vorausgesezr,

wenn die Dankbarkeit sich sehen laßen soff.

Noch

mehr: Da die Dankbarkeit selbst, nur nach dem Gra­

de, als derjenige, der Wohlthaten empfangen hat, diese Wohlthaten für sich schäzt!

erfolgen kann; sie

folglich von dem Urtheile desselben über die, ihm aus Menschenliebe erzeigte Güte, abhängt:

so kann sie nicht zu den strengen Pflichten der Gerech­ tigkeit gezählet werden; sondern ihre Vorschriften müs­ sen in der Sittenlehre ihren Plah nach den Abhandlun­

gen der Tugenden der Gütigkeit einnehmen; um denie-

R 5

nigen.

Voll der Dankbarkeit.

266

trigeit, der die Früchte dieser Gütigkeit auf irgend eine

Art von Andern genossen hat, zu lehren: welche wür­

dige Gesinnungen, und welches anständige Betragen

er gegen den Menschenfreund

anzunehmen und zu be-

ebachten habe.

Die Tugend der Dankbarkeit-fordert, daß ich die Wohlthaten, Dienste und Gefälligkeiten, welche

mir Andere erwiesen haben, mir möglich ist,

erkennen; und so viel

durch Gegenwohlcharen und

Dienste zu vergelten/

bemüht seyn solle.

erste heißt auch Erkenntlichkeit:

eigentliche Dankbarkeit.

Das

das andere; die

Um diesen Forderungen

nachzukommen; so merke dir folgende Regeln:

Regeln. i) Sep aufmerksam auf das viele Gute,

daß dir die Menschenliebe Anderer zuwendek. Hüte dich, anzusehen.

schaft.

alles für Schuldigkeit von ihnen Du lebst in einer menschlichen Gesell­

Es kann gar nicht anders seyn; als daß dir

sehr viel Gutes von Andern wiederfahrt, was diechlosGerechtigkeit ihnen nicht auferlegte, es dir abstatten

zu müssen!

Es sind ganz gewiß unzehlige Früchte und

Beweise ihrer Menschenliebe darunter!

nicht sowol

Es ist hier

von dem allgemeinem Guten die

Rede,

267

Von der Dankbarkeit.

ßtebe, das dir die Gesellschaft überhaupt zuwendet; der du daher auch mit einer allgemeinen Dank,

barkeit verpflichtet bist:

als vielmehr von den

einzelnen Liebesdiensten; die dir diejenigen, die um und neben dir leben, erweisen.

Wenn du nur ei­

nige Achtsamkeit darauf hast: so werden sich dei­

ne Klagen über böse Menschen vermindern, und du wirst erstaunlich mehrere Wohlthäter,

denen du zur Dankbarkeit verpstichtet bist,

darunter finden; als du geglaubt hast. 2) Unterscheide das Gute, was dir von Andern wiederfährt, sowol seinem Werthe, als der Gesinnung nach, mit welcher eS dir zugewandt wurde:

Große Wohlthaten, durch die ich aus großer

Verlegenheit gerissen wurde, verdienen größere Dank­ barkeit, als kleinere Gefälligkeiten.

Aber auch die

gute, uneigennützige, liebesvolle Abstcht des Gebers; und die Verleugnung, welche er dabey für sich zu üben

hatte; erhöhenden Werthseiner Gabe und seines Dien» steS, und fordern deine stärkere Erkenntlichkeit.

3) Bedenke: daß du durch die erhaltene»

wohltharen und Dienste zu thätigen Ge­ genbeweisungen

deiner

gegen

Liebe

Wohlthäter verpflichtet bist.

den

Das macht ei­

gentlich das Wesen der Dankbarkeit aus.

Wo du Ge­ legen-

S68

Von der Dankbarkeik.

legenheit hast, deinem Wohlthäter seine Liebe durch den-

ne Dienste, Gefälligkeiten und Wvhlthaten wieder zu

vergelten; dergestalt, daß du dabey ein ehrlicher und aufrichtiger Mann gegen alle übrige Menschen bleiben

kannst; da mußt du kein böser Schuldner blei­ ben.

Es ist wahr: die'Menschenliebe überhaupt for­

derte schon alle Dienstfertigkeit: und rechn der Fall er­ scheint; auch Mitleiden und Barmherzigkeit gegen dei­

nen gewesenen Wohlthäter,

insofern er blos ein

Mensch und dein Nächster ist! Allein die Dank­ barkeit behält doch noch eine besondere Kraft, mit

der sie dich nicht nur noch aufmerksamer auf die Fälle, wo du dienen kannst, und noch bereitwilliger machen

muß, deinen Dienst deinem Wohlthäter würklich auf

die beste Art zu leisten; und die dabey vorkommenden

Beschwerlichkeiten nicht zu achten: sondern auch in ge­ wissen Fällen,

deinem Wohlthäter den Vor­

zug vor Andern, in deiner Dienstferrigkeir zu geben.

Gesezt z.iE. du findest zwey Menschen in

gleich großer Noth, deren einen du nur retten kannst. War einer darunter dein ehemaliger Wohlthäter? so tritt die Dankbarkeit, mit der du ihm verpflichtet bist,

zu den übrigen Beweggründen der Menschenliebe hin­

zu; und bestimmt die Hülfe, die du leisten kannst, zu feinem Vortheile.

Glaube

Von der Dankbarkeit.

269

Glaube auch nicht, daß die Pflicht der Dankbarkeit

damit abgethan sey; wenn du Gelegenheit hast, deinem

Wohlthäter in der Folge einen eben so großen Dienst

wieder zu leisten, als er dir geleistet hatte! Keineö-

weges.

Dadurch hast du nur die nackende Thathand­

lung an sich, erwiedert: aber noch nicht ihren ganzen Werth bezahlt; keineswegeö noch nicht der Gütig­ keit geantwortet, die deinen Wohlthäter zu jenem Lie­

besdienste vermochte und bewog!

Die empfangene

Wohlkhat an sich führte schon eine gewisse Verbindlich-

keit über dich her, mit der du deinem Wohlthäter be­ sonders verpflichtet wurdest.

Ein eben so großer Ge­

gendienst, den du ihm etwa hernach leisten kannst, und würklich leistest; ist also nur ein bloßer Abtrag deiner Schuld an ihn; eine Zurückgabe ienerWohlthat selbst.

Hingegen seine frühere Liebe, die er dir bewies, war keine Frucht seiner Dankbarkeit, mit der er dir etwa verpflichtet gewesen wäre: sondern die bloße

Würkung seiner freyen Menschenliebe.

Willst

du also nicht blos als ein gerechter Mann;

sondern

auch als ein Menschenfreund dankbar seyn: so mußt

du nie glauben, ihm bezahlt zu haben; sondern stets ein dankbares Herz gegen ihn behalten; und die Erweisungen deiner Dankbarkeit überall da in deinem Leben

gegen ihn fortseßen, wo keine höhere Pflichten dieselbe

zurückhalten. —

Gesezt aber, daß du außer Stan.

270

Von der Dankbarkeit.

de wärest, ihm seine Wohlthaten durch Gegendienste vergelten zu könnest: so ist es genug, wen» du ein er­ kenntliches und dankvolles Herz bey dir unterhältest; das bereit ist, wenn die Zukunft es möglich machen sollte; sich in thätigen Erweisungen der Dankbarkeit gegen ihn zu öffnen. 4) Nie und in keinem einzigen Falle kann dich die Dankbarkeit verpflichten; etwas für deinen Wohlthäter zu thun, wodurch di­ pflichten der Gerechtigkeit gegen einen Drit­ ten, oder gegen Andere übertreten werden! Alle Pflichten der Gerechtigkeit gehen den Pflichten der Gütigkeit vor: und jene werden von diesen vorausgesezt! Gütigkeit gegen den Einen, die auf Ungerechtigkeit gegen den Andern gebauek ist; ist ein Verbrechen, das ein jeder ehrlicher Mann und Menschenfreund verabscheuen muß!

5) Bedenke, daß die Dankbarkeit die Pflicht beet ienigen ist, der die wohlchae empfangen harr daß sie sich auf die Schatzung gründe, mit welcherdle» ser den Werth der empfangenen Wohlthak bey sich an­ schlagt, und nur anschlagen kann: daß es also auf sei­ ne Empfindungen und Vorstellungen und auf sein Ur­ theil eigentlich und hauptsächlich ankomme; ob er etwas für Wohlthak für sich halten könne? und wie groß er dieselbe

dieselbe für sich ansehe? daß es also auch auf sein Ur­ theil eigentlich ankommen müsse, ob? und zu wie vie­ ler Dankbarkeit er sich verpflichtet halten könne? — Hierin versehen es die Menschen insgemein; und die VernachlaßiguNg dieser Regel ist die Haupt-Quelle der ewigen Klagen, die über den Undank in der Welt geführet werden. Die Redensart, Undank ist der Weir Lohn, ist zum Sprüchwort« geworden. Aber hat denn dis Sprüchwort so allgemeinen Grund? Es wäre doch schlimm, wenn die Menschen wahrhaftig so herrschend bösartig wären, als sie ienes Sprüchwort angebcn will! Wir wollen sehen, was dran ist. Wer sind diejenigen, die jene Klage im Munde führen? Offenbar sind es die Austheiler der Wohlthaten; nicht, die Empfänger derselben: oder, es sind die­ jenigen, welche glauben Andern Wohlthaten erwie­ sen zu haben; wofür ihnen diese den Dank schuldig ge­ blieben seyn sollen. Sind das aber nicht zweyerley Menschm; die mit verschiedenen Augen ein und eben dieselbe Sache ansehen und beurtheilen? Kann nicht der Eine, etwas als Gabe, die er gibt, ansehen: was der Andere, der es empfängt, nicht dafür hält? was dieser als Schuldigkeit von Jenem, oder wol gar als ein Uebel und als eine Beleidigung ansieht, die ihm zugefügt wird? Oder, kann Jener nicht den Wetth seiner Gabe höher rechnen; als ihn Dieser schätzen kann?

272

Von der Dankbarkeit.

kann? Kann Jener nicht eine Dankbarkeit von Die­ sen, verlangen: die Dieser, seiner Meynung nach, ohne Ungerechtigkeit zu begehen, nicht abstatten kann? oder, die seine Kräfte übersteigt? u. s. w. Wieviele tausend Falle lasten sich gedenken; die alle für sich, von der Allgemeinheit des Sprüchworts: Undank ist der Welr Lohn, Abzüge zu machen, verlangen? Wie viele mögen übrig bleiben, die die Wahrheit desselben stehen lasten, oder erweisen könnten? — Mich dünkt, die Allgemeinheit des Sprüchworts ist daher entstan­ den: weil sich ein Jeder zu viel, Wohlthäter gegen Andere zu seyn; einbilder. Daher sinder ein Jeder, Undankbare gegen sich! Da­ her die ewige und allgemeineKlage über Undank! Da­ her'auch die Versicherung der Moralisten, daß derUndank unter die schwärzesten Laster gehöre! Du, der du so klagst und urtheilst! gib die Wagschaale, mit der du deine Wohlthaten abwiegst, dem Andern in die Hand, der deine Wohlthat genossen haben soll, und höre: welche Schaale, ob deiner Wohlthat i oder sei­ ner Dankbarkeit? erschweret, oder leichter, als die andere findet? Und wenn du dich denn auch nicht ver. pflichtet zu seyn glaubst; sein dir widersprechendes Ur­ theil allein fürwahr gelten lassen zu müssen: so beweise wenigstens die Bescheidenheit, und mache zwischen euere beyden verschiedenen Urtheile einen Durchschnitt; so

Von der Dankbarkeit,

273

so wird wahrscheinlicher Weise, die gefunde­ ne Mittelzahl euch am sichersten dahin füh­

ren, wo in diesem Falle die Wahrheit zwi­

schen euch ruhen möchte.

Ueberhaupt aber be­

denke: daß der Geber sich nur um das Wohl­

thun;

keinesweges aber darum zu beküm­

mern habe, ob bey dem Empfänger Dank

oder Undank erfolgen werdet Wo du Gelegen­ heit hast, gutes thun zu können; da sollst du ohne alle Rücksicht auf etwanigen Dank oder Undank, der dir

dafür werden möchte, gutes thun.

Dann thust du.

deinePflicht! Ob der Andere die feinige thut? geht

dich hier nichts an»

Um aber dem Undank hierdurch nicht das Wort zu reden; so wollen wir noch diejenigen kennen lernen,

welche mit Recht Undankbare genannt zu werden verdienen. 1) Dieienigen sind Undankbare, die das Gute, was die Menschenliebe Anderer ihnen zuwendet; als ei­

nen Abtrag der Schuld ansehen, den sie vermöge der Gerechtigkeit von Jenen erwarten konnten: wofür sie

sich also gar nicht dankpflichtig gegen sie erkennen.

Der

Stolz macht viele Menschen von großen Vorzügen, dir sie vor Andern voraus besitzen, träumend! und läßt sie diese, als solche, ansehen; die mit der Schuldigkeit ge»

otttenlehrelV.TH.

S

bohren

bohren sind, ihnen Ehrerbiethung, Dienste, Aufwar« rung, und Beystand leisten zu wüsten! Daher neh« men sie die Wohlthaten, die ihnen von Andern erwie« sen werden, als einen Zoll hin, der ihnen ihrer Mey. nung nach, ohne Himmelschreyende Ungerechtigkeit zu begehen', nicht versagt werden konnte; als ein Opfer, das ihren großen Verdiensten und Vollkommenheiten gebührte: und fürchten wol gar, schon fast zu viel zu thun; wenn sie es die, die ihnen Gutes erweisen, durch ein freundliches Gesicht merken lasten, daß sie mit ih­ ren Diensten zufrieden sind! Die hochmüthigsierr Menschen sind gemeiniglich auch die undankbarsien: weil ihre erhabenen, ausschweifenden Ein­ bildungen , die sie von sich unterhalten, es ihnen als unnöthig angeben, auf Mittel zu denken, wie sie sich lösen mögen? wenn ein Anderer gegen sie liebreich und freygebig ist.

2) Diejenigen sind Undankbare, die sich wei­ gern, bey bequemen Gelegenheiten die genossene Wohl« that zurEhre ihrer Wohlthäter zu bekennen. Wcrsich nicht schämte, eine Wohlthat von dem Andern anzu­ nehmen ; warum will er sich denn schämen, eö zur Ehre seines Wohlthäters bey guter Gelegenheit zu gestehen? Ein solches Bekennmiß ist gewiß die kleinste Erwiede­ rung, die man den Liebesdiensten der Grvßmuth und

Von der Dankbarkeit.

275

des Mitleids machen kann. Einmal ist sich der Mensch

doch nicht, allein, selbst genug! Er bedarf des Bey­

standes Anderer in tausend Fallen.

Warum will ich

mich denn der gegenseitigen Abhängigkeit schämen, die

ich doch nicht ableugnen kann? Warum eine stolze Miene gegen den annehmen, der mich in meiner HülsS-

bedürfligkeit mit seiner Güte untersiüzte?

3) Diejenigen sind Undankbare, welche die ge­

nossene Wohlthat, wenn sie sie nicht ganz ableugnen können; doch hinterher verkleinern.

Zu der Zeit, da

der Undankbare die Wohlthat genoß, war sie ihm wol

sehr wichtig.

Aber nachher thun Viele, als wäre ih­

nen nichts daran gelegen gewesen; weil sie ihre abgehol­

fenen Bedürfniste nun nicht mehr fo fühlen. Entwe­ der schreiben sie die empfangenen Wvhlthaten schlech­

ten Ursachen und Absichten zu.

Der Wohlthäter, sa­

gen sie, habe nur seinem Stolze und Eigennutz gedient. Er sey durch vorgeschossene größere Dienste zur Dank­

barkeit verpflichtet gewesen, u. s. w.

Dder, sie sa­

gen : Die Wohlthak selbst sey eine sehr gemeine Gefäl­ ligkeit gewesen, die ein jeder Anderer seinem Neben­

menschen auch erwiesen haben würde; dir dem Geber nichts gekostet habe; und dergleichen.

Solche Be­

trachtungen wurden vorher, da die Noth gegenwärtig war, nicht angestettt! Nun, da sie hinterher kommen!

S »

zeuge«

276

Von der Dankbarkeit.

zeugen sie von einem sehr störrigen Stolze, den eine hö­

here Gütigkeit beleidiget hat, und der sich nicht über­

winden kann, eine Verbindlichkeit von sich einzugestehen; von einem hämischen Neide, der den Menschen

nicht ruhen laßt,bis er iencGroßmuth benaget und ih­ ren Glan; verdunkelt hat; und von einem Herzen, das selbst gewohnt seyn muß, seine scheinbaren Werke der

GroßmuthauskricchendenBewegungsgründenzuüben,

und daher Andern auch solche Unlauterkeiten zutrauen kann.

4) Diejenigen sind Undankbare, die die ihnen

erzeigten Wohlthäter auf eine sehr unschickliche Art er­ wiedern. Z. E. Wenn sie ihre Vergeltung genau nach dem Maaße der ihnen geleisteten Wohlthat und Hülfe

abmessen.

Diö kann in vielen Fällen Undank werden.

Denn, wie wir vorher gesehen haben, derjenige, der

mir zuerst seine Güte erzeigte, handelte damals aus freyer Menschenliebe.

Er war mir, der Gerech-

tigkeic nach, nichts besonders schuldig.

Ich hin­

gegen stehe, nach genossener wohlchar, in der

Verpflichtung zur Dankbarkeit gegen ihn. mir Gefälligkeit erzeigt.

Er hatte

Erwiedere ich blos die That;

so bleibe ich ihm die Erwiederung seiner Gefälligkeit schuldig! (Döcr, der Dienst, den er mir erzeigt hat, kann nach Verhältniß seiner Umstände, ungemein

Von der Dankbarkeit. großmüthig von seiner Seite gewesen seyn.

277 Will ich

bey meinen nun vermögendem Umständen, in Abhel« fung seiner Noth, und Beweisung meiner Dankbar« feit nicht weiter gehen, sondern nur gerade eben so viel thun, als er nur thun konnte; da ich doch Zu

mehrerem im Stande bin; und sein Bedürfniß auch

größere Hülfe erfordert: so kann vielleicht eine Gutthäkigkeit von meiner Seite gegen meinen alten Wohl­ thäter herauskommen; die schon gegen einen Fremden zu kärglich genannt zu werden verdiente. Womit habe

ich ihm denn seine Großmmh erwiedert, die er in

Betracht seines eingeschränkten Vermögens gegen mich bewiest?

Ich habe alsdenn noch gar keine

Dankbarkeit ausgeübt.

Dder, die Wohlthat,

welche er mir erwiest, war vielleicht damals für mich und mein ganzes Glück entscheidend l Sie war viel­ leicht ihrem Inhalte nach, von keinem großen Belang; aber in Beziehung auf mich und auf meine damalige

Lage, äusserst wichtig! Ich bedurfte ihrer schlechter­ dings! Mir mußte sie nicht ausbleiben; weil ich nur

durch sie vom völligen Untergange gerettet werden konnte! — Und er sprang mir zur rechten Stunde da­ mit bey! —- Es gibt oft so sonderbare, kleine GcfälS Z

lig.

278

Von der Dankbarkeit.

ligkeiten, die so gütig und verbindlich erwiesen; so ge­ nau zur rechten Zeit, und den besondern Umständen an­ gemessen, angebracht; und in ihren Folgen so wichtig

und Vortheilhaft für uns sind: daß sie nicht anders, als

durch die Zuneigung und ergebenste Freundschaft unsers ganzen Lebens, völlig erstattet werden können. Gefezt,

mein menschenfreundlichster Nächster, war dieser gefast

lige Retter für mich! und ich hatte ihm meine ganze

Erhaltung und mein ganzes Glück zu danken! — Nun ist er in Noth.

Diefelbige Hülfe dem

Maaße nach, die er mir erwies; und die zu

meiner Rettung auch hinlänglich und nur nöthig war;

kann ibn iezt noch nicht retten! Sie muß großer seyn, wenn derfelbige Erfolg für ihn entstehen soll. kann auch mehr thun.

Ich

Meine Wohlfarth und Ver­

mögen erlauben es, ihm mit einem größerem Auf­ wand ,der Retter zu werden; der er'mir mit einem kleinerem ward!

Aber nein; ich will ihm nur

dasselbe bestimmte Maaß des Beystandes zurück­

geben; welches ich von ihm empfangen hatte! Und was thue ich denn? Der Dienst, den ich ihm leiste, hilft ihm nichts.

Also leiste ich ihm gar keinen; da'er

mir doch den allergrößten geleistet hatte! — Ich

bin

Von der Dankbarkeit.

279

bin mit aller meiner angeblichen Dankbarkeit ein un­

dankbarer Mensch.

5) Diejenigen sind Undankbare, die die em» pfangene Wohlthat zu der guten Absicht nicht anwen­

den, zu welcher sie ihnen der Menschenfreund verliehen

hatte.

Ein Jeder hat nach feinem Eigenthumsrechte

die Freyheit; den Gebrauch seines Vermögens nach

seiner Einsicht zu bestimmen: folglich, wenn er mein Wohlthäter wird; auch das Recht, wenn er will, mir

die Anwendung vorzuschreiben,

welche ich

von seiner tVohlrhar machen soll! Ließ ich mir

diS gefallen; und nahm ich unter der vorgeschriebenen Bedingung, seine Wohlthat an: so ist es eine wahre

Kränkung seines Eigenthums. Rechts, wenn ich seine Gaben zu einem fremden Behufe, wider seine Vor»

schrift und ahne seine Einwilligung anwende.

Ich

mache dadurch, daß dem Wohlthäter, so bald er eS inne wird, seine Wohlthat gereuet: und er in künfti-

gen Fällen mich ohne Hülfe läßt. — Je entfernter die von mir gewählte Absicht, von der seinigen ist;

desto mehr reize ich seinen Unwillen, und desto undank­ barer bin ich gegen ihn.

Und gesezt, daß meine Ab»

S 4

sicht

2yo

Von der Dankbarkeit,

sicht ersprießlicher für mein Wohl wäre, als die seinige: so bin ich doch nicht befugt, sie bereinigen ohne feine Einwilligung vorzuziehen. Fände ich die seinige ganz schädlich für mich; so werde ich seine ganze Wohlthat nicht annehmen. Sie ist alsdenn keine für mich. Folg, lich bin ich schuldig, da, wo ich sie anzunehmen für gut finde, mich nach seinem Willen zu richten. Aeusserst undankbar wäre es, die empfangene Wohlthat sogar zum absichtlichen Verdruß und Schaden deöWohlthäterö zu mißbrauchen..

6) Endlich sind diejenigen Undankbare, die die empfangenen Wohlthaten so leicht wieder vergessen: und wenn ihnen etwa in der Folge der Zeit von ihren ehe­ maligen Wohlthätern eine kleine Beleidigung aufstößt; diese in vollem Unwillen und Verdruß so stark empfin­ den können, als wenn keine Spur des Andenkens an die genossene Güte bey ihnen mehr offen geblieben wäre, die ihre Empfindlichkeit mäßigen könnte: ober, als wenn sie ihren gegenwärtigen Beleidiger nie in der Ei­ genschaft eines gütigen Freundes und Wohlthäters; sondern von ieher als einen abgesagten Feind von sich kennen zu lernen, Gelegenheit gehabt hatten. Vielleicht lag

Von der Dankbarkeit.

281

lag bey der ganzen Beleidigung nur ein Mißverständ­ niß zum Grunde? Vielleicht war sie blos die Würkung

einer plözlichen Aufwallung des Bluts?

Der Dienst

hingegen, welchen er uns ehemals leistete, war vielleicht die Frucht seiner UeberleguNg, und einer entschlossenen

Gütigkeit bey ihm gewesen? — Sollte diese uns nicht

nachsehend gegen jene machen ? — Vielleicht war die

ehemalige Wohlthat so groß, daß sie billig eine ganze Menge geringer Beleidigungen aufwiegen sollte? Und sollte nicht eine iede genossene Wohlthat dis Gewicht in

unsern Augen haben? Ist, wie wir oben gezeigt ha­ ben, eine allzu große Empfindlichkeit, der Zorn, und

iede Feindschaft gegen den fehlenden Nächstenüberhaupt

einem vernünftigen Menschen unanständig; so muß ge­ wiß diese Empfindlichkeit und Rachbegierde gegen ei­

nen ehemaligen Wohlthäter im höchsten Grade unan­

ständig und unverantwortlich seyn.

Je schändlicher und verhaßter das Laster der Un­ dankbarkeit ist; ie mehr es die Wohlthäter von ferne­

ren Hülfsleistungen abschreckt; ie anständiger hingegen einem jeden vernünftigen Menschen die Tugend der

Dankbarkeit allgemein gehalten wird; ie gewisser sie

S 5

ihm

2§2

Von der Dankbarkeit,

ihm die fernem Unterstützungen Anderer versichert;

ie

genauer überhaupt diese Tugend die Menschen unter ein­ ander zu gegenseitigen Liebesdiensten verbindet: desto

ernstlicher und sorgfältiger fliehe ienes Laster; und be­ fleißige dich dieser Tugend!

Ende des vierten Theils des Versuchs einer Anleitung

zur SLLtenlehre für alle Menschen

ohne Unterschied der Religionen.

Anhang.

Anhang von den Todesstrafen.

mim dürste es nun wol »och nöthig seyn, von

der Ungerechtigkeit aller Todesstrafen ohne Ausnahme, noch ein Wort zu sagen: wenn das, was ich in diesem ganzen Werke meiner Sitten­

lehre vorgetragen habe; nur mit einer halben Aufmerk-

sämkeit erwogen ist.

Und in der That war es auch,

mein wahrer Vorsaz nicht, den versprochenen Anhang

von den Todesstrafen diesem Werke würklich beyzufü-

gen.

Ich wollte vielmehr durch die Ankündigung des

stlben auf den Titelblättern aller Theile, nur den Leser

bewegen, zugleich schon mit der Rücksicht auf die To­ desstrafen, mein Buch zu lesen: und diese schrecklichste Sitte unter die Menschen, nach denen Grundsahen zu

prüfen, deren Richtigkeit ich in demselben ausser Zwei, fel gesezt zu haben glaube.

Aus diesem Grunde habe

ich auch hin und wieder da, wo mir besondere Gelegen­ heiten dazu aufstießen, mich in nähere Erörterungen dieser traurigen Angelegenheit eingelassen, als nöthig

gewesen seyn würde; wenn ich davon besonders und

aus»

284

Von den Todesstrafen.

ausführlicher zu reden entschlossen gewesen Ware.

Indessen habe ich mich hernach doch bedacht, und eS für gut gehalten; nicht, eine ausführliche und weit-

läuftige Abhandlung; denn deren bedarf eö nicht! son­

dern nur einen kurzen summarischen Auszug der HauptLründe, aus welchen die Ungerechtigkeit aller Todes­

strafen hervorgeht, dem Leser vor Augen zu kegen. Um ihn desto kürzer zu fassen, werde ich da, wo es nöthig

ist, auf dieienigen Stellen in der Sittenlehre meines Buchs Hinweisen; wo die hier einschlagenden Grund­

sätze ausführlicher und im Zusammenhänge vorgetra­ gen sind.

Ich werde ferner, da die Vernünftigsten

unter den Vertheidigern der Todesstrafen, selbst zuge­

ben, daß der vorsezliche Mord das wichtigste und eigentliche Verbrechensey, auf welches iene Strafe erkannt werden könne und müffel

da sie gar nicht abgeneigt sind, sich alle übrigen Arten von Verbrechen, von den rodeswürdigen Misse­

thaten abdiugcn zu lassen: ich werde, sage ich, eS

mir also gerade gleich zum Zweck nehmen, die Unge­ rechtigkeit

der Hinrichtung

eines Mörders

zu erweisen: weil alsdenn mit diesem Erweise, al­

les, was für die Rechtmäßigkeit der Lebensstrafe über irgend ein anderes Verbrechen gesagt werden mag, von selbst über den Haufen fallt.

Ich

Von den Todesstrafen.

2Z5

Ich behaupte also: daß alle und jede Todes­ strafen, ohne irgend einige Ausnahme,

ungerecht st'nd: und führe den Erweiß mei­

ner Behauptung aus folgenden Gründen. 1) Weil ein jeder Mensch, er sey ein Heiliger, oder

«in Verbrecher, von welcher Art er nur gedacht werden

kann und mag; auch den vorsezlichen Mörder, den Landesverrather, den Menschenfresser nicht ausgenommen; weil ein jeder Mensch/ sage ich, mir allen sei­

nen Handlungen, in ihren großen und kleinen

Theilen; auch in allen, dieselben begleitenden Umstanden; unter dem Gesetze der absoluten Nothwendigkeit stchr.

Ihn um einer vollbrach­

ten und durch ihn geschehenen That willen, darum, weil

sie seine Thar ist, strafen! heißt: ihn unschuldig strafen! heißt: ihn deßwegen strafen; weil er der

Mensch ist, der er ist! und zu dem er sich nicht selbst gemacht halte, sondern vom Schöpfer dazu gemacht worden war! heißt: ihn darum strafen, daß er kein

anderer Mensch ist, als der er würklich ist: da er

sich doch zu keinem andern Menschen machen konnte! und derSchöpfer ihn ebenfalls zu keinem andern Men­ schen machen konnte, oder wollte! er auch kein an­

derer Mensch seyn kann, als der er jedesmal ist! heißt: ihn darum strafen, daß er feine Natur

und Stinunung, fein Blut, Temperament, feine Ge­ burt

»86

Von Den Todesstrafen.

burk und Erziehung, feine Erkenntnisse, seine Verbin­ dungen mit andern Dingen, seine gesamte Lage in der Welt; alle Umstände, die hier zusammen trafen, kurz:

daß er alles, was zum würklich werden seiner That et­ was beykrug, nicht anders ordnete: als diese Dinge

geordnet waren; und sich in ihrem würklichen Daseyn ergaben! da es doch ausserhalb dem Gebiethe seines

Vermögens lag, das mindeste darin verändern zu kön­

nen ! Den vorstzlichsten und grausamsten Mörder am

Leben strafen, heißt also: da der zureichende Grund seiner Thar in dem ganzen Zusammenhänge aller Dinge verwehr und da war, und kein zureichender Grund ohne seine Folge bleibe»

kann: jenen Mörder also, sage ich, um seiner That

willen strafen; heißt nichts anders, als: ihn darum tödren, weit er, starr der würklich vorhande­

nen welr, nicht eine andere Welt geschaffen habe. (vid. im erstell Theile, das Capitel von Frey­ heit und Nothwendigkeit: und im dritten Theile, das

Capitel von den angebohrnen Rechten deS Menschen.) Von Besserungsstrafen, die über den Mörder ganz wohl zu verhangen sind, ist hier nicht die Rede.

2) Die Todesstrafe ist ungerecht; weil sie wider den Vertrag läuft,

den der Bürger

mit der Gesellschaft errichtet har.

Oder, wenn man

Von den Todesstrafen.

287

man lieber will: weitste dertzanzen Abstchtwü

verspricht, mit welcher der Mensch nur ein­ zig und allein in der Gesellschaft lebe; und mit

der er auch nur darinn leben zu können, durch seine .Natur gezwungen ist.

Seine Absicht ist: durch die

Gesellschaft glücklicher zu werden. dern ihn auch Besserungö - Strafen.

Hiezu för­

Diese bewilliget

er also, vermöge lener Hauptabsicht, über sich; so oft sie die Gesellschaft über ihn zu verhängen nöthig findet.

Aber Todesstrafe ist kein Bestcrungs- Mittel;

sondern sie vernichtet den Bürger/als Bürger und Mensch, gänzlich.

Sie streitet also wider seine ganze

Absicht, mit der er in die menschliche Gesellschaft trat, und mit der er nur darinn leben kann.

Sie streitet

wider seine menschliche Natur selbst.

Die Gesellschaft hatte auch von ihrer Seite, ver­

möge jenes Vertrages, ihn so, wie er war; mit denen Kräften,

Fähigkeiten,

Neigungen u. s. w., die er

hatte, unter sich ausgenommen: folglich auch alles,

was daraus bey ihm entstehen und folgen würde, zum voraus bewilliget, und seine künftigen Handlun­ gen genehmiget; oder sich bey denselben so zu ver­ halten verheißen, wie eö die Absicht, welche jeden Bür­

ger mit der Gesellschaft vereiniget, erfordere.

Da die­

se Absicht aber aufdie Vermehrung seines Glücks

geht;

288

Von den Todesstrafen.

geht ; so faßt sie keinesweges sein Unglück, oder hie

Zerstohrung seines Lebens in sich: mithin erlaubt sie auch keine andere, als Besterungs - Strafen über den Mörder zu verhcngen. (vid. im dritten Thei­

le die Capitel, r) von der Gesellschaft überhaupt, 2) von den angebohrnen Rechten der Menschheit, 3) von der Treue, dix neunte Regel.)

Es ist nichts gesagt, wenn Roußeau die Recht»

Mäßigkeit der Todesstrafe aus der Vertragsmaßigen Unterwerfung des Verbrechers gegen den Staat erweisen will.

Roußeau sagt, unb die Her­

ren Runde und Schall beten ihm wider Herr Barcks hausen nach:

Um einer beständigen Todes­

gefahr, (welcher nemlich der Bürger von seinen Nebenbürgern auögesezk seyn soll) zu entkommen; um

einer ununterbrochenen Furcht vor dem Ver­ luste von Ehre, Leben, oder Vermögen über­ hoben zu seyn: sezc der Bürger dem Staate

fein Leben zum Pfande; im Fall er selbst ie# mals diese Verbrechen gegen Andere begehe»» würde.

den;

Ec macht sich verbindlich, zu ster-

im Fall er ein Meuchelmörder, ein

Straßenrauber, oder rebellischer Sröhrer der gemeinen Sicherheit wird.

Und dis thut er;

um selbst vor Meuchelmörder»», Straßenräu,

Hern und Rebellen sicher zu seyn.

Die Armse­

ligkeit

Von den Todesstrafen.

289

ligkeit dieses Arguments kuckt ihm aus allen Falten

hervor.

Denn

a) lebe ich. Gottlob, nicht unter lauter Mördern und Straßenräubern.

Die Mordsuchr ist keine

wesentliche Eigenschaft der menschlichen Via« tur: dergestalt, daß ich mich da, wo ich Menschen

sähe,

auch in beständiger Todesgefahr zu seyn,

gedenken müßte. Es ist die seltenste und unwahrscheim

lichste Todesark; die ich mir,

als mir bevorstehend,

gedenken kann: daß ich einmal von einem Mitbürger erschlagen werden sollte! Mithin werde ich auch von der angeblichen, ununterbrochenen Furcht die­ ser beständigen Todesgefahr, gar nicht gefoltert.

Und so, wie es hierinn mit mir ist; so ist es mit an-

Dis sehe ich daraus: daß

der» Menschen auch.

wenn ich würklich eine solche ununterbrochene Furcht dagegen äußerte? ich mich der gewissen Gefahr

aussehen würde; von Andern für einen verrückten Men­

schen angesehen zu werden, den man nachö IrrhauS transportiren müßte.

Der Seefahrer, dem die To­

desgefahren tausendmal näher und wahrscheinlicher sind; der keine Stunde dafür sicher ist, daß er nicht auf eine Klippe gerathe, oder ein Sturm sein Schiff umwerfe; fühlt nicht einmal eine

solche

ununterbrochene

Furcht: und würde sich schämen, und es als Belei­

digung ansehen; wenn sie ihm nachgesagt werden könn. Stitenlchre IV,

Tb.

T

te,

290

Von den Todesstrafen.

te, oder wollte.

Die obige Behauptung sezt also vor­

aus: daß alle Menschen, lauter blutdürstige Tiger; und auch zu gleicher Zeit, lauter furchtsame Hasen sind,

b) Der Bürger soll also nach obiger Angabe dem Staate versprochen haben, zu sterben: im Fall er

ie ein Mörder würdet Und dis Versprechen soll er darum gethan haben; damit er selbst vor der

Gefahr, von feinem Nebenbürger ermordet zu werden, vom Staate sicher gestellt werdet Und der Staat soll auch jenes Versprechen angenom­

men; und dem Bürger dagegen, die Bedingung des Sicherstellens feines Lebens vor andern Mör­

dern, verheißen haben?------ Gesezt dieser,

in

Roußeaus Phantasie erträumte Contract, ließe sich als würklich errichtet denken: so frage ich, wer von beyden Tomrahenten hält in der Thar,

so,

wie die Sache in der Weir da stehr und vor­ gefunden wird,

Bürger.

sein XVort/

Ohnstreitig der

Denn, wird dieser ein Mörder; so schlagt

ihm der Staat den Kopf herunter.

Aber wo bleibt

denn der Staat mit seinem Versprechen, das

er dem Ermordeten gethan hatte: sein Leben in Si­ cherheit erhalten zu wollen t Mörder,

Statte denn der

ein Mörder werden können; wenn der

Staat seine Schuldigkeit, die ihm der Contract gegen den

Von den Todesstrafen.

291

den Entleibten auflegte, beobachtet hakte? Wer ist

denn also der erste treulose und bundbrüchige Theil; so oft ein Bürger ermordet wird? Ich denke der Staat! Oder, hatte dieser keine Sicherheit verheißen? sondern

nur das Ropfabschlagen können, sich ausbedungen?

Stand er vermöge des Vertrages nur mit

dem Mörder? aber nicht mir dem Entleibten, in Verbindung? Oder, hatte er diesem nur so lange das Leben zu sichern verheißen; als gar keine Todesge­

fahr in der weiten Gotteswelt für ihn noch nicht vor­ handen war? So war der entleibte Bürger ein sehr einfältiger Mensch; da er iencn unnützen Vertrag schloß:

und so leistete ihm der Staat einen sehr müßigen Dienst! Ich denke, eher brauche ich nicht Schuz und Sicher­ stellung meines Lebens; als nur in der würklich vor­ handenen Gefahr?

Und wenn ich nicht die be-

trüglichste Verhandlung von Seiten des Staats, bey der Errichtung ienes Vertrages annehmen soll; so hat­ te mir derselbe diesen Schuz auf die Stunde der Ge­

fahr, auch würklich verheißen.

Erfüllt er nun aber

wol sein Wort zu der Zeit, da der Mörder über mich herfallt? Nein. — Staat da,

Nun die Gefahr da ist, ist kein

der mich sicher stellete! Er läßt

mich vielmehr, troh der übernommenen heiligen Ver­

bindlichkeit, mich zu sichern; und troh des von mit

entgegen, genommenen kostbarsten Unterpfandes meines T s

Blurs

292

Von den Todesstrafen.

Bluts und Lebens zur unverbrüchlichen Haltung des

Vertrages von meiner Seite; ich sage, der Staat läßt

mich, trotz alles heiligen Vertrages, mausetodt schla­ gen : und wacht denn spat hinterher, wenn mein Leben, das er sicher stellen und erhalten sollte und wollte, nun schon in allen Lüsten unwiederruflichverflogen ist; wacht,

sage ich, denn erst hinterher auf: will sich nun Hie Miene geben, als ob er mein Leben verthcydigen und seine Vertrags - Psiicht für mich ühen wolle; und —

übt sie auch würklich. —

Aber wie denn? — so;

Haß er nun einen andern Bürger, desstn Le­

den er auch sicher zu stellen ,- deschworen har­

re; selbst rodrschlägr! Und warum dis? Darum;

weil dieser seine Vertrags- Pflicht gegen den Staat so wenig gehalten hgtte; als der Staat die (einige gegen mich gehalten hatte: darum; weil, nachdem der Staat

der erste Treulose geworden war: der Mörder sich un­ terstanden hatte, der zweyte zu werden! Und wenn der Mörder nicht hätte Mörder werden können; im Fall

Her Staat seine Vertrags-Pflicht, mein Leben si­

cher zu halten, beobachtet hätte: so sind also bey­ des: sowol die Ermordung Meiner; als die nachfol­ gende Hinrichtung meines Mörders; zwey Mordtha­

ten, welche beyde auf der Rechnung des Staats stehen!

Und so will also der ganze, obige, erträumte Roußeau-

sche Uukerwerfungs-Vertrag nichkS anders sagen, als: Jeder

Von den Todesstrafen.

293

Jeder Bürger habe dem Staate umsonst und um nichts das Recht zugestanden: frey morden zu können.

Oder, will man sagen: der Staat könne mein Leben vor der Gefahr der Ermordung nicht sicher stel­

len? Wolan, so kann ihm auch der Bürger unter dieser Bedingung nicht das Recht zugestanden haben,

ihn selbst zu rödren, im Fall er Mörder wer. den sollre!

Und wenn denn doch ein dahin lauten'

der Unterwerfungs-Vertrag chimarirt werden soll; so

müßte er so lauten: Der Bürger verspricht dem

Staate, aufden Fall, wenn er einen mindern ermorden sollte;

mit dem Leben zu büßen:

unter der Bedingung:

daß, im Fall er selbst

von einem andern Bürger ermordet werden

sollte;

der Staat diesen Mörder auch tobt-

schlagen wolle.

Aber denn frage ich auch alle gut­

denkende und gesittete Menschen; ob sie ie einen solchen

Vertrag mit dem Staate errichtet haben? oder ihn zu errichten fähig sind? Nur der Rachsüchtigste, dessen

Rachbegierde auch noch nach seinem Tode Befriedi­ gung sucht; könnte ein solches Verlangen an den Staat machen wollen.

Und kein gesitteter Staat; sondern

nur ein eben so menschenfeindlicher und blutdürstiger Tyrann, könnte einem solchen Begehren des rachsüch­

tigen Bürgers Gehör geben, und sich zur Leistung sei-

T 3

ner

Von den Todesstrafen.

294

ner Forderung verbinden.

Ich wenigstens bezeuge es

an meinem Theile hiemit feyerlich, daß ich nie einen

solchen Vertrag mit dem Staate geschlossen; der dahin

ginge: daß, wenn ich einmal das Unglück gt#

habt hatte,

et mordet worden zu seyn;

der

Staat menten Mörder hinterher auch todt?

schlagen solle.

Denn das könnte mir doch alsdenn

ferner nichts helfen.

Der Staat mag meinen Mörder

durch die besten dazu dienlichen Mittel zu bessern su­

chen ; damit ein besserer und nüzlicherer Bürger aus ihm werde, bewiesen hat.

als er sich durch die Ermordung Meiner

Das ist es alles, was ich für den Mör­

der selbst, und für die zurückgelassene Gesellschaft, von dem Staate verlange.

Die Rücksicht auf mich aber;

der ich nun nicht mehr als Mensch und Bürger da bin;

kann sich der Staat spahren: weil sie sehr müßig und

unnüz seyn würde. Um derienigen Leser willen, die vielleicht mit den Streitschriften über die Rechtmäßigkeit der Todesstra­

fen weniger bekannt seyn möchten; will ich hier sagen; daß Beccaria aus dem Grunde die Unrechtmäßigkeit derselben behauptet hatte: weil kein Mensch das

Recht habe, sich selbst zu tödten; folglich ein solches Recht über sich,

auch nimmermehr

dem Staate übertragen könne.

Was ich selbst

nicht habe; kann ich auch keinem Andern geben. Die

Von den Todesstrafen.

295

Die unbestreitliche Wahrheit dieses Grundsatzes war zu

fühlbar; als daß sie nicht den lebhaftesten Eindruck hak­

te machen sollen.

Denn, was man auch von dem

Selbstmorde halten mag: man sehe ihn entweder

al« die Folge einer Krankheit dcS-Menschen an; so war hier kein gesunder, vernünftiger Mensch; mithin konnten nur verrückte, oder in ihren Gehirnfibern ver­ stimmte Menschen, dem Staate ein solches Recht über­

tragen: oder, man halte den Selbstmord nach der orthodoxen Meynung , für ein Laster; so müßte der Mensch ein Recht haben, Laster begehen, und auch

den Staat zu Lasterthaten bevollmächtigen zu können:

kurz, was man auch von dem Selbstmorde hal­ ten will und mag; so dient er doch zu keinem Beweise,

daß der Mensch ein Recht habe, zu todten.

sich selbst

Mithin war und blieb die angeblich ge­

schehen seyn sollende Ueberrragung eines solchen

Rechts an de« Staat, eine Chimäre.

Um dieser

Batterie anS-rweichen, haben sich-die Vertheidiger der

Todesstrafen gekrümmt und gewunden; um irgendwo einen haltbaren Ort aufzufinden; wo sie eine Gegen­ batterie anlegen könnten.

Sie haben zu dem Ende

das ganze Zeughaus des Naturrechts auögeplündert; in Hoffnung, irgend ein solches Geschüj darunter zu

finden, das jene donnernde Wahrheit zum Schweigen bringen könnte.

Aber alles vergebens.

T 4

Wahrheit

blieb

296

Von den Todesstrafen,

blieb Wahrheit, und schwieg nicht.

Die Hoffnung,

sich noch halten zu können; fing schon an, in Verzweiflung überzugehen: als ihnen, zu ihrer unaussprechlü

chen Freude, die Phantasie eines Roußeau,

icne,

von ihr selbst aufgefundene Urkunde eines alten Unter,

werfungö-Vertrages zwischen dem Bürger und dem

Staate, vorträumte.

Was thut der Mensch in der

Verzweifiung nicht? So viel Mitleiden der Vernunft, wie wir gesehen haben, auch jene Urkunde für sich for­

dert : so griffen doch die Vertheidiger der Todesstrafen mit beyden Händen nach derselben ; und wollen uns bis

diese Stunde noch immer weiß machenr sie enthalte ei« nen unumstößlichen Beweiß, daß das Recht: Bür­

ger tobten zu dürfen,

eine, von allen Bürgern

dem Staate zugestandene und übertragene Freyheit

sey.

Der Leser wird nun urtheilen können, was für

ein leeres Geschwäz diese Behauptung sey ?

3) Die Todesstrafe ist ungerecht; weil ste

feine Vertheidigung des von dem Mörder Entleibten ist.

Vertheidigung ist nur so lange mög,

lich und denkbar, theils: als das Gur da ist, das vertheidiget werden kann: theils: so lange der

feindliche Angrif auf das Gut dauert.

Sind

diese beyden Stücke, oder'auch nur das lezte allein, vor,

übergegangen; so fällt der ganze Begrif von Verthei­ digung

Von den Todesstrafen.

297

digung weg: und jede fernere Vertheidigung, die matt

noch führen will; ist ein Geschäft der Phantasie und

eine Chimäre. Wenn zwey feindliche Flotten sich schla­ gen ; und ein Schiff wird durchbohrt und sinkt in den Abgrund, so wird es auch dein einfältigsten Matrosen

nicht mehr einfallen, daß noch eine Vertheidigung des

schon auf den Abgrund ruhenden Schiffes, auf irgend eine Art möglich sey.

Alles, was hinterher, wenn das

Gut schon verlohren gegangen ist;

in Beziehung

auf dasselbe, noch geschehen kann, ist: Forderung der Schadens, Ersetzung, so weit diese möglich ist.

Was aber denn ferner noch außer dieser Forde­

rung, in Absicht auf das veklohren gegangene Gut mehreres geschicht, oder geschehen mag; find

Ausbrüche

und

Wirkungen

der

Rachbe-

Zierde. Im Falle der Nothwehr konnte der angegrif­

fene Bürger sein Leben nur so lange vertheidigen wolEr konnte mit Auf.

len, als es noch da war!

Opferung des Lebens seines Gegners, das (einige zu

vertheidigen suchen.

Denn der Vortheil und Gewinn

von dieser Arbeit war ihm die Rettung und Erhal­

tung seines eigenen Lebens.

Ist dis Leben aber

schon weg; so kann es durch keine Hinrichtung des Mör­ ders zurückgebracht werden.

Mithin geschicht diese

Hinrichtung ohne die Absicht, welche der Angegrif-

T 5

ftne

s§8

Von bett Todesstrafen.

fene im Falle der Nothwehr würklich hatte; und die

ihn auch berechtigte, seinem Feinde, wo möglich, das

Leben nehmen zu dürfen.

Der Lall der Nothwehr

hört aifo mir dem Leben des Ermordeten auf;

und kann nicht hinterher noch auf den Staat übergetragen werden.

Zugeschweigen, daß man

alle vernünftigen Begriffe von Nothwehr vernich­

ten; und Unsinn an ihre Stelle setzen müßte: wenn man sich einen ganzen Staat, wider einen ein­

zelnen Bürger, in einem Lalle der Nothwehr

gedenken wollte,

(vid. im dritten Theile, im Ca­

pitel von der Friedfertigkeit, die Abhandlungen von

Vertheidigung und Nothwehr.) 4) Die Todesstrafen find auch ungerecht,

insofern ste tVarnungsstrafen für Andere seyn

sollen.

Was heißt das: Ein Mensch soll um seines

begangenen Verbrechens willen am Leben gestraft wer­

den ; damit andere Menschen sich daran spiegeln und

von der künftigen Begehung ähnlicher Verbrechen sich dadurch abschrecken lassen mögen? Heißt es nicht so

viel, als: Jener Mensch st-ll für die künftigen möglichen Verbrechen Anderer iezr buffen? a) Der Mensch, welcher hingerichtet wird, soll

also für andere Menfchen, und an ihrer Statt

leiden, gestraft und getödtet werden! Er sott also das

alt-

Von dm Todesstrafen.

299

alttestamentliche, mosaische, allgemeine Sündopfer seyn; auf welches das ganze Israel seine Sünden legt,

und seine Missethaten bekennt? Er soll also in Frem­

der Nahmen geschlachtet werden? Gore, welche

Ungerechtigkeit!

Ich

denke,

die

Gerechtigkeit

fordert: Der Sohn solle nicht tragen die Missethat Les Vaters;

und der Vater solle nicht tragen die

Missethat des Sohns? sondern des Gerechten Gerech. tigkeit solle über ihm selbst seyn; und des Ungerecht ten Ungerechtigkeit solle auch über ihm selbst seyn? Ich wenigstens von meiner Seite, will also so feyer-

lich, als möglich, und ein für allemal dawider prote« flirt haben: daß um Meinet, um meines Besten

willen; um den Saamen der Tugend bey mir ausgehend und wachsend zu machen:

kein

Mensch geschlachtet werde! Behüte Gott! Sie

würde mir abscheulich seyn, die ganze Tugend; wenn sie sonst nicht hätte wachsen wollen: als daß der Acker

dazu vorher mir fremdem Menschenblure ges dünget werden müssen! Nein:

Meine eige­

ne Gerechtigkeit mag über mir selbst seyn ! und meine eigene Ungerechtigkeit mag auch

immer und ewiglich über mir selbst seyn und bleiben!

b) Das alttestamentliche Israel legte seine schon beganHenkn.Sünden auf den erwählten allgemeinen Sünden,

Von den Todesstrafen»

goo

Sündenbock; und bekannte seine schon verübten Missethaten auf dessen Haupt: und ließ ihn denn noch dazu mit dieser Ladung frey und lebendig in die Wüsten

laufen.

Das christliche Israel ist, nach Verhältniß

der vielen Jahrtausende, um die es später, als jenes, lebt:

auch klüger geworden, als jenes war.

Es legt

nicht, seine begangenen Sünden; nein, es legt

seine künftigen Verbrechen,

die es vielleicht

noch einmal begehen möchte! die aber iezt noch blos im

Reiche der Möglichkeit und Unmöglichkeit stecken; auf

das Haupt desjenigen Menschen, den es zur warNUNI unter sich schlachtet.

Es treibt also einen

wahren Ablaskram mit dieser Warnungöstrafe!

der

denn aber am Ende demjenigen doch nichts hilft; der

hinterher in den unglücklichen Fall kommt, seiner zu bedürfen.

Der Mensch, welcher zur Warnung Ande­

rer hingerrchtet wird; wird also um fremde Ver­

brechen hingerichret,

die noch nicht einmal

begangen fmd k von denen es auch Keiner iezt noch

nicht weiß, wer sie begehen wirb ? Keiner es weiß, ob

irgend einer von denen Menschen, die solche Verbrechen künftig etwa begehen möchten, iezt einmal ein Au­

gen-oder Ohrenzeuge von der Hinrichtung dieses Men­

schen zu seiner Warnung und Abschrcckurig von ähnlicher That sey? ob die künftigen Mörder vielleicht

ein

Von den Todesstrafen.

301

cm Wort davon gehört haben; daß dieser Mensch schon jum voraus um ihrer Sünde willen gestraft und ge­

martert sey, und sein Leben zum Schuldopfer für sie, Jini) zu ihrer Warnung habe hingeben müssen?

Ob

vielleicht nicht vielmehr von allen denen Menschen, wel« ,che bey der Execution gegenwärtig waren, oder von

ihr etwas hörten;

kein Einziger einer solchen

Warnung bedürfte? weil vielleicht für keinem der. selben in dem Buche der Schicksale, der Vorfall bestimmt war: daß er ie ein Mörder werden würde? weil vielleicht indem ganzen Zusammenhänge aller Din.

ge, oder der ganzen Welt, nichts von einem zureichen.

den Grunde enthalten war: baß er ie ein Mörder wer. Len könne?

Und doch wurde zur Warnung dieser

Menschen, ein Mensch zur Schlachtbank geführt? —

Gott! sind denn alle Menschen, oder auch nur die

meisten, zu Mördern bestimmt?— O ihr, denen cö so viel darum zu thun ist; die schreckliche Gewohn­

heit, Menscher» mir kaltem Blure ums Leben zu bringen, noch ferner in der Welt im Gange zu

erhalten!

Ihr Vertheydiger der Todesstrafen!

die

ihr ihnen daher das Wort reden wollt; weil sie nach euerer Versicherung die unfehlbaren Abschreckungsmit.

fei Anderer von ähnlichen Verbrechen seyn sollen! er­ füllt, ehe ihr den Beyfall der Vernunft für euch fordert

und erwartet; vorher folgende Bedingungen! Erstlich:

302

Von den Todesstrafen.

Erstlich: Bringt dietenigen zu Haufen, die einer solchen Warnung bedürfen.

Wählet aus

dem großen Haufen der Menschen dleienigen heraus,

und versammlet sie aufden Gerichtsplaz, wo ihr Men­ schen-Blut rauchen lassen wollt; dieienigen, unter

deren künftige Schicksale der Fall, Mörder zu wer­ den, mit verhandelt steht! Denn diese sind es al­

lein, auf die sich der Gedanke von Warnung noch mit einiger möglichen Beziehung denken liesse.

Alle

Uebrigen aber, die der Warnung nicht bedür­

fen, iagt hinweg, und sorget, daß sie kein Work da­ von erfahren: damit ein unmenschlicher Auftrik, nicht

menschliche Empfindungen in ihnen ersticke; nicht der Rachsucht das Wort bey ihnen rede; sie nicht Unmensch-

lich werden, und auch morden lehre!

Zweytene: Gebet auf Jene, denen zu Liebe ihr

das Blutgerüste gebauet hattet, um ihnen ein warnen­ des Schauspiel zu geben, in der Folge Acht: ob euer

re Absicht an ihnen erreicht worden? ob sie, in deren Schicksals-Buche es verzeichnet stand, daß sie

Mörder werden würden, nun durch euere blutigen Dor-

kehrungen davor verwahr?geblieben sind ?—Und wenn

ihr diese beyden Forderungen, die durch alle Ewigkei­ ten nicht von euch zu erfüllen stehen, dennoch geleistet hattet? wenn ihr die vielen Menschen, die einer sol­ chen

chen Warnung bedurften, aus dem großen Haufen zu wählen, sie aus allen Uebrigen herauszufinden, und auf den Gerichtsplaz allein zu versamlen verstanden hak. tek? (Denn, ein Mensch, der dergleichen Warnung bedurfte- war für ein solches Schauspiel zu wenig und desselben nicht werth: weil eins, gegen eins gerechnet, sich aufhebt; und ich, wenn ich zwanzig Thaler, mit einem Verluste von zwanzig Thalern, gewonnen habe, noch nichts gewonnen habe.) Wenn ferner euere Warnung bey Jenen angeschlagen, und es erweislich wäre: daß sie nun durch dieselbe geschreckt, nicht die Mörder geworden wären, die sie sonst gewiß geworden seyn würden? Nun denn sezt euch Drittens hin, und nehmet alle euere Vernunft und Wissenschaft zusammen, um einen auch nur schein baren Erweis aufzufinden: daß es recht sey, einen Menschen zur Schlachtbank zu führen ! sein Blut zu vergießen! und ihn zu Tode zu martern! damit An­ dere durch sein Blur und seinen Tod geheilec werden mögen i c) Kein einziges Verbrechen wird genau wieder­ holt; dergestalt, daß es dajselbige wäre. Es sind andere Menschen, andere Bewegungsgründe, an­ dere Vorwürfe und Gegenstände, andere Umstände, andere Folgen, u. s. w. die das zweyte Verbrechen von

304

Von den Todesstrafen.

von dem ersten unterscheiden; wenn schon beyde einer­ ley Art zu seyn scheinen. Sollte die Todesstrafe also eine Warnung für Andere, im strengsten Ver­ stände seyn: so müßte dasselbe Verbrechen, um best sentwillen ein Mensch hingerichtet wurde, nach allen feinen kleinsten Umstanden aufs genaueste wiederholt werden können. Diö ist aber schon darum nicht mehr möglich; weil derselbige Mensch, als Thäter, nicht mehr da ist. Und keine Wahrheit ist einleuchtender, als die: daß andere Menschen, andere Menschen sind. Zu geschweigen, daß, wenn auch derselbige Mensch noch da wäre; fluch ihm doch die genaue WieVerholung derselbigen That nach allen Umständen, ewig unmöglich bleiben müßte! Die Todesstrafe kann also nur eine Warnung im allerallgemeinsten Ver­ stände seyn. Je allgemeiner eine Wahrheit aber ist; desto schwerer ist ihre Anwendung auf die allerspeciellesten Falle zu machen, die unter ihr begriffen sind. Es ist z. E. eine allgemeineWahrheit: daß Gott die Welt gut geschaffen habe: und daß sie noch immer iezt, so wie sie da steht, ein, seiner Macht', Weisheit, Güte und Heiligkeit würdiges Werk sey! Wie schwer wird «ö aber dem Armen, dem Kranken, dem Unglücklichen, dem unschuldig Leidenden u. s.w. die Anwendung jener allgemeinen Wahrheit auf ihre einzelnen und be­ sonderen Lagen zu machen? Es ist eine allgemeine Wahr-

Von den Todesstrafen.

305

Wahrheit: daß ich die ««nöthigen Ausgaben ver­ meiden muffe; wenn ich, die nöthigen machen zu können, im Stande bleiben will! eine allgemeine Wahr­ heit: daß alle, auch die kleinsten Ausschweifungen im Genuß Ser Nahrungsmittel und des Vergnügens ver­ mieden werden müssen; wenn der Mensch gesund blei­ ben wolle, rc. Aber wo lebt der Mensch, der, wenn er auch die beste Entschlossenheit dazu hatte; die un­ mittelbare Anwendung jener allgemeinen Wahrheiten auf alle dahin gehörigen, und ihm vorkommenden speciellen Falle zu machen im Stande wäre? Der zwey­ te Fall ist immer schon wieder ein ariderer, als der er­ ste war. Ich will ein Beyspiel von denColic-Krank« heiten hernehmen, die etwa aus einem zu reichlichen Genüße dieses oder ienes Nahrungsmittels entstehen. So viel ich weiß, hat kein Mensch mit Colicken gern etwas zu thun; wenn schon die Gesetze bis iezt noch kei­ ne Todesstrafe darauf gesezt haben, daß man sich der­ gleichen nicht zuziehen solle. Keiner wird auch da seyn, der dergleichen nicht schon an Andern erlebt hatte; daihm hätte zur Warnung dienen sollen: ia vielleicht kei­ ner, der sich in seinem Leben durch diese oder iene Spei­ se nicht schon selbst dergleichen zugezogen haben sollte! Das Beyspiel Ariderer wird das unkräftigste War­ nungsmittel für ihn geblieben seyn: denn er kennt tau­ send Verschiedenheiten, die zwischen ihm und dem AnSlttealchrelV. TbU dem

3

kere Stimmungsgrund seiner Selbstliebe ftyn können? Ist hier nicht der offenbarste Widerspruch?

Sezt

nicht wenigstens, wenn die abhaltende Leidenschaft der Furcht vor der Todesstrafe, an die Stell« der rachgie­

rigen antreibenden Leidenschaft bey ihm treten soll; der­

gestalt, daß iene nun in ihm die stärkere würde: fezt das nicht wenigstens einen gewisser» ruhigen ZwiU 4

schm-

3i2

Von den Todesstrafen.

schen - Augenblick voraus, in welchem diese Verwechs«. lung der sich widersprechenden Leidenschaften geschehe» könne? einen Augenblick, der, er mag nun kurz oder lang seyn; doch wenigstens dazu hinreicht; daß die ei. ne Leidenschaft die andere ablösen könne ? einen Augen­ blick also, wo sich das wilde Toben der erstern Leiden, schäft wenigstens so weit lege; daß die entgegenstehen, den Empfindungen und Vorstellungen doch nur eintr«. ten, und ihre Kraft zur Hervorbringung einer, der alten entgegengesezten Richtung des Menschen und sei. ner Selbstliebe anspannen können? Und wenn man mm bedenkt, daß hier, von sich gerade zu wider­ sprechende!» Leidenschaften, deren eine die ande­ re verdrängen soll, die Rede ist! daß die eine dersel. ben schon da ist; die andere aber erstgebohrenwer. den solle! daß die vorhandene in ihrer größten Stärke iezt schon lebe und den Menschen antreibe; die andere also, in noch grösserer Stärke erscheinen und auftreten müsse , wenn sie iene in Fesseln schlagen solle! gleichwol die zweyte, während der Regie­ rungszeit der ersteren, erst entstehen solle! folglich nur so weit entstehen, und so weit wachsen könne; als es die schon Regierende zulasse! ich sage, wenn man das alles bedenkt: denn muß man sich eine Psychologie aus Utopien herholen, um dar­

aus auch nur solchen Leuten, die die Utopi­

sche

Von den Todesstrafen.

313

fd)t Sprache verstehen, es erweisen zu wel­

len; daß eine solche Veränderung und Um# kehrung des Menschen in seinem leidenschaft­

lichen Zustande, das Werk eines kurzen Au­ genblicks seyn könne.

Wenn ein paar wilde Pfer­

de in den Koller gerathen; und nun den Wagen, vor

welchem sie gespannt sind, über Stock und Block, Berg und Thal mit sich dahin reißen; wie mag nun der Fuhr­ mann, der den Zügel verlohren hat; sie mitten in ih­

rer zügellosen Wuth sogleich halten? Wie soll er so

fort, mitten in ihrem unaufhaltsamen Lauft, ein Paar

andere und vernünftigere Pferde vorlegen? Wo Haler diese gleich bey der Hand? Uns gesezt, er begegnete dergleichen; wie soll er sie anschirren, ehe die Alten ab. gespannt sind ? und wie kann er dis; ehe er sie zum Ske,

hen gebracht hat? Und wodurch bringt et sie dazu?

Muß er nicht «arten, bis sie von selbst stehen? es sey nun, daß sie ausgeraset haben und rnüde geworden sind: oder, daß ein ftemdes Hinderniß, das er ihnen gar

nicht vorsehen konnte; sondern das sich, ohne sein Zu­

thun, gerade zum Glück vorfand; ihrem fernern Lauft Schranken sezt? Geschicht dis nun, ehe der Wagen umgeworfen, zerschmettert, und denen darauf sitzen­

den Menschen die Halse gebrochen sind; so ist egut: und alle Welt nennt' es ein Glück. Ge­

schieht es aber nachher, wenn alles ienes Unglück U 5

schon

gi4

Von den Todesstrafen.

schon gestiftet, und der Fuhrmann etwa allein mitdem

Leben davon gekommen ist; was soll nun mit die­ sem vorgenommen werden? Nach dem Urtheil der Vertheidiger der Todesstrafen muß nun der Fuhr­

mann auch geköpft, oder gerädert, oder gehangen wer­ den! Und warum dis? — Darum, weil er nach den Lehrsätzen der Psychologie dieser Herren das Unglück

hatte verhüten und die Pferde entweder gar nicht hätte

sollen kollerigt werden lassen; oder sie doch mitten In ihrem wilden Laufe zur rechten Zeit plötz­ lich hätte anhalren Sönnen! — Freylich, wenn

lene Psychologie solche kräftige Beschwörungs-Formeln

enthält; durch die, so bald sie der Fuhrmann ausge­ sprochen hätte, die Pferde zum Stillstehen hätten ge­

bracht werden können; so läßt sich die Sache hören.

Aber denn hätten die Herren auch dafür sorgen sollen, daß der Fuhrmann vorher zum Hexenmeister zugestuzt, und in jene Zauberey-Künste von Jugend auf ringe-

wiesen worden war«. Sie hätten ferner auch dafür sor­ gen müssen, daß ihm nun in der Angst und Leidenschaft,

mit welcher er da saß, sein Gedächtniß treu geblieben wäre; und daß es ihm etwa kein« falsche, sondern di« gerade hieher gehörige Formel dargeboten hätte. — Man könnte die Herren, welche der Todesstrafe durch­

aus, und wider alle Erfahrung, eine würkfame und hinlängliche tVarmmgskrafe zur Verhütung der

Von den Todesstrafen.

3’5

der Verbrechen daher nachrühmen wollen; weil durch dieselbe die natürliche Furcht des Menschen vor den Tod erweckt werde; und diese als eine stärkere Lei­ denschaft in ihm, der zum Morde antreibenden Leiden­ schaft sich entgegensetzen, und die leztere in ihrer Würkung aufhalten werde: (wozu die beweisenden Belege, daß dis der gewisse Erfolg der Sache, in dem Gemü­ the des vor einer Mordthat stehenden Menschen seyn werde und müsse; in i^ret Psychologie occuleezu fin­ den seyn sollen.) Man könnte, sage ich, diese Her­ ren sehr bald zum Stillschweigen bringen; wenn man sie mit ihrem eigenen Schwerdte schlagen, und sie aus ihrem eigenen Munde und nach dem Codex ihrer eige­ nen Psychologie richten wollte. Ich schließe so: wenn nach euerer Versicherung die Furcht vor der Todesstrafe schon in dem leidenschaftlichsten Zustande eines Menschen, als ein kräftiges und unfehlbar würksames Mittel, der zum

Morde antreibenden Leidenschaft widerste­ hen kann; so muß sie noch vielmehr diese Arast und würkung in den leichteren Ver­ gehungen haben, wo sie nur schwächere an­ treibende Reizungen zu überwinden hat! Wis­ set also, ihr Vertheidiger der Todesstrafen! darf der Landesherr nur sprechen: daß euch von nun an, auch

die kleinsten Vergehungen, die ihr begehen könn­ tet;

•gi6

Von den Todesstrafen:

tet; sie mögen Nahmen haben, wie.sie wollen, und von so unbedeutender Beschaffenheit, als möglich, seyn; bey Strafe des Todes untersagt werden. Je klei­ ner das Vergehen ist; desto größer ist die Furcht des Todes, als Gegengewicht: desto leichter muß euch also lenes nach den Grundsätzen eurer Psychologie, vermit­ telst der Furcht vor der Todesstrafe, zu vermeiden ste­ hen! — Und was würde nun herauskommen? Wir würden an diesen Herren mit einem male die voll« fönt innen Heiligen vor uns finden, und zu bewundern haben; nach welchen sich die Welt schon so lange, als sie steht, vergebens umgesehen hat. Und eö könnte nicht fehlen; von Morgen und Abend her würden die Menschen zusammenströhmen, um diese raren Früchte anzustaunen, die der Erdboden, aller ersinnlichen Mü­ he, die man sich darum gegeben gehabt, ohngeachtet, -och noch nie bis dahin hat tragen wollen: und die auch sonst noch nimmermehr nicht der Natur abgezwungen seyn würden; wofern man nicht auf den Einfall gera­ then wäre, sie in ein Treibhaus zu stellen, das von al­ len Seiten her durch Todesgefahren, Todesfurcht und Todesschrecken erhitzt worden wäre! Alles dis, was hier gesagt ist, wird dadurch noch stärker und einleuchtender, wenn man bedenkt, daß es bey dem blos leidenschaftlichen Mörder insgemein

Von den Todesstrafen.

317

mein die Rachbegierde sey, die ihn zu seiner Fr«, velthat antreibt: daß aber unter Men Leidenschaften keine sey, die, wenn sie einmal zügellos geworden, den Menschen mit so unwiderstehliger Kraft dahin reißt, und es ieder andern abhaltenden Betrachtung so un» möglich macht, neben ihr in ihm aufzukommen; als die Rachbegierde. Ein in voller Rachsucht ent. fiammter Mensch schttietnichkS. Er hat sonst für nicht» einen Sinn und Gedanken, als nur seinem Feinde wehe zu thun. Und wenn man ihm zu der Zeit, da er über seinen Feind wütet; Schwerd und Rad vorzeigke, die ihn strafen würden; so würde er denken: id) will gern wieder sterben, wenn ich nur meinen Todfeind vorher vernichtet habe! So verhalt eö sich mit andern Leidenschaften nicht. Sie sind ihrer Nati'r nach ruhiger: und wenn auf ihren Antrieb der Mensch ein Mörder ward, so mußte ihnen gewiß die Rachbegierde zu Hülfe treten, wofern er noch den Nahmen eines blos leidenschaftlichen Mörders verdienen sollte, Für ftch alleine, ist auster der

Rachbegierde, sonst kerne einzige Leidenschaft fähig, den Menschen zu einem leidenschaftli­ chen Mörder zu machen.

Aber nun, wie sieht es mit dem vorfttzlichen Mörder aus.? Wenn gleich, wie schon eben gesagt'

3i8

Von den Todesstrafen,

ist, auch bey diesem irgend eine Leidenschaft, die erst« und wahre Quelle seiner Entschließung ist; so kann man doch nicht sagen, daß die That in der blinden Hihe ei­

ner wüthenden Rachbegierde verübt wurde.

Sie war

zugleich, wiewol bey dem Einen mehr, bey dem Andern

weniger, die Folge gewisser Ueberkgungett. Sollte also hier nicht die Furcht vor der To­

desstrafe ein kräftiger Gegengedanke der

den Entschluß

zum

seyn,

Morde durchaus

nicht aufkommen liesset —

Die Erfahrung

sagt, nein! Man frage einen jeden vorsetzlichen Mörder: Ob er nte in seinem Leden davon gt-

hört habe, daß Mörder wieder am Leben ge­ straft werdend Er wird, Ja, darauf antworten.

Man sollte noch die zweyte Frage an ihn thun, die man

aber, vhngeachtet sie der ganzen Sache, wovon hier die Rede ist, den Aufschluß gibt, überall zu thun vergißt;

nemlich: Ob er nie gehört habe, daß eine Mord­

that begangen sey; wo man den Thäter nicht habe ausfindig machen, ihn folglich auch nicht am Leben strafen können/ Er würde als-

denn auch. Ja, antworten.

Man könnte noch eine

dritte Frage an ihn ergehen lassen: Ob er, da er sich zur Mordthat entschlossen, mehr geglaubt habe, unter diejenigen Mörder zu gerathen,

die entdeckt, und hernach wieder hingerichrek würr

Von den Todesstrafen, würde»? oder, unter dieienigen, welche un­

entdeckt blieben? und ich will alles verlohren ha­ ben, wofern er das lezrere nicht mehr für sich

gehofft,

als

das erstere gefurchter har! —

Man stelle sich einen Menschen vor, der es erfahren

hat, daß eine beträchtliche Summe Geldes an einem bestimmten Tage auf einem Postwagen fortgesandt wer­

den werde.

Er entschließt sich, diöGeld, wo möglich,

an sich zu bringen; und sollte eö auch nicht anders, als mit der Ermordung des Fuhrmanns, geschehen können.

Er lauert dem Wagen zur Nachtzeit in einem Walde auf.

Er kennt den Fuhrmann als einenstarkenMen-

schen, und überlegt also, durch welche Mittel, und auf

welche hinterlistige und meuchelmörderische Art er ihn über die Seite bringen wolle.

Er muß viele Stunden

warten, ehe der Wagen kommen will; und hat also im­

mer noch Zeit, sein ganzes Vorhaben von allen Sek­

ten zu überdenken: und er thut dis würklich. kommt der Wagen.

Endlich

Er findet den Fuhrmann, wie er

es wünschte, allein, und ohne Gefehrten.

Er macht

sich an ihn; und es glückt ihm auch, dessen Uebermann

zu werden, ihn zu ermorden, und sich des Geldes zu

bemächtigen.

Allein er wird nachher entdeckt, einge­

zogen, und als ein Mörder hingerichtet.

Nun frage

ich, wenn dieser Mensch zu der Zeit, da er im Wal­

de lauerte, schon die Gewißheit gehabt hätte, daß der

Z2o

Von den Todesstrafen.

der Lohn seiner Arbeit, seine unfehlbare Hin­ richtung seyn würde; so, wie er dies« Gewißheit

iezr hat, da er wörtlich zum Schaffst geführt wird;

würde ihm auch wol die mindeste Lust zum Raube und Morde angewandelc seyn? Gleich­

wol wußte er es ia aber doch, daß auf Straßenraub,

und auf Mord, Lebensstrafen gedrohet stehen? Woher kam es denn, haß diese Wissenschaft ihn nicht abhielt/ Vermuthlich und unstreitig wol daher, weil

er zugleich wußte, daß kein Dieb gehangen werden könne, der nicht vorher gefangen sey:

und weil er in Absicht aüf dis Langen sich nach

seinen gemachten Ueberlegungen und Anstal­ ten mehr sicher, als unsicher hielt! So lange

also, wenn man auch all« übrigen Gründe bey Seite sehen wollte, die wider die Todesstrafen reden; solan­ ge, sage ich, die Todesstrafen nicht zu so gewissen und unausbleiblichen Folgen des Mordes gemacht werden

können, dergestalt, daß schlechterdings und ohne alle Ausnahme ein jeder Mörder aufs Schaffst kommt,

und für eine» Jeden derselbe» die Hoffnung

des Entkommens absolut unmöglich ist:

so

lange können die Todesstrafen auch nie das unfehlbar kräftige Warnungsmittel für vorsezliche Mörder

werden, wofür man sie, und noch dazu wider alle Er. fahrung, auszugeben, unverständig genug ist.

Dee »orfez«

vorsezliche Mörder hatte die Todesstrafe selbst, die er nachher leiden soll, zu der Zeit noch gar nichr in der lVagschaale, als seine Selbstliebe Gewinn und Verlust bey ihrer Entschließung zum Morde ab« wog! Keinesweges. Der Gewinn war da; das Geld lag auf dem Wagen. Diese Schaale hatte also ihr volles Gewicht. Hingegen in der andern Schaale lag noch nicht Gchwerd und Aad! sondern nur die bloße Gefahr der Todesstrafe! die bloße Möglich« feit; du kannst ertappt und hingerichtek werden! Und zwischen dieser Möglichkeit, und der lVüvklichkeir, lagen noch tausend Dinge darzwischen, von denen er sich schmeichelte, daß sie die Möglichkeit nie mit der Wirklichkeit Zusammenstößen lassen sollten. Je mehr Ueberlegungen er gemacht; ie beste« re Anstalten er für sich getroffen zu haben meynke: de­ sto kleiner war die Gefahr in feinen Augen geworden. Die Vertheidiger der Todesstrafen muffen also behau­ pten: nicht, daß die Todesstrafe selbst, sondern, daß die Gefahr der Todesstrafe ein unfehlbares Abschreckungö. Mittel vom Morde sey. Sie müssen behaupten: daß die bloße Gefahr, dieselbige Würkung überall auf das menschliche Gemüth mache; wel­ che das gefürchtete Unglück selbst nur zu machen im Stande ist: kurz, daß Möglichkeit so viel gelte; als würklichkeit! Und das wäre doch eine BrSitteolthktiv.rb,

*$.

Hail»

Z22

Von den Todesstrafen.

hauptung wider alle Natur, Vernunft und Erfahrung.

Wir leben in Ansehung aller unser« Absichten und Wünsche, alles unsern Vornehmens und aller Ersah,

rungen, die wir machen, in beständigen Gefah. ren.

Der Strohm der Veränderungen aller Dinge,

ist ein Strohm voll lauter Gefahren.

Wir werden al­

so überhaupt an Gefahren gewöhnt.

Der Landmann

kann keine Mehr Korn aussäen; ohne die Gefahr da­

bey zu haben, daß ein Hagelschlag oder sonst ein Zu­ fall alle seine besten Hoffnungen vereitele.

So geht

es uns in allen Dingen, in allem unserm Vornehmen,

Thun und Lassen. Wir werden also mit Gefahren über­ haupt von Jugend auf vertraut gemacht. Sollten nun

die blossen Gefahren dieselbige Würkung auf un­ sere Entschließungen und Handlungen machen; als das

Unglück selbst,

wenn es gegenwärtig wäre; was

würde der Landmann alsdenn thun? — Er würde

keine Metze Korn feien,

Kein Mensch würde ein Pferd

besteigen: denn die Möglichkeit, den Hals brechen zu

können; steigt mit ihm hinauf u. s. w.

Was geschicht

daher? Was lehrt die Erfahrung? Sie lehrt uns dis: i) Aus blossen Gefahren überhaupt, machen wir uns

nichts; und können uns nichts daraus machen: dem»

sie sind bey gar keiner Sache ganz vermeidlich; und

die hlosse Gefahr fuhrt noch keine Gewißheit mir sich, daß das Unglück unfehlbar und «naus?

Von den Todesstrafen.

323

unausbleiblich kommen werde, und kommen

muffe.

2) Da es grössere und kleinere Gefahren,

stwol in Ansehung des wichtigern oder unwichtigern

als auch der mehrern

Guts, das zu verliehren steht;

Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit dieses Ver­

lustes gibt: da ferner bey allen Gefahren, die man

von der einen Seite über sich bewilliget; auf der andern Seite auch jedesmal «Hoffnungen stakt finden, irgend

ein grösseres oder kleineres Gut zu gewinnen! und diese Hoffnungen auch so,

wie jene Gefahren, ihr«

Grade der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit

haben: so berechnet ein Jeder in allen ihm vorkommen­

den Fallen,

wo er sich mit Bewußtseyn entschließt;

vorher feine Gefahr des Verlustes, Hoffnung des Gewinns,

und feine

und das Verhältniß

der gegenseitigen Wahrscheinlichkeiten und Unwahr­

scheinlichkeiten derselben gegen einander; so gut er kann.

Und wo denn feine Selbstliebe nach die­

ser Berechnung ihren grösser» Vortheil zu se­ hen glaubt; dahin fallen seine Entschließun­

gen, aus.

Bestreben,

Handlungen und Arbeiten

Ist ihm denn die Wahrscheinlichkeit des Ver­

lustes grösser, als die Wahrscheinlichkeit des Gewinns; so wird er sich nichts mit der Sache oder Handlung zu

thun machen.

Ist ihm aber auch die Wahrscheinlich­

keit des Gewinns grösser,

als die des Verlustes ; st r a

Met

Von den Todesstrafe».

324

achtet er der Gefahr nicht.

So sind daher Beyspiele

genug vorhanden und aus Acten erweißlich: daß, wenn

z. E. Diebe gehenkt worden sind; es unter den gegen­ wärtigen Zuschauern solche gegeben hat, die während

der Execution gestohlen haben.

Und so schlug jener

Mörder im Walde den Fuhrmann todt: weil ihm

die Hoffnung seines Gewiyns wahrsicheinliF

eher war,

als die Gefahr feines Verlustes;

und so handelte er auch dem wahren psycho­ logischen System seiner menschlichen Vlarur

gemäß; wenn e§ schon das von der Phantasie erträum»

ke psychologische System anders und besser wissen will. — Das geht uns hier gar nichts an, daß ein Anderer

das Verhältniß zwischen Gefahr und Hoffnung ; zwi­ schen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit; zwi­

schen das Gut, welches zu gewinnen stand, und das­ jenige, welches dagegen aufs Spiel gesezt wurde; an­

ders finden kann: als der Mörder es fand! Hier ist sich eine ieder Mensch sein eigener Rechenmei­

ster.

Es kommt nicht auf die Urtheile eines Frem­

den; nein, es kommt auf die Urtheile an, die der Thäter davon hatte.

von tene»,

Denn von diesen, und nicht

hing seine Entschließung und That ab.

Sie müssen und können also auch nur allein in Rech­ nung gebracht werden; wenn seine That nach ihrem

Entstehungs-Grunde beurtheilet werden soll.

Für derr

vorsez-

Von den Todesstrafe

325

vorsezliche» Mörder sind also die Todesstra­

fen bey weiten die kräftigen Warnungen nicht,

wofür man sie ausgeben will; so lange zwischen der wörtlichen Todesstrafe selbst,

und der

blossen Gefahr derselben, ein unbcstreitlicher Un­ terschied statt findet, und ewig wird statt finden müssen.

Es ist offenbar,

daß der vorsezliche Mord

weit eher zu hindern steht, als der leidenschaftliche, der eine Frucht der wilden Rachbegierde ist: und daß

auch der vorsezliche Mörder weit leichter zu bestem ist; als der leidenschaftliche Mörder.

Denn der

vorsezliche Mord ist nicht blos die Frucht einer blinden

Leidenschaft; sondern Zligleich die Folge gewißer Ueber»

legungen und gewisser Grundsahe, nach welchen der

Mensch handelte. veränderlich.

Die Grundsahe aber sind nicht un­

Der Mensch kann zu andern und

bessern Einsichten geleitet werden, die ein solches Ver­ brechen nicht zulassen; sondern ein für die Gesellschaft

vortheilhastereö Verhalten bey ihm erzeugen.

Wer

vermag aber dem von Natur sehr leidensthaftlich, zor­ nig und rachsüchtig gestimmten Menschen sein Blut abzuzapfen, und seinen ganzen Nervenbau sanfter zu stim-

mxn?

Hier müssen also,

nebst den allgemeinen

Besserungs-Mitteln, noch besondere; die seiner zu

thierischen Natur naher angemessen sind, angebracht

T 3

werden.

326 werden.

Von bett Todesstrafe». Jczt wollen wir nur, da ttfir von dem vor,

sezlichen Mörder reden; in Absicht auf diesen, einige Vorschläge thun.

Erstlich:

Die Lehrer und so genannten Geistli.

chen müßten besser angehaltcn werden;

anstatt ihres

dogmatsschcn Kauderwelsches, wobey weder Gott, noch der Engel, noch der Mensch etwas denken können; imb

wodurch sie die Phantasie ihrer Zuhörer immer ins geist­ liche, überirrdische und übernatürliche schwärmend ma-

chm und erhalten: ich sage,. sie müßten angehalten werden: ihre Zuhörer, statt ienes unnützen Wustes; mit den Vortheilen, die das gesellschaftliche

Leben gewährt,

und mit den pflichten be­

kannt zu machen, die man zu beobachten hat,

um icner Vortheile aus der Gesellschaft theil­ haftig zu werden.

Sie müßten, statt der unver­

ständlichen Dogmatic, mehr Moral lehren. Und dis könnte dadurch sehr leicht bewürkt werden: a) wenn die Consistoria und alle diejenigen, welche die Geschicklich­

keit der zu bestellenden Lehrer zu prüfen haben; ange­

wiesen würden: ihr vornehmstes unb eigentliches Au­

genmerk auf die Kenntnisse zu richten, die der Candidat in der Moral hat.

b) Wenn bey einem vorgefal-

lenen kaltblütigen Verbrechen nicht blos der Ver­

brecher, stndem auch ftm Lehrer, mit zur Verantwor-

.Von den Todesstrafen. antwortung gezogen würde. —

317

In wiefern alSdenn

mehrere oder wenigere gültige Entschuldigungsgründe in den einzelnen vorhandenen Fallen für den Lehrer noch stattfanden; würde sehr leicht ausgemittelt werden kön­

nen.

Es ist handgreiflich gewiß; daß, wenn un­

zählige v-rsezliche Mörder bessere Begriffe von ihrer wahren menschlichen Glückseligkeit

und

den gesellschaftlichen Pflichten,

deren

Beobachtung sie in den Genuß Lener Glück­

seligkeit sezr; gehabt hätten: sie nimmermehr die Mörder hätten werden können, die sie der heillose Wirwarr von Religionsbegriffen wer­

den ließ,

der ihnen von Jugend auf beyge­

bracht worden war.

Die beste Religion für einen

Menschen kann doch nur diejenige seyn, die ihn zu

einem guten Menschen und Bürger in der Ge­ sellschaft bildet.

Und das könne« doch auch nur die

besten Grundsätze für ihn seyn, die iHv auf dem nächsten und geradesten Wege zu jenem Ziele leiten.

geht den Menschen, der in der Natur lebt,

Was

und

zur Natur gehört, das UebernarürUche an? Was geht ihn das göttliche an? da kein Mensch die Gott­

heit kepnt, noch den mindesten positiven Begriff von ihr hat, oder haben kann ? Man lehre de« Menschen

.Mensch seyn; und von Tage zu Tage ein im­ mer befferer Mensch werden: das ist es, was £ 4

man

328

Von bett Todesstrafen,

man von einem öffentlichen Lehrer in der menschlich«» Gesellschaft fordern kann.

Und wenn dieser das nicht

leisten kann; so Lage man den blinden Leiter vom Lehr« stuhle weg.

Zweitens:

Der Staat sollte ein wachsameres

Auge darauf haben, daß der Nahrungsstand für jede Art von Bürgern, insonderheit sirr die unterste, er­

leichtert; der Fleiß ermuntert; und die Hindernisse, so

viel möglich, weggeräumt würden, die so manchem Menschen die Erwerblmg des nothdürftigsten Brodts

für sich und die Seinigen unmöglich, und daher den Tod wünschenöwerth machen.

Drittens: Die Strenge aller derjenigen Gesetze, welche die Natur zwingen und in Fesseln schlagen wol­

len, sollte gemildert; und die Gesetze selbst sollten mehr der VZatttv gemäß eingerichtet werden.

tur laßt sich nicht ungestraft beleidigen!

Die Na­ Sie spottet

eines jeden Widerspruchs, der ihr gemacht wird: und sie rächt sich in dem Maaße grausam ; als man ihr un­ gerechte Gewalt anthun wollte! Dis findet insonder­

heit in Ansehung der Eher Gesetze statt: und ver­ dient bey der Untersuchung der Ursache»» des Rin­

dermords; wie auch bey denjenigen Mordthaten, zu rvelchen der Affect der Liebe die Veranlassung gab; er.

wogen zu werden.

Man

Von den Todesstrafen.

329

Man könnte zu den vorsezlichen Mördern auch noch bieienigen zehlen; welche um, ihrer Meynung nach, gewiß seelig zu werden; den Tod der Gerechten auf dem Schaffote sterben wollen, und deswegen ei­ ne Mordthat begehen. Allein auch bey diesen Men­ schen ist es handgreiflich, daß die Todesstrafe kein lVarnungsr Mittel für ste sey; da es gerade ih­ re Absicht war, dieselbe leide» zu wollen! und sie, um diese Absicht zu erreichen, die Mordthat begin­ gen! Ja es ist sichtbar, daß der Staat durch seine gewöhnlichen Hinrichtungen der Mör­ der, iene Menschen im allereigentlichsten Ver­ stände zu ihrem Verbrechen gereizt, und ste das Morden ausdrücklich gelehrt habe. Rich, tete der Staat keinen Mörder hin; überliesse er ihn den Vorwürfen seines Gewissens durch fein ganzes Leben

hindurch: so hätte ienen Menschen gerade diejenige Er­ fahrung gefehlt, die den Vorsaz zum Morde bey ihnen «zeugen konnte; und sie hätten dagegen an den Bey­ spielen' derer, die als ehemalige Mörder, nun mit ge­ schlagenem Herzen die übrigen Tage ihres Lebens leb­ ten ; eine ganz andere Erfahrung gemacht; die den Ge­ danken: in ihre Fußtapfen treten zu wollen; nie und nimmermehr bey ihnen würde haben aufkommen lassen. Eben so begreiflich ist es, daß durch ihre Hin­

richtung, kein folgender Phantast gewarnt; aber T 5

wol

330

Vott dm Todesstrafen.

wol noch starker zu einem ähnlichen Verbrechen aufgemuntert werden könne! Zugleich sieht man aber

auch aus diesen Beyspielen, was für erstaunlichen

Schaden die unsinnigen Lehren der Geistlichen anrich­ ten: wenn sie, anstatt die Menschen auf dis Leben,

vnd auf die Pflichten und Vortheile desselben zu vey-

weisen; ihre Phantasie nur immer mit Bildern vom Himmel erfüllen, und durch die wilden Vorstellungen

von der Hölle und den Schwierigkeiten, seelig zu wer­

den , die Selbstliebe der Schwachen am Verstände so .aufwiegeln; daß sie auf die unsinnigsten und schrecklich-

stenMittel verfällt, einer angeblichen ewigen Verdammniß zu entrinnen, und den Himmel zu gewinnen.

d) Die Todesstrafen sind auch darum, als 100at# nungs • Strafen vor Verbrechen',

unnüz und

vergeblich: weil ein Staat, oder eine Gesellschaft meh­ rerer Menschen, ohne Verbrecher undenkbar ist.

Es ist ein Glaucom, das wir den Theologen zu dan­ ken haben,

wenn man sich einbildet: daß Laster,

Verbrechen rc. mregerottet werden

können.

So lange nicht alle Menschen einerley Grad von mensch­ licher Vollkommenheit besitzen; so lange sie sich hierinn

einander vorgehen und folgen müssen: so lange müssen Ei­ nige, Unmündigere; Andere, Mündigere seyn. Je­ ne müssen also auch unverständiger ; und diese, ver­

ständiger handeln.

Das ist: Jene müssen gegen

Diese

331

Von den Todesstrafen»

Diese gerechnet, Verbrecher; und Diese, gegen Jene gerechnet,

Tugendhafte seyn.

grösser die Gesellschaft ist,

Und ie

desto mehrere Arten von

Verbrechern und von Tugendhaften müssen darinn exi-

stiren.

Jene auörotten wollen; heißt: sich ein Phan­

tasma von Gesellschaft träumen, dessen Existenz un­

möglich ist.

Besserungö - Mittel anzuwenden; ist gut

und nöthig.

Aber Warnungs. Strafen, die die Ab­

sicht haben, gewisse Verbrechen mit der Zeit ganz zu

vertilgen, und aus der Gesellschaft wegzuschaffen; kön­ nen nur von denen angerathen und vertheidiget werden,

denen es an Menschen-Kenntniß und an richtigen Be­

griffen, von den Regeln und Gesehen, fehlt; nach wel­ chen die Menschen sowol, als die übrigen Dinge m

der Natur, gebauet und eingerichtet sind.

(Vid. tm

gten Theile, die Abhandlung von der menschlichen Ge­ sellschaft überhaupt.)

Die Erfahrung lehrt es auch,

daß, trotz aller Exeeutionen, es dennoch immer noch Mörder gibt: ia, daß es da die meisten Mörder gibt, wo hie häufigsten Hinrichtungen stattßnden.

Ein of­

fenbarer Beweist; wie wenig man der Todesstrafe «ine

warnende Kraft vor Verbrechen zuschreiben könne! da

sie vielmehr st ganz eigentlich dazu dient, die wild-

heir und Rohigkeir in den Girren der Mena

schon zu nähren und zu erhalten; und ste,

rachsüchtig seyn und morden, zu lehren! Wen«

ZZ2

Von Len Todesstrafe».

Wenn ich behaupte, daß es unmöglich sey, 6te Verbrechen auszurotten; so leugne ich damit keines-

weges, daß sie vermindert werden können.

Aber

dis wird warlich nicht durch Todesstrafen bewürkt wer­

den; sondern kann nur als die Würkung ganz anderer

Mittel, und insonderheit eines bessern Unterrichts und vernünftigerer Grundsätze erwartet wekden, die man den Menschen von Jugend auf beybringt. z) Der schwarze Flecken der Ungerechtigkeit

wird auch von den Todesstrafen durch den nichtigen

Vorwand nicht abgewischt; wenn man wider alle Na­ tur, Vernunft, und Erfahrung behaupten will: daß

die Sicherheit der Gesellschaft die Hinrich­ tung eines Mörders nothwendig mache. Ich weiß gar nicht, was ich davon denken soll;

wenn ich in den Schriften der Vertheidiger der Todesstrafen immer lese: „die Todesstrafe sey darum nicht abzuschaffen, weil sie dem Staate eine absolute Si­

cherheit gegen den Verbrecher gewähret" —

Sie sey das kräftigste Mittel in der Narur, die Menschen von Verbrechen zurückzuhalten, und den

Staat gegen ähnliche Eingriffe des Verbrechens zu si­ chern?

„Sie sey die einzige, allgemein würk-

same und sichere Strafet — „Sie sey das un­

fehlbar würkfame Sicherungs-Mittel für den

den Staats u. s. ro.„ Wollen die Herren damit so viel sagen, als: Der Hingerichtete Mörder tonne ferner den Staat nicht mehr unsicher machend oder, kein Bürger dürfe ferner de. fürchten, von dem schon auf dem Rade gesiochrenen Menschen noch erschlagen werden zu tonnen, so bedürfte es doch wol so vielen Geräu­ sches, DemonstrirenS, und gehäufter Versicherungen nicht, um uns zum Glauben an diese neue Wahrheit zu bewegen ! Ich denke, ein jedes altes Weib wird sich wol überzeugt halten: daß sie von dem Menschen, dem der Kopf schon vor den Füßen liegt, nichts ferner für ihr Leben zu furchten habe? VorS Spucken möchte ihr allenfalls noch bange seyn!

Wir wollen indessen doch die so sehr gerühmte Si­ cherheit, welche der Galgen dem Staate gewähren soll, etwas naher kennen lernen.

a) Wenn keine große Gesellschaft ohne Verbrecher denkbar ist; so ist ia, denke ich, die, als Folge da­ her entstehende Unsicherheit ebenfalls etwas, das sich von der Gesellschaft nicht trennen läßt? Wer die vollkommenste Sicherheit genießen will, von keinem andern Menschen ie tobtgeschlagen werden zu können: der schlage sich entweder selber todt, ober er nehme seinen WohnplaH auf einer wüsten und unbe-

334

Von den Todesstrafen,

unbewohnten Insel, wo er der einzige Mensch ist und bis an feinen Tod bleibt. (Vid. im ersten Theil, pag. 153.156. unb im dritten Theile, die Abhandlung von der menschlichen Gesellschaft überhaupt.) b) Jeder Bürger bewilliget auch durch sein Seyn, und Leben in der Gesellschaft, die möglichen, ungewisse»« Gefahren, welche ihn in derselben tref­ fen können: und er zieht diese, bei» gewissen Gefah­ ren des Untergangs in der Einöde, vor! Trift ihn also die Gefahr, ermordet zu werden, würklichso war eS eine von ihm, wenn schon nicht mit Gewißheit erwar­ tete, doch auf den unwahrscheinlichen Fall des Würklichwerdens, bewilligte Gefahr! (Vid. im dritten Theile die Abhandlung von der menschlichen Gesellschaft.)

c) Wird ein Bürger von einem Mörder entleibt; so kann Jenem, die nachherige Hinrichtung des Mör­ ders, zu feiner Sicherheit nichts mehr helfen! Der Mörder hätte früher hingerichkek werden müssen, ehe er Mörder ward; wenn das Leben jenes Bürgers vor ihm hätte gesichert bleiben sollen. Daß er aber alsdenn ganz unschuldig würde hingerichket worden seyn; läßt sich doch wol an fünf Fingern abzehlen? d) Und wird nicht diese handgreifliche Ungerechtig. keit würklich begangen, wenn der Mörder eines Bür-

Von den Todesstrafen,

335

gers, der Sicherheit der übrigen lebenden Dür.

ger früher aufgeopfert wird, ehe diese von ihm

angegriffen sind? Er war nur Mörder, in Rück­ sicht auf den von ihm Entleibten! Dieses Leh­ rern seine Sicherheit konnte aber durch Jenes Hinrich­

tung nicht mehr bewürkt werden: denn der Erschlagene war schon todt! — In Ansehung der übrigen, noch

lebendm Bürger, war er noch nicht Mörder gewor­

den! — Wenn er also für ihre Sicherheit aufge. opfert wird; so wird er früher gestraft, als er gesün-

diget hat! über Verbrechen gestraft, wovon der gewisse

Erweiß, daß er sie begangen haben würde, absolut un­

möglich zu führen ist! Und das ist doch wol Un­ gerechtigkeit? —

Der Mörder wird also für t>ie

Sicherheit des schon Entleibten, zu spät; mithin un­ nützer weise: und für die Sicherheit der noch leben­

dm Bürger, zu früh; mithin ungerechter Wei­

se hingerichtet.

Es ist gewiß so kümmerlich, als möglich, gedacht;

rind zeuget von einer mitleidenswürdigen Armseligkeit des Geistes, wenn man das einfaltige Vorurtheil: wer einmal das Unglück gehabt har, ein Mör­

der zu werden; der muß und wird nun immer­ fort morden, für eine ausgemachte Wahrheit halten kann.

Lehrt es nicht die Erfahrung, daß die allermei­

sten

336

Von den Todesstrafen.

sten Mörder bald nach der That von der lebhaftesten

und schmerzlichsten Reue ergriffen werden? dergestalt, daß Viele willig ihrem eigenen fernern Leben entsagen, und ihre Hinrichtung fordern; weil sie den Gedanken

und das eigene Bewußtseyn, Mörder geworden zu seyn, nicht ertragen können? dergestalt, baß sie ihren Hin*

gang zum Blutgerüste selbst noch als die einzige Ent­ schädigung ansehen, die sie der Gesellschaft; vornehm*

lich aber sich selbst und ihrem unheilbar verwundeten Gewissen machen können? Nun frage ich einen jeden

Menschen, ob er sich wol mit seinem Leben künftig bey

einem solchen reuigen Sünder unsicher halten könne? Warlich, wenn ich mich bey einem Menschen vor der Gefahr, von ihm ermordet zu werden, sicher hielte: so wäre es bey diesem, dem die Verbrechen in seiner

allerschwärzesten und verabscheuungswürdigsten Gestalt stets vor Augen schwebt; und der durch die quälenden

Vorwürfe, womit es ihn überall verfolgt, so mürbe ge­ martert wirb; daß er mir immer ein Gegenstand des

Mitleides, der Aufmunterungen und liebreicher Trö­ stungen würde seyn müssen.

Selbst für den leiden,

fchafrlichen Mörder möchte ich fast gut sagen, und

von ihm behaupten: daß kein anderes Mittel ihn so sehr herumwcrfcn, und zu menschlichem Gesinnungen auf

die ganze Zeit seines Lebens stimmen würde; als das martervolle Andenken dessen, wie weit ihn seine Leiden,

schäft

Von den Todesstrafen.

337

fchast schon geführt habe! Und bey den vorseylichen Mördern kommt ia alles nur auf bessere Grund­ sätze an. Diese würden sich bey den Allermeisten ver­ üben sogleich nach der That von selbst einfinden. Die That selbst würde ihnen die Quelle seyn, aus der sie ih­ nen zufiößen. Und gesetzt, daß es Einige gäbe, bey denen schädliche Vorurtheile, Neigungen und dahin einschlagende Gewohnheiten so fest gewurzelt hatten; daß diese Besserung so bald nicht bey ihnen zu hoffen stände: so hat sie ia der Staat in seiner Gewalt! und so ist dieser ia vermöge des, mit dem Bürger errichte, ten Vertrages schuldig, da für die pervollkommutig und das Glück desselben zu sorgen, wo dieser sein Bestes nicht selbst besorgen kann! Denn darum lebt der Mensch in der Gesell­ schaft! Und so kann ia der Staat auch durch die Ge­ fangenhaltung desselben, die übrigen Bürger so lange vor einen solchen Menschen sichern; bis die Ueberzeu­ gung von der erfolgten Besserung der Gesinnungen des­ selben seine Loslassung erlaubt! Man bedenke Hiebey noch, wie viele ausserordentlich kräftige BesserungsMittel es für einen solchen Menschen gebe, der so tief gefallen war? Man gedenke sich selbst in seine Stelle. Der Anblick eines jeden Menschen, und insonderheit der Verwandten des Entleibten! ihre Zurückhaltung gegen uns, die wir selbst rechtfertigen müßten! tedrS Sitttnlchrk IV, Tb. 9) Gute,

338

Von den Todesstrafen.

Gute, was sie uns angedeihen ließen! u. f. w. würden

das nicht die quälendsten Vorwürfe seyn, die uns durchs ganze Leben marterten? Würden wir dadurch nicht so

demüthig, so bescheiden, so dienstwillig, so sanftmü-

thig und duldend gegen Jedermann gemacht werden; daß man sagen kann: der Staat raube sich durch seine

Hinrichkung'der Mörder, Menschen, die, da sie nun einmal auf einen sehr unglücklichen Weg gerathen wa­

ren, doch auch Zugleich durch die größten Beschwerden, die sie darauf gefunden, so voll demselben abgeschreckt sind; daß die sicherste Hoffnung statt findet: Sie wer­

den nun mit ganz besonderer und einer ausserordentlichen Vorsicht ihren Fuß auf der rechten Bahn zu erhalten

silchen; um weder auf tonen, noch irgend einen andern

Jrweg in ihrem Leben ie wieder zu gerathen? Es ist ganz gewiß, daß, wenn von Sicherheit die Rede ist, utid die Sache mit dem rechten Auge angesehen wird, der Staat mehr Ursach behalten werde, auf die Si­

cherheit des 'Mörders, wider die Rachbegier-

de der andern Bürger; als aus die Sicherheit

dieser, wider Jenes fernern Mordlust,

Be­

dacht zu nehmen! Die Gefangennehmung des Mörders

dürfte wol in den allermeisten Fallen blos zur Sicher­ heit des Mörders selbst nöthig bleiben; um ihn nicht

ein Opfer der blinden Rachbegierde der Verwandten des Entleibten werden zu lassen.

Und in den allersel-

tensten

Von den Todesstrafen, kensten Fällen dürste vielleicht die Sicherstellung der Gesellschaft vor einen Mörder, jene Verhastnehmung

auf eine Zeitlang nöthig machen.

Je sanftmüthiger

und menschenfreundlicher aber auch der Staat mit einem

so unglücklich gewordenen Menschen verführe; desis mehr würden allmahlig auch die Triebe der Rachbegier« de bey den Bürgern gegen einen solchen Unglücklichen

gezügelt werdend da hingegen bieft Leidenschaft:

iezr von der Hinrichtung des Mörders alle ihre wilde Befriedigung erwartet; mithin durch diese schreckliche und unwürdige Sitte genahrekundun,

terhalkcn wird.

Dis wären nun die hauptsächlichsten Gründe, wes» che, wie ich denke, die Unrechtmäßigkeit der Todes« strafen überlaut erweisen. Ich will nun dieser Abhand« lung noch einige Gedanken anschließen, von denen ich

wol wünschte: daß sie dieienigen, die am Ruder des Staats sitzen, ihrer ernsthaften Erwegnng werth fin­

den möchten.

Da alle Strafen nur die Absicht der Besse­

rung des Uebelthärers haben dürfen, und zu die« fern Zweck allein gewählt werden müssen; wenn sie nicht ungerecht, unnatürlich und grausam werden sollen: so

ist das/ was man öffentliche Genugthuung neu«

tret, um derentwillen Jemand gestraft werden müße, P s

nichts

340

Von den Todesstrafen,

nichts weiter, als ein unwürdiger Deckmantel

der Rachbegierde.

Eine große Gesellschaft kann

nicht verlangen, daß es keine Verbrecher unter sie ge­

ben solle! und wenn ein solcher hervortritt; so kann sie ihn nicht um ihrenkwillen strafen! KeineSwegeS:

Wenn sie dis thut; fo ist es bloße Würkung der Rach­ lust, die sie sich erlaubte

Sie darf nur den Verbre­

cher um seines eigenen Vortheils willen; oder, zu der wohlthätigen Absicht, ihn zu bessern, strafen.

Diese Wohlthat ist sie ihm, als Vertragspflicht, und zufolge der Absicht, mit welcher er in der Gesellschaft

lebt; schuldig.

Mithin, sage ich nochmals , ist das,

was man unter der absichtlichen Redensart: der Ver­ brecher müsse der öffentlichen Genugthuung

halber gestraft werden, verbirgt; nichts weiter, als,

unwürdige öffentliche Rachlust!

Man

sollte zur Ehre der Vernunft und Menschheit diese ver­

werfungswürdige Absicht aus der Criminal- Ordnung

auöstreichen. Allein wie soll denn nun der Verbrecher zu seiner

Besserung gestraft werden? Welches ist der allgemei­ ne und natürlichste Grundsaz, den man in der Wahl und Bestimmung der Besserungsstrafen überall zu be­ folgen hatte? Die Vlarur soll ihn uns selbst an die

Hand geben.

Wir gehen warlich am sichersten, wenn

wir sie zum Lehrer nehmen; und auf die Gesetze mer­ ken.

Von den Todesstrafen.

34i

ken, welche Gott in dieselbe gelegt hat; und aus wel. chen die Verfahrungsart hervorgehk, wie er die Men­ schen über ihre Thorheiten zu ihrer Besserung straft.

Alle Dinge, ohne Ausnahme, mithin auch

alle menschliche Handlungen, haben ihre tu# türlichen Folgen.

Durch diese natürlichen

Folgen, und sonst durch nichts anderes, be­ lohnt Gott die guten Handlungen der Men­

schen : und durch ste bestraft er auch nur ihre

bösen Thaten.

Wenn ich mich z. E. den zügello.

fen Ausschweifungen der Wollust überlasse; so kann we­

der ich, noch sonst ein Arzt die daraus folgende Zer. siöhrung meiner Gesundheit verhindern. Ich zeige mich

meinem Nächsten als ein Falscher: und in dem Augenblick sinkt auch das Vertrauen, das er zu mir hatte,

dahin.

Ich werde durch meine Fahrläßigkeit mit

Feuer, Ursach an der Verbrennung meines HauseS,

das alle meine zeitlichen Güter in sich faßte; und mei.

ne Verarmung ist die unausbleibliche Folge davon, u. f. w.

Was folgen hieraus für Regeln für die mensch.

liche Gesezgebung über Verbrechen und Strafen? Of­ fenbar folgende:

a) In allen denen Fallen, wo die natürlichen, schädlichen

Folgen

eines Verbrechens den

Verbrecher selbst und allein treffen; da straft

9) 3

ihn

I4S ihn schon

Von den Todesstrafen. die tlatut: zu seiner Besserung.

Mithin kann da der Criminal-Richter wegbleiben. Die

Natur bedarf feiner Hülfe und seines Beystandes nicht;

und er wird auch warlich keine klügeren Verfügungen zu treffen wissen, als Jene für sich selbst und ohne ihn,

zu machen im Stande ist.

Alle Hinzuthuung ander­

weitiger willkührlicher Strafen von Seiten der Obrigkeit, ist ungerecht; weil sie zu weiter nichts die­ nen, als den Menschen, der schon durch die schädlichen Folgen seiner Handlung sich geschadet hatte; noch elen-

der, folglich zu einem für die Gesellschaft noch untauglichern Bürger zu machen.

Will man sagen, daß der

Bürger dadurch, daß er seinem Privatwohl zunächst

allein schade, doch auch dem allgemeinenWohl der Ge­ sellschaft Nachtheil verursache; weil er ein Mitglied die­

ser Gesellschaft sey; diese also sich als ein, von ihm be­

leidigter Theil, auch bey seinen Privatvergehungen an­

sehen könne: so vergißt man wol, daß der Bürger nicht blos ein Mitglied der Gesellschaft; sondern auch

ein besonderes, für sich bestehendes wesen sey; das seine eigene, von der Gesellschaft unabhän­ gige Persönlichkeit hat; dem man also auch seine eigene Freyheit zu handeln, als ein ihm angebvhrnes Recht,

da ungekränkt lasten mäst', wo seine Handlungen kei­ nen unmittelbaren schädlichen Einfluß auf die Ge­

sellschaft; sondern nur aus ihn allein haben. Man

Von den Todesstrafen.

343

ist, nach -er zeitherigen falschen Angabe der angebohrnen Rechte der Menschheit, leider immer geneigt, den

Bürger für eine bloße Eigenschaft der Gesell­

schaft anzusehen; die von derselben getrennt, so we­ nig gedacht werden könne, als sich die Röthe deö Zin­ nobers, von dem Körper des Zinnobers selbst, getrennt

denken laße.

Und auf diesen falschen Wahn gründet

sich die unrechtmäßige Befugniß, welche man sich an­ maßet: den Bürger da strafen zu wollen, wo er nicht wider die Gesellschaft, oder wider einen andern Bür­ ger; sondern blos wider sich selbst gehandelt hak.

Von einem verrückten Menschen, der sich sein eigen

HauS in den Brand sezt, ist hier nicht die Rede. Ein jeder im Kopfe gesunder Mensch aber wird ohnehin für

sich selbst so gut und vorkheilhaft zu handeln siichen, als

er nur kann, und es einsieht.

Dieser braucht durch

keine willkürlichen Zwangs-und Strafmittel dazu an­ gehalten zu werden.

Handelt er würklich zu seinem

Schaden; so ist es ein sicheres Zeichen, daß eö ihm an

Erkenntniß dessen fehlt, was zu seinem eigenen Frie­ den dient. Und zu dieser wohlthätigen Erkenntniß will ihn die Natur durch die bittern natürlichen Folgen lei­

ten, die sie seiner Thorheit anhängt.

Will der Staat

also auch etwas für ihn thun; so sorge er, daß die Anrichtung dieses Erkenntnisses durch guten vernünftigen

Unterricht bey ihm gefördert werde! Und wenn Jenem P 4

dis

344

Von den Todesstrafen,

dis in allen einzelnen Fällen besonders zu besorgen, un­ möglich ist; so wache er überhaupt dafür, daß ein ver­ nünftiger Unterricht, der wahrhaftig zur Besserung der Menschen dient, in der Gesellschaft statt finde und im Gange sey. b) In denienigen Fällen, wo die natürlichen schäd­ lichen Folgen eines Verbrechens nicht den Verbre­ cher selbst; sondern einen, oder mehrere andere Bürger treffen wollen; da müssen die Gesetze diese Folgen von den andern unschuldigen Bürgern ab-und auf den Thäter selbst hinzuleiten suchen: so weit nemlich, als dis eines Theils der Natur der Sache nach, möglich ist; und als es andern Theils die nothwendige Rückficht auf die Er­ haltung des Verbrechers, als einen Bürger, und auf fein ferneres Bestehen in der Gesellschaft überhaupt, zulassen will.

i) Können die natürlichen schädlichen Folgen von den Andern ganz ab - und aufde»« Thäter al­ lein hingeleirer werden; dergestalt, daß sein Be­ stehen, als Mensch und Bürger überhaupt, nur dabey noch möglich bleibt; mögen gleich seine äusserliche Lage und Umstände im übrigen dadurch noch so sehr verfchlimmert werden: so ist dis, wie ein Jeder leicht sieht, die natürlichst« und beste Besserungs-Strafe, die er sich zuge-

Von den Todesstrafen.

345

zugezogen hat; und die ihn auch um so viel kräftiger und gewisser von seiner Thorheit heilen wird, weil er wider ihre Gerechtigkeit nicht mit einer Sylbe murren kann.

Es sind immer die natürlichen Folgen seiner ei«

genen Handlung; von denen er nach dem Urtheil seiner

eigenen Vernunft nicht verlangen kann, daß sie ein An­ derer, als er tragen solle: so wenig als er erwarten kann ; daß, wenn er durch Fahrlaßigkeit an der Ver­

brennung seines eigenen Hauses Schuld geworden; die daraus entstehende Verarmung auf einen Andern, als ihn selbst, fallen könne, werde, und müsse.

2) Sollte aber,

wenn alle natürlichen Folgen

der That auf den Verbrecher zurückgeleitet würden;

sein ferneres Bestehen, als Mensch und Bürger, da­ durch ganz unmöglich werden; sollte er dadurch außer Stand kommen, die nothwendigsten Bedürfnisse seines

menschlichen Lebens befriedigen zu können: so fordern

es die Gerechtigkeit, Menschenliebe und gesellschaftli­ che Verbindungen der er lebt; ihn nur einen so gros­

sen Theil der schädlichen Folgen seines Verbrechens tragen zu lassen, daß sein nothwendiges Bestehen da­ durch möglich bleibt.

Es wird das immer für ihn so

viel Strafe seyn; als wenn ein Anderer, der alle Fol­

gen seiner That selbst kragen kann; sie auch würk-

lich zu seinem Schaden selbst tragen muß. 9) 5

Den übri«

346

Von den Todesstrafen.

übrigen Theil von schädlichen natürlichen Folgen, die »euer Verbrecher nicht selbst tragen kann; muß entwe­

der der, auf hen sie zunächst fielen, um der gesellschaftlichen Verbindung willen, in welcher er lebt,

und aus welcher ihm doch auch so viele andere Vorthei­ le zuströhmen, tragen: oder die Gesellschaft muß,

im Fall sie Jenem allein zu schwer würden; sie unter

stch »ertheilen.

Denn, wenn die Gesellschaft es sich

gefallen laßt, oft an einem großen Vortheil, den ein einzelnes Mitglied ihr stiftet, gemeinschaftlichen Antheil zu nehmen: warum sollte sie auch nicht an ei­

nem großen Schaden, den ein anderes Mitglied

ihr einmal verursacht; gemeinschaftlichen Theil nehmen wollen und müssen? 3) Sollte die Zurückleitung der Folgen

auf den Verbrecher selbst, der natur der Sa­ che nach unmöglich seyn; wie z. E. bey einer ge­ schehenen Mordthat! wo dem Entleibten der Tod nicht obgenommen, und auf den Mörder so gelegt werden kann, daß Jener dadurch wieder lebendig würde: so leite man so viele der übrigen Folgen, die noch damit

vergesellschaftet sind, auf den Verbrecher zurück; als

sein nothwendiges Bestehen erlaubt.

Im übrigen su­

che man ihm durch die besten Mittel, von denen wir

noch ein paar Worte reden wollen, weiter zu seiner Bes­ serung förderlich zu seyn.

Von den Todesstrafen.

347

Zuförderst muß ich nur sagen:

Erstlich: Man vergesse es nicht, daß hier nur

von Grundsätzen,

nach welchen gestraft werden müs­

se, die Rede sey.

Und da sind die eben angeführten

unstreitig die allerftchcrstcn und wahresten: weil sie un­ mittelbar aus dem Criminal-Gcsezbuch entlehnt sind.

derNarur

Die CTatur straft, wie einen Jeden

die kleinste Aufmerksamkeit und die tägliche Erfahrung

lehrt, nach keinen andern Regeln.

Und da wirMen,

schen alle, mithin auch der Verbrecher und seine han­ delnden Kräfte zur Natur gehören:

so gehen wir

überall, sowol zu unserm eigenen Glück, als auch zum Glück der Gesellschaft, den sichersten Weg, wenn wir

uns in unsern Verfahrungsarken dcrienigen Bahn, so viel als möglich, nähern; welche sie uns selbst durch

ihre eigenen Vcrfahrungsarten bezeichnet: was auch die Theologen,

die allen Menschen schon die Köpft

verrückt haben,. und auö deren Gewäsch im Grunde

die unnatürlichen Gesetze in der Gesellschaft herstam­ men; dawider sagen mögen.

Sie ist handgreiflich die

Ueberzeugung, so bald man sich nur den Kleister ft

vieler theologischen Grundsätze aus den Augen wischt;

daß die Menge so vieler unnatürlichen Gesetze selbst, die noch in der Gesellschaft starr fin­ den;

unter die reichsten und erZiebigsten (DueU

348

Voll den Todesstrafen.

«Quellen des meisten Elendes in der menschli­ chen Gesellschaft gehören. Zweyten-: Aus obigen, aus der Criminal-Ordnung der Natur selbst, gezogenen Grundsätzen, lö­

set sich nun auch die berühmte Frage, welche die Leh­ rer des Criminal - Rechts immer noch beschäftiget; größtentheils als unnüz auf: Nach welchem Maaß-

stabe die Größe eines Verbrechens zu berech­ nen sey;* um darnach die Größe der Strafe

bejAmmen zu können.

Ob, nach dem Scha­

den, der dem Staate daraus erwuchs?

oder nach

dem willen und der Absicht, mit welcher der

Verbrecher handelte? oder nach irgend einem andern

Verhältnisse? Schon der Umstand, daß man sich bis iezt noch nicht über diese Frage hat vereinigen können; ist ein übles Zeichen von ihrem inneren Werthe: und lehret uns deutlich genug; was von dem ganzen Gebäu­ de der Criminal-Ordnung zu halten sey, das auf ein

Prinzipium beruhet,' das in sich selbst noch unsicher

und ungewiß ist, und dessen Wahrheit noch nicht ausgemacht worden? Soll der angerichrere Scha­ de die Größe des Verbrechens bestimmen? so hat der sonst gut und menschenfreundlich denkende und handeln­

de Mensch, durch eine einzelne Fahrläßigkeit, die er mit seinem brennenden Lichte beging; und wodurch er an

Von den Todesstrafen.

349

an der Einäscherung einer ganzen Stadt Ursach ward;

dasselbe Verbrechen begangen, was der geflissentlichste

Oder soll die Absicht bey

Mordbrenner beging.

der Thar entscheiden? so hat der, der seinem Näch­

sten einen Groschen mit Absicht stahl; ein so großes

Verbrechen begangen, als der, der mit diebischer Ab­

sicht hundert tausend Thaler entwandte; oder, der mit Absicht ein Haus in den Brand steckte und alle Ein-

wohner mit verbrandte.

Denn volle und zureichende

Absicht ist in dem einen Falle so gut, als wie in dem andern da.

Oder will man sagen: Man muß alles,

sowol die Größe des Schadens, als die Absicht des Thäters und iedes anderes hier einschlagendes

Verhältniß zusammen rechnen; und hieraus den Maaß­ stab zur richtigen Ausmessung der Grösse des Verbre­

chens bilden: so sieht man wol nicht, daß man dadurch im Grunde nichts gewinne und nichts gewinnen kön­

ne; weil alsdenn ganz gewiß in jedem einzelnen Falle,

ohne Ausnahme, irgend ein Prinzipium dem andern widersprechen wird.

Gesezt der Schade ist groß;

so spricht vielleicht die beste Absicht für den Thäter! Oder ist auch zugleich ein böser Wille erweißlich: so

reden vielleicht die dringenden Veranlassungen, welche

der Verbrecher zur Begehung seiner That hatte; oder

seine Erziehung; oder seine anderweitige Unwissenheit; oder sonst ein starker Entschuldigungsgrund ihm auf

der

35o

Von den Todesstrafen.

der andern Seite das Wort! Wie viel Licht hat man nun für eine sichere Beurtheilung des Factums gewan­ nen? Wie viel bin ich gebessert; wenn ich in einem

Labyrinthe, oder finstern Walde, wo ich selbst nicht

Bescheid weiß; statt eines blinden Wegweisers, zeh.

ne derselben annehme, die alle auch blind find? und von denen mich Jeder einen besondern Weg; folglich der Eine zu derselben Zeit rechts führen will, wo mich der Andere nach der linken Seite hinzerrct? der Eins

mich vorwärts, der Andere rückwärts haben will? Und

wenn man denn vollends noch dazu nimmt, daß ein je­ der Mensch, mit allem, was zu ihm gehört; mit fei­

ner Erziehung, seiner jedesmaligen innern und äußern

Lage, seinen Umständen, Neigungen, Gedanken, Vor­ stellungen, Urtheilen, Absichten, und mit allen seinen

Handlungen, sie mögen Tugenden oder Verbrechen seyn, nach ihren größten und allerklcinsten Theilen; unter

dem Gesetze einer absoluten Nothwendigkeit stehr? daß das, was man freyer Wille des Men­

schen nennt, nichts weiter, als eine Chimäre ist? Gott! was soll man denn zu den gewöhnlichen Maaß­ stäben sagen, nach welchen in menschlichen Gerichten die Größe eines Verbrechens beurtheilt wird; um es nach Verdienst und Würdigkeit, und einer angeblichen Gerechtigkeit gemäß,

zu bestrafen?

Warum irret

man doch mit seinen blinden Wegweisern in der Wü.

sten

Vor: den Todesstrafen,

35i

sten herum: wenn uns die hellsehende, und in ihren Anweisungen unfehlbare, und einzig zuverlaßigc Vta#

tut- selbst zur Seiten steht; und uns selbst den Weg leiten will, den wir wandeln müssen, um zu dem ge­ suchten Ziele der Gerechtigkeit zu gelangen? „Beküm-

„ mert euch doch nicht um so viele Untersuchungen, und „zerarbeitct euch nicht unnüherweise in denselben, ruft „ sie den Gesezgebern und Richtern zu; wenn ihr die „ Verbrechen der Menschen und ihre verdienten Stra-

„feti bestimmen wollt! Seht auf mich, wie ich es „ mache! Ich strafe den Thoren durch die natürlichen

„Folgen seiner Thorheit. „Leitet

die

Folget meinem Beyspiele!

natürlichen schädlichen Folgen,

„welche aus der Uedelthat des Einen, auf „das Glück des Andern fallen wollen; so weit

„es der ITlarur der Sache nach möglich ist,

„lind so weit sie Jener nur tragen kann, oh„ne das er darüber aufhören müßte,

„euer V7ebcnbürgcr zu seyn; „zurück!

ferner

auf ihn selbst

Weiter kann keine Strafgerechtigkeic

„gehen. Und von dieser ist doch hier allein nur die Re« „ de.

Dabey kann es euch aber auch gleichgültig fern,

„ob der Verbrecher mir Absicht, oder ohne Absicht?

„ zu großem oder kleinem Schaden Anderer gchan„delr habe? ob euch schon dis in Ansehung seiner wei-

„ ter zu besorgenden Besserung, einen Unterricht an

352

Von den Todesstrafen.

„bie Hand geben kann; welche besten anderweitigen „ Mittel ihr zu dieser Absicht für ihn zu wählen habt.» — Gesezt also, ich seye aus Ermüdung vor meinem bren«enden Lichte eingeschlafen. Es entsteht daraus eine Feuersbrunst, die nicht nur mein Haus, sondern auch die Häuser meiner nächsten Nachbaren verzehrt. Al­ lein ich habe auswärts noch einige sichere Capitalia ste­ hen, durch die entweder ganz, oder zum Theil meine Nachbarn enschädiget werden könnten. Was sagen hier Natur, Vernunft und Gerechtigkeit? Sie sa­ gen: diese Capitalia gehören nun deinen Nachbarn zu ihrer Entschädigung: und wenn diese damit noch nicht vollendet werden kann; so muß von deinem künftigen Verdienste so viel dazu hergegeben werden, als dein nothdürstiges Bestehen und deine dringendsten Bedürf­ nisse nur verstatten mögen. •— Aber ich habe diesen Brand doch nicht aus boshafter Absicht veranstaltet? Er war ia nur die Folge menschlicher Schwachheit? Antwort: Das thut nichts; willst du es nicht eine Strafe deiner Unachtsamkeit nennen: so nenne es ein Unglück. Auf den Nahmen kommt es nicht an, den man dem Kinde gibt. Genug es war die natürliche Folge deiner Schwachheit, oder deines Verbrechens, eben so gut; als dir deine Capitalia verbrandt seyn wür­ den, wenn sie zu der Zeit mit in deinem Hause gelegen hätten. Wollen.dir deine Nachbarn etwas, oder al­ les

Von den Todesstrafen. tes erlassen; so ist dis Güte von ihnen.

353 Die Gerech-

tigkeit macht es ihnen aber so lange nicht zur Pflicht,

als du dein eigener Sündentrager seyn kannst.

Gcsezt

aber, ich hatte nichts von anderweitigem Vermögen meinen durch mich verunglückten Nachbarn Entschädi­

gung machen zu können? Nun wolan, wo nichts ist;

da hak der Kayser sein Recht verlohren.

So fallen

mir also blos nur die anderweitigen natürlichen Folgen

meiner daraus entstandenen eigenen Armuth, und des Unwillensund Verdrusses meiner Nachbaren, zur Last;

wowider es vielleicht der Staat noch obenein zur Pflicht hat, mich in Schuz zu nehmen.

Allein welches sind nun im übrigen die besten Besterungs - Mittel, tvoöutxb der lief delrhäter zu einem künftigen bessern Menschen

für sich, und zu einem bessern Bürger für die Gesellschaft gemacht werden mag? a) Ist der Vorfall von der 2(rt, und der Thäter von solchen bekantiten Gesinnungen, daß es wahrschein­

lich ist; die natürlichen schädlichen Folgen, welche der Leztere empsindet, werden neben dem allgemeinen guten

Unterricht, der in der Gesellschaft eingeführt ist; ihn

von selbst bessern: warum wollten es der Gest;, gebet und Richter nicht dabey bewenden las­ sen t Zumal da weder eine öffentliche, noch eine Pri­

vat-Rachlust ein Opfer für sich verlangen dürfen.

b) Hat aber der Staat Ursach, an der baldigen Besserung des Uebelthaters auf jenem allgemeinen We« ge, zu zweifeln;: und dagegen noch mehrere Unordnung

Mtttealepre iv. Th.

Z

gen

Von dm Todesstrafen.

354

gen von ihm zu befürchten:

Verhaft.

so nehme er ihn in

Allein ich muß hierbey sagen, daß es mir

durchaus ungerecht zu seyn scheint: wenn das (ße*-

fänIniß von Seiten des Graars, Bürger,

über einen

als Strafe, verhängt wird.

Der

Bürger selbst mag sichs Strafe nennen: um dessen Be­ griffe und Meynungen hierüber bekümmern wir uns iezt

Aber der Staat sollte das Gefäng­

hier nicht.

niß nie als Strafe verhengen; es nie als Zweck,

sondern nur stets als ein Mittel, um die Besserung des Uebelthäters desto besser bewürken zu können, an­

wenden. —

Die Verhaftnehmung muß, wenn sie

nicht in einzelnen Fällen blos die Absicht hat, den sonst

guten Menschen, der sich einmal gröblich versehen hat, wider die ersten Anfälle der Rachbegierde derer, die

Lurch ihn gelitten haben, zu sichern; ich sage, sie muß bey allen übrigen Verbrechern zu dem Zweck geschehen:

um sie durch nähern Unterricht, der ihnen im Gcfänguisse in den gesellschaftlichen Pflichten

errherler würde,

wohnen

müssen,

und dem sie durchaus beyzu

bessern Erkenntnissen

und Gesinnungen zu bringen.

Zu dieser Ab«

sicht sollte man dafür sorgen: Erstlich: daß bey den Gefangenen die be­

sten und geschicktesten Sittenlehrer angestels

ter würden.

Denn hier ist gerade eine Gesellschaft

von Menschen, die sich durch ihr Verhalten selbst als eines bessern Unterrichts höchst bedürftig, ausgezeichnet

und

Von den Todesstrafen. und angegeben haben.

355

Man könnte lieber, wenn ia

eins von beyden seyn sollte; die neun imb neunzig Ge­

rechten , die draußen sind, und der Buße nicht bedür­ fen, gehen lassen; und sollte sich am vorzüglichsten und

eigentlichsten derer annehmen, die sich als Unwissende und Sünder öffentlich dargestellet haben. den bedürfen des Arztes weniger,

Die Gesun­

als die Kranken.

Aber welche erschreckliche Versaumniß herrscht nicht von

dieser Seite? Wie blind sind die Staaten in dieser wich­ tigsten Angelegenheit der Menschheit und ihrer Natio­ nen?

Sind nicht die in Gefängnissen befind­

lichen Menschen gemeiniglich die,

in Anse-

hung aller benörhigten Hülfe und Mittel zu ihrer Besserung, Allerverlassensten? Und wäre

es gleichwol nicht die größte Schuldigkeit

eines Staats,

zu welcher ihn sein eigener größter Vortheil antrciben

sollte:

für den besten Unterricht, der den ge­

fangenen Verbrechern gegeben würde, angelegentlichste Sorge zu tragen,

die

damit er

diese iezt unthätigen und untauglichen Bürger, bald gebessert wieder erhielte? Was hilft es ihm,

eine

Menge von Missethätern mit seiner größten Beschwer­

de, und zur eigenen ungerechten Quaal der armen Leute selbst, sich eingesperrcr zu halten; die er, wenn er woll­ te, sich alle in gute Bürger umschaffen könnte ? Ist

das nicht eine schreckliche Verwahrlosung, und eines der verwüstendsten Hanprübel in der Gesellschaft! dem doch so leicht abgehsl-

sen werden konnte;

wenn man nur gesundeZ -

re

356

Von den Todesstrafen,

re Begriffe über die Natur und Beschaffen,

heit des Menschen annehmen wollte? Zweitens: Die Gefangenen sollten gut ge­

halten werden.

Sie sind keine verabscheuungs,

würdige: sind sind unglückliche,

unwijfcnde,

kranke Bürger, die des Micleidcns, der