Vergangenheit, Zukunft, Lebensalter. Zeitvorstellung im England der frühen Neuzeit 3803151104, 9783803151100


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German Pages 96 [97] Year 1988

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Vergangenheit, Zukunft, Lebensalter. Zeitvorstellung im England der frühen Neuzeit
 3803151104, 9783803151100

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KLEINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK herausgegeben von Ulrich Raulff

KEITH

THOMAS

Vergangenheit,Zukunft, Lebensalter Zeitvorstellungen im England der frühen Neuzeit Aus dem Englischen von Robin Cackett

Verlag Klaus Wagenbach

Berlin

Vergangenheit, Zukunfl, Lebensalter erschien im Oktober 1988 als Band zehn der Reihe KLEINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK

© 1976, 1983, 1985 Keith Thomas.© für die deutsche Ausgabe 1988 Verlag Klaus Wagenbach, Ahornstraße 4, 1000 Berlin 30. Der Umschlag verwendet den Kupferstich Des Menschen Auf- und Niedergang von Nikolaus Visscher d. J ., die vordere Umschlagklappe die Radierung Fines von William Hogarth. Bleisatz/Buchdruck durch Poeschel & SchulzSchomburgk, Eschwege. Gesetzt aus der Borgis Baskerville Antiqua. Bindung Druckerei Wagner, Nördlingen. Ausstattung Rainer Groothuis. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. ISBN 3 8031 5II0 4

INHALT

PETER BURKE

Vorwort

7

KAPITEL 1

,Merry Old England< Vergangenheitsauffassungen im frühneuzeitlichen England 13 KAPITEL 2

Lebensalter und Autorität 38 KAPITEL 3

Die Erneuerung der Welt Englische Sozialutopisten des siebzehnten Jahrhunderts 68

Anmerkungen 89

The Perception of the Past in Early Modem England wurde als ,Crcighton Trust Lecture, London gehalten. Age and Authority in Early Modem England wurde 1976 als ,Raleigh Lecture on History, vor der British Academy, London gehalten und erschien in den ,Proceedings of the British Academy,, Band 62, 1976. The Utopian Impulse in Seventeenth Century England erschien zuerst im ,Dutch Quarterly Review of Anglo-American Letters,, Jg. 15, Nr. 3, 1985. 1983 an der Universität

PETER BURKE

Vorwort

Noch

bis vor fünfundzwanzig Jahren galten anthropologische Ansätze in der Geschichtswissenschaft für eine ziemlich exzentrische Angelegenheit. Seither allerdings hat sich die historische Anthropologie zu einem florierenden Unternehmen entwickelt, das mit dem Italiener Carlo Ginzburg, dem Schweden Orvar Löfgren, Emmanuel Le Roy Ladurie aus Frankreich, Anton Blok aus den Niederlanden, dem Amerikaner Bob Darnton und dem Australier Rhys Isaac - um nur einige der bekanntesten zu nennen - zu einer internationalen Wissenschaft geworden ist. Ein britischer Historiker spielte bei dieser Verlagerung der Forschungsschwerpunkte eine herausragende Rolle. Es war im Jahr 1958, als die Geschichtsstudenten des St. John's College in Oxford halb überrascht. halb entzückt entdeckten, daß ihr neuer Lehrer, ein ernster junger Mann namens Keith Thomas, soeben im Journal of the History of ldeas einen Aufsatz über ein (wie uns damals schien) ausgesprochen exotisches Thema veröffentlicht hatte: die Geschichte der sexuellen Doppelmoral. Neben den ,üblichen, historischen Arbeiten über den Puritanismus, die Englische Revolution oder die politische Philosophie von Thomas Hobbes verfolgte dieser junge Gelehrte auch weniger orthodoxe Interessen: die Geschichte der Frauen, die Geschichte von Arbeit und Freizeit, die Geschichte der Zeit. Diese zweite Ausrichtung wurde 1963 mit der Veröffentlichung eines Aufsatzes über ,Geschichte und Anthropologie< ganz offenkundig. Thomas forderte hier die beiden Disziplinen dazu auf, sich einander zu öffnen, um auf diese Weise »der historischen Forschung eine ganz neue Welt« zu erschließen, zu der neben Hexen, Gaben, Träumen, Selbstmord, Wahnsinn und Kleidung auch »das Verhalten gegen Tiere« und die »gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Geburt, Adoleszenz und Tod« gehörten. Der Einfluß von Sir Edward Evans-Pritchard, dem britischen Ethnologen mit dem stärksten historischen Interesse, den Keith Thomas vom All Souls College her kannte, war deutlich zu spüren und wurde ebenso freimütig eingestanden. Der Autor wies außerdem darauf hin, daß manche der vorgeschlagenen Forschungsthemen bereits in Frankreich diskutiert worden seien, namentlich von Lucien Febvre, Philippe Aries, Roland Barthes und Michel Foucault. Aber am meisten überrascht uns heute, ein Vierteljahrhundert später, in welchem Maß Keith Thomas damals seine eigene intellektuelle Biographie vorweggenommen hat. In den Sechzigerjahren beschäftigte sich der Oxforder Historikerklatsch - wie auch heute noch - mit der Frage, wer demnächst was veröffentlichen werde, ja lieber noch damit, welche Veröffentlichungen auf sich warten ließen. Keith hatte weder das erwartete Buch über Sabbatarier noch den erwarteten Artikel über Zeitvorstellungen geschrieben. 7

Woran also saß er? Zwar wurden Gerüchte laut, er beschäftige sich mit Hexerei; aber trotzdem dürfte es nur wenige Leute gegeben haben, die nicht von Umfang und Spannweite seines Religion and the Decline of Magie (Die Religion und der Verfall der Magie) überrascht waren, als es 1971 schließlich erschien. Ein »meisterhaftes Werk« wie Christopher Hill, Thomas' früherer Lehrer am Balliol College, in einer der ersten Besprechungen schrieb. Thomas' Beschreibungen von Astrologie, Weissagung, Hexerei, Magie, Gespenstern, sowie der katholischen und protestantischen Religion ergänzen einander auf höchst erstaunliche Weise, indem sie den systematischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Volksglauben (popular beliefs) im England des r 6. und 17. Jahrhunderts deutlich machten. Der originellste und wichtigste Teil des Buches ist und bleibt meiner Ansicht nach zugleich der ethnologischste Teil, das Kapitel über die Hexerei. Denn damit wurde das historische Interesse von den Hexenverfolgungen und Teufelspakten (die auf dem Kontinent eine größere Rolle spielten als in England) abgezogen und statt dessen auf die sozialen Spannungen auf Dorfebene gelenkt. Die häufigste Situation, aus der sich eine Anklage wegen Hexerei ergab, war demnach folgende: Einer alten Frau wurde die milde Gabe verweigert, so daß sie, Flüche murmelnd, von dannen trottete; dieser Verwünschung erinnerte man sich dann, wenn einige Tage später ein Mensch oder ein Tier im Haushalt erkrankte. In der Tradition der funktionalistischen, britischen Ethnologie der Jahrhundertmitte argumentierte Thomas, daß »der Hexenglaube der Aufrechterhaltung der traditionellen Barmherzigkeits- und N achbarschaftspflichten diente als diese durch andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen bereits bedroht waren« (während Thomas' Schüler Alan Macfarlane in seinen Arbeiten über Hexen in Essex das Argument auf den Kopf stellte und behauptete, der Glaube an eine Koinzidenz von Armut und Hexerei habe es der Gentry erleichtert, das traditionelle System der Barmherzigkeit zu demontieren). Was würde Thomas als nächstes aushecken? Es erschien ein Aufsatz über die Einstellungen zum Lebensalter in der Frühneuzeit, einer über die Geschichte des Lachens unter den Tudors und Stuarts, aber wenn man ihn auf seine längerfristigen Pläne ansprach, pflegte Keith nur lakonisch mit einem Wort zu antworten: »Tiere«. Würde es eine Geschichte der Tierschutzbewegung werden, fragten wir uns, oder beschäftigte er sich mit dem was der Ethnologe Sir Edmund Leach »Tierkategorien« nannte? Tatsächlich beschäftigte er sich mit beidem, nicht ohne sich, wie in seinem vorangegangenen Werk, im Verlauf der Arbeit weiter auszubreiten und die Bäume, Blumen, ja den ganzen Rest der natürlichen Welt miteinzubeziehen. In mancher Hinsicht sind die beiden Bücher grundverschieden. Religion and the Decline of Magie ist ein langes Buch, das den Ehrgeiz des Autors verrät, alles zu berücksichtigen, was für sein Thema relevant sein könnte, und sei es die Geschichte des Versicherungswesens oder der Feuerwehr; ungeachtet der ironischen Bemerkung im Vorwort, wo er seine Arbeitsweise als »intellektuelle Entsprechung zu Pfeil und Bogen im Nuklearzeitalter« bezeichnet, türmt der Autor Beispiel über Beispiel. Sein 8

erstes Buch, gestand Thomas, habe er in dem Gedanken geschrieben, daß »mir John Cooper über die Schulter sieht« (ein Oxforder Kollege mit äußerst hohen wissenschaftlichen Ansprüchen und so gut wie überhaupt keinen Veröffentlichungen). Im Gegensatz dazu ist Man and the Natural World (Der Mensch und die Naturwelt) kürzer und lockerer geraten. Der ernste junge Mann war zu einem Gelehrten mit einigem Selbstvertrauen und einem Schuß Gelassenheit herangereift. Die einzelnen Kapitel wurden vor ihrer Veröffentlichung in Cambridge als Trevelyan Lectures vorgetragen, Levi-Strauss wurde zumindest teilweise in der Absicht zitiert, konservativeren Akademikern wie Sir Geoffrey Elton einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen, und die Aufzählung sämtlicher Hunde, die auf den Stichen von Oxforder und Cambridger Colleges im siebzehnten Jahrhundert abgebildet wurden, war sowohl ein Paradestück Oxforder Gewissenhaftigkeit als auch eine liebenswerte Parodie auf die quantitative Geschichtswissenschaft. Noch in einigen weiteren Punkten hat sich zwischen den beiden Büchern die Betonung verschoben. Der Rückgriff auf ethnologische Theoriebildung ist weniger auffällig, dafür breiter gestreut: Sie reicht heute von Levi-Strauss über Edmund Leach, Raymond Firth, Clifford Geertz, Mary Douglas bis zu Marshall Sahlins. Beide Bücher betonen die Veränderungen, die das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt erfahren hat. Im ersten wird argumentiert, die zunehmende Naturbeherrschung habe den Verfall der Magie nach sich gezogen. Im zweiten Werk wird ausgeführt, daß es gerade diese gesteigerte Naturbeherrschung war. die - paradoxerweise - eine wachsende Sehnsucht nach wilder Natur hervorrief, nach einer unberührten Umwelt, wie sie vor den Eingriffen des Menschen bestanden hatte. (Unnötig zu erwähnen, daß Thomas sein Buch, ebenso wie die Umweltbewegung oder die Tierschützer, als das Kind einer Zeit mit akuten Umweltproblemen verstand.) Seither hat sich Keith Thomas wieder dem Essay verschrieben. Ein Besucher staunte einmal über einen Stapel prall gefüllter Briefumschläge in seinem Arbeitszimmer und wurde sogleich aufgeklärt, daß sich darinnen Zitate und Bruchstücke von Informationen über eine ganze Reihe von Themen befänden; sobald einer davon voll sei, »leere ich ihn aus und schreibe einen Essay«. Die Methode hat, ohne die Beschreibung allzu wörtlich zu nehmen, im Laufe der Jahre eine Handvoll brillanter kurzer Studien hervorgebracht, von denen hier drei in deutscher Übersetzung vorliegen. Philippe Aries hat die Geschichte der Kindheit nachgezeichnet, aber es blieb Keith Thomas vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß auch die anderen Lebensalter ihre Geschichtsschreibung verdienen, daß die Alterskategorien sich zwischen den Epochen ebenso unterscheiden wie sie es zwischen den Kulturen tun. Die Geschichte der Geschichtsschreibung selbst gehört zu den traditionellen Bereichen unserer Zunft, doch der Aufsatz über die Vergangenheitswahrnehmung weicht davon ab, insofern er die Aufmerksamkeit weniger auf die Chronisten als vielmehr auf deren Leser richtet, weniger auf die herrschende Klasse als auf die gewöhnlichen Leute. 9

Der letzte Aufsatz schließlich zeigt das charakteristische Nebeneinander von Philanthropie und Pragmatismus in den utopischen Projekten. die nach dem Modernisierungsschub der puritanischen Revolution überall in England emporschossen und das Land und die Köpfe vieler Menschen in ein gesellschaftliches Laboratorium verwandelten.

Zukunft,Lebensalter Vergangenheit,

KAPITEL l

>Merry Old England< Vergangenheitsauff assungen im frühneuzeitlichen England

Als

Mandel! Creighton im Jahre 1896 nach Oxford eingeladen wurde, die Romanes Lecture zu halten, hatte er nach eigenem Bekunden große Mühe, ein Thema zu finden, das - wie er sich ausdrückte - eine ganze Stunde füllen könnte, ohne die Zuhörer zu sehr zu langweilen. Am Ende entschied er sich für einen, wie er sagte, »frivolen Gegenstand«, nämlich »den Englischen Nationalcharakter«1, ein wahrhaft verführerisches Thema, von dem Abstand zu nehmen mir nur deshalb geraten schien, weil ich Waliser bin. Creighton zauderte nicht zuletzt deshalb bei der Wahl seines Themas, weil er - wie manch moderner Historiker - seine Wasser auf keine bestimmte Mühle lenken mochte. »Er besaß keine Theorien, keine Geschichtsphilosophie, kein Bedürfnis, irgend etwas zu beweisen oder zu widerlegen«, wie G. P. Gooch über ihn bemerkte. 2 Creighton untersuchte die Vergangenheit um ihrer selbst willen, eine Einstellung, die von vielen, vielleicht sogar den meisten akademischen Historikern als die einzig richtige empfunden wird. So mahnte uns G. R. Elton vor wenigen Jahren, daß, »wer die Geschichtsforschung brauchbar machen und in den Dienst der Gesellschaft stellen möchte, indem er ihr Denken auf die heutige Zeit und die angeblichen Bedürfnisse der zeitgenössischen Gesellschaft ausrichtet, sie leider, wenn auch in der allerbesten Absicht, auf schnellstem Wege in Schande und Verderben führt.« 3 Im England des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts hätte eine solche Einstellung für reichlich absonderlich gegolten. Wenn es überhaupt einen Grund gab, der die Erforschung der Vergangenheit rechtfertigen konnte, so war es zweifellos ihr Nutzen für die Gegenwart. Die Vorstellung von einer Geschichtsschreibung im Interesse der Geschichte selbst schien ebenso unannehmbar (wenn nicht schlechterdings unbegreiflich), wie die Vorstellung des l' art pour l' art im Bereich der Kunst. Die Erinnerung der Vergangenheit diente einem praktischen Zweck. Die Geschichte war eine große, mit Erfahrung angefüllte Schatztruhe, aus der sich manch nützliche Lehre ziehen ließ, darin waren sich alle einig: die Theologen, für die sich in der Vergangenheit die Werke Gottes offenbarten, die Moralisten, die sie wegen ihrer tugendhaft handelnden Vorbilder schätzten, und die (politischen) Historiker, die sie als Quelle staatsmännischer Maximen betrachteten. Diese praktischen Interessen sind, alles in allem, für das Gros der historischen Schriften verantwortlich, die in der frühen Neuzeit veröffentlicht wurden. Gewiß, unter humanistischem Einfluß bildeten sich die Anfänge einer kritischen Gelehrsamkeit heraus, der die noch zaghaft r3

betriebene Rekonstruktion der Vergangenheit ,wie sie wirklich war, mehr am Herzen lag als ihre Unterordnung unter bestimmte Ziele. Aber die meisten historischen und antiquarischen Forschungen waren nach wie vor von zeitgenössischen Anliegen und Interessen inspiriert, und der Begriff einer zweckfreien akademischen Geschichtsschreibung blieb eher der Zukunft vorbehalten. Die Auswahl der bewahrenswerten Anteile an der Vergangenheit wurde daher weitgehend durch die zeitgenössischen Bedürfnisse bestimmt. Am häufigsten wurde die Vergangenheit zur Legitimation der gerade vorherrschenden Machtverteilung herangezogen. Die einen Historiker versuchten mit ihren Forschungen. juristische Streitfragen zu klären und Präzedenzfälle beizubringen, während andere damit beschäftigt waren, den Patriotismus zu schüren, für Loyalität zu sorgen oder willkommene politische Ansichten zu verbreiten. Die herrschende Dynastie, die Kirche, das Gewohnheitsrecht und die Aristokratie mußten mit Genealogien und Ursprungsmythen versorgt werden und für Landbesitzer war es beinahe unumgänglich, ihre gegenwärtigen Besitzansprüche auf historische Urkunden und Berichte zu gründen. Als Warden Woodward um 1675 die Ländereien des New College bereiste, stützte er sich auf Feudalurkunden aus der Zeit Richards II. ( 1377-99). 4 Natürlich war die so heraufbeschworene Vergangenheit in vielen Fällen pure Fiktion. Die Urkundenfälscher betrieben ein florierendes Gewerbe mit sogenannten old deeds, die recht überzeugend wirkten, wenn man sie über ein schmutziges Fenster gerieben oder einige Wochen in der Tasche mit sich herumgetragen hatte.5 Erfundene Genealogien waren geradezu allgegenwärtig. Die königliche Ahnenreihe, die den Monarchen auf Noah und den Trojaner Brutus zurückführte, war nicht weniger abenteuerlich als der Stammbaum manch eines Gentleman der Tudorzeit, dessen Herkunft mitunter, wie bei Sir Arthur Heveningham von Norfolk, bis auf »Arphaxad, einen der Ritter an der Grabstätte Christi« zurückverfolgt werden konnte. 6 Selbst die Universität Cambridge berief sich auf »antike und glaubhafte Historiker«, die ihre Gründung durch »einen gewissen Cantabar, einen Spanier« bezeugten und zwar dreihundertfünfundsiebzig Jahre vor der Fleischwerdung Christi.? Der moralische und ästhetische Wert solcher Legenden war damals mindestens ebenso wichtig wie ihre historische Glaubwürdigkeit. 8 Auch die lokalen Gemeinden beriefen sich auf solcherlei Überlieferungen, um ihre Bürgerrechte, die Gemeindemarkung oder ihre Rechtsimmunität in bestimmten Bereichen zu rechtfertigen. Für gewöhnlich gehörte dazu eine mythische Figur, deren heroischer Einsatz der Nachwelt bleibende Vorteile verschafft hatte. Nicht nur Coventry war in dieser Hinsicht der wohlgeborenen Lady Godiva verpflichtet, sondern auch in St. Briavel in Gloucestershire war eine Gräfin von Hereford nackt durch die Straßen der Stadt geritten, um dem Volk seine Allmende zu sichern (der einzig anwesende Zuschauer wurde auf der Stelle mit Blindheit geschlagen) ;9 in Dunster in Somerset wiederum hatte Lady Mohun den Einwohnern so viel Gemeindeland erstritten, wie sie an einem Tag barfuß umrunden konnte. 10 In Tilney in Norfolk konnte man das Grab

(»von wunderlich antiker Art«) eines gewissen Hikifricke begutachten, der »früher einmal (niemand weiß, wie lang es her ist)« die weite Gemeindeflur von Tilney Smeath erkämpfte, indem er die benachbarten Dörfler erfolgreich gegen den Gutsherrn in die Schlacht führte.1 1 Ob wahr oder falsch, es waren diese Legenden, die den Rechtsansprüchen im frühneuzeitlichen England ihre Legitimation (bzw. dzarter, wie die Ethnologen heute sagen) verliehen. Die Vergangenheit wurde zur Bekräftigung der Gegenwart auf den Plan gerufen. Dasselbe galt im großen und ganzen für die schriftlich fixierten Historien: Mochten ihre Verfasser auch subtiler und gründlicher zu Werke gehen, mit der Auswahl ihres Gegenstands vermittelten sie ihren Lesern unversehens einen Eindruck davon, was in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart zählte. Die Geschichtsschreibung der Chronisten zur Tudorzeit erzählte von Königen und Notabeln, von Kriegen und Herrschergeschlechtern. Der Gegenstand der Grafschaftsgeschichten und -topographien, die im siebzehnten Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden schossen, waren die landbesitzende Gentry, ihre Herrensitze und Landgüter und deren Herkunft, ihre Familienwappen, Genealogien und Denkmäler. In der städtischen Geschichte richtete sich die Chronologie nach dem Amtsturnus der Bürgermeister und den Wahljahren der städtischen Beamten. Der sinnfällige Ausschluß eines großen Teils der Bevölkerung aus diesen Geschichtswerken reflektiert ihren Ausschluß von der gesellschaftlichen und politischen Macht. Die herrschenden Mächte verschafften sich auf diese Weise eine »sichere und brauchbare Vergangenheit«, wie Sir John Plump sich ausdrückte. »Wenn man die Erinnerung der Menschen kontrolliert«, schreibt Michel Foucault, »kontrolliert man ihre Dynamik«; und es ist, so argumentiert er, »von entscheidender Bedeutung, sich diese Erinnerung anzueignen, sie zu kontrollieren, zu verwalten, ihr vorzuschreiben, was sie zu enthalten habe«. 12 Aber so hochgesteckte Ziele waren im damaligen England unmöglich zu verwirklichen. Die Ethnologen beschreiben, wie die historische Mythologie bestimmter schriftloser Gesellschaften nahtlos in deren zeitgenössische Wirklichkeit übergeht: Es überlebt keine der Traditionen, die sich nicht mit der gegenwärtigen Machtverteilung vertragen, und sobald eine Version der Vergangenheitsbetrachtung nicht mehr die gewünschte Rechtsverfassung zu liefern vermag, wird sie entweder abgeändert oder verdrängt und vergessen.1 3 Das England jener Tage entsprach nicht diesem Bild. Die schriftlichen Dokumente und gedruckten Bücher vereitelten solch prompte Amnesie. Die verqueren, funktionslosen Anteile der Vergangenheit ließen sich nicht einfach abschütteln. Zu viel davon stand sinnfällig in der Gegend herum: Gebäude, Ruinen und Erdwälle lagen für jedermann offen zu Tage; Münzen, Waffen und Menschengebeine wurden von den Pflügen ans Licht befördert; die Namen von Gemäuern, Feldern und Dörfern gemahnten an verschwundene Institutionen und frühere Einwohner. Kalenderrituale wie der Hock Tuesday (2. Dienstag nach Ostern), der an den Widerstand der Angelsachsen gegen die Dänen erinnerte, und Grabdenkmäler wie die königlichen Monumente in der Abtei von Westminster, die im siebzehnten Jahrhundert 15

täglich von zahllosen Schaulustigen besucht wurden 14, bewahrten gleichermaßen das Zeugnis der Vergangenheit. Die Vergangenheit lag überall üppig zu Tage, und stets war damit ein Risiko vorhanden, daß irgendwelche unvorhergesehenen Überbleibsel gegenwärtige Rechtstitel unterminierten. Traf dieser Fall ein, so mußten die Behörden einschreiten und das ungeliebte Zeugnis aus dem Weg räumen. Aus diesem Grund zerschlugen die protestantischen Reformer die Altarbilder und Glasmalereien, die das Gedächtnis an die katholischen Heiligen wach hielten; in dieser Absicht schrieb Thomas Cromwell - unter Heinrich VIII. bis zu seiner Hinrichtung im Jahre 1540 Lordkanzler und maßgeblich an der Auflösung der Klöster beteiligt - die Lebensgeschichte des Thomas Becket neu; und aus demselben Grund wurde er von seinem Berater Sir Richard Morison gedrängt, die RobinHood-Spiele am Maitag zu verbieten: sie ermunterten zu falscher Gesinnung, weil sie den Gesetzlosen dabei zeigten, wie er einen Kerl aus den Fängen des Sheriffs von Nottingham befreite, »der wegen seiner Verbrechen gegen die Gesetze die Hinrichtung hätte erleiden sollen«. 15Historiker unter Elisabet I. und Jakob I. wurden mehr als entmutigt, sich mit Staatsgeheimnissen näher zu beschäftigen, und die Zensur ihrer Schriften war an der Tagesordnung. 16 Das Vermächtnis der Vergangenheit war jedoch zu allgegenwärtig, als daß eine Regierung sie erfolgreich zu kontrollieren vermocht hätte. Die Wahrnehmungen des einfachen Volkes wurden von zahlreichen, zum Teil widersprüchlichen Einflüssen geformt und waren zu komplex, als daß sie leicht hätten manipuliert werden können. Viele Chroniken waren zumindest in Auszügen veröffentlicht. Die Historiendramen waren bis zu Jakobs I. Zeit auf eine solche Zahl angewachsen, daß die des Lesens unkundigen Zuschauer über jeden Abschnitt der britischen Geschichte, von Brutus angefangen bis hin zum gerade regierenden Monarchen, gewisse Kenntnisse besaßen, die allerdings nicht unbedingt verläßlich sein mußten. 1683 zum Beispiel bewilligte die Stadt Norwich die Aufführung eines Puppentheaters mit dem Titel »Heinrich IV. und Jane Shore«, nachdem sie den Schausteller taktvoll darauf hingewiesen hatte, daß es »Eduard IV. und nicht Heinrich heißen müsse«. 17 Es gab Geschichten in Balladen und anderen Versen, John Aubrey etwa erinnerte sich der Amme aus seiner Kinderzeit, die »die Geschichte Englands von seiner Eroberung bis zu Karl I. als Ballade kannte«. 18 Es existierten Almanache mit einer erstaunlich präzisen Chronologie: 907 v. Chr. »Stiefel erfunden«; 1195 n. Chr. »Die Bibel zum ersten Mal in Kapitel unterteilt«.19 Und außerdem gab es sogenannte Ritterromane, die in der Form von billigen Heften bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein in den unteren Klassen eine große Leserschaft fanden. Diese Geschichten über Bevis of Southampton und den sagenhaften Guy of Warwick haben mindestens ebenso viel zum volkstümlichen Verständnis der Vergangenheit beigetragen wie die konventionellere Geschichtsschreibung. Der Unterschied zwischen den geschichtlichen Tatsachen und den Fiktionen des »es war einmal« war schon damals - wie auch heute noch - nicht leicht zu begreifen, zumal wenn die Taten der abenteuerlichen Helden in eine 16

ganz bestimmte historische Epoche projiziert wurden: Guy of Warwick zum Beispiel wirkte, so wollten es die Groschenhefte »in der gesegneten Zeit, als Athelstan die Krone der englischen Nation trug« [924-940 ]. 20 Diese halb historische, halb mythische Vergangenheit war durch die Gewohnheit, die Helden und Ereignisse mit bestimmten Orten in Verbindung zu bringen, fest im Volksbewußtsein verankert. Als der Antiquar John Leland zur Zeit Heinrichs VIII. die Stadt Alcester besuchte, vermerkte er, daß »die Leute dort viel von einem Saint Cedde reden, einem Bischof von Lichfield, und dem Unrecht, das ihm dort zugefügt wurde«, während man ihm in Lichfield selbst auf dem Grund eines Brunnens einen Stein zeigte, »auf dem Cedde, wie einige sagen, nackt im Wasser zu stehen und zu beten pflegte«. 21 Nur relativ weniger dieser Heiligenlegenden überlebten das Zeitalter der Reformation, aber selbst danach spürten die Antiquare auf ihren Reisen durch England noch hunderte solcher ortsgebundenen Überlieferungen auf. Manche davon mochten durchaus der Wahrheit entsprechen, wie etwa der Glaube der Einwohner von Chilham in Kent, Julius Caesar habe auf seiner zweiten Expedition nach Britannien in ihrem Dorf bivakiert. Andere lagen zumindest im Bereich des Möglichen, wie die Überlieferung des genauen Standorts, an dem Wilhelm der Eroberer vor Hastings seine Standarte aufgepflanzt hatte. 22 Wieder andere dürften es mit der Geschichtlichkeit ein wenig übertrieben haben: Ein Tourist im England des siebzehnten Jahrhunderts konnte den Flecken Erde bestaunen, auf dem Eduard I. in seinem Zelt verstorben war; außerdem konnte er das Schwert besichtigen, das Thomas Becket enthauptet hatte, den Hügel, auf dem der Heilige Georg den Drachen erlegte und auch die Grabbeigaben von Pontius Pilatus und seiner Frau wären einen Blick wert gewesen; 23 in Nottingham war Robin Hoods Quelle zu besichtigen, sein Stuhl, sein Bogen und seine Mütze; in Guys Cliffe war die Höhle zu sehen, in der Guy of W arwick zu übernachten pflegte, und das Schloß von W arwick beherbergte sein Schwert, seine Rüstung und eine Rippe des Riesenebers, den er seinerzeit zur Strecke gebracht hatte. 24 Auch zur Erklärung landschaftlicher Besonderheiten wurde die Vergangenheit gerne bemüht. In den kreisförmigen Megalithanlagen der Kelten sah man versteinerte Armeen oder Hochzeitsgesellschaften. 25 Dolmen und Hügelgräber waren die Grabstätten früherer Fürsten oder tapferer Kämpfer, die in großen Schlachten - gewöhnlich gegen die Dänen - gefallen waren. 26 Seltsam geformte Steine waren das Werk entweder von Riesen 27 oder des Teufels 28 (der alles in allem erheblich auf die Landschaftsgestalt der Insel einwirkte) oder aber von König Artus, dem das »gemeine Volk alles urzeitliche und absonderliche zuschreibt«, wie William Camden meinte. Zu Artus' erhalten gebliebenem Inventar gehörten unter anderem ein »Stuhl«, eine »Esse«, ein »Palast« und ein »Brunnen«. Der Schädel seines Mitstreiters Sir Gawain wurde im Schloß zu Dover aufbewahrt; das Tafelrund befand sid1 in Winchester und an einem bestimmten Ort in Cornwall hatte der selige König seine letzte Schlacht geschlagen, weshalb »die Leute dort beim Pflügen Knochen und Harnische finden«, wie Leland berichtet. 29

Den einfachen Leuten stand also die Vergangenheit stets vor Augen. Sie zeigten dem Besucher bereitwillig die Schauplätze, an denen berühmte Schlachten geschlagen wurden. 30 Sie besaßen Überlieferungen zum Ursprung ihrer Siedlungen3 1 und schwelgten in abenteuerlichen Erklärungen, wie diese zu ihren Namen gekommen waren: »Unser gemeines Volk ist nirgendwo so schnurrig wie bei der Etymologie von Ortsnamen«, beobachtete Edward Lhwyd. 32 Eifersüchtig hütete man jene Überlieferungen aus der Vergangenheit, die irgendwelche zeitgenössischen Ansprüche rechtfertigten. Als Leland den Hafen von Scarborough besuchte, erläuterte ihm »ein alter Seemann«, daß Heinrich I. der Stadt Anfang des elften Jahrhunderts ihre Privilegien zugestanden hatte; im New Forest bewohnte noch im achtzehnten Jahrhundert eine Familie ein Stück Land, von dem sie behauptete, es sei einem ihrer Vorfahren aus Dankbarkeit vermacht worden, weil er die Leiche von Wilhelm dem Roten [ ca. 10 56r roo] aufgelesen und zur Bestattung nach Winchester überführt hatte. 33 Das England der frühen Neuzeit glich also keineswegs dem Montaillou im Frankreich des vierzehnten Jahrhunderts, wo die mentale Welt der Dörfler - wie uns versichert wird - so gut wie keine historische Tiefendimension besaß.a 4 Die historische Dimension, die das Denken der einfachen Leute unzweifelhaft besaß, mußte jedoch nicht unbedingt mit den Vorstellungen der Gebildeten zusammenfallen. Die volkstümliche Vergangenheitswahrnehmung ordnete sich weder nach Sequenzen noch chronologisch: Die einzelnen Episoden aus den verschiedenen Zeitaltern wurden nicht in eine zeitliche Ordnung gebracht, sondern schienen vielmehr in einer einzigen, verdichteten Vergangenheit parallel zu existieren. Erst durch den Einfluß der Schriftkultur, durch Bibel, Chroniken und Almanache verbreitete sich eine mehr lineare Denkweise. 35 Wenngleich das Gedächtnis des Volkes nicht weniger selektiv erinnerte als das der Gebildeten, so unterschieden sich doch die Prinzipien, nach denen die Auswahl erfolgte. Die einfachen Leute standen jenen Aspekten der Vergangenheit, die den oberen Klassen sehr wichtig waren, mitunter völlig gleichgültig gegenüber. »Welche Volksballade besingt die Magna Charta?« wundert sich ein Historiker über das Liedgut, »Oder welche behandelt die Schlacht von Agincourt?« 36 Die historischen Errungenschaften, die den Bessergestellten besonders am Herzen lagen, schienen den unteren Klassen ohne weiteres verzichtbar. In einem Dorf in Staffordshire zertrümmerten die Einwohner zu Elisabeths Zeiten ein Kirchenmonument der Familie Beke, das Einzelheiten über den Frondienst ihrer Pächter festhielt. 37 Während des Interregnums forderten einige Radikale, die von der Gentry geflissentlich gehorteten Gutsdokumente zu vernichten, weil es Instrumente der Tyrannei seien: »Wo du eine Fuhre Häute siehst, die Urkunden sind,« wetterte ein Sektierer, »sprich gegen sie; sage, sie sollen fürderhin kein Zeugnis mehr ablegen«.38 Manche europäischen Historiker haben sich in den letzten Jahren von Überlegungen des italienischen Marxisten Gramsci leiten lassen und die Folklore als einen Korpus volkstümlicher Überzeugungen begriffen, die 18

zumindest implizit der offiziellen Geschichtsschreibung widerstreiten.3 9 Es ist durchaus verlockend, den Traditionen der gemeinen Leute zu unterstellen, sie bewahrten eine subversive Erinnerung an ihren Kampf gegen die Herrschenden, und auch in jener Epoche finden sich in der Vergangenheitswahrnehmung des Volkes einzelne Elemente, die eine solche Auffassung stützen könnten. Da wird zum Beispiel beklagt, daß das Volk unter dem Normannenjoch seiner Freiheiten verlustig gegangen sei40 (wenn es auch schwer fallen dürfte, dem Volk vor 1640 eine Feindschaft gegen die normannische Eroberung und ihre Folgen nachzuweisen, die nicht von den Gebildeten geteilt worden wäre; die vorliegenden lokalen Überlieferungen scheinen eher nahezulegen, daß die Dänenherrschaft die Vorstellungen der gemeinen Leute viel lebhafter beschäftigte als die der Normannen; siehe Anhang 1). Außerdem gab es subversive Geschichten über die Vogelfreien: dazu zählte nicht nur Robin Hood, sondern noch zahlreiche analoge und parallele Gestalten wie der »wilde« Humphry Kynaston aus Myddle in Shropshire, der dem Untersheriff und seiner Waffenschar erfolgreich trotzte, indem er in einem gewaltigen Satz auf seinem Pferd den Fluß Severn übersprang, und über den sich die Leute »viele romantische Geschichten« erzählten; oder der Riese Jack of Legs, dessen Grab in Weston, Hertfordshire, zu besichtigen war und der »wie die Sage geht ... ein großer Räuber war, aber ein großzügiger, denn er plünderte die Reichen, um die Armen zu ernähren«. 41 In außerordentlich seltenen Fällen mochte sogar die gesamte offizielle Geschichtsschreibungstradition zurückgewiesen werden. In den Putney-Debatten von 1647 erklärte zum Beispiel der Leveler John Wildman: »Obwohl von den Chroniken viel Aufhebens gemacht wird, denke ich, man sollte keiner von ihnen den geringsten Glauben schenken; und der Grund dafür liegt darin, daß jene, die unsere Herren waren und uns zu ihren Vasallen machten, es nicht duldeten, etwas anderes darin aufzuzeichnen«. 42 Aber auch wenn sich die Vergangenheitswahrnehmung des Volks häufig von derjenigen der Herrschenden unterschied, so stand sie dieser keineswegs notwendig antagonistisch gegenüber, noch hatte sie sich unabhängig von äußeren Einflüssen formiert. Bei genauerem Hinsehen finden sich zwei ganz unterschiedliche Gründe, warum die volkstümliche Überlieferung nicht ohne weiteres als die eigenständige Sicht der unteren Klassen auf die Vergangenheit begriffen werden darf. Zum einen läuft man leicht Gefahr, das Moment des Glaubens zu überschätzen. Edmund Gibson bemerkte im Hinblick auf die volkstümliche Angewohnheit, Findlinge und Steinblöcke als »Tische« und »Stühle« von König Artus zu bezeichnen, daß solche Spitznamen »nicht so sehr (wie manche vermeinten) von Ignoranz und Leichtgläubigkeit« zeugten, sondern vielmehr »eine Art ländlicher Zerstreuung« darstellten. 43 Viele Geschichten über die Vergangenheit überlebten, weil sie farbig und lustig und als solche erinnernswert schienen. Es wäre gewiß naiv, wollte man ihre Dauerhaftigkeit allein auf ihren »Unterhaltungswert« oder auf »die Vorliebe des Volkes für gute Geschichten« zurückführen, weil es so etwas wie einen »reinen Unterhaltungswert« ungeachtet der Wünsche und Hoffnungen des Publikums nicht gibt; man müßte also erst noch untersuchen, warum bestimmte Geschichten 19

ein so starkes Echo gefunden haben. Nichtsdestoweniger eignet vielen dieser ländlichen Überlieferungen eine gewisse Frivolität, und man sollte sich davor hüten, sie allzu gravitätisch zu behandeln. Ein zweiter Anlaß zur Vorsicht ist die Tatsache, daß ein groß Teil, wenn nicht gar die überwiegende Mehrzahl der volkstümlichen Überlieferungen selbst aus literarischen Quellen stammte. Sie waren nicht das reine Quellwasser der mündlichen Tradition, das klar und unvermischt dem Gedächtnis des Volkes entsprudelte, sondern vielmehr das Destillat einer langjährigen Wechselwirkung zwischen Volkskultur und Bildungskultur. »Lokale Traditionen«, bemerkte W. H. Stevenson sarkastisch, »bestehen für gewöhnlich aus der falschen Auffassung eines Antiquars, die sich in den Köpfen der Einwohner niedergeschlagen hat.« Oder, wie Sir Edmund Chambers versöhnlicher meinte, »der Volksglaube auf der einen Seite und die literarischen und antiquarischen Ideen auf der anderen haben sich wechselseitig durchdrungen«. 44 Manche der topographischen Verbindungen zu Artus datieren tatsächlich aus dem neunten Jahrhundert oder noch früher, aber die große Mehrzahl entstand erst während und nach dem zwölften Jahrhundert, in dem Geoffrey of Monmouth seine Geschichte Englands schrieb. Die »Erinnerung« an den Heiligen Chad, die sich Leland in Lichfield berichten ließ, dürfte kaum auf das siebte Jahrhundert zurückgehen. Viel wahrscheinlicher ist, daß der geschäftstüchtige Klerus, der die gewinnträchtige Grabstätte des Heiligen hütete und die schriftliche Schilderung seines Lebens gelesen hatte, solche Legenden in die Welt setzte. Viele mittelalterliche Kirchen trugen zur Verbreitung von Heiligenlegenden bei, die sie den neugierigen Besuchern auf Schautafeln präsentierten.45 Auf diese Weise gingen Vorstellungen, die aus der Schriftkultur stammten oder zumindest von ihr bewahrt worden waren, in den Besitz der einfachen Leute über, bei denen sie noch gepflegt und verwandelt wurden, als die Gebildeten sie längst verworfen hatten. Unter den Tudors und Stuarts begannen die Antiquare mit zunehmender Sicherheit, Mythos und Geschichte voneinander zu scheiden. Den historischen Romanen feindlich gesonnen (ein Autor nannte sie »die Bastarde der Geschichtsschreibung«46), fanden sie ein besonderes Vergnügen an der Entweihung von Geschichten über Brutus, Artus oder Lady Godiva; nicht selten jedoch entging ihnen in ihrem Eifer, die »volkstümlichen Irrtümer« zu entlarven, daß diese Irrtümer literarischer Herkunft waren. Edmund Gibson etwa erklärte die walisischen Mythen über versunkene Städte zu »einer der irrigsten Überlieferungen des gemeinen Volks«, aber die neuesten Forschungen sehen sich zu dem Schluß gedrängt, daß diese Mythen ihre Anleihen eher bei den Schriften gelehrter Autoren machten als bei der Erinnerung der einfachen Leute. 47 1715 beklagte Ralph Thoresby die »ungeschlachte Ignoranz« einiger Arbeiter in Y orkshire, die eine römische Statue zerschlagen hatten, weil sie in ihr einen Schatz zu finden hofften; aber der Glaube, die Römer hätten ihre Schätze vergraben, bevor sie Britannien verließen, ging auf die Angelsächsische Chronik zurück.48 Natürlich wurden die Bruchstücke aus der Schriftkultur von den Ungebildeten gelegentlich auf eine Weise rekonstruiert, daß sich daraus eine 2.0

wirklich ,volkstümliche< Auffassung von der Vergangenheit ergab. Dennoch sollte man bedenken, daß diese Auffassung nicht primär der mündlichen Tradition entwuchs. Der Vergleich mit anderen Gesellschaften beweist, daß das kollektive Gedächtnis ohne die Hilfe schriftlicher Aufzeichnungen verhältnismäßig kurz ist und ausgesprochen selektiv funktioniert. Die Menschen erinnern sich an ihre Väter, an ihre Großväter schon eher verschwommen, und noch weiter zurückliegende Dinge werden bald vergessen, was allerdings die Existenz von Ursprungsmythen über die fernen Anfänge der eigenen Gesellschaft keineswegs ausschließt. 49 Ganz ähnlich verhält es sich im frühneuzeitlichen England. Da waren zum einen die mythischen Begründer von Städten und Geschlechtern und zum anderen gab es die riesenhaften Ureinwohner, die die Felsbrocken in die Landschaft geschleudert hatten und deren Knochen man mitunter auf dem Acker fand. 50Die biblische Geschichte hatte in Form von Fossilien, salzigen Quellen und Mergelgruben, in denen man gemeinhin Relikte der Sintflut erblickte, ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. 51Aber die Zwischenzeit zwischen jener weit zurückliegenden archaischen Zeit und der Gegenwart wurde nur sehr bruchstückhaft umrissen. Zahllose Genealogien sprangen direkt von den mythischen Ahnherrn in die Modeme und waren, wie ein Antiquar sich ausdrückte, »wie Kopf und Füße ohne einen Körper, zwei Enden ohne Mitte«.5 2 Diese Seichtigkeit der mündlichen Tradition verhinderte jedoch nicht die Entstehung einer Vorstellung über die jüngere Geschichte. Die Freiräume, die der Phantasie dadurch blieben, scheinen im Gegenteil die Konstruktion einer solchen Vorstellung eher erleichtert zu haben. Der dramatische, durch die Reformation ausgelöste Bruch mit der mittelalterlichen Vergangenheit schuf ein Gefühl des Abgetrenntseins. Dieses Bewußtsein einer unüberbrückbaren Kluft zum Mittelalter ermöglichte eine neue Perspektive auf die jüngste Vergangenheit: Sie galt nicht mehr nur als eine Ansammlung von Gründungsmythen und Präzedenzfällen, sondern verkörperte nun einen anderen Lebensstil und andere Wertvorstellungen. Es ist bekannt, daß das Denken der Frühneuzeit stark von quasi-historischen Vorstellungen über das alte Israel und das klassische Rom geprägt war, doch einen nicht minder großen Einfluß besaßen die Vorstellungen, die man sich vom Mittelalter in England machte. Es existierten im England der frühen Neuzeit nicht ein sondern zwei Mythen über das Mittelalter, die aufs schärfste miteinander kontrastierten. Der eine untermauerte die bestehende Gesellschaftsordnung, während der andere sie potentiell unterminierte. Der Gegensatz verlief dabei nidit zwischen den Gebildeten und dem einfachen Volk, vielmehr handelte es sich um konkurrierende Ideen unter den Gelehrten selbst. Noch lange Zeit danach brachte Thomas Love Peacock den Widerstreit der beiden Ansichten in seinem Roman Crotchet Castle (1871) bewundernswert klar auf den Punkt. Zwei Figuren führen darin eine lebhafte Auseinandersetzung; für den romantischen Mr. Chainmail bedeutet das Mittelalter Kampf, Festlichkeiten, Beten, Ritterlichkeit, höfische Minne und Nächstenliebe, 21

während sein Kontrahent, der Pfennigfuchser und Freizeitphilosoph Mr. MacQuedy, darin nur eine schreckliche Zeit der Brutalität und Gewalt, barbarischer Poesie, faulenzender Mönche und ruchloser Bruderschaften erblicken mag. Im Jahrhundert der Tudors und nach dem Bruch mit der römischen Kirche war die offizielle Doktrin von der des guten MacQuedy nicht allzu weit entfernt. Die Zeiten der Papisterei, erklärte ein Geistlicher unter Jakob 1., waren »voller Kriege, Blutvergießen, Massaker, Verräterei, Aufstände und Räuberei ... Verworfen und schändlich war jene Zeit.« 53 Die Protestanten und Humanisten brachen selbstbewußt mit der unmittelbaren Vergangenheit. Die Reformatoren beanspruchten für sich die Rückkehr zu den Traditionen der urchristlichen Kirche und weigerten sich hartnäckig, ihre mittelalterliche Nachfolgerin anzuerkennen. Die Humanisten zogen die klassischen Antike dem degenerierten Latein und dem abergläubischen Schriftwerk der scholastischen Zeit vor. Ihnen gemeinsam war die Vorstellung vom Hochmittelalter als einer Epoche der Ignoranz und des Aberglaubens, die mit entsprechenden meteorologischen Metaphern bedacht wurde: da herrschte »dicker Nebel«, »schwere Finsternis«, »eine Wolke von Unwissenheit«. »In der Zeit des Papismus«, schrieb ein Elisabethaner, »machten sie Dunkelheit und Unwissenheit zu zweien ihrer Eckpfeiler. Sie fütterten die Menschen mit Schlamm und Schlacke.«54Die Literaturkritiker setzten die Epen des Mittelalters herab, ihre Reime seien hölzern, ihre Handlungen unwahrscheinlich und ihre Werte unannehmbar. In Marle d'Arthur, bemängelte Roger Ascham, würden »jene für die edelsten Ritter geachtet, die ohne Anlaß viele Menschen töten und mit den raffiniertesten Listen die übelsten Ehebrüche begehen«.55 Ritterromane, alte Weissagungen, Fabeln über Kobolde und Elfen, sie alle wurden als Bestandteile einer einzigen großen Priesterverschwörung angesehen, die sich zum Ziel gesetzt hatte, »den Geist der gemeinen Leute zu beschäftigen ... und ihre Ideen von einer Betrachtung der ernsten und gewichtigeren Angelegenheiten fernzuhalten ... andernfalls sie ... auf die staatlichen oder religiösen Dinge ... gerichtet werden könnten, die als mystisch geheim gehalten wurden ... damit sie allein vom Klerus betrieben und entschieden würden.« 56 Im Mittelpunkt der Verschwörung standen die Mönche - müßig, gefräßig und lüstern. Mönche galten für so sprichwörtlich träge, daß man nicht zögerte, jeden beliebigen Faulenzer einen ,Klosterlümmel, zu rufen und fetten Männern sagte man nach, sie hätten ein ,Abtsgesicht