Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung [1 ed.] 9783428499328, 9783428099320

Das 50-jährige Bestehen des Grundgesetzes hat Anlaß gegeben, nicht nur zu feiern, sondern auch Bilanz zu ziehen: Was hat

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German Pages 230 Year 2000

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Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung [1 ed.]
 9783428499328, 9783428099320

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BODO PIEROTH (Hrsg.)

Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung

Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfeilischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Heinrich Dömer Dr. Dirk Ehlers Dr. Jürgen Welp

Band 131

Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung

Herausgegeben von

Bodo Pieroth

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung I hrsg. von Bodo Pieroth. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft ; Bd. 131) ISBN 3-428-09932-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-09932-X Gedruckt auf allerungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Zum 50jährigen Bestehen des Grundgesetzes haben die Rechtswissenschaftliche Fakultät und das Institut für Öffentliches Recht und Politik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eine Ringvorlesung zum Thema "Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung" veranstaltet. Zwischen dem 12. April 1999 und dem 28. Juni 1999 sind die ausschließlich von Münsteraner Professoren des Rechts stammenden Beiträge des vorliegenden Bandes in der Universität öffentlich vorgetragen und diskutiert worden. Sie versuchen, für ausgesuchte verfassungsrechtliche Nonnenkomplexe und die diesen zugeordneten Wirklichkeitsausschnitte den Fragen nachzugehen, die als Konzept der Ringvorlesung vorgegeben worden waren. Die Beiträge haben sich mehr oder weniger an das Konzept gehalten. Gerade so ist ein anschauliches Bild der Leistung des Grundgesetzes in 50 Jahren entstanden. Münster, im September 1999

Bodo Pieroth

Inhaltsverzeichnis Konzept der Ringvorlesung Von Bodo Pierorh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geschichte des Grundgesetzes Von Bodo Pierorh .. . .. . .. .. . . . . . . . .. . .. . . . . .. . . . .. .. . . .. . .. . . . . .. . .. .. .. . . .. . . .. .. . .

II

Das Grundrecht auf informationeHe Selbstbestimmung Von Bernd Holzoogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau Von Ursula Ne lies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Rundfunkfreiheit - Zum Einfluß des Bundesverfassungsgerichts auf Rundfunkrecht und Rundfunkpolitik Von Hans D. Jarass

59

Ehe und Familie Von Heinz Holzhauer

71

Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht Von Dirk Ehlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Das Bundesstaatsprinzip Von Janbernd Oebbecke . .. . .. . . .. . . . . . . . .. . .. .. .. . . . . . . . .. . . . .. .. .. . . .. .. .. . . .. . .. . 113 Das Grundgesetz als europäische Verfassung Von Hans-Uwe Erichsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

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Inhaltsverzeichnis

Internationale Verflechtung Von Stefan Kadelbach.... . ..... . ..................... . .. . . .. . ..... . . .. ....... ... .... 161 Wehrverfassung. Entmilitarisierung - Wiederbewaffnung - Leistungsfähigkeit Von Vollcer Epping............. . ... . .................. .......... . ......... . . . ... .... 183 Zum Rang der Redefreiheit in der poststaatsrechtlichen Gesellschaft Von Thomas Lundmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Konzept der Ringvorlesung Von Bodo Pieroth

50jähriges Bestehen gibt Anlaß nicht nur zu feiern, sondern auch Bilanz zu ziehen. Im vorliegenden Zusammenhang heißt das: Was hat das Grundgesetz geleistet? Hat es den Staat und das Gemeinwesen ,,Bundesrepublik Deutschland" in gute Verfassung gebracht und in guter Verfassung erhalten? Da Rechtsnormen die Funktion haben, das gesellschaftliche Zusammenleben zu ordnen, ergibt sich ihre Leistung daraus, wie stark sie die gesellschaftliche Wirklichkeit beeinflußt haben. Diese Beeinflussung ist ein wechselbezüglicher Prozeß, da die Rechtsnormen nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind: Zum einen bewirken Rechtsnormen etwas am tatsächlichen Zustand; das kann ein Bewahren oder - bei Verfassungsrechtsnormen häufiger Verändern sein. Zum andern werden Rechtsnormen selbst von der Wirklichkeit mitgeformt und dabei regelmäßig auch verformt; rechtstheoretisch ausgedrückt: Die Wirklichkeit ist Bestandteil der rechtlichen Normativität. Diese Wechselwirkung in der Geschichte des Grundgesetzes soll in unserer Ringvorlesung untersucht werden. Es muß also einerseits gefragt werden, was hat das Grundgesetz an der gesellschaftlichen Wirklichkeit verändert (oder bewahrt), und andererseits, wie sind die normativen Aussagen des Grundgesetzes selbst durch eine sich wandelnde Wirklichkeit verändert worden. Das kann sinnvoll nur für jeweils begrenzte Wirklichkeitsausschnitte geleistet werden. Eine Kollegin und neun Kollegen haben sich die Untersuchung je eines Bereichs vorgenommen. Für die Auswahl der Themen waren zwei Gesichtspunkte entscheidend: Sie sollten sich über das ganze Grundgesetz erstrecken, insbesondere sowohl grundrechtliche als auch staatsorganisationsrechtliche Fragen umfassen. Und sie sollten Wirklichkeitsausschnitte betreffen, denen bestimmte Rechtsnormen klar zugeordnet werden können. Der Rest ergab sich dann schlicht aus dem Forschungsinteresse der beteiligten Kollegin und Kollegen. Ihnen wurde aber in Verfolgung des Gesamtthemas der Ringvorlesung folgende vierfache Fragestellung mit auf den Weg gegeben: - Wie war die Ausgangslage 1949, und was war das Regelungsziel des Parlamentarischen Rats? Wollte er bewahren oder verändern, und zwar in welche Richtung? - Wie ist den einschlägigen Verfassungsnormen das gelungen? Welche Beeinflussungen der sozialen Wirklichkeit haben sich in den letzten 50 Jahren durch das Verfassungsrecht (und die Verfassungsrechtsprechung) ergeben?

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- Wie hat umgekehrt die soziale Wirklichkeit der letzten 50 Jahre die Auslegung (das Verständnis) der Verfassungsnormen geprägt? Welcher Inhalt ist den Verfassungsnormen dabei für den jeweiligen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit zugerechnet worden? - Was bedeutet der erreichte Stand des Verfassungsrechts für zukünftige Probleme? Welches Bewahrungs- oder Veränderungspotential kommt dem Grundgesetz insofern zu?

Geschichte des Grundgesetzes Von Bodo Pieroth I. Einleitung Die Aufgabe meines Eröffnungsvortrags sehe ich darin, den Rahmen für die konkreteren Untersuchungen zu einzelnen Wirklichkeitsausschnitten und Normenkomplexen zu skizzieren, einige vor die Klammer gezogene Bemerkungen zu machen. Ich will das ebenfalls in vier Schritten tun: - Für die Ausgangslage 1949 sind die wesentlichen Kennzeichen der neuen Verfassung festzuhalten. - Die Wechselwirkung von Verfassungsrecht und sozialer Wirklichkeit hat eine formelle Seite: Das Grundgesetz ist durch Gesetze geändert worden, die den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich geändert haben. Die Geschichte des Grundgesetzes ist auch diejenige seiner Verfassungstextänderungen. - Die soziale Wirklichkeit macht sich im Verfassungsrecht aber noch auf anderen Wegen bemerkbar. In welchem Umfang das geschieht, wird sich in den einzelnen Beiträgen der Ringvorlesung zeigen. Hier müssen aber die rechtlichen und rechtstheoretischen Konzepte vorgestellt werden, wie der Verfassungswandel zu bewältigen ist. - Am Schluß steht eine kurze Zwischenbilanz: Sind wir in guter Verfassung? II. Ausgangslage 1949 Verfassungsgebung verläuft selten in ruhigen Bahnen. Den katastrophalen tatsächlichen Zustand Deutschlands damals brauche ich hier nicht zu schildern. Von den besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen sind vor allem zwei festzuhalten: Deutschland stand unter Besatzungsherrschaft, und das Grundgesetz sollte nur eine provisorische Verfassung sein 1• Die Besatzungsmächte haben den Anstoß zur Schaffung des Grundgesetzes gegeben. Vor dem Hintergrund des aufziehenden Ost-West-Konflikts haben sich t Zusammenfassend zur Entstehung des Grundgesetzes K. Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Vorgeschichte, Grundstrukturen und Entwicklungslinien des Grundgesetzes, 1993, S. 18ff.; vgl. auch W. Kahl, JuS 1997, 1083ff.; B. Pieroth, NJW 1989, 1333/1335f.

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die Westmächte im Frühjahr 1948 über eine von einer westdeutschen verfassungsgebenden Versammlung zu erarbeitenden Verfassung für einen deutschen Teilstaat verständigt, "die es den Deutschen ermöglicht, ihren Teil dazu beizutragen, die augenblickliche Teilung Deutschlands wieder aufzuheben . .. mittels einer föderativen Regierungsform, die die Rechte der einzelnen Staaten angemessen schützt und gleichzeitig eine angemessene zentrale Gewalt vorsieht und die Rechte und Freiheiten des Individuums garantiert" 2• Der Auftrag zur Verfassungsgebung wurde im ersten der drei Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948 an die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder erteilt3 • Deren Reaktion war zwiespältig: Einerseits war ein westdeutscher Teilstaat ein Fortschritt, der andererseits aber die Teilung Deutschlands zu zementieren drohte. Nach mehreren Verhandlungen untereinander und mit den westlichen Besatzungsmächten wurde auf der Frankfurter Schlußkonferenz vom 25. Juli 1948 eine Einigung dahingehend erzielt, daß das Dokument Nr. 1 prinzipiell angenommen wurde, aber nur eine provisorische Verfassung geschaffen werden sollte. Der provisorische Charakter sollte durch drei Vorkehrungen gewahrt werden: Es wurde keine verfassungsgebende Nationalversammlung vom Volk gewählt, sondern ein Parlamentarischer Rat durch Delegierte der Landtage einberufen; die zu schaffende Verfassung wurde nicht als Verfassung, sondern als Grundgesetz bezeichnet; deren Annahme sollte wiederum nicht durch das Volk, sondern durch die Landtage erfolgen. Die Besatzungsmächte überwachten die Verfassungsgebung. Das Konfliktpotential war allerdings insofern begrenzt, als der Parlamentarische Rat aus eigener Überzeugung, nicht gezwungenermaßen, mit wesentlichen Vorgaben des Frankfurter Dokuments Nr. 1 übereinstimmte4 • Das Grundgesetz sollte in der westlichen Verfassungstradition stehen, d. h. ein demokratischer Rechtsstaat mit der Gewährleistung von Grundrechten werden. Auseinandersetzungen mit den Besatzungsmächten gab es im Bereich des Bund-Länder-Verhältnisses, wo die Alliierten für eine restriktive Zuweisung der Gesetzgebungskompetenzen und der Finanzhoheit an den Bund eintraten. Die Militärgouverneure waren nicht nur durch Beauftragte bei den Beratungen des Parlamentarischen Rats präsent, sondern intervenierten auch mehrfach, im Frühjahr 1949 so harsch, daß die gesamte Arbeit des Parlamentarischen Rats in Frage gestellt war. Im Ergebnis lenkten die Alliierten jedoch mit 2 Abgedruckt bei E. R. Huber. Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. li, 1951, S. 196f.; ausführlich G. Wehner. Die Westalliierten und das Grundgesetz 1948-1949. Die Londoner Sechsmächtekonferenz, 1994. 3 Abgedruckt zuletzt in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32-33/98, vom 31. Juli 1998, s. 42ff. 4 Ähnlich lautet das Resümee von H. Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, 1999, S. 315, daß das Grundgesetz "keine durch die Besatzungsmächte aufoktroyierte Verfassung, sondern eine eigenständige deutsche Leistung" sei; vgl. auch H.-J. Rupieper. Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945 bis 1952, 1993; E. Spevack, Amerikanische Einflüsse auf die Entstehung des Grundgesetzes, 1948- 1949, in: Amerikanische Einflüsse auf Verfassungsdenken und Verfassungspraxis in Deutschland, hrsg. von W. Kremp und Gerd Mielke, 1997, S. 35 ff.

Geschichte des Grundgesetzes

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der sog. Freundlichen Note ein und sagten eine "wohlwollende Würdigung" der Vorschläge des Parlamentarischen Rats zu. Die Besatzungsmächte beaufsichtigten auch noch bis 1955 die Staatsleitung der Bundesrepublik Deutschland5 . Sie genehmigten mit einem Brief ihrer Militärgouverneure an Konrad Adenauer als den Präsidenten des Parlamentarischen Rats vom 12. Mai 1949 das Grundgesetz nur unter Vorbehalten, von denen der wichtigste der sog. Berlin-Vorbehalt war, daß nämlich Berlin nicht vom Bund regiert werden durfte. Sie erließen am gleichen Tag das Besatzungsstatut, das zusammen mit dem Grundgesetz in Kraft trat. Danach bedurfte jede Änderung des Grundgesetzes der vorherigen Genehmigung durch die Besatzungsbehörden. Ihnen waren auch alle Bundesgesetze zur Prüfung vorzulegen; diese konnten erst nach einer Frist von 21 Tagen unter der Voraussetzung in Kraft treten, daß die Besatzungsbehörden gegen sie keinen Einspruch erhoben. Auch war für den Fall von Divergenzen zwischen den Besatzungsbehörden und den deutschen Organen festgehalten, daß den Alliierten die Ausübung der vollen Gewalt über den neuen Staat zustand6. Das despektierlich gemeinte Wort vom "Kanzler der Alliierten" war rechtlich fundiert. Inhaltlich gab es eine Hauptleitlinie für die Arbeit des Parlamentarischen Rats7 : einer Katastrophe wie der von 1945 vorzubeugen. Zu diesem Zweck wollte man zum einen eine dem Nationalsozialismus entgegengesetzte Rechtsordnung errichten. Markantester Ausdruck hierfür ist der im ersten Abschnitt stehende Grundrechtekatalog mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde an der Spitze8 • Erkennbar ist dieser Wille aber auch an einer Vorschrift wie der, daß die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften aufrecht erhalten wurden9 . Der Vorbeugung diente zum andern, Lehren aus Weimar zu ziehen, d. h. Schwächen des Verfassungsrechts der Weimarer Republik auszumerzen 10• Die beiden wichtigsten Lehren kann man mit den Begriffen Rematerialisierung des Verfassungsrechts und Reparlamentarisierung des politischen Prozesses zusammenfassen . Rematerialisierung bedeutet die Absage an das formalistische Verfassungsverständnis der Weimarer Staatsrechtslehre, wonach die Verfassung auf keinen Inhalt s Zusammenfassend H. Hofmann, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von J. Isensee und P. Kirchhof, Bd. I, 2. Aufl. 1995, S. 259 ff. 6 Vgl. R. Mußgnug, in: Handbuch (oben Fn. 5), S. 253. 7 Zu seiner Arbeit vgl. zuletzt M. F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, 1998; vgl. auch Der Parlamentarische Rat 1948- 1949. Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. I-XI, 19741997. 8 Vgl. B. Piemth/8. Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 14. Aufl. 1998, Rn. 349 ff. 9 Zu Art. 139 GG vgl. G. Lübbe-Wolff, NJW 1988, 1289ff. 10 Zusammenfassend D. Grimm, NJW 1989, 1305 ff.

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letztverbindlich festgelegt war, sondern jeden zur demokratischen, allein durch die Mehrheitsregel strukturierten Entscheidung stellte. Formal war auch das überkommene Rechtsstaatsverständnis insoweit, als zwar eine Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz bestand, dieses aber keinen inhaltlichen Anforderungen außer dem ordnungsgemäßen Zustandekommen kraft Mehrheitsbeschlusses unterlag. Demgegenüber gründete der Parlamentarische Rat die gesamte Ordnung auf die Menschenwürde, die auch nicht zur demokratischen Disposition steht. Die Menschenwürde ebenso wie die auf sie bezogenen Staatsfundamentalnormen dürfen gemäß der sog. Ewigkeitsgarantie selbst durch Verfassungsänderung nicht berührt werden 11 . In den gleichen Zusammenhang gehören die Vorkehrungen des Grundgesetzes im Sinn der sogenannten wehrhaften Demokratie, die es erlauben, Fundamentalgegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vom politischen Prozeß auszuschließen12. Vom formalen Rechtsstaatsverständnis setzt sich das Grundgesetz hauptsächlich dadurch ab, daß die Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht binden 13 . Unter dem Begriff der Reparlamentarisierung des politischen Prozesses verbergen sich zwei Neuerungen. An die Stelle des Reichspräsidenten treten ein starker, dem Parlament verantwortlicher Kanzler und ein im wesentlichen auf das Repräsentieren zurechtgestutzter Präsident. Die Machtfülle des Reichspräsidenten, der volksgewählt war und weitgehende Befugnisse zur Regierungsbildung, Parlamentsauflösung und Ausnahmerechtsetzung mit quasi-diktatorischen Vollmachten besaß, hatte es Parlament und Parteien der Weimarer Zeit erleichtert, sich ihrer politischen Verantwortung zu entziehen 14 . Auch ein anderer institutioneller Konkurrent des Parlaments wurde vom Parlamentarischen Rat fast vollständig ausgeschaltet: der Volksgesetzgeber. In den breit angelegten Möglichkeiten der Weimarer Reichsverfassung für eine Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung sah man wohl eher zu Unrecht - eine wesentliche Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik 15. Demgegenüber wurde das Grundgesetz entschieden repräsentativ ausgestaltet und das Volk, vom Ausnahmefall der Neugliederung der Länder abgesehen, auf die Parlamentswahl beschränkt. Einen wichtigen Platz in diesem repräsentativen System nehmen nunmehr die politischen Parteien ein, denen die Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes zusteht, während sie in der Weimarer Reichsverfassung nur en passantund abwehrend erwähnt waren 16. II Zu Art. 79 Abs. 3 GG vgl. H. Dreier. in: Grundgesetz. Kommentar, hrsg. von H. Dreier, Bd. 11, 1998, S. 1502 ff. 12 Vgl. J. Becker. in: Handbuch (oben Fn. 5), Bd. VII, 1992, S. 309ff. 13 Zu Art. I Abs. 3 GG vgl. Pierorh/Schlink (oben Fn. 8), Rn. 164ff. 14 Vgl. W Frorscher/8. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 1997, Rn. 527; ausfUhrlieh C. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997. ~~ Vgl. W Frotscher, DVBI. 1989, 541 ff.; 0. Jung, Direkte Demokratie in der Weimarer Republik, 1989. 16 Zu Art. 130 Abs. I WRV vgl. G. Anschütz. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom II. August 1919, 14. Autl. 1933, S. 602 ff.

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111. Verfassungstextänderungen 1. Rechtlicher Rahmen und rechtliche Praxis

Rechtsnonnen müssen, um ihre Steuerungskraft zu erhalten, änderungsbereit sein. In der Tradition des Verfassungsrechts der Modeme sieht daher auch das Grundgesetz seine Änderung vor. Allerdings kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt 17• Auch dies ist eine Reaktion auf die Weimarer Reichsverfassung, die sog. Verfassungsdurchbrechungen zuließ, d. h. von der Verfassung inhaltlich abweichende, aber mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedete Gesetze, die ohne Änderung des Verfassungstextes Verfassungsrang besaßen. Derartige Nebenverfassungen sind unter dem Grundgesetz unzulässig; um der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit willen wird die "Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit jeder Verfassungsänderung" festgelegt 18 . Die Verfassungsurkunde selbst gibt - vorausgesetzt Ihr Exemplar befindet sich auf dem neuesten Stand - abschließend Auskunft über das geltende Verfassungsrecht und erübrigt die Suche nach Nonnen im Verfassungsrang außerhalb des Grundgesetzes 19. Die Verfassungsänderung i. S. d. Art. 79 GG ist also Verfassungstextänderung; erfaßt sind alle Ergänzungen, Streichungen, Ersetzungen oder Umbezifferungen an beliebiger Stelle. Eine derartige Verfassungsänderung bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Die erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung durch ein derartiges Erfordernis erhöhter Mehrheiten bewegt sich in den Bahnen - auch -deutscher Verfassungstradition. Den Umfang der bisherigen Änderungen des Grundgesetzes macht folgender Vergleich deutlich: Während die amerikanische Bundesverfassung im Schnitt alle acht Jahre einmal bzw., läßt mim die Bill of Rights von 1791 mit ihren 10 Amendments beiseite, alle 13 Jahre einmal geändert worden ist, ist das Grundgesetz im Schnitt fast jährlich geändert worden. Wir können nämlich nach 50 Jahren 46 Änderungsgesetze verzeichnen. Statt ursprünglich 11 enthält das Grundgesetz heute 14 Abschnitte. Von den 192 Grundgesetz-Bestimmungen, die sich zusammensetzen aus der Präambel, den 146 Artikeln der Stammfassung 1949 sowie den 45 nachträglich eingefügten Artikeln, sind genau I 02 und damit deutlich mehr als die Hälfte Gegenstand eines grundgesetzändernden Gesetzes gewesen20. Kritisch hat man vom Verfassungsrecht im Loseblatt-System geredet und einen Prozeß der Defonnierung und Auflösung der Verfassung beklagt21 •

Zu Art. 79 Abs. I und 2 GG vgl. Dreier (oben Fn. II ), S. 1476 ff. BVerfGE 9, 334/337. 19 Vgl. A. Bauer/M. Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut. Änderungsgesetze, Synopse, Textstufen und Vokabular zum Grundgesetz, 1997, S. 7. 20 Vgl. Bauer/ Jestaedt (oben Fn. 19), S. 30. 21 Vgl. H.-J. Seifert, Grundgesetz und Restauration, 3. Aufl. 1977, S. II ff. 17

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Diese Kritik ist aber vordergründig. Anläßtich des 40jährigen Bestehens des Grundgesetzes ist bemerkt worden22 , daß bei genauerem Hinsehen nur drei aller bis dahin verabschiedeten Änderungsgesetze einschneidende Wirkung gehabt hätten, von denen wiederum zwei, nämlich die Einfügung der Wehrverfassung 1956 und der Notstandsverfassung 1968, als nachgeholte Verfassungsgebung gelten konnten. Nur eine Novelle habe die ursprüngliche Anlage des Grundgesetzes nachhaltig verändert, nämlich die Reform der Finanzverfassung 1967- 1969. Für diese These spricht auch, daß bis 1989 Forderungen nach einer umfassenderen Grundgesetzrevision ohne Erfolg geblieben sind. Die 1976 und 1977 vorgelegten Empfehlungen der 1970 eingesetzten Enquetekommission zur Verfassungsreform23 hatten ebensowenig praktische Auswirkungen wie die Vorschläge der Sachverständigenkommission, die .1981 im Auftrag der sozial-liberalen Regierung die Notwendigkeit neuer Staatszielbestimmungen prüfen sollte, dafür nach dem Regierungswechel von 1982 aber kein Gehör mehr fand 24 . Nun sind in den letzten 10 Jahren Änderungen des Grundgesetzes hinzugekommen, denen ein einschneidender Charakter nicht abgesprochen werden kann; ich denke insbesondere an die durch die deutsche Einigung und den Vertrag von Maastricht veranlaßten Verfassungsänderungen. Aber es waren eben auch sehr einschneidende Ereignisse, die sich in diesen Grundgesetzänderungen spiegelten. Unabhängig davon erscheint es mir zweifelhaft, in der Häufigkeit von Verfassungsänderungen eine rechtsstaatliche Gefahr zu erblicken. In der Frühzeit der Bundesrepublik entwickelte vor allem die oppositionelle SPD-Bundestagsfraktion ein Verfassungsverständnis, nach dem dem verändernden Umgang von Regierung und Parlament mit dem Grundgesetz enge Maßstäbe und Grenzen gesetzt werden sollten. Vor dem Hintergrund, daß die SPD im Zweiten Deutschen Bundestag über weniger als 30% der Stimmen verfügte und auch im Bundesrat weniger als ein Drittel der Länder repräsentierte, war es verständlich, daß Verfassungsänderungen als unerwünschte Dynamik erscheinen sollten. Als die Opposition später über eine Sperrminorität für Verfassungsänderungen verfügte, hatte die Argumentation mit dem Rang und dem Geltungswillen der Verfassung die Funktion, frühzeitige Absprachen zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion über Verfassungsänderungen herbeizuführen. So entwickelte sich in der parlamentarischen Praxis das Bild des Grundgesetzes als einheits- und identitätsstiftender Integrationsfaktor und von Verfassungsänderungen als Angriff auf die Grundlagen des Staates und der politischen Ordnung25 • Noch 1993 warnte Konrad Hesse 26 vor der bereits untemommeVon D. Grimm, NJW 1989, 1305/1307. Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsrefonn, Teil I: Parlament und Regierung, 1976; Teil 2: Bund und Länder, 1977; vgl. dazu R. Grawert, Der Staat 1979, 229 ff.; J. lp.ren, DÖV 1977, 537ff.; R. Wahl, AöR 1978, 477ff. 24 Staatszielbestimmungen I Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983; vgl. dazu E. Wienholtz. AöR 1984, 532 ff. 25 Im einzelnen belegt bei S. Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber 1949- 1980. Parlament und Verfassung im Spiegel der Anträge, Beratungen und Gesetzesbeschlüsse zur 22 23

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nen Verfassungsrevision mit den Worten: Soweit sie zu Verbesserungen führt, geschieht dies jedenfalls um einen hohen Preis, und zwar den eines Verlustes an Anseh:en und Autorität der Verfassung. Demgegenüber meine ich, daß Autorität und Ansehen eines Rechtstextes weniger mit Unberührbarkeil als mit juristischer Verläßlichkeit zu tun hat. Autorität und Ansehen werden mit anderen Worten viel mehr dann beschädigt, wenn die Rechtsanwender den maßgeblichen Normtext umgehen, unterlaufen, beiseite schieben oder manipulieren, weil dies unabweisbaren Gegebenheiten, Notwendigkeiten oder Bedürfnissen entspräche. Gegen derartige Gefahren ist also die Verfassungsänderung ein gutes und probates Mittel. Verfassungsänderungen sind also nicht per se, sondern nur je nachdem gut oder schlecht. Sie sind eher geboten im mehr technischen Staatsorganisationsrecht, und sie sind weniger geboten bei offenen und weiten Verfassungsnormen, besonders bei den Grundrechten. 2. Inhalte

An einige markante Änderungen des Textes des Grundgesetzes möchte ich erinnem27: - In den Jahren 1954 und 1956 wurde die sog. Wehrverfassung in das Grundgesetz eingefügt28 • Diese Verfassungsänderungen standen im Zusammenhang mit der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland und dem damit einhergehenden Abbau des Besatzungsregimes. Diese Vorgänge gestalteten sich rechtstechnisch sehr kompliziert, weil hier Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, Besatzungsrecht und Völkerrecht zusammen- oder besser gegeneinanderspielten. Sie waren auch direkt verwoben mit nicht geradlinig verlaufenden politischen Prozessen. Einzelheiten überlasse ich dem Vortrag über die Wehrverfassung. - Die Einführung der Notstandsverfassung im Jahr 196829 kann unter das Motto gestellt werden: Not kennt doch Gebot. Vor zehn Jahren noch wurden die Notstandsgesetze als der wohl arn tiefsten greifende Umbruch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet30. Inzwischen wird man das wohl nicht mehr sagen können. Auch haben sich die Befürchtungen um einen Mißbrauch Änderung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1984; zusammenfassend

s. 266f.

26 In: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel, 2. Aufl. 1994, S. 51. 27 Überblick auch bei G. Robbers, NJW 1989, 1325 ff.; ausführlich zu den früheren Verfassungsänderungen A. Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes. Eine Untersuchung der politischen Funktion von Verfassungsänderungen, 1981, S. 95 ff.; krit. zur neueren Praxis der Verfassungsänderungen G. Henne/ce, ZG 1999, 1 ff.; H. Maurer, in: Festschrift für Martin Heckel. 1999, S. 821 ff. 28 Gesetze vom 26. 3. 1954 (BGBI. I S. 45) und 19. 3. 1956 (BGBI. I S. 111). 29 Gesetz vom 24. 6. 1968 (BGBI. I S. 709). 30 G. Robbers, NJW 1989, 1325/1327.

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dieser Normen nicht bestätigt; die allermeisten von ihnen sind nie zur Anwendung gekommen und werden es hoffentlich auch in Zukunft nicht. Notwendig geworden war diese Verfassungsänderung, weil die Besatzungsmächte den Verzicht auf vorbehaltene Rechte aus dem Deutschlandvertrag von 1955 an ihre Verabschiedung geknüpft haben. Daher gilt diese Verfassungsänderung auch als ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der Bundesrepublik zur Zurückgewinnung voller Souveränität. Allein mit Blick auf den Umfang war die Notstandsverfassung bedeutend: Sie betraf den Wortlaut von 28 Grundgesetzartikeln. Der Notstand sollte nicht zur Abdankung des Rechts, sondern zu umfassender rechtlicher Beherrschbarkelt führen. Drei Grundzüge sind kennzeichnend: (1) Auch im Fall des Notstandes bleibt es bei der grundsätzlichen Trennung von militärischer und ziviler Gewalt. Zwar gehen Landesgesetzgebungskompetenzen in Bundeszuständigkeiten über und können im Verteidigungsfall Weisungen an Landesregierungen und Landesbehörden gerichtet werden, aber anders als noch etwa im Kaiserreich nicht durch die Militärbefehlshaber sondern durch die Bundesregierung. (2) Es bleibt in weitem Umfang bei der parlamentarischen Verantwortung der Regierung; der Notstand soll nicht ausschließlich die Stunde der Exekutive sein. Mit dem Gemeinsamen Ausschuß aus Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat wurde eine Art Rumpfparlament geschaffen, das bei Verhinderungen des Bundestags dessen Aufgaben wahrnimmt. (3) Grundrechtliche und justizielle Sicherungen werden weitgehend erhalten. Sie waren im wesentlichen der Preis, der an die SPD-Fraktion für deren Zustimmung zu der Verfassungsänderung zu zahlen war. So wurde die vorher nur einfach-gesetzlich bestehende Verfassungsbeschwerde mit Verfassungsrang versehen, für das Streikrecht garantiert, daß es im Notstandsfall keinen zusätzlichen Beschränkungen unterliegt, und das Widerstandsrecht eingeführt31 . Auf der anderen Seite steht aber die nicht auf den Notstand begrenzte Einschränkung des Rechtsschutzes bei Eingriffen in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. In dem berühmten Abhör-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht mit der knappen Mehrheit von 5 : 3 Stimmen diese Verfassungsänderung als nicht gegen die sog. Ewigkeltsgarantie verstoßend gebilligt 32 . - Während die Einfügungen der Wehr- und Notstandsverfassung in das Grundgesetz Besonderheiten der Verfassungsgebung im Jahr 1949 beseitigten, wird der Finanzreform unter der Großen Koalition 33 der Charakter einer strukturellen Änderung der ursprünglichen Verfassungsbestimmungen zuerkannt. Einzelheiten sind selbst für Experten des Finanzrechts in ihrer Komplexität schwer durchschaubar. Im wesentlichen ging es darum, die staatliche Finanz- und Wirtschaftspolitik effektiver zu machen: Die Entwicklung des reagierenden, prinBezug auf Art. 93 Abs. I Nr. 4 a, Art. 9 Abs. 3 S. 3 und Art. 20 Abs. 4 GG. BVerfGE 30, I; vgl. dazu G. Dürig I H.-U. Evers, Zur verfassungsändernden Beschränkung des Post-, Telefon- und Femmeldegeheimnisses, 1%9; P. Häberle, JZ 1971, 145 ff.; B. Schlink, Der Staat 1973, 85 ff. 33 Gesetz vom 12. 5. 1969 (BGBI. I S. 359). 31

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zipiell auf Einzelintervention beschränkten liberalen Staates zum agierenden, Krisen nach Möglichkeit vorsorgend verhindernden und planenden Sozialstaat drängte nach Instrumentarien und ihrer verfassungsrechtlichen Absicherung34 . So wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen einer globalen Konjunktursteuerung und einer mehtjährigen Finanzplanung geschaffen, das Haushaltsrecht flexibilisiert, die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Bundes verstärkt sowie die Möglichkeiten von Mischverwilltung und Mischfinanzierung von Bund und Ländern ausgeweitet. Je nachdem, ob man diesen Entwicklungen gegenüber eher positiv oder eher negativ eingestellt war, sprach man von "kooperativem Föderalismus" oder "unitarischem Bundesstaat"35 . Die Probleme mit der Finanzverfassung dauern allerdings bekanntlich an. Sie leidet als Folge von Zuständigkeitsverschränkungen und Finanzausgleichsmechanismen unterschiedlichster Art an einer völligen Verwischung von Verantwortlichkeiten. Zur Behebung einer der Hauptübel hierfür, der dramatisch unterschiedlichen Größe und Leistungskraft der Länder, scheint unser politisches System aber nicht imstande zu sein. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist noch, daß der für die Länderneugliederung einschlägige Art. 29 GG mehrfach geändert und von einem Verfassungsgebot zu einer bloßen Ermächtigung umgewandelt worden ise6 • - Der Unitarisierung oder Zentralisierung dienten auch viele kleinere, hier nicht im einzelnen aufzuzählende Grundgesetzänderungen, wie denn überhaupt 36 der 46 Änderungsgesetze den bundesstaatliehen Aufbau betrafen37• Der Kornpelenzerweiterung des Bundes entsprach dabei in vielen Fällen nicht einfach ein Kompetenzverlust der Länder, sondern ein Zuwachs des Einflusses der Länder auf den Bund, vornehmlich dadurch, daß Gesetze ftir der Zustimmung des Bundesrats bedürftig erklärt wurden. Als gewichtiger Fall fügt sich in diese Tendenz die Verfassungsänderung im Zusammenhang mit den Sicherheitsgesetzen des Jahres 197238 ein, als Deutschland unter dem Eindruck des RAF-Terrors stand. Das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz erhielten zusätzliche Kompetenzen. Die Einsatzmöglichkeit des Bundesgrenzschutzes wurde über Katastrophenfälle und inneren Notstand hinaus auf die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung erstreckt, und dem Bund wurde die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Waffenrecht übertragen. - Die nächste einschneidende Verfassungsänderung war nach den insoweit eher ruhigen 70er und 80er Jahren der Vollzug der deutschen Einheit im Jahr 1990. Wie die Einigung der beiden deutschen Staaten rechtlich und politisch zu beG. Robbers, NJW 1989, 1325/1329. Zusammenfassend W Rudo/f. Kooperation im Bundesstaat, in: Handbuch (oben Fn. 5), Bd. IV, 1990, S. 1091 ff. 36 Zu Art. 29 GG vgl. 8 . Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 4. Aufl. 1997, S. 547 ff. 37 Vgl. Bauer/ Jestaedt (oben Fn. 19), S. 34. 38 Gesetz vom 28. 7. 1972 (BGBI. I S. 1305). 34 35

2•

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werksteiligen sein sollte, war in der ersten Hälfte des Jahres 1990 heiß umstritten 39. Anschluß oder Neubeginn war die Frage: Sollte die DDR wie weiland das Saarland der Bundesrepublik beitreten, oder sollte in einem Prozeß der Verfassungsgebung ein neuer Staat geschaffen werden. Die maßgeblichen politischen Kräfte entschieden sich für die erste Möglichkeit, weil nicht abzusehen war, ob die politische Großwetterlage, die eine Vereinigung zu dieser Zeit möglich machte, anhalten würde. Nachdem am 23. August 1990 die Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 beschlossen hatte, wurden die Einzelheiten im Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik geregelt40. Darunter fanden sich auch einige erforderlich werdende Verfassungsänderungen, die ihre innerstaatliche Wirksamkeit durch das mit 2/3-Mehrheit verabschiedete Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag fanden. Geändert wurden vor allem die Normen des Grundgesetzes, die seinen provisorischen Charakter verankerten und die Wiedervereinigung verlangten oder offenhielten. Beispielsweise wurde die Vorschrift aufgehoben, die eine weitere Ausdehnung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes auf Gebiete des deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 offen hielt. Durch eine problematische Neufassung des Art. 146 GG wurde eine künftige Ersetzung des Grundgesetzes ermöglicht41 . Wegen der gleichzeitig erfolgten Bildung von fünf neuen Ländern wurde die Stimmenzahl der Länder im Bundesrat neu geregelt. Schließlich wurde durch einen neuen Art. 143 sichergestellt, daß vom Grundgesetz abweichendes Recht der bisherigen DDR für eine begrenzte Übergangszeit weiter anwendbar blieb. Im übrigen wurde am 3. Oktober 1990 im wesentlichen die Geltung des Grundgesetzes auf das Gebiet der neuen Länder erstreckt - ob nicht vielleicht doch übergestülpt, wird sich erst aus gewisser Distanz mit Sicherheit beurteilen lassen. Jedenfalls wurden durch den parallel zu den innerstaatlichen Ereignissen verhandelten und abgeschlossenen Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) vom 12. September 1990 die letzten noch verbliebenen Vorbehalte der Besatzungsmächte beseitigt; gleichzeitig stimmten diese der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu und legten die endgültigen Grenzen des vereinten Deutschlands fest42 . - Drei Grundgesetzänderungen aus den Jahren 1992- 199443 möchte ich unter dem Schlagwort "Fit ftir die Zukunft" zusammenfassen: Zum einen machte die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften44 durch den Vertrag von 39 Vgl. die Beiträge in Bd. VIII des Handbuchs (oben Fn. 5) mit dem Titel: Die Einheit Deutschlands- Entwicklung und Grundlagen, 1995. 40 Gesetz vom 23. 9. 1990 (BGBI. II S. 885); vgl. dazu P. Badura, in: Handbuch (oben Fn. 5), Bd. VIII, 1995, S. 171 ff. 41 Zu Art. 146 GG vgl. H. D. Jarass, in: Grundgesetz (oben Fn. 36), S. 1099 ff.

42 Vgl. Kroger(oben Fn. 1), S.

80f.

Gesetze vom 21. 12. 1992 (BGBI. I S. 2086), 20. 12. 1993 (BGBI. I S. 2089) und 30. 8. 1994 (8GB I. I S. 2245). 44 Vgl. z. 8. BT-Drucksache 12/5015, S. 5. 43

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Maastricht Änderungen erforderlich, auf die ich aber hier im Hinblick auf den späteren Vortrag über "Das Grundgesetz als europäische Verfassung" nicht eingehen will. Zum andern wurden die Deutsche Bahn und die Deutsche Post privatisiert, d. h. zu Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form gemacht. Motivierend hierfür waren ausdrücklich auch Vorgaben des Rechts der Europäischen Gemeinschaften. Einer Verfassungsänderung bedurfte es, weil vorher die Bundeseisenbahnen und die Bundespost als Gegenstände der bundeseigenen Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau verfassungsrechtlich normiert waren. Inzwischen hat ja das Bild von der schönen neuen privaten Welt auch einige Kratzer abbekommen. - Nicht nur Kratzer, sondern zwei Amputationen sind dem Grundrechtsteil in den Jahren 1993 und 1998 zugefügt worden. Das Grundgesetz hatte mit einer im Verfassungsvergleich einmaligen Großzügigkeit das Grundrecht auf Asyl ohne jeden Vorbehalt gewährleistet. Damit hatte man 1949 auf Erfahrungen im und mit dem Dritten Reich reagiert, weil damals rassisch bzw. politisch verfolgte Deutsche, wenn überhaupt, so nur unter erheblichen Schwierigkeiten im Ausland Schutz finden konnten und weil mit der Schaffung eines vorbehaltlosen Asylgrundrechts Menschen, die sich in einer ähnlichen politischen Lage in anderen Staaten befinden, geholfen werden sollte. Angesichts einer stetig steigenden und Anfang der 90er Jahre in die mehrere Hunderttausende gehenden Zahl von Asylsuchenden hat der Bundestag mit einer sehr großen, die Zweidrittelmarkedeutlich übersteigenden Mehrheit im Jahre 1993 beschlossen, das vorbehaltlose Asylgrundrecht zwar nicht ganz abzuschaffen, wie aus dem damaligen Regierungslager auch gefordert worden war, aber doch weitgehend einzuschränken45. Das geschah auf drei Wegen: (1) Wer aus einem sog. sicheren Drittstaat einreist, dem ist entweder - wenn er aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften einreist - die Berufung auf Asylgrundrecht verwehrt oder der hat keinerlei Rechtsschutz, auch keinen vorläufigen Rechtsschutz, gegen aufenthaltsbeendende einschließlich einreiseverhindernde Maßnahmen. Der Witz dieses Konzepts liegt darin, daß Deutschland ausschließlich an sichere Drittstaaten angrenzt und praktisch kein Asylbewerber mehr in legaler Weise auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland kommen kann. (2) Auch bei der Einreise aus sog. sicheren Heimatstaaten sind die Rechtsschutzmöglichkeiten energisch reduziert worden. Derartige sichere Heimatstaaten werden gesetzlich festgelegt; es zählt dazu z. B. auch ein Land wie Ghana. (3) Es ist ein Vorbehalt völkerrechtlicher Verträge eingeführt worden, der insbesondere im Zuge europäischer Harmonisierung noch weiter gehende Beschränkungen ermöglichen soll. Das Bundesverfassungsgericht hat auch diese Verfassungsänderung - an einigen kritischen Punkten allerdings nur mit 5: 3 Stimmen - gebilligt46. 1998 Gesetz vom 28. 6. 1993 (BGBI. I S. 1002). BVerfGE 94, 49; vgl. dazu C. Biermann, Jura 1997, 522ff.; K. Hailbronner, NVwZ 1996, 625 ff.; G. liibbe-Wolff, DVB1. 1996, 825 ff. 45

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wurde das Grundrecht auf. Unverletzlichkeit der Wohnung dahingehend eingeschränkt, daß der sog. große Lauschangriff möglich wurde47 . Bis dahin waren gesetzliche Eingriffe abgesehen von Durchsuchungen nur ,.zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung", d. h. durch Polizei- und Ordnungsrecht zugelassen. Nunmehr dürfen auch zum Zweck der Strafverfolgung ,.technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen", vulgo: Wanzen, eingesetzt werden. - Die letzte große, insgesamt 14 Artikel betreffende Verfassungsänderung war die Grundgesetzrevision vom 27. Oktober 199448 . Sie geht zurück auf den Art. 5 des Einigungsvertrags, der ,.künftige Verfassungsänderungen" betraf: In ihm ,.empfehlen" die Regierungen der beiden Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes ,.zu befassen"; insbesondere werden genannt das Verhältnis von Bund und Ländern, eine Neugliederung für den Raum Berlin I Brandenburg, die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie die Frage einer Volksabstimmung über die Verfassungsrevision. Das war ein politischer Kompromiß im bereits angesprochenen Streit um Beitritt oder Verfassungsneuschöpfung. Die Ergebnisse des Verfassungsrevisionsprozesses sind mager; sie betreffen von den angesprochenen Bereichen praktisch nur das Verhältnis von Bund und Ländern. Das hat sicher mit dem Verfahren zu tun; denn Bundestag und Bundesrat haben Ende 1991 eine Gemeinsame Verfassungskommission eingesetzt, in die sie je 32 ihrer Mitglieder sowie 32 Stellvertreter entsandt haben. Mit der Entscheidung, die Verfassungsrevision in die Hände aktiver Parteipolitiker zu legen, sind Augenblicksbedürfnisse und Wahltermine in den Vordergrund gerückt, während Probleme mit Spätfolgen sowie grundsätzliche Strukturschwächen der Verfassung zurückgetreten sind49 • Im wesentlichen wurden die Bundeskompetenzen zur konkurrierenden und Rahmengesetzgebung an strengere Voraussetzungen geknüpft, bestimmte Materien der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gestrichen oder in die Rahmengesetzgebungskompetenz überführt sowie ein Initiativrecht des Bundesrats für zustimmungsbedürftige Rechtsverordnungen eingeführt. Gleichzeitig wurden aber auch neue Bundesgesetzgebungskompetenzen für die Gegenstände Staatshaftung, Fortpflanzungsmedizin, Gentechnologie und Organtransplantation geschaffen. Außerhalb des Bund-Länder-Verhältnisses gab es nur folgende erwähnenswerte Änderungen: Es wurden ein Verfassungsauftrag zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Gesetz vom 26. 3. 1998 (BGBI. I S. 610); vgl. dazu J. Ruthig, JuS 1998, 506 ff. Gesetz vom 27. 10. 1994 (BGBI. I S. 3146); zusanunenfassend M. Kloepfer, Verfassungsänderung statt Yerfassungsreform. Zur Arbeit der Gemeinsamen Yerfassungskommission, 1995; die politikwissenschaftliche Literatur dazu wird erschlossen durch R. Lhotta, ZParl 1998, 159 ff. 49 Vgl. D. Grimm, Merkur Heft 525, 1059ff. 47

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das Verbot, jemanden wegen seiner Behinderung zu benachteiligen, und ein Verfassungsauftrag zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen eingeführt50. Insgesamt kann kaum von einer Verfassungsreform, sondern allenfalls von Verfassungsänderungen gesprochen werden, die aber noch nicht einmal das Gewicht der von der Großen Koalition in den Jahren 1967- 1969 vorgenommenen Verfassungsänderungen erreicht haben. Damit hat sich die Linie der Konservativen, möglichst nichts oder nur wenig zu ändern, durchgesetzt. Die Vertreter der Unionsparteien waren auch während der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht müde geworden, die grundsätzliche und außerordentliche Bewährtheil des Grundgesetzes zu preisen51 . Ich meine allerdings mit Michael Kloepfer; daß die "historische Chance der Verfassungsgestaltung nach der Wiedervereinigung nicht genutzt" worden ist52 . 3. Juristische Relevanz

Es versteht sich, daß nach ihrem lokrafttreten - üblicherweise am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt53 - die neue verfassungsrechtliche Regelung gilt. Im Rahmen der allgemein anerkannten juristischen Auslegungsmethoden haben Verfassungstextänderungen aber auch Aus- und Rückwirkungen auf die nicht geänderten Teile der Verfassung. Wegen der Schlagkraft systematischer Interpretation können sich durch Verfassungsänderungen an der einen Stelle Bedeutungsverschiebungen an einer anderen Stelle ergeben. Das läßt sich schön an der Vorschrift illustrieren, daß Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Die Tragweite dieses Verfassungsrechtssatzes, über den wir im dritten Vortrag unserer Ringvorlesung noch viel hören werden, ist durch zwei Verfassungsänderungen dahingehend verschoben worden, daß für die Wehrdienstverpflichtung die Gleichbehandlung von Männern und Frauen verfassungskräftig durchbrachen wurde54 • Ob der 1994 eingeführte Verfassungsauftrag zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern Frauenquoten rechtfertigen könne, war in der Gemeinsamen Verfassungskommission heftig umstritten. Einigkeit bestand nur darüber, daß er einerseits eine sachgerechte Förderungspolitik unterhalb von Quoten rechtfertige und andererseits starre Quoten nicht gestatte 5 5 • Inzwischen wird er aber vielfach zur Legitimation leistungsbezogener Quoten mit Härtefallregelung herangezogen 56.

so Bezug auf Art. 3 Abs. 2 S. 2, Art. 3 Abs. 3 S. 2 und Art. 20 a GG; zum gescheiterten Vorschlag eines Art. 20 b GG vgl. A. Siegert, Minderheitenschutz in der Bundesrepublik Deutschland. Erforderlichkeit einer Verfassungsänderung, 1998. 51 Vgl. Kloepfer (oben Fn. 48), S. 142 ff. 52 Kloepfer (oben Fn. 48), S. 150. 53 Vgl. Bauer/Jestaedt (oben Fn. 19), S. 44. 54 Gesetze vom 19. 3. 1956 (BGBI. I S. 111) und 24. 6. 1968 (BGBI. I S. 709): Art. 12 a Abs. 1 GG. 55 Vgl. Kloepfer(oben Fn. 48), S. 68.

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Verfassungsänderungen wirken sich sodann auf die entstehungsgeschichtliche Interpretation aus; dies allein deshalb, weil nicht mehr die Beratungen im Parlamentarischen Rat, sondern im jeweiligen der Verfassungsänderung vorausgehenden Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Bundesrat maßgeblich sind. Zugleich weitet sich damit das Blickfeld erheblich; denn für das Verständnis von Verfassungsnormen relevant werden auch die Vorschläge ftir Verfassungsänderungen, die nicht zu geltendem Recht geworden sind57 •

IV. Verfassungswandel Verfassungsrecht ändert sich nicht allein durch die Änderungen des Verfassungstextes. Die Veränderungen der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit lassen das Verfassungsrecht nicht unberührt. Die Änderung des Sinns, des Verständnisses der Verfassungsrechtsnormen ohne eine Änderung des Verfassungstextes nennen wir Verfassungswandel 58 • Beides zusammen, Verfassungswandel und Verfassungstextänderung, faßt man auch unter dem Oberbegriff der Verfassungsentwicklung zusammen. Verfassungsentwicklung ist unvermeidlich und notwendig. Ohne sie würde das Verfassungsrecht seine Steuerungswirkung verlieren. Andererseits muß Verfassungsrecht in bestimmter Weise Kontinuität im geschichtlichen Wandel gewährleisten; an das Verfassungsrecht knüpft sich eine gesteigerte Stabilitätserwartung. Es gilt also insgesamt, das rechte Maß zwischen Statik und Dynamik zu finden. Das bedeutet, daß auch der Verfassungswandel rechtlich diszipliniert werden muß; er muß realitätsnah analysiert und in seiner rechtlichen Zulässigkeil begrenzt werden. Ohne Grenzziehung gibt es kein Recht. Ich will hier nicht alte rechtstheoretische Schlachten erneut schlagen. Einerseits ist der Gesetzespositivismus, nach dem der Inhalt einer Rechtsnorm mit ihrem Erlaß feststeht und vom Rechtsanwender mittels des juristischen Syllogismus nur noch deduziert werden muß, definitiv erledigt. Andererseits ist der Rechtsanwender auch nicht beliebig frei, nach eigenen Wertungen zu entscheiden, sondern er ist im demokratischen Rechtsstaat, wie es Art. 20 Abs. 3 GG gebietet, an Gesetz und Recht gebunden. Diese Bindung läßt sich nur durch methodisches Arbeiten realisieren. Juristische Methoden sind aber nur teilweise rechtlich vorgegeben und bedürfen im übrigen allgemeiner Anerkennung. Das verschafft den klassischen Auslegungsmethoden ihre andauernde Bedeutung. Aber auch die unleugbare Relevanz der Veränderungen der Wirklichkeit muß vom Recht verarbeitet werden. Auf die genau das leistende Strukturierende Methodik meines akademischen Lehrers 56 Vgl. D. König, DÖV 1995, 837ff.; H. Pfarr; NZA 1995, 809ff.; K. Schweizer; Der Gleichberechtigungssatz- neue Form, alter Inhalt?, 1998, S. 210ff. s1 Statistische Angaben dazu bei Schaub (oben Fn. 25), S. 67 ff. ss Vgl. B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 21; Hesse (oben Fn. 26), S. 11 f.

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Friedrich Müller kann ich hier nicht näher eingehen, will aber einige wesentliche Kategorien festhalten 59:

Der Normbereich, d. h. der vom Normprogramm bestimmte Ausschnitt der Wirklichkeit, begründet die rechtliche Nonnativität mit. Nur so können Wirklichkeitsveränderungen Rechtsänderungen werden. Der Begriff Presse umfaßte 1949 nur die zur Verbreitung geeigneten und bestimmten Druckerzeugnisse; heute fallen darunter auch Ton- und Bildträger wie Schallplatten, Ton- und Videokassetten60 • Dabei darf Wirklichkeit nicht rein materiell verstanden werden (wobei ich mich nicht auf die Frage einlassen will, ob nur das Sein das Bewußtsein hervorbringt). Verstand das Bundesverfassungsgericht noch Anfang der 60er Jahre unter Religion nur eine solche der "heutigen Kulturvölker"61 , ist diese Beschränkung längst allgemein aufgegeben. Hatte der Parlamentarische Rat die lebenslange Freiheitsstrafe noch zweifellos für zulässig gehalten, hat das Bundesverfassungsgericht sie Ende der 70er Jahre deutlich eingeschränkt, weil das Verständnis von Inhalt, Funktion und Wirkung der Grundrechte eine Vertiefung erfahren hat62• Sah der Bundesgerichtshof im Jahr 1953 nur die traditionellen Berufsbilder durch die Berufsfreiheit geschützt63 , wird der Berufsbegriff heute unbestritten denkbar weit verstanden. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Die eben genannten Beispiele betreffen durchweg Grundrechte. Das ist nicht zufällig. Grundrechte zeichnen sich durch eine besondere Weite, Vagheit oder Offenheit des Wortlauts aus. Sie sind daher in besonderem Maße dem Verfassungswandel zugänglich. Anders sieht es regelmäßig im Staatsorganisationsrecht aus. Kompetenz-, Organisations-, Verfahrens- und Fristbestimmungen weisen eine höhere sprachliche Dichte, Präzision oder Rigidität auf. Dementsprechend sind die Einfallstore für Verfassungswandel erheblich schmaler64 . Das entspricht natürlich auch der Funktion dieser Normen, den Prozeß der inhaltlich freien politischen Gestaltung in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Katalogen von Bundesgesetzgebungskompetenzen, die stark historisch und im Blick auf ihr Verständnis im Jahr 1949 ausgelegt werden65 . Das führt zu einer weiteren Unterscheidung, nämlich der nach den am Verfassungswandel beteiligten Akteuren. Im Ansatz hat Peter Häberle mit seinem viel belächelten Wort von der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten"66 gar 59 60 61 62

63 64

65 66

Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995. Vgl. Pieroth/Schlink (oben Fn. 8), Rn. 567. BVerfGE 12, 1/4. BVerfGE45,181/227. BGH, DVBI. 1953, 471 f. Vgl. Bryde (oben Fn. 58), S. 276. Vgl. Pieroth (oben Fn. 36), Art. 70 Rn. 4. Titel des Aufsatzes in JZ 1975, 297 ff.

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nicht unrecht: An den Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind alle Mitglieder der Gesellschaft beteiligt. Und es wird überwiegend auch die Möglichkeit von Verfassungsgewohnheitsrecht anerkannt, das von den jeweils Beteiligten durch lang andauernde Übung und ihre übereinstimmende Auffassung von der Verbindlichkeit der befolgten Regel gebildet wird67 . Beispielsweise können parlamentarische Bräuche den Rang von Verfassungsrecht erreichen68 . Im Rechtsstaat mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit treten diese Erscheinungen aber zurück hinter der Macht insbesondere des Bundesverfassungsgerichts zu rechtskräftiger, alle Staatsorgane bindender und sogar in Gesetzeskraft erwachsender Entscheidung69 und damit zugleich über das Verständnis des geltenden Verfassungsrechts. Karlsruhe manifestiert den VerfassungswandeL Im Hinblick auf diese außerordentliche Macht ist es besonders wichtig, auf die Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen: Es ist Gericht und damit weder politischer Akteur noch Mitproduzent von Rechtsnormen. Auch die Grenzen des Verfassungswandels sind Grenzen des Bundesverfassungsgerichts. Daß es solche Grenzen geben muß, ist allgemeine Meinung, nur wo sie verlaufen, ist die immer wieder heiß diskutierte Frage. Ich verfolge hier eine altmodische Linie, die aber meines Erachtens von rechtsstaatlich-demokratischer Stringenz ist: Die Grenze der Sinnvarianten des Wortlauts ist auch die Grenze des Verfassungswandels70. Verfassungswandel ebenso wie Verfassungsrichterrecht und Verfassungsgewohnheitsrecht sind nicht contra, sondern nur intra oder praeter constitutionem zulässig. Der Rechtsstaat hat aktuelle durch sprachliche Gewalt ersetzt und übt sie auch nur in den sprachlichen Grenzen aus. Die Demokratie verweist die Herrschaft des Volkes im wesentlichen ins Parlament und ist so ebenfalls auf sprachliche Vermittlung angewiesen. Andere als sprachlich vermittelte öffentliche Gewalt ist im demokratischen Rechtsstaat unzulässig71 .

V. Zwischenbilanz 1999 Einer Antwort auf die eingangs gestellte Frage "Was hat das Grundgesetz geleistet?" will ich mich enthalten. Sie soll durch die Ringvorlesung insgesamt gegeben oder wohl besser versucht werden. Eine ganz grobe Einschätzung läßt manche Errungenschaften und viele Probleme erkennen. 67 Vgl. P. Badura, in: Handbuch (oben Fn. 5), Bd. VII, 1992, S. 61 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. liOff. 68 Vgl. H. Schulze-Fielitz, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, hrsg. von H.-P. Schneider und W. Zeh, 1989, S. 360. 69 Bezug auf § 31 BVerfGG; vgl. dazu K. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 4. Aufl. 1997, Rn. 439 ff. 70 Ebenso Hesse (oben Fn. 26), S. 12; ausführlich Müller (oben Fn. 59), S. 183 ff. 11 Exemplarisch dazu F. Müller, Recht- Sprache- Gewalt. Elemente einer Verfassungstheorie I, 1975.

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Die größte Errungenschaft ist sicherlich, daß das Grundgesetz über fünf Jahrzehnte hinweg und damit länger als jede andere deutsche Verfassung eine stabile Ordnung und eine friedliche Entwicklung im Ionern wie nach außen gewährleistet hat. Liberalität, Solidarität und Toleranz sind durch das Grundgesetz gestärkt worden. Das Grundgesetz hat seine Hypotheken als Provisorium und der Entstehung unter Besatzungsherrschaft längst abgetragen und ist zu einer vom Volk akzeptierten und legitimierten Verfassung geworden. An die Stelle früherer Staatsverherrlichung ist ein Verfassungspatriotismus getreten. Auch kritische Geister sprechen von der "Erfolgsgeschichte der Grundrechte"72 . Das Grundgesetz und insbesondere die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts hat sogar Vorbildcharakter für die Verfassungsgebung in anderen europäischen Staaten und darüber hinaus gewonnen. Wir haben eine gute Verfassung. Ob sie uns aber alle vor uns liegenden Probleme auch gut meistern läßt, ist die Frage. Viele Mechanismen und Instrumentarien des geltenden Verfassungsrechts sind an Problemlagen der Vergangenheit orientiert. Schon die Umstellung vom klassisch liberalen auf den modernen Lenkungs-, Leistungs- und Vorsorgestaat war ein schwieriger Prozeß. In der Gegenwart erleben wir gegenläufige Entwicklungen der Privatisierung, Deregulierung, Selbstregulierung und des Rückzugs von staatlichem Befehl und Zwang. Bei einer Grundfunktion des Staates, der Gewährleistung von Sicherheit, bietet sich auch ein eher diffuses Bild: einerseits die Ausweitung staatlichen Handeins von der Abwehr konkreter Gefahren zur Risikovorsorge und abstrakten Gefährdungsbekämpfung, andererseits vielfältige Formen der Privatisierung von Sicherheit. Die politische Willensbildung ist vom Grundgesetz dezidiert repräsentativ ausgestaltet worden, aber die Parteienherrschaft gerät in Gefahr, die öffentliche Gewalt zu monopolisieren und die erforderliche Rückbindung an das Volk zu verlieren. Vielfach wird daher meines Erachtens zu Recht eine behutsame Öffnung für die Ausweitung direkt-demokratischer Elemente gefordert. Was die informationeHe Revolution für die Funktjonsbedingungen von Recht und Demokratie bedeutet, läßt sich im Moment nur erahnen. Auf manche Schieflage des bundesstaatliehen Systems habe ich bereits hingewiesen. Der allseits für erforderlich gehaltene Umbau des Sozialstaats kann auch nicht ohne Rückwirkung auf überkommenes Verfassungsrecht bleiben. Und das alles ist eingebettet in übergreifende Prozesse der Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung. Insbesondere ist der Verlust der Suprematie und der bisherigen Reichweite des Grundgesetzes mit der Einbindung in die Europäische Union unvermeidlich und auch grundsätzlich erwünscht. Aber bei aller ,,Entgrenzung des Verfassungsstaats"73 darf die Substanz der mit dem Grundgesetz erreichten Verfassungskultur nach meiner festen Überzeugung nicht verloren gehen. n Untertitel des Buchs von R. Lamprecht, Vom Untertan zum Bürger, 1999. Titel des Aufsatzes von K.-P. Sommermann, KritV 1998,408 ff.

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Das Grundrecht auf informationeile Selbstbestimmung Von Bernd Holznagel

I. Einleitung Zu den Meilensteinen der Grundrechtsentwicklung bundesrepublikanischer Prägung gehört sicherlich die Anerkennung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung. Es gehört heute wie selbstverständlich zum Kanon der Grundrechte und ist im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung verankert wie die Meinungsfreiheit oder die Vereinigungsfreiheit und die Garantie des Art. 14 GG. Dennoch findet sich das Recht weder in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes von 1949, noch ist es später in den Verfassungstext aufgenommen worden. Bei einer Ringvorlesung zum Thema "50 Jahre Grundgesetz" kann ich leider nicht mit Augenzeugenberichten dazu aufwarten, wie es seinerzeit im Parlamentarischen Rat oder im Schloß Herrenchiemsee zugegangen ist. Aber an den Erlaß des Volkszählungsurteils 1 im Jahre 1983 kann ich mich noch gut erinnern. Ich war damals Student an der FU Berlin und hatte gerade mein erstes Staatsexamen gemacht. Der Erlaß dieses Urteils war damals nicht nur für die Juristen, sondern auch für viele andere politisch interessierte Bürger ein ebenso wichtiger wie erstaunlicher Vorgang. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte diese Einschätzung auf den Punkt, indem sie davon sprach, daß das Bundesverfassungsgericht "ein neues Grundrecht" erfunden habe2 . Ich betätige mich also heute nicht nur als Informationsrechtler, sondern auch in der ungewohnten Rolle als Zeitzeuge, wenn ich über dieses Grundrecht berichte.

II. Historische Entwicklung 1. Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts

a) Reichsgericht

Im Volkszählungsurteil wurde bekanntlich das Grundrecht auf infonnationelle Selbstbestimmung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelt bzw. als ein Teilbereich desselben anerkannt 3 . Um zu verstehen, was genau das BundesI 2

3

BVerfGv.l5.12.1983-l BvR484/83-,BVerfGE65,1. Fromme, FAZ v. 17. 12. 1983, S. 12. BVerfG v. 15. 12. 1983- I BvR484/83 -, BVerfGE 65, I (41 f.).

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Verfassungsgericht damals getan hat, wollen wir uns zunächst das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sozusagen als "Muttergrundrecht" ansehen. Erstaunlicherweise müssen wir feststellen: Auch dieses Recht ist nirgendwo ausdrücklich verbrieft. Das Reichsgericht hat die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechtes denn auch gänzlich abgelehnt. Die Zivilsenate des Reichsgerichts hatten des öfteren mit der Frage zu tun, ob Eingriffe in die "persönliche Sphäre" von Klägern schadenersatzpflichtig wären4 . Die Senate sagten im Grundsatz "nein", es sei denn das Recht des Klägers wäre ausdrücklich irgendwo verbrieft gewesen. Ein schönes Beispiel findet sich im 69. Band von RGZ5 : Es klagte die Schwester von Friedrich Nietzsche gegen die Uni Basel. Die Unibibliothek in Basel hatte von einem Professor 0 mehrere Hundert Briefe Nietzsches geerbt und wollte diese veröffentlichen. Nietzsches Schwester klagte wegen angeblichen Vertrauensbruchs. Das Problem des Reichsgerichts war, daß das "Recht am eigenen Brief' nirgendwo kodifiziert war. "Es gibt nur ..." so schreibt der Senat " ... besondere, gesetzlich geregelte Persönlichkeitsrechte, wie das Namensrecht, das Warenzeichenrecht, das Recht am eigenen Bilde, die persönlichkeitsrechtlichen Bestandteile des Urheberrechts"6 . Man versuchte es deshalb mit dem Urheberrecht. Und so findet man in dem Urteil merkwürdige Ausführungen dazu, ob es sich bei den Briefen sozusagen um Allerweltsbriefe handelt oder ob Nietzsche "Briefkünstler" gewesen sei7 • Den Schritt, aus den einzelnen kodifizierten Ausformungen des Persönlichkeitsrechts im Wege der Rechtsanalogie das übergeordnete Prinzip abzuleiten, diesen Schritt mochte das Reichsgericht nicht tun. Bei PVV und CIC war man damals mutiger. b) Bundesgerichtshof

Die ablehnende Haltung des Reichsgerichts wurde jedoch keineswegs vom Bundesgerichtshof aufgenommen. In der Nachkriegszeit entflammte nämlich die Diskussion über den Inhalt und Umfang des Schutzes der Privatsphäre gegen Indiskretion. Rasch mußte man erkennen, daß weder das zivile noch das öffentliche Recht eine ausreichende Antwort auf die Gefahrdungen des Privatlebens durch moderne Techniken wie Tonbandaufzeichnungen oder Abhörmöglichkeiten boten8 . Gleichzeitig entwickelte sich der Sensationsjoumalismus, der immer stärker Informationen über das Privatleben der sogenannten Prominenten oftmals gegen deren Willen publizierte9 . 4 Sieheetwa RGv. 29. 5. 1902- RepVIS0/02-, RGZ51, 369; RGv. 7. II. 1908 - Rep 1638/07-, RGZ 69,401; RG v. 8. 6. 1912 -Rep I 382/11 -, RGZ 79, 397; RG v. 16. 2. 1929 -I 320/29-, RGZ 123, 312. s RG v. 7. II. 1908- Rep 1638/07-, RGZ 69,401. ~ RG v. 7. II. 1908- Rep I 638/07-, RGZ 69, 401 (403). 1 RG v. 7. II. 1908- Rep I 638/07-, RGZ 69,401 (404f.). H Vogelgesang, Recht auf informationeHe Selbstbestimmung, Baden-Baden 1987, S. 39. ~ Ebenda.

Das Grundrecht auf informationeHe Selbstbestimmung

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Die erste Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs 10 betrifft auch einen Brief: In einer Hamburger Wochenzeitung erschien am 29. Juni 1952 ein Artikel mit der Überschrift: "Dr. H.S. & Co.- Politische Betrachtung anläßlich der Gründung eines neuen Bankhauses". Der Artikel setzte sich, so heißt es in den Gründen, "mit dem politischen Wirken des Dr. S während des nationalsozialistischen Regimes und in den Jahren nach dem Krieg auseinander." Dr. S war- so lese ich zwischen den Zeilen - offenbar ein Altnazi und Schieber, der nun seine Karriere durch Gründung einer Außenhandelsbank krönte. Dr. S war jedenfalls "not amused" und ließ durch seinen Anwalt Dr. M eine Gegendarstellung verlangen. Der Verlag druckte den Brief des Anwalts gekünt auf der Leserbriefseite ab - daher heißt der Fall auch "Leserbrief-Fall" und zwar ohne Hinweis auf das Petitum "Gegendarstellung". Dr. M. fand sich also unverhofft als schneidiger Leserbriefschreiber und Verteidiger seines Mandanten zitiert. Dr. M klagte auf Widerruf und anders als die Schwester von Friedrich Nietzsche fand er Gehör. Der Bundesgerichtshof schreibt: "Nachdem nunmehr das Grundgesetz das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde (Art. I GG) und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht anerkennt ... muß das allgemeine Persönlichkeitsrecht als verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht angesehen werden." 11

Die verfassungsrechtliche Grundlage fand der Bundesgerichtshof schon damals in Art. 2 Abs. 1 GG, dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, und in Art. 1 Abs. I GG, also der Menschenwürde 12. Inhaltlich wurde dem einzelnen das Recht zugesprochen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, ob und in welcher Fonn seine persönlichen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden 13• Nun war es also da, das "Allgemeine Persönlichkeitsrecht", ohne daß so recht jemand wußte, was es genau damit auf sich hatte. Wie immer wenn die Fortentwicklung des Rechts durch die Gerichte vonstatten geht, bildete sich "case law", das stets nur Einzelinhalte des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes aufgreifen konnte. Für höchst interessante Fortbildungen der Dogmatik sorgte in der Folgezeit vor allem die werbetreibende Industrie. Noch in den Rahmen des reichsgerichtliehen Gedankenguts bewegt sich die sog. Dahlke-Entscheidung 14 • Ein Journalist hatte im Rahmen einer Reportage den Schauspieler Paul Dahlke - das war 1956, also weit vor ihrer Zeit - auf einem Motorroller abgelichtet und das Foto hinterher an den Hersteller des Rollers verkauft. Flugs entstand eine Reklameanzeige: "Berühmter Mann auf berühmtem Fahneug: Schauspieler Paul Dahlke auf einem Autoroller der Marke X". Herr 10 II 12

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BGH v. 25. 5. 1954- I ZR 211/53 -, BGHZ 13, 334- Leserbriefentscheidung. BGH v. 25. 5. 1954 -I ZR 211/53 -, BGHZ 13, 334 (338). Ebenda. BGH v. 25. 5. 1954- I ZR 211/53-, BGHZ 13, 334(338f.). BGH v. 8. 5. 1956- I ZR 62/54-, BGHZ 20,345.

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Dahlke war empört und klagte. Verletzt war das Recht am eigenen Bild als "sonstiges Recht" im Sinne des § 823 BGB und der Bundesgerichtshof meinte, dieses Recht sei auch in Geld zu beziffem 15 . Herr Dahlke bekam als Schadensersatz das Honorar, das er bekommen hätte, wenn er regelrecht für Werbefotos angeheuert worden wäre. Damit kam man aber schon 1958 nicht mehr weiter, als der berühmte "Herrenreiter-Fall"16 vor dem Bundesgerichtshof landete: Der Kläger war Mitinhaber einer Brauerei in Köln und betätigte sich als "Herrenreiter" auf Turnieren. Die Beklagte war Herstellerio eines pharmazeutischen Präparats das - so der Bundesgerichtshof - "nach Vorstellung weiter Bevölkerungskreise auch der Hebung der sexuellen Potenz dient." Die beklagte Firma machte Werbung mit einem Bild des Klägers. Nun konnte man den Kölner Brauereibesitzer schlecht auf das verweisen, was er als Honorar für Werbefotos hätte verdienen können, denn - so machte er nachvollziehbar geltend- Werbung für ein Potenzmittel hätte er freiwillig nie gemacht 17 • Der Bundesgerichtshof machte einen wichtigen Schritt: Er sprach dem Kläger Schmerzensgeld zu 18 . Wichtig ist das deshalb, weil das Persönlichkeitsrecht jenseits der Möglichkeiten wirtschaftlicher Verwertbarkeit Anerkennung findet. Das ist um so bemerkenswerter, als das BGB sonst bei der Anerkennung immaterieller Schäden sehr restriktiv gehandhabt wird. Schon Ende der 50er Jahre hat der Bundesgerichtshof also die wesentlichen Schritte zur Anerkennung und Absicherung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts getan. Allerdings erfolgte niemals eine konkrete inhaltliche Bestimmung des Schutzbereiches. Vielmehr stellte der Bundesgerichtshof fest, daß sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch eine generalklauselartige Weite und Unbestimmtheit auszeichne 19, und die Aufgabe habe, die einfachgesetzlichen Bestimmungen zu ergänzen20, um einen umfassenden Schutz der Privatsphäre des einzelnen zu bewirken. 2. Vom aUgemeinen Persönlichkeitsrecht zum Recht auf informationeile Selbstbestimmung

a) Erste Auseinandersetzungen mit dem notwendigen Schutz der Privatsphäre

Das Bundesverfassungsgericht kam demgegenüber eher zögerlich in Schwung. Ins Jahr 1957 fällt das "Eifes"-Urtei1 21 . Das Bundesverfassungsgericht bestimmt IS 16 17

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BGH v. 8. 5. 1956- I ZR 62/54-, BGHZ 20,345 (353f.). BGH v. 14. 2. 1958- I ZR 151 /56-, BGHZ 26, 349. BGHv.I4.2.1958-IZR 151/56-,BGHZ26,349(350). Vgl. hierzu BGH v. 14. 2. 1958 - 1 ZR 151156 -, BGHZ 26, 349 (358). BGH v. 18. 3. 1959- I ZR 182 I 58 - . BGHZ 30, 7 ( II)- Catarina Valente. Ebenda. BVerfG v. 16. I. 1957- I BvR 253 I 56-. BVerfGE 6, 32- Elfes.

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dort bekanntlich Schutzbereich und Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit. Dabei weist das Gericht auch darauf hin, daß es einen unantastbaren Kernbereich menschlicher Freiheit gebe, der der Einwirkung des Gesetzgebers gänzlich entzogen sei22 • Diese Vorstellung von einem absolut geschützten Kern und weiteren Sphären, die den Kern wie Zwiebelschalen umgeben, stellt die Basis für die weiteren Überlegungen des Bundesverfassungsgerichtes dar. b) Weitere Entwicklungsstufen der Rechtsprechung

aa) Sphärentheorie Die Anerkennung geschützter Sphären wurzelte in der Forderung nach Schutz vor Indiskretion. Dementsprechend wurden drei Sphären unterschieden: Zunächst die unantastbare Intimsphäre, die jeglicher Einwirkung von außen entzogen ist23, und die Privatsphäre, die um diesen unantastbaren Kern der Intimsphäre liegt und sich von dieser durch den Sozialbezug unterscheidet, und schließlich der Öffentlichkeitsbereich24• Diese sogenannte Sphärentheorie ist ein Hilfsmittel, mit dem die Zulässigkeit von Eingriffen in das Privatleben des einzelnen von der jeweils betroffenen Sphäre bestimmt wurde. Eingriffe in die Intimsphäre sind von vornherein unzulässig. Alle anderen Eingriffe sind danach zu beurteilen, wie groß der Sozialbezug der jeweiligen Information war. Im Prinzip handelte es sich - wie bei der im Hinblick auf Art. 12 GG entwickelten Drei-Stufen-Theorie - um eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Ausgestaltet finden wir diese Vorstellung in der ,,Mikrozensus"-Entscheidung2s im Jahre 1969. Der Mikrozensus war eine ,,kleine Volkszählung", eine statistische Erhebung. Abgefragt wurden u. a. Angaben zu Erholungsreisen. Die betroffene Bürgerio weigerte sich, die Fragen zu beantworten und erhielt daraufhin einen Ordnungswidrigkeitenbescheid. Auf ihren Einspruch legte das AG Fürstenfeldbruck die Sache dem Bundesverfassungsgericht vor. Das Bundesverfassungsgericht gestand dem einzelnen einen unantastbaren Innenraum zu, in dem er sich selbst "besitzen" kann und keinerlei staatlichen Zugriff erdulden muß. Im ionersten Lebensbereich bestünde insoweit ein Selbstbestimmungsrecht des einzelnen26• Dem Staat wurde damit das Recht abgesprochen, den Menschen zwangsweise 22 BVerfG v. 16. 1. 1957- I BvR 253/56-, BVerfGE 6, 32 (36); vgl. auch BVerfG v. 10. 5. 1957 - I BvR 550/52 -, 6, 389 (433). 23 BVerfG v. 16. 7. 1969- 1 BvL 19/63-, BVerfGE 27, 1 (6)- Mikrozensus. 24 BVerfG v. 19. 7. 1971-2 BvL 7/71 - , BVerfGE 33.367 (377) -Zeugnisverweigerung; BVerfG v. 16. 1. 1957- 1 BvR 253/56 -. BVerfGE 35, 35 (39)- Briefkontrolle II; BVerfG v. 11. 4. 1973-2 BvR 701/72-. BVerfGE 35, 202 (220)- Lebach. 2S BVerfG v. 16. 7. 1969- 1 BvL 19/63-, BVerfGE 27, I- Mikrozensus. 26 BVerfG v. 16. 7. 1969- 1 BvL 19/63-, BVerfGE 27, 1 (6).

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in seiner ganzen Persönlichkeit zu erfassen, faktisch also eine Entpersönlichung herbeizuführen27 • Außerhalb dieses Intimbereiches wurde jedoch die Möglichkeit eines Eingriffes seitens des Staates anerkannt. Und Urlaubsreisen - so das Bundesverfassungsgericht - spielen sich nun mal öffentlich ab und haben daher keinen "Geheimnischarakter" 28 . Die Querverbindung zwischen der rechtsschöpferischen Tätigkeit des Bundesgerichtshofes und den Sphären des Bundesverfassungsgerichts schlägt dann 1973 die sogenannte "Soraya"-Entscheidung29 . In einer richtungsweisenden Wochenzeitung mit dem Titel: "Das Neue Blatt mit Gerichtswoche" war ein Exklusivinterview mit der geschiedenen Ehefrau des Schahs von Persien, Prinzessin Soraya, erschienen. Überschrift: "Der Schah schrieb mir nicht mehr." Das Interview war frei erfunden. Soraya klagte und bekam - wir erinnern uns an den Herrenreiter 15,- DM Schmerzensgeld. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des Verlags, der u. a. vortrug, der Bundesgerichtshof habe sich das alles ohne Rechtsgrundlage einfach ausgedacht. Die entscheidende Bedeutung des Urteils liegt in den Ausführungen des Verfassungsgerichts zur Zulässigkeil richterlicher Rechtsfortbildung im Allgemeinen. Aber auch unser allgemeines Persönlichkeitsrecht wird abgesegnet: Es handele sich - so das Gericht - um eine Rechtsfigur, die sich in einer jahrzehntelangen Entwicklung in Übereinstimmung mit dem Wertesystem des Grundgesetzes durchgesetzt habe 30• Das Bundesverfassungsgericht bestätigt also das Urteil des Bundesgerichtshofes und hält fest: ... . . Schutz bedarf vor allem die private Sphäre des Menschen . .. , der Bereich in dem er allein zu bleiben, seine Entscheidungen in eigener Verantwortung treffen und von Eingriffen jeder Art nicht behelligt zu werden wünscht"31 •

Auch hier handelt es sich eigentlich wieder um die schon bekannten Sphären. bb) Selbstbestimmungsrecht ohne Beschränkung auf die Schutzsphären Was bei Sorayas Eheleben noch gut funktionierte, stellte sich aber alsbald als problematisch heraus. Es ging um eine Verfassungsbeschwerde des SPD-Politikers Erhard Eppler, seinerzeit Vorsitzender des SPD-Landesverbandes in Baden-Württemberg32. Im Landtagswahlkampf 1976 hatte der CDU-Landesverband den Kreisrednern eine Musterrede zur Verfügung gestellt, in der den bösen Sozialisten die wirtschaftspolitische Kompetenz abgestritten wurde und Eppler das berühmte Zitat 27 28 29

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BVerfG v. 16. 7. 1969- I BvL 19/63-, BVerfGE 27, I (7). BVerfG v. 16. 7. 1969- I BvL 19/63-, BVerfGE 27, I (8f.). BVerfG v. 14. 2. 1973- I BvR 112/65-, BVerfGE 34,269 (281)- Soraya. BVerfG v. 14. 2. 1973- I BvR 112/65-, BVerfGE 34, 269 (281). Ebenda. BVerfG v. 3. 6. 1980-1 BvR 185177-. BVerfGE 54, 148 -Eppler.

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in den Mund gelegt wurde, man müsse "die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen". Eppler klagte und trug vor, das Zitat sei nicht von ihm. Mit der Verletzung der Intimsphäre oder dem unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit kam man hier nicht weiter, denn es handelte sich um einen öffentlichen politischen Diskurs. Das Gericht hält im Grundsatz an seiner "Sphärentheorie" fest und schreibt: "Wie der Zusammenhang mit Art. I Abs. 1 GG zeigt, enthält das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. I GG ein Element der freien Entfaltung der Persönlichkeit, das sich als Recht auf Respektierung des geschützten Bereichs von dem aktiven Element dieser Entfaltung, der allgemeinen Handlungsfreiheit abhebt. Demgemäß müssen die tatbestandliehen Voraussetzungen enger gezogen werden als diejenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit: Es erstreckt sich auf Eingriffe, die die engere Persönlichkeitssphäre beeinträchtigen. 33

Aber die Rechtsprechung habe "den Inhalt des geschützten Rechts nicht abschließend umschrieben, sondern seine Ausprägungen jeweils anhand des zu entscheidenden Falles herausgearbeitet. " 34 Apodiktisch führt das Gericht im weiteren aus: "(Es) bedeutet gleichfalls einen Eingriff, wenn jemandem Äußerungen in den Mund gelegt werden, die er nie getan hat und die seinen von ihm selbst definierten sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigen. Dies folgt aus dem Schutz des dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugrundeliegenden Gedankens der Selbstbestimmung: Der Einzelne soll - ohne Beschränkung auf seine Privatsphäre grundsätzlich selbst entscheiden können, wie er sich Dritten gegenüber in der Öffentlichkeit darstellen will." 35

Das Bundesverfassungsgericht vollzieht hier einen hochinteressanten Wechsel hin zu einer subjektivierten Betrachtungsweise: Nicht mehr die Art der Information allein bestimmt über die Verletzung des Grundrechts, sondern die subjektive Entscheidung des Grundrechtsträgers gibt den Ausschlag. Entscheidend ist sein Recht zu ungestörter Selbstdarstellung, sein Bestimmungsrecht über Informationen. cc) Das Volkszählungsurteil Damit war der verfassungsrechtliche Boden für das Volkszählungsurteil36 bereitet. Zu diesem verfassungsrechtlichen "Grundmaterial" kam noch die gesellschaftliche Stimmung in den achtziger Jahren. Langsam aber sicher sprachen sich die Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung herum. Bedrohlich näherte sich das Jahr 198437 . Allerhand Merkwürdiges hatte sich im Bereich der Straf33

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BVerfG v. 3. 6. 1980-1 BvR 185177-, BVerfGE 54, 148 (153). BVerfG v. 3. 6. 1980-1 BvR 185177-, BVerfGE54, 148 (153f.). BVerfG v. 3. 6. 1980- I BvR 185177 -. BVerfGE 54, 148 (155). BVerfG v. 15. 12. 1983- I BvR484/83 -, BVerfGE 65, I. Vgl. hierzu Vogelgesang, Recht aufinformationeHe Selbstbestimmung, S. 51.

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verfolgung getan: Kontaktsperre, Schleppnetzfahndung, Rasterfahndung als im Jahre 1982 durch das Volkszählungsgesetz eine Volks- und Berufszählung, eine Gebäudestatistik, eine Wohnungsstatistik und eine Arbeitsstättenzählung angeordnet wurde. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon einmal überlegt haben, wie eine Rasterfahndung funktioniert: Damals suchte man noch nach den Mitgliedern der RAF in ,,konspirativen Wohnungen". Dafür gab es ein Suchraster, mit dem Daten abgeglichen wurden: Wegen der Anonymität im Untergrund wurden von der RAF Wohnungen in großen Wohnblocks bevorzugt. Als Vermieter kamen nur Gesellschaften in Frage, keine Einzelpersonen. Die Miete wurde in der Regel bar eingezahlt, damit kein Konto zurückverfolgt werden konnte. Die Wohnungen standen oft leer und wurden häufig von wechselnden Personen frequentiert. Merken Sie was? Wer als Student in Berlin in einem Wohnblock seine Bude hatte und die Miete bar einzahlte, in den Semesterferien meist zu Hause war und die Bude mal an Freude verlieh, konnte ohne weiteres in so ein Raster geraten. Wenn es im Telefonhörer knackte, machte man Witze über den Verfassungsschutz. Tatsache war, daß dieses Gesetz zu einem Aufschrei führte. Es gab Umfragen, bei denen bis zu 30% der Befragten erklärten, die Fragen nicht oder falsch beantworten zu wollen und zwar auch um den Preis eines Bußgeldes. Das Volkszählungsurteil beginnt deshalb mit einer allgemeinen kurzen Stellungnahme zu der gesellschaftlichen Entwicklung. So spricht das Bundesverfassungsgericht von einer Beunruhigung der Bevölkerung und der Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung, die selbst die loyalsten Staatsbürger erfaßt habe, da die modernen Datenverarbeitungsprozesse nur noch für Fachleute durchschaubar seien38 • Als materiellen Prüfungsmaßstab für das Volkszählungsgesetz zieht das Bundesverfassungsgericht zunächst das allgemeine Persönlichkeitsrecht heran 39• Danach darf der einzelne ja schon grundsätzlich selbst entscheiden, welche Lebenssachverhalte über ihn offenbart werden, wobei Daten aus der Geheim- oder Intimsphäre schützenswerter sind als Daten mit Sozialbezug. Aber auch die Veröffentlichung von Daten mit Sozialbezug können das Persönlichkeitsrecht verletzen, wenn sie das Recht des Einzelnen beeinträchtigen, selbst darüber zu entscheiden, wie er sich in der Öffentlichkeit präsentieren will. Das Bundesverfassungsgericht knüpft also an Bekanntes an - ein richtig neues Grundrecht ist tatsächlich nicht erfunden worden. Was sich aber vollzieht, ist eine Art Quantensprung im Schutzbereich. Das Gericht schreibt: ,,Diese Befugnis bedarf unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes. Sie ist vor allem deshalb gefährdet, weil bei Entscheidungsprozessen nicht mehr wie früher auf manuell zusammengetragene 38

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BVerfG v. 15. 12. 1983- I BvR484/83 - , BVerfGE 65, I (3 f.). BVerfG v. 15. 12. 1983 - 1 BvR484/83 -, BVerfGE 65, I (41).

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Karteien und Akten zurückgegriffen werden muß, vielmehr heute mit Hilfe automatischer Datenverarbeitung Einzelangaben .. . technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und ... in Sekundenschnelle abrufbar sind. Sie können darüber hinaus ... mit anderen Datensammlungen zu einem ... Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden. " 40

Und weiter: ,,Mit dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ennöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der die Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als lnfonnationen dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.''41

Hieraus folgt: ,,Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher vom Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen."42

Das Gericht konstatiert eine neue Gefährdungslage im Zeitalter der modernen Datenverarbeitung: Es gibt kein ungeschütztes Datum mehr, weil niemand überblicken kann, wozu welches Datum Verwendung finden kann und welche Daten wie miteinander kombinierbar sind43 . Damit löst es sich vom ,,Muttergrundrecht", dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, und gewinnt eine eigene Kontur und Funktion. Dem Recht auf informationeile Selbstbestimmung wird die Rolle eines Gegengewichts zu der immer weiter um sich greifenden, zunehmend technisierten und systematisierten Verarbeitung personenbezogener Daten übertragen44 •

Iß. Inhalt des Rechtes auf infonnationelle Selbstbestimmung 1. Schutzbereich

Jeder- so heißt es schlagwortartig - hat das Recht zu bestimmen und zu wissen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß. Nicht nur die Freiheit des einzelnen zu bestimmen, wem er wann etwas mitteilt, ist geschützt, sondern auch das Recht, das weitere Schicksal des Datums zu verfolgen und zu kontrollieBVerfG v. 15. 12. 1983- 1 BvR484183 -, BVerfGE 65, 1 (42). BVerfG v. 15. 12. 1983-1 BvR484183 -, BVerfGE 65, 1 (43). 42 BVerfG v. 15. 12. 1983- 1 BvR484183 -, BVerfGE 65, 1 (42 f.). 43 Ebenda. """ Simitis, in: Similis I Dammann I u. a., Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, 4. Aufl., Baden-Baden, Stand: Dezember 1998, § 1 Rdnr. 164. 40 41

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ren. Nicht nur der Zwang zur Preisgabe, auch die Verwendung ist Grundrechtseingriff und zwar grundsätzlich für alle Daten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht billigt demgegenüber jedem einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung zu, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann, d. h. das ,,Person-Sein" in sich45 . Für das informationeile Selbstbestimmungsrecht ist hingegen das entscheidende Kriterium das Bestimmungsrecht über die Individualinformation46. Zum einen wird also dem einzelnen ein Bereich zugestanden, in dem er sich selbst (aus)leben kann47 , und zum anderen das Recht anerkannt, daß er bestimmt, welche konkreten Informationen hierüber Dritte erhalten48 . Das allgemeine Selbstbestimmungsrecht schützt das Selbstdarstellungsrecht49, während das Recht auf informationeile Selbstbestimmung den Schutz jeder Information unabhängig von ihrer jeweiligen Bedeutung für die Person garantiert50.

2. EingriiT und Rechtfertigung

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Recht auf informationeile Selbstbestimmung im Volkszählungsurteil einen äußerst hohen Stellenwert zugebilligt. Gleichzeitig hat es aber keinen Zweifel daran gelassen, daß ein Eingriff in das Recht auf informationeile Selbstbestimmung zu rechtfertigen ist: Natürlich kann es keine absolute, uneinschränkbare Herrschaft über alle Daten geben51 . Gesellschaft ist auf Kommunikation angewiesen. Wie bei allen gemeinschaftsbezogenen Grundrechten ist daher ein Eingriff in das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse möglich, wenn denn eine gesetzliche Grundlage dafür besteht52 . Damit wird das Volkszählungsurteil zur Geburtsstunde der modernen Datenschutzgesetzgebung: Zwar wurde schon 1970 das erste Datenschutzgesetz in Hessen erlassen und 1977 das erste Bundesdatenschutzgesetz. Erst das Volkszählungsurteil verschaffte jedoch den Datenschützern ihre schier endlosen AktivitätsmögIichkeiten: Weil jede Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung ein Grundrechts45

26.

So etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl., München 1997, Art. 2 Rdnr.

Vogelgesang, Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung, S. 52. So etwa Jarass, in: Jarass I Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 27. 48 Dies ergibt sich aus der Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Vgl. BVerfG v. 15. 12. 1983- 1 BvR484/83 -, BVerfGE 65, 1 (4lf.). 49 Ebenda. so Dies ergibt sich allein schon daraus, daß es kein belangloses Datum mehr gibt, vgl. BVerfG v. 15. 12. 1983- 1 BvR484/83 -, BVerfGE 65, 1 (45). SI BVerfGv.15.12.1983-J BvR484/83-,BVerfGE65, I (43f.). 52 BVerfG v. 15. 12. 1983- 1 BvR484/83 -, BVerfGE 65, 1 (44). 46 47

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eingriff ist, bedarf auch jede Art des Umgangs einer gesetzlichen Grundlage; diese habe, so das Bundesverfassungsgericht, dem Gebot der Normenklarheit zu genügen53. Das ist nun an sich nichts neues und gilt für jedes Gesetz. Allein - ftir das informationeile Selbstbestimmungsrecht hat das Bundesverfassungsgericht dies konkretisiert. Danach setzt ein Zwang zur Angabe personenbezogener Daten voraus, daß der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt hat und daß die Angaben flir diesen Zweck geeignet und erforderlich sind54. Das Zauberwort heißt "Zweckbindung". Man merke sich: Jeder Zweckwechsel- neuer Eingriff! Vor dem Hintergrund des Volkszählungsgesetzes ist das gut verständlich, denn die Befürchtungen richteten sich ja gerade darauf, daß "der Staat" Daten hortet und in Datenbanken zu allen möglichen Vorhaben kombiniert und auswertet. Mit dieser Aussage hat das Bundesverfassungsgericht aber über den konkreten Fall hinaus das Datenschutzrecht wegweisend geprägt. Ob zum Positiven, darüber scheiden sich heute die Geiste~ 5 . Im Einzelfall kommt man dann bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wieder zu der altbekannten Differenzierung nach Datenarten56. Unzweifelhaft sind beispielsweise Informationen über Krankheiten oder eine begangene Straftat äußerst sensibel, so daß es angemessen ist, sie in einem besonderen Maße zu schützen. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichtes, daß es kein belangloses Datum mehr gebe, ist auf Ebene des Schutzbereichs dahingehend zu verstehen, daß aufgrund eines zunächst unwesentlich erscheinenden Inhaltes der Information das Bestimmungsrecht nicht ausgeschlossen werden soll. Sensible Informationen genießen aber weiterhin einen besonderen Stellenwert. Hier treffen wir dann auch unsere alte Bekannte, die Sphärentheorie, wieder. So wurde beispielsweise noch 1993 festgestellt, daß der Schutz von persönlichen Daten um so höher ist, je näher sie der Intimsphäre des einzelnen stehen57 • Neben der Möglichkeit der Rechtfertigung eines Eingriffes durch ein Gesetz besteht stets die Alternative der Einwilligung des Grundrechtsträgers. Dieses sonst in der Grundrechtsdogmatik weniger bedeutsame Rechtsinstitut erlangt für das Recht auf informationeile Selbstbestimmung und damit ftir den Datenschutz eine erhebliche Bedeutung. Verdeutlicht wird dies allein schon durch das in jedem Datenschutzgesetz konstituierte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt Danach ist eine Datenverarbeitung und -nutzung nur zulässig, wenn ein Gesetz dies erlaubt oder der Betroffene eingewilligt hat. Grundrechtsdogmatisch stellt die Einwilligung BVerfG v. 15. 12. 1983- I BvR484/83 -, BVerfGE 65, I (44f.). Ebenda. 55 Nähere Ausführungen zu dieser Problematik erfolgen unter dem Gliederungspunkt Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung am Ende des Jahrtausends. 56 So aber Gounaklkis/Mand, Die neue EG-Datenschutzrichtlinie - Grundlagen einer Umsetzung in nationales Recht (1), CR 1997,431 (437). 57 BVerfG v. 24. 6. 1993- I BvR 689/92-. BVerfGE 89,69 (82f.). 53

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eine Form des Grundrechtsverzichtes dar 8 . Für den Bereich des Datenschutzes wird zudem darauf abgestellt, daß die Einwilligung auch eine Form der Entscheidungsfreiheit über den Umgang mit seinen Daten ist, also ebenfalls aus dem Recht auf informationeile Selbstbestimmung herzuleiten ist59. IV. Einzelaspekte des Rechtes auf informationeile Selbstbestimmung Das Recht auf informationeile Selbstbestimmung war nun also ein ,,richtiges Grundrecht". Und infolgedessen kann es alles, was richtige Grundrechte so können. 1. Verfahrensrechtliche Maßnahmen

In der ,,Mülheim-Kärlich"-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich erstmals ausdrücklich festgestellt, daß der Gesetzgeber bzw. die Exekutive auch organisatorische und verfahrensrechtliche Maßnahmen treffen oder vorsehen muß, um den effektiven Schutz der Grundrechte zu gewährleisten60• Diese allgemeine, letztlich aus der objektiv-rechtlichen Bedeutung der Grundrechte entwickelte Vorgabe, gilt auch für das Recht auf informationeile Selbstbestimmung. Ausdrücklich anerkannt hat dies das Bundesverfassungsgericht auch im VolkszählungsurteiL So fordert das Gericht u. a. einen gesetzlich konstituierten Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe und Verwertungsverbote 61 . Dies soll auch für die Amtshilfe zwischen Behörden gelten.

Erhebliche praktische Konsequenzen hat die Forderung nach effektivem Grundrechtsschutz durch Verfahren vor allem in zwei Bereichen: Zum einen bei der Anerkennung von Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungsansprüchen und zum anderen für die Beteiligung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten62• Die erste Forderung führte zu der Konstituierung umfassender Benachrichtigungs-, Auskunfts- und Löschungsansprüche in den Datenschutzgesetzen63 • In kaum einem anderen Rechtsgebiet muß der Bürger derart umfassend über Eingriffe in sein Grundrecht und deren Reichweite informiert werden. Man selbst merkt dies u. a. daran, daß fast jedes offizielle Schreiben einen Hinweis auf die eventuell Robbers, Der Grundrechtsverzicht, JuS 1985, 925 (928). BVerfG v. 15. 12. 1983-1 BvR484/83 -, BVerfGE 65, 1 (42); Vogelgesang, Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung, S. 150; Simitis, in: Simitis/Dammann/u. a., Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, § 4 Rdnr. 27; Geiger. Die Einwilligung in die Verarbeitung von personenbezogenen Daten als Ausübung des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung, NVwZ 1989, 35 (37). 60 BVerfG v. 20. 12. 1979-1 BvR 385177-, BVerfGE 53, 30 (65). 61 Vgl. BVerfG v. 15. 12. 1983- 1 BvR484/83 -, BVerfGE 65, 1 (46). 62 Ebenda. 63 Siehe z. B. §§ 33 ff. BDSG. ~8

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geplante Datenverarbeitung enthält. Die Forderung nach unabhängigen Datenschutzbeauftragten hatte die Einrichtung von bundesweit über fünfzig Dienststellen zur Folge, die die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen überwachen. 2. Mittelbare Drittwirkung

Grundrechte können weiter im Wege mittelbarer Drittwirkung die Rechtsbeziehungen Privater zueinander beeinflussen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ja- wie oben berichtet- sozusagen bei Gelegenheit dieser Drittwirkungsfälle entwickelt worden. Aber auch das Recht auf informationeile Selbstbestimmung spielt in der Beziehung zwischen zwei Privaten eine wichtige Rolle: Die Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes gelten uneingeschränkt für Private, wenn sie personenbezogene Daten in oder aus Dateien verarbeiten oder nutzen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Wirtschaft. So ist z. B. beim Adresshandel oder schon allein bei allgemeinen Verbraucherumfragen stets zu fragen, ob personenbezogene Daten verarbeitet oder genutzt werden. Ist dies der Fall, ist eine Erlaubnisnorm oder eine Einwilligung des Betroffenen erforderlich. Manche Datenverarbeitung seitens der Wirtschaft ist daran schon gescheitert. V. Das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung am Ende des Jahrtausends 1. Das herkömmliche Datenschutzrecht in der Kritik

Das Recht auf informationeile Selbstbestimmung ist am Ende des Jahrtausends also aus der deutschen Verfassungsrechtsordnung nicht mehr wegzudenken. Es hat inzwischen recht klare Konturen gewonnen. Mittels der Datenschutzgesetzgebung wurde ein aufwendiger Mechanismus errichtet, der für seine Beachtung in der Verfassungswirklichkeit sorgen soll. Gleichwohl befindet sich der Datenschutz heute in einer Krise. Der letzte Deutsche Juristentag fragte besorgt: Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlaß, Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen?64 • Woher stammt diese Kritik? 2. Überregulierung

Das eine Problem steckt in Form einer "Zeitbombe" schon im Volkszählungsurteil. Bereichsspezifische und normenklare Regelungen wünschte sich das Gericht. Heutzutage würden die Verfasser des Urteils wohl die Hände über dem Kopf 64 Vgl. hierzu das Gutachten für den 62. Deutschen Juristentag, Kloepfer, Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlaß, Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen?, München 1998.

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zusammenschlagen und sagen: "Aber doch nicht so viele!" Dennoch liegt es in der Logik des Urteils. Wenn jede Datenerhebung und jeder Zweckwechsel bei der Nutzung eines gewonnenen Datums einer Ermächtigungsgrundlage bedarf, braucht man eben auch endlos viele davon. Schon 1984 haben kluge Köpfe prognostiziert, daß diese Forderung verbunden mit einer restriktiven Auslegung der Wesentlichkeitstheorie eine wahre Gesetzesflut zur Folge haben würde65 • Ängstlich neigt der Gesetzgeber in dem Bemühen, dem Bürger umfassenden Datenschutz zu gewährleisten, zu einer Überregulierung. Den einen oder anderen der vielen Datenschutzbeauftragten mag auch ein gewisser Selbsterhaltungstrieb dazu motivieren, das Normendickicht immer weiter wuchern zu lassen. Ein Blick in das nordrhein-westfälische Polizeigesetz zeigt uns: 25 von 68 Paragraphen widmen sich dem Datenschutz. Im neuen Strafverfahrensänderungsgesetz, mit dem nach nunmehr 16 Jahren der "Übergangszeit" endlich bereichsspezifisch Normenklarheit in der Strafprozeßordnung geschaffen werden soll, stehen Ihnen 33 neue Datenschutznormen ins Haus. Das Recht der Untersuchungshaft- zum Vergleich hat nur 30 Paragraphen. 3. Datenschutz und neue Medien

Gänzlich neue Problemfelder ergeben sich im Bereich der neuen Medien. An gesetzlicher Regulierung mangelt es hier ebenfalls nicht, jedoch stellt sich die Frage der praktischen Effektivität für den Grundrechtsschutz. Als Beispiel sei nur die Nutzung des Internets genannt. Hier sind je nach Art der Nutzung verschiedene Gefährdungspotentiale für das Recht auf informationeile Selbstbestimmung gegeben. So können Daten, die in Netzen übertragen werden, relativ unproblematisch (mit)gelesen werden. Aber auch beim bloßen Surfen im Internet, also dem Abruf von elektronischen Informationen, werden jederzeit Datenspuren hinterlassen 66 . Gerade hier ist eine Undurchschaubarkeil der Datenverarbeitung gegeben. Man kann sogar sagen, daß die im Internet vorgenommene Datenverarbeitung derart undurchschaubar ist, daß eine angemessene Kontrolle kaum möglich ist. Zudem sind die Überwachungssysteme zur Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen im Ausland keineswegs einheitlich. So existieren beispielsweise in den USA kaum Regelungen für den privatwirtschaftliehen Sektor67• Angesichts dieser Rahmenbedingungen macht ein nachträglich greifender Steuerungsansatz immer weniger Sinn. Der Schutz des Rechtes auf informationeile Selbstbestimmung kann nur noch wirksam gewährleistet werden, wenn präventive 65 Similis, Die informationeile Selbstbestimmung - Grundbedingung einer verfassungskonformen Informationsordnung, NJW 1984, 398. 66 Vgl. zu dieser Problematik Fuhrberg, Technische Sicherheit im Internet, K&R 1999, 21 (22 f.). 67 Siehe hierzu die Untersuchung Schwartzl Reidenberg, Data Privacy Law, Charlottesville 1996, S. 215 ff.

Das Grundrecht auf informationeHe Selbstbestimmung

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Schutzvorkehrungen ausgebaut werden. Es müssen also mehr Anreize für die Datenvermeidung und den Ausbau des Selbstschutzes der Bürger geschaffen werden68. Zugleich muß überlegt werden, wie der Staat den Bürger befahigen kann, sich selbst vor den neuen Herausforderungen zu schützen. Aufgabe des Staates wird daher zukünftig auch das Angebot von Aufklärungs- und Schulungsprogrammen ebenso wie die Bereitstellung von wirksamen Verschlüsselungstechniken sein69. Insbesondere der Einsatz von Verschlüsselungsverfahren ist flir die sichere Nutzung der neuen Medien unverzichtbar geworden70. 4. Verstärkung des Datenschutzes im privaten Sektor

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde im Volkszählungsurteil als klassisches Abwehrrecht gegen den Staat konstruiert. Man sah die Gefahr einer (totalen) staatlichen Kontrolle und Überwachung. Hieran hat sich im Grundsatz auch nichts geändert. Neu ist hingegen, daß sich die Wirtschaft zunehmend privater Informationen bemächtigt, um diese für ihre Geschäftsstrategien einzusetzen. Deutlich wird dies an neuen Werbestrategien, wie Datawarehouse und Databasemarketing71 , ebenso wie an dem eigenen mit Werbematerial überfüllten Briefkasten. Eine Informationsverarbeitung durch Private kann aber ähnliche Gefahrdungen für das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung hervorrufen, wie eine staatlicherseits durchgeführte. Zwar gilt auch heute schon das Datenschutzrecht für den privaten Bereich. Jedoch gibt es bislang immer noch einen gesetzgebefischen Wertungsunterschied zwischen dem öffentlichen und nichtöffentlichen Sektor. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Aufsichtsstrukturen. So wird die Einhaltung des Datenschutzes im privaten Bereich in der Regel nicht von den Datenschutzbeauftragten, sondern meist von den Innenministerien kontrolliert. Ob eine derartige Trennung angesichts 68 So auch Roßnagel, Globale Netze: Ohnmacht des Staates - Selbstschutz der Bürger, ZRP 1997, 26 (29 f.). 69 Bemerkenswert sind hierzu die neuen politischen Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland. Anfang 1999 wurde die Initiative des Ministeriums des Innern und des Wirtschaftsministeriums "Sicherheit im Internet" gegründet, die u. a. mit einer eigenen Hornepage, auf der auch eine Einführung in die Verwendung von Versch1üsselungsprogrammen gegeben wird, im Netz präsent ist. Weitere Informationen sind unter http:// www.sicherheitim-internet.de abrufbar (Stand 30. 6. 1999). 70 Die Verschlüsselung von elektronischen Daten in Netzen steht jedoch auch in einem stetigen Konflikt zu den Strafverfolgungsinteressen. Die Forderung nach einem Verschlüsselungsverbot stellt daher eine ebenso logische Konsequenz dar. Ob eine sinnvolle und angemessene Lösung möglich ist, erscheint angesichts des damit verbundenen Grundrechtsschutzes zweifelhaft. 71 Datawarehouse und Databasemarketing sind Werbemethoden, die Verbraucherprofile mittels neuer Computerprogramme erstellen. Es erfolgt also eine auf die individuellen Interessen des Verbrauchers abgestimmte Werbung. Siehe Möncke, Data Warehouses - eine Herausforderung für den Datenschutz, DuD 1998,561 (561 f.).

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des verschobenen Gefährdungspotentiales noch angemessen ist, ist zweifelhaft72 . Ebensowenig erscheint die rechtliche Irrelevanz der Datenerhebung ohne anschließende Verarbeitung im privaten Sektor als vertretbar. Es ist daher zu befürworten, daß die EG-Datenschutzrichtlinie keine Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich vornimmt und es bleibt zu hoffen, daß der Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie als Chance für die Modemisierung des Datenschutzes erkennt73 •

n Vgl. hierzu Pitschas, Bedeutungswandel des Datenschutzes im Übergang von der Industrie- zur lnformationsgesellschaft, in: Soko!, 20 Jahre Datenschutz - Individualismus oder Gemeinschaftssinn?, Düsseldorf 1998, S. 35 (36ff.). 73 Vgl. hierzu die Forderungen der Datenschutzbeauftragten Berlins, Brandenburgs, Bremens, Nordrhein-Westfalens und Schleswig-Holsteins, 10 Punkte für einen Politikwechsel zum wirksameren Schutz der Privatsphäre, abrufbar unter: http: //www.datenschutz-berlin.de/ doc/ de/ sonst/lOpunkte.htm (Stand: 30. 6. 1999).

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau Von Ursula Nelles

Schon der Umstand, daß ich als Strafrechtlerin und einzige(r) Nicht-Öffentlichrechtler(in) dieser Fakultät an dieser Ringvorlesung beteiligt bin, ist noch immer kennzeichnend für die soziale Wirklichkeit: Gleichberechtigung gilt als Sache der Frauen. Doch damit greife ich bereits vor.

I. Ausgangslage Wer den Art. 3 GG liest, fragt sich nach Studium des ersten Absatzes sogleich, was Absatz 2 Satz 1: ,,Männer und Frauen sind gleichberechtigt", zu bedeuten hat. Wenn alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, warum müssen Männer und Frauen noch einmal ausdrücklich genannt werden? Weiß doch jede(r), daß alle Menschen nun einmal in zwei verschiedenen biologischen Ausstattungen anzutreffen sind, die lediglich unterschiedliche Funktionen bei der Reproduktion der species "homo sapiens" betreffen, die ihrerseits wieder aus ihnen beiden gebildet wird. Die mögliche Auflösung dieses logischen Problems, daß in Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 Verschiedenes geregelt sein könnte, etwa in Absatz 1 ein verfassungsrechtliches Prinzip und in Absatz 2 Satz 1 ein subjektiv-individuelles Grundrecht, verfängt nicht, denn auch Absatz 1 soll nach ganz herrschender Meinung ein Grundrecht sein. 1 Um die Fassung des Art. 3 Abs. 2 S. 1 zu erklären, genügt es nicht, nur auf seine unmittelbare Entstehungsgeschichte zurückzugehen; der Blick muß darüber hinausreichen und zwar mindestens bis zu einem Ereignis, das in diesem Jahr ebenfalls, wenn auch weniger öffentlichkeitswirksam gefeiert wird: 80 Jahre Wahlrecht für Frauen. 1. Vorgeschichte des Art. 3 Abs. 2 S. 1

Art. 109 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung lautete: ,,Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten". Damit wurde klargestellt, daß (auch) Frauen jedenfalls wählen durften. In Art. 128 WRV I

Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 3. Aufl., 1995 Rdn. 2, 49.

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Ursula Nelles

wurde darüber hinaus gleicher Zugang zu staatlichen Ämtern und Funktionen geregelt; hier wurde die Beseitigung der .,Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte" ausdrücklich festgeschrieben. (Voraussetzung und) Folge war, daß ihnen damit auch der Zugang zu allen staatlichen Bildungseinrichtungen offenstand. Auch diese Normen nannten beide Arten von ,,Menschen" ausdrücklich - sieht man von der Formulierung im übrigen zunächst ab. Und auch die Erklärung dafür bedarf eines weiteren historischen Rückgriffs. Bekanntlich wurde Frauen bis zur Weimarer Reichsverfassung das Wahlrecht vorenthalten, nicht etwa, weil dies in der Reichsverfassung von 1871 ausdrücklich so geregelt gewesen wäre, sondern weil sie schlicht gar nicht vorkamen. Überall dort, wo man die Erwähnung von Frauen(rechten) vermuten würde, selbst wenn es um den Ausschluß oder die Verweigerung von Rechten ging, kamen Frauen nicht vor, weder in den Debatten um das Wahlrecht oder die Grundrechte der Deutschen in der Frankfurter Paulskirche, noch in den Verfassungen der Einzelstaaten oder in den neuen Freiheiten für Handel und Gewerbe? Eine der Methoden bestand in der Gleichsetzung des grammatikalischen Geschlechts eines Begriffs (genus) mit der biologischen und sozialen Realität (sexus und .,gender"), einem sprachlichen Trick also. Die Formulierung .,allgemeines, gleiches" Wahlrecht3 etwa wurde ohne weiteres so verstanden, daß .,jeder" Deutsche nur jeder männliche Deutsche sei.4 Vor dem Hintergrund dieser Rechtstradition erklärt und versteht es sich, daß eine Norm, die Frauen Rechte zubilligt, dies nur erreichen konnte, wenn sie Frauen ausdrücklich nannte, wie es in Art. 109, 128 WRV geschah. Anders allerdings als Art. 3 GG galten die Rechtssätze der Weimarer Reichsverfassung als Programmsätze, die die Gleichberechtigung zum staatlichen Programm machten, nicht aber als Individualgrundrechte, aus denen einzelne unmittelbar Rechte herleiten oder gar einklagen konnten. Folge dieser Regelungstechnik und zugleich Folge auch der Formulierung, die Frauen nur .,grundsätzlich" (= .,Keine Regel ohne Ausnahme!") gleiche Rechte zubilligte, war, daß sich in den kommenden Jahren nur wenig an der Rechtsstellung der Frauen insgesamt änderte. Diese Erkenntnis setzte sich schnell durch, so daß die Juristin Elisabeth Seibert - auf deren Bedeutung für Art. 3 GG ich später eingehen werde - ihren Redebeitrag auf 2 Vgl. im einzelnen Ute Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert (1978), S. 36 ff. J Art. 20 Abs. I der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 lautete: ••Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor." 4 Diese Willkürlichkeit dieser .,Methode" hatte bereits Louise Otto in der letzten Nummer ihrer Frauen-Zeitung (1850, Nr. 51 - Nachdruck 1980) angeprangert: ,.Wir wissen. daß die Gleichheit von Männern und Frauen vor dem Gesetz bis jetzt noch nicht existiert•... , wir wissen, daß die Gesetze welchem im allgemeinen von ,Staatsbürgern' handeln, höchst willkürliche Auslegung finden in Bezug auf die Staatsbürgerinnen. daß diese in dem einen Fall (bei der Steuerpflicht) als solche anerkannt werden und mitzählen, im anderen hingegen als gar nicht existierend betrachtet werden, und dies alles infolge einer schweigenden Übereinkunft."

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau

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der Frauenkonferenz der SPD im Jahre 1920 - zu Recht - mit folgendem Satz begann: "Ein Gedanke hat meine besondere Beachtung gefunden, nämlich der, daß wir heute zwar die Gleichberechtigung für unsere Frauen haben, daß diese Gleichberechtigung aber immer noch eine papierne ist.'s Diese Erfahrung hatten die ,,Mütter des Grundgesetzes" noch deutlich vor Augen, als sie Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden.

2. Unmittelbare Entstehungsgeschichte des Art. 3 Abs. 2 GG

Art. 3 Abs. 2 GG bestand zunächst ausschließlich in dem Satz: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", Satz 2 der heutigen Fassung ist erst Produkt der Verfassungsreform von 19946 . Die Geschichte dieses Absatzes kann als das Werk Elisabeth Selberts bezeichnet werden, die eine der vier Mütter des Grundgesetzes7 war, neben 62 Vätern. Ihr eigentliches politisches Ziel war die Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit. Um Gleichberechtigung hatte sie sich zunächst in der Arbeit im Parlamentarischen Rat nicht weiter bemüht, weil sie davon ausging, daß dieser Satz selbstverständlich und ohne Kampf über die Bühne gehen würde, wie sie es in ihren Lebenserinnerungen später selbst formulierte. 8 Das aber war ein Irrtum. In den Sitzungen des zuständigen Grundsatzausschusses hatten sich die Väter - Selberts eigene Genossen eingeschlossen - für folgende Fassung ausgesprochen: ,,Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten", ergänzt um den Zusatz: "Gleiches muß gleich, Ungleiches nach seiner Eigenart behandelt werden." 9 Als Juristin erkannte Seibert nicht nur den Satz wieder, sondern begriff auch, daß hinter dieser Fassung der Ruf stand: "Frauen zurück an den Herd", und schaltete sich ein. Ihr erster Antrag, Art. 3 Abs. 2 so zu fassen, wie sein heutiger Satz I lautet, wurde im Grundsatzausschuß abgelehnt. Die maßgebliche Begründung dafür war, daß die Einführung eines solchen Grundrechts die sofortige und autos Protokoll der Frauenkonferenz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Kassel 9./10. 10. 1920; auszugsweise abgedruckt bei Barbara Böttger, Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Seibert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz ( 1990), s. 131 f. 6 Dazu unten 111. 3. 7 Die anderen waren Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessei (Zentrum). x Böttger (Fn. 5), S. 163. 9 Anstelle von Einzelnachweisen aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates wird verwiesen auf Carmen Sitter (Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Die vergessenen Mütter des Grundgesetzes, 1995, S. 61 ff.), die die Redebeiträge und Aktionen der Parlamentarierinnen minutiös nachgezeichnet, belegt und ausgewertet hat.

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Ursula Nelles

matische Verfassungswidrigkeit weiter Teile des BGB und einer Vielzahl weiterer Gesetze zur Folge haben würde, und solche Änderungen seien nicht zu leisten. Seibert, die inzwischen die drei weiteren ,,Mütter" hinter sich gebracht hatte, wiederholte ihren Antrag im Hauptausschuß. Noch vor der Abstimmung drohte sie unter Hinweis darauf, daß auf 100 abstimmungsberechtigte männliche Wähler 170 weibliche kamen, mit der Öffentlichkeit: "Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, daß in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, daß u. U. die Annahme der Verfassung insgesamt gefährdet ist." Als sie dennoch unterlag, zog sie als "Wanderpredigerin", wie sie es selbst nannte, auf Güterzügen, Fahhrädem und sonst v~rfügbaren Transportmitteln durch das zerbombte Land und betrieb in unzähligen Veranstaltungen Aufklärungsarbeit. 10 Es erhob sich tatsächlich um die Jahreswende 1948/49 über alle Partei-, Konfessions- und Berufsgrenzen hinweg so etwas wie ein .,Frauenlandsturm" 11 von Heuss später als "Quasi-Stürmlein" abgetan 12 • "Körbeweise" 13 gingen danach Protestschreiben beim Parlamentarischen Rat ein. 14 Die Aktion zeigte Wirkung. Es folgte - in den Worten Selberts - "ein gewisses Gestammel von allen Seiten. ,Wir waren ja nicht wirklich dagegen; wir wollten nur nicht das Rechtschaos, aber wir sehen ja ein, was wir den Frauen schuldig sind.' Man wollte es natürlich irgendwie ein bißeben verschleiern, daß man vorher nein gesagt hatte." 15 In der entscheidenden Abstimmungsrunde setzte sich dann der Vorschlag von Seibert - der heutige Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG - durch. Zugleich wurde in Art. 117 Abs. 2 GG eine Frist bis zum 31. 3. 1953 gesetzt, um das geltende Recht an die neue Verfassung anzupassen.

11. Auswirkungen des Art. 3 Abs. 2 auf die gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik Wie dies geschehen ist und damit zugleich, wie Art. 3 Abs. 2 S. 1 (auch) die gesellschaftliche Wirklichkeit (ein wenig) verändert hat, will ich im folgenden am Beispiel des Familienrechts zeigen. Auch insoweit muß jedoch zunächst die AusgangsJage in groben Zügen rekapituliert werden. Seibert, Tonbandprotokolle, abgedruckt bei Böttger (Fn. 5), S. 165. V gl. nur die Redebeiträge in der zweiten Sitzung des Hauptausschusses, abgedruckt bei Böttger(Fn. 5), S. 215ff. 12 Seibert, Tonbandprotokolle, abgedruckt bei Böttger (Fn. 5), S. 166. 13 Seibert, Tonbandprotokolle, abgedruckt bei Böteger (Fn. 5), S. 165; s. auch Deutscher Juristinnenbund (Hg.), Juristinnen in Deutchland, 3. Auf!. 1998, S. 193. 14 Verschiedene Beispiele sind abgedruckt jeweils bei Böteger (Fn. 5), S. 202 ff. und Sitter (Fn. 8), S. 71 ff. IS Seibert, Tonbandprotokolle, abgedruckt bei Böttger (Fn. 5), S. 166. IO

II

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau

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1. Das Familienrecht zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes

Das BGB, so wie es vom Grundgesetzgeber vorgefunden wurde, enthielt im Familienrecht eine Vielzahl von Regelungen, die nach Art. 3 Abs. 2 GG - vorsichtig formuliert- problematisch (geworden) waren. Es folgen einige Beispiele 16: I) Dem Ehemann stand in allen Angelegenheiten, die das eheliche Leben betreffen, das alleinige Entscheidungsrecht zu. Das bedeutete im einzelnen etwa: - Er bestimmte Wohnort und Wohnung der Familie. - Er durfte den Umgang der Frau mit Verwandten, Freundinnen, ihre Lektüre, ihre Kleidung, ihren Briefverkehr etc. kontrollieren. - Mit der Eheschließung mußte die Frau ihren Namen aufgeben. - Die Frau war verpflichtet, das gemeinsame Hauswesen zu leiten aber auch, wenn gewünscht, Tätigkeiten im Geschäft des Mannes zu übernehmen und zwar ohne Anspruch auf Entgelt. - Das Vermögen der Frau fiel in den Güterstand der "ehelichen Verwaltung und Nutznießung" des Mannes; die Frau bedurfte zur Verfügung auch über das von ihr selbst eingebrachte Vermögen immer der Zustimmung ihres Ehemannes. Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit stand ihr dagegen selbst zu, allerdings konnte der Ehemann mit Zustimmung des Vormundschafts(!)gerichts Dienst- und Arbeitsverträge der Frau kündigen, wenn die Frau durch ihre Erwerbstätigkeit den sich aus der ehelichen Gemeinschaft ergebenden Pflichten entzogen wurde. 2) Kinder standen zwar unter "elterlicher" Gewalt, gemeint war aber die väterliche, denn nur der Vater hatte das Recht und die Pflicht für Person und Vermögen des Kindes zu sorgen; die Mutter hatte nur das Personensorgerecht Das hieß konkret, daß nur der Vater gesetzlicher Vertreter der Kinder war. Bei Meinungsverschiedenheiten, auch über die Personensorge, stand dem Vater das Letztentscheidungsrecht zu, der sogenannte "Stichentscheid". 3) Scheidung konnte grundsätzlich nur aufgrund schwerer schuldhafter Eheverfehlung des je anderen Teils begehrt werden. Dem "schuldig geschiedenen" Teil stand kein Unterhaltsanspruch zu, und das Sorgerecht für die Kinder ging ausschließlich an den "unschuldig" Geschiedenen. 4) Nichteheliche Kinder und die nichtverheiratete Mutter hatten so gut wie keine Ansprüche gegen den Vater des Kindes. Kind und Vater galten als nicht verwandt.

16 Ein zusammenfassender Überblick findet sich bei Gerhard (Fn. 2), S. 116 ff. sowie in Deutscher Juristinnenbund (Hg.), Juristinnen in Deutschland, 2. Aufl. 1989, S. 29ff.

4 Pieroth

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Ursula Nelles 2. Die Änderungen des Familienrechts unter dem Einfluß des Art. 3 Abs. 2 S.l GG 17

Viel zu spät, erst im Oktober 1952. ca. 6 Monate vor dem Stichtag des Art. 117 Abs. 2 GG, legte die damalige Bundesregierung den Entwurf eines Gleichberechtigungsgesetzes vor. Da es nicht mehr rechtzeitig verabschiedet werden konnte und ein Verfassungsänderungsantrag, die Frist bis 1955 zu verlängern, nicht die erforderliche Mehrheit fand, entstand nach dem 31. 3. 1953 eine Art von familienrechtlichem Vakuum. Das Bundesverfassungsgericht erklärte im Dezember 1953 (unter maßgeblichem Einfluß der Richterin des Bundesverfassungsgerichts Dr. Erna Scheffler als zuständiger Berichterstatterin) Art. 3 GG für unmittelbar geltendes Recht, schränkte aber das Differenzierungsverbot teilweise ein: ,,Differenzierungen, die auf Unterschiedlichkeit der Lebensumstände beruhen, bleiben vom Differenzierungsverbot unberührt."18 Der Mann leiste seinen Beitrag durch außerhäusliche Erwerbstätigkeit und Bereitstellung von Barmitteln, die Frau durch Haushaltsführung und Sorge für die Kinder. Dennoch brachte die Bundesregierung in der folgenden Legislaturperiode ihren Gesetzentwurf erneut ein, der viele der männlichen Vorrechte des ursprünglichen BGB aufrechterhielt. Erst am 18. 6. 1957 wurde das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet. Beseitigt wurde zwar das alleinige Entscheidungsrecht des Mannes in allen Fragen des ehelichen Lebens. Auch der gesetzliche Güterstand wurde geändert; es wurde die Zugewinngemeinschaft eingeführt, d. h. Gütertrennung mit Teilung des während der Ehe erwirtschafteten Zugewinns bei Beendigung der Ehe. Im Bereich der elterlichen Gewalt blieb es aber bei der Alleinvertretung und beim Letztentscheidungsrecht des Vaters. Auch das Scheidungsrecht blieb weitgehend unverändert; nach wie vor gilt das Verschuldensprinzip mit allen seinen Folgen. Juristinnen, die die gesamte Reformdiskussion mit eigenen Stellungnahmen und Äußerungen begleitet hatten, nahmen sich danach zunächst des sog. Stichentscheids an. Rechtsanwältin Müller-Lütgenau aus Düsseldorf brach mit ihrem freundlichen und kooperativen Gatten einvernehmlich einen Streit vom Zaun, die Erziehung eines der drei gemeinsamen Kinder betreffend, und transportierte die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Stichentscheids über alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht. 19 Dieses erklärte 1959 den väterlichen Stichentscheid und die rechtsgeschäftliche Alleinvertretung durch den Vater für verfassungswidrig?0 17 Ein Überblick über die Entwicklung des Familienrechts seit lnkrafttreten des Art. 3 GG findet sich in Deutscher Juristinnenbund (Fn. 16 und 13), S. 71-97. 18 BVerfGE 3, 225 f. 19 Siehe dazu Deutscher Juristinnenbund (Fn. 16), S. 40. 20 BVerfG 10, 59.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau

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Erst 1969 wird durch das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder rechtlich anerkannt, daß das Kind mit seinem Vater verwandt ist und damit (u. a.) eigene Unterhaltsansprüche gegen ihn hat. Die nächste Etappe war das Erste Eherechtsreformgesetz aus dem Jahre 1976. Der Gesetzgeber verzichtet hier erstmals darauf, ein Modell für das eheliche Leben vorzugeben und verabschiedet sich vom Leitbild der Hausfrauenehe. Im Scheidungsrecht wird das Verschuldensprinzip durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst. 21 Entsprechend richten sich Unterhaltsansprüche nicht mehr nach Schuld oder Unschuld, sondern nach Bedürftigkeit. Im Jahre 1979 dann folgte erst das Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge, das vor allem den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts22 erfüllen sollte, in der Erziehung die Menschenwürde und das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes zu achten. Statt "elterlicher Gewalt" heißt es jetzt "elterliche Sorge", die Vater und Mutter gemeinsam zusteht. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen die Eltern versuchen sich zu einigen. Gelingt das nicht, kann das Vormundschaftsgericht auf Antrag einem der beiden allein die Entscheidung übertragen. Durch Gesetz zur Änderung unterhaltsrechtlicher, verfahrensrechtlicher und anderer Vorschriften vom 20. 2. 1986 wurden die in der Realität frauenfreundlicheren Regelungen des Eherechtsreformgesetzes 1976 nach erbitterten Debatten gegen das angebliche "Scheidungsunrecht" zurückgeschraubt. Das Gesetz läßt eine zeitliche Begrenzung verschiedener Unterhaltsansprüche zu und durch Ausweitung der sogenannten "Härteklausel" das Verschuldensprinzip durch die Hintertür wieder einfließen. Nach zwei vergeblichen Anläufen23 entschied das Bundesverfassungsgericht dann im März 1991, daß das Namensprivileg des Ehemannes verfassungswidrig sei. 24 Bis dahin hatte noch immer gegolten, daß jedenfalls dann, wenn die Partner sich nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen konnten, von Gesetzes wegen der Name des Mannes Ehename wurde. Die jüngsten Reformen aus dem Jahre 1997 beinhalten vor allem Änderungen im Kindschaftsrecht Unter Gleichberechtigungsgesichtspunkten nimmmt dieses Gesetz nur in einem Punkt eine längst überfällige Korrektur vor: Die automatisch eintretende gesetzliche Amtspflegschaft des Jugendamtes für bestimmte Angelegenheiten des nichtehelichen Kindes wird beseitigt und damit der nicht verheirateten Frau erstmals die uneingeschränkte elterliche Sorge über ihr eigenes Kind zugestanden. 21 Die Idee und die erste grundlegende Arbeit zu diesem Scheidungsmodell stammt von Elisabeth Seibert, die im Jahre 1930 an der Universität Göttingen promovierte mit ihrer Arbeit über ,,Ehezerrüttung als Scheidungsgrund". - Diese Arbeit ist freilich während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens niemals offiziell zitiert worden. 22 Aus dem Jahre 1959, Fn 20. 23 Siehe dazu Struck. NJ 1991, 390. 24 BVerfGE 84, 9. 4•

Ursu1a Nelles

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Am Beispiel des Familienrechts, dessen Änderungen Schritt für Schritt erst erkämpft werden mußten, wird deutlich, daß das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 2 jedenfalls das Recht geändert hat und mit ihm die Rahmenbedingungen für die soziale Wirklichkeit nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern, denn Recht hat insoweit unterschiedlos Gültigkeit. Es gibt unzählige weitere Beispiele, denn das gesamte Recht war durchsetzt mit vergleichbar diskriminierenden Regelungen, die als solche heute weitgehend eliminiert sind. Daß Änderungen des Rechts allein indessen die Wirklichkeit nicht in gleichem Maße und schon gar nicht in gleichem Tempo verändern, läßt sich vor allem an der unterschiedlichen Beteiligung von Männern und Frauen am Erwerbsleben ablesen. Diesen Aspekt vor allem will ich aufgreifen, wenn es um die Frage geht, wie die Wirklichkeit, die mit der Norm nicht schrittgehalten hat, die Norm verändert hat. 111. Die soziale Realität und ihre Auswirkungen auf Auslegung und Änderung des Art. 3 GG Trotz aller Bemühungen, die offensichtlich diskriminierenden Gesetze zu beseitigen, und trotz aller faktischen Verbesserungen der Bildungschancen und der Handlungsspielräume von Frauen hat sich die tatsächliche Gleichheit der Chancen letztlich nicht oder jedenfalls nicht auf allen Gebieten eingestellt. Der Einfluß des historischen Gesellschafts- und Rollenbildes der Frau (und Mutter) läßt sich an Hand ihrer Teilhabe an beruflichen und wirtschaftlichen Ressourcen ablesen. 1. Einige Daten zur strukturellen Diskriminierung

Zwei Drittel aller Frauen sind in nur 10 Berufen beschäftigt: Kaufmännische Angestellte (21 ,9%), Gesundheitsdienstberufe ohne Ärztinnen (9,7% ), Verkaufspersonal (8,6% ), Soziale Berufe (5,6% ), Reinigungs- und Entsorgungsberufe (5 %), Lehrerinnen (4,4 %), Rechnungskauffrauen, Informatikerinnen (3,4 %), Groß- und Einzelhandelskauffrauen (3,2 %), Bank-, Bausparkassen-, Versicherungsfachfrauen (2,7 %), Berufe in der Unternehmensberatung und -prüfung (2,4 %).25 Die als selbstverständlich vorausgesetzte Zuständigkeit von Frauen für die Familien- und Reproduktionsarbeit läßt sich auch an dem Anteil von Frauen ablesen, die in sogenannten ,,Normalarbeitsverhältnissen" tätig sind 26:

2!!

26

Mikrozensus 1997, Statistisches Bundesamt (StBA. R 4.1.2, 1997). Mikrozensus, Arbeitnehmerüber1assungsstatistik der BA, aus: Hoffmann/Walwei, 1998.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau

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Männer

Frauen

1985

1995

1985

1995

Normalarbeitsverhältnisse (Angestellte, Arbeiter I innen, Vollzeit, unbefristet, ohne Leiharbeit)

66

65

48

44

Tempörär Vollzeitbeschäftigte (befristete Beschäftigte, Leiharbeit)

3

4

3

3

Sonstige abhängig Vollzeitbeschäftigte (Beamte, Soldaten, Auszubildende)

17

13

10

7

Abhängige Teilzeitbeschäftigte

2

5

27

37

Selbständige und Mithelfende außerhalb der Landwirtschaft

9

11

7

7

Selbständige und Mithelfende in der Landwirtschaft

3

2

5

2

Neben diesem noch immer vom klassischen Rollenmodell beeinflußten Bild der Erwerbstätigkeit generell fiel - und fallt - auch die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen und von Einfluß in Politik, Wirtschaft und Verwaltung auf. Unter 10 steuerpflichtigen Personen mit Einkünften über 100.000 DM im Jahr waren 1992 neun Männer und nur eine Frau?7 Ihr Anteil an den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Landtage entspricht bei weitem nicht ihrem Anteil an der wählbaren Bevölkerung. 28 Auch auf kommunaler Ebene sind zwar rund 47% der Beschäftigten (Beamte, Angestellte und Arbeiter I innen) Frauen; ihr Anteil an den Beförderungsämtern liegt aber erheblich darunter. Wahrend im Eingangsamt A 13 der Frauenanteil noch 28,7% beträgt, nimmt er in den Beförderungsämtern kontinuierlich ab: A 14 (16,0 %), A 15 (13,3 %), A 16 (7,9 %) und in der Besoldungsgruppe B (5,1 %). 29 Wahrend inzwischen knapp 50% aller Studierenden Frauen sind, sinkt ihr Anteil an den Habilitand/innen auf 12,9% und ihr Anteil an den Professor/inn/ en auf insgesamt 8,2%.30 Die Liste von Ungleichgewichtigkeiten ließe sich beliebig verlängern; sie füllt ganze Bücher. 31 Man kann die mangelnde Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen in der Terminologie der Soziologen als das Phänomen der "gläsernen Decke" bezeichnen. Damit ist das Problem aber allenfalls beschrieben, nicht jedoch erklärt. Statt dessen sollte man nach Webfehlern im System suchen, den Strukturen also, die diskriminierend wirken. 27

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Statitisches Bundesamt (Hg.), Im Blickpunkt: Frauen in Deutschland, 1998, S. 93. Zusammenstellung der Prozentzahlen im einzelnen Stat. Bundesamt (Fn. 27), S. 142 ff. Statitisches Bundesamt (Fn. 27), S. 72. Statitisches Bundesamt (Fn. 27) S. 51 ff. S. nur Statistisches Bundesamt (Hg.), Im Blickpunkt: Frauen, 1998.

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Daß es so etwas gibt, wird unmittelbar anschaulich durch eine Spruch von Anatole France, der in den 70er Jahren sehr populär wurde: ,,Das Recht in seiner majestätischen Gleichheit verbietet Armen und Reichen gleichermaßen, unter Brücken zu schlafen." Dieser Satz macht zwei Dinge deutlich: 1) Auch wenn eine Norm generell abstrakt einen Tatbestand regelt und für alle Normadressaten gleichermaßen gilt, hat sie für einzelne dennoch ganz unterschiedliche Auswirkungen. 2) Wenn Recht gleiche Chancen gewähren will, muß es den unterschiedlichen

Ausgangsbedingungen Rechnung tragen, indem es entweder die Chancen des einen um die des anderen reduziert.

Recht kann also auch indirekt diskriminierend sein, wenn es an Kriterien anknüpft, die sich de facto in dem betreffenden Lebensbereich strukturell zu Lasten eines der beiden Geschlechter auswirken. Eine solche objektive Ungleichbehandlung ist nur zulässig, wenn sie nichts mit Diskriminierung des Geschlechts zu tun hat.32 2. Grundrechte als Teilhaberechte - "Frauenförderung''

In der verfassungsrechtlichen Diskussion hat sich diese Erkenntnis in einem Perspektivwechsel niedergeschlagen. Während die Grundrechte im klassischen Sinn bis heute jedenfalls in erster Linie in ihrer Funktion als liberale Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat betrachtet werden, setzte sich seit den 70er Jahren mehr und mehr die Auffassung durch, daß gleiche Rechte zu haben noch lange nicht bedeutet, auch gleichen Zugang dazu zu haben. Die Grundrechte werden deshalb heute auch als Teilhaberechte verstanden, die einen objektiven Gehalt haben, der den Staat verpflichtet, über die Wahrung der Grundrechte zu wachen und nötigenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um sie durchzusetzen.33 Spätestens seit dem ersten Abtreibungsurteil 34 im Jahre 1975 war es nicht mehr länger eine Frage, und im Rentenbeschluß 35 aus dem Jahre 1987 stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klar, daß Grundrechte auch einen objektiven Gehalt haben, daß also der Staat positive Maßnahmen ergreifen darf (und muß36), um etwa bestehende Nachteile auszugleichen. Friauf ist im Auftrag des damaligen Bundesinnenministers der Frage nachgegangen, ob eine Verpflichtung des Staates bestehe, die Gleichberechtigung der Frau in den verschiedenen Lebensbereichen durch aktive Förderung oder UnterBVerfGE 52, 369. Siehe dazu die zusammenfassende Darstellung von Erichsen, Jura 1987, S. 85 ff. m.w.N. 34 BVerfGE 39, 1. 3S BVerfGE 74, 163. 36 BVerfGE 88, 203 (zweites Abtreibungsurteil). 32 33

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stützung zu gewährleisten. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß ja. Dieses im Jahre 1981 veröffentlichte Gutachten 37 kann als die Grundlage ftir die Quotendiskussion und die Einführung der sogenannten "Quote" betrachtet werden. Schon 1981 beschloß die FU als erste Institution in Deutschland, daß Frauen bei gleicher Qualifikation mit Mitbewerbern um eine Stelle oder Beförderung vorrangig zu berücksichtigen seien. 38 Weitere Institutionen folgten. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß faktische Nachteile, die überwiegend Frauen treffen, durch begünstigende Reglungen ausgeglichen werden dürfen, ohne daß hierin zugleich eine Verletzung des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG liegt. 39 Es gestattete also die bevorzugende Ungleichbehandlung zugunsten des faktisch und strukturell benachteiligten Geschlechts. Quotenregelungen sind vor diesem Hintergrund nicht "Frauen"-Quoten, sondern Verteilungsregeln. Es geht darum, die ,,Männerquote" - nimmt man etwa das Beispiel der juristischen Fakultät: von zur Zeit 94% - auf das nach der Verteilung von Männern und Frauen in der Bevölkerung angemessene Maß von 50% zu reduzieren. Dem liegt die statistisch nicht widerlegbare Vermutung zugrunde, daß bei hinreichend großen Grundgesamtheilen die Fähigkeiten und Kapazitäten gleichmäßig und nach der Normalverteilung verteilt sind. Mit anderen Worten: es gibt gleich viele hochbegabte Männer wie Frauen, gleich viele ,,Dumme" und gleich viele Normalbegabte in beiden Gruppen. Quoten40 gibt es seitdem in verschiedensten Regelungsformen: als unverbindliche Absichtserklärungen, als Verfahrensregelungen, die entweder das Ziel festlegen, das innerhalb eines - mehr oder weniger - bestimmten Zeitraums erreicht werden soll (sog. Ziel- oder Ergebnisquoten); sie können sich auf unterschiedliche Bezugsgrößen stützen (entweder Bevölkerungsstatistik, Anteil von Männern und Frauen an bestimmten Eingangs- oder Qualifikationsstufen) und solange gelten, bis die Unterrepräsentanz von Frauen ausgeglichen, bzw. die Überrepräsentanz von Männem abgebaut ist. Die meisten Quotenregelungen setzen heute als sachliches Kriterium die (mindestens) gleiche Qualifikation voraus. Hier aber steckt der Teufel im Detail. Wann sind zum Beispiel Professor I inn I en, die sich um dieselbe Stelle bewerben "gleich" qualifiziert? Wenn die Liste der Veröffentlichungen gleich lang ist? Wenn sie gleich "gut" lehren können? Wenn ihre wissenschaftliche Reputation gleich "hoch" ist? Und wie mißt man dieses? Da diese Fragen bereits zum letzten Teil meines Vortrages, den Zukunftsperspektiven, überleitet, möchte ich zunächst die Frage nach den Rückwirkungen der Wirklichkeit auf Art. 3 Abs. 2 beantworten. 37 Friauj. Gleichberechtigung der Frau als Verfassungsauftrag ( Schriftenreihe des Bundesministeriums des Innem, Bd. 11 ), 1981. 38 S. dazu PfarriFuchsloch, NJW 1988,2201. 39 BVerfGE 85, 191, 207. 40 Im Überblick: Schiek I BuhrI Dieball I Fritche I Klein-Schonnefeld I Malzahn I Wanke[, Frauengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder, Kommentar, 1996, Eint. Rdnr. 7 ff.

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3. Einführung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG

Weil die Wirklichkeit sich nicht so entwickelte, wie Art. 3 Abs. 2 S. 1 es apodiktisch behauptet, weil also Männer und Frauen nicht gleichberechtigt sind, wurde die Verfassungsdiskussion, die nach der Wiedervereinigung einsetzte, zum Anlaß genommen, Art. 3 Abs. 2 um den Satz zu ergänzen: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Die Diskussion in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat41 wurde - wieder einmal - hochkontrovers geführt.42 Im Prinzip war zwar schnell Einigkeit über das Ob eines solchen Zusatzes erreicht, der die verfassungsrechtliche Interpretation lediglich festschreiben sollte. Die Formulierung war aber im Detail so umstritten, daß die Debatte über diesen Punkt insgesamt zu Streit und schließlich Stillstand führt. Sechs Ministerinnen, die Mitglied der Kommission waren, initiierten gemeinsam mit Frauenverbänden, darunter als Wortführer der Deutsche Juristinnenbund, ein Treffen aller beteiligten Frauen. Dort konzentrierte man sich ausschließlich darauf, eine Kompromißformel zu finden, die dann schließlich als der heutige Satz 2 des zweiten Absatzes akzeptiert wurde.43 Aber selbst dazu bedurfte es - wieder einmal - des Drucks der (Frauen-) Öffentlichkeit: Es wurden nicht nur Unterschriftenaktionen durchgeführt, sondern es gingen insgesamt über 200.000 Schreiben bei der Gemeinsamen Verfassungskommission ein.44 Tatsächlich handelte es sich um einen Formelkompromiß, der schon in der weiteren Diskussion der GVK zu verschiedenen Interpretationen führte. Es blieb weiter unklar, ob danach etwa eine Ergebnis-Quote zulässig sei. Es blieb unklar, ob es sich dabei um die Bestimmung eines Staatszieles oder um einen Verfassungsauftrag handelte. Einzig insoweit sicheres Ergebnis war, daß Satz 2 kein Individualgrundrecht gewährt, bestimmte Maßnahmen des Staates einzuklagen, sondern daß es sich um eine Bestimmung handelt, die geeignet ist, den Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG zu stützen.

IV. Ausblick Es zeichnen sich zwei Dimensionen ab, die die künftige Entwicklung beeinflussen werden. Zum einen wird mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit der Kampf um Erwerbsarbeitsplätze härter werden. Das heißt auch, daß die Quote deutlicher und schärfer 41 42

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Siehe dazu Überblick bei Rohn/ Sannwald, ZRP 1994, S. 65 ff. S. Deutscher Juristinnenbund (Fn. 13 Auf!.), S. 59 ff. Zusammenfassend dazu König, DÖV 1995, S. 837 ff. S. Deutscher Juristinnenbund (Fn. 13) S. 62.

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in ihrer Eigenschaft als mögliches Zugangshindernis für Männer diskutiert werden wird. Es wird also der je individuelle Mitbewerber auf dieselbe Position die "Bevorzugung" einer Frau gleicher Qualifikation zunehmend als Verletzung seines Grundrechts aus Art. 3 Abs. 2 S. I GG geltend machen. Soweit die dem EuGH vorgelegten Fälle symptomatisch sind, sind es ganz überwiegend Männer, die gegen die Entscheidung eines Arbeitgebers bzw. einer Behörde zugunsten einer Bewerberin, Klage führen. Zum anderen wird die Entwicklung überlagert durch europäische und internationale Regelungen. Die Gleichbehandlungsrichtlinien der EG45 unterstreichen die Zulässigkeit von positiven Maßnahmen zur Durchsetzung der Gleichstellung. Art. 119 EGV garantiert überdies etwas, das Elisabeth Seibert im Parlamentarischen Rat noch vergeblich gefordert hatte, nämlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das UN-Gleichstellungsübereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten zu regelmäßiger Berichterstattung über den tatsächlichen Zustand. Auf dieser Ebene wurde und wird - vorzugsweise durch die Rechtsprechung des EuGH- zukünftig mehr bewegt werden, als Art. 3 Abs. 2 S. I GG für die Zukunft noch zu leisten vermag. Der EuGH hat - und hier komme ich auf die Quote zurück - mehrfach Gelegenheit gehabt, sich (aufgrund männlicher Konkurrentenklagen) mit deutschen Gleichstellungsgesetzen einschließlich der Quote zu befassen. Im Jahre 1995 hat der EuGH das Gleichstellungsgesetz des Landes Bremen für nicht europarechtskonform erklärt,46 weil nach dessen Regeln Gleichqualifikation automatich dazu führte, daß die Frau eingestellt bzw. befördert wurde. Im Jahre 1997 stand dann das nordrhein-westfälische Gleichstellungsgesetz auf dem Prüfstand, dessen Quotenregelung - anders als die des Landes Bremen - den Zusatz enthielt: ". . . es sei denn, daß in der Person des Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen." Mit Rücksicht auf diese sogenannte Öffnungsklausel hielt der EuGH diese Regelung für europarechtlich unbedenklich.47 Er wies zugleich darauf hin, daß bei der Feststellung "gleicher" Qualifikation solche Kriterien unzulässig sind, die strukturell Männer bevorzugen. Dazu gehört etwa das Dienstalter, denn - statistisch betrachtet, und nur darum geht es, - haben Männer bei gleichem Alter und gleicher beruflicher Qualifikation regelmäßig mehr Dienst- bzw. Berufsjahre aufzuweisen als Frauen, die häufig eine Familienphase einschieben. Unzulässig ist es danach auch, darauf abzustellen, wieviele Kinder jemand finanziell zu unterhalten hat, denn weil sich Männer regelmäßig in geringerem Umfang in die tatsächliche Reproduktionsarbeit einbinden, können sie sich viele Kinder und ein ,,Normalarbeitsverhältnis" leisten, während es für Frauen faktisch noch oft auf ein "entweder I oder" hinausläuft. Abgedruckt bei Schiek/ Buhr u. a. (Fn. 40), S. 51 ff. EuGH v. 17. 10. 1995 (Kalanke), NJW 1995,3109. 47 EuGH v. II. II. 1997 (Marschall), NJW 1997, 3429; s. dazu Ott, ZfBeamtR 1998, 121 ff. 4S

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Für den Zustand in Deutschland und mit Blick auf die fortdauernde Berechtigung und Notwendigkeit des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist aber interessanter, wie diese Entscheidungen des EuGH rezipiert werden. Das OVG Saarland48 , das OVG Schleswig49 und das VG Gelsenkirchen50 haben - wohlgemerkt nach der Marschall-Entscheidung des EuGH jeweils im vergangen Jahr Konkurrentenklagen männlicher Mitbewerber gegen die Einstellung bzw. Beförderung einer Mitbewerbetin stattgegeben, indem sie rügten, das Dienstalter sei bei der Entscheidung zuungunsten des Mannes zu Unrecht nicht berücksichtigt worden. Es sei wesentliches Kriterium für die "Gleich"-Qualifikation. Die Aussichten, die sich daraus ergeben, sind alles andere als ermutigend.

Beschl. v. 19. l. 1998-12 F 197/97. Beschl. v. 6. 3. 1998-3 M 24/97. so Beschl. v. 4. 2. 1998-1 L 4246/97.

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Rundfunkfreiheit Zum Einfluß des Bundesverfassungsgerichts auf Rundfunkrecht und Rundfunkpolitik Von Hans D. Jarass

I. Einführung 1. Prägende Bedeutung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit in seiner Konkretisierung durch das BVerfG

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rundfunkfreiheit erfährt seit vielen Jahren in Wissenschaft und Praxis zugleich ausgeprägte Zustimmung wie dezidierte Kritik. Die Entscheidungen des Gerichts stoßen auf Lob und Unterstützung, aber auch auf deutliches Unverständnis. 1 Nun ist ein solcher Gegensatz in der Rechtswissenschaft nichts Ungewöhnliches. Im Rundfunkrecht ist er aber besonders ausgeprägt. Befürworter und Kritiker der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehen sich teilweise geradezu unversöhnlich gegenüber. In zwei Punkten sind sich aber Befürworter sowie l(ritiker einig: Das gesamte Rundfunkrecht wird weit mehr als andere einfachrechtliche Bereiche durch das Verfassungsrecht geprägt.2 Und zweitens: Diese Prägung ist maßgeblich das Werk des Bundesverfassungsgerichts. 3 Die Rundfunkfreiheit ist für das Verständnis des heutigen Rundfunkrechts und darüber hinaus des gesamten Medienrechts von enormer Bedeutung: Um welche Frage der Veranstaltung von Rundfunksendungen, also von Hörfunk und von Fernsehen, auch immer gestritten wird, die Rundfunkfreiheit kommt durchweg ins Spiel. Vielfach hat man den Eindruck, daß sich rundfunkrechtliche Probleme allein durch Auslegung des Grundgesetzes, unter Nutzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, beantworten lassen. t Befürwortend Ricker, NJW 1994, 2199f.; Fuhr, ZUM 1987, 145f.; Herrmann, ZUM 1991, 326; kritisch Degenhart, DVBI. 1991, 510ff.; Fink. DÖV 1992, 805ff.; Starck, NJW 1992, 3257 ff. 2 Jüngst etwa Kischel, in: Hobloch (Hg.), Aspekte des Rechts der audiovisuellen Kommunikation, 1999, 79. 3 Scheble, Perspektiven der Grundversorgung, 1994, 24ff.; Schuler-Harms, Rundfunkaufsicht im Bundesstaat, 1995, 108; Niepalla, Die Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 1990,6.

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Daneben liefert die Konkretisierung der Rundfunkfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht ein besonders deutliches und pointiertes Beispiel für die Gestaltung und Entwicklung des verfassungsrechtlichen Rahmens, innerhalb dessen sich die Politik bewegen muß. Der Rundfunk- und Mediengesetzgeber hat schon häufig feststellen müssen, daß erlassene Regelungen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Bei der Entwicklung neuer Regelungen werden dementsprechend nicht selten verfassungsrechtliche Gutachten eingeholt. Rundfunkpolitik ist so in erheblichem Umfang Verfassungsauslegung. 2. Kompensation des mageren Ausgangsbefunds durch die Verfassungsgerichtsbarkeit

Blickt man auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Rundfunkfreiheit, die ihre Grundlage in Art. 5 Abs. I S. 2 GG hat, dann ist dieser Befund überraschend: Die Regelung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG, der einzigen, auf den Rundfunk bezogenen Vorschrift des Grundgesetzes, ist außerordentlich mager. Dort heißt es lapidar: Die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk wird gewährleistet. Das ist alles. Auch die Entstehungsmaterialien zum Grundgesetz sind wenig ergiebig: 4 In den ersten Entwürfen wurde zum einen die Freiheit des Rundfunkempfangs angesprochen. Dahinter stand die Erfahrung der Behinderung und Verhinderung des Empfangs ausländischer Sender im nationalsozialistischen Deutschland. Zum anderen wurde die freie Berichterstattung durch den Rundfunk gewährleistet, auch dies eine Reaktion auf die Zensur des Rundfunks im Nationalsozialismus. In der Endfassung ist nur die zweite Regelung verblieben. Die erste sah man durch die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. I S. I GG abgedeckt. Aussagen zur öffentlichen Aufgabe des Rundfunks, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts später eine so wichtige Rolle spielen sollte, lassen sich den Entstehungsmaterialien nicht entnehmen. Angesichts dieser Ausgangslage ist die heutige Dominanz der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG doch erstaunlich. Sie erklärt sich weithin durch die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit, durch die Existenz eines obersten Gerichts mit weitreichenden Kompetenzen, dem die Gewährleistung der Verfassung übertragen ist, dem Bundesverfassungsgericht. Es hat die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in vielen Bereichen maßgeblich geprägt. 5 Dementsprechend findet sich der Unterschied zwischen magerer Ausgangslage im Text der Verfassung und heutigem weitreichendem Stellenwert des Verfassungsrechts auch bei vielen anderen Grundrechten. Immerhin ist der Unterschied im Rundfunkbereich besonders markant. Vgi.JöR I, 79 ff. Hierzu auch Bausch, Rundfunk in Deutschland, 1980, Bd. 3, 310 ff. s Scheble, Perspektiven der Grundversorgung, 1994, 24ff.

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II. Freiheit des Rundfunks vom Staat Sucht man die Grundlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rundfunkfreiheit auszumachen, dann lassen ·sich zwei Zielrichtungen unterscheiden: Die erste ist, gerade angesichts der historischen Erfahrung im Nationalsozialismus, relativ naheliegend: Es geht um den Schutz des Rundfunks vor dem Staat. Die zweite Zielrichtung betrifft eine ganz andere Zwecksetzung: Es geht darum, insbesondere durch geeignete Rechtsvorschriften sicherzustellen, daß der Rundfunk die ihm von der Verfassung zugedachte Aufgabe erfüllen kann. 1. Grundlegung im ersten Rundfunkurteil

Sehen wir uns zunächst die erste Zielsetzung näher an: den Schutz des Rundfunks vor dem Staat.6 Diese Zielrichtung hat bereits in der ersten großen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunk, die 1961 ergangen ist,7 eine Rolle gespielt. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Veranstaltung von Rundfunk in den Bundesländern entstanden, in der Hand von unabhängigen Anstalten des öffentlichen Rechts. Die Bundesregierung sah darin, spätestens mit dem Aufkommen des Fernsehens und dessen stetig wachsender Bedeutung, ein Problem, war doch ihr Einfluß in einer solchen Organisationsstruktur besonders gering. Sie gründete daher die Deutschland-Fernsehen-GmbH, eine Gesellschaft privaten Rechts. Ihre Aufgabe war, wie die Satzung verdeutlichte, "den Rundfunkteilnehmern in ganz Deutschland und im Ausland ein umfassendes Bild Deutschlands" zu vermitteln. Gegen dieses Projekt riefen die Bundesländer Harnburg und Bremen das Bundesverfassungsgericht an. Und das Bundesverfassungsgericht stoppte die Regierungspläne. Zur Begründung führte das Gericht an, daß dem Bund die Gesetzgebungs- wie die Verwaltungskompetenz für das Veranstalten von Rundfunk fehle. Diese Tätigkeit falle in die ausschließliche Kompetenz der Bundesländer.8 Damit hätte es das Bundesverfassungsgericht bewenden lassen können. Doch das Gericht hat zusätzlich festgehalten, daß der Rundfunk nicht dem Staat ausgeliefert sein darf. Dem werde die Deutschland-Fernsehen-GmbH nicht gerecht. Alleiniger Gesellschafter war die Bundesrepublik Deutschland. "Die Gesellschaft ist also", so das Bundesverfassungsgericht, "völlig in der Hand des Staates. Sie ist ein Instrument des Bundes, wird kraft der verfassungsmäßigen Kompetenzen der 6 Ausführlich zu dieser Schutzrichtung der Rundfunkfreiheit Jarass, Die Freiheit des Rundfunks vom Staat, 1981; Gersdorf Staatsfreiheit des Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung, 1991, 58 ff. 7 BVerfGE 12, 205 ff.; der Hauptsacheentscheidung ging eine entsprechende einstweilige Anordnung voraus (BVerfGE 12, 36 ff.). Einzelheiten hierzu und zum vorausgegangenen Streit bei Herrmann, Rundfunkrecht 1994, 77 ff. 8 Zur Gesetzgebungskompetenz BVerfGE 12, 205/223 ff., zur Verwaltungskompetenz BVerfGE 12, 205/243 ff. Zur Kompetenzverteilung vgl. auch Ricker I Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, 1997, 146ff.; Herrmann, Rundfunkrecht, 1994, 146ff.

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Bundesregierung und des Bundeskanzlers von diesen beherrscht."9 Daß der Gründungsvertrag und vor allem die Satzung für die Unabhängigkeit der Gesellschaft sorgen sollten, wurde vom Gericht als unzureichend eingestuft. 2. Rundfunkfreiheit und mittelbarer Einfluß über Finanzen

In einer Reihe weiterer Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz des Rundfunks vor staatlicher Dominanz und Steuerung, insbesondere im Bereich der Programmautonomie, betont, 10 etwa bei der Frage, wer über die Zulassung privater Rundfunkveranstalter entscheiden darf. 11 Besonders weitreichende Folgerungen hat das Gericht im 1994 ergangenen Gebührenurteil getroffen. 12 Dort ging es um die Frage, ob es zulässig ist, daß allein die Parlamente (der Bundesländer) über die Höhe der Rundfunkgebühr entscheiden. Die Rundfunkgebühr ist die Hauptfinanzquelle der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland, und muß von jedem entrichtet werden, der ein Hörfunk- oder Fernsehgerät bereit hält. 13 Einige Besitzer von Fernsehgeräten erhoben dagegen Klage. Das zuständige Gericht, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, setzte das Verfahren aus, weil die Festlegung der Gebührenhöhe durch die Landesparlamente zur Einflußnahme auf den Rundfunk genutzt werden könne. Der Rundfunkfreiheit entspreche allein eine Festsetzung durch Satzung der Rundfunkanstalten. In der Tat hatten die Parlamente die von den Anstalten beanspruchte Gebührenerhöhung nur teilweise bewilligt, was auf dem Hintergrund vielfaltiger Kritik von Politikern an der Berichterstattung der Anstalten über ihre Tätigkeit als Sanktion verstanden werden konnte. Das Bundesverfassungsgericht hat dem vorlegenden Gericht in erheblichem Umfang zugestimmt. Die Festlegung der Gebührenhöhe allein durch die Parlamente sei wegen der Gefährdung der Unabhängigkeit des Rundfunks unzulässig. Den Rundfunkanstalten müssen vielmehr die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die notwendig sind, damit sie ihre verfassungsrechtlich und gesetzlich festgelegten Aufgaben erfüllen können. Der Gesetzgeber könne unter Beachtung der Verfassung den Aufgabenbereich einer Rundfunkanstalt festlegen. Die Entscheidung über den jeweils erforderlichen Finanzbedarf könne er aber nicht treffen. Ein bemerkenswerter Befund, bedenkt man die demokratische Legitimation der Parlamente. Die Festlegung dieses Bedarfs muß andererseits nicht notwendig durch die Rundfunkanstalten erfolgen. Zulässig sei auch eine Entscheidung durch ein vom Staat unabhängiges Gremium. 14 Davon wurde in der Folge Gebrauch gemacht: Über die BVerfGE 12, 205/263. ZurProgrammautonomie etwa BVerfGE 59, 231/258; 87, 181/201; 90,60/87. II BVerfGE 73, 118/182 ff.: nur eine unabhängige Einrichtung, nicht eine staatliche Behörde. 12 BVerfGE 90, 60 ff. 13 Dazu Bullinger. in: lsensee I Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, 702 ff. 14 BVerfGE 90, 60/96ff. Hierzu Ricker. NJW 1994, 2199f.; Lehment, ZUM 1994, 617ff. 9

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Höhe der Rundfunkgebühr entscheidet heute die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (KEF). 15

111. Sicherung der Funktion des Rundfunks 1. Der Beginn in der Monopolsituation

Damit kommen wir zur zweiten Zielsetzung der Rundfunkfreiheit Bemerkenswerter noch als die soeben beschriebene Zielrichtung sind die Konsequenzen, die mit der öffentlichen Aufgabe des Rundfunks zusammenhängen und vom Bundesverfassungsgericht der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG entnommen wurden. Diese Zielrichtung nimmt ihren Ausgangspunkt in dem bereits angesprochenen Urteil des Gerichts zur Deutschland-Fernsehen-GmbH. Die klagenden Länder hatten dort unter anderem geltend gemacht, daß nach den einschlägigen Gesetzen jeweils nur die zuständige Landesrundfunkanstalt berechtigt sei, Rundfunksendungen auszustrahlen. Der Bund führte dagegen an, daß ein Rundfunkmonopol der Landesanstalten nicht mit der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. I S. 2 GG vereinbar sei. 16 Diese Auffassung des Bundes wurde vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Angesichts der wenigen Frequenzen, die - so muß man heute sagen -damals zur Verfügung standen und im Hinblick auf den hohen finanziellen Aufwand für die Ausstrahlung von Rundfunksendungen sei nur eine kleine Zahl von Veranstaltern möglich. Vor diesem Hintergrund müsse die Rundfunkfreiheit "institutionell" verstanden werden: Es seien gesetzliche Vorkehrungen notwendig, damit der Rundfunk nicht einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert werde. Wörtlich führt das Gericht aus: ,,Die Veranstalter von Rundfunkdarbietungen müssen ... so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und daß für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten. Das läßt sich nur sicherstellen, wenn diese organisatorischen und sachlichen Grundsätze durch Gesetz allgemein verbindlich gemacht werden. Art. 5 GG fordert deshalb den Erlaß solcher Gesetze." 17 Eben diesem Anliegen diene die Betrauung allein der Landesrundfunkanstalten mit der Veranstaltung von Rundfunksendungen, denn sie seien so organisiert, daß der Rundfunk weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert werde. Dieser Befund ist durchaus bemerkenswert: Aus Grundrechten ergeben sich normalerweise Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, die grundsätzlich jedem zustehen, der die geschützte Tätigkeit vornehmen will, wie dies insbesondere für die 1s Hierzu Ricker/Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, 1997, 210ff. 16

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BVerfGE 12, 205/225. BVerfGE 12, 205/262f. Ebenso etwa BVerfGE 57, 295/325f.

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Meinungs- und die Pressefreiheit gilt. Hier wird dagegen aus dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit eine Pflicht des Gesetzgebers zum Tätigwerden und zur Begrenzung der betreffenden Aktivitäten gefordert. Dies zu betonen ist nicht nur notwendig, um die Auslegung der Rundfunkfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht zu verstehen. Das Gericht hat diesen Ansatz auch auf eine Reihe anderer Grundrechte übertragen, etwa auf das Recht auf Leben oder auf die Wissenschaftsfreiheit 2. Weiterentwicklung im dualen Rundfunksystem

Doch kommen wir zurück zur Rundfunkfreiheit und werfen wir einen Blick auf die Folgerechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Privater Rundfunk wurde in Deutschland erstmals im Saarland durch ein Gesetz aus dem Jahre 1964 erlaubt. Als ein privater Veranstalter diese Möglichkeit nutzen wollte, die zuständige Behörde die Rundfunkkonzession aber verweigerte, kam es zum Rechtsstreit. Das angerufene Gericht setzte das Verfahren aus und legte die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes dem Bundesverfassungsgericht vor. Dieses erklärte im Jahre 1981 das Landesgesetz in weiten Teilen für nichtig. 18 Zur Begründung führte das Gericht zunächst aus, daß die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit auch dann noch Bestand hat, wenn die Frequenzknappheit entfällt und eine größere Zahl von Veranstaltern möglich wird. 19 Lediglich die Art und Weise der Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit kann durch die veränderten Verhältnisse Modifizierungen unterliegen. In der Entscheidung findet sich auch die heute schon klassische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zu Bedeutung und Eigenart der Rundfunkfreiheit "Freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung durch den Rundfunk verlangt zunächst die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung und Einflußnahme. Insoweit hat die Rundfunkfreiheit, wie die klassischen Freiheitsrechte, abwehrende Bedeutung. Doch ist damit das, was zu gewährleisten ist, noch nicht sichergestellt. Denn bloße Staatsfreiheit bedeutet noch nicht, daß freie und umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk möglich wird; dieser Aufgabe läßt sich durch eine lediglich negatorische Gestaltung nicht gerecht werden. Es bedarf dazu vielmehr einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und daß auf diese Weise umfassende Information geboten wird. Um dies zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten wi11."20 BVerfGE 57, 295 ff. BVerfGE57, 295/322. 20 BVerfGE 57, 295/320. In der Folge hat sich das Gericht immer wieder darauf berufen; vgl. BVerfGE 73, 118/159f.; 74, 297/323f.; 83,238/296, 322; 87, 181/197; 90, 60/87; 95, 220/236. 18

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Welche Konsequenzen ergaben sich aus diesem Verständnis der Rundfunkfreiheit für die Einführung des privaten Rundfunks im Saarland: Die Zulassung privater Rundfunkveranstalter neben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurde vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich akzeptiert. Allerdings hat das Gericht festgehalten, daß auch die privaten Rundfunkunternehmen auf die Erfüllung der verfassungsrechtlichen Rundfunkaufgabe in vollem Umfang verpflichtet sind und die Einhaltung dieser Verpflichtung effektiv sichergestellt werden muß. Das Gesamtangebot der inländischen Programme müsse im wesentlichen der bestehenden Meinungsvielfalt in der Gesellschaft entsprechen?' Das gilt nicht nur für den Rundfunk insgesamt, sondern auch für den privaten Rundfunk. 22 Lediglich eine größere Zahl von privaten Veranstaltern sei dafür nicht ausreichend. Welche Folgen sich daraus für private Veranstalter im einzelnen ergeben, hat das Gericht allerdings nicht näher behandelt. Zu dieser Frage hat das Gericht dann in der 1986 ergangenen Entscheidung zum niedersächsischen Rundfunkrecht Stellung bezogen. 23 Dort wurde zunächst festgehalten, daß private Anbieter aufgrund ihrer Struktur "der Aufgabe umfassender Information nicht in vollem Umfang gerecht zu werden" vermögen; entsprechendes gelte für das Ziel der Ausgewogenheit 24 Andererseits dürfen die Anforderungen an private Veranstalter aber nicht dazu führen, daß privater Rundfunk in hohem Maße erschwert oder ganz ausgeschlossen wird.25 Zur Lösung dieses Konflikts hat es das Gericht für zulässig erklärt, die privaten Veranstalter weniger strengen Vorgaben zu unterwerfen, sofern der Gesetzgeber dafür sorgt, daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk in ausreichendem Maße die Grundversorgung im Rundfunkbereich sicherzustellen vermag. 26 Der Bereich der Grundversorgung wird vom Gericht weit verstanden und umfaßt auch Regional- und Lokalprogramme. 27 Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ergeben sich daraus weitreichende Rechte: Bereits 1987 hat das Gericht in einer Entscheidung zum Landesmediengesetz in Baden-Württemberg festgehalten, daß es verfassungsrechtlich ausgeschlossen sei, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von bestimmten Rundfunkveranstaltungen auszuschließen und sie dem privaten Rundfunk vorzubehalten. 28 Konkret ging es dort um regionale und lokale Hörfunkprogramme. Weiter kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Bestands- und Entwicklungsgarantie zuBVerfGE 57,295/325. Dazu Stock, NJW 1987, 218; Lerche, NJW 1982, 1678f. BVerfGE 83, 238/296f.; angelegt bereits in BVerfGE57, 295/324ff. 23 BVerfGE 73, 118 ff. 24 BVerfGE 73, 118/155ff.; ebenso BVerfGE 87, 181/199; vgl. Kischel, in: Hobloch (Hg.), Aspekte des Rechts der audiovisuellen Kommunikation, 1999, 86ff.; Niepalla, Die Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 1990, 53 ff. 2s BVerfGE73, 118/157. 26 BVerfGE 73, 118/157f.; ebenso BVerfGE 74, 297/324ff.; 83, 238/297ff.; 89, 144/ 152f. Dazu Fuhr. ZUM 1987, 150ff.; Ricker/Müller-Malm, ZUM 1987,201 ff. 27 BVerfGE 87, 181/204. 28 BVerfGE 74,297. Kritsch dazu Bullinger. JZ 1987, 928ff.; Kuli, AfP 1987, 568ff. 2t

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gute, wie das Bundesverfassungsgericht in der 1991 ergangenen Entscheidung zum nordrhein-westfälischen Rundfunkrecht näher herausgearbeitet hat. 29 Die Entwicklungsgarantie stellt etwa sicher, daß der Rundfunk an der Nutzung neuartiger Techniken ausreichend beteiligt wird. 30 Schließlich wird der Rundfunkfreiheit die Pflicht des Staates entnommen, für eine ausreichende Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks zu sorgen. 31 Eine Teilfinanzierung durch Werbung ist dabei nicht ausgeschlossen. Doch darf sie nicht dominieren, weil andernfalls der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu sehr dem privaten Rundfunk ähnelt und damit die verfassungsrechtliche Aufgabe des Rundfunks nicht erfüllt wird. Bestands- und Entwicklungsgarantie einerseits sowie die Funktionsgarantie andererseits vermitteln dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine gesicherte Position. 3. In die Zukunft weisende Entwicklungslinien für die Medien- und Infonnationsgesellschaft

Die bisherigen Aussagen zur Sicherung der Funktion der Rundfunkfreiheit zeigen eine weitreichende Betonung der objektiv-rechtlichen Seite dieses Grundrechts. Der Charakter der Rundfunkfreiheit als klassisches Freiheitsrecht tritt weithin zurück. Dies wird auch in der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts deutlich, die Rundfunkfreiheit sei eine "dienende Freiheit". 32 Ihre Aufgabe sei es, die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung zu fördern. Und 1992 hat das Gericht in der Entscheidung zur Werbung im hessischen Fernsehprogramm festgehalten: "Im Unterschied zu anderen Freiheitsrechten des Grundgesetzes handelt es sich bei der Rundfunkfreiheit ... nicht um ein Grundrecht, das seinem Träger zum Zwecke der Persönlichkeitsentfaltung oder Interessenverfolgung eingeräumt ist. " 33 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht unverständlich, wenn in der Literatur der Gehalt der Rundfunkfreiheit als subjektives Recht sehr weit zurückgedrängt wurde und wird: Die Rundfunkfreiheit stehe nur demjenigen zu, der aufgrund des einfachgesetzlichen Rundfunkrechts berechtigt ist, Rundfunkveranstaltungen vorzunehmen. Die Aufnahme der Rundfunktätigkeit sei nicht durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet. 34 Das Bundesverfassungsgericht hat lange offengelassen, ob 29 BVerfGE 83, 238/299 f. Die Garantie betrifft den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt, nicht die einzelne Anstalt; BVerfGE 89, 144/153. 30 Dies gilt auch flir rundfunkähnliche Kommunikationsdienste; BVerfGE 74. 294/350. 31 BVerfGE 74, 297/342; 87, 181/198, 203; 89, 144/153; 90,60/91. 32 BVerfGE 57, 295/320; 87, 181/197. Dazu Ricker/Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, 1997, 86ff.; Kischel, in: Hobloch (Hg.), Aspekte des Rechts der audiovisuellen Kommunikation, 1999, 81 ff. 33 BVerfGE 87. 1811197; Bethge, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 5 Rn. 92f. 34 So Hoffmann-Riem, AöR 1984, 314f.; Kühler. Medienverflechtung, 1982, 84; W Schmidt, Rundfunkgewähr1eistung, 1980, 24, 97.

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diese Auffassung zutrifft. Erst in einer der jüngsten Entscheidungen des Gerichts zur Rundfunkfreiheit, in der Entscheidung zum bayerischen Rundfunkrecht aus dem Jahre 1998, hat es festgehalten, daß Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG auch bereits die Zulassung zur Veranstaltung von Rundfunk schützt. 35 Wäre das anders, müßte man in der Tat zweifeln, ob die Rundfunkfreiheit überhaupt noch ein Grundrecht ist. Daher kann dem Bundesverfassungsgericht nur zugestimmt werden, wenn es auch die Entscheidung, eine Rundfunktätigkeit aufzunehmen, durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geschützt sieht. 36 Darüber hinaus gilt es, die dienende Funktion der Rundfunkfreiheit richtig zu verstehen. Diese Funktion darf den Träger der Freiheit zu keinem bloßen Funktionsträger machen, ohne den für ihn unverzichtbaren Freiheitsspie1raum. Des weiteren gilt es zu betonen, daß die dienende Funktion auf die beiden Freiheitsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ausgerichtet ist, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit. 37 Richtig ist allerdings auch, daß die Ausgestaltungsaufgabe, wie sie in der Rundfunkfreiheil enthalten ist, insoweit sehr weitreichende Modifizierungen erlaubt. Vor über 30 Jahren konnte das sogar das Monopol der jeweiligen Landesrundfunkanstalt sein. Später waren und heute sind das die Vorgaben zum dualen Rundfunksystem und zum spezifischen Schutz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und in die Zukunft weisen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zur Kurzberichterstattung aus dem Jahre 1998: "Eine Monopolisierung der Berichterstattung über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung und allgemeinem Interesse bei einem einzelnen Rundfunkveranstalter" würde das Ziel des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gefährden. "Das hat seinen Grund nicht allein darin, daß auf diese Weise Mißbrauchsmöglichkeiten eröffnet werden, die sich gesetzlich nur schwer eindämmen lassen. Vielmehr sind Monopole im Informationssektor auch deswegen der freien Meinungsbildung abträglich, weil sie uniforme Information begünstigen." Dies gilt auch für einzelne Informationsgegenstände, ging es doch in der Entscheidung vor allem um die Sportberichterstattung. Des weiteren finden sich in der Entscheidung folgende, in die Zukunft weisende Aussagen: "Zur Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht bedarf es daher nicht nur wirksamer Vorkehrungen gegen eine Konzentration auf Veranstalterebene, sondern auch ausreichender Maßnahmen gegen Informationsmonopole. Eine durchgängige Kommerzialisierung von Informationen von allgemeiner Bedeutung oder allgemeinem Interesse, die dem Erwerber der Verwertungsrechte gestattete, damit nach Belieben zu verfahren und Dritte auszuschließen oder in der Teilhabe zu beschränken, würde den Leitvorstellungen von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht gerecht." 38 BVerfG E 97. 298/ 312 ff. Dazu Buchholtz. AfP 1998, 20 I ff. Grund dafür ist der Umstand, daß auch privater Rundfunk unter Art. 5 Abs. I S. 2 GG fällt, und nicht nur ein Gebot des konsequenten Verhaltens; so aber Kischel, in: Hobloch (Hg.). Aspekte des Rechts der audiovisuellen Kommunikation, 1999, 84. 37 Näher dazu Jarass, AfP 1998, 135; Jarass, Die Freiheit des Rundfunks vom Staat, 1981, 28ff. 38 BVerfGE 97, 228/257 f. 3~

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Diese Sätze dürften alle mit dem Rundfunk- und Medienrecht befaßten Personen noch beschäftigen, auch und gerade deshalb, weil sie nicht nur für Rundfunkveranstaltungen passen, sondern in gleicher Weise für rundfunkähnliche Dienste bis hin zu Online-Diensten. Allerdings gilt es dabei zu berücksichtigen, daß die weitreichenden Wirkungen der Rundfunkfreiheit vor allem durch die hohe Suggestivkraft und die Beschränkung der Selektion bedingt sein dürfte, wie sie für Fernsehen und Hörfunk im herkömmlichen Sinne kennzeichnend sind.39 Für die neuen Medien gilt dies sehr viel eingeschränkter, wenn auch insoweit die ausgeprägten Unterschiede innerhalb der neuen Medien nicht übersehen werden dürfen. Die Rundfunkfreiheit dürfte daher in diesem Bereich recht unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen. Das Bundesverfassungsgericht ist allerdings dieser Frage noch nicht näher nachgegangen. Es wird sich ihr noch stellen müssen. IV. Bewertung 1. Medienpolitische Aspekte

Die medienpolitische Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fällt je nach politischem Vorverständnis, vor allem aber je nach Interessenlage unterschiedlich aus. Wer den Stellenwert privaten Rundfunks in Deutschland ausweiten will, wer dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eher skeptisch gegenübersteht, wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ungünstig bewerten. Eine Reihe der von den Kritikern geäußerten Befürchtungen haben sich aber nicht realisiert. So sah man die Gefahr, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den privaten Rundfunk auf ein Randphänomen beschränkt. Die Entwicklung hat das nicht bestätigt. Der private Rundfunk hat trotzder Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eine zumindest gleichwertige Stellung errungen, wie die Marktanteilszahlen belegen. Bei nüchterner Analyse kann diese Entwicklung auch nicht überraschen. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum dualen Rundfunk darauf geachtet, daß sich auch der private Rundfunk entfalten kann, daß die an ihn gestellten Anforderungen ihm nicht die Lebensfähigkeit nehmen.40 Zum anderen muß man sich bewußt sein, daß der private Rundfunk in einer marktwirtschaftliehen Gesellschaft sozusagen ein naturwüchsiges Phänomen ist, das sich "von selbst" entfaltet und keiner staatlichen Unterstützung bedarf. Dagegen ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf die helfende Hand des Bundesverfassungsgerichts und des Gesetzgebers angewiesen. Ohne solche Unterstützung besteht die Gefahr, daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf Dauer seine mitprägende Kraft verliert und zu einem Nischenphänomen, wie etwa in den USA, wird. Ein leistungsfähiges duales Rundfunksystem, in dem privater und öffentlich-rechtlicher 39 40

Jarass, AfP 1998, 133f. BVerfGE 73, ll8/157.

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Rundfunk einen gleichwertigen Platz einnehmen, ist daher ohne eine verfassungsrechtliche Gewährleistung, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk schützt und stützt, schwer vorstellbar. Darüber hinaus sollte der Wert des dualen Rundfunksystems nicht unterschätzt werden: Es sichert, daß Fernsehen und Hörfunk als die wichtigsten Massenkommunikationsmittel der Gesellschaft, die die Entwicklung unseres Landes in erheblichem Umfang prägen und beeinflussen, ein weit größeres Leistungspotential im Hinblick auf Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit besitzen als in einer rein privaten Struktur. Die funktionelle Prägung der Rundfunkfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat andererseits nicht zu einer unangemessenen Reduzierung der Freiheitlichkeit geführt. Zwar sind einzelne Formulierungen des Gerichts nicht gegen insoweit problematische Mißdeutungen gefeit. Im Ergebnis hat das Gericht aber in allen seinen Entscheidungen Resultate vermieden, die den Freiraum der Medien zu sehr einschränken würden. Berücksichtigt man zusätzlich die liberale Rechtsprechung des Gerichts zum Konflikt von Meinungs- und Medienfreiheiten einerseits und Ehrenschutz sowie Persönlichkeitsrecht andererseits, so läßt sich schwerlich bestreiten, daß das Gericht den Freiraum der Medien und damit auch des Rundfunks gerade gesichert hat. 2. Grundrechtsdogmatische Aspekte

Die Gestaltung der Medienordnung in Deutschland betrifft naturgemäß zentrale und wichtige Fragen des Gemeinwesens. Der Stellenwert der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rundfunkfreiheit ist demgemäß hoch. Gleichwohl dürfte der allgemein-grundrechtliche Aspekt der Rechtsprechung zur Rundfunkfreiheit noch gewichtiger sein, hat doch das Gericht diesen Ansatz auch bei zahlreichen anderen Grundrechten genutzt.41 Die Folgen, die das Gericht aus der Rundfunkfreiheit zieht, hängen in erheblichem Umfang mit der Vorstellung zusammen, daß Grundrechte nicht allein staatliche Beeinträchtigungen, Eingriffe abwehren sollen, sondern zugleich gerade umgekehrt den Staat verpflichten, zum Schutz der Rundfunkfreiheit tätig zu werden, sie auszugestalten. Grundrechtliche Freiheit hat nicht nur abwehrende Bedeutung, sondern auch eine Auftragsseite, eine Schutzseite, eine Ausgestaltungsseite. Man spricht häufig von der objektiven Seite der Grundrechte, obwohl das mißverständlich ist, ergeben sich doch aus dieser Grundrechtsseite durchaus subjektive Rechte.42 Diese Erweiterung der Bedeutung der Grundrechte führt zu einem kaum zu überschätzenden Wirkungszuwachs der Grundrechte. Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, daß sich grundrechtliche Freiheit auch gegenüber Gefahrdungen durch Vgl. Jarass, AöR 1985, 363 ff., insb. 369 ff. Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, 2. Auf!. 1999, Vorb. 41 vor Art. I; Stern, Staatsrecht, Bd. III /I, 1988, 978 ff.; Jarass, in: ders./ Pieroth, Grundgesetz, 4. Auf!. 1997, Vorb. 4 vor Art. I; Dreier. in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 1998, Vorb. 56 vor Art. I. 41

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private Macht entfalten kann. Unter bestimmten Voraussetzungen hat der Gesetzgeber unabhängige Einrichtungen zu schaffen, die die Entfaltung der grundrechtliehen Freiheit ermöglichen. Organisation und Verfahren dieser Einrichtungen wird durch das Grundrecht gesteuert. Diese Zielrichtung der Grundrechte ist nicht ohne Risiken, darf sie doch nicht dazu führen, daß die den Staat abwehrende Komponente der Grundrechte ins Hintertreffen gerät. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rundfunkfreiheit wie zu anderen Grundrechten belegt aber, daß dies nicht sein muß.43 Grundrechte können zugleich Abwehrrechte einerseits und Auftrags- und Schutzrechte andererseits sein. Welche der beiden Seiten im Einzelfall im Vordergrund steht, hängt vom konkreten Zusammenhang ab. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß das Bundesverfassungsgericht mit dieser Rechtsprechung auch im internationalen Vergleich durchaus neue Wege beschritten hat. Nach meiner Kenntnis gibt es kein Land, in dem die Schutz- und Auftragsseite der Grund- und Menschenrechte so umfassend entwickelt wurde wie in Deutschland. Immerhin findet das Konzept auch im Ausland Befürworter. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits mehrfach den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts übemommen. 44 Möglicherweise wird also der Ansatz auch in anderen Ländern noch Wirkungen entfalten. Kein Zweifel besteht jedenfalls, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rundfunkfreiheit und zu den Ausgestaltungs- und Schutzgehalten der Grundrechte in Deutschland zu wichtigen Weichenstellungen geführt hat.

43 Das Gericht hat mehrfach festgehalten, daß die Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit nicht zu einem Eingriff in das Grundrecht führen darf. Ist das der Fall, gelten die Vorgaben für Grundrechtseingriffe. 44 EGMR, EuGRZ 1979, 454/455; 1979, 626/629; 1995, 530/533; vgl. dazu Groß, JZ 1999,330. Ähnlich auch EuGH, Slg. 1997, 6959/6999; dazu Szcekßlla, DVBI. 1998, 219ff.

Ehe und Familie Von Heinz Holzhauer

Das Familienrecht ist dasjenige Teilgebiet des bürgerlichen Rechts, das seit dem zweiten Weltkrieg am stärksten umgestaltet worden ist und dessen dadurch veränderte, heutige Gestalt zu großen Teilen auf Vorgaben der Verfassung und des Verfassungsgerichts zurückgeht. Gleichwohl hat Friedrich Wilhelm Bosch, der Begründer der Zeitschrift ftir das gesamte Familienrecht, der Anreger, Kritiker und Chronist der Familienrechtsentwicklung im hier interessierenden Zeitraum einmal geschrieben, daß die Familienrechtier das Verfassungsrecht wenig lieben. Selbst wenn Bosch zunächst für sich selbst gesprochen haben dürfte und seine Feststellung natürlich nicht für alle Familienrechtier gelten kann, gilt sie gewiß nicht nur für ihn, sondern dürfte in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Woher kommt das? Zu einem Teil wohl daher, daß auch Familienrechtier nur Menschen sind, die sich ihre Kreise nicht gerne vom Verfassungsrecht stören lassen und vielleicht ein wenig schmollen, weil das Verfassungsrecht als eine Art Überdisziplin die anderen Rechtsgebiete, und dabei am meisten das Familienrecht, entsprechend heruntergedrückt hat. Daß solche menschlich-allzumenschlichen Erklärungen weder sicher zu beweisen noch zu widerlegen sind, ist nicht weiter schädlich, weil sie ohnehin kein wissenschaftliches Gewicht haben. Das gilt nicht mehr von einem zweiten Erklärungsansatz, der mit dem politischen Charakter von Verfassung und Verfassungsrecht argumentiert. Das Verhältnis des Rechts zur Politik ist zwiespältig. Einerseits ist besonders modernes Recht Produkt rechtspolitischer und damit in gewissem Maß auch allgemein-politischer Bestrebungen und kann nicht einmal die Rechtsanwendung methodisch von den maßgebenden rechtspolitischen Setzungen abgekoppelt werden. Andererseits ist zeitliche Stabilität nach wie vor ein Qualitätsmerkmal von Recht, während politische Einflüsse unter modernen Verhältnissen häufige Rechtsänderungen bewirken. Sodann soll Recht wegen seiner Allgemeinverbindlichkeit über politischen, auch rechtspolitischen Parteiungen stehen. Absolut feindlich steht Recht politischen, weltanschaulichen und sozialen Moden gegenüber. Von der Verfassung, in dieser Hinsicht mehr vom Verfassungsgericht, initiierte Änderungen des Familienrechtes sind aber nicht immer über den Verdacht des Modischen erhaben und dann geeignet, die Abneigung konservativer Juristen auf sich zu ziehen.

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Ich möchte eine weitere Erklärung für die von Bosch getroffene Feststellung beibringen. Verfassungssätze, und hier geht es um die Grundrechte, sind Wertbekundungen; sie haben eine Nähe zur Moral und kommen teilweise erhaben, ja pathetisch daher. Dazu paßt, daß sie in der deutschen Verfassungsgeschichte am Anfang und während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in die Weimarer Republik hinein praktisch nicht viel wert waren. Sie waren damit in der guten Gesellschaft der Zehn Gebote und des Kategorischen Imperativs. Noch die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung galten als bloße Programmsätze. 1 Erst Art. I Abs. 3 GG gab den Grundrechten unmittelbare, die Rechtsprechung bindende Wirkung. Das sozialethische Minimum im Recht- mit diesem Begriff hat Georg Jellinek das Verhältnis des Rechts zur Moral treffend beschrieben2 - ist durch die Grundrechte und die interpretatorische Extension ihres Anwendungsbereichs deutlich gesteigert worden. Das kann nicht ohne Rest aufgehen. Bei Kant beruht die scharfe Trennung von Recht und Moral, von Legalität und Moralität darauf, daß moralisch nur eine freie, das heißt, zweckfreie Handlung sein kann. Überall, wo wir Recht verwirklichen, steht aber die Zwangsgewalt des Staates dahinter. Die eine Seite wird gezwungen, den Wert zu verwirklichen und die andere Seite wird nicht nach ihren Motiven und Interessen gefragt, aus denen sie sich für die Wertverwirklichung einsetzt. Und noch weniger kommt es auf die Motive des Juristen an, der den Zwangsapparat bedient. Gewiß entspricht die Verwirklichung der Grundrechte ihrem immanenten Anspruch. Aber im Zuge ihrer Verwirklichung treten sie aus dem Horizont der Moralität in denjenigen der Legalität. Aber wer sich auf die Verfassung und auf die Grundrechte beruft, evoziert damit ihren höheren Rang, ihre Unbestreitbarkeit und vermag damit einen Meinungs- oder Prozeßgegner zu reizen, der sich auf die Ebene bloßer Interessen herabgedrückt fühlt. In Verbindung damit, daß die meisten grundrechtliehen Normen sehr allgemein und damit nicht nur verschieden weitgehenden, sondern sogar in verschiedene Richtungen gehenden Auslegungen zugänglich sind, haben die Grundrechte als Argument inzwischen an Renomme verloren, so daß der Hinweis auf sie heute nicht mehr von vomherein geeignet ist, eine Position zu stärken. Die eingangs getroffene Feststellung, daß das Familienrecht im besonderem Maß von Vorgaben der Verfassung und des Verfassungsgerichts bestimmt worden ist, impliziert nicht, daß entsprechende Veränderungen und Reformen nicht auch ohne diese Vorgaben erfolgt wären. Daß dies ein Mißverständnis wäre, wird von der Beobachtung nahegelegt, daß in vergleichbaren Staaten ohne entsprechende Verfassungsvorgaben ungefähr zeitgleich ähnliche Reformen verwirklicht worden sind. 3 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1997, S. 296. Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1878, S. 42 f. 3 Rainer Frank, Die familienrechtliche Ordnung des GG, in: 40 Jahre GG. Der Einfluß des Verfassungsrechts auf die Entwicklung der Rechtsordnung. Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br., 1990, S. 114. I

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Dies vorausgeschickt, bietet sich für die Betrachtung der zurückliegenden 50 Jahre, in denen sich die Entwicklung des deutschen Familienrechtes unter der Geltung des GG vollzogen hat, in systematischer Hinsicht die Unterscheidung an, welche Veränderungen verfassungsabhängig und welche mehr verfassungsneutral waren. Von den verfassungsabhängigen Rechtsänderungen können dann noch genauer diejenigen unterschieden werden, die besser als verfassungsgerichtsabhängig zu kennzeichnen sind. Einer reflektierenden Betrachtung drängt sich dann bei den verfassungsabhängigen und verfassungsneutralen Neuerungen die Frage auf, inwieweit ein Wertewandel oder ein sozialer Wandel der Entwicklung zugrunde liegt. Beide Ursachen von Wandel bieten aber selten eine Letzterklärung; zugrundeliegen kann, wie wir im Familienrecht sehen werden, ein Fortschritt der Naturwissenschaften, der seinerseits Wertvorstellungen und soziale Verhältnisse beeinflußt hat. Diese systematischen Gesichtspunkte mitbedenkend, möchte ich im folgenden dennoch ungefahr chronologisch vorgehen. Jede Betrachtung einer Epoche tendiert von selbst dazu, in den verschiedenen sukzessiven Veränderungen eine Linie auszumachen, eine Gestalt zu erkennen, so daß von einer Entwicklung gesprochen werden kann; ein solches Urteil setzt aber eine chronologische Betrachtung voraus. Mit dem Inkrafttreten des GG am 23. 5. 1949 banden die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Nach unserem Begriff einer kohärenten Rechtsordnung waren damit die einfachen Gesetze automatisch geändert, den Grundrechten widersprechende Bestimmungen traten außer Kraft. Davon ausgenommen war durch die Übergangsregelung des Art. 117 das dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 widersprechende Recht, das bis zur Anpassung durch den Gesetzgeber an die Bestimmungen des Grundgesetzes, längstens bis 31. 3. 1953, in Kraft blieb. Nach Ablauf dieser Schonfrist entfaltete Art. 117 die Wirkung eines Treibsatzes, der allerdings verspätet zündete, nämlich erst am 1. Juli 1958, als das Gesetz über die "Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts", das GleichberG, in Kraft trat. Die dem Art. 3 Abs. 2 geltenden, zwischen 1953 und 1958 liegenden Gerichtsentscheidungen sind die frühesten überhaupt, in denen sich das GG auf dem Gebiet des Familienrechts niederschlug. Das dem Art. 3 widersprechende alte Recht brauchte von den Gerichten gar nicht verworfen zu werden, sondern war schon durch Art. 117 außer Kraft gesetzt. Aber eine Hilfe war das nicht für die Juristen, denen mit dem 31. 3. 1953 die "Stunde der Rechtsprechung" geschlagen hatte, mußte doch jeder Richter im zu entscheidenden Fall bestimmen, welche Vorschriften des vorkonstitutionellen Rechts dem speziellen Gleichheitssatz widersprachen. Die Ergebnisse dieser Rechtsprechung waren einhellig.4 Nicht mehr angewendet wurden die Vorschriften über den gesetzlichen Güterstand der ehemännlichen Verwaltung und Nutznießung; an seiner Stelle wurde Gütertrennung angenommen. Der alte Güterstand hatte früheren Sozialverhältnissen durchaus entsprochen und sachgemäß Rechnung getragen. Gleichstellung trug dem sozialen Wandel Rech4

Zum folgenden: Kropholler; Gleichberechtigung durch Richterrecht, 1975.

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nung, der in der Zunahme von Doppelverdiener-Ehen zum Ausdruck kam, nahm aber einen weiteren Anstieg vorweg. Auch die Vorschriften über den Vorrang des Mannes bei Eheführung und elterlicher Sorge wurden nicht mehr angewendet, desgleichen die über die einseitige Unterhaltspflicht des Mannes für Frau und Kinder. Denn Gleichberechtigung für die Frau involviert ihre Gleichverpflichtung, weil sonst der Mann benachteiligt worden wäre. Das GleichberG beseitigte die Asymmetrie in der ehelichen und der Unterhaltspflicht gegenüber gemeinschaftlichen Kindern. Bei Ausarbeitung des GleichberG konnte sich der Gesetzgeber zwar auf das Ergebnis der fünfjährigen Rechtsprechung stützen, hatte aber doch eine weitergehende Aufgabe. Die Rechtsprechung konnte und mußte sich darauf beschränken, Vorschriften nicht anzuwenden, ohne die entstandene Lücke anders zu schließen als durch die sich meist von selbst ergebende Annahme gleicher Rechte von Mann und Frau, Vater und Mutter. Daß dieses Ergebnis nicht überall auf Dauer akzeptabel gewesen wäre, läßt sich am besten am Güterrecht zeigen. Ware es bei der von der Rechtsprechung angenommenen Gütertrennung als gesetzlichem Güterstand geblieben, so wäre der haushaltsführende Gatte von der ehelichen Errungenschaft, die sich gewöhnlich auf Seiten des Erwerbstätigen ansammelt, abgeschnitten geblieben. Der Gesetzgeber konnte sich aber nicht zur Einführung des geschichtlich bewährten, in den romanischen Ländern und, was vielleicht weniger bedeutete, in allen sozialistischen Staaten verbreiteten Güterstands der Errungenschaftsgemeinschaft verstehen, bei der aller Erwerb gemeinschaftlich anfallt und einen Verlust jeder zu tragen hat, bei dem er eintritt, sondern entwickelte in Anlehnung an andere ausländische Vorbilde~ den Güterstand der Zugewinngemeinschaft, einer Gütertrennung mit Ausgleich des Zugewinns am Ende der Ehe mit dem fast unlösbaren Problem einer gerechten Saldierung beider Vermögen bei Beginn und Ende der Ehe. Er handelte damit Nachteile ein, von denen ich nicht sagen kann, inwieweit sie schon den ausländischen Vorbildern anhaften oder hausgemacht sind. Jedenfalls haben sie Joachim Gernhuber, den anderen großen Namen der Familienrechtswissenschaft des hier interessierenden Zeitraums, veranlaßt, bei diesem Güterstand von einer geradezu "erschreckenden Simplifizierung" und "bewußt ungerechten Entscheidungen des Gesetzes", zu sprechen6 . Das wird hier deswegen angeführt, weil die Überwölbung des einfachen Rechts durch die Grundrechte nicht etwa eine allgemeine Sicherung gegenüber gesetzeskonformen Ergebnissen bedeutet, die gleichwohl unsinnig oder ungerecht sein können. Das könnte anders sein, wenn die Verfassungsrechtswissenschaft nicht nur die Grundrechte, sondern auch die in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Formel von "Gesetz und Recht", an die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gebunden sind, zum Blühen gebracht hätte, und zwar auf der von von Mangoldt-Klein aufgezeigten Interpretationslinie7 . Nachweise bei Massfeller I Reinicke, Das Gleichberechtigungsgesetz, 1958, S. 121. Geld und Güter beim Zugewinnausgleich, FamRZ 84, 1053 und Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. 1980, S. 520. 1 Das Bonner GG, 2. Aufl. 1966 Art. 20 Anm. VI 4 f., S. 603. 5

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Es ist interessant, wie viele der überkommenen familienrechtlichen Vorschriften damals noch nicht, wohl aber später in den Horizont von Gleichheit und Ungleichheit gerückt wurden; ich nenne dafür nur das Ehenamensrecht, das vom GleichberG unberührt blieb, und die Schlüsselgewalt des § 1357, die das GleichberG als einseitiges Recht der Frau beibehielt und nur durch eine subsidiäre Außenhaftung der Frau ergänzte. Mit dem am 1. 7. 1970 in Kraft getretenen "Gesetz über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder" (NEG) kam der Gesetzgeber dem Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 5 nach, nicht ohne daß zuvor das Verfassungsgericht den Gesetzgebungsauftrag der Verfassung mit einer Frist versehen hatte. Auch diese Norm ist ein spezieller Gleichheitssatz, und auch hier hatte der Verfassungsgeber, indem er speziell die Gesetzgebung verpflichtete, bis zur Schaffung des neuen einfachen Rechts das überkommene Recht geschont. Daß der Gesetzgeber im Jahre 1970 den Verfassungsauftrag erfüllt hätte, hat der Gesetzgeber des Jahres 1998 nicht so gesehen. Denn der Unterschied im Status ehelicher und nichtehelicher Kinder wurde 1970 noch nicht beseitigt. Dafür konnte durchaus der Verfassungswortlaut angeführt werden, der den Begriff der Unehelichkeit gleichsam voraussetzt und gleiche, aber nicht identische Bedingungen für eheliche und uneheliche Kinder fordert. Was dem früheren Gesetzgeber später als Halbherzigkeil ausgelegt wurde, dürfte im Jahre 1970 noch den Lebensverhältnissen gerecht geworden sein. Damals war es noch ungewöhnlich, daß nichteheliche Kinder in einer faktischen Familie mit Vater und Mutter aufwuchsen. Den materiellen Nachteil der Unehelichen, im allgemeinen ohne Vater großzuwerden, hatte der Gesetzgeber übrigens durch eine Besserstellung im Erbrecht ausgleichen wollen. Der nur den Nichtehelichen gewährte "vorzeitige Erbausgleich" konnte seinerseits als Verstoß gegen den Gleichheitssatz kritisiert werden, was der Bundesgerichtshof aber wegen der "kompensatorischen" Funktion von dem Gleichstellungsziel her verwarf!. Die zwei großen Reformen der sozial-liberalen Regierung, das Erste Eherechtsreformgesetz (I. EheRG) und das Adoptionsgesetz (AdoptG) gehören zu den eher verfassungsneutralen Reformen. Uneingeschränkt gilt das von dem AdoptG. Dessen Anlaß lag in dem Europäischen Adoptionsübereinkommen vom 24. 4. 1967, das den globalen Trend weg vom Adoptionsvertrag und hin zum Adoptionsdekret vorschrieb und damit die Entwicklung des Instituts der Adoption von einer Hilfe für kinderlose Eltern zu einer Hilfe für elternlose Kinder, die bereits zahlreiche frühere Änderungen der überkommenen Regelung des BGB veranlaßt hatte, vollendete. Nicht im selben Maß verfassungsneutral war die große Scheidungsreform. Gewiß wurde das überkommene Schuldprinzip in erster Linie deswegen bekämpft, weil Ermittlungen von Scheidungsschuld die Privatsphäre beeinträchtigen, von den Zivilgerichten nicht zu leisten seien und weil ein Scheidungsverschulden überhaupt eine problematische Größe sei. Was aber dieser Reform ihre Leidenschaftlichkeit und Einseitigkeit eintrug, waren der emanzipatorische und der Gleichs BGHZ 76, 109, 115.

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berechtigungsgedanke, beides zwar als rechtspolitische Bewegungen, die aber meist mit der Verfassung untermauert wurden. Tief in der Rechtsgeschichte und darüber hinaus in der Biologie begründet war das Muster, wonach nur die Frau, aber nicht der Mann die eigene Ehe brechen kann. 9 Der Kirche war es gelungen, dieses Muster weitgehend durch das Gebot ehelicher Treue für beide Geschlechter zu ersetzen, und dieser Symmetrie verpflichtet war auch das Schuldprinzip des neuzeitlichen Eherechts. Geschlechtsspezifische Einseitigkeit erhielt dieses System erst dadurch, daß die schuldig geschiedene Hausfrau infolge ihrer Erwerbslosigkeit vielfach schlechter dastand als der Mann im entsprechenden Fall. Daß sich die Frau daher keine Untreue erlauben konnte: darin wurde die Ungleichberechtigung gesehen. Nicht jede Eva, wohl aber Emma forderte trotzig die Gleichheit im Unrecht, und am Rande der rechtspolitischen Szene wurde sogar das Unrecht geleugnet. Auch beim Ehenamensrecht brach das 1. EheRG das überkommene patriarchalische Muster auf, hielt zwar an dem spezifisch deutschen Prinzip eines einheitlichen Ehenamens fest, erlaubte aber den Eheschließenden, zwischen dem Namen des Mannes und dem der Frau zu wählen. Daß das Gesetz für den Fall, daß sich beide nicht einigen konnten, den Mannesnamen zum Ehenamen bestimmte, erinnert an die Geschichte des § 1628 und den vom GleichberG aufrechterhaltenen Stichentscheid des Ehemannes. Wie dort wurde das patriarchalische Relikt beim Ehenamensrecht leichte Beute des Verfassungsgerichtes, das weniger Mühe als der Gesetzgeber hatte, sich vom Prinzip des einheitlichen Ehenamens zu lösen. Die vor allem wegen der Konsequenzen für den Kindesnamen erforderliche Neuregelung brachte das Familiennamensrechtsgesetz vom 16. 12. 1993. Wenn das AdoptG des Jahres 1976 zuvor als verfassungneutral gekennzeichnet wurde, so enthält es doch eine Bestimmung von äußerster Grundrechtsrelevanz, die hier deswegen genannt werden soll, weil ihre Verfassungsmäßigkeit noch immer nicht völlig außer Streit steht. § 1748 ermöglicht es heute dem VormG, die Einwilligung des einzigen oder beider leiblicher Elternteile in die Adoption zu ersetzen. Daß die Adoption im wohlverstandenen Interesse des Kindes liegen muß, ist Grundvoraussetzung. Bis zum Jahre 1961 war es aber nicht möglich gewesen, dabei über den Elternwillen hinwegzugehen. Forderungen nach einer Adoption auch gegen den Elternwillen kamen aus der Jugendarbeit; sie betrafen Eltern, die ihre Kinder mißhandelten, vernachlässigten oder jahrelang ohne Not in Kinderheimen beließen. Die Voraussetzungen, unter denen das FamRÄndG von 1961 mit dem damaligen§ 1747 Abs. 3 bei Verschulden eine Ersetzung der elterlichen Einwilligung gestattete, ließen es noch nicht zu, auch Eltern, die aus Gleichgültigkeit oder unverschuldet wegen Krankheit ihrem Kind nicht gerecht wurden, dieses 9 Lieberwirth, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. I 1971, Sp 836 f. (Art. Ehebruch); Frenzel, Motive der Weltliteratur, 4. Aufl. 1992, S. 220. Wegen der biologischen Gründe der menschlichen Sexualregeln s. u. S. 82.

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gegen ihren Willen zu nehmen. Das Adoptionsrechtsänderungsgesetz von 1973 hat auch diese Möglichkeit eröffnet, für solche Fälle jedoch zusätzliche, die Adoption erschwerende Erfordernisse aufgestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat auch diesen weitgehenden Eingriff in das natürliche Eiternrecht abgesegnet und damit die Rechtslage auf einem äußerst umstrittenen Gebiet stabilisiert. Mit Ausnahme des 1998 erlassenen Kindschaftsrechtsreformgesetzes (KindRG), das von seinem Gesetzgeber noch als Vollendung des Verfassungsauftrags aus Art. 6 Abs. 5 GG verstanden worden ist, stehen die nach dem 1. EheRG von 1976 erlassenen familienrechtlichen Änderungen nicht mehr im Horizont von Verfassungsaufträgen. Seitdem ist es weniger die Verfassung als das Verfassungsgericht, welches das Familienrecht beeinflußt. Ein frühes Beispiel dafür reicht in das Jahr 1960 zurück und wirkte entscheidend auf den Gesetzgeber des Jahres 1989. Der Beschluß vom 10. 2. 1960 (BVerfGE 10, 302) galt dem Art. 104 GG. Nach dessen Abs. I kann die Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden und hat nach Abs. 2 über Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung nur der Richter zu entscheiden. Trotz seiner Einreihung in den Abschnitt über die Rechtsprechung gehört Art. 104 anerkanntermaßen zu den Grundrechten. Es wäre, würde deren Geschichte weniger ideen- als geltungsgeschichtlich geschrieben, sogar als ältestes Grundrecht zu verbuchen, weil es auf den berühmten Art. 39 der englischen Magna Carta vom Jahre 1215 Nullus liber homo 10 zurückgeführt werden kann, aber auch in kontinentalen Herrschaftsverträgen des Mittelalters Entsprechungen hat. Wie die meisten später dazugekommenen Grundrechte ist es aus einer bestimmten historischen Situation entstanden und war zunächst auf die Angehörigen des Parlaments von 1215 beschränkt, hat sich aber kraft seiner abstrakten Formulierung und einem inneren Wachstumsgesetz der Rechtsordnung ausgedehnt und im 17. Jahrhundert bereits alle Engländer erfaßt.U In der Folgezeit scheint es in England auch schon in familienrechtlichen Zusammenhängen angewandt worden zu sein. 12 Nicht nur in England war es nämlich möglich, daß Väter ihre unbotmäßigen Söhne, gegen Bezahlung versteht sich, in ein Gefängnis oder Zuchthaus sperrten, zur Abkühlung oder zur Brechung ihres Willens. Während man in England dafür allmählich eine richterliche Anordnung verlangte, bildete sich in Deutschland der Dualismus zwischen einerseits öffentlicher, polizeilicher und andererseits privater Unterbringung heraus. 13 Art. 104 GG wurde zunächst so verstanden, daß sein Anwendungsbereich auf öffentliche, besonders kriminalpolizeiliche und strafrechtliche Unterbringungen beschränkt war. Hier 10 Abdruck bei J. C. Holt, Magna Carta, Cambridge University Press, 1992. Über die weitere Entwicklung: Holdsworth, History ofEnglish Law, Bd. IX (1926), S. 104.ff. II Kluxen bei Stieder, Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 4, 3. Aut1. 19%, S. 317 12 Hold.vworth a. a. 0., S. 121. 13 Darüber Ho/ziUJuer, Empfiehlt es sich, das Entmündigungsrecht, das Recht der Vormundschaft und der Pflegschaft für Erwachsene sowie das Unterbringungsrecht neu zu ordnen? Gutachten B zum 57. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 57. DJT Band I S. B 90 ff. und: Betreuungsrecht in der Bewährung, FamRZ 1995, 1463, 1470 ff.

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griff das Bundesverfassungsgericht mit dem genannten Beschluß ein und begründete schon 1960 mit Art. 104 Abs. 2 GG das Erfordernis einer richterlichen Entscheidung, wenn ein Vormund in Ausübung seines Aufenthaltsbestimmungsrechts den volljährigen Entmündigten in einer geschlossenen Anstalt unterbringen will. Das Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge vom Jahre 1979 kodifizierte diese Rechtsprechung in§ 1631 bundweitete sie damit in den Bereich der elterlichen Sorge aus. Kontrolliert werden sollte dadurch allerdings nicht mehr ein Einsperren von Kindem in Gefängnissen, sondern ihre bis dahin allzu häufige Aufnahme in jugendpsychiatrische Kliniken oder Abteilungen zur Begutachtung in Sorgerechtsstreitigkeiten. Vollendet wurde die Karriere des auf einer Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts beruhenden Richtervorbehalts bei Freiheitsentziehungen durch das 1992 in Kraft getretene Betreuungsgesetz (BtG), das die Vormundschaft über Volljährige durch das neue Institut der Betreuung ersetzte. Richterliche Genehmigungserfordernisse waren zwar dem hergekommenen Vormundschaftsrecht bekannt, aber nur im Bereich der elterlichen und vormundschaftlichen Vermögensverwaltung. Die Neuerung des BtG bestand darin, daß es das Institut des Genehmigungserfordernisses im Bereich der Personensorge weiter ausdehnte. Seitdem bedarf außer der Unterbringung jede nicht harmlose medizinische Maßnahme, sei sie diagnostischer oder therapeutischer Natur, einschließlich der Medikamentengabe, in die der Betreuer einwilligt, gerichtlicher Genehmigung. Dies allerdings war eine Entscheidung des einfachen Gesetzgebers, der damit die Grenze zwischen Vormundschaft oder Betreuung und der Obervormundschaft des Staates zu Gunsten des Staates verschob, unter Inkaufoahme erheblicher gerichtlich-fürsorglicher Bürokratie. Eine andere, ebenso praktisch bedeutsame Ausdehnung wurde von ihren Befürwortern als dringliche weitere Folgerung aus Art. 104 GG abgeleitet: die in § 1906 Abs. 4 enthaltene Ausdehnung des Unterbringungsbegriffs auf sogenannte unterbringungsähnliche Maßnahmen. Seitdem müssen Gerichte es genehmigen, wenn ein Betreuter, in erster Linie sind das Altersdemente, aber auch geistig behinderte jüngere Menschen, im Bett oder am Stuhl mechanisch fixiert oder medikamentös sediert werden sollen. Ich gestehe, daß ich diese Ausdehnung aus mehreren Gründen kritisiert habe 14, auch deswegen, weil die Maßnahmen so sehr von wechselnden Umständen des Einzelfalls abhängen, daß eine nur zu häufig am grünen Schreibtisch des Vormundschaftsgerichts zu treffende Entscheidung der Sache nicht gerecht werden kann 15 . Meine Kritik war deswegen aussichtslos, weil die richterliche Kontrolle 14 Der Umfang gerichtlicher Kontrolle privatrechtlicher Unterbringung, Familie und Recht 1992, S. 249 ff. Für ein enges Verständnis des § 1906 Abs. 4 BGB, Betreuungsrechtliche Praxis 1992, S. 54 ff.

15 Nach § 70 c FGG hat das Gericht vor seiner Entscheidung den Betroffenen persönlich anzuhören und sich einen unmittelbaren Eindruck von ihm zu verschaffen und zwar, soweit erforderlich, in der üblichen Umgebung des Betroffenen. Aber das ist nicht überall und nicht immer möglich und eben dies ist voraussehbar und bei der Beurteilung ebenso zu berücksichtigen wie die auf Papier geschriebenen Vorschriften.

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von ihren Verfechtern gar nicht auf Einzelfälle zielte, sondern auf die massenhafte Erscheinung, daß Heime und Anstalten ihre bettlägerigen Bewohner fixierten und sedierten, weil das Geld für Pflegekräfte fehlte. Solche Mißstände abzustellen, war eigentlich die Aufgabe der nach einem eigenen Gesetz - dem Heimgesetz - arbeitenden Heimaufsicht, die aber, nicht zuletzt wegen personeller Unterbesetzung, aber auch wegen der personellen und sachlichen Nähe zu den Heimen, versagte. Das Kalkül, mit Hilfe unabhängiger Richter etwas zu erreichen, was mit Hilfe abhängiger Verwaltungsbehörden nicht erreichbar war, scheint aufgegangen zu sein. Teilweise soll es sogar zur erforderlichen Vermehrung von Richterstellen gekommen sein. Ich habe diese Einzelheiten hier angesprochen, weil sie die soziale und staatsverwaltungsmäßige Wirklichkeit in einer gewiß eigenartigen Wechselwirkung mit einem Grundrecht, hier dem des Art. 104 GG, zeigen. Nachdem bis an die 80er Jahre heran die Gleichberechtigung weitgehend hergestellt und auch die Rechtsstellung der nichtehelichen Kinder wesentlich verbessert war, trat im Namensrecht und im Kindschaftsrecht das Grundrecht des Art. 2 GG auf Entfaltung der Persönlichkeit in den Vordergrund. So sehr im Zeichen der Gleichheit- der Gleichheit der Geschlechter wie der unter Kindem-das überkommene Familienrecht umgestaltet worden ist, die umstürzende Wirkung, die vom Persönlichkeitsrecht ausgeht, könnte die der Gleichberechtigung übertreffen. Freilich hängt das ganz von der Interpretation ab; insofern hat der Begriff der Persönlichkeit ähnliche Struktur wie der Begriff der Freiheit, aus dem in der politischen Ideengeschichte diametral entgegengesetzte Folgerungen abgeleitet worden sind, je nachdem, ob die ,,Freiheit wovon" oder die "Freiheit wozu" in den Vordergrund gestellt wurde. Ganz entsprechend kann die Persönlichkeit und vor allem das Ziel ihrer Entfaltung in einem individualistischen oder einem mehr "sozialistischen", die Sozialform der Familie enthaltenden Sinn verstanden werden. Und ebenso wie beim Begriff der Freiheit ist die erstere, die individualistische, neinsagende Variante das primäre, elementare, weniger intellektuell-manipulierte Verständnis. Der Hinweis auf diese Ambivalenz der Begriffe soll besagen: das Anführen von Art. 2 in einer juristischen Argumentation hat geringe begründende Kraft; die determinierende Wirkung, die von dieser Bestimmung ausgeht, ist schwach; entsprechend größer ist der Anteil, den der Ausleger zu verantworten hat. Wenden wir uns dem zuletzt aufgekommenen Persönlichkeitsrecht zu, dem auf Kenntnis der eigenen Abstammung, so werden wir noch einmal auf das Adoptionsrecht geführt. Die Adoption ist ein uraltes Rechtsinstitut, das in erbrechtlichem Zusammenhang erwachsen war, nach der Ausbildung genuiner Rechtsgeschäfte von Todes wegen, vor allem der gewillkürten Erbeinsetzung, in den Jahrhunderten unserer Rechtsentwicklung aber so gut wie keine Bedeutung hatte 16 , vor allem nicht für elternlose Kinder, die eher in ihren Paten Ersatzeltern fanden oder unter die 16 Ebenso für das französische Recht: Fritz Sturm, Die Aufnahme der Adoption in den Code civil, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell, 1997, S. 1305 ff., 1306.

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Vormundschaft eines erwachsenen Angehörigen kamen. Das änderte sich im 20. Jahrhundert in Schüben nach den beiden Weltkriegen. Die Adoption wurde nun genutzt, um elternlosen Kindern eine neue Familie zu geben 17 • Bald aber waren es nicht mehr elternlose, sondern solche Kinder, deren Eltern versagten, weil sie nicht erziehungswillig oder nicht erziehungsfähig waren. Die Adoption hatte solche Kinder aus der alten in eine neue Familie umzusetzen. In solchem sozialen Bezug wurde, nicht nur in Deutschland, das überkommene Adoptionsrecht dahin umgestaltet, daß das Kind aus seiner Herkunftsfamilie ausscheidet und seine angeborenen Verwandtschaftsverhältnisse verliert. Gleichzeitig wurde diese sogenannte Volladoption von der früheren vertraglichen auf eine hoheitliche Grundlage gestellt, bei der die Adoption durch Gerichtsbeschluß ("Dekret") geschieht. Diese Adoptions-Philosophie - ein leitender Mitarbeiter aus dem Justizministerium sprach damals kritisch von Adoptions-Mystik 18 - gipfelte in der Praxis der sogenannten anonymen Adoption, bei welcher die abgebenden Eltern die Identität der Annehmenden nicht erfahren, damit sie die Einwurzelung des Kindes in der neuen Familie nicht stören können. Diese Anonymität bedingt, daß das adoptierte Kind ebenfalls von seiner Adoption möglichst nie oder so spät wie möglich erfahren soll. Von solchen Fällen wurde nun berichtet, daß die Geheimhaltung oft scheitere und das Kind dann gewöhnlich zur Unzeit erfahre, daß es nicht von den vermeintlichen Eltern abstammt, was sich, wenn dieses Ereignis in eine sensible Reifephase fallt, nachteilig auf die "Selbstfindung" auswirke. Aus dem Adoptionswesen kam also Anfang der 80er Jahre die These von der Bedeutung der Kenntnis der eigenen Abstammung, die zunehmend als ein Recht gefordert wurde. Im Adoptionswesen führte diese These zur Abkehr von der anonymen Adoption, so daß heute das Ideal und die Praxis einer offenen Adoption herrschen, bei der das Kind mit dem Wissen um seine Herkunft groß wird. Im Adoptionsrecht war die These eines Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung aufgekommen, aber die Probleme, die das neue subjektive Recht im Familienrecht hervorrief, lagen im Statusrecht Hier traf das Kenntnisrecht auf eine Regelung, die das Kind einem Manne als Vater nach normativen Kriterien zuordnet, nämlich kraft Ehe mit der Mutter oder Vaterschaftsanerkennung, die beide ohne eine naturwissenschaftliche Vaterschaftsfeststellung unsicher sind. Das überlieferte Familienrecht stammt aus einer Zeit, als solche Feststellungen noch nicht möglich waren. Nur in seltenen Fällen, etwa bei langdauernder Abwesenheit des Ehemannes oder "offenbarer Unmöglichkeit" der Vaterschaft, etwa auf Grund unvereinbarer Hautfarben, konnte die Nichtvaterschaft des Ehemanns bewiesen werden. Indem das Recht die Möglichkeit einer Aufdeckung der Vaterschaft durch Fristen und zusätzliche Erfordernisse weiter einengte, sollten die Vater-KindBeziehung und die Elternfamilie stabilisiert werden. Zumal die rechtliche StabiliOben S. 75. Stöcker. Bemerkungen zu drei Streitpunkten der Reform des Adoptionsrechts, FamRZ 1974,568/569. 17

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sierung des Status auch dann eintrat, wenn die "Eltern" um die fehlende Abstammung wußten, hatte das überkommene Rechtsinstitut der Familie einen faktischen, sozialen Einschlag. Entsprechend erschien den Kritikern ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung als romantischer Atavismus. Nachdem aber das BVerfG in einer Entscheidung von 1988 19 das Kenntnisrecht anerkannt und die Feststellung der Abstammung behindernde Vorschriften für verfassungswidrig erklärt hatte, ist diese Kritik verstummt und hat das Kenntnisrecht von Deutschland aus einen Siegeszug um die Welt angetreten. Diese Entscheidung des BVerfG, die den Gesetzgeber des KindRG vom Jahre 1998 zu einer tiefgreifenden Änderung des Statusrechts veranlaßt hat, ist m.E. kaum noch von der Verfassung determiniert. In ebenso schönen Worten hätte mit den Argumenten der Gegner begründet werden können, daß das Großwerden in einer stabilen Familie die Voraussetzung dafür ist, daß der heranwachsende Mensch seine Persönlichkeit entfaltet und daß es damit auch nicht vereinbar ist, wenn er später als Erwachsener dieses Band zerschneidet. Spielt doch der ursprünglich adoptionsrechtliche Grund, das Kind in der Reifephase nicht zu belasten, im Statusrecht keine Rolle. Da geht es nur um das Persönlichkeitsrecht des Kindes. Wahrend seiner Minderjährigkeit steht es unter der gesetzlichen Vertretung seiner Eltern, und zwar grundsätzlich auch bei der Entscheidung über eine Vaterschaftsanfechtung, so daß die Eltern im Rechtssinne in der Lage sind, eine fehlende Abstammung dem minderjährigen Kind zu verheimlichen und hauptsächlich Volljährige die Frucht des erweiterten Anfechtungsrechts ernten werden. Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung kam auf und setzte sich durch, gleichzeitig mit der Möglichkeit seiner Verwirklichung. Solange es diese Möglichkeit nicht gab, galt das Interesse vorzüglich der eigenen Deszendenz; aus einer tief verwurzelten Prägung, welche die Sozio-Biologie auf den ,,Egoismus der Gene" zurückführt, investierte die Kultur enorme Energie, um dem Mann einigermaßen Sicherheit bezüglich seiner Deszendenz zu ermöglichen; es war diese die wichtigste Funktion der Ehe, worauf sogleich noch zurückzukommen sein wird. Das Interesse an Sicherheit bezüglich der Aszendenz war nicht vergleichbar tief verwurzelt. Zwar kennen Mythos und Literatur das Motiv der plötzlichen Erhellung der eigenen Herkunft, meist aus einer sozial höherer Schicht20. Aber der verunklarende Zustand war immer ein postnatales Schicksal, eine Vertauschung, Aussetzung oder Rettung des Säuglings durch Menschen meistens niederer Schicht, niemals eine soziale Irregularität der Zeugung. Wie schnell sich das Interesse an der eigenen Herkunft entwickelt und zu einem Recht erstarkt, sobald die wissenBVerfGE 79, 256. Otto Rank (Der Mythos von der Gebun des Helden, Wien 1909) hat aus zahlreichen Heldenmythen des indo-europäischen Kulturkreises eine "Durchschnittssage" entwickelt, der zufolge das unbewußte Antriebsmotiv der mythischen Heldentaten die Vaterüberwindung des Sohnes ist, der, in der Regel königlicher Herkunft, als Säugling ausgesetzt wird und bei armen Pflegeeltern aufwächst, nach langen Irrfahnen seine leiblichen Eltern wiederfindet und sich an ihnen rächt (Archetyp: Ödipus). 19

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schaftliehe Entwicklung seine Befriedigung ermöglicht, erstaunt angesichts der Langsamkeit, mit der sich mehr endogene Änderungen gesellschaftlicher Haltungen und Anschauungen vollziehen. Was genau den Anspruch auf Kenntnis der eigenen Herkunft erfüllbar gemacht hat, ist die Möglichkeit der positiven Vaterschaftsfeststellung, die erst in den allerletzten Jahren zu uneingeschränkter Brauchbarkeit entwickelt wurde. Von ihr zu unterscheiden ist die negative Vaterschaftsfeststellung, der Vaterschaftsausschluß, der sich mit der Entdeckung der Blutgruppen im Jahr 1900 allmählich entwickelt hat und schon seit dem zweiten Weltkrieg praktisch effizient gehandhabt wird, obwohl auch seine Methode erst in den letzten Jahren mit der Entdeckung immer weiterer Blutgruppen und schließlich der DNA ihre Perfektion erfahren hat. Aber diese Neuerung hatte in den letzten Jahrzehnten genug Zeit, ihrerseits auf die familienrechtlichen Hintergründe einzuwirken. Schon oben wurde die Emanzipation der Frau mit der rechtspolitischen Folge der Gleichberechtigung und Einebnung des Unterschieds ehelicher und nichtehelicher Kinder auf zugrundeliegende soziale Veränderungen zurückgeführt. Wenn dafür etwa die Bewährung der Frau in den beiden Weltkriegen und ihre steigende Erwerbstätigkeit genannt werden, ist das viel zu oberflächlich. Etwas tiefer gereift ist es schon, wenn in diesem Zusammenhang auf den Funktionsverlust der Ehe hingewiesen wird. Tatsächlich haben gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen an der Funktion von Ehe und Familie gezehrt: die Übernahme von Versorgungsleistungen durch außerund überfamiliäre Träger, Mechanisierung, Elektrifizierung und Elektronisierung der Hausarbeit, Ankauf von bisher im Haus produzierten Gütern am Markt und schließlich die Entlastung durch weniger Schwangerschaften und geringere Kinderzahl. Aber die elementare Funktion der Ehe liegt, in gewissem Gegensatz zur Familie, nicht in Produktion und Konsum, sondern in der Reproduktion mit der Basis in der Sexualität. Hier hat die Ehe das ausschließliche Recht des Mannes auf Sexualverkehr mit seiner Frau begründet, deren Pflicht zur Treue individueller und sozialer Kontrolle unterlag, die durch Ausbildung einer spezifischen Geschlechtsehre verinnerlicht war. Nachdem zunächst die Pille die Gefahr ungewollter Empfängnis der Ehefrau aus einem außerehelichen Kontakt erheblich gemindert hat, kam die Möglichkeit des Mannes hinzu, seine Nichtvaterschaft praktisch in jedem Falle nachzuweisen. Damit verlor die Ehe ihre Funktion, mittels Sexualkontrolle über die Frau dem Mann die Sicherheit hinsichtlich seiner Deszendenz zu geben. Sicher hat die Ehe damit nicht jede Funktion verloren. Die Frage ist nur, was nach dem Verlust des augustinischen triplex bonum, nämlich dem bonum sacramenti, der Unauflöslichkeit, dem bonum prolis, dem für Ehepaare monopolisierten Kindersegen, und dem bonum fidei, der Gattentreue, die keine biologische Funktion mehr hat, bleibt, das der Ehe im überkommenen Sinn reserviert werden kann. Wenn neuerdings gefordert wird, sie auch homosexuellen Paaren zu öffnen, so rückt eine ganz andere als die bisher angesprochene Funktion der Verfassung und

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der Grundrechte ins Blickfeld. Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit sollen hier in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden. Die bisher genannten Rechtsänderungen waren von der Verfassung vorgeschrieben oder angestoßen; die Verwirklichung der Gleichberechtigung und der Einebnung des Unterschieds von ehelichen und unehelichen Kindem entsprachen dem gleichzeitigen Funktionsverlust der Ehe, der sich seinerseits aus technisch-wissenschaftlichen Neuerungen ergeben hat. Andere Neuerungen waren weniger Frucht der Verfassung als des Verfassungsgerichts. Die aus Art. I 04 GG abgeleitete vorgehende gerichtliche Kontrolle des Vormunds und ihre Ausdehnung durch den einfachen Gesetzgeber auf Eltern war obervormundschaftlich-fürsorglich begründet; die ebenfalls mit Art. 104 GG begründete Ausdehnung des Richtervorbehalts durch das BtG hatte zusätzlich einen verwaltungstaktischen Grund. Die Erfindung des Kenntnisrechts schließlich antwortete wieder auf wissenschaftliche Neuerungen, die fast ohne zeitliche Verzögerung menschliche Haltungen und Anschauungen beeinflussen. Angesichts von Forderungen nach Öffnung der Ehe für Homosexuelle fragt es sich, ob sich die Verfassung auch sozialem Wandel, den sie gewöhnlich fördert, auch einmal entgegenstellt. Mit Art. 6 GG ist die Lehre von der Dreidimensionalität der Grundrechte als Abwehrrecht, Institutsgarantie und wertentscheidende Grundsatznorm verbunden. Bei aller "Offenheit" der Verfassung kann von einer Garantie nur gesprochen werden, wenn da ein fester Kern ist. Zu diesem Kern haben das BVerfG und die verfassungsrechtliche Lehre stets die Geschlechtsverschiedenheit der Partner gerechnet. Heute steht die Frage der Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare vor der Tür. In den Niederlanden ist die gesetzgebensehe Arbeit so weit gediehen, daß eine Reform bevorsteht. In Frankreich hat ein entsprechendes, von den beiden zuständigen Ministerinnen vorgelegtes projet de loi bei seiner Behandlung in der chambre des deputes zunächst zu einer Zerreißprobe und dann zu der größten nicht linken Gegendemonstration geführt, die Paris je gesehen hat. Inzwischen soll das Gesetz in gemilderter Form in einem zweiten Anlauf die Kammer passiert haben. In Deutschland ist der Vorstoß eines Amtsgerichts, das einen Standesbeamten zur Vollziehung der Eheschließung zwischen zwei homosexuellen Männem verpflichtete, am zuständigen OLG gescheitert. Das neuerliche Hamburger Gesetz mag von seinen Urhebern als Zeichen gewollt sein; in seiner Mischung von liberaler Beflissenheit und Wahlkalkül mit der einzigen Rechtsfolge eine Schaueffektes dürfte es eher geeignet sein, die Legislative, zumal eines Stadtstaates, lächerlich zu machen. Darüber hinaus verhängnisvoll wäre der Hamburger Schritt, wenn der Gesetzgeber den Weg weiterginge, einzelne Elemente oder Wirkungen der Ehe auf homosexuelle Paare auszudehnen. Eine solche Rosinen-Ehe, denn nur darum könnte es sich handeln, ergäbe eine Verbiegung der Institution. Weil der Ehe ihr verfassungsrechtlicher Rang nach wie vor im Hinblick auf Kinder zukommt, verbindet sich die Frage der Öffnung der Ehe für Homosexuelle mit der, ob die gleichgeschlechtlichen Partner auch zur gemeinschaftlichen und zur Stiefkindadoption zugelassen werden sollen. Gutachtliche Äußerungen, die unter dem Gesichtspunkt

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des Kindeswohls dazu in Frankreich veröffentlicht worden sind, legen mehrheitlich die Zulassung nahe. Die Frage aber, ob sich in Deutschland die Institutsgarantie der Ehe durch Art. 6 GG einer Öffnung der Ehe für Homosexuelle entgegenstellt, inwieweit eine solche Garantie vielleicht sogar von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG berührt wird und welchen Sinn anderenfalls eine Verfassungsgarantie haben soll, diese Frage überlasse ich - nicht nur aus Zeitgründen - den Verfassungsrechtlern.

Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht Von Dirk Ehlers

Bisher sind im Rahmen der Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des Grundgesetzes die letzten fünf Jahrzehnte der Verfassungsentwicklung auf verschiedenen Rechtsgebieten nachvollzogen worden. Für das Staatskirchenrecht bildet aber nicht der Erlaß des Grundgesetzes, sondern der Erlaß der Weimarer Reichsverfassung die entscheidende verfassungsrechtliche Zäsur. Bekanntlich sind nämlich die wesentlichen Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 auf Antrag des nachmaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss 1 mittels der Verweisungsnorm des Art. 140 GG in das Grundgesetz übernommen worden. Daher soll hier nicht nur von den letzten fünfzig, sondern von den letzten achtzig Jahren gesprochen werden. "Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe. " 2 Mit diesem Ausspruch des berühmten Verfassungslehrers und Staatskirchenrechtiers Rudolf Smend, abgedruckt in dem 1951 erschienenen ersten Band der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, wurde ein Thema angesprochen, welches die staatskirchenrechtliche Diskussion in den ersten Jahrzehnten in der Bundesrepublik bestimmte. Smend vertrat die Auffassung, daß die durch Art. 140 GG wörtlich in das Grundgesetz übernommenen Weimarer Kirchenartikel anders als in der Weimarer Zeit auszulegen seien. Er stützte sich hierbei zum einen auf die veränderte Lage, d. h. auf die Zurückdrängung des Staates nach der Zeit des Totalitarismus und die gewachsene Bedeutung der aus dem Kirchenkampf mit neuem Selbstbewußtsein hervorgegangenen Kirchen. Zum anderen beurteilte er Art. 140 GG nicht als das Ergebnis einer klaren und bewußten grundsätzlichen staatskirchenpolitischen Entscheidung des Parlamentarischen Rates, sondern als Verlegenheitslösung verfassungsgebender Parlamentsarbeit, die nicht weit vom Typus eines Formelkompromisses3 entfernt sei. I Vgl. die Darstellung der Entstehungsgeschichte des Art. 140 GG in JöR n. F. Bd. 1 (1951), 899 (901). 2 Smend, ZevKR 1 (1951), 4. 3 Ohne dies explizit zum Ausdruck zu bringen, übernahm Smend damit eine Wortschöpfung seines wissenschaftlichen Antipoden Carl Schmitt (vgl. dens., Verfassungslehre, 1928, S. 32 f. "dilatorischer Formelkompromiß").

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Die Auffassung Smends wurde in Rechtsprechung und Lehre aufgegriffen und erstarkte in den fünfziger Jahren schnell zur herrschenden Meinung. 4 So wurde statt der bis dahin nicht in Zweifel gezogenen Unterordnung der Kirchen unter die staatliche Rechtsordnung den Verfassungsbestimmungen nunmehr das Gebot einer partnerschaftliehen Koordination von Staat und Kirche entnommen. Da Staat und Kirche als rechtlich gleichrangige Institutionen zu betrachten seien, müßten sie sich im Konfliktfall im Vertragswege einigen, falls es nicht zum Kulturkampf kommen solle.5 Allerdings könne nicht allen, sondern nur den großen christlichen Kirchen wegen ihrer überragenden historischen und kulturellen Bedeutung die Stellung einer dem Staat gleichrangigen Rechtsmacht eingeräumt werden. Mitte der sechziger Jahre begann sich entschiedener Widerstand gegen die Koordinationslehre zu formieren. Das Bundesverfassungsgericht hielt es für notwendig, darauf hinzuweisen, daß die inkorporierten Weimarer Kirchenartikel vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geworden sind und gegenüber den anderen Artikeln des Grundgesetzes nicht auf einer Stufe minderen Ranges stehen.6 Im Schrifttum forderten kritische Stimmen eine Rückbesinnung auf den Verfassungstext Auch wurde daran erinnert, daß der Staat seiner ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Gemeinwohlverantwortung und Friedenssicherungsfunktion nur gerecht zu werden vermag, wenn er volle Souveränität genießt und nicht zur Respektierung gleichrangiger Mächte verpflichtet ist? Diese Einwände haben vor dem Hintergrund einer verstärkten Pluralisierung und Säkularisierung der Gesellschaft in den sechziger Jahren ihre Wirkung nicht verfehlt. Hinzu kam, daß die Befürworter einer strikten Koordinationslehre, sofern sie überhaupt juristisch argumentierten, dazu neigten, die als unpassend angesehenen Weimarer Kirchenartikel durch die grundrechtlich garantierte Religionsfreiheit zu überspielen. Alsbald zeigte sich aber, daß das Grundrecht der Religionsfreiheit durchaus ambivalent wirken kann, da es zu Lasten der Religionsgemeinschaften auch die individuelle Religionsfreiheit sowie die negative Religionsfreiheit schützt.8 So wurde Ende der sechziger I Anfang der siebziger Jahre die Koordina4 Vgl. aus der Rechtsprechung z. B. BGHZ 22, 383 (387); 34, 372 (373); 46, 96 (101). Zum Schrifttum siehe den Dokumentationsband von Quaritsch/Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, Staatskirchenrechliehe Aufsätze 1950-1967, 1967 (insbes. die dort aufgeführten Abhandlungen von J. Hecke[, Smend, Peters, Hesse, Mikat und Grundmann). s Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, 1956, S. 76. 6 BVerfGE 19, 206 (219f.). 7 Vgl. insbes. Quaritsch, Der Staat I (1962), 175ff., 189ff.; dens., Der Staat 5 (1966), 451 ff.; H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 17ff., 23ff.; Obermayer, DÖV 1967, 9ff. s Vgl. M. Hecke[, VVDStRL 26 (1968), 5 (25 f.). Richtungsweisend (wenn auch wegen der strikten Bevorzugung der negativen Religionsfreiheit vor der positiven abzulehnen) die Schulgebetsentscheidung des Hess. StGH, NJW 1966, 31 ff. Im Ergebnis a.A. BVerfGE 52, 223 ff. (welches das Schulgebet allerdings nicht als Teilnahme an einer schulischen Veranstaltung ansieht, wiewohl es innerhalb des Unterrichts gesprochen wird; krit. zu dieser Argumen-

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tionslehre in der rigorosen Form, wie sie zuvor vertreten worden war, aufgegeben. 9 Damit brach zugleich die Diskussion über den Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht ab. Dies heißt indessen nicht, daß sich das Thema erledigt hätte. Der Bedeutungswandel gesetzlicher Bestimmungen ist keine Besonderheit des Staatskirchenrechts, sondern ein allgemeines rechtswissenschaftliches Problem. 10 Von einem Bedeutungswandel soll dann gesprochen werden, wenn ein Rechtssatz bei gleichbleibendem Wortlaut einen anderen Sinngehalt erhält, d. h. identische oder vergleichbare Sachverhalte anders beurteilt werden. I I Dies kann vielfältige Ursachen haben, denen hier nicht im einzelnen nachgegangen werden kann. Es reicht aus, einige typische Fallkonstellationen zu benennen. So wandelt sich der Sinngehalt eines Rechtssatzes, wenn sich der Normbereich, d. h. der vom Normprogramm als rechtserheblich in Bezug genommene Sach- und Lebensbereich, ändert und diese Änderung Rückwirkung auf das Normprogramm hatP Beispielsweise sind die korporierten Kirchen gern. Art. 137 Abs. 6 WRV (i. V. m. Art. 140 GG) berechtigt, "aufgrund der bürgerlichen Steuerlisten" nach Maßgabe der Iandesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. Danach haben die Kirchen einen Anspruch auf Bekanntgabe der bürgerlichen Steuerlisten. Da solche Listen seit langem nicht mehr geführt werden und die Verfassungsvorschrift die Träger von Staatsgewalt kaum dazu zwingen will, derartige Listen für alle Zeiten beizubehalten, muß der Bestimmung heute eine andere Bedeutung als früher zukommen. Berücksichtigt man das Telos der Vorschrift, wird man annehmen müssen, daß der Staat den Kirchen anstelle der bürgerlichen Steuerlisten andere zur Realisierung des Besteuerungsrechts geeignete Informationsgrundlagen zur Verfügung stellen muß. I 3 tation Böcunförde, DÖV 1980, 323ff.; aus neuerer Zeit vgl. Starck, KuR 710, I, 2f.). Gegen einen Schutz auch des Unterlassens von Handlungen durch Art. 4 Abs. I und 2 GG Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 138 ff. u. passim. Dazu Mucul, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 140ff., 168f. 9 Zum Wandel der Auffassungen vgl. Hesse, ZevKR ll (1964/65), 337 (361); dens., VVDStRL 26 (1968), 137f.; Grundmann, JZ 1967, 193 (194ff.). Siehe auch Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), 57 (58 ff., 78 f.). IO Zum Bedeutungswandel von Verfassungsbestimmungen vgl. BVerfGE 2, 380 (401 "wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen"; Bezugnahme in BVerfGE 3, 407, 422; vgl. auch BVerfGE 45, 187, 227). Siehe ferner Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 161. 11 Vgl. bereits Hesse (Fn. 5), S. 28 f. Zur Unterscheidung von Bedeutungswandel, Sachverhaltswandel, Interpretationswandel, Rechtsfortbildung, Verfassungswandel und Verfassungsänderung siehe Böcunförde, FS Lerche, 1993, S. 3 ff. 12 Zur Unterscheidung von Nonnprogramm und Nonnbereich vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 168ff. Näher zum Problemkreis Hesse, FS Scheuner, 1973, S. 123 (136ff.); Stern (Fn. 10), S. 161. Zum Wandel der Nonnsituation vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 350ff. Zur Frage, ob das Verfassungsrecht durch sozialen Wandel obsolet werden kann, Robbers, FS Benda, 1995, S. 209ff.

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Ferner ist es denkbar, daß ein Rechtssatz sog. Komplementärbegriffe enthält. So wird das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentum durch den einfachen Gesetzgeber, mithin nicht (primär) durch die Verfassung selbst, bestimmt. 14 Änderungen des Gesetzesrechts ändern damit aber zugleich den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts. Ähnliches gilt auch für die anderen normgeprägten verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, wie z. B. die Bestimmung des Art. 138 Abs. 1 WRV (i. V. m. Art. 140 GG) über die (auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden) Staatsleistungen. Schließlich kann sich der Inhalt des Normprogramms eines Rechtssatzes durch Interpretation, Rechtsfortbildung oder auf andere Weise (etwa Rechtsanmaßung) in der Weise ändern, daß einem Rechtssatz ein anderer Sinngehalt als zuvor angenommen zuwächst. Hierfür können wiederum viele Gründe maßgebend sein. Z. B. kann eine neue Interpretation auf besserer Einsicht oder darauf beruhen, daß eine Norm in einen anderen Kontext gestellt worden ist. Letzteres trifft auf die Weimarer Kirchenartikel zu, da sich mit Einfügung in das Grundgesetz der verfassungsrechtliche Hintergrund gewandelt hat. 15 So kommt den Grundrechten - und damit auch dem Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) - heute eine ganz andere Wirkkraft als in der Weimarer Zeit (Art. 135 WRV) zu. Da die staatskirchenrechtlichen Artikel mit den sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes und daher auch mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit ein Sinnganzes bilden16, müssen sie aufeinander abgestimmt interpretiert werden. Insoweit ist ein Bedeutungswandel der Weimarer Kirchenartikel heute unstreitig. In vielen Fällen wird ein Interpretationswandel aber auch von außerrechtlichen Vorstellungen und damit vom Zeitgeist beeinflußt. 17 Besonders nachdrücklich pflegt sich der Zeitgeist nach Systemwechseln bemerkbar zu machen. In Deutschland hat es in diesem Jahrhundert außerordentlich viele Systemwechsel gegeben. 18 13 Vgl. Meyer-Teschendorf, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 15 (1981), S. 9 (22f.); Schatzschneider, NIW 1983, 2554f.; Hoeren, Kirchen und Datenschutz, 1986, S. 86ff.; v. Mangoldt/Kleinlv. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, 3. Auf!. 1991, Art. 140 GG/ Art. 137 WRV Rn. 187; Marri, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HStKR Bd. I, 2. Auf!. 1994, S. llOl (lll2f.). 14 Näher dazu Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 2ll (214ff.). 15 Vgl. bereits Köttgen, DVBI. 1952, 485 (486). 16 Vgl. BVerfGE 53, 366 (400 f.); 70, 138 (167); v. Mangoldt/ Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 3. Auf!. 1985, Art. 4 Rn. 78. Nicht überzeugend daher, wenn Verfassungsrechtssätze als Durchbrechung anderer Verfassungsrechtssätze interpretiert oder gar als verfassungswidrig eingestuft werden. Z. B. sehen Renck (LKV 1997, 81, 83 f .) und Goerlich (NVwZ 1998, 819, 821) Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG als Durchbrechung der weltanschaulichen Neutralität des Grundgesetzes an. Nach Schmitt-Eichstaedt, Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts?, 1975, S. 107ff., stellt Art. 137 Abs. 5 WRV eine verfassungswidrige Verfassungsnorm dar. 17 Vgl. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991 u. passim. 18 Siehe Rüthers, Das Recht zwischen Ökonomie und Metaphysik, in: Verh. des 60. DJT, Bd. 11/1, 1994, S. I 5 ff.

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Das Kaiserreich, die Weimarer Republik, der NS-Staat, das Besatzungsregime, die alte Bundesrepublik, der Beitritt zur Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft und die Wiedervereinigung Deutschlands bilden die verschiedenen Stationen. Alle diese Systemwechsel bzw. Veränderungen haben tiefe Spuren in der Rechtsordnung hinterlassen. Dies trifft auch auf das Staatskirchenrecht zu. So sind die Art. 136 bis 139 und 141 WRV in den achtzig Jahren ihrer Geltungtrotz unveränderten Wortlauts zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgelegt worden. Im folgenden sollen zunächst die Entwicklungstendenzen im Staatskirchenrecht seit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung nachvollzogen werden (I.). Hierbei wird zugleich gefragt, inwieweit diese Tendenzen noch heute im Staatskirchenrecht bestehen und ihre Berechtigung haben. Sodann soll der Blick in die Zukunft gerichtet und versucht werden, einige Leitlinien herauszuarbeiten, die bei der Weiterentwicklung des Staatskirchenrechts besonders zu beachten sind (II.).

I. Entwicklungstendenzen im Staatskirchenrecht nach lokrafttreten der Weimarer Reichsverfassung Konzentriert man sich auf die wesentlichen Strömungen im Staatskirchenrecht nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, kann man sechs Trends herausstellen, die sich als Etatisierungs-, Privatisierungs-, Konfessionalisierungs-, Säkularisierungs-, Pluralisierungs- und Internationalisierungstendenzen charakterisieren lassen. 1. Etatisierungstendenzen

Die wohl wichtigste Vorschrift der in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikel, der Art. 137, beginnt mit einem Paukenschlag. Abs. I der Bestimmung lautet: Es besteht keine Staatskirche. Damit ist das über tausend Jahre andauernde konstantinische Zeitalter einer mehr oder weniger bestehenden Einheit von Thron und Altar endgültig zu Ende gegangen. Der Paukenschlag scheint in der Weimarer Zeit aber nicht recht angekommen zu sein. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, daß in den staatlichen Kultusministerien christlich gesinnte Ministerialbeamten Dienst taten, welche die liberale Trennung von Staat und Kirche als Ärgernis betrachteten und auf eine staatliche Kirchenhoheit im vermeintlich wohl verstandenen Interesse der Kirchen nicht verzichten wollten. 19 Die Rechtfertigung dafür entnahm man mit Billigung der herrschenden Meinung dem Körperschaftsstatus. So ging Anschütz noch in der letzten Auflage seines Kommentars zur Reichsverfassung in Übereinstimmung mit der damals herrschenden Lehre davon aus, daß die Kirchen einer besonderen, über die Vereinsaufsicht hinausgehenden 19 V gl. W Weber, VVDStRL II (1954), 153 ( 158); Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1981, S. 879f.; M. Hecke/, Die theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat, 1986, S. 15 f.

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Staatsaufsicht als notwendiges Korrelat zu ihrer öffentlich-rechtlichen Stellung unterlägen.20 In einigen Ländern wurden gar neue Kirchenaufsichtsgesetze kodifiziert.21 Daß damit der Sinngehalt des Art. 137 Abs. I und 5 WRV verkannt wurde, unterliegt heute keinem Zweifel. Ungeachtet ihrer öffentlich-rechtlichen Rechtsform sind die Kirchen in keiner Weise in den Staat inkorporiert. 22 Sie leiten ihre Aufgaben, Zuständigkeiten und Befugnisse nicht im Wege einer Beleihung vom Staat ab, sondern bleiben staatskirchenrechtlich gesehen gesellschaftliche Instanzen, die einer Staatsaufsicht nicht unterworfen werden dürfen. Gleichwohl dürften Relikte der Korrelatentheorie heute noch fortleben. So wird im staatskirchenrechtlichen Schrifttum darüber diskutiert, ob die korparierten Kirchen an die Grundrechte gebunden sind. 23 Auch sollen die Kirchen nach einer häufig vertretenen Ansicht für den Fall, daß sie Dienstverhältnisse öffentlich-rechtlicher Natur begründen, einem Typenzwang unterliegen, also zur Annahme der typusprägenden Grundprinzipien des staatlichen Beamtenrechts verpflichtet sein.24 Beispielsweise wird es als unzulässig angesehen, die Versorgung der Kirchenbeamten anders als im staatlichen Beamtenrecht über die Rentenversicherung zu garantieren. Ferner soll sich die Haftung der Kirchen bei der öffentlich-rechtlichen Wahrnehmung eigener Angelegenheiten nach Art. 34 GG bestimmen.25 Schließlich nimmt eine in Rechtsprechung und Schrifttum weit verbreitete Auffassung an, daß die Kirchen bei dem öffentlich-rechtlichen Betrieb ihrer Friedhöfe die staatlichen Abgaben- und Verfahrensgesetze minutiös zu beachten haben. 26 Solche Auffassungen lassen sich nur plausibel begriinden, wenn man die korparierten Kirchen als Einrichtungen begreift, die auch staatsabgeleitete Gewalt gegenüber ihren Bediensteten, Mitgliedern und gegenüber den Außenstehenden ausüben. Dies ist indessen gerade nicht der Sinn des Körperschaftstatus. Geht man mit der herrschenden Meinung davon aus, daß die Grundrechte gemäß Art. I Abs. 3 GG grundsätzlich nur gegenüber dem Staat unmittelbar wir2o Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, S. 637. Vgl. auch Giese, AöR 46 (1924), 1 (16); Schoen, VerwArch. 29 (1922), I (20f.); dens., Das neue Verfassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Preußen, 1929, S. 33 f. A. A. Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930, S. 302 f. 21 Übersicht bei Ebers (Fn. 20), S. 305. 22 BVerfGE 18, 385 (386); 42, 312 (321 f.); 55, 207 (230); 66, 1 (19f.). 23 So (mit Differenzierung) z. B. Preuß, in: Kommentar zum Grundgesetz flir die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), 2. Aufl. 1989, Art. 140 Rn. 58; H. Weber, HStKR I, 2. Aufl. 1994, 573 (584ff.); ders., ZevKR 42 (1997), 282 (292f.). 24 Vgl. z. B. v. Campenhausen, ZevKR 18 (1973), 236 (244); H. Weber, ZevKR 22 (1977), 346 (364ff.); dens., NJW 1989,2217 (2225); v. Mangoldt/Kleinlv. Campenhausen (Fn. 13), Art. 140 GG/ Art. 137 WRV Rn. 160. 2s BGHZ 22, 383 (387 ff.); BGH, VersR 1961, 437; NJW-RR 1989, 921 f.; Papier, in: MünchKomm. BGB, Bd. 5, 3. Aufl. 1997, § 839 Rn. 140. 26 Umfassende Nachweise bei Kümmerling, Rechtsprobleme kirchlicher Friedhöfe, 1997, S. ll7f., 148. Vgl. auch de Wall, ZevKR 43 (1998), 441 (457- unmittelbare Geltung einzelner Elemente des Rechtsstaatsprinzips).

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ken27,läßt sich wegen der Zugehörigkeit der Kirchen zur gesellschaftlichen Sphäre eine Grundrechtsbindung der Kirchen auch dann nicht begründen, wenn diese in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts von den ihnen mit dem Korporationsstatus angebotenen öffentlich-rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch machen 28 . Außerdem ist es nicht der Sinn der öffentlich-rechtlichen Dienstherrnfahigkeit der Kirche, diese dem staatlichen Beamtenrecht zu unterwerfen. Es müssen nur die für alle geltenden Standards des Arbeits- und Sozialrechts und ferner diejenigen Billigkeitserfordernisse gewahrt werden, die sich als notwendige, für alle geltende Konkretisierung des Rechts- und Sozialstaatsgedankens für den Fall einseitig gestalteter Dienstverhältnisse erweisen.Z9 Nur soweit das Beamtenrecht diese Erfordernisse positiviert, muß es (genauer die sich im Beamtenrecht widerspiegelnden unabdingbaren Prinzipien der staatlichen Rechtsordnung) beachtet werden. Deshalb sind die Kirchen zu einer angemessenen Versorgung ihrer Beamten verpflichtet. In welcher Weise sie dieser Verpflichtung nachkommen wollen - durch eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen oder durch eine solche nach Maßgabe der Sozialversicherung -, bleibt ihnen dagegen überlassen. 30 Art. 33 Abs. 5 GG entfaltet gerade keine Bindungswirkung für die Kirchen?' Auch die Vorschriften des Art. 34 GG und des § 839 BGB wenden sich nur an Träger von Staatsgewalt. 32 Schließlich ist die Anlage und der Betrieb kirchlicher Friedhöfe entgegen anderslautender Stimmen33 selbst bei dem Bestehen einer Monopolsituation keine staatliche Angelegenheit, klammert man die staatliche Verwaltungsvollstreckung kirchlicher Gebühren einmal aus. Die Kirchen sind daher nicht an das staatliche Abgaben- und Verfahrensrecht, sondern nur an die Grundsätze der§§ 242, 315 BGB bzw. diejenigen Grundsätze gebunden, die sich im Falle einseitig öffentlich-rechtlichen Vorgehens als notwendige, rechts- und sozialstaatlich gebotene, Äquivalente erweisen. Werden diese Vorgaben beachtet, müssen auch Dissidentenzuschläge als zulässig angesehen werden (selbst wenn sie Monopolfriedhöfe betreffen). 34 Vgl. statt vieler Pieroth/Schlink, Grundrechte, 14. Aufl. 1998, Rn. 173ff. Wie hier Hecket, HStKR I, 2. Aufl. 1994, S. 589 (594f.); Kirchhof, ebd., S. 651 (676); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 140 GG/ Art. 137 WRV Rn. 19. 29 Vgl. Ehlers, ZevKR 27 (1982), 269 (291). 30 Im Ergebnis wie hier Link, FS Obermayer, 1986, S. 227 (230f.); Pirson, HStKR, Bd. II, 2. Aufl. 1995, S. 845 (869); Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, 1996, S. 301 f. 31 BVerfG-V, NJW 1980, 1041; NJW 1983, 2569 (2570); BVerwGE 28, 345 (351); 66, 241 (250). 32 Vgl. Ehlers, ZevKR 44 (1999), 4 (17 ff.). 33 Z. B. BVerwGE 25, 364 (366); 105, 117 (122); Obermayer, DVBI. 1977, 437 (439); Maurer, FS Menger, 1985, S. 285 (288); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV GG Rn. 114 (1985). A. A. z. B. Ehlers, ZevKR 32 (1987), 158 (175ff.); v. Mangoldt!Kleinlv. Campenhausen (Fn. 13), Art. 140 GG/137 WRV Rn. 69; Kümmerling (Fn. 26), S. 16 ff. 34 Str. A. A. (jedenfalls für Monopolfriedhöfe) Nds. OVG, DVBI. 1993, 266 (267); DÖV 1995, 518; OVG Bremen, NVwZ 1995, 804 (805); Wie hier Kümmerling (Fn. 26), S. 128 f. 27

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Deutlich etatistische Tendenzen spiegeln sich auch noch in vielen tradierten Staatskirchenverträgen wider. So sind in der Weimarer Zeit Konkordate und Staatskirchenverträge abgeschlossen worden, welche eine Vielzahl von Ländern noch heute dazu berechtigen, politische Bedenken gegen die Ernennung eines Bischofs geltend zu machen und einen Treueeid von den Bischöfen zu verlangen. 35 Nach wie vor vollzogen wird in Nordrhein-Westfalen das preußische "Gesetz über die Verwaltung des katholischen Kirchenvermögens" 36 sowie das ,,Staatsgesetz, betreffend die Kirchenverfassung der evangelischen Landeskirchen" 37 aus dem Jahre 1924. Diese Gesetze regeln z. B. die Zusammensetzung des Kirchenvorstandes sowie die Wahlberechtigung 38 und gestehen dem Staat zahlreiche Genehmigungs-, Aufsichts- und andere Einwirkungsrechte im Hinblick auf die Vermögensverwaltung der Kirchen zu. Z. B. ist die Staatsbehörde berechtigt, in die Vermögensverwaltung Einsicht zu nehmen und Gesetzwidrigkeiten zu beanstanden. Bei Pflichtverletzungen kann sie die erforderlichen Maßnahmen im Benehmen mit der bischöflichen Behörde unter Umständen sogar selbst treffen. 39 Diese Bestimmungen stellen sich als unzulässige Einmischungen des Staates in das durch Art. 137 Abs. 3 WRV geschützte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften dar, wenn sie sich nicht darauf beschränken, die Handlungsfähigkeit der Kirchen zu regeln. Der Umstand, daß die Kirchen mit der Anwendung der genannten Verträge oder Staatsgesetze einverstanden sind, ändert daran nichts. Auch die Konstruktion eines kirchlichen Gewohnheitsrechts40 hilft nicht weiter, da ein solches keine taugliche Rechtsgrundlage für staatliches Tätigwerden darstellt. Die Liste der Problemfälle ließe sich leicht verlängern. Besonders wenn Staat und Kirche zusammenwirken, besteht die Gefahr, daß die jeweils wahrzunehmenden Belange in unzulässiger Weise miteinander vermengt werden. So sind die Kirchen nach Art. 141 WRV (i. V. m. Art. 140 GG) zwar zur Vomahme religiöser Handlungen in den staatlichen Anstalten zuzulassen. Tatsächlich hat der Staat die Anstaltsseelsorge aber teilweise selbst in die Hand genommen. So werden die Militärgeistlichen und in einigen Ländern auch die Anstaltsseelsorger in den Strafvollzugsanstalten in ein Beamtenverhältnis berufen.41 Wenn der Staat die caritativdiakonischen und erzieherischen Tätigkeiten der Kirche in Krankenhäuser, Alters3s Vgl. z. B. Art. 14 und 16 RK. Zu den weiteren Rechtsquellen sowie zur Ausländerbestimmung Hollerbach, in: lsensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VI, 1989, § 139 Rn. 21; speziell zum Treueeid der Bischöfe Dahl-Keller, Der Treueid der Bischöfe gegenüber dem Staat, 1994, S. 200 ff. 36 Gesetz v. 24. 07. 1924 (GS S. 585). 37 Gesetz v. 08. 04. 1924 (GS S. 221). 38 Vgl. §§ 4 ff. VermVerwG. Diesbezügliche Regelungen enthält das EvKirchVerf nicht. 39 Vgl. §§ 16ff. VermVerwG, Art. II f. EvKirchVerf. 40 So v. Loewenich, Das Kirchenvermögensverwaltungsrecht der katholischen Kirche in den Kirchengemeinden Nordrhein-Westfalens - vom Kulturkampfgesetz zur kirchlich übernommenen Norm, Diss. 1993, S. 232 ff.; Zilles I Kämper, NVwZ 1994, 109 (110). 41 Krit. dazu Ehlers (Fn. 28), Art. 140 GG I Art. 141 WRV Rn. 7 m. w. N.

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und Behindertenheimen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen finanziell unterstützt, müssen ihm ausreichende Ingerenz- und Kontrollrechte zur Verfügung stehen, um sicherstellen zu können, daß die staatlichen Gelder zweckgemäß ausgegeben werden. Dies rechtfertigt es aber nicht, die goldenen Zügel so einzusetzen, daß die Kirchen nur noch als Marionetten des Staates staatsgleich agieren können.42 Auch die Abgrenzung der staatlichen und kirchlichen Angelegenheiten im Schulwesen kann vereinzelt immer noch Probleme aufwerfen, wie zuletzt die sog. Kruzifix-Entscheidungen der Gerichte43 deutlich gemacht haben. Schließlich läßt sich das aus § 67 PStG ergebende Verbot kirchlicher Voraustrauung heute verfassungsrechtlich nicht mehr halten, weil der Staat allenfalls berechtigt ist, einer Verwechselung der kirchlichen Ehe mit der Zivilehe entgegenzutreten, hierfür aber ein milderes Mittel als das in § 67 PStG gewählte zur Verfügung steht. 2. Privatisierungstendenzen

Bestrebungen, die Kirchen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, zeigten sich erstmals in der Zeit des Nationalsozialismus. Dessen Totalitätsanspruch duldete kein Auftreten unabhängiger Gemeinschaften neben Staat und Partei im öffentlichen Raum. Nachdem der Versuch, mit Hilfe der "Deutschen Christen" eine evangelische Reichskirche zu errichten, gescheitert war44, gab man alle Pläne zur Schaffung eines Staatskirchenturns auf und verlegte sich darauf, das öffentliche Leben durch eine Bekämpfung des kirchlichen Wirkens zu entkonfessionalisieren. Im Reichsgau Wartheland wurden die Kirchen zu privatrechtlichen, einer staatlichen Konzession bedürftigen Vereinen herabgestuft und unter Staatskurateil gestellt. 45 Vergleichbare Tendenzen gab es in der Deutschen Demokratischen Republik. Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich. zwar eng an die Weimarer Kirchenartikel an46, wurde in der Praxis aber weitgehend konterkariert. Mit Inkrafttreten der Verfassung von 196847 verloren die Kirchen ihre Körperschaftsstellung. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen wurde nur noch insoweit gewährleistet, als 4 2 Näher zum Ganzen v. Campenlwusen, Geld oder Freiheit?, in: Diakonie heute, 1988, S. 28 ff.; Ehlers, NJW 1990, 800 (801 ). 43 Grundsätzlich BVerfGE 93, I ff. (mit abweichenden Meinungen dreier Richter, 25 ff.). Für Vereinbarkeil der auf einer Widerspruchslösung beruhenden bayerischen Neuregelung (Art. 7 Abs. 3 S. 3 und 4 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen) mit der Religionsfreiheit BVerwG, NVwZ 1999, 749; BayVerfGH, NJW 1997, 3157 ff. Krit. Detterbeck, NJW 19%, 426 ff.; Renck, NJW 1999, 994 ff. Anders Biletz/ci, NJW 1996,2633 f.; zum Hochschulbereich vgl. Mainusch, DÖV 1999, 677 ff. 44 Vgl. Winter, Die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht im Dritten Reich, 1979, S. 20ff. 45 Vgl. Link, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. IV, 1985, S. I 002 ff. 46 Art. 41 Verf (GBI. 1949, S. 4 (9). 47 GBI. 1%81 S. 199.

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die Kirchen in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der DDR handelten. 48 In der Praxis war der Bewegungsraum der Kirchen außerordentlich eingeschränkt, auch wenn sich nach einem Gespräch zwischen dem Bund der evangelischen Kirchen in der DDR unter der Leitung von Bischof Schönherr und dem Staatsratsvorsitzenden Honecker im Jahre 1978 Erleichterungen einstellten.49 In der Bundesrepublik setzten sich Anfang der siebziger Jahre die Bundesdelegiertenkonferenz der deutschen Jungdemokraten und im Anschluß daran mit gewissen Abstrichen auch die Freie Demokratische Partei, Ende der achtziger Jahre die Landesdelegiertenversammlung der Grünen Baden-Württembergs und der 15. Bundeskongreß der Jungliberalen für eine stringentere Trennung von Staat und Kirche ein50, ohne sich mit dieser politischen Forderung durchsetzen zu können. Die Privatisierungsbestrebungen sind somit nicht erfolgreich gewesen. Erneuten Auftrieb könnten diese Bestrebungen aber bekommen, wenn die fortschreitende Säkularisierung anhält. Hierauf wird zurückzukommen sein.

3. Konfessionalisierungstendenzen

Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß sich nach dem Zweiten Weltkrieg starke Konfessionalisierungstendenzen im Staatskirchenrecht bemerkbar machten. Soweit der prinzipielle Vorrang des staatlichen Rechts und die staatliche Grenzziehungsbefugnis bestritten wurde, lief dies allerdings auf eine klare Mißachtung der Verfassung hinaus: es sei denn, man hätte die einseitige Regelungskompetenzen für sich in Anspruch nehmenden staatskirchenrechtlichen Verfassungsbestimmungen des Grundgesetzes als verfassungswidriges Verfassungsrecht abqualifizieren wollen51 (eine Auffassung, die von niemandem vertreten wurde). Nicht von ungefähr machten sich die Anhänger der herrschenden Meinung in den fünfziger und sechziger Jahren über die Grenzen der Verfassungsinterpretation im allgemeinen52 keine weiteren Gedanken. Neben dem im Vergleich zur Weimarer Verfassung verstärkten grundrechtliehen Schutz der Religionsfreiheit berief man sich zumeist nur auf die veränderte Verfassungswirklichkeit Im übrigen wies man auf das Naturrecht und nach lokrafttreten des Grundgesetzes auf neu abgeschlossene Staatskirchenverträge hin oder nahm derogierendes Verfassungsgewohnheitsrecht an. Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß alle diese Erwägungen entweder Art. 39 Abs. 2 Verf DDR. Vgl. zum Ganzen Luchterhandt, Die Gegenwartslage der Evangelischen Kirche in der DDR, 1982, S. 40 ff.; Hollerbach, Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Listl/ Müller I Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 1983, S. I 072 ff. so Vgl. Rath, Trennung von Staat und Kirche, 1974, S. 18; Göbel, ZRP 1990, 189ff. 51 Wie hier H. Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, 1970, S. 23 f. 52 Anders aber Hesse (Fn. 5), S. 28 ff. 48 49

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nicht zutrafen oder einen so weitgehenden Bedeutungswandel wie angenommen nicht zu rechtfertigen vermochten. 5 3 Obwohl die Blütezeit der Koordinationslehre lange vorbei ist, gehen Kritiker davon aus, daß das Staatskirchenrecht die Kirchen, insbesondere die beiden christlichen Großkirchen, auch heute noch in unzulässiger Weise privilegiere. So würden den Kirchen zu weitgehende Entfaltungsmöglichkeiten in staatlichen Einrichtungen eingeräumt. Auch lasse sich eine staatliche Förderung der Kirchen nicht rechtfertigen. 54 Indessen liegt dem Grundgesetz kein striktes System der Trennung von Staat und Kirche zugrunde, wie beispielsweise die verfassungsrechtliche Garantie des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG) oder das verfassungsrechtliche Angebot an die Religionsgemeinschaften zeigt, sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu organisieren und Kirchensteuern zu erheben (Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Zudem ist es ein Kennzeichen des heutigen Verfassungsstaates, daß er die Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Kräften sucht, statt Aus- oder Abgrenzung zu betreiben. Da Freiheit ohne vorgängiges staatliches Handeln vielfach nur ein leeres Wort ist, gehört es zu den Aufgaben des Staates, nicht nur die individuelle und kollektive Freiheit der Bürger und gesellschaftlichen Gruppen zu respektieren, sondern im Rahmen des Möglichen zugleich die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Freiheit zu schaffen. 55 Das kommt allen Individuen und gesellschaftlichen Kräften und damit auch den Kirchen zugute. Da Staat und Kirche dieselben Menschen als Glieder haben und diese nicht nur partiell, sondern ganzheitlich ansprechen, sind sie oftmals auf denselben Feldern aktiv. Dies verlangt nach einer Zusammenarbeit. Wie sollten sich Religion und Weltanschauung auch sonst entwickeln können, wenn sie in den weitgehend vom Staat dominierten Erziehungs-, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen wie den Kindergärten, Schulen und Universitäten überhaupt nicht zur Sprache gebracht werden dürfte? Welche Bedeutung hätte die Religionsfreiheit noch, wenn den Kirchen trotz Bedarf nach Seelsorge der Zugang zu den staatlichen Strafvollzugsanstalten, Krankenhäusern, Altenheimen oder Friedhöfen verwehrt würde? Eine Zusammenarbeit von Staat und Kirche dient zunächst der Kirche, zugleich aber auch dem Staat. Nach einem viel zitierten Wort von Böckenförde lebt der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. 56 Dieser Aussage ist insofern zuzustimmen, als sie zum Ausdruck bringt, SJ Vgl. krit. zu den einzelnen Ansätzen der Koordinationslehre Schwegmann, Der Bedeutungswandel als juristisches Argument in der staatskirchenrechtlichen Literatur nach 1949, Diss. 1974, S. 40ff. S4 Vgl. im einzelnen zu dieser Kritik Fischer. Volkskirche ade!, Trennung von Staat und Kirche, 4. Aufl. 1993, S. 13 ff. Krit. zum Staatskirchenrecht haben sich auch Czermak und Renck in vielen Beiträgen geäußert. Vgl. etwa Czermak, Staat und Weltanschauung, 1993, S. 249ff.; Renck, BayVBI. 1999, ?Off. ss Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 6 Rn. 209 ff., § 9 Rn. 290 ff., 298 ff. S6 Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991,S. 92(112).

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daß eine freiheitliche Ordnung dem Bürger nicht vom Staat aufoktroyiert werden, sondern nur gelingen kann, wenn die Freiheitsberechtigten das ihnen von Verfassungs wegen unterbreitete Freiheitsgebot annehmen und von der Freiheit rechten Gebrauch machen. Dies wird nur auf der Grundlage bestimmter Werthaltungen wie Toleranz, Solidarität und Gemeinsinn möglich sein. 57 In diesem Sinne hat das Bundesverwaltungsgericht zu Recht davon gesprochen, daß der Staat ein legitimes Interesse habe, .,menschliche Wertorientierung" zu fördern. 58 Bei den Werten muß es sich nicht notwendigerweise um religiöse handeln. Daß die Religion aber dazu beiträgt, dem Leben ein Fundament zu geben, auf dessen Grundlage von der Freiheit verantwortlich Gebrauch gemacht werden kann, steht außer Frage. Dementsprechend ist in Landesverfassungen davon die Rede, daß die Bedeutung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens anerkannt wird59, und deshalb wird in einem neueren Staatskirchenvertrag die Bedeutung, die christlicher Glaube, kirchliches Leben und diakonischer Dienst auch im religiös neutralen Staat für das Gemeinwohl und den Gemeinsinn der Bürger haben, gewürdigt60• Daraus darf indessen nicht geschlossen werden, daß der Staat keinen Einfluß auf den Prozeß der Wertbildung der Menschen hat. Durch die Erziehung der jungen Menschen zur .,Freiheitsfähigkeit" in der Schule und ähnlichen staatlichen Einrichtungen, den Schutz der Familie, die Zulassung einer freien Wohlfahrtspflege, die Schaffung von Gemeinnützigkeitsregeln im Steuerrecht, aber auch und gerade durch die Zusammenarbeit mit den religiös-weltanschaulichen Kräften und deren Förderung kann der Staat in erheblichem Ausmaße zur Bildung der Werte beitragen, von denen der rechte Freiheitsgebrauch lebt. Zu Recht hat deshalb Kirchhof darauf aufmerksam gemacht, daß der Staat zwar von Voraussetzungen leben mag, die er nicht vollständig garantieren kann, die er aber zu einem erheblichen Teil selbst mitverantwortet. 61 Was speziell das Weltanschaulich-Religiöse angeht, ist im Schrifttum62 sogar davon gesprochen worden, daß dem Staat eine Sinnverantwortung zukomme, d. h. eine Verantwortung dafür, daß die Sinnfrage gestellt werden könne. Selbst beantworten dürfe der bekenntnisneutrale Staat die Frage allerdings nicht, da es ihm nicht erlaubt sei, sich mit bestimmten religiösen oder atheistischen Auffassungen zu identifizieren. s1 Vgl. Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, 1998, S. 33. ss BVerwGE 101, 309 (316f.). S9 Art. 4 II Verf BW; Art. I 09 Verf Sachs. 60 Vgl. Präambel des Vertrages zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und der Pommersehen Evangelischen Kirche v. 20. 01 . 1994 (GVBI. S. 560). 61 Freiheit in der Gemeinsamkeit der Werte, Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst mit verantwortet, FAZ v. 22. 05. 1999 (Nr. 117). S. 8. Vgl. auch lsensee, FS Heckel. 1999, S. 739 (770 f. - Letztverantwortung des Staates mit begrenzten Mitteln). 62 Obermayer, Staat und Religion, 1977, S. 16ff. Vgl. auch Mikat, Religionsrechtliche Schriften, Bd. I, 1974, S. 316f. (geistliche Daseinsvorsorge).

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Arbeitet der Staat mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zusammen, ist er zur Gleichbehandlung verpflichtet. Soweit der religiöse oder weltanschauliche Kernbereich betroffen ist, fordert das Grundgesetz eine strikte Gleichbehandlung. In anderen Zusammenhängen kann es zulässig sein, wenn zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen63 bzw. großen und kleinen Gemeinschaften unterschieden wird. 64 So begegnet es keinen Bedenken, wenn lediglich die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften zur Anlage und zum Betrieb von Friedhöfen berechtigt sowie von der Zahlung der Umlage für das Konkursausfallgeld (heute Insolvenzausfallgeld) entbunden sind65 und grundsätzlich nur die größeren Religionsgemeinschaften Vertreter in die Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entsenden dürfen. Gleichbehandlung heißt also nicht schematische Gleichmacherei. Der Umstand, daß das Grundgesetz eine Kooperation von Staat und Kirchen sowie eine staatliche Förderung der Kirchen zuläßt, schließt nicht aus, daß die hierfür geltenden rechtlichen Maßstäbe in Einzelfallen verfehlt werden. So läßt sich etwa darüber streiten, ob es mit dem informationeilen Selbstbestimmungsrecht vereinbar ist, wenn die staatlichen Meldebehörden bestimmte Daten von konfessionsfremden Familienangehörigen bei fehlendem Widerspruch an die Kirchen übermitteln 66 , und ob die Befreiung der Geistlichen vom Wehrdienst67 mit der gemäß Art. 136 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG gebotenen Gleichheit der Pflichten vereinbar ist68 . Ein Beispiel für eine zu weitgehende Zurückhaltung des Staates bildet jedenfalls der staatliche Rechtsschutz in kirchlichen Angelegenheiten. Nach der Rechtsprechung69 dürfen die staatlichen Gerichte keinen staatlichen Rechtsschutz gewähren, wenn die Rechtsschutzanträge sog. innerkirchliche Angelegenheiten betreffen. Hierzu rechnen die Gerichte z. B. alle Statusklagen von Geistlichen und Kirchenbeamten (etwa Klagen gegen eine Versetzung, eine Zwangsbeurlaubung sowie eine V gl. die Zusammenstellung bei Ehlers (Fn. 28), Art. 140 GG I Art. 137 WRV Rn. 17. Näher zum Gleichbehandlungsgrundsatz Weber, NJW 1983, 2541 (2543 f.); Hecket (Fn. 28), S. 589 ff., 623 ff. 65 V gl. zum Friedhofswesen z. B. Art. 8 Abs. 2 BayBestG. Einerseits bieten nur die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften, nicht aber unbedingt die privatrechtliehen die Gewähr der Dauer (Art. 137 Abs. 5 S. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG), andererseits können alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bei Vorliegen der in der Verfasssung umschriebenen Voraussetzungen den Körperschaftstatus erwerben (Art. 137 Abs. 5 S. 2, Abs. 7 WRV i.V. Art. 140 GG). Zum Konkursausfallgeld siehe BVerfGE 66, 1 (17 ff.). Nicht auf den Körperschaftstatus darf z. B. bei derErteilungvon Religionsunterricht i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG abgestellt werden. Vgl. die Ausf. zu I. 5. 66 Vgl. z. B. §§ 19 Abs. 2 MRRG, 32 Abs. 2 MG NW. 67 § 11 Abs. 1 Nr. 1 WPflG. 68 Nach der hier vertretenen Auffassung ist es ein sachliches Motiv, die Geistlichen im Verteidigungsfall der Bevölkerung zu belassen. Vgl. auch Obermayer, DÖV 1976, SOff. Krit. z. B. Preuß (Fn. 23), Art. 140 Rn. 38. 69 Vgl. BVerfGE 18, 385 (387f.); BVerfG-V, NJW 1983, 2569; BVerfG-K, NJW 1999, 350; BVerwGE 66, 241 (244); 95,379 (381 ff.); BAGE 64, 131 (136). 63

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Entfernung bzw. Entlassung aus dem Dienst). Offengelassen haben die Gerichte bisher zumeist, ob auch die vermögensrechtlichen Klagen von Geistlichen und Kirchenbeamten (z. B. auf Schadensersatz oder Zahlung des Gehalts) dem internen Bereich unterfallen. 70 Zuständig sollen die staatlichen Gerichte nur sein, wenn die Religionsgemeinschaften von dem Angebot des § 135 S. 2 BRRG Gebrauch gemacht haben. 71 Nach dieser Vorschrift bleibt es den öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften und ihren Verbänden überlassen, die Rechtsverhältnisse ihrer Beamten und Seelsorger dem Beamtenrechtsrahmengesetz entsprechend zu regeln und die Rechtswegbestimmungen der§§ 126, 127 BRRG für anwendbar zu erklären. Die Rechtsprechung der staatlichen Gerichte zum Rechtsschutz in kirchlichen Angelegenheiten vermag nicht zu überzeugen. 72 Vielmehr greift die verfassungsrechtlich fundierte Justizgewährungspflicht des Staates ein, wenn sich der Rechtsschutzsuchende auf eine Verletzung staatlich geschützter Rechtspositionen beruft. Dies kann auch bei den Statusklagen kirchlicher Bediensteter der Fall sein. § 135 S. 2 BRRG regelt nicht das Ob, sondern nur das Wie des staatlichen Rechtsschutzes (also die Frage, ob die ordentlichen Gerichte oder Verwaltungsgerichte zuständig sind). Als unzulässig zurückweisen dürfen die staatlichen Gerichte Rechtsschutzanträge in kirchlichen Angelegenheiten daher nur, wenn die Entscheidung theologischer oder rein kirchenrechtlicher Fragen begehrt wird.

4. Säkularisierungstendenzen

Wenn es richtig ist, daß Veränderungen der sozialen Wirklichkeit das Verfassungsrecht nicht unberührt lassen, dann ist es für die Wirkungsweise der verfassungsrechtlichen Gewährleistung nicht ohne Bedeutung, wieviele Mitglieder die Kirchen haben und in welcher Weise sich die Mitglieder in den Kirchen engagieren. Auf der Staatsrechtslehrertagung von 1967 konnte Hollerbach noch darauf hinweisen, daß 94,6,% der Bevölkerung den beiden Großkirchen angehören.73 Bereits in den sechziger Jahren setzte aber eine starke Säkularisierung in der Gesellschaft ein, die bis heute fortdauert. Die staatliche und kirchliche Wiedervereinigung im Jahre 1990 hat diese Tendenz verstärkt, weil die Religionsgemeinschaften wegen des nachwirkenden kirchenfeindlichen Klima der Deutschen Demokratischen Republik nur noch eine Minderheit erreichten. Ende 1996 waren nur noch 67,3 % der Gesamtbevölkerung Mitglieder der evangelischen oder römisch-katho1o Vgl. BVerfG-V, NJW 1983, 2569 (2570); NVwZ 1985, 105; BVerwGE 28, 345 (348); 66, 241 (249). 71 BGHZ 34, 372 (374); BVerwGE 25,226 (231 ff.); 30, 326 (327f.). Vgl. auch BVerwGE 66, 241 (247 f.); BVerwGE 95, 379 (380). 72 Vgl. auch Ehlers, ZevKR 27 (1982), 269ff.; dens., JuS 1989, 364ff.; v. Campenhausen, AöR 112 (1987), 623ff.; H. Weber. NJW 1989, 2217 (2224ff.); Kästner. Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, 1991, S. 12 ff.; Hecket, FS Lerche, 1993, S. 213 ff. 73 VVDStRL 26 (1968), 57 (65).

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lischen Kirche. 74 In den neuen Ländern liegt die Zahl unter einem Drittel. Obwohl gerade die östlichen Gebiete zu den Stammlanden der evangelischen Kirchen gehörten, gibt es östliche Gliedkirchen, die weniger als ein Fünftel der Bevölkerung zu ihren Mitgliedern zählen. 75 Die Zahl der Katholiken in den neuen Ländern liegt bei rund 5%. Hinzu kommt, daß längst nicht alle Mitglieder der Kirchen kirchlich gesonnen sind. So verwundert es nicht, daß die in der Gesellschaft vorherrschenden Anschauungen öfter als früher von den Standpunkten der Amtskirchen abweichen. Die verschiedene Beurteilung der Abtreibung oder der Loyalitätspflichten im kirchlichen Arbeitsverhältnis sind hierfür nur Beispiele.76 Es ist deshalb davon gesprochen worden, daß die Bundesrepublik Deutschland ein "vol.kskirchliches Missionsland" geworden sei und es sich bei den neuen Ländern um ein ,,Missionsland pur" handele. 77 Die genannten Sozialfaktoren ändern nichts an dem Sinngehalt eindeutiger verfassungsrechtlicher und staatskirchenvertraglicher Aussagen.78 Auf weiten Gebieten der Zusammenarbeit von Staat und Kirche ist der Staat aber entweder überhaupt nicht oder nicht präzise durch das Verfassungs- oder Staatskirchenvertragsrecht festgelegt. Falls es wirklich so weit kommen sollte, daß die Kirchen keine Akzeptanz mehr in der Gesellschaft finden und nicht mehr in der Lage sind, den ihnen gebotenen Rahmen glaubwürdig auszufüllen, würde dies Auswirkungen auf das Ob und das Wie der Zusammenarbeit des Staates mit den Kirchen haben. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß der große Bereich der Diakonie sehr weitgehend vom Staat finanziert wird, ohne daß der Staat hierzu von Verfassungs wegen in diesem Ausmaße verpflichtet ist. Auch dürfte die Bereitschaft des Staates sinken, weitere Staatskirchenverträge abzuschließen (um die sich von Zeit zu Zeit ergebenden neuen Problemstellungen einer Lösung zuzuführen). Schließlich kann die Abnahme der Kirchlichkeit dazu führen, daß sich immer mehr Menschen auf die Wahrung der negativen (statt positiven) Religionsfreiheit in staatlichen Einrichtungen berufen. Insofern fordert die Säkularisierung nicht nur die Kirchen, sondern auch das Staatskirchenrecht heraus. Langfristig läßt sich ein Klimawechsel nicht ausschließen. Möglicherweise stellt die vom Bundesverfassungsgericht zu klärende Einführung des ordentlichen Lehrfachs "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" (LER) anstelle des (wahlweise nach wie vor möglichen) konfessio74 Zahlenangaben nach Oeckl (Hrsg.), Taschenbuch des öffentlichen Lebens, Deutschland 1998/99, S. 863. Vgl. auch Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1998, S. 96 f. 75 Vgl. näher dazu EKD, Statistik über Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen in den Jahren 1995 und 1996, Statistische Beilage Nr. 92 zum Amtsblatt der EKD, Heft 11, v. 15. II. 1998, S. 3 ff. 76 Vgl. Rüfner, KuR llO, 99 (103ff.). 77 Vgl. Hollerbach (Fn. 57), S. 8, 12. 78 Vgl. auch v. Campenhausen, BayVBI. 1999, 65 (70), mit Hinweis darauf, daß es auch nicht angängig sei, unter Rückgriff auf den Begriff der Volkskirche die Legitimität der staatskirchenrechtlichen Vorschriften in Frage zu stellen.

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nellen Religionsunterrichts durch das Land Brandenburg hierfür nur ein erstes Anzeichen dar. 79 Die Säkularisierungstendenzen werden teilweise noch dadurch verstärkt, daß Kirchenmitglieder selbst die Legitimität staatskirchenrechtlicher Positionen in Zweifel ziehen. So haben Kirchenmitglieder aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nach der Wiedervereinigung wichtige Elemente des westdeutschen Staatskirchenrechts als Überbleibsel eines obrigkeitlichen Staatskirchenturns eingestuft. Zum Beispiel wurde die Korporationsqualität der Kirchen, die Kirchensteuer sowie der staatliche Kirchensteuereinzug, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen und die Militärseelsorge als nicht vereinbar mit der Eigenständigkeil der Kirchen angesehen. 80 So verständlich diese Einwände vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Deutschen Demokratischen Republik auch waren, so wenig konnte ihnen gefolgt werden. Trennung von Staat und Kirche bedeutet in einem Kultur-, Wirtschafts- und Sozialstaat freiheitlicher Provenienz etwas anderes als in einem auf Beherrschung des öffentlichen Lebens bedachten totalitären Staat. 81 Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß eine der Freiheitsverwirklichung dienende Zusammenarbeit des Staates mit den gesellschaftlichen Kräften keine Besonderheit des Staatskirchenrechts darstellt. Sofern der Staat nicht zur Kirche wird, sondern seine Bekenntnisneutralität und Säkularität wahrt, und die Kirche nicht ihr Proprium verleugnet, bestehen gegen eine Zusammenarbeit weder aus der einen noch aus der anderen Sicht Bedenken. Vielmehr ist sie als positiv anzusehen. So hat dann auch die Gemeinsame Verfassungskommission, die nach der Wiedervereinigung Deutschlands eingesetzt worden ist, um zu prüfen, ob das Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen ist, keinerlei Veranlassung gesehen, sich näher mit dem Staatskirchenrecht zu befassen.82 Da die wesentlichen politischen Kräfte in dieser Kommission vertreten waren, kann dies als Bestätigung der geltenden staatskirchenrechtlichen Verfassungsbestimmungen gewertet werden. 79 Rechtlich hängt die Verdrängung des Religionsunterrichts insbesondere von der Reichweite des Art. 141 GG ab. Gegen die Anwendbarkeit der Vorschrift z. B. v. Mangoldt/ Klein/ v. Campenhausen (Fn. 13), Art. 141 Rn. 7; de Wall, ZevKR 42 (1997), 353ff.; Hecke/, ZevKR 44 (1999), 147 (207ff.). Für die Anwendung etwa Schlink, NJW 1992, 1008ff.; Renck, LKV 1997, 81 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl. 1997, Art. 141 Rn. I; Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 141 Rn. 9ff. Nicht zu folgen Goerlich, NVwZ 1998, 819 (821), wonach Art. 141 GG nur eine partielle Rücknahme einer Durchbrechung des Prinzips der weltanschaulichen Neutralität des Staates darstellt. Zur Zulässigkeil der Einführung eines Unterrichtsfachs Ethik für die nicht am Religionsunterricht teilnehmenden Schüler mit Teilnahmezwang vgl. BVerwG, JZ 1999, 353 ff., mit Anm. Mückl 358 ff. so v. Campenhausen, HStKR, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 47 (79f.). 81 Vgl. auch v. Campenhausen (Fn. 80), S. 80f. 82 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. I 06 ff. Zur Frage, ob wegen des Verhaltens mancher sog. Sekten und Kulte verfassungsrechtliche Änderungen angezeigt sind, vgl. (verneinend) die vom Deutschen Bundestag eingerichtete Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten- und Psychogruppen", BT-Drs. 13/ I 0950, S. 150 (siehe aber auch Sondervotum, S. 156 f.).

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S. Pluralisierungstendenzen

Seit den siebziger Jahren haben sich in der Bundesrepublik Deutschland konfessionelle Wandlungen in großem Ausmaße vollzogen. Seit jeher hat es neben den beiden Großkirchen weitere Religionsgemeinschaften gegeben. Nunmehr traten aber neue, in unserem Kulturkreis bisher nicht bekannte Religionsgemeinschaften oder religiöse Bewegungen mit einem zum Teil sehr unkonventionellen Gebaren in Erscheinung. Zudem breitete sich der Islam aus. Für Ende 1996 wird bereits eine Zahl von mehr als 2,7 Mio. Muslime angegeben. 83 Mit einem weiteren Anwachsen des Islams ist zu rechnen. Die religiöse Pluralisierung macht sich im Staatskirchenrecht bemerkbar. Dieses Rechtsgebiet muß sich immer häufiger mit bisher unbekannten Fallgestaltungen befassen: etwa den Fragen, wie der Ruf des Muezzin84, das Schächten von Tieren85 ,das Tragen von Kopftüchern islamischer Lehrerinnen an öffentlichen Schulen86 oder der Wunsch muslimischer Mädchen nach Befreiung von dem koedukativen Sportunterricht87 rechtlich zu beurteilen sind. Da sich bei manchen sog. Jugendsekten der Verdacht aufdrängt, daß es ihnen in Wahrheit nicht um Religion, sondern um Geschäfte geht, sind die Gerichte auch gezwungen gewesen, zu der schwer zu beantwortenden Frage Stellung zu nehmen, was unter einer Religion oder Religionsgemeinschaft im Rechtssinne zu verstehen ist. Das Bundesarbeitsgericht hat es beispielsweise abgelehnt, die Scientology-Kirche als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft einzustufen88 • Andere Gerichte haben eine solche Festlegung bisher vermieden. 89 Gleichwohl wird die Scientology-Kirche mit den Mitteln des Verfassungsschutzes beobachtet. Ob eine so weitgehende Maßnahme gerechtfertigt ist, bedürfte näherer Untersuchungen.90 Die hier nur beispielhaft genannten Konfliktlagen könnten den Eindruck aufkommen Jassen, daß sich auch das Staatskirchenrecht auf einen clash of civilizations einzustellen hat, den der Harvard-Professor Samuel P. Huntington für das 21. Jahrhundert vorhergesagt hat. 91 Jedoch kommt das Freiheitsangebot des Vgl. Oeckl (Fn. 74), S. 863. Vgl. Guntau, ZevKR 43 ( 1998), 369 ff.; Mucket, NWVBI. 1998, 1 ff. 8S V gl. § 4 a TierSchG. Dazu BVerwGE 99, 1 ff. 86 Vgl. Rüfner, KuR 110, 99 (101); Janl.IRadefiUJ.cher, NVwZ 1999, 706 (707); Kästner; FS Hecke!, 1999, S. 359ff. 87 BVerwGE 94, 82ff. Vgl. auch BVerwG, DVBI. 1994, 168f. (keine Befreiung eines christlichen Mädchens vom nach Geschlechtern getrennten Schwimmunterricht). 88 BAG, NJW 1996, 143 ff. Ebenso z. B. Mucket (Fn. 8), S. 133 f.; ders., KuR 110, 107ff. 89 BVerfG-K, NVwZ 1993,357 (358); BVerwGE 105,313 (318ff.). Für Religionsgemeinschaft: BGHZ 78, 274 (278 f.); VGH BW, NJW 1996, 3358 ff. Für Weltanschauungsgemeinschaft: OVG Hamb., NVwZ 1995, 498 (500). Zur ausländischen Rechtsprechung vgl. Abel, NJW 1999,331 (336ff.). 90 Für eine Beobachtung der Scientology-Kirche durch die Verfassungsschutzämter Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten- und Psychogruppen" (Fn. 82), S. 152. 83

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Grundgesetzes allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und damit auch solchen aus anderen Kulturkreisen zugute. Dies setzt allerdings voraus, daß auch die Tatbestandsvoraussetzungen und Bindungen der Religionsnormen von allen beachtet werden. Beispielsweise haben grundsätzlich auch die islamischen Religionsgemeinschaften einen Anspruch auf Erteilung von Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen.92 Solange es mangels einer hinreichenden Selbstorganisation aber an Religionsgemeinschaften und damit an einem konfessionellen Ansprechpartner fehlt, läßt sich dieser Anspruch nicht verwirklichen. 93 Wenn der Staat verschiedentlich statt dessen ersatzweise muslimischen Unterricht organisiert, ist dies gut gemeint, mangels einer religiösen Kompetenz des Staates aber verfassungswidrig. 94 Kommt es zur Erteilung islamischen Religionsunterrichts, muß sichergestellt werden, daß die verfassungsmäßige Ordnung eingehalten wird. Entsprechendes gilt für die Verleihung der Korporationsqualität nach Art. 137 Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Sie kann von vomherein nur in Betracht kommen, wenn sich der Organisationsgrad so verfestigt hat, daß von einer Religionsgesellschaft oder Religionsgemeinschaft gesprochen werden kann. Über die in Art. 137 Abs. 5 WRV genannten Merkmale hinaus setzt die Erlangung der Körperschaftsrechte als stillschweigend mitgeschriebene, sich aus der Verfassungsordnung insgesamt ergebende Schranke die Verfassungstreue der Gemeinschaft voraus.95 Das Bundesverwaltungsgericht verlangt noch weitergehend eine besondere Staatsloyalität Diese ist bei den Zeugen Jehovas vermißt worden, weil diese Glaubensgemeinschaft ihren Mitgliedern die Teilnahme an staatlichen Wahlen verbietet. Daher könnten die Zeugen Jehovas nicht als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt werden.96 Ob dieser Auffassung zu folgen ist, wird das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden haben. Nach der hier vertretenen Ansicht ist es nicht zulässig, die Verleihung des Körperschaftstatus von der Ein91 Foreign Affairs 72 (1993), S. 22 ff. Vgl. ferner dens., The C1ash of Civilizations and the Remaking of a World Order, 1996. Näher dazu (überwiegend kritisch) die Beiträge in dem Heft 3/4 der Zeitschrift Rechtstheorie 1998. 92 Vgl. Link, HStKR, Bd. II, 2. Auf!. 1995, S. 439 (500); Loschelder, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), 149 (168ff.); Oebbecke, DVBI. 1996, 336 (342f.); Mückl, AöR 122 (1997), 513 (548 ff.); Heckel, JZ 1999, 741 ff. A. A. z. B. Korioth, NVwZ 1997, 1041 ( 1046 ff. -nur Körperschaften des öffentlichen Rechts). 93 Link (Fn. 92), S. 501; Schmitt-Kammler (Fn. 79), Art. 7 Rn. 41. 94 Vgl. Oebbecke, DVBI. 1996, 336(341);Heckel, JZ 1999, 741 (745). 9S Zumeist wird (allgemeiner) von Rechtstreue gesprochen. Vgl. BVerwG, NJW 1997, 2396 (2397); OVG Berlin, NVwZ 1996, 478 (480); v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen (Fn. 13), Art. 140 GG/137 WRV Rn. 150. Krit. Morlok/Heinig, NVwZ 1999, 697 (702ff.), die in der Vorenthaltung des Körperschaftstatus einen Eingriff sehen, der einer der Verfassung gerecht werdenden gesetzlichen Grundlage bedarf. 96 BVerwGE 105, ll7ff. Zust. Abel, NJW 1997, 2370ff.; Hollerbach, JZ 1997, 1117ff.; v. Campenhausen, BayVBI. 1999, 65 (70); krit. Müller-Volbehr, NJW 1997, 3358 (3359); Thüsing, DÖV 1998, 25ff.; Huster, JuS 1998, ll7ff.; Robbers, FS Hecke!, 1999, S. 411 (415ff.). Vgl. ferner die Rechtsgutachten einerseits von Weber, ZevKR 41 (1996), 172 (214ff.), andererseits von Link, ZevKR 43 (1998) S. I (20ff.).

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haltung außerrechtlicher Loyalitätspflichten abhängig zu machen. Auch dürfen die Körperschaftsrechte nicht den Religionen des christlich-jüdischen Kulturkreises vorbehalten bleiben. Eine andere, ftir die Korporationsfähigkeit der Zeugen Jehovas bedeutsame Frage ist, ob das Grundgesetz einen Aufruf zum Wahlboykott gestattet. 97 Die Beispiele zeigen, daß es auch angesichts des Aufkommen neuer und andersartiger Religionen keiner Änderungen der verfassungsrechtlichen Rahmensetzungen bedarf. Allerdings wird der Blick stärker als in der Vergangenheit darauf gelenkt, daß jede Freiheit auf eine Grenze stößt, deren Einhaltung die staatlichen Organe, letztverbindlich die Gerichte, zu überwachen haben. Insofern kann von einer gewissen Akzentverlagerung gesprochen werden. Die Aktivierung der Schrankenregelungen macht auch vor den traditionellen Großkirchen nicht Halt. Unterfallen z. B. bestimmte Wirtschaftsaktivitäten kleinerer Religionsgemeinschaften den gewerberechtlichen Bindungen, kann für die gleichartigen Betätigungen der Großkirchen nichts anderes gelten.

6. Internationalisierungstendenzen

Das Staatskirchenrecht hat es insofern seit jeher mit internationalen Sachverhalten zu tun, als seit den zwanziger Jahren Konkordate mit dem Heiligen Stuhl abgeschlossen werden. Nach herrschender Meinung handelt es sich hierbei um völkerrechtliche Verträge. 98 Erst Ende der achtziger Jahre ist aber ins allgemeine Bewußtsein getreten, daß auch das grundsätzlich allem nationalen Recht vorgehende europäische Gemeinschaftsrecht mehr und mehr Bedeutung ftir das Staatskirchenrecht erlangt.99 Zwar besitzen die Gemeinschaften nicht die Kompetenz, das Staatskirchenrecht als solches zu regeln. Auch Art. 13 EGV, welcher der Gemeinschaft erlaubt, Diskriminierungen aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung zu bekämpfen, gestattet nur Maßnahmen "im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten". Wohl aber betreffen zahlreiche Zuständigkeiten der Gemeinschaften auch das Staatskirchenrecht Dies gilt insbesondere für das Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht. Berührungen können sich aber auch 97 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeil einer kirchenrechtlich begründeten Inkompatibilität von kirchlichem und staatlichem Amt, die sich auf die Wahlbarkeil auswirkt, vgl. BVerfGE 42, 312 ff. 98 Zur völkerrechtlichen Qualität des Reichskonkordats vgl. BVerfGE 6, 309 (320ff.); Köck, Rechtliche und politische Aspekte von Konkordaten, 1983, S. 21 ff. (quasi-völkerrechtliche Verträge). Weitere Nachw. bei Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965, S. IOOf. Krit. Renck, DÖV 1997, 929 (931). Vgl. auch Ehlers, ZevKR 38 (1993). 368 f. 99 Vgl. Hollerbach, ZevKR 35 (1990), 250ff.; Robbers, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 27 (1993), 81 ff.; dens., HStKR, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 315ff.; Streinz. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 31 (1997), 53ff.; Link, ZevKR 42 (1997), 130ff.; de Wall, ZevKR 45 (2000), Heft l.

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auf so unterschiedlichen Gebieten wie dem des Medienrechts 100 oder dem Sonnund Feiertagsrecht 101 ergeben. Bereits gegenwärtig stellt sich etwa die Frage, ob - die Arbeitnehmerfreizügigkeit unterschiedslos auch für die Beschäftigten in den kirchlichen Einrichtungen gilt, - die aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Zutrittsrechte der Gewerkschaften von den Kirchen zu beachten sind, - die geplante Schaffung eines Rahmens für die Information und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft auch die kirchlichen Bediensteten betreffen wird 102, - die staatliche Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege dem grundsätzlichen Beihilfeverbot des Art. 87 EGV unterfällt oder - das deutsche Gemeinnützigkeitsrecht mit der Nichtbesteuerung von Spenden an ausländische Kirchen dem Gemeinschaftsrecht entspricht. 103 Nicht selten zeigen sich die Folgewirkungen der europäischen Rechtsetzungstätigkeit für das Staatskirchenrecht erst im nachhinein. So hat die Europäische Gemeinschaft eine Solvabilitätsrichtlinie erlassen 104, die über die Eigenkapitalvorschriften und Bildung von Risikogruppen die Kreditvergabebedingungen der Banken beeinflußt. Wegen des nichtbestehenden bzw. geringen Risikos kommen die öffentlich-rechtlich organisierten Träger von Staatsgewalt am günstigsten weg. Obwohl bei den korparierten Kirchen wegen ihres großen Mitgliederbestandes, ihrer Vermögenssubstanz und ihres Steuererhebungsrechts das Risiko ähnlich gering wie bei den Regional- und Gebietskörperschaften ist und das Bundesverfassungsgericht daher eine Konkursunfahigkeit der Kirchen unmittelbar aus dem Grundgesetz ableitet 105, sind sie im europäischen Gemeinschaftsrecht mangels 100 Vgl. die sog. Fernsehrichtlinie RL 89/552/EWG, ABI. EG Nr. L 298 v. 17. 10. 1989, S. 23 (mit Werbeverboten für die Übertragung bestimmter Gottesdienste und religiöser Sendungen, Art. II V). 101 RL 93/104/EG, ABI. EG Nr. L 307 v. 13. 12. 1993, S. 18 (mit der Regelung, daß bei der Arbeitszeitgestaltung der Unterschiedlichkeit der religiösen Faktoren hinreichend Rechnung zu tragen ist, vgl. Art. 5 II. 102 Die Kommission hat einen entsprechenden Vorschlag für eine Richtlinie vorgelegt mit der Zulassung von Ausnahmen fUr Unternehmen und Betriebe, die unmittelbar und überwiegend konfessionellen und karitativen Bestimmungen dienen, falls das innerstaatliche Recht bislang schon solche Bestimmungen (in Deutschland § 118 II BetrVG) enthielt. Das Europäische Parlament hat aber eine Streichung dieser Ausnahme vorgeschlagen. Vgl. Ehnes, KuR 1997, 140, 50; de Wall, ZevKR 45 (2000), Heft I. 103 V gl. hierzu sowie zu weiteren Beispielen Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/ Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Gemeinsame Texte 4, Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union, sowie die in Fn. 99 angegebene Literatur. 104 RL 94/19/EG über Einlagensicherungssysteme, ABI. EG Nr. L 135 v. 31. 05. 1994, S. 5. lOS BVerfGE 66, I (24 f.).

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Problembewußtseins den Regional- und Gebietskörperschaften nicht gleichgestellt worden. Wie sehr die Kirchen auf die Wahrung ihrer Positionen bedacht sein müssen, zeigt auch die Entwicklungsgeschichte der Datenschutzrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. 10. 1995. 106 Der zunächst vorgelegte Entwurf einer Datenschutzrichtlinie enthielt nämlich ein an den Staat gerichtetes Verbot, personenbezogene Daten zu verarbeiten, aus denen die religiösen Überzeugungen (und damit auch die Kirchenmitgliedschaft) hervorgehen. Ob einer der vage gefaßten Ausnahmetatbestände eingriff, erschien mehr als zweifelhaft. 107 Der Entwurf der Datenschutzrichtlinie lehnte sich offenbar an entsprechende Regelungen in Frankreich und Belgien an. Diese beruhen auf den in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs gemachten Erfahrungen, nämlich der Deportation der Juden aufgrund der Registerangaben über die Religionszugehörigkeit Deshalb ist es in Frankreich und Belgien dem Staat untersagt, Daten über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu speichern. Wäre die Datenschutzrichtlinie in der vorgesehenen Form verabschiedet worden, hätte dies für die korporierten Kirchen in der Bundesrepublik aber unannehmbare Konsequenzen haben können, da die Kirchen zur Realisierung der Kirchensteuer auf eine Informationshilfe des Staates angewiesen sind. Die drohende Fehlentwicklung ist rechtzeitig bemerkt worden und konnte korrigiert werden. Ob die zugunsten der Religionsgemeinschaften getroffene Ausnahmeregelung des Art. 8 Abs. 2 d der Datenschutzrichtlinie weit genug gefaßt ist, wird man allerdings bezweifeln müssen. Die Ausführungen dürften zur Genüge belegen, daß es der (nicht notwendigerweise vertraglichen) Ausformung des Grundrechts der Religionsfreiheit auf der Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts bedarf. Zwar achtet die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 2 des EU-Vertrages die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Auch hat der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung grundrechtliche Verbürgungen herausgearbeitet. 108 Bisher hat sich der Europäische Gerichtshof aber nur in einem einzigen Fall näher zum Grundrecht der Religionsfreiheit geäußert. 109 Die Bemühungen der Kirchen, die Religionsfreiheit ausdrücklich in den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft zu verankern, sind gescheitert. Immerhin wurde eine Erklärung der Mitgliedstaaten der Schlußakte zum Ver106 RL 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABI. EG Nr. L 281/31 v. 23. II. 1995. 107 Vgl. Robbers, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Datenschutzrecht und die Kirchen, 1994, S. 33 ff., 185 ff.; Starck, FS Everling, 1995, S. 1427 (1432 ff.); Link, Zev KR 42 ( 1997), 130 (149). lOS Näher dazu Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 1993. 109 Vgl. EuGH, S1g. 1976, 1589, 1598 (Prais).

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trag von Amsterdam vom 02. 10. 1997 beigefügt, wonach die Europäische Union den Status achtet, "den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise." 110 Welche Bedeutung diese juristisch schwer einzustufende Erklärung erlangen wird, bleibt abzuwarten. Bedeutsamer ist, daß die Religionsfreiheit auch durch Art. 9 EMRK geschützt wird. Trotz des nur auf eine individuelle Gewährleistung hindeutenden Wortlauts ist heute anerkannt, daß sich der Schutz auch auf die korporative Religionsfreiheit bezieht.U 1 Da der europäische Menschenrechtsschutz nach lokrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK 112 zum 01. 11. 1998 erheblich vereinfacht und effektiviert worden ist 113, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Aufgabe nunmehr als "ständiger" Gerichtshof wahrnimmt" 4 , ist damit zu rechnen, daß dieser Gewährleistung künftig eine noch sehr viel größere Bedeutung als in der Vergangenheit zukommen wird. II. Künftig zu beachtende Gesichtspunkte

Lenkt man nach dieser Tour d'horizon über die staatskirchenrechtliche Entwicklung in den letzten achtzig Jahren den Blick in die Zukunft und fragt danach, auf welche Gesichtspunkte bei der künftigen Entwicklung des Staatskirchenrechts besonders geachtet werden sollte, lassen sich vier Orientierungsleitlinien herausstellen: 1. Einer Absonderung des Staatskirchenrechts vom Staats- und Verfassungsrecht ist entgegenzuwirken. Der geschichtliche Überblick hat gezeigt, daß sich die staatskirchenrechtliche Rechtsprechung und Lehre in den fünfziger und sechziger Jahren stark von derjenigen im allgemeinen Staats- und Verfassungsrecht abgesetzt hat. Mag dies in diesem Ausmaße auch eine Besonderheit darstellen, läßt sich doch feststellen, daß das Staatskirchenrecht generell dazu neigt, methodisch andere Wege einzuschlagen, als dies ansonsten in der Rechtsordnung üblich ist. Dies dürfte darauf zurückzufüh110 11. Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften zur Schlußakte zum Vertrag von Amsterdam v. 02. 10. 1997. 111 Vgl. zu den Einzelheiten Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990, S. 175 ff.; Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, 1995, S. 67ff.; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 9 Rn. 9; Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 1998, S. 339ff. 112 Vgl. BGBI. 1995 II S. 579 ff. 113 Vgl. Schlette, JZ 1999, 219ff.; Wittinger. Jura 1999, 405 (406ff.). 114 Art. 19 S. 2 EMRK.

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ren sein, daß es sich beim Staatskirchenrecht um einen besonders sensiblen und stark traditionsgeprägten Bereich handelt. So leben Staat und Kirche nach wie vor in einem Spannungsverhältnis, weil der Staat die Kompetenz-Kompetenz für sich beansprucht, die Kirchen demgegenüber darauf bestehen, daß sie nicht nur ihre Bestimmung, sondern auch ihre Unabhängigkeit und Rechtsetzungsbefugnis nicht vom Staat ableiten. Im Staatskirchenrecht können daher in einem besonders hohen Maße außerrechtliche Vorstellungen in die Rechtsauslegung und Rechtsanwendung einfließen. Z. B. besteht die Tendenz, zur Unterscheidung staatlicher und kirchlicher Belange Schlüsselbegriffe zu bilden, diese dann gewissermaßen zu verselbständigen und anschließend aus den selbstgebildeten Schlüsselbegriffen Rechtsfolgen abzuleiten. 115 Dies ist jedoch methodisch nicht zulässig. Das Staatskirchenrecht ist staatliches Recht, im Kern Verfassungsrecht Zwar wirft die Auslegung und Anwendung besondere Probleme auf, weil es um die Klärung von Grundsatzfragen wie insbesondere auch um die Reichweite der staatlichen Souveränität geht. Dennoch gelten im Prinzip keine anderen Maßstäbe als im sonstigen Verfassungsrecht. Das Staatskirchenrecht darf sich daher nicht von dem sonstigen Staats- und Verfassungsrecht absondern. Zu einer solchen Absonderung besteht auch deshalb keine Veranlassung, weil das Grundgesetz den Kirchen einen in dieser Form bisher nicht dagewesenen Freiheitsraum gewährleistet, ohne die Ordnungsfunktionen des Staates zu vernachlässigen.

2. Um die zahlreichen staatskirchenrechtlichen Fragestellungen verfassungskonform beantworten zu können, muß danach gestrebt werden, Klarheit über den Sinngehalt der staatskirchenrechtlichen Fundamentalnormen zu gewinnen. Zum Gegenstand des Staatskirchenrechts gehören so unterschiedliche Gebiete wie das Mitgliedschafts-, Dienst-, Sachen-, Haftungs-, Friedhofs-, Stiftungs-, Denkmal- oder Datenschutzrecht, um nur einige wenige Bereiche zu nennen. Auftretende Rechtsprobleme betreffen regelmäßig das Grundrecht der Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Die Einzelprobleme lassen sich daher nur angemessen lösen, wenn hinreichende Klarheit über den Sinngehalt dieser Stützpfeiler des Staatskirchenrechts erzielt worden ist. Trotz der richtungsweisenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und hervorragender Beiträge der Literatur ist dies in einigen Punkten noch nicht gänzlich gelungen. So ist bereits unklar geblieben, in welchem Verhältnis die Gewährleistungen der Art. 4 Abs. I und 2 GG einerseits und des Art. 140 GG andererseits stehen. Das Bundesverfassungsgericht spricht in ständiger Rechtsprechung davon, daß die durch Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG gewährleistete Garantie freier Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten eine notwendige, rechtlich selbständige Gewährleistung ist, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 4 Abs. 2 GG) die zur WahrllS

V gl. Mahrenholz, Der Staat 25 ( 1986), 79 (87 f.).

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nehmung dieser Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt. 116 Versteht man Notwendigkeit im Sinne rechtlicher Notwendigkeit, vermag dies nicht zu überzeugen. Eine solche Notwendigkeit könnte sich nämlich nur aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergeben, der Vorschrift also nichts hinzufügen. Nach der hier vertretenen Auffassung sind die Garantien des Art. 4 Abs. I und 2 GG und des Art. 140 GG zwar nicht identisch, überschneiden sich aber zu einem nicht unerheblichen Teil. Soweit eine Überschneidung vorliegt, ist Art. 140 GG als Iex specialis anzusehen, muß allerdings im Lichte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausgelegt werden. Verfassungsprozessual ist bedeutsam, daß nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts 117 und der herrschenden Lehre 118 Art. 140 GG keine Grundrechte gewährt. Behauptete Verletzungen des Art. 140 GG sollen gleichwohl zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden dürfen, da sich der Beschwerdeführer auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen könne. Die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wird selbst dann zugelassen, wenn Art. 140 GG über diese Vorschrift hinausgeht. 119 Diese Sichtweise überzeugt nicht. Viele Bestimmungen der inkorporierten Weimarer Kirchenartikel (z. B. Art. 136 WRV, 137 Abs. 2- 7 WRV) haben einen subjektivrechtlichen und damit grundrechtliehen oder grundrechtsähnlichen Charakter. 120 Es spricht auch nichts dagegen, eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar auf solche Bestimmungen zu stützen, da sich Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG in diesem Sinne auslegen läßt (mithin eine Gleichsetzung der Grundrechte mit den Normierungen der Art. 1 - 19 GG nicht geboten ist). 121 Keine nähere Aufmerksamkeit wurde bisher auch der Frage geschenkt, wer sich auf Art. 4 Abs. 2 GG bzw. auf Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG berufen kann. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß durch Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform erfaßt werden, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen. 122 Dies bedeutet, daß die Einrichtungen (z. B. karitativer oder diakonischer Art) zur Kirche zu zählen sind. Gleichwohl sollen die Einrichtungen selbst und nicht etwa nur die 116 Vgl. BVerfGE 42, 312 (332); 72, 278 (289m. w. N.); Hesse, HStKR, Bd. I, 2. Aufl. 1994, s. 521 (525 f.). 117 BVerfGE 19, 129 (135). 118 Vgl. z. B. Lücke, EuGRZ 1995, 651 (652); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 4 Rn. 28; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl. 1997, Art. 140 Rn. 1. 119 Vgl. z. B. Pirson, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 23 (1989), 43 (45). 12o Nicht selten wird sogar ausdrücklich von Rechten (z. B. Art. 136 Abs. I, Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV) oder Berechtigungen (Art. 137 Abs. 6 WRV) gesprochen. 121 Ehlers (Fn. 28), Art. 140 GG Rn. 3. Vgl. auch Hollerbach (Fn. 35), § 138 Rn. 145. 122 Vgl. z. B. BVerfGE 46, 73 (85 f.); 70, 138 (162); BAGE 58, 92 (100ff.). Zust. Hollerbach (Fn. 35), § 138 Rn. 120ff. Krit. Ehlers, ZevKR 32 (1987), 158 (160 mit Fn. 12).

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Amtskirchen unter Berufung auf Art. 4 Abs. 2 GG Verfassungsbeschwerde erheben können. 123 Offen geblieben ist die nähere rechtliche Begründung. Da eine Prozeßstandschaft ausscheiden dürfte, wird man davon ausgehen müssen, daß die genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bei gleicher Interessenausrichtung sowohl den religiösen Grundverband (also der verfaßten Kirche) als auch die diesem Grundverband zugeordneten rechtlich verselbständigten Teile schützen sollen. Dies läßt offen, wie zu entscheiden ist, wenn es zu Spannungen zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Amtskirche und dem Selbstbestimmungsrecht der rechtlich verselbständigten kirchlichen Einrichtungen kommt. 124 Zweifelhaft kann auch sein, wann Einrichtungen der Kirche "in bestimmter Weise" zugeordnet sind und "ein Stück des Auftrags der Kirche" wahrzunehmen haben. So gibt es karitativ-diakonische Einrichtungen, die nicht nur in Form einer GmbH organisiert sind, sondern eine Konzernstruktur aufweisen. Z. B. werden nicht ganz selten Tochtergesellschaften gegründet, um bestimmte Mitarbeitergruppen (vornehmlich im Küchen- oder Reinigungsbereich bzw. bei den technischen Diensten) nach anderen Arbeitstarifen bezahlen zu können. Das staatliche Recht veranlaßt die Kirchen oftmals zu solchen Konstruktionen, weil ansonsten die staatliche Refinanzierung (etwa von Pflegesätzen) nicht gesichert ist. Für das Staatskirchenrecht stellt sich die Frage, ob es sich auch bei den Tochtergesellschaften noch um kirchliche Einrichtungen in dem oben genannten Sinne handelt. Am stärksten fällt ins Gewicht, daß bislang noch keine Einigkeit über die Bestimmung von Tatbestand und Schranken des Art. 4 Abs. I und 2 GG bzw. des Art. 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG erzielt werden konnte. So wird weit verbreitet die Auffassung vertreten, daß das, was Religion, eine Religionsgemeinschaft oder eine eigene Angelegenheit der Religionsgemeinschaft sei, sich nach dem Selbstverständnis des Rechtsträgers bestimme. 125 Dieser Auffassung kann indessen nicht gefolgt werden. 126 Der Schutzbereich bzw. Tatbestand verfassungsrechtlicher Normen ergibt sich aus der Verfassung selbst und ist durch Auslegung zu ermitteln. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht die Ansicht vertreten, daß allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, für sie und ihre Mitglieder die Berufung auf die Freiheitsgewährleistungen nicht zu rechtfertigen vermag. Vielmehr müsse es sich auch tatsächlich, nach äußerem Gehalt und Erscheinungsbild, um eine ReliVgl. BVerfGE 46, 73 (82 f.). Stellt man maßgeblich auf den Grundverband ab, dürfte es im Konfliktfall nur auf diesen maßgeblich ankommen. 12s Vgl. lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, 1994, S. 29 ff. m. w. N. Vgl. auch Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 431 ff.; Bock (Fn. 30), S. 171 ff. 126 Vgl. grundsätzlich lsensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 29ff.; dens., ZevKR 43 (1998), 133 ff. Siehe ferner Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 21 ff. Nach Mucke[ (Fn. 8), S. 122, 276, 287, müssen zwar die staatlichen Schutznormen objektiv ausgelegt werden. Die Befugnis des Staates zur verbindlichen Begriffsbestimmung soll jedoch von der Verfassung begrenzt werden. 123 124

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gion und Religionsgemeinschaft handeln. Dies im Streitfall zu prüfen und zu entscheiden, obliege als Anwendung einer Regelung der staatlichen Rechtsordnung und den staatlichen Organen, letztlich den Gerichten. 127 Allerdings ist bei der Konkretisierung der religiösen Bestimmung das Selbstverständnis des Rechtsträgers mit zu berücksichtigen. Halten sich die Rechtsträger innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens, bleibt es ihnen selbst überlassen, ob und in welcher Weise sie von den Freiheitsgewährleistungen Gebrauch machen wollen. Was die Schrankenproblematik anbelangt, gilt Art. 4 Abs. I und 2 GG als vorbehaltslos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch kollidierendes Verfassungsrecht begrenzt werden darf. 128 Gesetzliche Regelungen i. S. d. Art. 136 Abs. 1 WRV (staatsbürgerliche Pflichten) rechnet das Bundesverfassungsgericht nicht hierzu, da Art. 136 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG durch Art. 4 GG überlagert werde. 129 Dies läuft praktisch auf eine partielle Außerkraftsetzung des Art. 136 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG hinaus. Dagegen wird das für alle geltende Gesetz ungeachtet einer Überlagerung des Art. 137 Abs. 3 WRV i. V .m. Art. 140 GG durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als Schranke des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts angesehen. 130 Diesen Differenzierungen ist nicht zu folgen. Zum kollidierenden Verfassungsrecht gehören auch die Schrankenregelungen der Art. 136 und 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Da diese Bestimmungen einen Gesetzesvorbehalt enthalten, darf auch die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit in dem erwähnten Umfange durch oder aufgrund Gesetzes beschränkt werden (selbst wenn das Gesetz nicht kollidierendes Verfassungsrecht konkretisiert). 131 Schließlich bestehen Meinungsdivergenzen darüber, inwieweit das durch Art. 137 Abs. 3 i. V. m. Art. 140 GG geschützte kirchliche Selbstbestimmungsrecht durch das für alle geltende Gesetz eingeschränkt werden darf. Im wesentlichen werden heute noch zwei Auffassungen vertreten, die man als Bereichs- bzw. Abwägungslehre bezeichnen kann. Die Rechtsprechung, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, steht grundsätzlich auf dem Boden der Bereichslehre. 132 Sie traut sich zu, zwischen einem kirchlichen Innen- und Außenbereich zu entscheiden. Während der Innenbereich dem staatlichen Gesetz schlechthin unzugänglich sein soll, müßten im Außenbereich die Schranken des für alle geltenden Gesetzes unter Beachtung der Wechselwirkung von Selbstbestimmungsrecht und Schrankenzweck BVerfGE 83, 341 (353). Bestätigt durch BVerfG-K. NVwZ 1993, 357 (358). Vgl. BVerfGE 33, 23 (29); Kolwtt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. 2. Autl. 1999, Art. 4 Rn. !!Off. Zum Diskussionsstand ferner Fehlau, JuS 1993,441 (442 ff.). 129 BVerfGE 33, 23 (30f.). no Vgl. BVerfGE 70, 138 (166ff.). 131 So auch die im Schrifttum vordringende Auffassung. Vgl. z. 8. Stolleis, JuS 1974, 770 (773 f.); Mucket (Fn. 8), S. 224 ff. 132 Vgl. z. B . BVerfGE 18, 385 (388); 42, 312 (334, 338); 46, 73 (95); 66, I (20); 72, 278 (289); BGHZ 22, 383 (390); BVerwG, NJW 1983, 2580; NVwZ 1993, 672; BAG, ZevKR 37 ( 1992), 66 (67). 127 128

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Rechnung getragen werden. Indessen unterscheidet Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG nicht zwischen inneren und äußeren Angelegenheiten. Die Bindung an das für alle geltende Gesetz bezieht sich auf alle religionsgemeinschaftliehen Angelegenheiten und nicht nur Teile von ihnen, zumal sich innere und äußere Angelegenheiten ohnehin nicht schematisch voneinander unterscheiden lassen. Die durch die Freiheitsgewährleistungen und den Schrankenvorbehalt geschützten Rechtsgüter müssen daher in jedem Falle und nicht nur in Teilbereichen im Wege der Abwägung unter Berücksichtigung der zwischen Freiheits- und Bindungsnorm bestehenden Wechselwirkung des Übermaßverbotes einander zugeordnet werden.133 Hat eine kirchliche Maßnahme im Einzelfall keine weltlichen Wirkungen, kann auch eine Beschränkung nicht verfassungsmäßig sein.

3. Es ist eine vordringliche Aufgabe des deutschen Staatskirchenrechts, an einem ausreichenden Schutz der Religionsfreiheit einschließlich des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen auf europäischer Ebene mitzuwirken und hierbei die tragenden Prinzipien des deutschen Staatskirchenrechts einzubringen. Wie ausgeführt wurde, stellt der europäische Integrationsprozeß das Staatskirchenrecht vor neue Herausforderungen, da das nationale Recht vom europäischen, insbesondere vom Gemeinschaftsrecht, überlagert wird. Zwar schützt auch das europäische Recht die Religionsfreiheit. Diese bedarf jedoch noch der näheren Entfaltung. Hierfür kommt es auch und gerade auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten an. Diese sind auf dem Gebiet des Religionswesens trotz gewisser Konvergenzerscheinungen 134 aber sehr unterschiedlich und reichen von einem System der strengen Trennung in Frankreich und den Niederlanden bis hin zum Staatskirchenturn in England und in Griechenland sowie trotz gewisser Lockerungen auch noch in den skandinavischen Staaten. 135 Das deutsche Staatskirchenrecht meidet diese Extreme und beruht auf einer Konzeption der Mitte, weil es einerseits eine prinzipielle Trennung von Staat und Kirche vorschreibt, andererseits aber in erheblichem Ausmaße Elemente der Verbindung und der Zusammenarbeit enthält. Die in einem langen Prozeß gewachsenen und bewährten Rechtsstrukturen des deutschen Staatskirchenrechts gewährleisten Freiheit, staatliche Ordnung und Kommunikation gleichermaßen und können daher auch dem europäischen Rechtsfindungsprozeß eine Perspektive anbieten.

133 Vgl. Ehlers, JuS 1989, 364 (369); Kästner (Fn. 72), S. 252 ff.; Hesse (Fn. 116), S. 549ff.; Bock (Fn. 30), S. 188, 277ff. 134 Vgl. Robbers, ZevKR 42 (1997), 122 (127). 13S Vgl. zu den verschiedenen staatskirchenrechtlichen Ordnungsmodellen Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995; ders., ZevKR 42 (1997), 122ff. Näher zum Staatskirchenrecht der nordischen Staaten ZevKR 45 (2000), Heft I.

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4. Es ist darauf hinzuwirken, daß die Staatskirchenrechtswissenschaft an den rechtswissenschaftliehen Fakultäten weiter gepflegt wird. Es ist das große Verdienst der Wissenschaftlergenerationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg tätig geworden sind, das Staatskirchenrecht im Zusammenspiel mit dem Bundesverfassungsgericht auf den Stand gebracht zu haben, den es heute einnimmt. Gegenwärtig droht das Staatskirchenrecht in den rechtswissenschaftliehen Fakultäten aber eher an den Rand geschoben zu werden. So ist das Staatskirchenrecht früher häufig zusammen mit dem Kirchenrecht betrieben und gelehrt worden. Das Kirchenrecht ist jedoch heute nicht mehr Priifungsfach im ersten und zweiten juristischen Staatsexamen. 136 Diese (und weitere Faktoren) haben zur Folge gehabt, daß es an den rechtswissenschaftliehen Fakultäten kaum noch akademischen Nachwuchs im Bereich des Kirchenrechts gibt. Eine ähnlich krasse Entwicklung ist im Falle des Staatskirchenrechts zwar nicht zu erwarten, zumal das Rechtsgebiet im wesentlichen zum Verfassungsrecht und damit zum Pflichtstoff gehört. Da die Inhalte des juristischen Studiums aber immer weiter auf Kerngebiete reduziert werden, sich alle Bemühungen auf Verkürzung des Studiums richten und heute tendenziell wohl mehr Wert auf Ausbildung statt auf Bildung gelegt wird, könnte das Staatskirchenrecht doch (weiter) ins Abseits geraten. Bereits jetzt dürfte die Zahl der Wissenschaftler, die auf staatskirchenrechtlichem Gebiet arbeiten, im Vergleich zu früher zurliekgegangen sein. Das Staatskirchenrecht ist aber ein viel zu anspruchsvolles Gebiet, um es allein den Gerichten, Beamten in den Kultusministerien und Kirchenjuristen zu überlassen. Ohne akademische Pflege- d. h. vor allem ohne Pflege an den rechtswissenschaftliehen Fakultäten - wird das Staatskirchenrecht verkümmern. Somit kommt es darauf an, in den Ministerien und rechtswissenschaftliehen Fakultäten künftig verstärkt für die Einsicht zu werben, daß das Staatskirchenrecht ein theoretisch und praktisch höchst bedeutsames Rechtsgebiet ist, das nicht als fossiles, zum Absterben bestimmtes Relikt vergangener Epochen abgestempelt werden darf. Ansonsten würde sich nicht mehr die Frage nach dem Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht, sondern nur noch die Frage nach der Bedeutung des Staatskirchenrechts stellen.

136 Soweit ersichtlich, ist das Kirchenrecht nur noch in Baden-Württemberg Teil einer Wahlfachgruppe (vgl. § 5 Abs. 4 Nr. I d JAPrO BW).

Das Bundesstaatsprinzip Von Janbernd Oebbecke I. Die Entscheidung für den Bundesstaat

Im Februar dieses Jahres befaßten sich auf den 36. Bitburger Gesprächen Juristen, Finanzwissenschaftler und Politiker mit dem Thema "50 Jahre Grundgesetz50 Jahre Föderalismus". Das Fazit des Journalisten KurtReumann lautete: ,,Es ist zum Haareraufen: Obwohl alle Fachleute eine Neuordnung unseres Bundesstaates für notwendig halten, glaubt keiner daran, daß sich viel bewegen lasse. Aber zum Verzweifeln ist es trotzdem nicht: Im Lob des Föderalismus stimmen alle grundsätzlich überein." 1 Das so skizzierte Bild hat manches mit der Stimmungslage bei der Entstehung des Grundgesetzes gemeinsam: Einigkeit in der Zustimmung für den Bundesstaat bei großen Differenzen über seine Ausgestaltung. Der Wiederaufbau der deutschen Staatlichkeil vollzog sich nach Kapitulation und Besatzung von unten, zuerst vor Ort in den Kommunen, dann in den Ländern, die die Besatzungsmächte in ihren Besatzungszonen etablierten. Der Zuschnitt der Besatzungszonen war bereits im September 1944 zwischen Großbritannien, den USA und der Sowjetunion vereinbart worden und wurde 1945 modifiziert, indem die Briten und Amerikaner es den Franzosen ermöglichten, aus Teilen ihrer Zonen eine eigene Besatzungszone zu bilden. Im großen Ganzen orientierte sich die Grenzziehung des Jahres 1944 an den deutschen Ländergrenzen der Weimarer Zeit - mit einer gewichtigen Ausnahme: Preußen wurde zerlegt, die Grenzen der Besatzungszonen folgten preußischen Provinzgrenzen. Bei der später erfolgten Bildung der französischen Besatzungszone wurde die preußische Rheinprovinz zwischen den Briten im Norden und den Franzosen im Süden aufgeteilt? Die Amerikaner begannen mit der Länderbildung schon im Herbst 1945; im Laufe des Jahres 1946 folgten die Briten und dann auch die Franzosen? Mit Ausnahme des Südwestens I Kurt Reumann, Zuviel Einheit zuwenig Vielfalt, Die Bitburger ziehen Bilanz: 50 Jahre Grundgesetz, FAZ Nr. 44 v. 22. 20. 1999 S. 16. Ähnlich der Tenor des Berichts über eine Tagung in Speyer (Günther Gillessen, Lähmende Verflechtung, Der betrübliche Zustand des real existierenden deutschen Föderalismus, FAZ Nr. 86 v. 14. 40. 1999 S. 16). 2 Michael Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeil 19451949, in: HStR IX, § 5 Rn. 20. 3 Stolleis (Anm. 2), § 5 Rn. 54 ff.

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war bereits 1947 die heutige gebietliehe Struktur der Bundesrepublik einschließlich der in der damaligen sowjetischen Besatzungszone konstituiert. Als 1948 in den drei Westzonen die Entscheidung für die Schaffung des Grundgesetzes fiel, waren in allen Ländern Landtage gewählt und überall amtierten demokratisch legitimierte Landesregierungen. 4 Am 1. September 1948, als der Parlamentarische Rat im Bonner Museum König zusammentrat, war ganz unbestritten: Der neue westdeutsche Staat sollte föderal organisiert sein. Davon gingen nicht nur die vom Herrenchiemseer Verfassungskonvent geleisteten Vorarbeiten aus; indem er etwa einen Ausschuß für die Bundesorganisation bildete,5 setzte der Parlamentarische Rat auch in der Organisation seiner Arbeit als selbstverständlich voraus, daß ein Bundesstaat gebildet werden sollte.6 Schon die alliierte Vorgabe für die Verfassungsgebung im Frankfurter Dokument Nr. 1, es solle sich um eine "Regierungsform des föderalistischen Typs" handeln, war auf deutscher Seite nicht kontrovers diskutiert worden. Der Föderalismus ist den Deutschen nicht von den Allierten aufgezwungen worden? Die Verfassung des neuen Staates als Bundesrepublik greift eine staatsrechtliche Tradition auf, die über die Weimarer Republik, das Kaiserreich und den Norddeutschen Bund bis zur Paulskirchenverfassung von 1848 zurückreicht Schon das Heilige Römische Reich war verfassungsrechtlich modern gesprochen ein Mehrebenensystem;8 regionale Einheiten mit Staatsqualität unter einem gesamtdeutschen Dach waren eine historische Grunderfahrung für die Deutschen. Der Zentralismus des NS-Staates hatte ähnlich wie später der Zentralismus der DDR den Glauben an den Nutzen einer solchen Staatsorganisation eher noch bestärkt. Der Parlamentarische Rat konzipierte den Bundesstaat begrenzt entwicklungsoffen, und zwar sowohl hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Ausformung seiner Grundlagen im Grundgesetz wie seiner territorialen Gestalt.

1. Der besondere verfassungsrechtliche Schutz des Bundesstaats

Wie andere Teile des Grundgesetzes können die Vorschriften über die Ausgestaltung der bundesstaatliehen Ordnung, etwa über die Kompetenzverteilung, die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes und über die Finanzverfas4 Dietfn(Jr Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Auflage 1997, S. 327 ff., insbesondere S. 330 ff. 5 Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: HStR I, § 6 Rn. 46 Fußn. 46. 6 Willoweit (Anm. 4), S. 349; Mußgnug (Anm. 5), § 6 Rn. 39ff. 7 Mußgnug (Anm. 5), § 6 Rn. 71; Fritz Ossenbühl, Föderalismus nach 40 Jahren Grundgesetz, DVBI. 1989, 1230ff.; Hans-Jochen Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, Band 2, 2. Auflage 1995, S. 1041 ff., Rn. 9. s So spricht Karl Löwenstein, Verfassungslehre, 3. Auflage 1975, S. 318, in bezugauf das alte Reich von Föderalismus.

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sung im Verfahren nach Art. 79 I und ll GG geändert werden; von dieser Möglichkeit ist in den letzten fünfzig Jahren für diese Bestimmungen sogar besonders ausgiebig Gebrauch gemacht worden. 9 Für solche Verfassungsänderungen gibt es jedoch Grenzen; nach Art. 79 Ill dürfen sie die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die Bundesstaatlichkeit als einen der in Art. 20 I GG niedergelegten Grundsätze nicht berühren. 10 Die Vorschrift ist in der deutschen wie in der internationalen Verfassungsgeschichte ohne rechtes Vorbild. Ihre Formulierung geht auf einen nicht näher erläuterten Vorschlag des Redaktionsausschusses zurück; in früheren Entwürfen waren für entsprechende Änderungen hohe, deutlich über zwei Drittel hinausgehende Mehrheiten im Bundesrat vorgesehen gewesen, ein völliger Ausschluß ist im Parlamentarischen Rat aber vor dem Vorschlag des Redaktionsausschusses nicht erörtert worden. 11 Man kann die Regelung in die Reihe der verfassungspolitischen Lehren aus Weimar stellen; Hitler hatte in den ersten Monaten nach der Machtergreifung die Länder gleichgeschaltet, mit dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches die Landtage aufgelöst, die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übertragen und den Reichsrat aufgehoben. Nach Art. 79 Ill GG wären derartige Eingriffe in die Verfassung, in welcher Form und mit welchen Mehrheiten sie auch immer erfolgten, klar als Verfassungsbruch auszumachen. 2. Die territoriale Neuordnung des Bundesstaates

Begrenzt entwicklungsoffen war auch die gebietliehe Ordnung des vom Parlamentarischen Rat verfaßten Bundesstaates. Art. 23 S. 2 GG sah für "andere Teile Deutschlands" die Möglichkeit des Beitritts vor. Diese Bestimmung ist zweimal praktisch geworden: 1957 traten dem Bund das bis dahin von Frankreich verwaltete Saarland und 1990 die fünf ostdeutschen Länder bei. Art. 23 GG in seiner ursprünglichen Fassung ist gern. Art. 4 Nr. 2 des Einigungsvertrages mit dem Vertragsgesetz aufgehoben worden. Die mit der Schaffung des Grundgesetzes verknüpfte Hoffnung, der neue Staat werde auf die anderen Teile Deutschlands Anziehungskraft ausüben, hat sich bestätigt. Weniger wunschgemäß verlief die Entwicklung der gebietliehen Binnenstruktur. Im Anschluß an Diskussionen der Weimarer Zeit über eine Reichsreform 12 und 9 Markus Kenntner, Grundgesetzwandel, DÖV 1997, 450ff. (454f.); Dieter Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, 1305 ff. (1307); Gerhard Robbers, Die Änderungen des Grundgesetzes, NJW 1989, 1325ff. (1330f.). 36 von 46 Änderungsgesetzen betrafen mindestens auch den bundesstaatliehen Aufbau (s. den Beitrag von Pieroth in diesem Band). IO Josef lsensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, § 98 Rn. 262ff. II Bryde, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 3. Auflage 1996, Art. 79 Rn. I.

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basierend auf einem recht breiten Konsens über die Notwendigkeit einer Länderneugliederung enthielt Art. 29 I GG einen unbedingten Neugliederungsauftrag. Mit ihren Verfahrensregelungen enthielt die Vorschrift als einzige im Grundgesetz Elemente unmittelbarer Demokratie. Die Neugliederung sollte innerhalb von drei Jahren nach Verkündigung des Grundgesetzes abgeschlossen sein. Die Verwirklichung des damit gefaßten Vorsatzes scheiterte schon daran, daß die Alliierten den Art. 29 GG nicht genehmigten. Er war erst seit dem Wirksamwerden des Deutschlandvertrages anwendbar. 13 Zu einer Länderneugliederung ist es auch danach nicht gekommen. In Baden, in Schaumburg-Lippe und Oldenburg sowie in einigen Teilen von Rheinland-Pfalz kamen 1956 Volksbegehren zustande, die entsprechend der in Art. 29 II GG vorgesehenen Möglichkeit mit mindestens einem Zehntel der Wahlberechtigten eine Änderung der Landeszugehörigkeit verlangten. Als der Bundesgesetzgeber dann fast zwanzig Jahre später die gesetzliche Grundlage für einen Volksentscheid in diesen Ländern gelegt hatte, wurden Anfang 1975 Mehrheiten für eine Loslösung aus dem Verbund des Landes nur in den beiden niedersächsischen Gebieten erreicht. Das nunmehr nach der damaligen Fassung des Art. 29 GG 14 notwendige Bundesgesetz setzte sich jedoch nicht zuletzt auch mangels realistischer Alternativen über dieses Votum hinweg. Niedersachsen blieb in der Form bestehen, in der es von den Briten gebildet worden war. 15 Sieht man von kleineren Gebietsänderungen ab, für die besondere Regeln gelten, gab es nur eine erfolgreiche Neugliederungsmaßnahme: die Bildung BadenWürttembergs aus den Ländern Baden, Württemberg-Baden und WürttembergHohenzollem, für die Art. 118 GG eine Sonderregelung traf: 16 Die Vereinbarung der Länder reichte aus. Selbst der Zusammenschluß der Länder Berlin und Brandenburg, für den Art. 118a GG ein deutlich erleichtertes Verfahren vorsieht, ist bisher? - daran gescheitert, daß die Brandenburger, die nach ihrer Verfassung durch Volksentscheid daran mitwirken, ihre Zustimmung verweigert haben. 17 Der in der ursprünglichen Fassung des Art. 29 GG enthaltene strikte Neugliederungsauftrag wurde 1976 gestrichen. 18 Das Verfahren nach der geltenden Fassung 12 Dazu Jürgen lohn, Die Reichsreformdiskussion in der Weimarer Republik, in: Jochen Huhn/Peter-Christian Witt (Hg.), Föderalismus in Deutschland, 1992, S. 101 ff. 13 lngolf Pernice, in: H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 29 Rn. 4. 14 Fünfundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 19. 8. 1969 (BGBI. I 1969, 1241 f.). 15 Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: HStR I, § 7 Rn. 71; Janbernd Oebbecke, Integration durch Dezentralisation, in: Kar! Teppe/Hans-Uirich Thamer, 50 Jahre Nordrhein-Westfalen Land im Wandel, 1997, S. 59ff. (62 ff.). 16 Hasso Hofmann (Anm. 15), § 7 Rn. 15; Oebbecke (Anm. 15), S. 64f. 17 Dazu Peter F. Lutz, Wege zur Neugliederung des Bundesgebietes nach dem Scheitern der Länderfusion Berlin-Brandenburg, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996, 137 ff.; gegen die Kritik an dieser Entscheidung wendet sich Peter Häberle, Die Zukunft der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen im Kontext Deutschlands und Europas, JZ 1998, 57 ff. (62).

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aus dem Jahre 1994 19 sieht entweder ein Bundesgesetz vor, das übrigens nach wie vor nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, oder einen Staatsvertrag zwischen den beteiligten Ländern. In beiden Fällen findet in den betroffenen Ländern ein Volksentscheid statt. Im Schrifttum ist die Skepsis verbreitet, es werde auch künftig nicht zu Maßnahmen der Länderneugliederung kommen. 20 Man spricht davon, mit Art. 29 GG in seiner jetzigen Fassung genössen die Länder "effektiven Bestandsschutz". 21 In der Tat dürften die Hürden vor einer Länderneugliederung kaum zu überwinden sein. Der unabhängig von der Rechtslage wohl wichtigste Grund ist bereits vor fast fünfhundert Jahren beschrieben worden: ,,Der Neuordner hat alle die zu Feinden, die sich in der alten Ordnung wohlbefinden, und laue Mitstreiter in denen, welche bei der Neuordnung zu gewinnen hoffen. ,.22 Daneben gibt es spezifischere Gründe; sie liegen in der Sache wie in der grundgesetzliehen Regelung. In der Sache überwiegen die Vorteile einer Neugliederung, die nach allen dazu diskutierten Modellen auf einen Zusammenschluß kleinerer zu größeren Ländern hinausläuft, keineswegs so eindeutig, wie gelegentlich gesagt wird. 23 Sicher ist es richtig, daß größere Einheiten Kostenvorteile besitzen, und daß es vor allem im Verflechtungsbereich der Stadtstaaten raumplanensehe Mißstände gibt, denen sich mit anderen Mitteln nur schwer beikommen läßt. Ebenso richtig ist, daß gerade Bremen, Harnburg oder das Saarland, die stets als bevorzugte Kandidaten für einen Zusammenschluß galten, eine gewachsene historische Identität besitzen, deren Bewahrung einen der Vorzüge darstellt, um deret Willen der Bundesstaat geschätzt wird. 24 Richtig ist weiter, daß auch kleine Länder durch gesetzgebensehe und administrative Innovationen nachweisbar zu den heute unter dem Stichwort Konkurrenzföderalismus25 diskutierten Wohlfahrtswirkungen einer dezentralen Ordnung 18 Dreiunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 29 und 39) v. 23. 8. 1996. (BGBI. I 1976,2381 f.). 19 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3, 20a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118a und 125a) v. 27. 10. 1994 (BGBI. I 1994, 3146). 20 S. etwa Peter Badura, Die "Kunst der föderalen Form" - Der Bundesstaat in Europa und die europäische Föderation, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 369 ff. (378); Edzard Schmidt-Jortzig, Herausforderungen für den Föderalismus in Deutschland, DÖV 1998, 746 ff. (750); Armin Dittmann, Föderalismus in Gesamtdeutschland, in: HStR IX, § 205 Rn. 9. 21 Isensee (Anm. 10), Rn. 26; in diesem Sinne auch Hasso Hofmann (Anm. 15), § 7 Rn. 72; Klaus Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 141. 22 Niccol6 Machiavelli, Der Fürst, übers. v. F. v. Oppeln-Bronikowski, 1990, S. 38. 23 S. etwa Peter Häberle, Ein Zwischenruf zur föderalen Neugliederungsdiskussion in Deutschland - Gegen die Entleerung von Art. 29 Abs. I GG, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S. 315 ff. (325 ff.); Häberle (Anm. 17), JZ 1998, 62. 24 Häberle (Anm. 17), JZ 1998, 60. 2s Dazu s. etwa Hans Peter Bull, Finanzausgleich im "Wettbewerbsstaat", DÖV 1999, 269ff.; Schmidt-Jortzig (Anm. 20), DÖV 1998, 746ff.; Uwe Volkmann, Bundesstaat in der Krise?, DÖV 1998, 613ff.; Christian Callies, Die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG vor

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beitragen. 26 Im Vergleich zu anderen Bundesstaaten ist die Spannbreite von I: 26, die zwischen den Einwohnerzahlen Bremens und Nordrhein-Westfalens liegt, 27 auch keineswegs besonders groß. In der Schweiz beträgt sie zwischen AppenzeiiInnerrhoden und Zürich I: 79, 28 in den USA zwischen Wyoming und Kalifornien I : 68?9 Es scheint, daß gegenüber Größen-und Leistungsunterschieden der Gliedstaaten die deutsche "Leidensfähigkeit" vergleichsweise schwach ausgeprägt ist, 30 -jedenfalls bei vielen, die sich dazu äußern. Auch die Regelung des Art. 29 GG selbst ist nicht dazu angetan, Zusammenschlüsse zu erleichtern. Gerade in den betroffenen Gebieten sind die Mehrheiten für eine Aufgabe der Selbständigkeit nicht leicht zu erreichen.31 Das hat der Fall Brandenburg wieder gezeigt. Die Beschränkung des Art. 29 GG auf neuordnungsprozedurale Fragen erschwert eine positive Entscheidung selbst dort, wo der Zusammenschluß eigentlich für beide Beteiligten attraktiv wäre. Sie erleiden nämlich in zwei Richtungen durch den Zusammenschluß sofort erhebliche Einbußen, die durch eventuelle Vorteile jedenfalls sofort nicht aufzuwiegen sind. Sowohl im Länderfinanzausgleich32 als auch bei ihren Einflußmöglichkeiten im Bundesrat stehen sie nämlich schlechter da als vor einem Zusammenschluß; es fehlt eine Regelung, dem Hintergrund von kooperativem und kompetitivem Föderalismus, DÖV 1997, 889ff. (891 f.); Klaus Lüder, Innovationen und institutionelle Rahmenbedingungen, in: Öffentliche Verwaltung der Zukunft, hg. von Klaus Lüder, 1998, S. 149ff. (151); Dietmar Braun, Der bundesdeutsche Föderalismus an der Wegscheide. lnteressenkonstellationen, Akteurskonflikte und institutionelle Lösungen, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996, S. 101 ff. ; Rolf-Dieter Postlep/Thomas Döring, Entwicklungen in der ökonomischen Föderalismusdiskussion und im föderativen System der Bundesrepublik Deutschland, in: Aktuelle Fragen zum Föderalismus, hg. von Rolf-Dieter Postlep, 1996, S. 7 ff. (S. 26 f.); Hans-Peter Schneider, Nehmen ist seliger als Geben. Oder: Wieviel ,,Förderalismus" verträgt der Bundesstaat?, NJW 1998, 3757 ff. (3758); aus der Zeit vor der aktuellen Debatte Hans-Peter Schneider, Die bundesstaatliche Ordnung im vereinigten Deutschland, in: Föderalismus in Deutschland (Anm. 12), S. 239ff. (243). 26 Für Bremen etwas. Häberle (Anm. 17), JZ 1998, 57ff.; Janbernd Oebbecke, Die unsichtbare Hand in der Ländergesetzgebung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1997, 461 ff. (476). 27 Einwohnerzahlen in Tausend: Nordrhein-Westfalen 17.948, Bayern 12.044, BadenWürttemberg 10.375, Bremen 678, Saarland 1084, Harnburg 1708 (Stand 31. 12. 1996, Quelle: Statistisches Jahrbuch 1998 für die Bundesrepublik, 1998). 28 Einwohnerzahlen in Tausend: Zürich 1.181,6, Bern 938,6, Waadt 608,2, AppenzeiiInnerrhoden 14,9, Obwalden 31,8, Uri 35,8 (Stand: 31. 12. 1997, Quelle: Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1998). 29 Einwohnerzahlen in Tausend: Kalifornien 32.667, Texas 19.760, New York 18.175, Wyoming 481 , Vermont 591, Alaska 614 (Stand 1. 7. 1998, Quelle U.S. Bureau of the Census, www.census.gov/population/estimates/state/st-98-7.txt, Abfrage am 8. 3. 1999). 30 Ingolf Pernice, in: H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 29 Rn. 10; Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 619; im Vergleich zur Schweiz s. auch Häberle (Anm. 17), JZ 1998,60. 31 Arthur Benz, Perspektiven des Föderalismus in Deutschland, DÖV 1991, 586ff. (596). 32 Dazu Lutz (Anm. 17), S. 141 ff., besonders S. 146ff.

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die es dem durch Fusion geschaffenen Land gestattet, mindestens eine Zeitlang noch wie zwei Länder behandelt zu werden; eine Art befristeter "Splitting-Vorteil" im Finanzausgleich und bei der Stimmenzahl im Bundesrat könnte Neugliederungen um vieles attraktiver machen.

II. Die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung 1. Die Entscheidung für den Bundesrat

Für die Mitwirkung der Gliedstaaten an der Gesetzgebung des Bundes gibt es im Bundesstaat zwei verschiedene Wege. Man kann die Gesetzgebung des Bundes an die Zustimmung der Einzelstaaten knüpfen. In der Schweiz33 oder den Vereinigten Staaten 34 bedürfen etwa Verfassungsänderungen der Zustimmung einer Mehrheit der Einzelstaaten. Änderungen des Primärrechts der Europäischen Union verlangen die Zustimmmung aller Mitgliedsstaaten als Vertragspartner. Der deutschen Verfassungstradition sind solche Mitwirkungsrechte der Länder fremd; schon die Paulskirchenverfassung kannte sie nicht, auch nicht für Verfassungsänderungen. Die andere Möglichkeit einer Mitwirkung an der Gesetzgebung ist die zweite Kammer. Der amerikanische Senat besteht aus je zwei in den Bundesstaaten gewählten Mitgliedern, der Ständerat der Schweiz aus je zwei Abgeordneten der Kantone. Für die Gesetzgebung ist jeweils die Zustimmung beider Häuser notwendig. Im Parlamentarischen Rat ist lange diskutiert worden, ob man eine Senatslösung oder eine Bundesratslösung mit Regierungsvertretern in das Grundgesetz aufnehmen solle, und welche Kompetenzen die zweite Kammer haben sollte. Die einen wollten ein Zustimmungsrecht für die Gesetzgebung, die anderen lediglich ein Einspruchsrecht 35 Die drei deutschen Verfassungen, die dem Grundgesetz vorangingen, hatten das Problem recht unterschiedlich gelöst: 36 Die Paulskirchenverfassung sah ein Staatenhaus mit Zustimmungsrecht vor, das je zur Hälfte aus Vertretern der Regierung und der Volksvertretungen bestand,37 die Verfassung von 1871 einen aus Regierungsvertretern bestehenden Bundesrat mit Zustimmungsrecht,38 die Weimarer 33 Kurt Eichenberger. Länderbericht Schweiz, in: Fritz Ossenbühl (Hg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 17 ff. (30); Ulrich Häfelin/Walter Haller. Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 4. Auflage 1998, S. 67. 34 Thomas Lundmark, Die Bedeutung der Gliedstaaten im amerikanischen Verfassungsrecht, DÖV 1992, 417ff. (419); Karl-Heinz Millgramm, Föderalismus in den Vereinigten Staaten, Jura 1992, 17 ff. (18). 35 Dazu s. Mußgnug (Anm. 5), § 6 Rn. 68 ff.; Kröger (Anm. 21), S. 28 f.; Diether Posser. Der Bundesrat und seine Bedeutung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, Band 2, 2. Auflage 1995,S.ll45ff., Rn.!Of. 36 Dazu Posser (Anm. 35), Rn. 4 ff. 37 Art. 88 Reichsverfassung 1849. 38 Art. 5f. Reichsverfassung 1871.

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Reichsverfassung einen Reichsrat mit Regierungsvertretem, für Preußen zur Hälfte mit Vertretern der Provinzen?9 Dem Reichsrat stand ausschließlich ein Einspruchsrecht zu, das der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit überstimmen konnte.40 Im Parlamentarischen Rat entschied man sich für einen Bundesrat mit enumerativ geregelten Zustimmungsrecht bei die Länder besonders betreffenden Gesetzen. Heute gehen etwa zwei Drittel der Zustimmungsfälle auf das Konto des Art. 84 GG, der die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder regelt. Die Zahl der Zustimmungstatbestände im Grundgesetz hatte sich allerdings von ursprünglich 13 schon bis 1987 auf 36 erhöht,41 und seitdem sind noch der neue ,,Europaartikel" Art. 23 GG, Art. l6a GG über das Asylrecht und Zustimmungsfälle im Bereich Bahn, Post sowie Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden hinzugekommen. 2. Die Wirkungen der Entscheidung für den Bundesrat

Die Entscheidung für den Bundesstaat hatte weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung des Föderalismus in Deutschland. Verfassungsrechtlich ruhte und ruht ein erheblicher Druck auf der Unterscheidung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen. Diese ist in einem wichtigen Punkt im Grundgesetz nicht klar geregelt: Neue Gesetze, die zustimmungs- und nicht zustimmungsbedüftige Teile enthalten, sind insgesamt zustimmungsbedürftig. In einer entwickelten Rechtsordnung sind ganz neue Gesetze indessen die Ausnahme, Änderungsgesetze die Regel. Es fragt sich nun, ob die Zustimmung des Bundesrates auch erforderlich ist, wenn ausschließlich nicht zustimmungsbedürftige Teile eines Gesetzes geändert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, es komme darauf an, ob die Änderung den zustimmungsbedürftigen Bestimmungen eine "wesentlich andere Bedeutung und Tragweite" verleihe. 42 Eine Abgrenzung nach "Wesentlichkeit" erzeugt aber in jedem Einzelfall Unsicherheit.43 In einem Lehrbuch zum Staatsrecht wird zum Beispiel der Änderung der Einkommensgrenzen im Wohngeldgesetz recht überzeugend vertreten,44 daß eine geringfügige Erhöhung durch Einspruchsgesetz möglich sei, eine starke Anhebung dagegen ein Zustimmungsgesetz verlange.45 Bundesregierung und Bundestagsmehrheit, die ja schon mit dem Inhalt einer Regelung häufig ihre liebe Not haben, werden angesichts der mit der Wesentlichkeitsabgrenzung verbundenen rechtlichen Risiken Art. 63 WRV. Art. 74 WRV. 41 Hasso Hofmann (Anm. 15), § 7 Rn. 70. 42 BVerfG, Beschl. v. 25. 6. 1974-2 BvF 2,3/73 -, BVerfGE 37, 363ff. (383); s. dazu etwa Volkmann (Anm. 42), DÖV 1998,618. 43 Schmidt-Jorrzig (Anm. 20), DÖV 1998, 748. 44 Christoph Degenhart, Staatsrecht I, 14. Auflage 1998, Rn. 416. 4S Degenhart (Anm. 44), Rn. 425. 39

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möglichst auf Nummer sicher gehen. Häufig entscheidet man sich also für eine gesetzgebensehe Lösung nicht deshalb, weil sie die beste ist, sondern weil der Bundesrat ganz gewiß nicht zustimmen muß, oder weil er der gewählten Lösung sicher zustimmen wird. Man wird eine Zustimmung des Bundesrats auch in verfassungsrechtlichen Zweifelsfällen hinnehmen und sie mit Zugeständnissen zu erreichen versuchen, wenn man in der Sache vorwärts kommen will. Der ,,Beteiligungsföderalismus"46 macht den Bundesrat politisch stark. Diese starke bundespolitische Rolle des Bundesrates, die auch im Rederecht seiner Mitglieder vor dem Bundestag ihren Ausdruck findet (Art. 43 II GG), bestimmt nachhaltig die verfassungsrechtlichen Kräfteverhältnisse in den Ländern mit. Dort dominieren die Regierungen stark gegenüber den Landtagen. Nicht die einzige, aber eine sehr wichtige Ursache dafür sind die erheblichen bundespolitischen Gestaltungsmöglichkeiten und die damit auch verbundene Medienöffentlichkeit, über die jede Landesregierung verfügt.47 Die starke Rolle des Bundesrates begrenzt aber auch die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Mehrheit im Bund. Besonders augenfällig wird dies bei entgegengesetzten parteipolitischen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Aber auch wenn die Mehrheiten übereinstimmen, geben die wegen des herrschenden Verhältniswahlrechts in den Ländern sehr verbreiteten Koalitionen und die je besonderen sachlichen Interessen der Länder den Landesregierungen gute Argumente an die Hand, mindestens nicht-öffentlich erheblichen Einfluß auszuüben, ohne die Loyalität gegenüber eigenen Parteifreunden in der Bundesregierung unziemlich in Frage zu stellen. Auch wenn das gelegentliche Scheitern einzelner wichtiger Gesetzesvorhaben keine Krise des politischen Systems ist,48 liegt in der extrem angewachsenen Zahl zustimmungsbedürftiger Gesetze eine Belastung für die Handlungsfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit der Politik im Bund.49 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, wie das Instrument des Bundesrates eingesetzt werden kann, ist der neue Art. 23 GG50 über die deutsche Mitwirkung an der europäischen Integration. Die wenigstens im Vergleich zum früheren Rechtszustand sehr weitgehenden Bestimmungen über die Garantie der Rechtsposition der Länder und die Mitwirkung des Bundesrates an der Setzung des Primär- und Sekundärrechts sind dem Bund in einer von Bayern und Nordrhein-Westfalen 46 Dazu etwa Wolfgang Lutlulrdt, Europäischer Integrationsprozeß, deutscher Föderalismus und Verhandlungsprozesse in einem Mehrebenensystem: Beteiligungsföderalismus als Zukunftsmodell?, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996, 294ff. 47 Hermann Eicher, Der Machtverlust der Landesparlamente, 1988, S. 86 ff. 48 So zu Recht Christoph Gusy, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat, DVBI. 1998, 917ff. (927). 49 S. dazu Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1235. so Dazu etwa Fritz Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz - Eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBI. 1993, 629ff. (636); Udo di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Staat 32 (1993), 191 ff.; Volker Neßler, Die "neue Ländermitwirkung" nach Maastricht, EuR 1994, 216ff.

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moderierten Gemeinschaftsaktion der Länder abgerungen, manche meinen: abgezwungen worden, indem man die Zustimmung zum Vertrag von Maastricht an die Bedingung dieser Verfassungsänderung knüpfte. 51 Aus Sicht der Länder ging es darum, die Verluste an eigenen Regelungsmöglichkeiten und vor allem an Mitentscheidungsmöglichkeiten im Bundesrat, die durch das Abwandern effektiver Regelungsentscheidungen auf die europäische Ebene entstanden waren, teilweise zu kompensieren. 52 Mit der Handhabung der Abstimmungsverfahren des Art. 23 GG gehen Einbußen an europapolitischer Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik notwendig einher.5 3 Man kann von politischen Kosten des Bundesstaates sprechen. Der Bund mußte sie angesichts der verfassungsrechtlichen Verteilung der Kräfteverhältnisse akzeptieren, wenn er den Vertrag nicht scheitern lassen wollte. Das ist nicht die erste Verfassungsänderung, der der Bundesrat nur um den Preis einer Mehrung seines Einflusses zugestimmt hat; die Länder haben immer wieder eigenständige Kompetenzen gegen Mitsprache im Bundesrat getauscht. 54

111. Die Kompetenzordnung Der Gedanke, Bundesgesetze nur durch Bundesbehörden ausführen und nur durch Bundesgerichte auslegen zu lassen, wie er die amerikanische Verfassung im Grundsatz auch heute noch beherrscht,55 ist für die Bundesrepublik Deutschland 1948 I 49 offenbar von niemandem ernsthaft erwogen worden. Daß für die Verteilung der Kompetenzen in dem vorgesehenen deutschen Bundesstaat nicht dieses Trennsystem, sondern nur ein Verbundsystem in Betracht komme, war für die an der Schaffung des Grundgesetzes Beteiligten selbstverständlich. Alles andere hätte einen massiven Bruch mit der deutschen Verfassungstradition bedeutet. Gesetzestechnisch wurde diese Entscheidung durch die allgemeine Zuständigkeitsvermutung des Art. 30 GG zugunsten der Länder realisiert, die für die Gesetzgebung und die AusfUhrung der Bundesgesetze in Art. 70 I und 83 GG wiederholt wird. SI Neßler (Anm. 50), EuR 1994, 219; Braun (Anm. 25), Staatswissenschaft und Staatspraxis 1996, 114. Zur Vorgeschichte Rudolf Hrbek, Der Ertrag der "Verfassungsdebatte" von Maastricht: Ein Erfolg für den Föderalismus und die deutschen Länder?, in: Europarecht, Energierecht, Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Bömer, 1992, S. 125 ff. s2 Zum Problem etwa Benz (Anm. 31), DÖV 1991, 591 f.; Giseta Müller-BrandeckBocquet, Perspektiven des deutschen Föderalismus nach der Verfassungsreform, DV 29 (1996), 143ff. (154ff.). 53 S. dazu Schmidt-Jortzig (Anm. 20), DÖV 1998, 747; Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 620; Badura (Anm. 20), S. 380 f. S4 Roland Lhotta, Der "lästige" Föderalismus; Überlegungen zum konsensuellen "deadlock" am Beispiel von Bundesrat und Vermittlungsausschuß, in: R. Hrbek (Hg.), Föderalismus zwischen Konkurrenz und Konsens, 1988, I ff. (8) m. w. Nachw.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, § 19 IV I a; Braun (Anm. 25), Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996, S. 107 f.; Hasso Hofmann (Anm. 15), § 7 Rn. 70. ss S. etwa Jörg Annaheim, Die Gliedsstaaten im amerikanischen Bundessstaat, 1992, S. 168.

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1. Rechtsprechung

Für die Rechtsprechung fehlt eine entsprechende Zuständigkeitsverrnutung. An Stelle des Reichsgerichts in der Weimarer Reichsverfassung sah das Grundgesetz von 1949 ein Oberstes Bundesgericht und fünf obere Bundesgerichte vor; an die Stelle des bis dahin vorgesehenen Obersten Bundesgerichts trat 1968 der Gemeinsame Senat der seit damals obersten Gerichtshöfe des Bundes.56 Als erstinstanzliche Gerichte durfte der Bund anfangs nur Disziplinargerichte für seine öffentlichrechtlichen Bediensteten unterhalten; diese Befugnis wurde mit der Errichtung der Bundeswehr auf Wehrstrafgerichte 57 und 1961 auf ein Gericht für gewerblichen Rechtsschutz, das Bundespatentgericht, erweitert.58 Die schon recht früh vom Bundesverfassungsgericht tolerierte beschränkte Übertragung anderer als letztinstanzlicher Zuständigkeiten auf die oberen Bundesgerichte59 ist die Ausnahme geblieben. Von der durch § 8 EGGVG den Ländern mit mehreren Oberlandesgerichten ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit, oberste Landesgerichte zur IetztinstanzIichen Auslegung des Landesrechts zu bilden, hat nur Bayern, nicht aber Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen Gebrauch gemacht. 60 Die Länder schöpfen hier also den Raum eigenständiger Gestaltung nicht aus. Bei der Verfassungsgerichtsbarkeit war im Grundgesetz von Anfang an eine deutliche Trennung der Zuständigkeit zwischen Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten angelegt. Art. 99 GG eröffnete aber die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht fungieren zu lassen, die nur von Schleswig-Holstein genutzt worden ist. In den letzten Jahren ist ein ,,Aufschwung" der Landesverfassungsgerichte zu beobachten, den wir wohl dem Selbstbewußtsein der Verfassungsgerichte vor allem in den neuen Ländern einerseits, der Überlastung des Bundesverfassungsgerichts andererseits zu verdanken haben: Landesverfassungsgerichte entscheiden über die Verfassungsmäßigkeit der Anwendung von Bundesrecht,61 das Bundesverfassungsgericht beschränkt in Jan56 Sechzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 18. 6. 1968 (BGBI. I 1968, 657f.). Dazu Robbers (Anm. 9), NJW 1989, 1331; Willi Blümel, Rechtsprechungszuständigkeit, in: HStR IV,§ 102 Rn. 19 ff. 57 Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 19. 3. 1956 (BGBI. I 1956, 111 ff.). 58 Zwölftes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 6. 3. 1961 (BGBL I 1961. 141). 59 BVerfG, Beschl. v. I 0. 6. 1958- 2 BvF 1/56 -, BVerfGE 8, 174 ff. (177 ff.). 60 Otto Rudolf Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar, 2. Auflage 1994, § 8 EGGVG Rn. II . 61 BVerfG, Beschl. v. 15. 10. 1997-2 BvN 1/95 -, NJW 1998, 1297ff.; dazu SächsVerfGH, Vorlagebeschluß v. 21. 9. 1995 - Vf.1-IV-95 -, NJW 1996, 1736ff.: Volkmann (Anrn. 25), DÖV 1998, 621; VerfGH Berlin, Beseht. v. 6. 10. 1998- VerfGH 32/98-, DÖV 1999, 113; Klaus Lange, Kontrolle bundesrechtlich geregelter Verfahren durch Landesverfassungsgerichte?, NJW 1998, 1278ff.; Friedrich von Zezschwitz, Grundrechtsklagen ohne Grenzen nun auch in Hessen?, NJW 1999, 17ff.; s. auch Bernt Lemhöfer, Landesverfassungsgerichte als kleine Bundesverfassungsgerichte?, NJW 1996, 1714ff.; Karl Georg Zierlein, Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen der Landesverfassungsgerichte bei Verfassungs-

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desrechtlichen Wahlrechtsfragen seine Gerichtsbarkeit zugunsten der Landesverfassungsgerichte,62 und in den Ländern werden die Zugangsmöglichkeiten zu den Verfassungsgerichten erweitert.63 2. Verwaltung

Die sehr starke Stellung der Länderverwaltung nach der Weimarer Reichsverfassung wurde im Grundgesetz verfassungsrechtlich abgesichert und gestärkt. Wie unter der Weimarer Reichsverfassung ist die Ausführung von Landesrecht Sache der Länder. Ähnlich wie schon Art. 14 WRV weist Art. 83 GG den Ländern für den Regelfall auch die Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit zu. Die insoweit vorgesehenen Einflußmöglichkeiten des Bundes - durch gesetzliche Regelungen über die Organisation und das Verfahren der Verwaltung, durch den Erlaß von Verwaltungsvorschriften oder Einzelweisungen, durch Maßnahmen der Rechtsaufsicht des Bundes, wenn diese über die lnfonnation bei den obersten Landesbehörden hinausgehen - setzen aber die Zustimmung des Bundesrates voraus. Anders als nach der Weimarer Reichsverfassung bedürfen Einwirkungen des Bundes also der Mitwirkung der Ländennehrheit. Die unter der Weimarer Reichsverfassung einfachgesetzlich entwickelte Reichsauftragsverwaltung wurde im Grundgesetz als Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder ausdrücklich geregelt. Damit wurde einem praktischen Bedürfnis, das sich seit dem Kaiserreich immer deutlicher gezeigt hatte, Rechnung getragen. Die verfassungstextliche Ausfonnung im Grundgesetz und die Zustimmungsvorbehalte für den Bundesrat schützen die Länder aber vor einer einfachgesetzlichen Aushöhlung ihrer Kompetenzen. Das Grundgesetz von 1949 sah Bundesauftragsverwaltung obligatorisch nur für den Straßenbau und fakultativ für die Verwaltung der Bundeswasserstraßen vor. In den ersten beiden Jahrzehnten ist dieser Bereich deutlich ausgeweitet worden: Lastenausgleich, Verteidigungsfragen, Kernenergie, Luftverkehr, dem Bund zufließende Steuern und Geldleistungen, die der Bund mindestens zur Hälfte trägt, wurden obligatorische oder fakultative Gegenstände der Bundesauftragsverwaltung. Für die bundeseigene Verwaltung behielt das Grundgesetz 1949 die Entscheidung der Weimarer Reichsverfassung bei, neben Auswärtigem Dienst, Zöllen und Verbrauchssteuern, Post und Telegrafenwesen auch die Wasserstraßen und die Bahn in der Verwaltung des Zentralstaates zu führen; darüber hinaus erhielt der beschwerden gegen landesrechtliche Hoheitsakte, die auf Bundesrecht beruhen oder in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen sind, AöR 120 ( 1995), 205 ff. 62 BVerfG, Beschl. v. 16. 7. 1998-2 BvR 1953/95-, NJW 1999,43 ff. 63 Dazu Klaus Stern, Der Aufschwung der Landesverfassungsbeschwerde im wiedervereinigten Deutschland, in: Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 241 ff. ; s. auch das niedersächsische Gesetz über den Staatsgerichtshof v. I. 7. 1996 (GVBI. 1996, 342 ff.).

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Bund die Möglichkeit, Bundesgrenzschutzbehörden und Zentralstellen für Polizei und Verfassungsschutz vorzusehen. Als obligatorische bundeseigene Verwaltung kam mit der Wiederbewaffnung 1956 die Bundeswehr, nach der Wiedergewinnung der Lufthoheit 1961 die Luftverkehrsverwaltung hinzu.64 Die Kompetenzen in den Bereichen Bahn, Post und Telekommunikation wurden in den neunziger Jahren im Zuge der Privatisierung modifiziert. 65 Von der Möglichkeit, für Angelegenheiten in seiner Gesetzgebungskompetenz selbständige Bundesoberbehörden und neben den Sozialversicherungsträgem neue bundesunmittelbare juristische Personen des öffentlichen Rechts zu schaffen, hat der Bund durchaus Gebrauch gemacht; das Zusammenspiel erheblicher Kosten und hoher verfassungsrechtlicher Hürden hat ihn aber bisher davon abgehalten, auch Mittel- oder Unterbehörden nach Art. 87 III 2 GG zu errichten.66 Anders als in den Vereinigten Staaten, wo sich eine starke Bundesverwaltung entwickelt hat,67 sind in der deutschen Verwaltung die Länder nach wie vor deutlich dominierend. Der Föderalismus, den das Grundgesetz vorsieht, ist vor allem Verwaltungsföderalismus.68 Hier liegt eine weitere Ursache für die wichtige Rolle des Bundesrates. Institutionell gewährleistet er die Rückkopplung aus dem Vollzug. Nicht der Bund, sondern die Länder verfügen über die Erfahrungen aus der administrativen Arbeit und können dieses Potential für die Bundesgesetzgebung nutzbar machen. 69 In den Ländern profitieren die für den Vollzug zuständigen Landesregierungen vom großen Gewicht der Verwaltung, deren Leitung allein ihre Sache ist. Neben der Möglichkeit, über den Bundesrat bundespolitisch mitzugestalten, liegt hier die Quelle für ihre Dominanz.70 In der Gesetzgebung, bei der die Landtage das letzte Wort haben, sind die Länderkompetenzen nämlich deutlich schwächer.

64 Gesetz zur Einführung eines Artikels über die Luftverkehrsverwaltung in das Grundgesetz (II. Änderung des Grundgesetzes) v. 6. 2. 1961 (BGBI. 1961, 65). M Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 20. 12. 1993 (BGBI. 1 1993, 2089f.); Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 30. 8. 1994 (BGBI. I 1994, 2245). 66 Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 87 Rn. 218. 67 Millgramm (Anm. 34), Jura I992, 19f. 68 Mußgnug (Anm. 5), § 6 Rn. 74. 69 Zu Bedeutung und Formen der Rückkopplung aus dem Vollzug Janbernd Oebbecke, Dezentraler Vollzug und europäische Integration, in: Roland Lhotta/ Janbemd Oebbecke/ Wemer Reh (Hg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge, 1997, S. 35 ff. (37 f., 45 ff.). 70 Eicher (Anm. 47), S. 76ff.; aus historischer Sicht Stefan Fisch, Einige Entwicklungslinien des Föderalismus, in: Öffentliche Verwaltung der Zukunft, hg. von Klaus Lüder, 1998, s. 269 ff. (271 f.).

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Janbernd Oebbecke 3. Gesetzgebung

Das liegt auch an der grundgesetzliehen Kompetenzverteilung. Die genaue Ausformung der Kompetenzordnung für die Gesetzgebung war einer der großen Streitpunkte im Parlamentarischen Rat und mit den Militärgouvemeuren. Die Fronten verliefen zwischen der süddeutschen CDU und der CSU auf der einen Seite, die für eine Stärkung der Länder eintraten, und auf der anderen Seite der SPD und der nordund westdeutschen CDU. 71 Das Ergebnis sah für die Länder recht günstig aus. Das Bild wurde durch die in der Weimarer Reichsverfassung nicht enthaltene und schließlich auf Intervention der Militärgouverneure in das Grundgesetz aufgenommenen Zuständigkeitsvermutung des Art. 70 GG und die im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung72 auf Druck der Alliierten präzisierte73 Bedürfnisklausel des Art. 72 II GG bestimmt. Die Kataloge der ausschließlichen, konkurrierenden und Rahmengesetzgebung des Bundes waren dagegen stark erweitert worden. Die konkurrierenden und Rahmenkompetenzen des Bundes haben in den folgenden Jahrzehnten noch weiter zugenommen. Die Änderungen spiegeln den Fortschritt von Wissenschaft und Technik wie bei der Erzeugung und Nutzung der Kernenergie oder der künstlichen Befruchtung, neue politische Prioritäten wie bei der Ausbildungsförderung und beim Umweltschutz, aber auch Erfahrungen mit dem Föderalismus wie bei der Krankenhausfinanzierung und der Staatshaftung. Einschränkungen zugunsten der Länder hat es in bescheidenem Umfang erstmals 1994 gegeben. 74 Zu Recht wird immer wieder festgestellt, daß das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Landes-und Bundesgesetzgebung gegenüber der Vermutung des Art. 70 GG in Wirklichkeit genau umgekehrt ist. 75 Die für die weitere Entwicklung zu Lasten der Länder maßgebliche Weichenstellung erfolgte durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht überantwortete die Feststellung des Bedürfnisses für eine bundesgesetzliche Regelung dem Ermessen des Bundesgesetzgebers und erklärte sie für weitgehend injustiziabel.76 Die verfassungsrechtliche Mußgnug (Anm. 5), § 6 Rn. 72; Kröger (Anm. 21), S. 29. Dazu Hons-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: HStR IV,§ 100 Rn. 43. 73 Kenntner (Anm. 9), DÖV 1997,454. 74 Nach Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 621 hat es sich substantiell nicht um eine Einschränkung, sondern eine Stärkung des Zuständigkeitskataloges zugunsten des Bundes gehandelt; eher zurückhaltend auch die Einschätzung von Müller-Brondeck-Bocquet (Anm. 52), DV 29 (1996), 152f. 75 Etwa Rupert Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Band 2, S. 252 ff. (253); Christion Starck, Unitarisierung des Rechts im Bundesstaat, in: Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung (Anm. 63), 1997, S. 229ff. (229). 76 Scholz (Anm. 75), S. 259; Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1233; Werner Thieme, Vierzig Jahre Bundesstaat, DÖV 1989, 499 ff. (500); Collies (Anm. 25), DÖV 1997, 893 ff.; Rengeling (Anm. 72), Rn. 123 f. jeweils m. Nachw. aus der Rechtsprechung; s. auch Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998,617. 71

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Last der Kompetenzabgrenzung ruhte damit allein auf den in Art. 74 GG genannten Kompetenztiteln. Diese erwiesen sich als recht offen für eine weite Auslegung, denn der Parlamentarische Rat hatte darauf verzichtet, in vergleichbarer Weise ausdrückliche Kompetenztitel der Landesgesetzgebung in das Grundgesetz aufzunehmen. Der Bund stößt also nicht auf Schranken, solange eine Regelung nur den sachlichen Zusammenhang mit dem Kompetenztitel wahrt. 1994 hat der Verfassungsgeber Art. 72 GG geändert und die Voraussetzungen für die Bundesgesetzgebung verschärft und in Art. 93 I Nr. 2a GG ein eigenes Rechtsmittel für die Länder geschaffen; ob sein Bemühen um eine justiziahte Eingrenzung77 des bundesgesetzgeberischen Zugriffs wirklich erfolgreich war, wird aber erst die bisher ausstehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Neuregelung zeigen. 78 Allerdings bedarf inzwischen auch das Bild des starken Bundesgesetzgebers einer Korrektur oder wenigstens einer Ergänzung. Die massiven Einbußen an gesetzgeberischer Regelungszuständigkeit und noch stärker Regelungsfreiheit durch die Europäische Gemeinschaft haben hauptsächlich und wohl überproportional den Bund getroffen, die Länder jedenfalls bisher vergleichsweise deutlich weniger. Eine in erster Linie ökonomisch ausgerichtete europäische Integration mußte sich notwendigerweise vor allem auf den Bund auswirken, weil anders als etwa in den Vereinigten Staaten die wirtschaftlich relevanten Regelungsmaterien fast ganz dort liegen. 4. Finanzverfassung

Gesetzgebung ist aber auch Steuergesetzgebung, nicht nur Sachgesetzgebung, und auf diesem Feld dominiert der Bund unangefochten. Er trifft damit wichtige Entscheidungen über den Umfang und die Grenzen der wirtschaftlichen Freiheit des Einzelnen und zugleich über den finanziellen Handlungsspielraum der öffentlichen Hand auch in den Ländern. Die Finanzverfassung79 war schon im parlamentarischen Rat ein wichtiger Streitpunkt; die damals mit knappen Mehrheiten gefundenen Lösungen mußten wegen des Widerstandes der Alliierten modifiziert werden. 80 Die Unsicherheit n Hubertus Rybak/Hans Hofmann, Verteilung der Gesetzgebungsrechte zwischen Bund und Ländern nach der Reform des Grundgesetzes, NVwZ 1995, 230ff. (231); Müller-Brandeck-Bocquet (Anm. 52), DV 29 ( 1996), 148 f. 78 Die Bindung des Steuergesetzgebers an die "Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung" des Sachgesetzgebers (BVerfG, Urt. v. 7. 5. 1998 - 2 BvR 1991/95 -, NJW 1998, 2341 ff. [2342]) könnte theoretisch auch zu Lasten des Bundesgesetzgebers praktisch werden. 79 Zur Entwicklung aus finanzwissenschaftlicher Perspektive Karl-Heinrich Hansmeyer, Die Entwicklung von Finanzverfassung und Finanzausgleich in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahre 1990 aus finanzwissenschaftlicher Sicht, in: Föderalismus in Deutschland (Anm. 12), S. 165 ff. 80 Mußgnug (Anm. 5), § 6 Rn. 79ff.; Kröger (Anm. 21), S. 29f.; Kurt Düwell, Die Entwicklung des westdeutschen Föderalismus bis zur Mitte der 1960er Jahre, in: Föderalismus in Deutschland (Anm. 12), S. 127 ff. ( 134 f.).

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über das künftige Steueraufkommen verhinderte eine endgültige Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern. Das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre war - typisch für Wunder- nicht vorhersehbar. Die Aufteilung wurde erst81 1955 vorgenommen82 und nach einer Änderung des Art. 106 GG 83 1969 grundlegend reformiert. 84 Kein anderer Abschnitt des Grundgesetzes ist mehrfach so stark geändert worden wie die Finanzverfassung. 85 Heute entscheidet allein der Bund, allerdings mit Zustimmung des Bundesrates, über die Steuergesetzgebung, auch wenn das Aufkommen der Steuern wie das der Einkommens- oder Umsatzsteuer zum Teil, oder wie bei der Erbschafts- und der Kraftfahrzeugsteuer allein den Ländern zusteht. Anders als die Gemeinden bei den Realsteuern haben die Länder auch bei den ihnen zufließenden Steuern keine Möglichkeit, die Steuerhebesätze zu modifizieren und damit ihrem speziellen Bedarf anzupassen. 86 Im Fehlen einer ertragsstarken, der Höhe nach für die Länder disponiblen Einnahmequelle der Länder liegt, gerade auch im Vergleich zur Schweiz87 oder den USA, eine Schwäche unserer bundesstaatliehen Ordnung. Durch den Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Ländern88 wird diese Schwäche nicht ausgeglichen. Gewiß stellt er zusammen mit der Beteiligung der Länder an dem Ertrag wichtiger Steuern eine in der Regel ausreichende Finanzierung der staatlichen Aufgabenwahrnehmung in den Ländern sicher. Für die Bürger und damit Wähler der Länder kann auch er aber keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen landespolitischen Entscheidungen und finanzieller Belastung herstellen. Ein vor allem in den letzten Jahren viel diskutiertes weiteres Problem bringt das im deutschen Bundesstaat praktizierte Verbundsystem mit sich. Wenn die Länder die Bundesgesetze ausführen, bestimmt der Bund durch seine Gesetzgebung auch den dabei entstehenden Aufwand der Länder mit. Die Aufwendungen für die nach ihrer Konzeption gegenüber anderen Sozialleistungen nachrangige Sozialhilfe 81 Art. 107 GG bestimmte in der ursprünglichen Fassung, daß die Verteilung der Steuern bis Ende 1952 erfolgen sollte; die Frist wurde durch Grundgesetzänderung zuerst bis Ende 1954, dann bis Ende 1955 verlängert (Gesetz zur Änderung des Artikels I 07 des Grundgesetzes v. 20. 4. 1953 [BGBI. I 1953, 130] und Zweites Gesetz zur Änderung des Artikels 107 des Grundgesetzes v. 25. 12. 1954 [BGBI. I 1954, 517]). 82 Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Finanzverfassung (Finanzverfassungsgesetz) V. 23. 12. 1955 (BGBI. I 1955,817 f.). 83 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Artikels I06 des Grundgesetzes v. 24. 12. 1956 (BGBI. I 1956, 1077). 84 Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Finanzreformgesetz) v. 12. 5. 1969 (BGBI. I 1969, 359ff.). 8S Zur Entwicklung Hasso Hofmann (Anm. 15), HStR I, § 7 Rn. 62 ff.; Robbers (Anm. 9), NJW 1989, 1329 f. 86 Georg Milbradt, Reform der Finanzverfassung (Eine Betrachtung aus Sicht der Länder), ZG 1996, 25 f. 87 Eichenherger (Anm. 33), S. 35. 88 Rudolf Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: HStR IV, § I 04 Rn. 72 ff.

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etwa steigen, wenn der Bund die Leistungen an die Arbeitslosen zurücknimmt, was er sogar ohne die Zustimmung des Bundesrates tun kann. 89 Mindestens teilweise kann der Bund also Lasten auf die Länder abwälzen. Diese tragen nämlich nach § 104a I GG die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, wozu auch die Ausführung der Bundesgesetze gehört. Solche Beispiele machen den Ruf nach einer verfassungsrechtlichen Fixierung des Konnexitätsprinzips verständlich. 90 Ganz einfach ist das nicht, weil der Vollzug die Höhe des Aufwandes in erheblichem und in der Diskussion gelegentlich unterschätztem Umfang mitbestimmt. 91 Ein striktes Konnexitätsprinzip zwänge den Bund zur intensiveren Regelung des Vollzuges. Vor allem litte die Anpassungsfaltigkeil des Gesamtsystems weiter; bei jeder die Länder belastenden Gesetzesänderung müßte zugleich die Finanzierung geregelt oder durch Entlastungen an anderer Stelle Kompensation geschaffen werden. Unsere heutige Finanzverfassung ist vielleicht stärker noch als die reale Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten geprägt durch die Erfordernisse eines auf eine starke Angleichung der Lebensverhältnisse ausgerichteten Sozialstaats. Die Annäherung des Minimums und des real gewährten Durchschnitts finanzieller und administrativer sozialstaatlicher Leistungen verlangt eine entsprechende Annäherung der Finanzausstattung. 92 IV. Kooperation Die Finanzverfassung dient wie die Kompetenzordnung vor allem der klaren Zuordnung und der Abgrenzung der Handlungsbereiche von Bund und Ländern. Wenn der Bundesstaat erfolgreich arbeiten soll, dürfen die Beteiligten ihre Kompetenzen aber nicht isoliert voneinander wahrnehmen, sondern müssen kooperieren.93 Kooperation wird deshalb zu Recht als "Strukturprinzip" des Bundesstaats bezeichnet. 94 89 Dazu Friedrich Schoch/Joachim Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgebefisch veranlaßte kommunale Aufgaben, 1995, S. 141 f. 90 Etwa Ferdinand Kirr:hhof, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Gutachten D für den 61. Deutschen Juristentag, I 996; Rainer Grote, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, JZ 1996, 832ff.; SchmidtJortzig (Anm. 20), DÖV 1998, 750f.; zum Problem auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Grundgesetz- zukunftsfähig?, DVBI. 1999, 657ff. (661). 91 Zur Bedeutung des Vollzuges s. etwa Benz (Anm. 3 I), DÖV I 99 I, 587 ff. 92 Hasso Hofnwnn (Anm. 15), § 7 Rn. 60, 67f.; Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 617; vorsichtig auch Kenntner (Anm. 9), DÖV 1997, 454; zu den ökonomischen Gründen, aus denen für eine Stabilisierungs- und Verteilungspolitik Zentralisierung vorteilhaft ist, Postlep I Döring (Anm. 25), S. 9 ff. 93 Für die Schweiz Häfelinl Haller (Anm. 33), S. 155; Klaus Schumann, Das Regierungssystem der Schweiz, 1971, 276 ff. 94 Benz (Anm. 31), DÖV 1991,588. 9 Pieroth

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Ausdrückliche Regelungen über die Kooperation enthält das Grundgesetz von 1949, wenn man von Bundesrat und Vermittlungsausschuß absieht, nur im Art. 35 GG über die Amtshilfe. 95 Mit dem 1969 in das Grundgesetz eingefügten96 Abschnitt über Gemeinschaftsaufgaben hat der Verfassungsgeber versucht, für die Bildungspolitik, die Strukturpolitik und den Küstenschutz verfassungsrechtliche Instrumente einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern zu schaffen und diese durch eine Finanzierungsregelung ergänzt. Mit der starken Betonung der politischen Planung spiegeln diese Bestimmungen deutlich den Zeitgeist der sechziger Jahre wider. Die Gemeinschaftsaufgaben sind nicht zuletzt wegen des hohen administrativen Aufwandes umstritten geblieben; daran hat auch die vorübergehende Belebung, die dieses Instrument beim Aufbau in Ostdeutschland erfahren hat, nichts geändert. 97 Soweit die Zusammenarbeit Gegenstand von Regelungen ist, finden sich diese abgesehen von den erwähnten Ausnahmen geschrieben und ungeschrieben außerhalb des Verfassungstextes. Formen und Gegenstände sind so vielfältig wie die staatlichen Aktionsfelder.98 Teilweise vollzieht sich die Kooperation nur zwischen den Ländern (dritte Ebene), teilweise unter Einbeziehung des Bundes (vierte Ebene). 99 Es gibt Abstimmungsgremien von der Ministerpräsidentenkonferenz über die verschiedenen Fachministerkonferenzen - die bekannteste ist die Kultusministerkonferenz -, zahlreiche Arbeitsgruppen und Arbeitsgemeinschaften bis zu Treffen einzelner Stellen wie der Regierungspräsidenten, der Generalstaatsanwälte oder der Datenschutzbeauftragten. Die Gesamtzahl dieser Gremien wird mit eintausend angegeben. 100 Noch nicht einbezogen sind dabei Zusammenschlüsse der mittelbaren Landesverwaltung wie die der Rundfunkanstalten in der ARD, der Universitäten in der Rektorenkonferenz oder der Kommunen in den Kommunalen Spitzenverbänden der Bundesebene, mit ihren Sparkassen im Deutschen Sparkassen- und Giroverband. 9~ Dazu /sensee (Anm. 10), Rn. 228 ff.; Walter Rudolf. Kooperation im Bundesstaat, in: HStR IV, § I 05 Rn. 25 f. 96 Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Finanzreformgesetz) v. 12. 5. 1969 (BGBI.I 1969, 359 f.). 97 Gunter Kisker; Kooperation im Bundesstaat, 1971. S. 281 ff.; jüngst etwa Schmidt-Jortzig (Anm. 20), DÖV 1998, 750; Stefan Oeter; Erprobung der konstitutionellen politischen Ökonomie an Einzelfragen -Föderalismus, in: Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, hg. v. Christoph Engel/ Martin Morlok, 1998, S. 119 ff. (141 ). 98 S. dazu Rudolf(Anm. 95), § 105 Rn. 29ff. 99 S. dazu etwa Kröger (Anm. 21 ), S. 139 f., 146 ff.; Eicher (Anm. 47), S. 94 ff.; SchulzeFielitz. Der informale Verfassungsstaat, 1984, S. 57ff.; Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1234f.; Uwe Leonardy, Gegenwart und Zukunft der Arbeitsstrukturen des Föderalismus: Status quo, ,,Europa der Regionen" und staatliche Einheit Deutschlands, ZParl 1990, 180ff. (182 ff.). wo Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1234; mit dieser Zahlenangabe wird neuerdings auch der baden-wüntembergische Ministerpräsident Teufel zitiert (Gillessen, Anm. I).

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In diesen zahlreichen Abstimmungsgremien werden Erfahrungen ausgetauscht, Musterentwürfe für Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften erarbeitet, Empfehlungen für die Regierungen oder die Arbeit der Verwaltung gegeben und Stellungnahmen formuliert. Es wird dort meistens Nützliches, häufig Unentbehrliches geleistet, gelegentlich wohl gerade auch dadurch, daß man Vorhaben lege artis auf der langen Bank zum Scheitern bringt. Eine Kooperation in vergleichbarem Umfang hat es zu Zeiten der Weimarer Republik nicht gegeben; auch in der Schweiz wird ftir die letzten Jahrzehnte ein Bedeutungszuwachs der Zusammenarbeit konstatiert. 101 Abstimmung in einer bis zum "Koordinierungsfetischismus" reichenden 102 Intensität hat nämlich technische Voraussetzungen: schneller Personenverkehr mit Bahn, Flugzeug und Pkw und vor allem eine Telekommunikationsinfrastruktur, die mit Telefon, Telefax und inzwischen auch dem Internet den schnellen Austausch von Informationen und nicht zuletzt den zuverlässigen Transport großer Textmengen gestattet. Neben den genannten Formen stehen Vereinbarungen über die Schaffung gemeinsamer Einrichtungen. Die Länder haben auf diese Weise gemeinsam Einrichtungen wie das ZDF oder die ZVS oder unter Beteiligung des Bundes etwa die Deutsche Hochschule ftir Verwaltungswissenschaften in Speyer oder die Polizeiführungsakademie in Münster-Hiltrup errichtet. Kleiner war der Kreis der Beteiligten bei der Stiftung preußischer Kulturbesitz oder dem über lange Jahre gemeinsamen Oberverwaltungsgericht der Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Eine Sternstunde des kooperativen Bundesstaates war die Zusammenarbeit zwischen alten und neuen Ländern nach der Wiedervereinigung, die den schnellen Aufbau einer rechtsstaatliehen Verwaltung in den neuen Ländern nachhaltig befördert hat. 103 Ein Mindeststandard bündischen Miteinanders wird verfassungsrechtlich durch die Bundestreue gewährleistet. 104 Als ungeschriebenes verfassungsrechtliches Gebot, bei der Kompetenzausübung auf die anderen Beteiligten im Gesamtinteresse Rücksicht zu nehmen, geht sie bis auf das Kaiserreich zurück und ist vom Bundesverfassungsgericht in verschiedene Richtungen entfaltet worden. Große Bedeutung haben in der Kooperation vor allem auch die Instrumente des informalen Verfassungsstaates. 105 So haben sich Bund und Länder im sog. LinHäfelin/ Haller (Anm. 32), S. 156. Ministerpräsident Teufel, zit. bei Gillessen (Anm. 1). 103 Hemu~nn Schamhoop, Die Kooperation von Bund und Ländern beim Aufbau der Verwaltung in den neuen Bundesländern, DV 25 ( 1992), 75 ff.; Wolfgang Meyer-Hesemann, Hilfen zum Aufbau von Verwaltung und Justiz in den neuen Ländern, VerwArch 1991, 82 ff.; auf die Grenzen der Kooperation zwischen den Ländern weist Arthur Benz hin (Neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Ländern, DÖV 1993, 85 ff. [93 ff.]). t04 Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1232; lsensee (Anm. 10), Rn. 151 ff.; zur Bundestreue im Schweizer Verfassungsrecht s. Häfelinl Haller (Anm. 33), S. I 06 ff. tos Dazu Schulze-Fielitz (Anm. 99); Helmuth Schulze-Fielitz, Das Verhältnis von formaler und informaler Verfassung, in: Axel Görlitz/Hans-Peter Burth (Hg.), Informale Verfassung, 1998, s. 25 ff. tot

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dauer Abkommen, rechtlich gesehen eine unverbindliche Absprache, 1957 auf ein Verfahren beim Abschluß von Kulturabkommen durch den Bund geeinigt und die Bundesrepublik damit auf diesem Gebiet handlungsfähig gemacht, ohne daß der Umfang der Vertragsschließungskompetenz des Bundes verfassungsrechtlich vorher geklärt werden mußte. 106 Informale Regeln bestimmen auch die Regelung des Vorsitzes im Bundesrat. 107 Rückblickend wird deutlich, daß bei allem Wechsel von Unitarisierung und (Re-)Föderalisierung 108 Umfang und Intensität der Kooperation im deutschen Bundesstaat seit 1949 deutlich zugenommen haben. Pauschal läßt sich diese Entwicklung auf die Begriffe Kooperation 109 und Unitarisierung" 0 bringen. Bei genauerem Hinsehen wird das Bild schärfer: Frido Wagener hat gerade auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit der Experten in den Ressortministerkonferenzen und die ihnen nachgeordneten Gremien von "vertikalen Fachbruderschaften" gesprochen; 111 die Abstimmung zwischen den Ebenen begünstigt die fachlich-technischen Interessen. Fritz W. Scharpf hat auf die Gefahren der Politikverflechtung hingewiesen, bei der im Dickicht der permanent und in alle Richtungen erfolgenden Abstimmungen mit hoher Wahrscheinlichkeit Steuerungsdefizite auftreten und Verantwortlichkeilen verschwinden. " 2 Gunter Kisker" 3 und Walter Leisner" 4 haben darauf aufmerksam gemacht, daß vor allem die Landtage die Verlierer der ganz überwiegend exekutiven Kooperation sind. 115 In der verfassungsrechtlichen Bewertung besteht weitgehend Einigkeit, daß Grenzen für die Kooperation jedenfalls solange praktisch nicht greifen, wie sie sich in den Formen rechtlich unverbindlicher Abstimmung vollzieht. 116 Rudolf(Anm. 15), Rn. II. Schulze-Fielitz (Anm. 99), S. 52. 10s S. etwa Postlep!Döring (Anm. 25), S. 21 ff. 109 Grundlegend Kisker (Anm. 97). 110 Grundlegend Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. llt Frido Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37, 238ff.; s. auch Thieme (Anm. 76), DÖV 1989, 506; Hans Boldt, Föderalismus im Widerstreit der Interessen, in: Föderalismus in Deutschland (Anm. 12), S. 145 ff. (!55 f.). 112 Fritz W. Scharpf, Politikverflechtung, in: Fritz W. Scharpf/ Bernd Reissert/Fritz Schnabel (Hg.), Politikverflechtung, 1976, S. 13 ff.; s. auch Franz Lehner, Politikverflechtung, Föderalismus ohne Transparenz, Der Bürger im Staat 1979, 3 ff.; Thomas Ellwein, Über politische Verantwortung, 1978, S. 31; Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtung-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, PVS 26 (1985), S. 323 ff.; Schmidt-Jonzig (Anm. 20), DÖV 1998, 748; Kennter(Anm. 9), DÖV 1997,454. 113 Kisker (Anm. 97), S. 120 ff. 114 Walter Leisner, Schwächung der Landesparlamente durch grundgesetzliehen Föderalismus, DÖV 1968, 389ff. 115 S. auch Kenntner (Anm. 9), DÖV 1997,454. 116 Hasso Hofmann (Anm. 15), § 7 Rn. 66; Rudolf(Anm. 95), § 105 Rn. 79 ff. ; skeptischer Vogel (Anm. 7), Rn. 126 ff. 106 107

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V. Der Bundesstaat an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Abgesehen von den keineswegs vollständig bewältigten Folgen der wiedergewonnenen Einheit muß der Bundesstaat in Deutschland in der absehbaren Zukunft auf zwei Entwicklungen Antworten geben: Will er unter stärker werdenden ökonomischen Zwängen ein zuträgliches Niveau von staatlichen Leistungen sicherstellen, muß er flexibler und leistungsfähiger werden 117 , und er muß seinen Platz in der Ordnung eines wie gesagt worden ist "dreistöckigen" Bundesstaates 118 finden, in dem sich über der Ebene der Kommunen Land, Bund und Europäische Gemeinschaft die politische Willensbildung teilen. 119 Mit dem neuen Art. 23 GG ist versucht worden, die föderale Willensbildung in Angelegenheiten der europäischen Gemeinschaft neu zu organisieren. Für eine kritische Bestandsaufnahme, ob das gelungen ist, ob der Gewinn für die Länder die politischen Kosten aufwiegt, die diese Regelung verursacht, ist es wohl noch zu früh. 120 Die Bundesrepublik Deutschland wirkt aber nicht nur an den Entscheidungen der Gemeinschaft mit, sie muß sie auch umsetzen. Daß dabei in manchen Bereichen sechzehn Normsetzer und nicht nur einer tätig werden, muß nicht unbedingt ein Nachteil sein, wie das Beispiel der Kommunalwahlrichtlinie zeigt. 121 Probleme tauchen jedoch auf, wenn nicht klar ist, ob nun der Bund oder die Länder oder gar beide eine Richtlinie umsetzen müssen. Solche Unklarheiten können ihre Ursache darin haben, daß der europäische Normsetzer seine Richtlinien gerade auf die Schnittstellen von Bundes- und Landeskompetenz plaziert, weil er Themen regelt, die bei uns durch Kompetenzgrenzen getrennt sind. Verzögerungen bei der Umsetzung von Richtlinien treten vor allem in den Bereichen der Rahmengesetzgebung auf, weil die Länder hier bei der Umsetzung von vorgängigen Entscheidungen des Bundes abhängig sind. Die Institution der Rahmenkompetenzen könnte unter Druck geraten, wenn es hier einmal zu einem spektakulären Haftungsfall wegen verzögerter Umsetzung kommen sollte. 122 Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998,618. Wolfgang Graf Vitzthum, Der Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, AöR 115 ( 1990), 281 ff. (285). 119 Zu den Wirkungen der europäischen Integration auf den Föderalismus die Berichte von Meinhard Hilf. Torsten Stein, Michael Schweitzer und Dieter Schind/er in VVDStRL 53 S. 8 ff.; aus der Perspektive des Jahres 1991 Guncer Kisker, Die bundesstaatliche Ordnung vor den Herausforderungen der europäischen Integration, in: Föderalismus in Deutschland (Anm. 12), S. 217 ff. 12o Skeptisch Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 620; Ulrich Karpen, Verfassungsänderung und Föderalismus, ZG 1995, 356 ff. (363); Dittmann (Anm. 20), § 205 Rn. 23. 121 Abgesehen von Bremen mit seiner besonderen stadtstaatliehen Situation haben alle Länder die Richtlinie innerhalb der Frist umgesetzt; s. Bodo Pieroth/ Markus Schmülling, Die Umsetzung des Rates zum Kommunalwahlrecht der Unionsbürger in den deutschen Ländern, DVBI. 1998, 365 ff. 122 Zur Umsetzung von Richtlinien durch die Länder danke ich meinem Doktoranden Christian Haslach für die Vorweg-Information über Teilergebnisse seiner Dissertation. 117

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Der Kompetenzraum, den die Nationalstaaten bisher allein ausfüllten, wird mit der Europäisierung zwischen der zentralen Ebene und der der Mitgliedsstaaten geteilt. 123 Der politischen Entscheidung und rechtlichen Regelung in den Mitgliedsstaaten wird damit Substanz entzogen. 124 Dieser Substanzverlust wird nur unzureichend durch die deutschen Mitwirkungsmöglichkeiten auf der zentralen Ebene in Brüssel kompensiert; die Bedeutung dieser Kompensation wird noch abnehmen, wenn der Einfluß des Europäischen Parlaments erweitert wird. Auch die verbleibende Substanz reicht jedoch für drei politische Ebenen in Deutschland aus. Schwierig wird es aber sein, die Kompetenzen so aufzuteilen, daß ein autonomes Agieren von Bund, Land und Kommune möglich bleibt, ohne die immer wieder einmal nötig werdende Anpassung der Kompetenzordnung zu stark zu erschweren. Hier gehen die Probleme der Europäisierung und der Effektivierung des Bundesstaates ineinander über. In diesem zweiten Punkt sind die Schwierigkeiten eher größer, denn das institutionelle Gefüge erschwert die notwendigen Anpassungen. Immerhin hat der Verfassungsgeber mit der Neufassung des Art. 72 II GG einen Anfang versucht. Bei gesetzlichen Neuregelungen bietet diese Vorschrift Ansätze für eine Öffnung zugunsten von Entscheidungen der Länder. Weil das in gleicher Weise für die Steuergesetzgebung gilt, liegen hier auch Chancen einer erweiterten Selbstbestimmung der Länder bei den Einnahmen, eines "neuen Trennsystems". 125 Warum die einheitliche und nicht in einem bestimmten Rahmen nach Ländern unterschiedliche Festsetzung der Höhe der Erbschafts- oder der Kraftfahrzeugsteuer im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist, dürfte schwer zu begründen sein; die unterschiedliche Höhe der Abwassergebühren oder der Grundsteuer hat die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit auch nicht in Gefahr gebracht. 126 Es käme auf den Versuch an, ob es in Deutschland anders als etwa in der Schweiz nicht hingenommen würde, wenn man "in Harnburg höhere Einkommenssteuern bezahlen müßte als in Bayern". 127 Allerdings gibt es hier auch eine Kehrseite des Problems, gewissermaßen ein finanzverfassungspolitisches Dilemma: wer selbst Steuern erheben (und erhöhen) will, muß auch selbst die damit verbundenen politischen Lasten tragen. In den USA haben die Einzelstaaten wie der Bund grundsätzlich unbegrenzte Steuererhebungsrechte. Trotzdem hat sich ein System von Finanzhilfen des Bundes für die Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 616f. Zu den Auswirkungen auf die Kompetenzen der Länder s. oben und Eicher (Anm. 47), S. 83 f.; Michael Schweitzer; Beteiligung der Bundesländer an der europäischen Gesetzgebung, ZG 1992, 128ff.; lngolf Pernice, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, DVBI. 1993, 909ff. (910ff.). m Häberle (Anm. 17), JZ 1998, 62. 126 In diese Richtung auch Hans-Herbert von Arnim, Reformblockade der Politik?, ZRP 1998, 138 ff. ( 141 ); Schneider (Anm. 25), NJW 1998, 3759; die Rechts- und Wirtschaftseinheit betont stärker Badura (Anm. 20), S. 378. 127 So vor zehn Jahren Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1234. 123

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Das Bundesstaatsprinzip

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Einzelstaaten entwickelt. Die Staaten sind rechtlich frei, ob sie das Geld, an das die Zentrale Bedingungen knüpft, annehmen. Obwohl die Bedingungen nicht selten weitreichend sind und durchaus keinen Zusammenhang mit dem Zweck des jeweiligen Förderprogramms aufweisen müssen, wird das Geld in der Regel akzeptiert. 128 Daß nicht stattdessen eigene Steuern erhoben werden, wird im Schrifttum damit erklärt, daß die zentrale Ebene die zur Steuererhebung notwendigen Entscheidungen leichter treffen kann als die Staaten, die untereinander in einem politischen Wettbewerb und in Standortkonkurrenz stehen. 129 Vielleicht liegt hier ein Grund, warum die Länder sich bisher nicht recht danach drängen, selbständige Besteuerungsrechte zu erhalten. 130 Die Beispiele der Schweiz oder der deutschen Gemeinden zeigen aber, daß dieses Dilemma nicht unüberwindlich ist. 131 Eine Stärkung der Gesetzgebung der Länder würde auch die Gefahren eines Bundesratssystems mildem, das zu Blockaden einlädt und es gestattet, Verhandlungsmacht aufzubauen und mehr oder weniger umfangreiche Pakete zu binden, um sie erst in derblackbox des Vermittlungsausschusses aufzuschnüren. 132 Weitere strukturelle Verbesserungen von Entscheidungen des Verfassungsgebers zu erwarten, hieße aber wohl, die realen Handlungsmöglichkeiten der Politik außer acht zu lassen. 133 In den Landesparlamenten, die Gewinner einer Revitalisierung der Landesgesetzgebung wären, haben die Parteien das Sagen. Sie werden in ihrer Mehrzahl von bundespolitischen Interessen dominiert. Gefordert ist das Bundesverfassungsgericht und ihm vordenkend und zuarbeitend die Verfassungsrechtswissenschaft 134 Ein Blick auf das Schrifttum zu der vom Verfassungsgeber eindeutig gewünschten 135 Justiziabilität des neuen Art. 72 II GG macht allerdings deutlich, 128 S. dazu Annaheim (Anm. 55), S. 269ff.; Lundmnrk (Anm. 34), DÖV 1992, 421; Mi/Igramm (Anm. 34), Jura 1992, 20; Henner Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1971, S. ll4ff. Der Kongress kann auf diese Weise Regelungen durchsetzen, für die ihm die Zuständigkeit fehlt (dazu Erwin Chemerinsky, Constitutional Law, 1997, S. 234). 129 Ehringhaus (Anm. 128), S. 115 f. 130 Dazu Boldt (Anm. 111), S. 157 f. ; s. auch den Leserbrief von Horst Zimmermann in: FAZ Nr. 164 v. 18. 70. 1997 S. 8. 131 Häfelin/Haller (Anm. 33), S. 66; Gebhard Kirr:hgässner/Werner W. Pommerehne, Die Entwicklung der öffentlichen Finanzen in föderativen Systemen, in: Staatsaufgaben, hg. von Dieter Grimm, 1996, S. 149ff. (157); Werner Bussmann, Mythos und Wirklichkeit der Zusammenarbeit im Bundesstaat, 1986, S. 27. 132 Dazu etwa Schmidt-Jortzig (Anm. 20), DÖV 1998, 747; von Arnim (Anm. 126), ZRP 1998, 141. 133 Skeptisch auch Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 621; s. bereits Benz (Anm. 31), DÖV 1991, 597f.; Hans-Jürgen Papier, Der unitarische Bundesstaat, FAZ Nr. 257 v. 5. 11. 1998 S. 10; Schneider (Anm. 25), NJW 1998, 3759; Hans-Peter Schneider, SO Jahre Grundgesetz, NJW 1999, 1497ff. (1504). 134 In diese Richtung auch Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 621. I3S Dazu etwa Karpen (Anm. 128), ZG 1995, 359; Callies (Anm. 25), DÖV 1997, 897ff.; Rybak/Hofmann (Anm. 77), NVwZ 1995,231.

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daß die Auffassungen hier weit auseinandergehen 136 und man die Hoffnungen nicht zu hoch schrauben darf. Der aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht ausgefochtene Streit über den Finanzausgleich 137 macht deutlich, daß es bei den unterschiedlichen Auffassungen nicht zuletzt darum geht, welche Funktion man dem Bundesstaat beimißt 138 Welche Rolle kommen Solidarität und Wettbewerb zu? Ist der Föderalismus nicht nur auf Integration durch Bewahrung regionaler Eigenart und vertikale Gewaltenteilung, sondern auch auf Effektivität des politischen Systems angelegt? 139 Man kommt man dem Problem sicher nicht bei, wenn man einem kooperativen Bundesstaat einen Konkurrenzföderalismus gegenüberstellt, 140 der nach dem Muster der marktliehen Wettbewerbs funktionieren soll. 141 In den meisten Bereichen bedeutet Konkurrenz zwischen Ländern nämlich etwas anderes: die parallele Suche nach der besten Lösung für identische oder sehr ähnliche Probleme; der Erfolg des einen ist zugleich ein Vorteil für alle anderen, die eine gute Lösung übernehmen und ihrerseits fortentwickeln können. 142 Die Rahmenbedingungen, vor allem der Finanzausgleich, müssen so beschaffen sein, daß auf der einen Seite genügend Anreize für das Bemühen um Verbesserungen bestehen, sich die Verhältnisse auf der anderen Seite aber nicht zu stark auseinanderentwickeln. Werden die Unterschiede zwischen den Ländern zu groß, wird die Übernahme der gefundenen guten Lösungen schwieriger oder unmöglich; die Vorteile und Chancen, die ein dezentrales System für Innovationen und Flexibilität bietet, bleiben dann ungenutzt. Im Streit um den Finanzausgleich geht es vor dem Bundesverfassungsgericht nicht darum, ob der Finanzausgleich geändert werden muß - darüber besteht weit136 S. dazu etwa Pieroth, in: Jarass I Pieroth, Grundgesetz flir die Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage 1997, Art. 72 Rn. 8; Rybak/Ho.fmann (Anm. 77), NVwZ 1995,231 ff.; Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 621; Degenhart (Anm. 44), Rn. 109; Detlef Kröger/Flemming Moos, Die Erforderlichkeitsklausel gemäß Art. 72 Abs. 2 GG n.F. im Spannungsfeld des Bundesstaates, BayVBI. 1997, 705; von Mangoldtl Klein/ Pestalozza. Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage 1996, Art. 72 Rn. 347ff.; Kunig, in: von Münch/Kunig (Anm. II), Art. 72 Rn. 18 ff.; Arndt Schmehl, Die erneuerte Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG, DÖV 1996, 724 ff. ; Stettner, in: H. Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 72 Rn. 15; Dittmann (Anm. 20), in: HStR IX,§ 205 Rn. 19. 137 Überblick in: Die Reform des Finanzausgleichs - Föderale, ökonomische und verfassungsrechtliche Aspekte, hg. vom Finanzministerium Baden-Württemberg und dem Bayerischen Staatsministerium der Finanzen, 1998. 138 Zur Legitimation des Bundesstaates /sensee (Anm. 10), § 98 Rn. 299 ff.; Vogel (Anm. 7), Rn. 12ff. 139 Mit gewichtigen Argumenten dazu Oeter (Anm. 97), S. 119 ff.; in diese Richtung auch Hoffmann-Riem (Anm. 90), DVBI. 1999,661 f. 140 So offenbar die Linie der "armen" Länder in dem Streit vor dem BVerfG. S. etwa: Das Zahlerland Harnburg kritisiert Klage gegen Finanzausgleich, FAZ Nr. 93 v. 22. 40. 1999 S. 18. 14 1 Zu den Unterschieden Oebbecke (Anm. 26), Staatswissenschaften und Staatspraxis 1997. 468 ff. 142 S. dazu am Beispiel der Gesetzgebung der Länder Oebbecke (Anm. 26), Staatswissenschaften und Staatspraxis 1997. 461 ff.

Das Bundesstaatsprinzip

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gehend Einigkeit 143 -, sondern darüber, ob der Neuordnung von Verfassungs wegen ein Verständnis vom Bundesstaat zugrunde zu legen ist, daß auch Elemente einer Wettbewerbsordnung enthält; damit wird zugleich entschieden, wie die politische Verhandlungsmacht bei der Neuordnung verteilt ist. Die mittelfristige Wetterprognose für den deutschen Bundesstaat zeigt also nicht gerade strahlend blauen, sondern eher bewölkten Himmel. Allerdings reißen die Wolken immer wieder auf: 144 die Entwicklung in der Verfassungsgerichtsbarkeit oder die Neufassung des Art. 72 II GG wurden erwähnt. Manche Wolke wirkt auch weniger grau, wenn man sieht, daß andere mit ähnlichen Problemen kämpfen; auch in der Schweiz diskutiert man über "Politikverflechtung" 145 "Verwischung der Verantwortlichkeiten" 146 und "föderalistische Schwarze-Peter-Spiele." 147 In den vergangeneo fünfzig Jahren hat der deutsche Bundesstaat ganz unterschiedliche Herausforderungen recht erfolgreich bewältigt: 148 Wiederautbau, Wirtschaftswunder, kalter Krieg, Wohlfahrtsstaat, europäische Integration, Umweltschutz, Wiedervereinigung 149 . Man muß kein unverbesserlicher Optimist sein, um im Jubiläumsjahr des Grundgesetzes die Prognose zu wagen, er werde dieselbe Anpassungsfaltigkeil in der Zukunft autbringen können. Allerdings hat uns ein anderer Jubilar des Jahres 1999 belehrt, was es mit Prognosen auf sich hat: "Seltsam ist Propheten Lied; doppelt seltsam, was geschieht". 150

143 Für Änderungen - wenn auch mit deutlichen Nuancen: Schmidt-Jortzig (Anm. 25), DÖV 1998, 751; Bull (Anm. 25), DÖV 1999, 280; Volkmann (Anm. 25), DÖV 1998, 621; Karpen (Anm. 120), ZG 1995, 364; Milbradt (Anm. 26), ZG 1996, 33ff.; Klaus-Dirk Henke, Möglichkeiten zur Stärkung der Länderautonomie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 643ff.; Häberle (Anm. 17), JZ 1998, 62; von Arnim (Anm. 126), ZRP 1998, 141; Schneider (Anm. 133), NJW 1999, 1504. 144 Dazu daß der der "unitarische Sog" zum Erliegen gebracht ist, s. Braun (Anm. 25), Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996, 102 und 122. 145 Eichenherger (Anm. 33), S. 42. 146 Reni Aebischer, Aufgabenverteilung zwischen Kanton und Gemeinden, 1987, S. 1; s. auch Häfelin/ Haller (Anm. 33), S. 158 f. 147 Bussmann (Anm. 131), S. 96ff. 148 S. schon Ossenbühl (Anm. 7), DVBI. 1989, 1237. 149 Dazu Dittmann (Anm. 20), in: HStR IX, § 205. ISO Goethe, Weissagungen des Bakis, Vorspruch.

Das Grundgesetz als europäische Verfassung Von Hans-Uwe Erichsen

I. Einleitung

Das Grundgesetz ist in mehrfacher Hinsicht eine europäische Verfassung. Es ist zunächst insofern eine europäische Verfassung, als es, was den Regelungsumfang und -zuschnitt betrifft, an die in der Weimarer Verfassung aufgenommene Tradition der westeuropäischen Verfassungsentwicklung anknüpft. Das Bekenntnis zur Volkssouveränität, die Verbürgung von Grundrechten, insbesondere von Freiheit (liberte) und Gleichheit (egalite) sowie der schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Verfassungen süddeutscher Einzelstaaten 1 auftauchende Schutz des Eigentums, die Stellung des Parlaments, insbesondere das in langen Auseinandersetzungen dem Herrscher abgerungene Budgetrecht, sind insoweit charakteristische, die Verfassungsentwicklung im Westeuropa des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts spiegelnde Merkmale. 2 Darüber hinaus hat das Grundgesetz sich 1949 insofern als europäische Verfassung begriffen, als es sich in der Präambel zu der Verantwortung der Bundesrepublik bekannte, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", und es in Art. 24 Abs. 1 die Möglichkeit eröffnete, durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Diese in Art. 24, 25 GG dokumentierte "offene Staatlichkeit"3 , die uns heute im Zeitalter zunehmender Globalisierung und damit einhergehender internationaler Verflechtung keineswegs mehr ungewöhnlich erscheint, war Ende der 40er Jahre ein wichtiger Schritt aus der Epoche des auf seine Souveränität bedachten Nationalstaates in eine Zukunft, die angesichts der Entwicklung etwa des Volkerbundes4 nicht unbedingt verheißungsvoll, aber nach den verheerenden Erfahrungen zweier nationalstaatlich geprägter Weltkriege unausweichlich schien. Nassau (1814), Bayern, Baden, Darmstadt (1818), Würthemberg (1819). Dazu etwa D. Grimm, Justiz und Recht 7 (1991), 1 ff. 3 Zum Prinzip der ,.offenen Staatlichkeit" grundlegend Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, Recht und Staat 292/293 (1964), 42ff.; vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 516ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 34. Lfg. 1998, Art. 23 Rn. 2. 4 Vgl. dazu Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 9. I

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Bekanntlich hat der durch Art. 24 Abs. 1 GG autorisierte Bundesgesetzgeber schon recht bald von der in dieser Vorschrift eröffneten Möglichkeit Gebrauch und die Bundesrepublik zum Mitglied der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gemacht. Der Vertrag über die Montanunion integrierte einem am 9. Mai 1950 der Öffentlichkeit vorgestellten Plan Robert Schumanns folgend die Kohleund Stahlindustrien der 6 Mitgliedstaaten (Frankreich, Benelux, Italien und Deutschland) "in dem Bewußtsein, daß Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann." 5 Die EGKS "beruht auf einem gemeinsamen Markt, verfolgt gemeinsame Ziele und hat gemeinsame Organe", heißt es in Art. I EGKSV. Nach der Präambel dieses Vertrages soll die Gemeinschaft neben der Verfolgung wirtschaftlicher Ziele auch der politischen Einigung Europas dienen. 6 Ein wesentliches Ziel des Vertrages war es, die damals für deutsche Kriegsführung, aber auch für den Wiederaufbau wichtige Montanindustrie der nationalen Disposition zu entziehen, und so dokumentiert das Vertragswerk einen qualitativen Bruch in der Entwicklung der internationalen, auf völkerrechtlichem Vertrag beruhenden Organisationen, als der EGKS weitgehende Entscheidungsgewalt gegenüber Mitgliedstaaten, in ihnen ansässigen Unternehmen der Kohle- und Stahlindustrie und natürlichen Personen eingeräumt wurde? Man versuchte, diese neue Qualität durch den Begriff supranational einzufangen. 8 In der Absicht, "die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen" - so die Präambel zum EWG-Vertrag - wurden am 25. März 1957 die sog. Römischen Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft unterzeichnet. 9 Das Ziel des politisch weit bedeutsameren EWG-Vertrages war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes als Auslöser eines - nach damaliger Einschätzung - notwendig zur politischen Einheit führenden Prozesses. 10 Mit Errichtung des gemeinsamen, durch die bekannten Grundfreiheiten geprägten Marktes sowie in Verwirklichung im EWG-Vertrag aufgegebener Politikprogramme entstand eine Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Verhältnis zu den von den nationalen Verfassungen getragenen und geprägten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sogleich eine Fülle von Fragen aufwarf.

s So die Präambel zum EGKS-Vertrag. Dazu Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 19. Vgl. Dahm, Völkerrecht, Bd. li, 1961, S. 56. 8 Zu diesem Begriff heute Streinz, Europarecht, 4. Aufl. 1999, Rn. ll5ff.; vgl. auch Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Autl. 1996, Rn. 24. 9 Vgl. dazu Schweitzer!Hummer, Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 42ff. 10 Dazu Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 24. 6 7

Das Grundgesetz als europäische Verfassung

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II. Anwendbarkeit und Rang des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH 1. Unmittelbare Anwendbarkeit

Unausweichlich war die Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts angesichts der bisherigen, auch in Art. 59 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden Auffassung, daß außerstaatlich gesetztes Vertragsrecht zu seiner innerstaatlichen Wirksamkeit stets des darauf gerichteten nachträglichen staatlichen Rechtsanwendungsbefehls 11 bedürfe und daß der einzelne kein Völkerrechtssubjekt sein könne. 12 Insoweit hat der EuGH in einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1963 u. a. folgendes ausgeführt: "Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, daß dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung . . . findet eine ... Bestätigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt."" Das Gericht nimmt Bezug auf Art. 177 EWGV (heute Art. 234 EGV), wonach es zu seinen Aufgaben gehört, die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte zu gewährleisten, woraus sich ergebe, "daß die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müßten sich vor den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können." 14 Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, "daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedsstaaten, sondern auch die einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen." 15

II Vgl. Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 66; Verdross, Völkerrecht, 4. Aufl. 1959, S. 64ff.; dazu aus neuerem Schrifttum Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, 1989, S. 98ff.; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 59 Rn. 32. 12 Ausführlich dazu Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 70f., 411 ff. 13 EuGH Rs. 26/62 van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, I, 24f. 14 EuGH Rs. 26/62 van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, I, 24f. 15 EuGH Rs. 26/62 van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, I, 25f.

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Hans-Uwe Brichsen

2. Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht

Ausgehend von dieser später ausgebauten und verfeinerten 16 Auffassung einer unmittelbaren innerstaatlichen Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts ergab sich die Frage, wie die Kollision von Regelungen der Organe der Gemeinschaft mit solchen nationalen Rechts auf allen Ebenen zu lösen sei. So stellte sich das Problem, ob die Gemeinschaft bei dem im EWG-Vertrag vorgesehenen Erlaß ihrer Regelungen und Entscheidungen an die Grundrechte und die anderen Normen des deutschen Verfassungsrechts, aber auch an sonstiges Recht der Bundesrepublik - und der übrigen Mitgliedstaaten - gebunden und von wem im Falle der Kollision eine Entscheidung zu treffen sei. Nach Art. 249 Abs. 2 EGV (damals Art. 189 EWGV) hat die von der Gemeinschaft erlassene Verordnung allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Ausgehend von dem in dieser Vorschrift enthaltenen Signale kommt der EuGH 17 1964 in der Rechtssache Costa/ENEL zu folgenden Einsichten: "Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. ... Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, daß es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen . . .. Aus alledem folgt", so der EuGH, "daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeil keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll." 18 Im Jahre 1970 hat der EuGH dann mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig ließ, ausgeführt: ,,Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt." 19 16 Zunächst durch H. P. /psen, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaft zum nationalen Recht, 1964165. 17 EuGH Rs. 6164 CostaiENEL, Slg. 1964, 1251 ff. 18 Vgl. EuGH Rs. 6164 CostaiENEL, Slg. 1964, 1251, 1269ff. 19 Vgl. EuGH Rs. II I 70 Internationale Handelsgesellschaft I Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1125, 1135. Vgl. auch EuGH Rs. 106177 Staatliche Finanzverwaltung I SpA Simmenthal, Slg. 1978, 629 f., 644 f., wo sich das Gericht auf einen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber bestehendem nationalen Recht jeder Rangstufe und auf eine Sperrwirkung gegenüber dem wirksamen Zustandekommen kollidierender "neuer staatlicher Gesetzgebungsakte" festlegt.

Das Grundgesetz als europäische Verfassung

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3. Die unmittelbare Geltung staatsgerichteten Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten

Schließlich hat sich der EuGH in mehreren. Entscheidungen dazu bekannt, daß inhaltlich hinreichend bestimmtes Gemeinschaftsrecht trotz FehJens staatlicher Umsetzung und trotz bestehenden Umsetzungsspielraums unmittelbar gilt. 20 So hat das Gericht beispielsweise, obwohl die Inanspruchnahme der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten im EWG-Vertrag nicht vorgesehen war, im Wege der Rechtsfortbildung eine gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden angenommen, die ihren Angehörigen aus gemeinschaftsrechtswidrigem Verhalten ihres Staates entstanden sind. 21 Italien, der im Ausgangsprozeß vor dem nationalen Gericht verklagte Mitgliedstaat, war dem Gebot einer Richtlinie - es handelte sich um die Richtlinie 80 I 987 I EWG -, auf geeignete Weise eine Befriedigung notleidender Forderungen von Arbeitnehmern gegen ihre Arbeitgeber zu garantieren, nicht rechtzeitig nachgekommen. Der EuGH hielt in diesem Fall die "volle Wirksamkeit" der Richtlinie und den "Schutz der durch sie begründeten Rechte" nicht für hinreichend gewährleistet, "wenn die einzelnen nicht die Möglichkeit hätten, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, daß ihre Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist.'m Die in dieser Entscheidung entwickelten Haftungsvoraussetzungen hat auch die Bundesrepublik Deutschland nach Ansicht des EuGH23 durch die unterlassene Umsetzung der Pauschalreisen-Richtlinie24 im Falle des Reiseveranstalters MP Travel Line verwirklicht. Der EuGH führte dazu aus: "Sind keine Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie innerhalb der dafür festgesetzten Frist getroffen worden, um das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel zu erreichen, so stellt dieser Umstand einen qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar und begründet daher einen Entschädigungsanspruch für die Geschädigten, soweit das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an den einzelnen umfaßt, deren Inhalt bestimmbar ist, und ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem entstandenen Schaden besteht." 25 w Z. 8. EuGH Rs. 33170 Spa SACE/Finanzministerium der Italienischen Republik, Slg. 1970, 1213, 1223 f.; EuGH Rs. 41174 van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337, 1348 f.; vgl. dazu auch Scherzberg, Jura 1993, 225 ff.; Pieper, DVBI. 1990, 684ff.; Di Fabio, NJW 1990, 947,950. 21 EuGH Rs. C- 6 u. 9/90 Franeovieh u. a.lltalienische Republik, Slg. 1991, 1-5357 ff. = EuZW 1991, 758ff. = NJW 1992, 165ff. = JZ 1992, 305ff.; dazu Erichsen, JK 92, EWGV Art. 189111/3; Streinz, Jura 1995, 6ff. 22 EuGH Rs. C-6 u. 9/90 Franeovieh u. a./ltalienische Republik, Slg. 1991, 1-5357,5358 Leitsatz 3. 23 EuGH Rs. C-178/94 Dillenkofer u. a./Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1996, I 4845 ff. 24 90/314/EWG.

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Hans-Uwe Brichsen

Darüber hinaus hat der EuGH die Geltung jedenfalls nach ihrem Wortlaut staatsgerichteter Regelungen- wie Art. 119 EWGV (heute Art. 141 EGV), der die Mitgliedstaaten auf gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit in die Pflicht nimmt- unmittelbar im Verhältnis Privater zueinander bejaht. 26 4. "Europäisierung'' durch Normsetzung

Schon aus diesen Hinweisen wird Bedeutung und Reichweite einer Entwicklung deutlich, die auf europäischer Ebene vom Europäischen Gerichtshof als dem Hüter der Verträge27 eingeleitet und bis heute durchgehalten worden ist. Daß darin eine Ermutigung und Ermunterung der Organe der Gemeinschaft lag, die "Europäisierung" mit den Mitteln der Normsetzung voranzutreiben und ggfs. "zurückhaltende" Mitgliedstaaten, zu denen übrigens auch die Bundesrepublik gehört,28 vor dem EuGH wegen Pflichtverletzung zu belangen, 29 bedarf keiner näheren Darlegung. So waren nach einer vom BVerfG 1993 referierten Untersuchung 80% aller Regelungen im Bereich des Wirtschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt und nahezu 50% aller deutschen Gesetze durch das Gemeinschaftsrecht veranlaßt,30 und es ist davon auszugehen, daß diese Zahlen sich bis heute nach oben verändert haben. Es gibt kaum noch einen Lebensbereich, der sich nicht einer mehr oder weniger starken "normativen Europäisierung" ausgesetzt sieht, auch wenn Wissen und Bewußtsein davon in der Bundesrepublik nicht übermäßig ausgeprägt sind. Ins Gewicht fallt, daß die Setzung von Rechtsnormen nach den Verträgen über die EWG, die EGKS und die EAG letztentscheidend dem Rat anvertraut ist, in dem die Vertreter der Regierungen vereinigt sind? 1 Der zunächst Versammlung genannten Repräsentation des Volkes hingegen, deren Mitglieder bis 1979 von den Parlamenten der Mitgliedstaaten aus ihrer Mitte berufen wurden, kam nur rudimentäre Bedeutung zu. Damit stellte sich die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik sich unversehens in einem anderen Staat, jedenfalls nicht in ihrem Staat oder im Staat des Grundgesetzes wiederfinden könnten. Die beschriebene Entwicklung mußte die Frage provozieren, und hat sie schon frühzeitig provoziert, ob die nach Art. 24 Abs. I GG erlassenen Gesetze eine solche, die Rechtsordnung der Bundesrepublik nicht nur am Rande berührende oder modifizierende Entwicklung deck2s EuGH Rs. C-178 I 94 Dillenkofer u. a. I Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1996, I 4845 Leitsatz I, 4846. 26 Vgl. EuGH Rs. 43175 Defrennel Sabena, Slg. 1976,455 f., 475 f. 27 Dazu Schweitzer/Hummer. Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 260. 28 V gl. die Angaben zur Umsetzungsrate von Richtlinien in den verschiedenen Mitgliedstaaten bei Oppemwnn, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 42. 29 Zum Vertragsverletzungsverfahren Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 733 ff. 30 BVerfGE 89, 155, 172f. 31 Vgl. dazu Schweitzer/ Hummer. Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 143 ff.

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ten, und wenn ja, ob solche "Ermächtigungsgesetze" sich noch im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG hielten.

111. Das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht in der früheren Rechtsprechung des BVerfG 1. Die Solange I-Entscheidung

Zurückkommend auf die oben 32 aufgeworfene Frage, wem insoweit die Jurisdiktion zukommt, ist festzustellen, daß dazu auf deutscher Seite das BVerfG als Hüter der Verfassung berufen ist. Das Gericht mußte sich dieser Herausforderung erstmals im Jahre 1974 auf einen Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Frankfurt/ Main hin stellen. 33 Es ging in diesem Falle darum, daß die Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, eine Behörde des Bundes, gegenüber einem deutschen Im- und Exportunternehmen eine von diesem gestellte Kaution in Höhe von ca. 17.000 DM für verfallen erklärt hatte, nachdem das Unternehmen eine ihm erteilte Ausfuhrlizenz über 20.000 t Maisgrieß nur teilweise ausgenutzt hatte. Der Bescheid ist auf in Verordnungen der EWG enthaltene Regelungen gestützt, die für die Ein- und Ausfuhr von u. a. Maisgrieß die Vorlage einer Ein- bzw. Ausfuhrlizenz verlangten, deren Erteilung von der Stellung einer Kaution abhängig war. Erfolgte die Ein- oder Ausfuhr nicht innerhalb der von der Lizenz festgelegten Frist, so verfiel nach der Regelung die Kaution. Das VG hatte zunächst eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 234 Abs. 1 EGV (damals Art. 177 EWGV) eingeholt. Dieser hatte in seiner Entscheidung 34 die Rechtmäßigkeit der in ihrer Gültigkeit angezweifelten Vorschriften des Gemeinschaftsrechts festgestellt und dazu ausgeführt, daß "innerstaatliche Rechtsvorschriften wegen der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts diesen nicht vorgehen" 35 könnten, und war zugleich zu dem Ergebnis gekommen, Ein- oder Ausfuhrlizenzen, die für ihre Inhaber eine durch eine Kautionsstellung abgesicherte Verpflichtung zur Durchführung der geplanten Geschäfte begründeten, seien ein notwendiges und angemessenes Mittel, um den Behörden die unentbehrliche Intervention auf dem Getreidemarkt zu ennöglichen.36 Das VG Frankfurt hat daraufhin das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob die genannten, von Behörden der Bundesrepublik Deutschland zu vollziehenden Kautionsregelungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Es ging davon aus, daß das Grundrecht deutscher Exporteure aus Art. 12 Abs. 1 GG S. o. sub. II. I. BVerfGE 37, 271 ff. 34 EuGH Rs. 11170 Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1125 ff. 3~ EuGH Rs. 11/70 Internationale Handelsgesellschaft I Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1125, 1135; dazu auch o. sub. II. 2. 36 EuGH Rs. 11/70 Internationale Handeslgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1123, 1137. 32

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- Freiheit der Ausübung des Berufs - durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen des Im- und Exports verletzt sei, und war der Auffassung, das europäische Gemeinschaftsrecht könne vom BVerfG auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden, ihm gebühre nicht der Vorrang vor allem innerstaatlichen Recht. 37 Das Bundesverfassungsgericht betont 1974 in seiner mit 5 : 3 Stimmen gefaßten sog. Solange I-Entscheidung zunächst, "daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt ... , denn die Gemeinschaft ist kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern ,eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art', eine ,zwischenstaatliche Einrichtung' im Sinne des Art. 24 Abs. I GG."38 Im Hinblick auf eine Kollision des Gemeinschaftsrechts mit der Rechtsordnung der Bundesrepublik genüge es indessen nicht, "einfach vom ,Vorrang' des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht zu sprechen, um das Ergebnis zu rechtfertigen, daß sich Gemeinschaftsrecht stets gegen das nationale Verfassungsrecht durchsetzen müsse, weil andernfalls die Gemeinschaft in Frage .gestellt würde .... Art. 24 GG muß wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher Art im Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden. Das heißt, er eröffnet nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtungen zu ändern. " 39 Zu den Essentialia der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gehöre der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Ihn zu relativieren, gestatte Art. 24 GG nicht vorbehaltlos. Dabei sei der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung.40 "Sie entbehrt noch eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind." 41 Die Gemeinschaft entbehre insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststehe wie der des Grundgesetzes und deshalb einen Vergleich und eine Entscheidung gestatte, ob derzeit der in der Gemeinschaft allgemein verbindliche Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts auf die Dauer dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes, unbeschadet möglicher Modifikationen, derart adäquat sei, daß die angegebene Grenze, die Art. 24 GG ziehe, nicht überschritten werde.42 37

38 39

40 41 42

VG Frankfurt/Main, AWD 1971, 541; dazu Erichsen, VerwArch 66 (1975), 177ff. BVerfGE 37,271, 277f. BVerfGE 37,271, 278f. BVerfGE 37. 271, 280. BVerfGE 37, 271, 280. BVerfGE 37, 271, 278.

Das Grundgesetz als europäische Verfassung

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Das BVerfG nimmt also 1974 bezogen auf das nach Art. 24 Abs. I GG ergangene Übertragungsgesetz eine am Maßstab des Grundgesetzes ausgerichtete Überprüfungs- und Entscheidungskompetenz auch gegenüber der Gemeinschaft und ihrer Rechtsordnung in Anspruch. Es geht davon aus, daß den Gemeinschaften nur soviel an Rechtsetzungsmacht zusteht, wie ihnen verfassungsrechtlich zulässig übertragen werden durfte, und kommt zu dem Ergebnis, daß sich in einem Normenkonflikt "die Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes durchsetzt." 43 Zugleich beteuert das Bundesverfassungsgericht, es entscheide niemals über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts. Es könne höchstens zu dem Ergebnis kommen, daß eine solche Vorschrift von den Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland nicht angewandt werden dürfe, soweit sie mit einer Grundrechtsvorschrift des Grundgesetzes kollidiere. 44 "Die im Grundgesetz garantierten Grundrechte zu schützen, ist dagegen allein das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der ihm im Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen berufen. Diese verfassungsrechtliche Aufgabe kann ihm kein anderes Gericht abnehmen."45 Vollziehe eine Verwaltungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland oder handhabe ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland eine Verordnung der Gemeinschaft, so liege darin Ausübung deutscher Staatsgewalt; und dabei seien Verwaltungsbehörde und Gerichte auch an das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gebunden.46 Das BVerfG kommt 1974 zu dem Schluß: "Solange der lntegrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrags (heute Art. 234 EGV) geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert." 47 2. Die Solange II-Entscheidung

In der einstimmig ergangenen sog. Solange II-Entscheidung48 aus dem Jahre 1986 weist das BVerfG darauf hin, "daß die mitgliedstaatliche Rechtsordnung und 43 44

45 46 47 48

BVerfGE 37,271,281. BVerfGE 37,271,281 f. BVerfGE 37,271,282. BVerfGE 37, 271, 283. BVerfGE 37, 271, 285. BVerfGE 73, 339ff.

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die Gemeinschaftsrechtsordnung nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander stehen, sondern in vielfliltiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet sind... . An der auf ein Zusammenwirken zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten und dem Gerichtshof der Gemeinschaft ausgerichteten Kompetenzzuweisung des Art. 177 EWGV (heute Art. 234 EGV) wird dies besonders deutlich. Im Interesse des Vertragszwecks der Integration, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit dient sie einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich des EWG-Vertrages. " 49 Art. 24 Abs. 1 GG ermögliche es zwar, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen wird, diese Vorschrift ordne aber nicht schon selbst die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des von der zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzten Rechts an, noch regele sie unmittelbar das Verhältnis zwischen diesem Recht und dem innerstaatlichen Recht, etwa die Frage des Anwendungsvorrangs.50 Ein innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang ergebe sich für die europäischen Gemeinschaftsverträge und das auf ihrer Grundlage von den Gemeinschaftsorganen gesetzte Recht durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG. 51 ,,Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, der sich auf Art. 189 Abs. 2 EWGV (heute Art. 249 EGV) erstreckt, ergibt sich die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innnerstaatlichem Recht." 52 Das BVerfG bekräftigt auch in dieser Entscheidung, daß die Ermächtigung des Art. 24 Abs. I GG nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen sei. Die Vorschrift ermächtige nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben. 53 ,,Ein unverzichtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale seien jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen."54 Art. 24 Abs. I GG gestatte nur dann diese Rechtsprinzipien zu relativieren, sofern und soweit die zwischenstaatliche Einrichtung eine Grundrechtsgeltung gewährleiste, die nach Inhalt BVerfGE 73, 339, 368; vgl. auch BVerfGE 58, 202, 207. so Dazu Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 627ff. SI BVerfGE 73, 339, 374 f. s2 BVerfGE 73, 339, 375. sJ BVerfGE 73, 339, 375 f. S4 BVerfGE 73, 339, 376.

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und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkomme. 55 Das BVerfG kommt 1986 zu dem Schluß, daß mittlerweile im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen sei, "das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist. " 56 "Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, . . . wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen."57 Die Solange II-Entscheidung aus dem Jahre 1986 stellt sich damit als pragmatische Abkehr von der Solange I-Entscheidung des Jahres 1974 und im Ergebnis als Öffnung der Bundesrepublik für den umfassenden Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts dar. 58

IV. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften Die Entwicklung der Gemeinschaften hatte indes zwischenzeitlich auch deutlich werden lassen, daß entgegen der ursprünglichen Annahmen die politische Einigung nicht als reife Frucht vom Baum der wirtschaftlichen Einigungsprozesse fallen würde, sondern daß besonders darauf gerichtete Anstrengungen erforderlich waren. Die Einheitliche Europäische Akte von 1986 gab - neben weitreichenden Änderungen des EWG-Vertrages etwa durch Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Rat und Erweiterung der Kompetenzen der EWG - der politischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, die zu regelmäßigen Treffen ihrer Regierungschefs geführt hatte, eine eigene vertragliche Grundlage. 59 Der am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht60 stellt - so Art. A Abs. 2 EUV (heute Art. 1 Abs. 2 EUV) - "eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Volker Europas" dar. Zum instiBVerfGE 73, 339, 376. BVerfGE 73, 339, 378. 57 BVerfGE 73, 339, 387. ss Vgl. auch Schweitzer/Hummer; Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 860ff. 59 Vgl. Schweitzer/Hummer; Europarecht, 5. Aufl 1996, Rn. 47ff. 60 V gl. zur Entstehungsgeschichte dieses Vertrages Schweitzer I Hummer; Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 54; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 44ff. 55

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tutioneilen Gefüge der drei Gemeinschaften tritt als Ergänzung die Europäische Union.61 So heißt es im Art. A Abs. 3 EUV (heute Art. 1 Abs. 3 EUV): "Grundlage der Union sind die Europäischen Gemeinschaften, ergänzt durch die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit." Der Vertrag von Maastricht schafft den institutionellen Rahmen für eine Zusammenarbeit zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sowie auf dem Felde der Justiz und des Inneren. Nach Art. F des EU-Vertrages (vgl. heute Art. 6 EUV) achtet die Europäische Union "die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen." Sie "achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben." In Art. F Abs. 3 EUV (heute Art. 6 Abs. 4 EUV) heißt es: ,,Die Union stattet sich mit den Mitteln aus, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind."

V. Von Art. 24 Abs. 1 zu Art. 23 Abs. 1 GG Das am 31. Dezember 1992 in Kraft getretene Gesetz zum Maastricht-Vertrag62 erging auf der Grundlage des am 21. Dezember 1992 geänderten Art. 23 GG,63 dessen Abs. I nunmehr wie folgt lautet: ,,Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätze und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3." Art. 23 Abs. I GG hatte in seiner ursprünglichen Fassung den Geltungsbereich des Grundgesetzes sowie Recht und Folgen eines Beitritts der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik geregelt. Die Vorschrift war durch die Wiedervereinigung und die damit verbundene Regelung des Geltungsbereichs in der Präambel des Grundgesetzes gegenstandslos geworden. Zudem ging man davon aus, daß Art. 24 Abs. 1 GG für das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag keine hinreichende Dazu Herdegen, Europarecht, 1997, Rn. 55. Gesetz vom 28. 12. 1992 zum Vertrag vom 07. 02. 1992 über die Europäische Union (BGBl. II 1992, 1251). 63 Art. 23 GG geändert durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. 12. 1992 (BGBl. I 1992, 2086). 61

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Grundlage gebe64 und nutzte die durch die Wiedervereinigung freigewordene "Hausnummer", um zu dokumentieren, daß nach der Wiedervereinigung Deutschlands sich die Einigung Europas als nächste große Aufgabe stelle.65 Die in Art. 24 Abs. I GG ermöglichte Übertragung von Hoheitsrechten ist mit einem Verzicht auf die Ausschließlichkeit der deutschen Staatsgewalt im Geltungsbereich des GG verbunden, was eine materielle Änderung der Verfassung bedeutet.66 Sie ist, wie auch die Entstehungsgeschichte des Art. 24 GG bestätigt, nicht an die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. I u. 2 GG geknüpft. Art. 24 Abs. I GG ermächtigt deshalb zu einer Verfassungsdurchbrechung.67 Über die Reichweite und Grenzen dieser Änderungsermächtigung ist - wie in der Solange 1- und der Solange ll-Entscheidung des BVerfG, aber auch in sonstiger Rechtsprechung68 deutlich wird - lange und intensiv gestritten worden. Zum einen wurde die Forderung nach "struktureller Kongruenz" eines jeden auf der Grundlage des Art. 24 Abs. I GG geschaffenen internationalen Statuts mit dem Grundgesetz erhoben.69 Motto: ,,Am Deutschen Wesen soll die Welt genesen", was insbesondere in der Verhandlung über die letztlich gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft von anderen europäischen Staaten mit einer längeren und konsistenten demokratischen und grundrechtsgeprägten Verfassungstradition zurückgewiesen wurde. Eine vermittelnde Auffassung wurde von den dissentierenden Richtern des Solange I-Beschlusses vertreten,70 die damit dem Solange liBeschluß den Weg bahnten. Die Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung ergebe, so führten sie aus, "daß der Verzicht auf die Ausübung von Hoheitsgewalt in bestimmten Bereichen und die Duldung der Ausübung von Hoheitsgewalt durch Organe einer überstaatlichen Gemeinschaft dann - und nur dann - zulässig ist, wenn die öffentliche Gewalt der überstaatlichen Gemeinschaft nach ihrer Rechtsordnung den gleichen Bindungen unterliegt, wie sie sich für den Bereich des innerstaatlichen Rechts aus den fundamentalen und unabdingbaren Prinzipien des Grundgesetzes ergeben; dazu gehört insbesondere der Schutz des Kernbestandes der Grundrechte."71 Zum anderen wurde aber auch die Ansicht vertreten, Art. 79 Abs. 3 GG, der eine Verfassungsänderung für unzulässig erklärt, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die 64 Vgl. Scholz. NJW 1993, 1690, 1691; ders., NVwZ 1993, 817, 818; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, 4. Auf!. 1997, Art. 23 Rn. 1; a.A. Schwarze, JZ 1993, 585, 587; Oppermannl Classen, NJW 1993,5, 11 f.; Everling, DVBI. 1993,936,943. 6S Vgl. Verheugen, Plen. Prot. 12. Wahlperiode, 9348 f.; Möller, Plen. Prot. 12. Wahlperiode, 10866 f. 66 Vgl. Schweitzer. Staatsrecht III, 6. Auf!. 1997, Rn. 55. 67 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 34. Lfg. 1998, Art. 24 Abs. 1 Rn. 8 m. w. N. 68 BVerwGE 54,291, 304; BFHE 88,266, 273; BFHE 93, 102, 1ll; BGHZ 102, 118, 122. 69 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Auf!. 1997, Art. 24 Rn. 7; kritisch Randelzhofer, in: Maunz/Dilrig, GG, 34. Lfg. 1998, Art. 24 Abs. 1 Rn. 104ff. 70 Abweichende Meinung der Richter Rupp, Hirsch und Wand zu BVerfGE 37, 271, 291 ff. 71 BVerfGE 37; 271, 291, 296.

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grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in Art. I und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, sei nicht auf das nach Art. 24 Abs. I GG erlassene Übertragungsgesetz anwendbar. 72 Diese Auseinandersetzung hat durch die Neuregelung des Art. 23 Abs. I GG ihr Ende gefunden insofern, als Art. 23 Abs. I S. 3 GG nunmehr die Geltung von Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG für nach dieser Vorschrift ergehende verfassungsändernde oder -ergänzende Gesetze festlegt. Darüber hinaus hat die Forderung nach struktureller Kongruenz in Art. 23 Abs. I S. I GG mit dem Bezug auf die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen einen gewissen Niederschlag gefunden.

VI. Die Maastricht·Entscheidung des BVerfG Dies mag nicht zuletzt dazu geführt haben, daß das BVerfG u. a? 3 gegen das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag angerufen wurde. Das BVerfG74 - zuständig war der II. Senat - teilte die in Fachkreisen vertretene Auffassung, 75 die erhobenen Verfassungsbeschwerden seien offensichtlich unzulässig, nicht, sondern sah in einer zur Hälfte mit neuen Richtern, insbesondere einem neuen Berichterstatter, bestückten Besetzung die Chance zu einer grundlegenden Äußerung in Sachen europäische Integration und zur Verdeutlichung seines Verständnisses seines Verhältnisses zum EuGH. 76 Das Gericht hat in der Maastricht-Entscheidung vom I2. Oktober I993 die Vereinbarkeit des Vertrages von Maastricht mit Art. 23 Abs. I GG festgestellt, aber - um an eine Äußerung von Rick im Film "Cassablanca" anzuknüpfen- "um welchen Preis, Ugarte, um welchen Preis." 1. Das "Kooperationsverhältnis" von BVerfG und EuGH

Hatte das BVerfG noch zunächst darauf hingewiesen, daß die in der Präambel des Grundgesetzes angelegte und in Art. 23 und 24 GG geregelte Offenheit für eine europäische Integration zur Folge habe, daß grundrechtserhebliche Eingriffe auch von europäischen Organen ausgehen können und ein Grundrechtsschutz dement72 BFH, EuR 1967, 239, 245; Zweigert, Rabels Zeitschr. 28 (1964), 601, 640f.; H. P. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 289; ders., EuR 1975, 1, 7 f.; Emrich, Das Verhältnis des Rechts der EG zum Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 125 f.; insoweit auch Thieme, VVDStRL 18 (1960), 50, 58. Vgl. auch Erichsen, VerwArch 64 (1973), 101, 106f.; anders Huber, A()R 116 (1991), 210, 228 f. 73 Die Rüge, daß mit Art. 23 GG verfassungswidriges Verfassungsrecht geschaffen worden sei- vgl. BVerfGE 89, 155, 168 - , ist vom BVerfG zu Recht verworfen worden. 74 BVerfGE 89, 155 ff. 7S Tomuschot, EuGRZ 1993, 489ff.; Schwarze, NI 1994, 1 f.; vgl. auch Erichsen, JK 94, GG Art. 23/1 a, b. Bethge, in: .Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, 18. Lfg. 1999, Vorb. Rn. 347 ff. 76 So auch die Einschätzung von Schröder, DVBI. 1994, 316.

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sprechend für das gesamte Geltungsgebiet dieser Maßnahmen gewährleistet werden müsse, wodurch sich insbesondere der räumliche Anwendungsbereich der Freiheitsrechte und die Vergleichsperspektive bei der Anwendung des Gleichheitssatzes erweitere, so betont es zugleich, eine ins Gewicht fallende .Minderung der Grundrechtsstandards sei damit für Deutschland nicht verbunden. 77 "Das BVerfG gewährleistet durch seine Zuständigkeit, daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt .. . ist."78 Das Bundesverfassungsgericht sichere den Wesensgehalt der Grundrechte auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft.79 "Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ,Kooperationsverhältnis' zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann. " 80 Dieses "Kooperationsverhältnis" , in dem das BVerfG sich und den EuGH sieht, wird auch noch an anderer Stelle81 in Bezug genommen. Was das BVerfG darunter versteht, zeigt sich, wenn es ausführt: "Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen."82 Hier wird ein Selbstverständnis des BVerfG deutlich, welches von der FAZ am 15. Oktober 1993 zumindest tendenziell zutreffend mit der Überschrift "Europa unter Karlsruher Kontrolle" umschrieben wurde. 2. Die demokratische Legitimation in der Europäischen Union

Das BVerfG kennzeichnet die EU als einen "Staatenverbund"83 der "primär gouvernemental bestimmt"84 ist. "Der ... Unionsvertrag begründet .. . keinen sich auf 77 78

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BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89,

ISS, I74. ISS, I74f. ISS, I75. 155, I75. 155, 178. I55, 188. 155, 156 Leitsatz 8, I85, I86, I88, I90. I 55, 186.

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ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat,"85 die EU sei durch ein "Selbstverständnis als Union der Volker Europas (Art. A Abs. 2 EUV, heute Art. 1 Abs. 2 EUV)" und damit als "ein auf dynamische Entwicklung angelegter Verbund demokratischer Staaten"86 charakterisiert. Das Gericht geht davon aus, daß "das durch Art. 38 GG gewährleistete Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluß zu gewinnen, .. . es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus(schließt), dieses Recht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird."87 Nimmt daher die EU "hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben," 88 was zur Folge hat, daß "im Staatenverbund der Europäischen Union ... demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handeins europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten"89 erfolgen müsse. Hinzutrete - im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nation innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vennittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament. 90 3. Die Unzulässigkeil einer Vertragserweiterung

"Wohin ein europäischer Integrationsprozeß" - so das BVerfG - "nach weiteren Vertragsänderungen letztlich führen soll, mag in der Chiffre der ,Europäischen Union' zwar im Anliegen einer weiteren Integration angedeutet sein, bleibt im gemeinten Ziel letztlich jedoch offen.,.91 Unter Bezug auf eine Rede des Bundeskanzlers am 6. Mai 1993 in Köln92 führt das BVerfG aus, daß jedenfalls eine Gründung Vereinigter Staaten von Europa, die der Staatswerdung der Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbar wäre, derzeit nicht beabsichtigt sei.93 Auch der im Blick auf den Unions-Vertrag neu in die französische Verfassung eingefügte Art. 88-1 spreche von Mitgliedstaaten, die in der europäischen Union und den europäischen Gemeinschaften einige ihrer Kompetenzen gemeinsam ausübten. 94 85 86 87

88 89

90 91 92 93 94

BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89, BVerfGE 89,

155, 155, 155, 155, 155, 155,

188. 184. 182. 184. 185. 185f.

BVerfGE 89, 155, 189. BuliBReg. Nr. 39 vom 17. 05. 1993, 341 , 343 f. BVerfGE 89, 155, 189. BVerfGE 89, 155, 189.

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Die Bundesrepublik Deutschland sei demnach Mitglied in einem Staatenverbund, "dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann. " 95 Das BVerfG sieht Art. 38 GG verletzt, "wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der - supranationalen - europäischen Gemeinschaften öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt. ... Das bedeutet zugleich, daß spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigung nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind." 96 Das Gericht interpretiert trotz einer gegenläufigen Äußerung des Vorsitzes des Europäischen Rates aus dem Jahre 199297 den EU-Vertrag dahin, daß "durch Art. F Abs. 3 EUV (heute Art. 6 Abs. 4 EUV) keine Kompetenz - Kompetenz begründet"98 wird und daß der "Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis nicht zulässig ist."99 Die Regelungen des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes seien als "Kompetenzausübungsschranken" ausgestaltet. 100 Art. F Abs. 3 EUV (heute Art. 6 Abs. 4 EUV) ermächtige die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanzmittel und sonstigen Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachte; vielmehr werde in Art. F Abs. 3 EUV (heute Art. 6 Abs. 4 EUV) lediglich die politisch-programmatische Absicht bekundet, "daß die - die Union bildenden - Mitgliedstaaten in den jeweils dazu erforderlichen Verfahren die Union mit hinreichenden Mitteln ausstatten wollen. Würden europäische Organe den Art. F Abs. 3 EUV (heute Art. 6 Abs. 4 EUV) entgegen diesem im deutschen Zustimmungsgesetz aufgenommenen Vertragsinhalt auslegen und handhaben, so wäre dieses Handeln vom Zustimmungsgesetz nicht gedeckt und somit innerhalb des deutschen Mitgliedstaates rechtlich unverbindlich. Die deutschen Staatsorgane müßten etwaigen auf eine derartige Handhabung des Art. F Abs. 3 EUV (heute Art. 6 Abs. 4 EUV) gestützten Rechtsakten die Gefolgschaft verweigem." 101 Der Vertrag eröffne "den Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der Europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer BVerfGE 89, 155, 190. BVerfGE 89, 155, 187 f . 97 BullBReg. Nr. 140 vorn 28. 12. 1992, 1280ff. 98 BVerfGE 89, 155, 192; ablehnend zur Übertragung einer Kompetenz-Kompetenz auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Art. 23 Rn. 7; ausführlich zur KompetenzKompetenz Lerche, FS Carl Heyrnanns Verlag, 1995, S. 409 ff. 99 BVerfGE 89, 155, 192. 100 BVerfGE 89, 155, 193. 101 BVerfGE 89, 155, 194. 9S

96

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weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhängt." 102 Gewissermaßen den Schlußstein seiner hegemonialen Betrachtung setzt das BVerfG in seiner Entscheidung mit folgenden Worten: "Wenn eine dynamische Erweiterung der bestehenden Verträge sich bisher auf eine großzügige Handhabung des Art. 235 EWGV (heute Art. 308 EGV) im Sinne einer ,Vertragsabrundungskompetenz', auf den Gedanken der inhärenten Zuständigkeiten der europäischen Gemeinschaften (,implied powers') und auf eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse (,effet utile') gestützt hat, so wird in Zukunft bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften zu beachten sein, daß der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten." 103

VII. Die neuere Entwicklung in der Europäischen Union Ausgehend von einer darauf gerichteten Regelung im Vertrag von Maastricht haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 2. Oktober 1997 den Amsterdamer Vertrag 104 unterzeichnet, der nach Ratifikation in allen Mitgliedstaaten am l. Mai 1999 in Kraft getreten ist. Er bringt eine Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zur Gewährleistung von Frieden und äußerer Sicherheit, weitere Verbesserung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, um besonders bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus sowie im Asyl- und Einwanderungsrecht gemeinsame Wege beschreiten zu können, und zielt auf eine Steigerung von Effizienz und Handlungsfähigkeit der europäischen Union durch Überprüfung ihrer Entscheidungsprozesse. Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs von Mehrheitsentscheidungen soll die Konsenstindung in den europäischen Institutionen erleichtern. Ziel ist eine Stärkung der demokratischen Grundlagen und der Bürgemähe der Europäischen Union. Das Europäische Parlament wie auch die nationalen Parlamente werden noch enger in den europäischen Einigungsprozeß einbezogen. Der Vertrag verbessert den Grundrechtsschutz der Unionsbürger und stärkt die soziale Komponente der Europäischen Union. Im übrigen schafft der neue Vertrag entscheidende Voraussetzungen für die baldige Erweiterung der Europäischen Union. 105

BVerfGE 89, 155,204. to3 BVerfGE 89, 155, 210. 104 BGBI. II 1998, 387. tos Ausführlich zum Amsterdamer Vertrag Streinz, Jura 1998, 57 ff. 102

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VIII. Die Maastricht-Entscheidung und die Vereinigten Staaten von Europa Die Bezeichnung als Maastricht-Entscheidung darf nicht den Blick verstellen, daß es sich um eine Entscheidung des BVerfG zu Art. 23 Abs. I GG handelt. Soweit sie für sich in Anspruch nimmt, Gemeinschaftsrecht gewissermaßen abschließend zu interpretieren, muß sie sich vor dem Hintergrund des Art. 234 EGV nach der Legitimation fragen lassen. So bekennt sich der Vertrag von Amsterdam denn auch in historischer Kontinuität zu einem -allerdings von einer besonderen Erklärung jedes Mitgliedstaates abhängigen- Vorabentscheidungsrecht des EuGH. 106 Die Maastricht-Entscheidung hat in der Öffentlichkeit ein geteiltes Echo gefunden. Neben der bereits zitierten FAZ vom 15. Oktober I993, die die Berichterstattung mit "Europa unter Karlsruher Kontrolle" überschreibt, titelt das Handelsblatt vom I2. Oktober I993: "Maastricht schränkt die Wirksamkeit des deutschen Grundgesetzes nicht ein." Die Reaktion in der Wissenschaft 107 ist von mehr oder weniger vorbehaltloser Zustimmung und insgesamt von staatsmännischem Geist geprägt. Dezidierte Kritik zu dem von BVerfG entwickelten Verständnis des Art. 23 Abs. I GG ist eher selten. 108 Vergegenwärtigt man sich in Stichworten die ausgehend von politischen Ansätzen entwickelten Optionen einer künftigen institutionellen Entwicklung auf europäischer Ebene: Auflösung oder Reduktion des Einflusses der nationalstaatliehen Ebene führend zu einer Neuverteilung der Gestaltungsmacht zwischen der Europäischen Zentralebene (Einheit), der nationalstaatliehen Ebene und den Regionen (Vielfalt), Europäischer Bundesstaat = Vereinigte Staaten von Europa, und führt man sich die in vielen Bereichen zu registrierende Konvergenz der Entwicklung der Maximen und Systeme in Europa vor Augen, so wird man der MaastrichtEntscheidung eine gewisse restaurative Tendenz nicht absprechen können.109 Allemal wird man ihr eine stark introvertierte 110 - um nicht zu sagen provinzielle Betrachtung zu attestieren haben und diese nicht nur als Folge einer im Vergleich zu einer politischen Gesamtperspektive eher punktuellen Sicht der Judikative begreifen können. Die Herbeiführung einer grenzübergreifenden Friedensordnung durch Integration - deren Notwendigkeit uns ja gegenwärtig nachdrücklich verdeutlicht wird und damit die Götterdämmerung des Nationalstaates ist- folgt man dem Verständnis des BVerfG - in Maastricht und damit auch in Amsterdam nicht eingeläutet 106 107

316ff.

Vgl. Art. 35 EUV. Vgl. z. B. Götz, JZ 1993, 1081 ff.; Lenz, NJW 1993, 3038f.; Schröder. DVBI. 1994,

108 Vgl. etwa Tomuschat, in: Tagesspiegel v. 19. 10. 1993; ders., EuGRZ 1993, 489, 496; Steindorff, EWS 1993, 341 ff.; ambivalent H. P. Ipsen, EuR 1994, I, 19 ff. m. w. N. 109 Vgl. dazu Meessen, NJW 1994,549, 553f. 110 So auch H. P. lpsen, EuR 1994, I, 20.

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worden. Vielmehr läßt die Maastricht-Entscheidung kaum Zweifel, daß sie unter der Ägide des Art. 23 Abs. 1 GG nicht stattfinden darf. Der gelegentlich befürchtete Sturz in ein europäisches Abenteuer wird jedenfalls über Art. 23 Abs. 1 GG nicht stattfinden. Eine europäische Entwicklung wird - folgt man dem BVerfG im Rahmen von Art. 23 Abs. 1, 38, 79 Abs. 3 GG nur in Schritten stattfinden können, die buchhalterisch registrierbar und in begrenzten Einzelennächtigungen m abgesichert sind. Die Maastricht-Entscheidung ist frei von jeder Sensibilität für die besonderen Herausforderungen grenz- und nationenübergreifender Entwicklungen und Verflechtungen, wie sie sich etwa im Bereich der Wirtschaft, aber zunehmend auch im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Lehre ergeben. H. P. lpsen meint, das Urteil enthalte sich in ,,richterlicher Weisheit" einer Entscheidung darüber, "ob Art. 79 Abs. 3 GG eine ,Entstaatlichung' der Bundesrepublik Deutschland zulasse oder nicht." 112 In der Tat läßt sich das BVerfG dahin ein, angesichtsder Einordnung der EU als "Staatenverbund" 113 und damit als ein sich nicht auf ein europäisches Staatsvolk stützender Staat stelle sich ihm die Frage nicht, ob das Grundgesetz eine deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Staat erlaubt oder ausschließt. 114 In der Sache wird die Frage indes durch die Interpretation des Art. 23 Abs. 1 GG negativ beantwortet, wenn es etwa heißt: "Jedes der Staatsvölker ist Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt. Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es - relativ homogen geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben." 115 Wenn man schließlich mit einigen Stimmen in der Staatsrechtsliteratur diesen Weg selbst über Art. 146 GG nicht eröffnet sieht, wonach das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tag verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist, weil auch insoweit Art. 79 Abs. 3 GG zu beachten sein soll, 116 dann heißt es Abschied nehmen von der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. 117 111 Zu dem sog. "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" Oppennann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 513. 112 H. P. lpsen, EuR 1994, 1, 9. 113 BVerfGE 89, 155, 188. 114 BVerfGE 89, 155, 188. m BVerfGE 89, 155, 186. 116 So Scholz, in: Maunz I Dürig, GG, 34. Lfg. 1998, Art. 146 Rn. 23; Jarass, in: Jarass I Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Art. 146 Rn. 3; lsensee, in: ders.IKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 166 Rn. 61; vgl. auch Kirchhof, in: lsensee lders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 183 Rn. 20 f.; Erichsen, Jura 1992, 52, 55. 117 Ablehnend im Hinblick auf den Schritt zum Bundesstaat auch Jarass, in: JarassiPieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Art. 23 Rn. 20; Rojahn, in: v. MünchiKunig, GG, 3. Auflage 1995, Art. 23 Rn. II.

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Es bleibt jedoch die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 GG wirklich in der Weise auszulegen ist, wie das in der Maastricht-Entscheidung geschehen ist. Wenn diese Vorschrift als Ziel ihrer Existenz die "Verwirklichung eines vereinten Europa" definiert, dann bestimmt sie damit die für sie geltende Auslegungsmaxime selbst und notwendig abweichend von jenen innerstaatlich ausgerichteten und bewährten Auslegungsgrundsätzen, die bei der Entwicklung innerstaatlich wirkenden Verfassungsrechts Segensreiches geleistet haben, auch wenn ihre Kenntnis und Beherrschung in der Wissenschaft und Praxis und dementsprechend auch in der Lehre an den Universitäten und in Lehrbüchern zunehmend geringer veranschlagt wird. Immerhin räumt das BVerfG in der Maastricht-Entscheidung ein, daß dann, wenn supranationalen Organisationen Hoheitsrechte übertragen werden, das vom Volk im einzelnen Mitgliedstaat gewählte Parlament notwendig an Einfluß auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß verliert, 118 daß die Einräumung von Hoheitsbefugnissen zur Folge hat, "daß deren Wahrnehmung nicht mehr stets vom Willen eines Mitgliedstaates allein abhängt", 119 und fügt hinzu: "Hierin eine Verletzung des grundgesetzliehen Demokratieprinzips zu sehen, widerspräche nicht nur der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes, die der Verfassungsgeber des Jahres 1949 gewollt und zum Ausdruck gebracht hat; es legte auch eine Vorstellung von Demokratie zugrunde, die jeden demokratischen Staat jenseits des Einstimmigkeitsprinzips integrationsunfähig machte. Die Einstimmigkeit als durchgängiges Erfordernis setzte zwangsläufig den partikularen Willen über den der zwischenstaatlichen Gemeinschaft selbst und stellte eine solche Gemeinschaft damit schon strukturell in Frage. Ein solches Ergebnis ist nach Wortlaut und Sinn in Art. 23 und 24 GG nicht angelegt." 120 Insgesamt ist jedoch unverkennbar, daß das BVerfG in der Maastricht-Entscheidung weder in der Jurisdiktionskonkurrenz zum EuGH noch in der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Befugnisse und mit ihnen jedenfalls bisher verbundener und vom BVerfG akzeptierter 121 Möglichkeiten einer dynamischen Entwicklung noch in der Interpretation der Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG den Schritt von Art. 24 Abs. I GG zu Art. 23 Abs. 1 GG vollzieht und in eine integrationsfreundliche Auslegung umsetzt. 122 Die Betonung der Notwendigkeit, die nationale Identität zu wahren, 123 ist nicht nur als Folge des Gebots demokratischer Legitimation zu begreifen, sondern setzt Signale für eine von Vorbehalten gekennzeichnete Haltung gegenüber der in Art. 23 Abs. I GG verfassungsrechtlich als Ziel vorgegebenen "Verwirklichung eines vereinten Europas". Dieser Interpretationsansatz BVerfGE 89, 155, 182. BVerfGE 89, 155, 183. 12o BVerfGE 89, 155, 183. 121 BVerfGE 58, I, 29 f.; 202, 207 f. 122 A. A. Götz, JZ 1993, 1081, 1086, der das Maastricht-Urteil als "einschränkungslos integrationsfreundlich" bezeichnet. Differenzierend Schröder. DVBI. 1994, 316, 325, wonach das Urteil keinen prinzipiellen Vorbehalt gegen die europäische Integration enthalte. 123 BVerfGE 89, 155, 211. 118

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ist um so unverständlicher, als Art. 23 Abs. 1 GG von der Entwicklung einer Europäischen Union spricht, die "föderativen Grundsätzen" verpflichtet ist. Insoweit kann jedenfalls eine Interpretation, die Art. 79 Abs. 3 GG Sperrwirkung im Hinblick auf die Eingliederung der Bundesrepublik in einen europäischen Bundesstaat zumißt, nicht überzeugen. 124

124 So im Ergebnis auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 521 ; Magiera, Jura 1994, I, 8; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Art. 23 Rn. 26; a. A. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, 34. Lfg. 1998, Art 24 Abs. I Rn. 204; Streinz, in: Sachs, GG, 1996, Art. 23 Rn. 84f.; Breuer, NVwZ 1994,417, 423; allgemein zu dieser Frage Pernice, AöR 120 (1995), 100, 101 ff.

Internationale Verflechtung Von Stefan Kadelbach Einleitung Wirtschaft und Gesellschaft internationalisieren sich, die Nationalstaaten verlieren in ihren eigenen Hoheitsgebieten an Ordnungsmacht Gesteigerte Mobilität, die Verkürzung der Kommunikationswege, aber auch Institutionen wie die Europäische Union und die Welthandelsorganisation drängen die Möglichkeiten der Staaten, je für sich auf das Verhalten ihrer maßgeblichen Akteure Einfluß zu nehmen, zurück. 1 Es kommt zu Verbundentscheidungen ganzer Staatengruppen. Die wirtschaftliche Macht des Verbundes setzt sich im Politischen fort. Verlassen einzelne Akteure den Minimalkonsens, müssen sie mit Konsequenzen rechnen. Dies ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sich nicht entgegen, sondern mit dem Willen der meisten Staaten vollzogen hat. Sie setzt Anpassungsfähigkeit und Umstellungsbereitschaft voraus, eine grundsätzliche Offenheit für die internationale Bedingtheit des Staatswesens. Die folgenden Überlegungen gehen den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dieser Entwicklungen nach. Das Grundgesetz unterscheidet sich von den typisch nationalstaatliehen Verfassungen der Vergangenheit im Hinblick auf seine Entstehung und seine Gesamtanlage (dazu 1.). Hauptkennzeichen der Außenverfassung ist eine besondere Offenheit für die Geltung völkerrechtlicher Normen (II.). Immer deutlicher wird jedoch erkennbar, daß der durch das Grundgesetz errichtete Verfassungsstaat seinerseits bestrebt ist, seine grundlegenden Wertentscheidungen zum Gegenstand außenpolitischer Gestaltung zu machen und sich sogar bereit zeigt, zu ihrer Verwirklichung in den Krieg zu ziehen (anschließend III). Die Wechselbezüglichkeit zwischen Verfassungsstaat und Internationalität hat zwar identitätsstiftende Kraft, kann aber auch zu Widersprüchen führen, für deren Lösung Regeln gefunden werden müssen (dazu abschließend IV). I. Die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit Verfassungen sind Äußerungen der nationalen Souveränität. In ihnen manifestiert sich die Selbstbestimmtheit des Staatsvolkes, nach innen wie nach außen. I Daß dies keine neue Entwicklung ist, die man mit dem Schlagwort "Globalisierung" erklären müßte, zeigt schon R. Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 65/73. II Pierolh

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So verkündet das französische Volk in seiner Verfassung von 1958 "feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten und mit den Grundsätzen der nationalen Souveränität" und beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Portugal erklärt sich zur "souveränen Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet". Die "spanische Nation, beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und das Wohl aller ihrer Bürger zu fördern, verkündet in Ausübung ihrer Souveränität ihren Willen". 2 Und die Schweizerische Bundesverfassung gibt dem Bund den "Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes nach außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt". Ganz derselben Tradition gemäß hatte die Deutsche Reichsverfassung von 1871 in ihrer Präambel den "Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts" sowie "die Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes" versprochen und sich im auswärtigen Bereich darauf beschränkt, das Verfahren zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge festzulegen. Verfassungen sind also Dokumente der Selbsttindung von Volkern und so nahezu notwendig national introvertiert. Die deutschen Verfassungen dieses Jahrhunderts weichen von dieser Tradition ab. Die Weimarer Reichsverfassung weist, unter dem Eindruck der Nachkriegsordnung der Pariser Vorortverträge, bereits ein Stück weit über den traditionellen nationalstaatlichen Bezugsrahmen anderer Verfassungen hinaus. Sie erinnert in ihrem Vorspruch an die Friedensidee des Volkerbundes 3 und stellt innerstaatliche Geltungsmodalitäten nicht nur für völkerrechtliche Verträge, sondern auch für das allgemeine Völkerrecht auf (Art. 4 WRV). Das Grundgesetz des Jahres 1949 konnte die freie Selbstbestimmung des in Verwaltungsbezirke der Alliierten unterteilten Landes nur zum Ziel erklären, nicht aber deren Ergebnis sein. Von Anfang an stand die Zielbestimmung der deutschen Einheit in untrennbarer Beziehung mit dem Willen der Verfassunggeber, daß Deutschland zugleich "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt" dienen solle.4 Hinter dieser Formel steht ein "außenpolitisches Programm",5 das sich aus vielen Bestimmungen des Grundgesetzes zusammensetzt. Der programmatische Charakter kommt in den auf den ersten Blick unverbindlich wirkenden Stilformen Präambel der Verfassung von 1978. ,,Das deutsche Volk, . . . von dem Willen beseelt ... dem inneren und äußeren Frieden zu dienen ..."; zum "enuntiativen" Charakter G. Anschütz. Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. Berlin 1933, S. 31, der diese Wendung im übrigen nicht kommentiert. 4 Siehe den Entwurf des Abg. v. Mangoldt v. 16. II. 1948, in: JöR n. F. I (1951 ), S. 32; vgl. auch C. Starc:k, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl., München 1985, Präambel Rdnr. 38. s H. Kraus, Die auswärtige Stellung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Bonner Grundgesetz, Göttingen 1950, S. 21. 2

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,,Bekenntnis, Ächtung, Deklamation und Pathos" zum Ausdruck. 6 So versichert uns Art. I II GG des Bekenntnisses des Deutschen Volkes ,.zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Art. 9 II GG erklärt Vereinigungen, die sich ,.gegen den Gedanken der Volkerverständigung richten", für verboten. Handlungen, die das ,.friedliche Zusammenleben der Volker [ ... ] stören", sind nach Art. 26 GG verfassungswidrig. Daneben enthält das Grundgesetz jedoch auch Anweisungen an die Verfassungsorgane über die innerstaatliche Geltung des Völkerrechts, die internationale Zusammenarbeit und die Europäische Integration. Die Gesamtheit dieser Bestimmungen, die Außenverfassung des Grundgesetzes läßt eine Grundorientierung erkennbar werden, eine Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit. 7 Sie bedeutet nicht nur eine Abkehr von überkommenen Sichtweisen der auswärtigen Beziehungen als Emanationen absoluter Souveränität.8 Vielmehr begründet sie einen neuen Staatstypus, den des ,.offenen Staates".9 Man kann heute nicht mehr sagen, daß durch ein derartiges Bekenntnis zur internationalen Einbindung der Staatlichkeil etwas für eine Verfassung Einzigartiges ausgesagt wäre. In den letzten beiden Jahrzehnten haben zahlreiche Staaten Europas ihre Verfassungstexte für die internationale Zusammenarbeit geöffnet. 10 Im 6 H.-D. Treviranus. Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, Tübingen 1966, S. 3; zur ,.werbenden Wirkung" als legitimer Funktion einer Verfassung Schmidt (Fn. 1). S. 67. 7 K. Vogel. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit. Tübingen 1964. s Man mag darüber streiten, ob im Staats- und Völkerrechtsdenken des 19. Jh. nationalistische oder kosmopolitische Strömungen überwogen, s. Vogel, (Fn. 7), S. 10 ff., 18 ff., der als Gegenmodell vor allem auf Fichtes "Geschlossenen Handelsstaat" verweist, im übrigen aber kosmopolitische Staatslehren zu Wort kommen läßt; erst gegen Ende des 19. Jh. habe der Zerfall der europäischen Zusammenarbeit isolationistische Tendenzen wieder aufleben lassen. Vgl. aber auch W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 652 ff.; St. Kadelbach, Wandel und Kontinuitäten des Völkerrechts und seiner Theorie, ARSPBeih. 71 (1997),S.l78/183ff. 9 U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, Tübingen 1998, S. 139ff. Das Bild von der ,.offenen Staatlichkeit" geht wohl auf eine begriffliche Anleihe bei der Sozialphilosophie zurück. Nach Henri Bergsan kennzeichnet der Normaltypus der "geschlossenen Gesellschaft" sozialethische Selbstbezüglichkeit, während eine "offene Gesellschaft" ihre Werte aus einer Moral bezieht, die sich auf die Menschheit als ganze richtet, s. Les deux sources de Ia morale et de Ia religion (1932), hier nach Ausg. Genf 1945, S. 31 ff., 255 ff. ; s. auch K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 7. Aufl., Tübingen 1992. Im Unterschied dazu bezeichnet der Begriff .,offener Staat" ein Gemeinwesen, das sich nicht nur in die Staatenwelt weltoffen einordnet, sondern aus ihr auch identitätsprägende Impulse aufnimmt. IO Siehe Grundprinzip VII und Art. 281 VII der jugoslawischen Verfassung i. d. F. von 1974; Kap. 10, § 5 der schwedischen Verfassung i. d. F. von 1975; Art. 28 der griechischen Verfassung von 1975; Art. 290 der portugiesischen Verfassung von 1976; Art. 93 der spanischen Verfassung von 1978. Zu Verfassungen seit 1960 neu entstandener Staaten den Hinweis bei P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: Recht und Gesellschaft, FS Helmut Schelsky, München 1978, S. 141/169 Fn. 136.

II*

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Jahre 1949 jedoch waren Vorbilder selten. Die irische Verfassung von 1937 bedeutete in ihrer .,Ergebenheit gegenüber dem Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit und Moral" (Art. 29 I) eine Rarität. In der Entstehungszeit des Grundgesetzes finden sich in der Präambel der Verfassung für die IV. Französische Republik von 1946 und sonst vor allem in den neu erarbeiteten Verfassungen der Weltkriegsverbündeten Deutschlands vereinzelt ähnliche Elemente. 11 Doch erscheinen die auf die internationale Ebene gerichteten Bestimmungen des Grundgesetzes in ihrer Summe besonders weitreichend. Die Verfassung nimmt dabei in ihrer Orientierung nach außen einen Zustand in Aussicht, der zu ihrer Entstehungszeit nur vage zu erkennen war. 12 Die historischen Begleitumstände für diese Neuorientierung sind bekannt, die Motive allseits gut in Erinnerung. Sie ist eine Reaktion auf eine Politik der nationalen lntrovertiertheit, die in politischer und kultureller Isolation auf unbedingtem Vorrang der nationalen Interessen bestand, und dies buchstäblich um jeden Preis. Maßgeblich war auch die völkerrechtliche Entwicklung der unmittelbaren Nachkriegszeit, die noch die Vision einer unteilbaren Welt (.,one world") 13 und den Wunsch nach einer durch Kooperation gekennzeichneten Ordnung erkennen ließ. Unbedingtes Friedensgebot und Gewaltmonopol der Vereinten Nationen nach der ON-Charta, 14 die Projekte des Währungssystems von Bretton Woods 15 und der Welthandelsordnung von Havanna 16 sowie gemeinschaftliche Bemühungen um den Wiederaufbau des zerstörten Europa 17 bestimmten das Bild. Das Grundgesetz sollte die Voraussetzungen schaffen, an dieser Ordnung weiter zu arbeiten.

II Präambel der japanischen Verfassung von 1947: .,entschlossen .. . , die Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Volkern zu erhalten". Art. 11 der italienischen Verfassung von 1947: ,Jtalien verwirft den Krieg als Mittel des Angriffs auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitfragen"; Satz 2 schafft die Möglichkeit, zur Wahrung einer entsprechenden Ordnung die Souveränität zu beschränken. Zu Österreich siehe L. Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien u. a. 1971. 12 Vgl. etwa die Wertungen von H. P. lpsen, Über das Grundgesetz, Harnburg 1950, S. 38 f.; M. Schröder, Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, in: P. Haungs (Hg.), Verfassung und politisches System, Stuttgart 1984, S. 67171. 13 Vgl. 0 . Kimminich, History of the Law of Nations since World War II, in: R. Bernhardt (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. II, 2. Aufl., Amsterdam u. a. 1995, S. 849ff. 14 H. Kelsen, The Law ofthe United Nations, New York 1951 , S. 13ff. 15 H. Coing, Bretton Woods Conference (1944), in: R. Bernhardt (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. I, 2. Aufl. Amsterdam u. a. 1992, S. 494 f. 16 G. Jaenicke, Havana Charter, in: Bernhardt (Fn. 13), S. 679 ff. 17 A. Weber, Geschichte der internationalen Wirtschaftsorganisationen, Wiesbaden 1983, S. 60ff.

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II. Grundgesetz und Volkerrecht Die Zielbestimmung der offenen Staatlichkeit der Bundesrepublik äußert sich als ein Verfassungsprinzip, das sich im Induktionsschluß aus verschiedenen Einzelbestimmungen zusammensetzen läßt. Methodisch wirkt es sich durch den verfassungsgerichtlich beständig angewandten Auslegungstopos der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes aus. 18 Das zugrundeliegende Prinzip ergibt sich erstens aus den Vorschriften über die Bedingungen, unter denen Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich gilt (sogleich 1.), zum zweiten aus der ausdrücklichen Unterwerfung unter die materiellen Grundvoraussetzungen des Nachkriegsvölkerrechts (nachfolgend 2.) und schließlich aus der Offenheit für die Mitwirkung am Prozeß der internationalen Zusammenarbeit (3.). 1. Innerstaatliche Geltung des Volkerrechts

a) Allgemeines Völkerrecht

Gegen Ende des 19. Jh. war in der deutschen Staatsrechtslehre die dualistische Doktrin herrschend geworden, der zufolge Völkerrecht und Landesrecht als streng getrennte Rechtskreise betrachtet wurden. 19 Die Übernahme des Völkerrechts in den innerstaatlichen Bereich setzte eine souveräne Entscheidung staatlicher Gewalt voraus. Gegenüber dieser Lehre bedeutete bereits Art. 4 WRV eine Öffnung, der die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts zu bindenden Bestandteilen des deutschen Reichsrechts erklärte. 20 Art. 25 GG, der die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das Bundesrecht übernimmt, ihnen Vorrang gegenüber den Gesetzen einräumt und sie als unmittelbar berechtigende und verpflichtende Normen inkorporiert, bedeutet gegenüber Art. 4 WRV jedoch in dreifacher Hinsicht eine Steigerung. 21 Zum einen wird nicht mehr wie zuvor von "allgemein anerkannten" Regeln des Völkerrechts gesprochen, sondern von allgemeinen Regeln. Damit kommt es nicht, wie noch flir die Weimarer Republik, darauf an, ob auch die Bundesrepublik Deutschland die Regel des Volkerrechts "anerkannt" hat. 22 Das Volkerrecht soll auf die innerstaatliche Rechtsordnung auch in Fällen einwirken können, in denen der Bund an deren Entstehung nicht mitgewirkt hat. 23 18

BVerfGE6, 309/362f.; 18, 112/121;31,58175.

19

H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, S. 111, 156, 254 ff.

2o Zu einem entsprechend gemäßigten Dualismus G. A. Walz. Völkerrecht und staatliches Recht, Stuttgart 1933, S. 7, 239 ff. 21 H. Steinberger. in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (HStR), Bd. VII, Heidelberg 1992, § 173, Rdnr. I ff. 22 Vgl. Anschütz (Fn. 3), S. 64f. 23 JöR n.F. 1 (1951), S. 234.

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Zum zweiten geht die ausdrückliche Vorrangbestimmung des Art. 25 S. 2 GG über Art. 4 WRV hinaus, da die allgemeinen Volkerrechtsregeln über dem Gesetz stehen. Zuvor besaßen sie nur den Rang einfacher Reichsgesetze. 24 Die im Parlamentarischen Rat vorgetragene Auffassung, die allgemeinen Volkerrechtsregeln gingen auch der Verfassung vor, 25 hat sich in Rechtsprechung und Lehre allerdings nicht durchsetzen können.26 Die Grundrechte und grundrechtsähnlichen Rechte können daher dazu führen, daß völkerrechtliche Normen Bedingungen unterworfen werden. So hat die Bundesrepublik Vorbehalte gegen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte erklärt, die den Grundsatz "nulla poena sine lege" verbürgen. 27 Beide Artikel enthalten in ihren zweiten Absätzen jeweils die sog. Nümberg-Ausnahme, einen Zusatz, daß dieser Schutz die Bestrafung von Personen nicht ausschließen dürfe, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach allgemeinem Volkerrecht strafbar waren. Ein Vorbehalt der Bundesrepublik zu diesen Konventionswerken stellt klar, daß eine gewohnheitsrechtliche Norm dem Bestimmtheitserfordemis des An. 103 II GG nicht genügt. Vielmehr ist die förmliche Regelung durch ein Strafgesetz erforderlich. Die Verfassung ordnet sich also das Volkerrecht unter. Drittens war neu, daß das Volkerrecht nunmehr ausdrücklich unmittelbar Rechte und Pflichten Einzelner begründet. Nach dem Willen der Weimarer Verfassung sollte dies zwar auch so sein?8 In der Praxis hatten die Gerichte jedoch häufig die Anwendung dieser Regeln verweigert, da ihre allgemeine Geltung nicht nachweisbar gewesen sei. Einer solchen Abschottung gegen das Volkerrecht sollte nunmehr dadurch begegnet werden, daß das Bundesverfassungsgericht über die individualschützende Zielrichtung einer Volkerrechtsnorm entscheidet (An. 100 II GG).29 Die praktische Bedeutung des Art. 25 GG war indes gering. Als Quellen "allgemeiner Regeln" kommen Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze gleichermaßen in Frage. 30 Davon scheint auch das Bundesverfassungsgericht auszugehen, auch wenn die wenigen Fälle, in denen es bisher den Bestand einer solchen Regel positiv festgestellt hat, durchgehend Gewohnheitsrecht betrafen. 31 Daß 24 Somit galt der Vorrang des jüngeren Gesetzes; den Geltungszeitpunkt der Völkerrechtsnorm bestimmte nicht ihre Entstehung, sondern ihre Anerkennung durch das Reich, s. Anschütz (Fn. 3), S. 70. 25 Siehe die Wiedergabe des von Abg. v. Brentano begründeten Antrags der CDU im Hauptsausschuß JöR n. F. 1 (1951), S. 235. 26 Für die h. M. etwa R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl. München 1994, s. 168. 27 Art. 7 EMRK, Art. 15 IPBPR. 28 Anschütz (Fn. 3), S. 63 f. 29 Siehe die Zusammenfassung der Debatte in JöR n. F. 1 (1953), S. 234 f. 30 A. Bleckroonn, Grundgesetz und Völkerrecht, Köln u. a. 1975, S. 291; Geiger (Fn. 26), s. 163. 31 Vgl. zur Staatenimmunität BVerfGE 16, 27/33- Heizungsreparatur; E 46, 342/367Botschaftskonto; zur Verteidigung im Strafverfahren E 63, 332/337 f. - Sami S. Skaff.

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derartige Beispiele so selten sind, dürfte weniger in einem Mangel an Bereitschaft der Gerichte zur Feststellung von Regeln des Völkerrechts liegen als darin, daß die Bedeutung des Gewohnheitsrechts gegenüber den internationalen Verträgen zurückgeht. Zur Anwendung derartiger, auch multilateraler Verträge sollen indes ohne weiteres die Fachgerichte berufen sein, ein Vorlageverfahren nach Art. 100 TI GG, das für Zweifelsfalle eingerichtet wurde, ist nicht zulässig. 32 Festzuhalten bleibt, daß das Grundgesetz dem allgemeinen Völkerrecht gegenüber günstig ist, indem es im Ergebnis die Einheit von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht herstellt. b) Venräge

Die Inkorporierung völkerrechtlicher Verträge geschieht in den in Art. 59 TI GG vorgesehenen Fällen durch Bundesgesetz. Die Regelung entspricht weitgehend Art. 45 WRV. Seit jeher besteht ein Streit der Gerichte und der Gelehrten darüber, ob Art. 59 GG im Sinne der traditionellen dualistischen Theorie oder aber als Ausdruck einer monistischen Konstruktion des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu verstehen sei.33 Die wohl herrschende Lehre hat sich für die völkerrechtsfreundlichere Vollzugslehre entschieden mit der Konsequenz, daß das Zustimmungsgesetz des Bundestages keine Umwandlung von Völkerrecht in internes Recht kraft staatlichen Hoheitsaktes bedeute, sondern eine Anwendbarkeitsecklärung darstelle, die auf den Vertrag "als Völkerrecht" verweise. Dem folgt auch die Praxis der Verfassungsorgane. 34 Eine gesteigerte Völkerrechtsfreundlichkeit läßt sich im Hinblick auf völkerrechtliche Verträge also weniger dem Text des Grundgesetzes selbst entnehmen als seiner Deutung durch Gerichte und Verfassungsorgane. BVerfGE 94, 315/328 ff. -Zwangsarbeit. Das BVerfG hat sich nicht eindeutig festgelegt: BVerfGE I, 396/411 - Generalvertrag und E 6, 309/363 - Konkordat verwenden ausdrücklich den Begriff der Transformation, später aber nicht mehr. Einige Urteile (wie E 18, 441/448- Spanier; 46, 3421363- Botscho.ftskonto) lassen sich i. S. d. (monistischen) Vollzugstheorie interpretieren. Im Sinne der Transfonnationslehre BVerwGE 35, 262/265, flir die Vollzugslehre BGHZ 52, 216/219. Der Streit zwischen Monisten und Dualisten ist im praktischen Ergebnis nicht mehr bedeutsam, da beide Theorievarianten anerkennen, daß es sich in Völkerrecht und staatlichem Recht um grundsätzlich gleichberechtigte Rechtskreise handelt und die Anwendung von Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich einen staatlichen Akt voraussetzt, s. für den "gemäßigten" Dualismus W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, Tübingen 1967, S. 146f., für den abgemilderten Monismus in Gestalt der Vollzugslehre K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, BDGVR 6 (1964), S. 24f. 34 Die Praxis nahm in Vertragsgesetze bis 1955 einen auf die Transformationstheorie weisenden Zusatz auf ("Die Konvention wird nachstehend mit Gesetzeskraft veröffentlicht ..."). Seit 1955 wird dieser Hinweis weggelassen. Im übrigen verweist das Zustimmungsgesetz auf den in seiner Anlage abgedruckten Vertrag. Dies wurde frühzeitig als Hinwendung zur Vollzugstheorie interpretiert, s. E. Kauftrumn, Nonnenkontrollverfahren und völkerrechtliche Verträge, in: GS W. Jellinek, München 1955, S. 445 ff.; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, Karlsruhe 1957, S. 14ff. 32 33

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Sowohl bezüglich des allgemeinen Völkerrechts als auch des Vertragsrechts ist die strenge Trennung zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht nach alldem einer Praxis gewichen, welche die Durchdringung des internen Rechts durch internationale Nonnen als verfassungsrechtlich gewollte Gegebenheit anerkennt.

2. Materielle Aufnahme von Völkerrecht

Die Völkerrechtsoffenheit des Grundgesetzes zeigt sich nicht nur in der unproblematischen Zulassung völkerrechtlicher Nonnen in die staatliche Sphäre. Noch aussagekräftiger sind materielle Bestimmungen, welche sich die beiden obersten Ziele der Charta der Vereinten Nationen zu eigen machen, die Erhaltung des Friedens (a) und die Wahrung der Menschenrechte (b).

a) Friedenserhaltung Der Friedenswille, der auch schon in der Präambel zu erkennen ist, kommt am deutlichsten in Art. 26 GG zum Ausdruck. Das Aggressionsverbot konnte im Jahre 1949 als gewohnheitsrechtlicher Satz gelten, der bereits über Art. 25 GG im innerstaatlichen Bereich unmittelbar geltendes Recht darstellte. In Zusammenschau mit Art. 9 II und dem in Art. 24 II GG in Aussicht genommenen Beitritt zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit unterstreicht Art. 26 GG die Bedeutung des Friedensgebotes als verfassungsrechtlicher Leitsatz.35 Er knüpft an die völkerrechtliche Ächtung des Krieges durch den Briand-Kellogg-Pakt von 192836 und an den Straftatbestand des "Verbrechens gegen den Frieden" an, den die Charta des Nürnberger Militärtribunals an die oberste Stelle der zu verhandelnden Anklagepunkte gesetzt hatte. 37 Das Grundgesetz stellt insoweit mit dem Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen Einklang her. Zwar scheint die Bestimmung auf den ersten Blick enger gefaßt als die völkergewohnheitsrechtliche Kompromißformel für die Aggressionsdefinition der Resolution 3314 der U.N.-Generalversammlung,38 als sie ein subjektives Element verlangt, die "Absicht ... , das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören", das in der U.N.-Resolution fehlt. Die im Grundgesetz gewählte Fonnulierung verfolgt indes, der Charta von Nürnberg folgend, das Ziel, auch Vorbereitungshandlungen einzubeziehen, die der völkerrecht35 Vgl. Th. Maunz, in: Tb. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz, München, Art. 26 Rdnr. 4 (Stand 1964). 36 League of Nations Treaty Series 94, 57; RGBl. 1929 II, 97; zum Ende des Zweiten Weltkrieges war dieses Abkommen von 58 Staaten ratifiziert. 37 Agreement for the Prosecution and Punishment of the Major War Criminals of the European Axis und Charter of the International Military Tribunal v. 8. 8. 1945, United Nations Treaty Series 82, 284; vgl. die . Hinweise der Abg. v. Mangoldt (CDU) und v. Brentano (CDU), wiedergegeben in JöR n. F. 1 ( 1951 ), S. 237 f. 38 U.N. GA Res. 3314 (XXIX) v. 14. 12. 1974, YUN 1974, 846.

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liehe Aggressionsbegriff nicht ausdrücklich umfaßt. Dementsprechend gebietet es Art. 26 GG, bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe zu stellen, so wie dies in § 80 StGB auch geschehen ist. Unproblematisch ergibt sich bereits hieraus, daß legitime Selbstverteidigung keine verbotene Kriegshandlung sein kann. Darüber hinaus ermächtigt Art. 24 ll GG den Bund, sich zur Wahrung des Friedens in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Darunter wurden im Parlamentarischen Rat völkerrechtliche Vertragsstrukturen verstanden, deren Mitglieder sich gegenseitig und voreinander Beistand versprachen. 39 Gedacht war an die Vereinten Nationen, in erster Linie aber an regionale Sicherheitssysteme im Sinne des Art. 53 UNC,40 die damals für Europa nicht zur Verfügung standen. Der wenig später entbrannte Streit um die Wiederbewaffnung gab bald Anlaß zu der Frage, ob darüber hinaus auch Verteidigungsbündnisse wie die WEU und die NATO als gegenseitige Sicherheitssysteme anzusehen sind. Sie ist völkerrechtlich wie verfassungsrechtlich seit jeher umstritten. 41 Das Bundesverfassungsgericht hat sich nach einigem Zögern dafür entschieden, auch die Verteidigungsbündnisse Art. 24 ll GG zuzuordnen und die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Auslandseinsätzen unter NATO-Befehl in einem Fall akzeptiert, in dem die NATO im Auftrag der UNO tätig war, da auch Verteidigungsbündnisse dem Erhalt des Friedens dienten. 42 Dies mag in der rechtlichen Zuordnung zweifelhaft sein, Reibungsflächen mit Wertungen des Völkerrechts ergeben sich im Ergebnis nicht. Nach Resolution 787 (1992) des Sicherheitsrates sieht es so aus, als werteten die Vereinten Nationen die NATO ebenfalls als ein derartiges System. Die Agendafor Peace des U.N.-Generalsekretärs von 1992 ordnet auch die Europäische Gemeinschaft den regionalen Systemen kollektiver Sicherheit zu. 43 Unstreitig fallt ferner die OSZE unter diesen Begriff. Verständlich wird die europäische Sicherheitsstruktur ohnehin erst, wenn sämtliche dieser Einrichtungen im Zusammenhang betrachtet werden.

39 ldS. Abg. Schmid (SPD), dem zufolge sich der Ausdruck "kollektive Sicherheit" als ,,fester juristischer Begriff' eingebürgert habe, JöR n. F. I (1951), S. 225. 40 Abg. v. Mangoldt (CDU}, ebd.: ,,Ich glaube nicht, daß wir zur Weltregierung kommen werden, ohne vorher durch Europa gegangen zu sein." 41 Dafür A. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Fn. 35), Art. 24 Abs. II Rdnr. IOff. (Stand 1992); K. Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII (Fn. 21), § 177, Rdnr. 6, 13; dagegen R. Wolfrum, Deutschland im Verteidigungsbündnis, ebd., § 176, Rdnr. 17; M. Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, Berlin New York 1997, S. 581/616. 42 BVerfGE 90, 286/350f.- Adria, AWACS, Somalia; unentschieden noch BVerfGE 68, 1/95 f.- Pershing. 43 Dazu R. Wolfrum, Der Beitrag regionaler Abmachungen zur Friedenssicherung: Möglichkeiten und Grenzen, ZaöRV 53 (1993), S. 576/578 f., 584ff.; Ch. Walter, Vereinte Nationen und Regionalorganisationen, Berlin u. a. 1996, S. 47 ff.

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b) Menschenrechte

Die Menschenrechte, der andere herausgehobene Tätigkeitsbereich der Vereinten Nationen,44 haben, wie die bereits zitierte Fonnulierung und die exponierte Stellung des Art. I ll GG zeigen, für die Identität des Grundgesetzes gleichfalls eine besondere Bedeutung. Die Bestimmung deutet mit den "Grundlagen jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" auf naturrechtlich Vorgegebenes. Dem entsprechend wird ihr eigenständige nonnative Bedeutung zugesprochen, wenn die positive Grundrechtsordnung an ihre Grenzen stößt, dh bei Sachverhalten außerhalb der zeitlichen und räumlichen Grenzen des Grundgesetzes: Sie trug zur Begründung für die Verwerfung nationalsozialistischer Rechtsvorschriften bei und spielte bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts eine Rolle. 45 Es geht also um die zeitlose Verpflichtung aller Staatsgewalt auf die Idee der Menschenrechte. Art. I II GG bringt die Menschenrechte zudem als negative Kompetenzschranke des Verfassungsstaates in Stellung,46 die über Art. 79 III GG am änderungsfesten Minimum des Grundgesetzes teilhat. Sie läßt sich zugleich als Pflicht verstehen, weltweit zur Verwirklichung der Menschenrechte beizutragen.47 Mit der Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten, die den Grundrechtskatalog durchzieht, hat der Menschenrechtsbegriff des Art. I ll GG also wenig zu tun. Dennoch lohnt die Frage, wie weit die Bundesrepublik mit der Verwirlichung der internationalen Menschenrechte vorangeschritten ist. Zieht man zunächst den Grundrechtskatalog selbst zu Rate, so zeigt sich, daß außer den politischen Rechten das Recht auf freie Versammlung (Art. 8 I GG), die Vereinsfreiheit (Art. 9 I GG), die Freizügigkeit (Art. 11 GG) und die Berufsfreiheit (Art. I2 GG) nur als Bürgerrechte ausgestaltet sind. Ausländische juristische Personen können sich zudem überhaupt nicht auf Grundrechte berufen (Art. I9 III GG). Dennoch genügt das Grundgesetz nicht nur wegen Art. 25 GG dem völkergewohnheitsrechtIichem Niveau,48 es überbietet ihn auch; denn der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, das Verbot von Diskriminierungen aus bestimmten, in der Person liegenden Gründen (Art. 3 III GG), die Wertgarantie des Eigentums und die Rechtsweggarantie, die in ihrer Gesamtheit den Mindesstandard ausmachen, den jeder Staat auch Fremden gegenüber schuldet, besitzen Verfassungsrang. Das Grundgesetz geht aber auch insofern darüber hinaus, als es die Religions- und Meinungsfreiheit, den Schutz von Ehe und Familie, die Koalitionsfreiheit, Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung ebenfalls zu verfassungskräftig gewährleisteten Menschenrechten erklärt. Siehe Ant. 1 Ziff. 3, 13 I lit. b), 55 lit c), 62 II, 76 lit c) UNC. BVerfGE 23, 98/106f.; 84, 90/121; dazu H. Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, Tübingen 1996, An. 1 II Rdnr. II. 46 E. Grabitz, Der Verfassungsstaat in der Gemeinschaft, DVBI. 1977, 786/790. 47 Vgl. Starck (Fn. 4), An. I Rdnr. 97; Ph. Kunig, in: I. v. Münch/Kunig (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 4. Auf!. München 1992, An. I Rdnr. 47. 48 Steinherger (Fn. 21 ), § 173 Rn. 72 f. 44

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Damit richtet das Grundgesetz die Bundesrepublik für die Erfordernisse einer international gewordenen Gesellschaft im Hinblick auf die Grundrechtsausübung sehr komfortabel ein. Auch wenn die Freizügigkeit über die Grenzen hinweg ebenso nur durch die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet ist49 wie die berufliche Betätigung von Ausländern; Meinungsaustausch, Presse- und Rundfunkfreiheit sind jedermann garantiert, so daß die Entstehung der oft geforderten europäischen Öffentlichkeit nicht an einem Mangel grundrechtlicher Gewährleistungen scheitern wird. Wie europaweit allgemein üblich, bleiben dabei sämtliche staatsbürgerlichen Rechte, vom später eingeführten kommunalen Wahlrecht für Unionsbürger (Art. 28 I 3 GG) abgesehen, den Deutschen vorbehalten (Art. 33 I GG). Da das Volk Ausgangspunkt aller staatlichen Gewalt ist (Art. 20 I GG), zu diesem aber nur gehört, wer Deutscher ist, muß sich einbürgern lassen, wer wählen und gewählt werden will.51



Im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Menschenrechtsschutz ist das Grundgesetz also menschenrechtsfreundlich, enthält aber, wie wohl alle Verfassungen, einige traditionell nationalstaatliche Vorbehalte zugunsten ausländerpolizeilicher Maßnahmen und der Ausübung der eigenen Staatsgewalt. Der Verfassungsappell zur Verwirklichung der Menschenrechte scheint nach diesem Befund eher auf die Außenpolitik gerichtet. Die Bundesrepublik ist ihm durch den Beitritt zu zahlreichen völkerrechtlichen Konventionen gefolgt, die dem Schutz der Freiheitsrechte, der sozialen Rechte und der Rechte Einzelner in bewaffneten Konflikten dienen. Geht es nach dem Wortlaut des Art. 59 II GG, genießen diese Übereinkommen innerstaatlich keinen höheren Rang als Gesetzesrecht Zumindest der EMRK hat jedoch das Bundesverfassungsgericht eine Sonderstellung verschafft, indem es die Gewährleitungen der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit unter Zuhilfenahme der Konvention konkretisiert und so auf die Ebene des Verfassungsrechts hebt. 52 Der Grundsatz der Volkerrechtsoffenheit des Grundgesetzes hat hier eine eigene Dynamik gewonnen.

3. Institutionelle Zusammenarbeit

Das Grundgesetz eröffnet dem Bund weitreichende Möglichkeiten, sich an institutionalisierten Kooperationsformen in den internationalen Beziehungen zu beteiligen. Die Bundesrepublik hat von diesen Optionen in allen Sachbereichen Gebrauch gemacht. Auf allen Politikfeldern, sei es in Wohlfahrt, Sicherheit oder BVerfGE 6, 32/35 f. - Elfes. so Dazu St. Kadelbach, Staatsbürgerschaft, Unionsbürgerschaft, Weltbürgerschaft, in: J. Drexl u. a. (Hg.), Europäische Demokratie, Baden-Baden 1999, S. 89/105 f. Sl BVerfGE 83, 60/72 f. - Kommunalwahlrecht für EG-Bürger. 52 BVerfGE 74, 358/370- Unschuldsvennutung; 82, 106/119f.; vgl. auch 92,91- Feuerwehrabgabe, wo das BVerfG eine frühere Entscheidung korrigiert, um sich nicht zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Widerspruch zu setzen. 49

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Herrschaft,53 beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland an internationalen Organisationen, insgesamt an 458. 54 Dem Bereich der nationalen und internationalen Wohlfahrt dienen die organisatorischen Strukturen der Wirtschaftsbeziehungen. 55 Das Feld ,,Sicherheit" wird von den bereits erwähnten Systemen kollektiver Sicherheit und der Verteidigung besetzt. Im Sachbereich Herrschaft, wo es vor allem um die Wahrung der Menschenrechte geht, ist der Bund u. a. Mitglied der Vereinten Nationen und der mit ihnen verbundenen Organisationen wie etwa der Internationalen Arbeitsorganisation. Er wirkt an der Wertegemeinschaft des Europarates mit und hat allein 105 der 159 Konventionen ratifiziert, die von dieser Organisation aufgelegt worden sind. 56 Für die meisten dieser Beteiligungen genügt als Grundlage Art. 59 II 1 GG, im Hinblick auf die militärischen Bündnisse begründet Art. 24 II GG eine eigene Kompetenz. a) Übertragung von Hoheitsrechten

Eine Besonderheit stellt indes die Ermächtigung des Art. 24 I GG dar, "durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen [zu] übertragen". Ihr kommt eine anfangs nicht in dieser Tragweite gewürdigte Schlüsselfunktion bei der verfassungsrechtlichen Orientierung an einer internationalen Kooperation zu.57 Die potentiellen Folgen, welche die Inanspruchnahme des Art. 24 I GG nach sich zieht, sind weitreichend. Er schreibt dem Gesetzgeber die Fähigkeit zu, ohne Einhaltung der Kautelen, die Art. 79 III GG für eine Verfassungsänderung aufstellt, das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes zu verändern und damit Wirkungen hervorzubringen, die bis zu diesem Zeitpunkt nur der Gesetzgeber eines Bundesstaates gegenüber den Verfassungen seiner Gliedstaaten erzielen konnte. Dem "völkerrechtlichen Gesetzgeber"58 kann die Kompetenz zugestanden werden, mit unmittelbarer Wirkung für und gegen Einzelne Hoheitsakte zu setzen. 59 Von der Präam53 Zu dieser politikwissenschaftlichen Kategorisierung E.-0. Czempiel, Internationale Politik, Paderbom 1981, S. 198; V. Rittberger, Internationale Organisationen, 2. Aufl. Opladen 1995, S. 151 f. S4 Union of lnt'l Associations (Hg.), Yearbook of Int'l Organizations 35 (1998199), Bd. II,S.1771. 55 Dazu Sclunidt (Fn. 1), S. 65 ff. 56 www.coe.fr I fr I txtjur I ratpays I fratgerrn I htrn, im Juni 1999. 51 V gl. noch W. Grewe, Das Grundgesetz. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland, DRZ 1949, S. 3131315, der die Bestimmung noch als Programmsatz betrachtete; anders dann ders., Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12 (1954), S. 1291147. Die Wortlautfassung ist, wie allgemein festgestellt, in mehrfacher Hinsicht ungenau. Denn weder lassen sich die Zuständigkeiten des modernen Staates als System von "Hoheitsrechten" verstehen, noch können Kompetenzen regelrecht "übertragen" werden, und die Begründung von Befugnissen zwischenstaatlicher Einrichtungen geschieht durch einen völkerrechtlichen Vertrag, aber nicht durch ein Gesetz, vgl. Vogel (Fn. 7), S. 3 f. ss Vogel (Fn. 7), S. 8 f., 35.

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bei der französischen Verfassung von 1946 und von Art. 11 der italienischen Verfassung von 1947 abgesehen, war diese Bestimmung zum damaligen Zeitpunkt ohne jede Entsprechung in der europäischen Verfassungsgeschichte. Sie wird daher zu Recht als einer der wichtigsten Belege für die internationale Offenheit des Grundgesetzes angesehen. 60 Schon vor Einfügung des neuen Art. 23 GG in das Grundgesetz räumte diese Bestimmung dem Bund bewußt die "supranationale Option" ein. 61 Die Mitglieder des Grundsatzausschusses im Parlamentarischen Rat dachten hier bereits an die Schaffung einer europäischen Behörde mit Zuständigkeiten für den Kohlebergbau, aber auch an eine internationale Elektrizitätsaufsicht und eine zwischenstaatliche Flugverkehrsorganisation.62 Auf der Grundlage des Art. 24 I GG wurden die Montanunion, Euratom, die EWG und die Flugsicherheitsorganisation Eurocontrol mit Kompetenzen ausgestattet, nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ferner die NAT0. 63 b) Internationale Gerichtsbarkeit

Bestandteil der Friedenssicherung und der internationalen Zusammenarbeit gleichermaßen ist die Beteiligung an friedlichen Formen der Streitbeilegung (Art. I Ziff. 3 UNC). Art. 24 Ill GG bekundet, daß der Bund einer allgemeinen, umfassenden, obligatorischen, internationalen Schiedsgerichtsbarkeit beitreten werde. Nach inzwischen einhelliger Meinung begründet Art. 24 III GG nicht bloß eine Ermächtigung, sondern eine Pflicht zum Beitritt. Gemeint sind nicht nur Schiectsgerichte im strengen Sinne, sondern überhaupt jegliche Form der völkerrechtlichen Streiterledigung. 64 Hierzu gehört nicht die bedeutendste justizförmliche Streitschlichtungsinstanz, der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, da diese nicht "obligatorisch" (Art. 24 III GG) ist.65 Diese Wertung könnte sich ändern, wenn der IGH durch mehr Staaten vorbehaltlos anerkannt würde als dies gegenwärtig der Fall ist. Zur Zeit ist es indes verfassungsS9 Ch. Tomuschat, in: R. Dolzer I K. Vogel (Hg.) BK, Heidelberg, Art. 24 Rdnr. 8 ff. (Zweitbearb. 1981), spricht von .,Durchgriff'. 60 Vogel (Fn. 7), passim; H. P. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 52 ff.; H. Mosler; Übertragung von Hoheitsgewalt, in: HStR VII (Fn. 21 ). § 175 Rdnr. I , 4. 61 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. München 1984, § 15 I 2. 62 JöR n.F. I (1951 ), S. 224; M. Bennanseder; Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat, Berlin 1998, S. 189ff. und durchgehend. 63 BVerfGE 68, 1/91 ff.- Pershing. 64 H. Mosler; Internationale Streitschlichtung, in: HStR VII (Fn. 21), § 179, Rdnr. 13. 6S Die Bundesrepublik ist Partei des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (BGBI. 1973 li, 505), hat aber keine allgemeine Unterwerfungserklärung gern. Art. 36 II des IGH-Statuts abgegeben. Die bisher von ihr geführten Verfahren wurden dem IGH aufgrund spezieller Vereinbarungen zwischen den Streitparteien vorgelegt.

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rechtlich unschädlich, daß sich die Bundesrepublik seiner Gerichtsbarkeit nicht generell unterworfen hat. 66 Dagegen ist sie Partei des Übereinkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle, durch das der Ständige Schiedshof in Den Haag gegründet wurde,67 sowie des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten. 68 Bei beiden ist die Zuordnung zu Art. 24 III GG problematisch, da es sich nicht um weltweit akzeptierte und somit nicht um "allgemeine" Gerichtsbarkeit handelt. 69 Vertragliche Streitbeilegungsverfahren, denen sich die Bundesrepublik unterworfen hat, existieren etwa auf der Grundlage der Wiener Vertragsrechtskonvention70 und im Rahmen der UN-Seerechtskonvention71 sowie, praktisch bedeutsamer, im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes72 und vor der Welthandelsorganisation. Diese Gerichtsbarkeiten sind wieder nicht "umfassend", sondern sachlich begrenzt. Die von Art. 24 III GG in Aussicht genommene Weltgerichtsbarkeit gibt es also ebensowenig wie eine Weltregierung (Art. 24 I GG) oder eine Weltpolizei (Art. 24 II). Man mag dies als einen weiteren Beweis für den Weitblick des Parlamentarischen Rates werten.

111. Die Abbildung strukturprägender Staatsprinzipien in den auswärtigen Beziehungen Volkerrecht und internationale Zusammenarbeit besitzen demnach für das Grundgesetz einen hohen Stellenwert, der die Begriffsschöpfung des "kooperativen Verfassungsstaates" rechtfertigt. 73 Andererseits definiert sich der Verfassungsstaat durch materielle und formelle Verfassungsprinzipien, die sich ihrerseits im klassischen Volkerrecht und in den internationalen Beziehungen nicht oder nur rudimentär wiederfinden: Grundrechte, Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, unabhängige Gerichtsbarkeit, demokratische Legitimation staatlicher Ge66 Vgl. Tomuschat, in: BK (Fn. 59), Art. 24 Rdnr. 204 und 208; Zuleeg, in: AK-GG, 2. Aufl. Darmstadt Neuwied 1989, Rdnr. 83; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Fn. 35), Art. 24 Abs. III Rdnr. 18; Rojahn, in: v. Münch/Kunig (Fn. 47), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. München 1995, Art. 24 Rdnr. 56; anders N. Wühler, Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der völkerrechtlichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland, Berlin u. a. 1985, S. 49 ff. 67 Vom 18. 10. 1907, RGBl. 1910,5. 68 Vom 29. 4. 1957, BGBl. 1961 II, 81. 69 Vgl. Wühler (Fn. 66), S. 48 mit Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Fn. 35), Art. 24 III Rdnr. 15f. 70 Art. 66 und Anh. WVK v. 23. 5. 1969, BGBl. 198511,926. 71 Art. 287 SRK v. 10. 12. 1982, BGBl. 199411, 1798. n Siehe etwa das II. Zusatzprotokoll zur EMRK v. II . 5. 1994, BGBl. 1995 II, 579. 73 Häberle (Fn. 10), S. 142.

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walt und pluralistisch angelegte politische Willensbildung. Soll zwischen diesen Verfassungsentscheidungen und völkerrechtlichen Grundentscheidungen tatsächlich Wechselbezüglichkeit bestehen,74 müssen diese Prinzipien ihrerseits auf die internationale Ebene einwirken können. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Durch Überwirkung der Verfassungsentscheidungen in den Bereich der auswärtigen Gewalt (sogleich 1.) und durch die Projektion des gesamten Verfassungsstaates in die Außenwelt (2.).

1. Verfassungsbindungen bei Ausübung der Auswärtigen Gewalt

a) Demokratie

In der innerstaatlichen Kompetenzverteilung hat sich das überkommene Prinzip erhalten, die Gestaltung der auswärtigen Beziehungen der Exekutive zu überlassen. Das Parlament ist nur in vergleichsweise engen Grenzen mitspracheberechtigt Punktuelle Erweiterungen durch die Praxis, etwa bei bestimmten Verwaltungsabkommen,75 können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Bundestag hier keine herausgehobene Rolle spielt: Weder nimmt er in nennenswertem Umfang Einfluß auf Vertragsverhandlungen, noch kann er mehr viel ausrichten, wenn völkerrechtliche Verträge die Setzung von Sekundärrecht vorsehen, vom weiten Feld der informalen Politikgestaltung nicht zu reden. Der faktische Druck, die Bundesrepublik nicht durch völkerrechtswidrige Rechtsetzung in Widersprüche zu verwickeln, entzieht dem Bundestag Gegenstände in dem Umfang, in dem diese inter- oder supranational geregelt werden. Die Exekutive geht daraus gestärkt hervor. Zugleich fließen ungefiltert plebiszitäre Elemente in die Außenpolitik ein, die nur sehr beschränkt als demokratischer Gewinn verbucht werden können. In der Diskussion um die Stärkung der Rechte des Parlaments in auswärtigen Angelegenheiten, die seit Jahren geführt wird, 76 hat bisher das Argument der Handlungsfähigkeit in der 74 Vgl. Ch. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7/26ff., 38ff.; Häberle (Fn. 10), S. 152f.; Sehröder (Fn. 12), S. 72ff. 1s Zur Problematik der Zustimmungsbedürftigkeit sog. Parallelabkommen, also Verwaltungsabkommen, welche die Legislative für die Zukunft auf die Beibehaltung einer zur Zeit des Vertragsschlusses bestehende, dem Vertrag parallele innerstaatliche Rechtslage festlegen s. F. J. Jasper, Die Behandlung von Verwaltungsabkommen im innerstaatlichen Recht (Art. 59 Abs. 2 S. 2 GG), Düsseldorf 1980, S. 133 f.; U. Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, München 1986, S. 222f.; /. Pernice, in: H. Dreier (Hg.), Grundgesetz II, Tübingen 1998, Art. 59 Rn. 35. Die Praxis löst diesen Konflikt idR. durch Vorlage problematischer Abkommen an das Parlament, s. Rudolf(Fn. 33), S. 218; F. Regehr, Die völkerrechtliche Vertragspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, München 1974, S. 64ff., jew. mit Beispielen; H. D. Treviranus, Inkraftsetzen völkerrechtlicher Vereinbarungen durch Rechtsverordnungen, NJW 1983, S. 1948 I 1951. 76 R. Wolfrum, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 ( 1998), 7 ff.; zur Schweiz L Wildhaber ebd., S. 67 ff., zu Österreich Th. Öhlinger ebd., S. 81 ff.

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Außenpolitik, die durch den Bundestag behindert werde, die Oberhand behalten.77 Ein regelrechtes Demokratiedefizit wird in den internationalen Beziehungen selten beklagt,78 anders als im Hinblick auf die Europäische Union.79 Nach dem herrschenden Demokratieverständnis sind beide Fälle unproblematisch, da die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung eine hinreichende Legitimationsgrundlage schafft. 80 Ist mithin die Beobachtung, daß das Eintreten des Bundes für die Demokratie nach außen ohne substantielle Beteiligung des Bundestages stattfindet, rechtlich nicht zuverlässig faßbar, so weist sie doch auf eine paradoxe Erscheinung hin: In dem Maße, in dem sich der Verfassungsstaat internationalisiert, entmachtet er sein eigenes Parlament. 81 Im parlamentarischen Alltag bietet sich indes ein differenzierteres Bild. Die Außenpolitik ist im Wahlkampf ein wesentlicher Faktor. Sie steht im Bundestag regelmäßig auf der Tagesordnung. Parlamentarische Ausschüsse befassen sich mit den auswärtigen Beziehungen, der Verteidigung, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und den Menschenrechten. Abgeordnete, Parlamentariergruppen und Kommissionen bereisen Krisengebiete, knüpfen Bindungen zu sich im Aufbau befindlichen Staaten, stellen Kontakte zur heimischen Wirtschaft her, inspizieren die Durchführung von Wahlen, sprechen mehr oder minder deutliche Worte über die Menschenrechtssituation, oder nehmen an Protestveranstaltungen gegen Atomtests teil. Über der Bewertung im Verfassungstext angelegter Mechanismen darf mithin nicht übersehen werden, daß sich auf informale Weise eine Einflußnahme der Volksvertretung auf die Außenpolitik entwickelt hat, die von erheblichem, wenn auch schwer meßbarem Gewicht ist. b) Föderalismus

Dem Bedürfnis, die auswärtige Gewalt in der Regierung zu bündeln, wird auch ein anderes strukturbildendes Prinzip des Grundgesetzes untergeordnet, der Föderalismus. Gleichwohl geht die Verfassung in dem Bemühen, den Bedürfnissen der 77 Grewe (Fn. 57), S. 173; vgl. aber auch Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12 (1954), S. 179/205ff.; Schmidt (Fn. 1), S. 100; weitergehend Wolfrum (Fn. 76), S. 45 ff. 78 Ansätze beiM. Hilf/F. Schorkopf, Das Europäische Parlament in den Außenbeziehungen der Europäischen Union, in: J. Drexl u. a. (Hg.), Europäische Demokratie, Baden-Baden 1999, s. 125 ff. 79 IdS. etwa W Hänsch, Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, EA 41 (1986), S. 19l/198ff.; G. Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, GS Wilhelm Kar! Geck, Köln u. a. 1989, S. 625 ff.; J. H. Weiler, Europäisches Parlament, europäische Integration, Demokratie und Legitimität, in: 0. Schmuck/W. Wessels (Hg.), Das Europäische Parlament im dynamischen Integrationsprozeß: Auf der Suche nach einem zeitgemäßen Leitbild, Baden-Baden 1989, S. 73 ff.; D. Grimm, BrauchtEuropa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581/587. HO Vgl. BVerfGE 89, 155/182, 184ff. -Maastricht. 81 Tomuschat (Fn. 74), S. 27; Sehröder (Fn. 12), S. 74.

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Länder Rechnung zu tragen, recht weit. Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Verträge schließen (Art. 32 III GG). Zwischen Bund und Ländern ist seit langem umstritten, ob diese Zuständigkeit eine konkurrierende oder eine ausschließliche ist, ob also der Bund die Kompetenz an sich ziehen kann oder nicht. 82 Das sogenannte Lindauer Abkommen, das am 14. 11. 1957 zwischen der Bundesregierung und den Staatskanzleien der Länder geschlossen wurde,83 schreibt die Zuständigkeit ftir Verträge, die im Schwerpunkt Bundeskompetenzen betreffen, dem Bund zu. Bei ausschließlicher Länderzuständigkeit soll der Bund das Einverständnis der Länder herbeiführen, bevor der Vertrag völkerrechtlich verbindlich wird. Für Maßnahmen zur Erweiterung der Europäischen Union hat der neue Art. 23 GG die Länderrechte aufgewertet, ihre Wahrnehmung jedoch nicht den Länderregierungen oder -parlamenten, sondern dem Bundesrat überantwortet. 84 Durch die Verfassungsreform von 1992 ist den Ländern zudem die Möglichkeit eröffnet worden, "Hoheitsrechte auf grenznachbarliche Einrichtungen [zu] übertragen" (Art. 24 I a GG). Darunter sind zwischenstaatliche regionale Einrichtungen zu verstehen, die über die bisherigen Formen grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit hinausgehen. Gedacht ist an eigenständige Einrichtungen mit Hoheitsgewalt im Schul- und Hochschulwesen, der Abfall- und Abwässerbeseitigung, Polizei u.ä., denen etwa das Recht eingeräumt werden kann, Benutzungsordnungen zu erlassen und Gebühren zu erheben.85 Art. 24 I GG bot ftir derartige Verbundsysteme keine Basis. Durch die Verfassungsreform von 1992 ist demnach das föderative Element in den auswärtigen Beziehungen gestärkt worden.

c) Grund- und Menschenrechte Die Grundrechte entfalten zunächst einmal kraft der völkerrechtlichen Personalhoheit Wirkungen außerhalb des Bundesterritoriums. Die grundrechtliehen Schutzpflichten stellen die innerstaatliche Basis für die Ausübung diplomatischen Schutzes dar. 86 Da es die Funktion der Schutzpflichten ist, Grundrechtsschutz dort herzustellen, wo die Inhaber der Rechte hierzu nicht in der Lage sind,87 erscheinen sie 82 W Grewe, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, Heidelberg 1988, § 77 Rn. 84 f. 83 Abgedr. bei Maunz/ Dürig (Fn. 35), Art. 32 Rn. 45. 84 Zur Rechtslage bis lokrafttreten des Vertrages von Maastricht BVerfGE 92, 203/231 ff. - Fernsehrichtlinie. 85 Vgl. K. Schmalenbach, Der neue Buropaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, Berlin 1996, S. 169 ff. 86 BVerfGE 55, 349/367 - Rudolf Hess. 87 J. lsensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: J. lsensee I P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, Heidelberg 1992, § 111, Rn. 88 ff.

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dafür aus innerstaatlicher Sicht in der Tat der richtige Ort. Allerdings kann der Staat bei Ausübung seiner Schutzpflichten einen Ennessensspielraum nutzen, der außenpolitischen Rücksichten und anderen Gemeinwohlinteressen Platz bietet. So spricht nichts dagegen, wenn der Bund sein politisches Ennessen mit dem Ziel der Wahrung der Menschenrechte ausübt. Es steht ihm in diesem Rahmen frei, die Gewährung diplomatischen Schutzes für im Ausland tätige deutsche Unternehmen etwa gegenüber Enteignungen von der Einhaltung arbeits-, sozial- oder umweltrechtlicher Minimalstandards abhängig zu machen. 88 Vom überkommenen Staatsverständnis aus betrachtet interessanter ist die Frage, ob die Grundrechte auch Personen zugute kommen, die weder der Territorial- noch der Personalhoheit des Bundes unterliegen. Übt der Verfassungsstaat im Ausland Hoheitsgewalt aus, liegt es nahe, seine Bindung an die Verfassung, insbesondere an die Grundrechte anzunehmen. Die durch Art. I III GG angeordnete Verpflichtung der auswärtigen Gewalt auf die Grundrechte soll sich daher auch auf Wirkungen erstrecken, die im Ausland eintreten. 89 Die Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes sind demnach in vollem Umfang an die Grundrechte gebunden. 90 Doch sind Minderungen des Schutzstandards in Kauf zu nehmen, wenn anders die Grundrechte noch weniger verwirklicht würden. Daher durfte für deutsche Schiffe, die mit ausländischer Mannschaft fahren, durch Gesetz der Grundrechtsstandard reduziert werden, um ein Ausflaggen in Länder zu verhindern, in dem das Schutzniveau noch niedriger liegt. 91 Durch diese Relativierung wird der verfassungsstaatlichen Negativutopie der Globalisierung Tribut gezollt. Nach denselben Grundsätzen dürften auch Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich durch die Grundrechte maßvoll begrenzt sein. Mit dieser Feststellung verbinden sich Anforderungen an die rechtlichen Grundlagen. Auf der Ebene der Rechtfertigung denkbarer Eingriffe relativiert sich diese Bindung jedoch durch das Einsatzziel, das im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung eine Zurückdrängung beeinträchtigter Rechte zulassen kann. Die Grundrechte wirken also im Ausland auf zweierlei Weise: Zum einen hat der Staat ein Ennessen, ob er sich für den Grundrechtsschutz seiner eigenen Staatsangehörigen gegenüber fremder Staatsgewalt einsetzen will. Zum anderen ist er im Ausland selbst gegenüber Ausländern in gewissen Grenzen an die Grundrechte 88 / . Seidl-Hohenveldern, International Economic "Soft Law", Recueil des Cours-Collected Courses of the Hague Academy of International Law 1979 II, S. 165/199; Ch. Schreuer, Die innerstaatliche Anwendung von internationalem "soft law" aus rechtsvergleichender Sicht, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1983, S. 243/254. 89 BVerfGE 6, 290/295- Deutsch Schweizerisches Kriegsfolgenabkommen; 51, 9/23Auslieferungsersuchen aus der Schweiz. Vgl. im übrigen R. Bernhardt, in: HStR VII (Fn. 21), § 174 Rn. 22; R. Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, Berlin u. a. 1994,S.l3ff. 90 Siehe B. Pieroth/B. Schlink. Grundrechte - Staatsrecht II, 14. Aufl. Heidelberg 1998, Rdnr. 189. 91 BVerfGE 92, 26/42- Zweites Schiffahrtsregister.

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gebunden. Diese Wertung liegt zum Schutz der Menschenrechte durch die EMRK parallel: Subjektive Rechte sind die Kehrseite der Ausübung von Hoheitsgewalt und dieser gleichsam akzessorisch. 92 Andere Staaten einschließlich des Herkunftslandes sind zur Intervention nur berufen, wenn der international geltende Mindeststandard nicht beachtet wird. 2. Der Verfassungsstaat als Gestaltungskriterium der Außenpolitik

Die Wirkungsmacht der demokratischer Strukturen, die föderalistische Staatsorganisation und die Bindung an die Grundrechte bilden also den Hintergrund für die Ausübung der auswärtigen Gewalt. Danach scheint der nächste Schritt unvermeidlich: Die Strukturen des Verfassungsstaates gestalten nicht nur das Verfahren, sondern auch die Inhalte der Außenpolitik. Der Verfassungsstaat drängt auf Dauer gleichsam von selbst zur weiteren Verbreitung der Grundwerte, die ihn ausmachen. Eine deutliche Aussage im Hinblick auf die normativ gesicherte Erwartung gegenüber internationalen Einrichtungen, daß diese den eigenen Standards entsprechen, macht Art. 23 I GG. Die Staatszielbestimmung der Mitwirkung an der Europäischen Union ist davon abhängig, daß diese demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie der Subsidiarität verpflichtet bleibt und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Dieses Verlangen ist, von berechtigter Kritik im einzelnen abgesehen,93 legitim, übt doch die Europäische Gemeinschaft ihrerseits Hoheitsgewalt auf dem Gebiet der Bundesrepublik und mit Durchgriffswirkung gegenüber Einzelnen aus. Skepsis verdient indes der Versuch, die Maßstäbe des Verfassungstaates zum außenpolitischen Handlungsprogramm auch dann zu erheben, wenn es nicht um die Begrenzung heteronomer Herrschaft auf deutschem Boden geht. Bislang bestand in den Grenzen des ordre public und des Völkerrechts Respekt vor der Eigenverantwortung fremder Staatsgewalt. 94 Wer die Gewähr von Krediten, finanzielle 92 Zumindest Art. I EMRK stellt auf die Herrschaftsgewalt ab; Art. 2 I IPBPR beschränkt den Schutz auf Personen, die sich im Gebiet eines Vertragsstaates befinden und seiner Herrschaftsgewalt unterstehen. 93 So bleibt die Bedeutung der Verpflichtung der Europäischen Union auf Sozialstaatlichkeit vorerst dunkel, s. U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBI. 1993, 936/944f.; J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 585/586f.; P. Badura, Die Kunst der föderalen Form- Der Bundesstaat in Europa und die europäische Föderation, in: FS Peter Lerche, München 1993, s. 369/380. 94 BVerfGE 18, 112/121; 31. 58175f. Dazu E. Jayme/K. M. Meessen, Staatsverträge zum Internationalen Privatrecht, BDGVR 16 (1975), 7/29f.; 49/68ff.; 0. Sandrock. Das "einseitige Kollisionsrecht für die Verfassung" und das ausländische Privatrecht: Viel Lärm um nichts?, in: Internationales Recht und Wirtschaftsordnung, FS F. A. Mann, München 1977, 267ff.

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und technische Hilfe, die Beseitigung von Handelsschranken u.ä. von der Einhaltung der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte abhängig machen will, begibt sich in die "Hölle der guten Absichten". 95 Wird dies zu weit getrieben, kommen Unklarheiten über die Reichweite der angelegten Maßstäbe auf. 96 Die Politik verwickelt sich in Widersprüche, wenn sie im einen Fall handelt, im anderen untätig bleibt. Dem läßt sich begegnen, wenn feste Regeln und klare Konzepte bestehen und Ausnahmen streng begrenzt werden.97 Eine strenge Orientierung am Völkerrecht muß aber oberste Leitlinie sein. Dazu gehört auch das Interventionsverbot, das Verbot in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen. Oft wird gesagt, Menschenrechte seien keine innere Angelegenheit mehr. Die Charta der Vereinten Nationen ist hier jedoch vorsichtig formuliert.98 Eine klare Linie zwischen altruistischer Intervention und dezidierter Einflußnahme auf das Herrschaftssystem anderer Staaten ist diesseits eindeutiger Fälle bisher noch nicht sichtbar geworden. Wenn die werbende Kraft liberal-rechtsstaatlicher Errungenschaften allein nicht genügt, ist Zurückhaltung angebracht. Der Verfassungsstaat kann sich nicht verabsolutieren, Verfassungsaltruismus darf nicht zur Zwangsmissionierung ausarten. Niemand vermag zur Zeit zu sagen, ob sich nicht eine solche Haltung eines Tages, unter gewandelten Voraussetzungen, gegen den Verfassungsstaat kehren würde. 99 Nach diesen Prinzipien sind auch und erst recht militärische Expeditionen gegen Pariastaaten zu beurteilen. Die humanitäre Intervention muß erwogen werden dürfen, wenn sie das letzte Mittel darstellt und auch geeignet ist, um einen Völkermord zu verhindern. 100 So waren die schweren Menschenrechtsverletzungen, die sich auf jugoslawischem Boden in der jüngsten Vergangenheit immer wieder abspielten, ein tauglicher Anlaß für ein militärisches Einschreiten. 101 Es wäre jedoch St. Hoffmann, The Hell of Good Intentions, Foreign Policy 29 (Winter 1977/78), S. 3 ff. Zum Problem des kuturellen Relativismus der Menschenrechte W Graf Vitzthum, in ders. (Hg.), Völkerrecht, Berlin New York 1997, I. Abschn. Rdnr. 81 ff. '17 Tomuschat (Fn. 74), S. 45 f.; Ch. Müller. Die Menschenrechte als außenpolitisches Ziel. Das Beispiel der amerikanischen Politik der Jahre 1973 - 1980, Baden-Baden 1986, S. 101 ff. (dort S. 110 n. 65 auch der Hinweis auf Hoffmann). 98 Nach Art. I Ziff. 3 und nach Art. 55 lit. c) UNC .Jördem" die VN "die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte", in Art. 56 verpflichten sich die Mitgliedstaaten mit den VN zusammenzuarbeiten, um dieses Ziel zu erreichen. Dagegen ermächtigen Art. 40-42 UNC den Sicherheitsrat bei Friedensbedrohungen zu Zwangsmaßnahmen. 99 Zum fraglichen verfassungsstaatlichen Konsens unter den Intervenienten J. Jsensee, Weltpolizei für Menschenrechte, JZ 1995, 421/428 f. 1oo So gegen die (damals noch) ganz h. M. St. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, Berlin 1992, S. 233f.; zum Problem eigehend H. Rumpf, Der internationale Schutz der Menschenrechte und das Interventionsverbot, Baden-Baden 1981, S. 27 ff., 57 ff., 76 ff., 89 ff.; A. Pauer. Die humanitäre Intervention, Basel 1985; Ch. Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, EA 1993, S. 93ff.; H.-1. Blanke, Menschenrechte als völkerrechtliche lnterventionstitel, AVR 1998, 257 ff. 101 Kritik ist indes im Hinblick auf die in der Kosovo-Krise gewählte Strategie des Bombardements aus der Luft anzumelden, die von Anfang an untauglich war, um Übergriffe auf 95 96

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gefährlich, die Eingriffsschwelle zu senken. Die Menschenrechte sind in ihrer Reichweite zu umstritten und diffus, um einen generellen Eingriffstitel bieten zu können. 102 Daher wäre, um bei der Kosovo-Krise zu bleiben, die Durchsetzung des Dokuments von Rambouillet mit Waffengewalt nicht in jeder Hinsicht unbedenklich. Die in diesem Plan vorgesehenen Minderheitenrechte zugunsten der Kosovaren und der im Kosovo lebenden Serben genügen sicher höchsten Standards. Genau darin liegt indes das Problem: Da kaum ein Staat der Welt entsprechenden Schutz gewährt, fragt sich, wo die Legitimation für dessen gewaltsame Durchsetzung liegen sollte. Innerhalb des Bezugsrahmens des Grundgesetzes ist die Außenpolitik in einen Widerspruch zwischen ihren Fundamentalzielen geraten, der Wahrung des Friedens und dem Einsatz für die Menschenrechte. Aus einer verfassungsstaatlichen Wertung heraus ist die Entscheidung im Kosovo-Konflikt zugunsten der Menschenrechte gefallen. Auch aus Sicht der Charta der Vereinten Nationen besteht dieser Antagonismus der Ziele. 103 Das Erfordernis einer Ermächtigung des ONSicherheitsrates für derartige Gewaltanwendung nach Art. 53 UNC zeigt indes an, daß im Völkerrecht die Akzente anders verteilt sind. IV. Internationale Einbindung als Teil der Verfassungsidentität Nicht nur verlangt die Verfassungsstaatlichkeit auf europäischer Ebene die Wahrung ihrer tragenden Merkmale; die Entscheidung des Grundgesetzes für eine offene Staatlichkeit ist ihrerseits Bestandteil der Verfassungsidentität geworden. Die internationale Zusammenarbeit ist im heutigen Europa eine spezifische Form der staatlichen Selbstbestimmung. Das ist kein Zufall, da gemeinsame historische Wurzeln und gemeinsame Bekenntnisse für eine Parallelität von Völkerrecht und Verfassungsrecht gesorgt haben. 104 Im Grundgesetz war diese Entwicklung von Anfang an vorgezeichnet, doch hat sich im Zuge fortschreitender Integration eine weitere Mutation der Verfassung vollzogen, deren Grenzen Art. 23 I GG aufzeigt. Der Kreis schließt sich hier. Auf der anderen Seite soll der Verfassungsstaat auch nach außen eine gewisse "werbende Wirkung" entfalten. 105 Er tendiert jedoch zur Zeit dazu, darüber hinaus die Kosovaren zu verhindern, wohl aber mit dem Eingriffsziel nicht oder kaum in Beziehung stehenden zivilen Personen und Objekten erheblichen Schaden zufügte. Damit ist ein Grundprinzip verletzt, welches das Recht der Friedenssicherung und das Kriegsrecht gleichermaßen beherrscht, das Gebot der Proportionalität. 102 Ebenso /sensee (Fn. 99), S. 426. 103 Siehe o., S. 168 f. sowie S. 170, Fn. 44. 104 Tomuschor (Fn. 74), S. 53 (Verfassungs- und Völkerrecht als "finaler Aktionsverbund") und S. 57 (.,fast perfekte Parallelisierung der materiellen Zielsetzungen von Völkerrecht und staatlichem Recht"). ws Schmidt (Fn. 1), S. 67.

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zu gehen und seine eigenen Prinzipien mehr und mehr zum außenpolitischen Programm zu erheben. Theoretisch sollte dies in harmonischer Wechselbezüglichkeit beider Sphären vonstatten gehen können, gehört doch die Offenheit zum Volkerrecht hin ihrerseits zum Programm des Grundgesetzes. Denn wenn die identitätsbildenden Strukturen der Staatlichkeil dem Volkerrecht gegenüber offen bleiben, kann ein Konflikt nicht entstehen. Die Verabsolutierung Verfassungswertiger Errungenschaften zum Maßstab außengerichteten Handeins über die Schranken hinweg, die das Volkerrecht setzt, führte dagegen letztlich nicht zum Weltstaat mit Weltregierung, Weltpolizei und Weltgericht, sondern allenfalls zu regionalen Interventionsmonopolen und damit zu einer Art geschlossener Staatenverbündlichkeit, zum eisern verteidigten goldenen Käfig in einer "Festung Europa". Das Grundgesetz müßte dann neu geschrieben werden.

Wehrverfassung Entmilitarisierung - Wiederbewaffnung -Leistungsfähigkeit

Von Volker Epping

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Juni 19991 stellte Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach im Kontext derbeendeten Lufteinsätze der NATO im Kosovo-Konflikt fest, daß die Existenzberechtigung der Bundeswehr heute mit einer Einmütigkeit beantwortet werde, wie sie seit dem Ende des kalten Krieges nicht mehr zu beobachten gewesen sei. Die Frage: "Wenn man das einmal von der nützlichen Seite betrachtet: Brauchen wir eigentlich eine Bundeswehr, oder ginge es auch ohne?", wird immerhin von 67% der Befragten bejaht und nur von 18% verneint. Die geringste Akzeptanz findet die Bundeswehr erwartungsgemäß bei den Wählern von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS, die diese Frage zu 45% bzw. 43% verneinen2 . Bemerkens-und nachdenkenswert ist indes das Ergebnis auf folgende Frage: ,,Meinen Sie, es ist auch Aufgabe der NATO, in Ländern einzugreifen, in denen ganze Volksgruppen bedroht und verfolgt werden, oder ist das nicht Aufgabe der NATO, sollte die NATO ein reines Verteidigungsbündnis sein?" Während sich die Befragten mit 47% gegenüber 36% gegen eine Beschränkung der Aufgaben der NATO aussprechen, überrascht der innerdeutsche Befund. Dieser steht diametral zum gesamtdeutschen: 55 % der ostdeutschen Bevölkerung sind für eine Beschränkung der Aufgaben der NATO, und nur 26% befürworten die im Kosovo-Konflikt praktizierte Intervention der NATO. Dem Resümee sowie dem Ausblick von Renate Köcher kann daher unumwunden beigetreten werden: "Die verteidigungspolitischen Einstellungen zeigen tiefe Gräben zwischen Ost und West, aber auch der Dissens zwischen den Anhängern der Regierungsparteien wie zwischen grüner Basis und grüner Regierungspolitik. Beide Spannungsfelder werden die deutsche Politik der kommenden Monate und Jahre prägen, vor allem der unaufgearbeitete Meinungsstand zwischen alten und neuen Ländern." Ruft man sich die aus den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen und namentlich von Gregor Gysi (PDS) formulierten und sogar dem BVerfG vorgetragenen recht• FAZ v. 16. Juni 1999 (Nr. 136), S. 5. Erstaunlich dabei ist, das nur 31 % der Wähler von Bündnis 90 I Die Grünen die Notwendigkeit der Bundeswehr bejahen, während in den Reihen der POS immer noch die knappe Mehrheit von 44% die Bundeswehr bejaht. 2

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liehen Vorbehalte gegen die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Kampfeinsatz der NATO in Erinnerung3 , ist damit in rechtlicher Hinsicht die aktuelle Frage der Leistungsfähigkeit unserer Wehrverfassung aufgeworfen. Ungeachtet der an dieser Stelle nicht zu leistenden Bewertung des deutschen Kampfeinsatzes im Kosovo-Konflikt des Jahres 1999 ist es aber bemerkenswert, daß die Bundesrepublik vor 50 Jahren ohne eine Armee und eine Wehrverfassung startete. Damit ist zugleich der Untersuchungsreigen umrissen: Beginnend mit der entmilitarisierten Bundesrepublik, der nach dem zweiten Weltkrieg die Wiederbewaffnung untersagt war, ist die im zeitlichen Kontext des Ost-West-Konflikts nachträglich installierte Wehrverfassung an den heutigen Herausforderungen zu messen. I. Das Grundgesetz vom 23. Mai 19494

Anlaß der Ringvorlesung ist der 50. Geburtstag des Grundgesetzes. Die Wehrverfassung indes ist erst durch das 7. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 in das Grundgesetz gelangt5 . Sie ist daher erst 43 Jahre alt. In seiner ursprünglichen Fassung vom 23. Mai 1949 konnte das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland noch keine wehrverfassungsrechtliche Aussage treffen6 • Nach der bedingungslosen Kapitulation des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst7 und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Alliierten am 5. Juni 19458 hatten die Oberbefehlshaber der Besatzungsstreitkräfte in ihrer Proklamation Nr. 2 vom 20. September 1945 angeordnet, daß alle deutschen Streitkräfte vollständig und endgültig aufzulösen seien9 . Dies wurde unmittelbar vor Erlaß des Grundgesetzes im Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949 nochmals bekräftigt 10.

3

S. den Beschluß des Zweiten Senats des BVerfG vom 25. März 1999 (Az: 2 BvE 5/99)

= BVerfGE 100, 266 ff.

4 Siehe hierzu den Überblick bei Roland G. Foerster, Innenpolitische Aspekte der Sicherheit Westdeutschlands ( 1947- 1950), in: ders./ Christi an Greiner I Georg Meyer I Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, 19451956, Band 1 (Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan), 1982, S. 405 ff. s BGBI. 19561, S. lll. 6 Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, Dokument Nr. 14, S. 507f. 7 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 6. s Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7-9. 9 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 1 vom 29. Oktober 1945, S. 8. IO Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission in Deutschland, Nr. 1 vom 23. September 1949, S. 2, l3 (unter Ziff. 2 lit. a.).

Wehrverfassung

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1. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee

Insofern ist es nicht verwunderlich, daß der Verfassungskonvent auf Herrenchiernsee in seinem Bericht von einem Kapitel zu Wehrfragen gänzlich absah, auch um den Militärgouverneuren keinen Anlaß zu geben, der Herrenchiemseer Runde die Beschäftigung mit gesetzlich verbotenen Themen vorzuwerfen. Ungeachtet dessen war man sich darüber einig, daß diese Fragen der Kompetenz des Bundes zuzuordnen seien, "falls sich überhaupt Aufgaben wehrrechtlicher Art für deutsche Behörden ergeben können, z. B. Angelegenheiten der militärischen Entwaffnung."11 Im Vordergrund aller Überlegungen sowohl des Herrenchiemseer Konvents als auch später des Parlamentarischen Rates stand indes die einmütige Absage an den Krieg als Mittel der Politik, was dann auch Niederschlag im Verbot des Angriffskriegs (Art. 26 GG) sowie in dem aus der Präambel und den Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 24-26,79 Abs. 1 GG ableitbaren Friedensgebot des Grundgesetzes12 fand. Bedeutet dies aber tatsächlich, daß sich die Ursprungsfassung des Grundgesetz in Gänze von wehrverfassungsrechtlichen Fragestellungen fernhielt? Betrachtet man das Grundgesetz jener Zeit, finden wir in der Gestalt der Art. 4 Abs. 3, 24 Abs. 1 und 2, 26 und 140 GG durchaus einige wehrverfassungsrechtliche "Flecke" auf der ansonsten diesbezüglich "reinen Weste" der Ursprungsfassung. Denn ungeachtet des zu Beginn festgestellten wehrverfassungsrechtlich ,jungfräulichen' Befundes stellte sich bei den Beratungen über das Grundgesetz in den Jahren 1948 I 49 gleichwohl die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland ohne eigene Streitkräfte ihre äußere Sicherheit gewährleisten könne. Die Zuspitzung des OstWest-Konfliktes, der sich in der Blockade Berlins manifestierte, ließ es nicht zu, die Frage der äußeren Sicherheit unbehandelt zu lassen. Daher bemühte sich bereits der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee um Aussagen zur Gewährleistung der militärischen Sicherheit für und in Deutschland. Solange Deutschland nicht über eigene Streitkräfte verfüge, müsse der militärische Schutz in einem System kollektiver Sicherheit gesucht werden, das "auf objektiven Rechts- und Friedensgedanken" aufbaue, zugleich aber einem Staat, der auf das Recht der Selbstverteidigung verzichten müsse, anderweitige Sicherheitsgarantien gebe 13 • ,,Die Frage der kollektiven Sicherheit im Zusammenhang mit unserer völligen Entwaffnung und Entmilitarisierung" - so der Abgeordnete Theodor Kordt - "ist aber etwas ungeheuer Wichtiges. Man muß uns doch einen Schutz gewähren! Wir könII Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, Darstellender Teil, S. 530. 12 V gl. hierzu Vollcer Epping, Der Kriegsbegriff des Grundgesetzes, Der Staat 31 (1992), S. 39ff. 13 V gl. Der Kampf um den Wehrbeitrag, Band 2, 2. Halbband, 1953, S. 39 (Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, Protokolle des Unterausschusses I [Grundsatzfragen], Auszug aus der 2. Sitzung vom 18. August 1948, Abg. Theodor Kordt).

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nen nicht auf ewig vogelfrei sein, jedem Zugriff ausgesetzt." 14 Der Darstellende Teil des Herrenchiemseer Entwurfs gibt diese Tendenz wieder: "Das deutsche Volk ist gewillt, künftighin auf den Krieg als Mittel der Politik zu verzichten und hieraus die Folgerungen zu ziehen. Um aber nicht wehrlos fremder Gewalt preisgegeben zu sein, bedarf es der Aufnahme des Bundesgebietes in ein System kollektiver Sicherheit, das ihm den Frieden gewährleistet. Nach der einmütigen Auffassung des Konvents muß der Bund bereits sein, im Interesse des Friedens und einer dauerhaften Ordnung der europäischen Verhältnisse in die sich aus einem solchen System ergebenden Beschränkungen seiner Hoheitsgewalt einzuwilligen. Zwar wird damit dem deutschen Volke eine Vorleistung zugemutet. Nach dem, was im Namen des deutschen Volkes geschehen ist, ist aber eine solche Vorleistung, die entsprechende Leistungen der anderen beteiligten Staaten im Gefolge hat, angebracht." 1s

2. Der Parlame~tarische Rat

Der Parlamentarische Rat übernahm diese Anregung 16 und machte sie sich in Form des Art. 24 Abs. I und 2 GG zu eigen: (l) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsakte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. (2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

Verfolgt wurde mit der Bestimmung des Art. 24 Abs. 2 GG aber nicht nur das sicherheitspolitische Bedürfnis des deutschen Volkes. Durch die mit der Eingliederung in ein System kollektiver Sicherheit einhergehende Preisgabe von Teilen der Souveränität des zukünftigen Staates wurde zugleich die Absicht verfolgt, den Zitiert aus: Der Kampf um den Wehrbeitrag, ebd. Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, in: Deutscher Bundestag I Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, Darstellender Teil, S. 517. 16 Art. 24 Abs. 2 des Herrenchiemseer Entwurfs lautete: "Insbesondere kann er [der Bund] im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens sein Gebiet in ein System kollektiver Sicherheit einordnen und hierbei unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit, in diejenigen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, durch die eine friedliche und dauerhafte Ordnung der europäischen Verhältnisse erreicht und sichergestellt werden kann." (Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, Dokument Nr. 14, S. 583).- Hingegen fand der Antrag des Abg. Heinz Renner (KPD), der beantragt hatte, als Voraussetzung ftir die Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit festzuschreiben, "daß dieses System nicht der Vorbereitung eines Krieges dient und keine militärischen Hilfeleistungen irgendwelcher Art von der Republik oder ihren Angehörigen gefordert oder erwartet werden", keine Mehrheit (Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 6. Sitzung vom 19. November 1948, Sten. Prot. S. 71). 14

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Friedenswillen des deutschen Volkes sichtbar zu dokumentieren. Diese Intention schlug sich vor allem in Art. 26 GG nieder. Wahrend in Abs. 2 die Genehmigungspflichtigkeit der Herstellung, der Beförderung und des Inverkehrbringens von Kriegswaffen verankert ist, ächtet Abs. 1 die Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und namentlich den Angriffskrieg verfassungsrechtlich, um der Welt die friedliche Grundeinstellung der neuen Bundesrepublik vor Augen zu führen. Die Ächtung des Angriffskrieges und nicht des Krieges an sich, wie von Carlo Schmid angeregt 17 , zeigt wiederum, daß der Wehr-, also der Verteidigungsaspekt, durch das Grundgesetz explizit nicht ausgeschlossen werden sollte 18. Auch die Aufnahme des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) belegt, daß dem Parlamentarischen Rat die Möglichkeit militärischer Verteidigung vor Augen stand 19, obwohl sich der größte Teil der Parlamentarier und die Bevölkerung darüber einig waren, daß sich eine Gelegenheit, sich auf diesen Artikel zu berufen, in absehbarer Zeit nicht ergeben werde20. Auch aus der über Art. 140 GG vollzogenen Inkorporation des Art. 141 WRV, der das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer regelt, läßt sich, wenn auch nicht zwingend, ablesen, daß das Grundgesetz eine Wiederbewaffnung jedenfalls für möglich hielt. Die Problematik des "Schutzes nach außen" schlug sich schließlich auch in der Diskussion um die Reichweite des Art. 73 Nr. 1 GG nieder, der die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für auswärtige Angelegenheiten enthalten sollte. Der Antrag, diese Kompetenz auch auf den "Schutz nach außen" zu erweitem21, stieß auf die Befürchtung der SPD-Abgeordneten, diese Formulierung "ver17 Er hielt sein Konzept der kollektiven Sicherheit für ausreichend, um aggressive Handlungen gegenüber dem Bundesgebiet auszuschließen, s. JöR 1 (1951), S. 237. 18 Das als elementar qualifizierte Recht zur Selbstverteidigung sollte nach Auffassung des Parlamentarischen Rates weiterhin möglich sein. Exemplarisch insoweit Thomas Dehler (FDP): "Wir wissen, daß in der Praxis die beiden Begriffe verwechselt werden. Ich glaube aber, kein Volk hat ein Recht, sich der Pflicht zu seiner Verteidigung zu entziehen." .(Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 48. Sitzung vom 9. Februar 1949, Sten. Prot. S. 626.) 19 Ebenso BVerfGE 90, 286 (292). Die Aufnahme eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung macht in der Tat nur Sinn, wenn zugleich auch eine allgemeine Wehrpflicht festgelegt wird oder zumindest eine diesbezügliche Option offengehalten wird (ebenso Kaufmann, Der Kampf um den Wehrbeitrag, Band 2, 2. Halbband, 1953 S. 42 (48); Ulrich Scheuner, Der Kampf um den Wehrbeitrag, Band II, 1953, S. 94 (105ff.); a. A. Wolfgang Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961, S. 70f.; Roland G. Foerster [FN 4], S. 426.) 2o So meinte etwa Carlo Schmid, daß es eines Tages wieder deutsche Soldaten geben würde, wenn auch als Mitglieder einer überstaatlichen politischen Organisation eines weltweiten Systems kollektiver Sicherheit, s. Carlo Schmid, Erinnerungen, 1981, S. 375. 21 Antrag des Abg. Walter Strauß (CDU): ,,Eine Landesverteidigung wird es nicht geben und kann es nicht geben. Aber es werden eine Reihe von Fragen auftauchen . ... Es werden Fragen auftauchen, die wegen der Sicherung des Bundesgebiets und des Schutzes der Bundesangehörigen gegenüber dem Ausland natürlich nur bundesgesetzlich geregelt werden können." (Vgl. Der Kampf um den Wehrbeitrag, Band 2, 2. Halbband, 1953, S. 424.) ,,Es ist ein Ersatz für die nicht mögliche Landesverteidigung." (Ebd., S. 425.)

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decke nichts anderes als eine neue Reichswehr". 22 Der Zusatz "einschließlich der Sicherung des Bundes" wurde daraufhin gestrichen. So verschwand ein unscheinbarer, aber äußerst bedeutsamer Zusatz aus dem Grundgesetz-Entwurf, der in der Lage gewesen wäre, die Wehrhoheit des Bundes latent bereits 1949 verfassungsmäßig festzulegen 23 . Ungeachtet dessen zeigt aber die Genese des Grundgesetzes, daß es im Parlamentarischen Rat keineswegs eine grundsätzliche Abstinenz gegenüber Wehrfragen gab24 . Dennoch war mit dem Grundgesetz aus dem Jahre 1949 zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte ein Staat geschaffen worden, dem nicht nur das militärische Instrument, sondern auch die verfassungsmäßige Grundlage fehlte, sich selbst zu verteidigen 25 . Absehbar war aber, daß die Art. 4 Abs. 3, 24 Abs. 1 und 2, 26 sowie Art. 140 GG i.V. mit Art. 141 WRV zur Begründung der These herangezogen werden sollten, daß die Verteidigungshoheit des Bundes auch ohne eine in Art. 73 Nr. 1 GG explizit festgeschriebene Kompetenz bereits in der Ursprungsfassung des Grundgesetzes latent angelegt sei26.

II. Der Weg zur Wehrverfassung- Die Westintegration27 1. Die außenpolitische Komponente

Im weiteren Verlauf ist die Entwicklung der Wehrverfassung nicht mehr von der politischen Westintegration zu trennen, die mit der Assoziierung (seit dem 13. Juli 1950)28 und der Vollmitgliedschaft der Bundesrepublik im Europarat (seit dem Ebd., S. 427 f. Roland G. Foerster (FN 4), S. 424. 24 Insofern ist es nicht zutreffend, wenn Carlo Schmid in seinen Erinnerungen anmerkt, daß im Parlamentarischen Rat die Frage der Wehrhoheit, der Sicherheit und der Verteidigung nicht erörtert worden sei, da es in Anbetracht der Haltung der Besatzungsmächte, die sich die Führung der auswärtigen Angelegenheiten der Bundesrepublik vorbehalten hatten, ohne Sinn gewesen wäre, s. Carlo Schmid, Erinnerungen, 1981, S. 492. 25 Wolfgang Martens (FNI9), S. 88; Roland G. Foerster (FN 4), S. 421. 26 Während die von Adenauer geführte erste Bundesregierung davon ausging, daß die notwendigen Gesetze durch einfache Mehrheit im Bundestag erlassen werden könnten, weil die Verteidigungshoheit des Bundes bereits im Grundgesetz von 1949 latent angelegt sei, verlangte die SPD-Opposition eine Verfassungsänderung, weil sie der Überzeugung war, daß aus den 49-er Bestimmungen keinesfalls die Wehrhoheit abgeleitet werden könne. Roland G. Foerster (FN 4), S. 421 f. mit Fn. 132 weist zudem zutreffend darauf hin, daß die Diskussion dieses Problems bis heute Bände gefüllt hat. Eine ausführliche Darlegung und Dokumentation findet sich in dem zweibändigen Werk "Der Kampf um den Wehrbeitrag, 1952/53". 27 Einen guten Überblick zur Frage der Wiederbewaffnung geben Norbert Tönnies, Der Weg zu den Waffen. Die Geschichte der deutschen Wiederbewaffnung 1949-1957, 1957 und Peter Barth/Günter Pfau/ Karl Streif, Sicherheitspolitik und Bundeswehr, 1981 (mit zahlreichen einschlägigen Quellen); s. i.ü. auch Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: HStR I, 1987, § 7 Rdnr. 28 ff. 28 Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat vom 8. 7. 1950 (BGBI. II, S. 263). 22

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2. Mai 1951) begann und sich mit der, aufinitiative des französischen Außenministers Robert Schumann erfolgten, Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (sog. Montanunion) mit der Bundesrepublik als Gründungsmitglied fortsetzte 29 . In Abkehr zu dem Petersberger Abkommen vom 22. November 194930, dem von den Alliierten Hohen Kommissaren am 16. 12. 1949 erlassenen "Gesetz zur Beseitigung des Militarismus"31 sowie dem noch im Mai 1950 erlassenen "endgültigen Gesetz zur Verhinderung einer deutschen Wiederaufrüstung" 32, die nochmals das Verbot der Wiederbewaffnung zum Gegenstand hatten, führten der Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 195033 und die damit einhergehende Verschärfung der internationalen Lage zu einer Kehrtwende der Westalliierten. Churchi1134 und de Gaulle 35 sprachen sich wegen des deutschen Wehrpotentials für einen deutschen Verteidigungsbeitrag aus. Die Bundesrepublik konnte international aber weder verläßlich gebunden noch deren erwünschte Aufrüstung auf lange Sicht begrenzt und kontrolliert werden, ohne daß man sie völkerrechtlich zunächst in den Zustand der Entscheidungsfreiheit versetzte, d. h. sie als souverän behandelte36. Die Lösung lag in der Verknüpfung der Souveränitätserklärung im "Generalvertrag" mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Die sechs Mitgliedstaaten der Montanunion unterzeichneten am 27. Mai 1952 den Vertrag über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, innerhalb derer es nur noch europäische, aber keine nationalen Verbände geben sollte37 . Einen Tag zuvor wurde der gleichzeitig ausgehandelte 29 Der EGKSV wurde am 18. April 1951 unterzeichnet und trat am 23. Septemberl952 in Kraft, BGBI. II, S. 447. 30 Abgedruckt bei Peter Barth/Günter Pfau/ Karl Streif(FN 27), S. 167 ff. 31 Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission für das Jahr 1949, Nr. l-7, Gesetz Nr. 16, S. 72ff. 32 Vgl. Peter Barth/Günter Pfau/ Karl Streif(FN 27), S. 149. 33 S. AdG 1950, S. 2458. 34 S. hierzu die Rede Winston Churchills zur Frage der Schaffung einer europäischen Armee vor dem Europarat in Straßburg vom II. August 1950 (EA 1950, 3374 ff.) und dessen Erläuterungen zur Rolle Deutschlands bei der Verteidigung Europas vom 12. August 1950 (NZZ vom 12. August 1950, S. I, 3); beide Quellen sind abgedruckt bei Peter Barth/Günter Pfau/ Karl Streif (FN 27), S. 115 ff.; Churchill hatte sich aber bereits am 16. März 1950 als erster führender Politiker für einen deutschen Verteidigungsbeitrag ausgesprochen (so Peter Barth/Günter Pfau/ Karl Streif, ebd., S. 150). 35 De Gaulle bezeichnete nach Beginn des Korea-Krieges am II. 7. 1950 eine deutsche Wiederaufrüstung als unvermeidbar (so Peter Barth/Günter Pfau/ Karl Streif, ebd., S. 150). 36 Hasso Hofroonn (FN 27), HStR I,§ 7 Rdnr. 31. 37 Der EVG-Vertrag (EA 1952, Bd. 2, S. 5047 ff.) ist eng verbunden mit dem Namen des französischen Ministerpräsidenten Rene Pleven, der durch einen nach ihm benannten Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (sog. Pleven-Pian) bekannt wurde, dessen Varianten bis zum August 1954 die verteidigungspolitischen Erörterungen des Westens bestimmten. Dieser Plan, den Pleven am 24. Oktober 1950 in seiner Regierungserklärung der französischen Nationalversammlung vortrug (EA 1950, S. 3518ff.), war primär Ausfluß seiner innenpolitischen Einschätzung. Die französischen Vorbehalte gegen eine, auch nach

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Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den drei alliierten Westmächten, der sog. Generalvertrag, und die Begleitverträge (fruppenvertrag, Finanzvertrag, Überleitungsvertag) unterzeichnee8 . Diese hatten die Beendigung des Besatzungsstatuts mit der gleichzeitigen Gewährung der Souveränität an die Bundesrepublik zum Ziel, sollten jedoch erst zusammen mit dem EVG-Vertrag in Kraft treten. Das Vertragswerk scheiterte jedoch am 30. August 1954 am Widerstand der französischen Nationalversammlung, der sich insbesondere gegen den EVG-Vertrag richtete. Dieser Rückschlag wurde jedoch durch die Pariser Verträge vom Oktober 1954 überwunden 39: Durch den revidierten Generalvertrag, den Deutschland-Vertrag, erhielt die Bundesrepublik mit dem Inkrafttreten der vier Verträge am 5. Mai 195540 ihre Souveränität41 • Zu den Verträgen gehörte des weiteren das Protokoll über das Ende der Besatzung und die Auflösung der Alliierten Hohen Kommission42 , die Umgestaltung des ursprünglich gegen die Deutschland gerichteten Brüsseler Vertrages zur WEU und ein Protokoll über die Aufnahme der Bundesrepublik in die NAT043 • Die Bundesrepublik wurde am 7. Mai 1955 Mitglied der WEU und am 9. Mai 1955 Mitglied der NAT044 • 2. Die innenpolitische Komponente

Da seit der New Yorker Außenministerkonferenz der drei Westmächte vom September 1950 feststand, daß die Beendigung des Besatzungsstatuts mit einem deutseiner Auffassung unvermeidbare, Wiederaufrüstung Deutschlands waren noch so groß, daß er glaubte, sie nur durch eine von ihm vorgeschlagene Europa-Armee realisieren zu können. 38 Texte abgedruckt bei lngo von Münch, Dokumente des geteilten Deutschlands, Band I, 1968, s. 229 ff. 39 Die Mitglieder der NATO und der WEU beschlossen nach Scheitern des EVG-Vertrages, die Bundesrepublik in diese Bündnisse aufzunehmen. Die drei Westmächte und die Bundesrepublik Deutschland kamen überein, den am 26. Mai 1952 in Bonn unterzeichneten Vertrag über die Beendigung des Besatzungsregimes - mit einigen Änderungen - in Kraft treten zu lassen. 40 BGBI. 1958 II, 305 ff., 628. 41 Vorbehalten blieben aber durch Art. 2 des Deutschland-Vertrages die bis dato "ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeit in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung." Dieser Vorbehalt ist erst durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 weggefallen, s. auch FN 75. 42 S. insoweit die Proklamation vom 5. Mai 1955, abgedruckt in lngo von Münch (FN 38), Band I, S. 249 f. Die bisherigen westlichen Besatzungsmächte wurden nunmehr Schutzmächte, die für die Bundesrepublik eine Sicherheitsgarantie abgaben. Ihre Truppen blieben aufgrund der Regelungen des Truppenvertrages (BGBl. 1955 II, 253) weiterhin in der Bundesrepublik. 43 Protokoll über den Beitritt der BRD zum Nordatlantikvertrag vom 23. Oktober 1954, abgedruckt bei lngo von Münch (FN 38), S. 253 ff. 44 Der Gesetzgeber stimmte dem Beitritt zum Brüsseler Vertrag (WEU) und zum Nordatlantikvertrag durch Gesetz vom 24. März 1955 zu, BGBI. II S. 256.

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sehen Truppenbeitrag gekoppelt werden sollte45 , war für die Ablösung des Besatzungsregimes durch den Generalvertrag die Bewältigung der verfassungsrechtlichen Frage der Wehrhoheit entscheidend. Diese gestaltete sich aber fünf Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges äußerst schwierig. Bundeskanzler Konrad Adenauer, getrieben von der Angst vor "einem kurz- oder mittelfristig ziemlich sicher bevorstehenden Angriff aus dem Osten" und dem Bestreben nach deutscher Souveränität46 , bot ohne Rücksprache mit dem Kabinett im August 1950 im Alleingang den Alliierten einen deutschen Verteidigungsbeitrag an47 , was zum Austritt des damaligen Bundesinnenministers und späteren SPD-Bundespräsidenten Gustav Reinemann aus dem ersten Adenauer-Kabinett führte48 . Der sog. Kampf um den Wehrbeitrag war mit Blick auf die jüngsten geschichtlichen Erfahrungen voll entbrannt. Die ,,Nie-wieder-Krieg-Stimmung" bzw. die "Ohne-michHaltung"49 waren noch vorherrschend. Mit aller Entschiedenheit wandte sich die SPD gegen die Aufstellung einer deutschen Armee und einen deutschen Wehrbeitrag. Exemplarisch steht hierfür die pathetische Rede Carlo Schmids vor der Beratenden Versammlung des Europarates am 10. August 1950, die von der Furcht vor einem Krieg mit der Sowjetunion und dem Vorbehalt der Nachbarn Deutschlands, diese könnten eine Wiederbewaffnung fünf Jahre nach Kriegsende nicht ertragen, bestimmt war: ,,Es ist nicht die Furcht vor dem Schlachtfeld, die uns beeindruckt, und es ist auch nicht irgendeine schlaue Idee, daß wir Nutzen daraus ziehen könnten, den Kriegsanstrengungen fern zu bleiben, während sich andere um unsere Verteidigung bemühen. Was können wir Deutsche zur Verteidigung des Kontinents tun? Fordern Sie von uns Arbeit, Industrie4S Hasso Hofmann (FN 27), HStR I,§ 7 Rdnr. 35; vgl. das Kommunique vom 19. September 1950 (EA 1950, S. 3406f.), in dem die westlichen Alliierten die Absicht bekundeten, die Bundesrepublik in die Gemeinschaft der freien Völker einzugliedern und den Kriegszustand zu beenden. Dabei wurde - wie auch von Adenauer - eine deutsche nationale Armee abgelehnt, dagegen einer "deutschen Beteiligung an einer internationalen Streitmacht zur Verteidigung der Freiheit Europas" zugestimmt. 46 Hans-Peter Schwarz. Adenauer, Der Aufstieg: 1876-1952, 3. Aufl. 1986, S. 728ff., 876. 47 S. insofern das Memorandum Adenauers Ober die Sicherung des Bundesgebietes nach innen und außen vom 29. August 1950, das Hochkommissar lohn J. McCloy als geschäftsführenden Vorsitzenden der Alliierten Hohen Kommission übergeben wurde mit der Bitte, es den drei Außenministern der Westmächte so rechtzeitig zukommen zu lassen, daß bei der New Yorker-Außenministerkonferenz vom 12.-14. und 18. September 1950 darüber beraten werden könne (s. Peter Barth/Günter Pfau/Kar[ Streif[FN 27], S. 171 ff.). Bereitsam 6., 7. und 8. Juni 1950 hatte Adenauer ohne Einbeziehung des Kabinetts die drei Hohen Kommissare mit der Sicherheitsfrage befaßt und eine internationale Legion angeregt, um deutsche Freiwillige- Offiziere und Soldaten- auszubilden (Hans-Peter Schwarz [FN 46], S. 741 ff. Am 18. August 1950 erscheint ein Interview Adenauers in der New York Times mit folgender Aussage: "Wir müssen die Notwendigkeit der Aufstellung starker deutscher Verteidigungskräfte erkennen." (zitiert nach Norbert 70nnies, Der Weg zu den Waffen. Die Geschichte der deutschen Wiederbewaffnung 1949-1957, 1957, S. 68). 48 Vgl. Hans-Peter Schwarz (FN 46), S. 766 ff. 49 Peter Barth/Günter Pfau/ Kar[ Streif[FN 27], S. 155 f.

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produkte, politische oder wirtschaftliche Zusammenarbeit. Aber fordern Sie keine deutschen Soldaten. " 50 Die SPD, die durch eine mögliche Wiederbewaffnung das von ihr in den Mittelpunkt gestellte Ziel der Wiedervereinigung gef