Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes [1 ed.]
 9783428414628, 9783428014620

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 34

Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes Von Udo Steiner

Duncker & Humblot · Berlin

UDO

STEINER

Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes

Schriften

zum

öffentlichen Band 34

Recht

Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes

Von Dr. Udo

D U N C K E R

&

Steiner

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1966 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1966 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany D 29

Meinen Eltern

Vorwort Die Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg als Dissertation vor. Sie geht auf eine Anregung meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Dr. Klaus Obermayer, zurück, dem ich für die wohlwollende Betreuung sowie für vielfache persönliche Förderung aufrichtigen und herzlichen Dank schulde. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, der durch sein großzügiges Entgegenkommen das Erscheinen der Schrift i n der vorliegenden Form ermöglicht hat. Udo Steiner

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17 Erster

Abschnitt

Allgemeine Lehren

25

1. Kapitel:

25

Die Rechtsqualität der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

A. Das rechtstheoretische Verständnis demokratischen Theorie

der Verfassungserzeugung

in der 25

I. Verfassunggebende Gewalt und Verfassungsgeltung

25

I I . Verfassungsgeltung und Verfassungslegitimität B. Die verfassunggebende

27

Gewalt als rechtliche Gewalt

29

I. Die gegenwärtige Beurteilung der originären Verfassunggebung ..

29

I I . Die originäre Verfassunggebung u n d der staatsrechtliche Positivismus

31

I I I . Echte u n d unechte Versuche einer normativen Begründung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

36

I V . Methodische u n d sachliche Folgerungen aus dem normativen Verständnis der verfassunggebenden Gewalt

42

1. Juristische u n d politische Betrachtungsweise des demokratischen Prinzips

42

2. Der deklaratorische Charakter der positivierten Staatsgewaltformel

44

3. Das verfassunggebende V o l k als Staatsorgan

44

4. Die Prüfung der Verfassungsgeltung durch den Richter

47

2. Kapitel: lehre

Die formale Struktur der demokratischen Rechtserzeugungs-

A. Das Wesen der Normerzeugung Verständnis

49 durch das Volk nach

demokratischem 49

I. Allgemeine Geltungslehren u n d demokratische Geltungstheorie ..

49

I I . Die Geltungsbestimmung von Rechtsnormen als konstruktives Problem

50

1. „Richtigkeit" des Rechts u n d Rechtsgeltung

50

2. Das Verhältnis von Normerzeuger u n d Normgeltung i n der allgemeinen Geltungstheorie

54

nsverzeichnis

10 Β . Normativer

und soziologischer Begriff

der Volkssouveränität

58

3. Kapitel : Der Begriff der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

66

A. Volkssouveränität

66

und verfassunggebende

Gewalt des Volkes

I. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes als Modalität der Volkssouveränität

66

I I . Die Trennung von Volkssouveränität u n d verfassunggebender Gew a l t bei Jagmetti

67

I I I . Die Unterscheidung von Verfassung u n d Verfassungsgesetz C. Schmitt

bei 69

I V . Die Trennung von Volkssouveränität u n d verfassunggebender Gew a l t i m Verhältnis von verfassunggebender Gewalt u n d Staatsgewalt bei Henke

72

1. Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt

72

2. C. Schmitts Lehre u n d Henkes Theorie der verfassunggebenden Gewalt

77

3. Entstehungstheorie u n d Entstehungswirklichkeit der Verfassung

79

B. Der Begriff

der verfassunggebenden

Gewalt des Volkes

82

I. Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt i m materiellen Sinne

82

1. Verfassunggebende Gewalt u n d Verfassungsinhalt

82

2. Verfassunggebende Gewalt u n d formeller Verfassungsbegriff . .

83

I I . Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt i m formellen Sinne . .

91

Zweiter

Abschnitt

Das Verfahren der Verfassunggebung in rechtlicher Sicht

93

1. Kapitel: Plebiszitäre und repräsentative Ausübung der verfassunggebenden Gewalt

93

A. Die rechtlichen

93

Merkmale

der herkömmlichen

B. Das Verhältnis der repräsentativen verfassunggebender Gewalt

Verfahrenstypen

zur plebiszitären

Ausübung

von 95

I. Die Idee der Volkssouveränität u n d die Formen der Ausübung rechtsetzender Gewalt

95

I I . Die juristische „Gleichwertigkeit" von plebiszitärem u n d repräsentativem Hechtserzeugungsverfahren

97

I I I . Folgerungen aus dem Prinzip der rechtlichen Gleichwertigkeit von plebiszitärer u n d repräsentativer Ausübung der verfassunggebenden Gewalt 106 1. Das Entstehungsverfahren einer gesamtdeutschen Verfassung nach A r t . 146 des Grundgesetzes 106

11

nsverzeichnis 2. Hechtssatzrang u n d Rechtssatzentstehung

107

3. Verfassunggebende Versammlung u n d Verfassungsabstimmung durch das V o l k 109 2. Kapitel:

Das mehraktige Verfahren der Verfassunggebung

A. Das Rechtsproblem zember 1946

des Art. 41 der Hessischen Verfassung

113 vom 1. De113

I. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 41 der Hessischen Verfassung .. 113 I I . Das gerichtliche Verfahren

115

I I I . Die staatsrechtliche Fragestellung B. Lösungsversuche fassung

zum Geltungsproblem

116 des Art

41 der Hessischen Ver118

I. Das Verhältnis von Verfassungsgeltung u n d vorkonstitutionellem Verfahrensrecht 118 1. Problemstellung u n d Lösungsvorbehält 2. Verfahrensfreiheit gebenden Gewalt

u n d Verfahrensbindung

118 der

verfassung120

3. Besatzungsrecht u n d verfassunggebende Gewalt

123

I I . Das mehraktige Verfahren der Verfassunggebung u n d die Theorie des Gesetzgebungsverfahrens 125 1. Verfassungsfeststellung u n d Verfassungssanktion i m arbeitstechnischen u n d rechtstechnischen Sinne 125 2. Die Lehre von den Stadien der Gesetzgebung bei Paul Laband 126 3. Die „Analogie" zu innerverfassungsmäßigen Formen m e h r a k t i ger Rechtsetzungs verfahren 129 I I I . Verfassungsentwurf u n d Volksabstimmung

131

1. Die rechtliche F u n k t i o n der repräsentativen Verfassungsberatung i m mehraktigen Verfahren der Verfassungsentstehung .. 131 2. Das Problem der Bindung des Volkes an den E n t w u r f einer verfassungsberatenden Versammlung 134 I V . Folgerungen f ü r eine Typenlehre der Verfassunggebung

138

V. Mehraktige Verfassunggebung u n d subjektiv-historische Verfassungsauslegung 139 3. Kapitel:

Die repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht

A. Das rechtstheoretische gung

Problem

der repräsentativen

I. Einleitung i n die Problemstellung I I . Die Entstehung des Bonner Grundgesetzes 1. Der Sachverhalt

147

Verfassungserzeu147 147 148 148

2. Bundesstaatliche Entstehung einer Verfassung u n d Entstehung einer Bundesverfassung 151

nsverzeichnis I I I . Die „Spezialität" der verfassungserzeugenden Gewalt B. Die Trennung

von verfassungserzeugender

155

und gesetzgebender Gewalt

157

I. Institutionelle u n d delegatorische Spezialität der verfassungserzeugenden Gewalt i m deutschen Staatsrecht . 157 1. Verfahrensunterschiede zwischen repräsentativer Verfassunggebung u n d repräsentativer Verfassungsänderung 157 2. Der dogmatische Standort der institutionellen Spezialität u n d des „ad hoc"-Prinzips 158 3. Die Spezialität der verfassungserzeugenden Gewalt i m deutschen Staatsrecht 160 4. Die Einheit der Repräsentation i n der sogenannten revolutionären französischen Tradition 165 5. Die Gesetzgebungsmacht einer verfassunggebenden Versammlung 167 I I . Die Trennung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gew a l t i n flexiblen Verfassungssystemen 169 I I I . Folgerungen für die Ableitbarkeit des Grundgesetzes aus der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes 170

Dritter

Abschnitt

Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt des Volkes

173

1. Kapitel: Die Theorie der extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt des Volkes 173 A. Das Verhältnis von verfassunggebender walt in der deutschen Staatsrechtslehre

und verfassungsändernder

Ge173

I. Verfassunggebende Gewalt u n d Verfassungsgewalten 1. Die Unterscheidung von pouvoir constitués

constituant

und

173 pouvoirs 173

2. Verfassunggebende Gewalt und Staatsgewalt

176

3. Rechtliches und revolutionäres Verständnis des pouvoir constituant 178 I I . Extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt u n d verfassungsändernde Gewalt 183 1. Das Verhältnis von verfassunggebender u n d verfassungsändernder Gewalt bei C. Schmitt 183 2. Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt i m neueren deutschen Schrifttum 187 JB. Die rechtliche Funktion der Staatsgewaltformel tenden Verfassungsordnung

im Rahmen einer gel190

nsverzeichnis

13

I. Souveränitätsformel und ungeschriebene Mitwirkungsrechte des Volkes an der staatlichen Willensbildung 190 1. Das Verhältnis der Souveränitätsformel zu den speziellen K o m petenznormen der Verfassung 190 2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit sogenannter konsultativer Volksbefragungen 192 I I . Die Lehre v o m begrenzten Vorrang des volksbeschlossenen Gesetzes 194 2. Kapitel: Dogmengeschichtliche und dogmatische Bemerkungen zur Struktur und zum Geltungsanspruch der Lehre von der extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt 202 A. Die rechtliche Funktion Verfassunggeber

der Revisionsbestimmungen

I. Verfassungsgesetzliche gende Gewalt

in der Sicht der 202

Revisionsnormen

und

verfassungserzeu202

I I . Revisionsverbote u n d extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt 207 I I I . Grundgesetz u n d verfassunggebende Gewalt des Volkes B. Die Mitwirkung von Verfassungsorganen an Aktionen stitutionellen verfassunggebenden Gewalt C. Sieyès ' pouvoir constituant gebenden Gewalt

und C. Schmitts

Begriff

der

209 extrakon214

der verfassung216

3. Kapitel: Die Einheit von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt 220 A. Die Einheit der Erzeugung von Verfassungsnormen

durch das Volk

220

I. Die Verfassung als Organisation der Ausübung von Staatsgewalt .. 220 I I . Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt als Erscheinungsform der verfassungserzeugenden Gewalt 222 I I I . Vorkonstitutionelle Bedingungen der Verfassungsgeltung

223

IV. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes u n d der Rechtsbegriff der Revolution 224 B. Die Selbstbindung der Revision Literaturverzeichnis

des verfassungserzeugenden

Volkes in den Regeln 225 232

Abkürzungsverzeichnis AöE

= Archiv des öffentlichen Rechts

ASRh-Pf

= Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz i n Koblenz

Bayer. V e r f G H

= Bayerischer Verfassungsgerichtshof

BayVBl.

= Bayerische Verwaltungsblätter

BGB

= Bürgerliches Gesetzbuch

BGG

= Bonner Grundgesetz

BRD

= Bundesrepublik Deutschland

BVerfG

=

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

=

BVerwGE

= Entscheidungen· des Bundesverwaltungsgerichts

Bundesverwaltungsgericht

DJZ

= Deutsche Juristenizeitung

DÖV

= Die öffentliche V e r w a l t u n g

DRZ

= Deutsche Rechts-Zeitschrift

DV

= Deutsche V e r w a l t u n g

DVB1.

= Deutsches Verwaltungsblatt

GG

=

GrS

= Großer Senat

Grundgesetz

HdbDStR

= Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. v o n Gerhard

HdbPol

= Handbuch der P o l i t i k

HdR

= Handwöiterbuch der Rechtswissenschaft

Hess. S t G H

= Hessischer Staatsgerichtshof

Ansehütz u n d Richard Thoma

JöR

= Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JöR n. F.

= Jahrbuch des öffentlichen Rechts, neue Folge

JurBl.

= Juristische Blätter (Österreich)

JW

= Juristische Wochenschrift

JZ

=

LZ

= Leipziger Zeitschrift f ü r Deutsches Recht

Juristenzeitung

NJW

= Neue Juristische Wochenschrift

NRW

=

RG

= Reichsgericht

Nordrhein-Westfalen

RGZ

= Entscheidungen des Reichsgerichts i n Zivilsachen

SchwJZ

= Schweizer Juristenzeitung

15

Abkürzungsverzeichnis S JZ

= Süddeutsche Juristenzeitung

StGH

=

Staatsgerichtshof

VerfGH

=

Verfassungsgerichtshof

VerwRspr

= Verwaltungsrechtsprechung i n Deutschland, hrsg. von Georg Ziegler

V G H n. F. I I

= Bayerischer Verfassungsgerichtshof i n : Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, neue Folge, II. Teil = vorläufiger Staatsgerichtshof

vorl. S t G H WDStL

= Veröffentlichungen Staatsrechtslehrer

der

Vereinigung

WRV

= Weimarer Reichsverfassung

WV

= Weimarer Verfassung

der

Deutschen

ZgesStW

= Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft

ZöR

= Zeitschrift f ü r öffentliches Recht

ZSchwR n. F.

= Zeitschrift f ü r Schweizerisches Recht, neue Folge

Einleitung Die verfassunggebende Gewalt des Volkes hat i m deutschen öffentlichrechtlichen Schrifttum geringe Aufmerksamkeit gefunden 1 . Soweit sie eine monographische Behandlung erfuhr, verhinderten eine eigenwillige Begriffsbildung oder die Spezialität der Problemstellung die entscheidende Klärung der aufgegebenen Rechtsfragen 2. So finden sich i n Deutschland vor allem dogmengeschichtliches Schrifttum 3 sowie zahlreiche Untersuchungen zur Verfassungsänderung, die sich in der Regel nur am Rande allgemein m i t der Erzeugung von Verfassungsnormen durch das Volk befassen. Auch die Weimarer Nationalversammlung hat sich, ebenso wie der Parlamentarische Rat 4 , m i t den entsprechenden staatsrechtlichen Fragestellungen kaum beschäftigt. Für diese — am Interesse der französischen und auch schweizerischen Literatur gemessen — auffallende Zurückhaltung der deutschen Publizistik lassen sich verschiedene Ursachen anführen 5 . Ein Grund ist wohl i m späten Sieg der demokratischen Staatsform i n Deutschland zu sehen. Hinzu kommt der „Umweg", den die deutsche Souveränitätslehre von der monarchischen Souveränität über die Staatssouveränität zur Volkssouveränität nahm; er entzog der demokratischen Idee naturgemäß viel 1 Henkes Feststellung i n seiner 1957 veröffentlichten Monographie über die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, der Begriff der verfassunggebenden Gewalt spiele „ i n der wissenschaftlichen und politischen Diskussion k a u m eine Rolle" (S. 9), trifft heute noch zu. Eine ähnliche Diagnose stellte A r n o l d schon 1932, freilich für einen bestimmten Begriff der verfassunggebenden Gewalt (S. 21). Siehe ferner i n diesem Zusammenhang K i n d S. 7. 2 Wie wenig gesichert daher die Vorstellungen der zuständigen demokratischen Körperschaften i n Deutschland über Fragen der demokratischen Verfassunggebung teilweise waren, zeigt die Darstellung der Verhandlungen des Bayerischen Landtags von 1919 bei K ö h l m a n n (S. 50 ff.). 5 Die sorgfältigen Analysen der Dogmengeschichte des pouvoir constituant von Loewenstein, Redslob und Zweig sind jedoch auch für die dogmatische Untersuchung der verfassunggebenden Gewalt wertvoll, denn die Begriffe der Verfassung u n d der verfassunggebenden Gewalt lassen sich aus ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang nicht lösen. Maunz sieht freilich i n Zweigs Arbeit n u r eine „interessante historische Schau", die für die „dogmatische E r kenntnis" der verfassunggebenden Gewalt des Volkes „unergiebig" sei (Verfassunggebende Gewalt S. 645 A n m . 1). 4 So bedauert Leisner, daß i m Parlamentarischen Rat „ v o m Grundsätzlichen her kein W o r t " zu den durch A r t . 79 GG aufgeworfenen Fragen gesagt wurde (Verfassunggebung S. 435 A n m . 1). Vgl. Doemming u. a., Entstehungsgeschichte Grundgesetz S. 573 ff. 5 Siehe i m einzelnen Leisner, a. a. O., S. 97.

2 Steiner

18

Einleitung

von jenen auch theoretisch wirksamen Impulsen, die der französischen revolutionären Lehre aus ihrer unmittelbaren Gegenposition zum monarchischen Prinzip jedenfalls i m Bereich der verfassunggebenden Gewalt zugute kamen. Schließlich blieb auch i n diesem Zusammenhang der methodische Standpunkt des deutschen staatsrechtlichen Positivismus nicht ohne Wirkung; er verschloß die Vorgänge der Verfassunggebung durch das Volk dem Bereich der Rechtswissenschaft®. Die vorliegende Arbeit muß nicht nur aus formalen Gründen auf eine umfassende rechtswissenschaftliche Grundlegung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Kapitel eines allgemeinen demokratischen Staatsrechts verzichten 7 . Sie setzt das demokratische Prinzip für eine Rechtsgemeinschaft als „geltend" voraus und erörtert auf dieser Grundlage die Erzeugungsweisen der konstituierenden Gewalt des Volkes und die Geltungsbedingungen von Verfassungsnormen ohne umfassende Zielsetzung. Dabei soll i m Anschluß an allgemeine Lehren über die formale Struktur der demokratischen Rechtserzeugung und die Begriffe der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt zunächst die Schöpfung von Verfassungsnormen untersucht werden, die sich losgelöst von einer geltenden Verfassung vollzieht. Ihre Probleme werden einmal am Streitfall des Art. 41 der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946 erörtert 8 . Ferner w i r d die Entstehung des Bonner Grundgesetzes näher interessieren 9 . Beide Fälle der Verfassunggebung stehen dabei nicht um des — dadurch sicher nicht gewonnenen — aktuellen Zuschnitts der A r beit willen verfassungsgeschichtlich i m Vordergrund. Sie bieten nur beispielhaft die staatsrechtlichen Sachverhalte, an denen einige rechtliche Probleme des Verfahrens der Verfassunggebung durch das Volk aufgezeigt werden sollen. Die weitere Untersuchung bemüht sich dann, immer am Modell einer demokratisch organisierten Rechtsgemeinschaft orientiert, um die Setzimg von Verfassungsnormen innerhalb oder i m Anschluß an ein geltendes Verfassungssystem. Die hierbei aufgeworfenen Probleme beziehen sich vor allem auf das Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt. Wesentliche Rechtsfragen der Verfassunggebung werden damit nicht erörtert. Zunächst unterbleibt eine Auseinandersetzung m i t dem An® Leisner stellt ferner Deutschland, das „nie eine wirkliche Volksrevolution erlebt" habe (Verfassunggebung S. 97), Frankreich gegenüber. Hier werde das Prinzip der Volkssouveränität durch die „tatsächliche politische K r a f t der u n abhängigen Bürger" getragen. Die zahlreichen Revolutionen hätten das I n t e r esse auf den Vorgang der originären Verfassunggebung gelenkt (a. a. O., S. 346). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Preuß, Verfassungsändernde Gesetze S. 651. 7 Z u m Programm einer solchen Grundlegung siehe Leisner, a. a. O., S. 387. 8 Siehe hierzu i m einzelnen unten 2. Abschnitt, 2. Kapitel. • Siehe unten 2. Abschnitt, 3. Kapitel.

Einleitung

19

spruch der demokratischen Lehre, i n der verfassunggebenden Gewalt des Volkes eine rechtliche Grundlage für die originäre Verfassunggebung bereitzustellen. Auch auf das die gegenwärtige verfassungstheoretische Literatur vor allem interessierende Problem der materiellen Schranken des pouvoir constituant soll nicht eingegangen werden. Die Arbeit w i l l zunächst eine Problemsammlung sein. Sie sieht darüber hinaus ihren Zweck schon i m Nachweis erfüllt, daß das gegenwärtig geringe wissenschaftliche Interesse an einer Theorie der Verfassungserzeugung durch das V o l k auch i m Hinblick auf zahlreiche verfassungspositive Probleme ungerechtfertigt ist 1 0 , die einer Lösung nur durch Rückgriff auf die verfassungstheoretischen Grundbegriffe zugeführt werden können. Die sich an A r t . 79 Abs. 3, A r t . 144 und A r t . 146 GG 1 1 anschließenden Auslegungsfragen haben die praktische Bedeutung allgemeiner Lehren über Verfassung und verfassunggebende Gewalt ebenso bestätigt wie die großen Verfassungsstreitigkeiten i n der bisherigen Geschichte des Grundgesetzes12. Einer Untersuchung über die demokratische Erzeugung von Verfassungsnormen kommt nur bedingt das wissenschaftliche und praktische Interesse zugute, dessen sich Verfassungsfragen i n einem modernen Staatswesen erfreuen 13 . Zwar zeigen die gegenwärtigen Neugründungen von Staaten, daß das Verfassungsgesetz als urkundliche Zusammenfassung der rechtlich und politisch ersten Normen eines staatlichen Gemeinwesens ein offensichtlich unentbehrliches Instrument jeder organisierten Rechtsgemeinschaft auch weiterhin darstellt. Die innerdeutsche Verfassungssituation ist durch eine optimale Aktualisierung der Grundgesetzbestimmungen gekennzeichnet 14 . Durch die hohe Geltungsintensität des Grundgesetzes ist die Prüfung unterverfassungsmäßigen Rechts weitgehend auf die Verfassung verwiesen. Doch hat die allgemeine Bedeutung von Verfassungsfragen das rechtswissenschaftliche Interesse am Vorgang der Verfassungserzeugung keineswegs gefördert. Diese Erscheinung steht i m Zusammenhang m i t dem Legitimitätsverlust, den das demokratische Rechtserzeugungsverfahren schlechthin hinnehmen mußte 15 . Z w a r bleibt die demokratisch organisierte Willensbildung un10

Vgl. hierzu auch die Feststellungen Henkes S. 9. Siehe auch Scheuner, Verfassunggebende Gewalt S. 581. 12 z. B. der „ K a m p f u m den Wehrbeitrag" und die Diskussionen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit landesgesetzlich angeordneter Volksbefragungen zur atomaren Ausrüstung der Bundeswehr. 13 Zur Bedeutung der Frage der Verfassunggebung vgl. auch Leisner, V e r fassunggebung S. 1. 14 Vgl. hierzu Fritz Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVB1. 59, 527 ff. (527, 528); Hesse, Normative K r a f t S. 20 und Leisner, Verfassungsauslegung S. 651. 15 Diese allgemeine Entwicklung übersieht Krauss, wenn er die Entstehung der Lehre von den ursprünglich verfassungswidrigen Verfassungsnor11

2*

20

Einleitung

bestritten Grundlage der staatlichen Rechtserzeugung, bestimmt aber selbst i m Verfassungsbereich die Geltung des Rechts nicht abschließend. A n der Bestimmung des Art. 79 Abs. 3 GG werden die Folgen dieser Situation für die Theorie der Verfassungserzeugung noch aufzuzeigen sein. Die Aufgabe der Verfassungsregeln über die Willensbildung der Staatsorgane, der Forderung der Staatsgewaltformel nach Ableitung aller Äußerungen der Staatsgewalt aus dem Staatsvolk zu genügen1®, w i r d der Verfassungstheorie nicht immer bewußt 17 . Die Suche nach dem Grund für die hohe normative Wirkung des Grundgesetzes verdeutlicht den angesprochenen Vorgang. Denn die Geltungskraft des Grundgesetzes steht in keinem Verhältnis zur demokratischen Legitimität seines Entstehungsverfahrens und läßt sich nur m i t der inhaltlichen „Richtigkeit" der getroffenen Verfassungsentscheidungen erklären 18 . Die strenge Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung auch außerhalb des Regelungsbereichs des Art. 79 Abs. 3 GG, wie sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts profiliert hat, läßt sich kaum verständlich machen, wenn man sie nur auf die höhere Autorität des — vom einfachen Gesetzgeber organisatorisch nicht unterschiedenen — verfassungsändernden Gesetzgebers zurückführt. Freilich w i r d damit zunächst das rechtspolitische Interesse am Verfahren der Verfassunggebung verringert, das seinerseits schon immer die spezifisch juristische Untersuchung der Erzeugung von Verfassungsnormen in den Hintergrund gedrängt hat. Denn die Entscheidung darüber, men durch die geringe demokratische Legitimität gerade der Grundgesetzentstehung begünstigt sieht (S. 582). Als Maßstab für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Verfassungsrechtssatzes dienen hier Verfassungssätze, die auch den Verfassungsentscheidungen einer „echten" verfassungsgebenden Gewalt vorgegeben sind. Siehe auch unten S. 53 f. 10 Z u r Garantiefunktion der Verfassung i m Zusammenhang m i t dem Z u rechnungsgebot der Staatsgewaltformel siehe Heller, Souveränität S. 75; zur demokratischen Perspektive des Gesetzmäßigkeitsprinzips siehe u. a. Hans Nef, Sinn und Schutz verfassungsmäßiger Gesetzgebung u n d rechtmäßiger Verwaltung i m Bunde, ZSchwR n. F. 69,133 a ff. (145 a f.); Cellier S. 38 und zum Zusammenhang von demokratischem Prinzip u n d Verordnungsrecht der Verwaltungsbehörden Friedrich Schack, Die Verlagerung der Gesetzgebung i m gewaltenteilenden Staat, i n : Festschrift für K a r l Haff, 1950, S. 332 ff. (343 f.); K ü h n e S. 183 ff. und Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 9. 17 A u f diese Erscheinung hat auch K a r l Zeidler hingewiesen und für das Verwaltungsrecht versucht, den umfassenden Geltungsanspruch des Gesetzmäßigkeitsprinzips aus dem i h m zugrunde liegenden demokratischen Gedanken zu begründen. So leitet er auf diesem Weg z. B. die Geltung des Gesetzmäßigkeitsprinzips auch für die leistende V e r w a l t u n g ab (Einige Bemerkungen zum Verwaltungsrecht und zur V e r w a l t u n g i n der Bundesrepublik seit dem Grundgesetz, Der Staat 62, 321 ff. — 323, 336). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Interpretation der Staatsgewaltformel i n A r t . 20 Abs. 2 Satz 1 GG durch Thieme, Staatsgewalt S. 657 ff. 18 Goeschen sieht i m Grundgesetz geradezu einen Dualismus zwischen einem rechtsinhaltlich-materialen Legitimitätsanspruch einerseits und einem demokratisch begründeten andererseits w i r k s a m werden (S. 1 ff.).

Einleitung

welche Entstehungsweise für die Verfassunggebung zu wählen bzw. wie die Verfassungsrevision positivrechtlich auszugestalten ist, stellt die maßgeblichen Organe primär vor Überlegungen politischer, geschichtlicher, soziologischer und wirtschaftlicher Art. Sie ist i n erster Linie von außerjuristischen Vorstellungen über die zweckmäßige Errichtung und Einrichtung des Verfassungszustandes bestimmt und juristisch kaum festgelegt 19 . Auch bietet der erfolgte Vorgang der Verfassunggebung durch das Volk der rechtswissenschaftlichen Behandlung zwar den Sachverhalt zur Konstruktion, selten aber einen Anlaß zur Prüfung der Verfassungsgeltung, vor allem, wenn er sich innerhalb einer demokratisch orientierten Rechtsgemeinschaft vollzieht. Die i n dieser Arbeit zu untersuchenden Rechtsfragen i m Zusammenhang mit der Einfügung des Art. 41 i n die Hessische Verfassung und der Entstehung des Bonner Grundgesetzes beruhen denn auch auf außergewöhnlich gestalteten Sachverhalten. Der staatsrechtliche Lapsus i m Verfahren der Verfassunggebung ist eine verfassungsgeschichtliche Rarität. Die Prozeduren der plebiszitären und repräsentativen Verfassunggebung werden zudem von einer gesicherten Verfahrenstradition getragen, die dogmatisch nur dort reizvoll zu sein scheint, wo die Verfassunggebung i m Rahmen einer Staatsgründung zugleich noch unter anderen rechtlichen Aspekten zu würdigen ist, z. B. unter „bundesstaatlichen" bzw. „bündischen" oder völkerrechtlichen Gesichtspunkten. Gleichwohl ist es nach der praktischen Sicherung der demokratischen Staatsform i n Deutschland ein legitimes wissenschaftliches Anliegen, sich auf dem Boden demokratischer Vorstellungen über die Rechtserzeugung um die Fragen der Verfassunggebung und nicht nur der Verfassungsänderung zu bemühen. Es läßt die Gewinnung von Rechtsregeln über die Verfassunggebung auch deshalb nicht als naiv oder formalistisch erscheinen, weil ihnen i m Regelfalle entsprochen wird, i n Ausnahmefällen aber ihre Rechtsfolgen nicht gegen den machtvoll erhobenen Zuständigkeitsanspruch eines Organs 20 oder die fertige Geltungswirklichkeit einer Verfassung 21 durchsetzbar sind 22 . 19 Z u den hier außer Betracht bleibenden politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Verfassunggebung vgl. Sieyès S. 56 f. (Übers. S. 90 f.); Ehmke, Verfassungsänderung S. 86 f t , K i n d S. 52 und C. J. Friedrich, Verfassungsstaat S. 135 ff. 20 A l s Beispiel sei der Streit u m die Legitimation der französischen Nationalversammlungen von 1789 (vgl. hierzu Zweig S. 211 ff.) und 1871 (vgl. hierzu Fonteneau S. 168) genannt. 21 Hier ist vor allem an das Problem der demokratischen Legitimität des Bonner Grundgesetzes gedacht. 22 So weist z. B. C. Schmitt die auf das Fehlen allgemeiner Wahlen sich stützende K r i t i k am Selbstverständnis der französischen Nationalversammlung von 1789 als verfassunggebendes Organ des französischen Staatsvolkes m i t der Bemerkung zurück, es wäre ein „ i n diesen Fragen der demokratischen Verfassungslehre besonders abwegiger Formalismus", der Versammlung die

22

Einleitung

Diese kursorischen Anmerkungen zu Erscheinungen und Problemen, die i m Laufe der Untersuchung noch mehrmals angesprochen werden, sollen durch einige wenige 23 terminologische Bemerkungen abgeschlossen werden. Der vieldeutige Begriffsapparat i m Untersuchungsbereich der vorliegenden Arbeit — man denke nur an den Begriff der „Verfassung" — macht eine Festlegung des Sprachgebrauchs i n besonderem Maße erforderlich. Unter dem Begriff der „Verfassung" und des „Verfassungsgesetzes" w i r d i m folgenden, sofern nichts Gegenteiliges gesagt ist, die urkundliche Zusammenfassung m i t besonderer Bestandskraft ausgestatteter Rechtsnormen verstanden, die — jedenfalls nach dem herkömmlichen Verfassungsverständnis — die Organisation des Staatswesens und das Verhältnis von Staat und Bürger i n Grundzügen regeln. Diesem Verfassungsbegriff entspricht der Begriff der verfassunggebenden oder verfassungsgesetzgebenden Gewalt als der auf die Schöpfung dieser Normeinheit bezogenen Befugnis zur Rechtserzeugung. M i t dem Begriff der „Verfassunggebung" oder „Verfassungsgesetzgebung" w i r d der Vorgang der geschlossenen Schaffung einer Verfassungsurkunde bezeichnet, der sich nicht nach den Vorschriften einer geltenden Verfassung über die (Total-) Revision oder unter Bindung an inhaltliche Bestimmungen dieser Verfassung 24 vollzieht. Unter „Verfassungsänderung" ist die Erzeugung von Verfassungsrecht i m Rahmen eines verfassungsgesetzlich vorgesehenen Revisionsverfahrens oder verfassungsgesetzlich bindend festgelegter Rechtsinhalte zu verstehen. Verfassunggebung i n diesem Sinne ist daher immer originäre 25 , Verfassungsänderung immer derivative v o n i h r i n Anspruch genommene verfassunggebende Gewalt abzusprechen (Verfassungslehre S. 87 — Hervorhebung v o m Verfasser). Auch Zweig bezeichnet es als ein „ebenso müßiges als unwissenschaftliches Beginnen, die Ereignisse, welche zum Zusammentritt des Nationalkonvents geführt haben, m i t der Elle des formalen Rechtes messen zu wollen" und fügt die allgemeine Bemerkung hinzu: „ A l l e i n das Recht hat weder die Aufgabe noch die K r a f t , die Geschichte ex post zu maßregeln" (S. 331). 23 Hier interessiert zunächst n u r die m i t dem Begriff der Verfassung u n d der verfassunggebenden Gewalt zusammenhängende Nomenklatur. Die w e i teren Begriffsbestimmungen u n d die sachliche Begründung des gewählten Sprachgebrauchs erfolgen i m Laufe der Untersuchung. 24 Die Freiheit von inhaltlichen Bindungen an die vorausgehende Verfassung sieht auch K l e i n als ein M e r k m a l der originären Verfassunggebung an (Wiedervereinigung S. 130). 25 Der Terminus „originär" w i r d auch i n anderem Zusammenhang verwendet. I n einem politischen Sinne k a n n man als originär eine Verfassung bezeichnen, die am Beginn der modernen Verfassungsgeschichte oder der V e r fassungsentwicklung eines Staates steht u n d sich nicht an vorausgegangenen Verfassungsmodellen anderer Rechtskreise oder anderer Staaten orientiert (vgl. Loewenstein, Verfassungslehre S. 144 f.). Als „originär" w i r d schließlich auch eine Verfassungsnorm angesehen, die durch den historisch-einheitlichen A k t der Verfassunggebung u n d nicht erst durch eine Verfassungsänderung Bestandteil einer Verfassungsurkunde geworden ist (vgl. z. B. Urt. d. BVerfG v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 225 ff. — 233).

Einleitung Verfassungserzeugung. D e m entsprechen die Begriffe „Verfassunggeber", „Verfassungsgesetzgeber 2 6 " u n d „verfassunggebende G e w a l t " einerseits, „verfassungsändernder Gesetzgeber" und „verfassungsändernde G e w a l t " andererseits. V o m B e g r i f f der o r i g i n ä r e n Verfassungg e b u n g ist der B e g r i f f der r e v o l u t i o n ä r e n z u unterscheiden. I m j u r i s t i schen S i n n e 2 7 w i r d m a n v o n l e t z t e r e r d a n n sprechen k ö n n e n , w e n n die E n t s t e h u n g einer V e r f a s s u n g u n t e r „ B r u c h 2 8 " m i t der vorausgehenden Verfassung erfolgt, u n a b h ä n g i g davon, ob erst die neue V e r f a s s u n g die v o r h e r i g e außer K r a f t setzt oder diese bereits d u r c h dazwischenliegende rechtserhebliche V o r g ä n g e i h r e rechtliche G e l t u n g v e r l o r e n h a t 2 9 . E i n e prinzipielle Unterscheidung v o n originärer u n d revolutionärer Entstehungsweise ist deshalb s i n n v o l l , w e i l eine Verfassung eine Verfassungsneuschöpfung v o r s e h e n k a n n , ohne diese a n i h r e eigenen Revisionsb e s t i m m u n g e n z u b i n d e n 3 0 . B e i s p i e l einer o r i g i n ä r e n , aber n i c h t r e v o l u t i o n ä r e n Verfassungsentstehung w ä r e die Schöpfung einer gesamtdeutschen Verfassung entsprechend A r t . 146 G G 3 1 . Sie w ä r e v o m S t a n d p u n k t des Grundgesetzes aus rechtmäßig, ohne sich i n der v o m G r u n d 26 Dagegen bezeichnen Maunz-Dürig zwar den „Schöpfer der Verfassung als Ganzem" als „Verfassunggeber" (Art. 79 Rdnr. 22), jedoch als „Verfassungsgesetzgeber" n u r den verfassungsändernden Gesetzgeber (Art. 79 Rdnr. 3). Eine ähnliche Terminologie findet sich i n der Kommentierung des G r u n d gesetzes durch Klein. Unter Verfassungsgesetzgebung w i r d hier das „ A b ändern (Ergänzen) einer schon geltenden Verfassung" verstanden und v o m Vorgang der Verfassunggebung oder Verfassungsschöpfenden Normsetzung unterschieden (v. M a n g o l d t - K l e i n I I , Vorb. I I 2 c vor A r t . 70 ff. — S. 1333). 27 I n Abgrenzung zum revolutionären A k t nach politisch-sozialem V e r ständnis. Vgl. hierzu Maunz, Gutachten Hessen S. 10. 28 Dieser Begriff ist bewußt zugunsten der späteren Erörterungen unscharf gewählt, die das Verhältnis der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zur Revolutionstheorie zum Gegenstand haben. Dort w i r d auch zu untersuchen sein, inwieweit die K o n t i n u i t ä t zweier Verfassungen, die nicht auf G r u n d positivrechtlicher Bestimmungen verknüpft sind, durch die E x i stenz einer permanenten, unpositivierten, w e i l unpositivierbaren verfassunggebenden Gewalt gewahrt w i r d . Siehe unten 3. Abschnitt, 3. Kapitel, A I V . 20 Vgl. hierzu Dörfle S. 37. 30 Die Möglichkeit einer Unterscheidung von originärer und revolutionärer Verfassunggebung w i r d i n L i t e r a t u r u n d Rechtsprechung von zwei Standpunkten aus geleugnet. Entweder w i r d die Möglichkeit der A n k n ü p f u n g eines verfassunggebenden Aktes an vorausgegangenes Verfassungsrecht — u n d nicht n u r an vorausgegangenes Revisionsrecht — ausgeschlossen (siehe z. B. Götz S. 1021; Maunz, Staatsrecht S. 47; ders., Verfassunggebende Gewalt S. 645 und Zinn-Stein I, A r t . 41 Anm. 2 d — S. 258) oder der Rechtscharakter der V e r fassunggebung an der Existenz u n d der Befolgung vorausgegangener vorkonstitutioneller Verfahrensgesetze bemessen. I m letzteren Falle werden dann alle an solchen Verfahrensgesetzen nicht orientierten A r t e n der Verfassunggebung i n den revolutionären Bereich verwiesen (vgl. z. B. Grewe, Gutachten Hessen S. 6 u n d Ent. d. Hess. S t G H v. 20. 7.1951, AöR 77, 469 ff.— 470). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch noch Scheuner, Verfassunggebende Gewalt S. 582, insb. auch Anm. 8. 31 Voraussetzung ist freilich, daß der gesamtdeutsche Verfassunggeber nicht durch A r t . 79 Abs. 3 GG auf bestimmte inhaltliche Prinzipien festgelegt w i r d . Siehe hierzu unten 3. Abschnitt, 3. Kapitel, A I I I .

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Einleitung

gesetz für seine eigene Abänderung bereitgestellten Revisionsform zu vollziehen 32 . Die originäre Verfassunggebung w i r d meist revolutionäre Verfassunggebung sein 33 , die revolutionäre Verfassunggebung ist immer originär. Unbeantwortet bleibt zunächst noch die Frage, ob i n einer dritten Kategorie die verfassungserzeugenden Akte der sogenannten extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt zusammengefaßt und besonders bezeichnet werden sollen. Diese ergehen nicht i m Zuge einer konzentrierten Neuschöpfung der gesamten Verfassung, sondern einzeln, ohne daß sie, bedingt durch ihre sachliche Bedeutung, unter den auf Detailkorrekturen beschränkten Vorgang der Verfassungsänderung fallen 34 . Ihre Anerkennung durch das demokratische Staatsrecht w i r d noch i m einzelnen zu erörtern sein 35 .

32 Vgl. hierzu Scheuner, Verfassunggebende Gewalt, S. 582 und unten 3. A b schnitt, 3. Kapitel, A I I I . 33 Siehe aber auch S. 23 A n m . 28. 34 F ü r diese Zwischenform der Verfassungserzeugung zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung verwendet L a u x den Begriff „revidierende Verfassunggebung" (S. 60 A n m . 22). 33 Siehe unten 3. Abschnitt.

Erster

Abschnitt

Allgemeine Lehren Erstes Kapitel D i e Rechtsqualität der verfassunggebenden Gewalt des Volkes A. Das rechtstheoretische Verständnis der Verfassungserzeugung in der demokratischen Theorie I. Verfassunggebende Gewalt und Verfassungsgeltung

Nach demokratischer Lehre kann nur diejenige Verfassung rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen, die sich aus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 1 ableitet. Die Regeln über das Wesen und die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt präzisieren die Bedingungen, unter denen eine Verfassung dem Volke zugerechnet werden kann. Der Nachweis dieser Zurechnung ist nach demokratischen Verständnis die Voraussetzung der Verfassungsgeltung. Die Lehre von der Verfassungserzeugung durch das Volk stellt somit nur eine spezielle Ausformung des allgemeinen demokratischen Prinzips dar, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und ausgehen muß. Diese demokratische Grundformel ist trotz ihrer traditionellen Positivierung in den Verfassungsurkunden demokratisch eingerichteter Staaten für die demokratische Theorie notwendig ein vorkonstitutioneller Rechtssatz. Als demokratische Grundnorm 2 beansprucht sie auch im vorverfassungsmäßigen Bereich ebenso 1

Unter „ V o l k " w i r d hier und i m folgenden das „Staatsvolk" bzw. die für dieses handelnde „Aktivbürgerschaft" verstanden. Z u m Begriff des Staatsvolkes siehe eingehend Liermann S. 7 ff.; zu der von i h m vorgeschlagenen U n terscheidung von „Gemeinschaftsvolk" u n d „Gesellschaftsvolk" siehe S. 94. 2 Diese materielle Grundnorm ist — i n rechtstheoretischer Hinsicht — w o h l n u r die demokratische Version der sog. G r u n d - und Ursprungsnorm bei K a r l Engisch i m Sinne einer „die höchsten zur Rechtsschöpfung berufenen Instanzen legitimierenden Regel" (Einheit der Rechtsordnung S. 11). Auch diese höchste N o r m ist nicht identisch m i t der Verfassung i m formellen Sinne, die bezüglich der Technik der Rechtserzeugung „häufig erst eine nähere Entwickl u n g u n d Präzisierung dessen bedeutet, was schon vorher i n einer — etwa durch Revolution proklamierten und zur Anerkennung gelangten — Grundn o r m implizite enthalten w a r " (a. a. O., S. 12 A n m . 1). Z u r Abgrenzung dieser Grundnorm von der Kelsens vgl. Engisch, a. a. O., einerseits u n d Kelsen, Rechtslehre S. 206 f. A n m . 2 andererseits. Z u m verwandten Begriff der „Staatsfundamentalnorm" vgl. Nawiasky, Rechtslehre S. 33 f.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

normative Qualität wie alle Regeln, die dieses allgemeine Zurechnungsgebot für den Vorgang der Verfassunggebung konkretisieren. Diese methodische Gleichbehandlung der vorkonstitutionellen und der innerkonstitutionellen Rechtserzeugung durch das Volk w i r d von der Logik der demokratischen Idee getragen, daß die Verfassunggebung „erst recht i n der Hand des Volkes oder unmittelbar seiner gewählten Vertretung liegen" muß, „wenn schon die Ausübung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung vom Volk abgeleitet w i r d 3 " . Diesen „erst-recht"-Schluß legt auch die Eigenart der gestuften Rechtsorganisation insofern nahe, als sich die Geltung zumindest des innerstaatlichen geschriebenen 4 Rechts weitgehend aus der Verfassung ablesen läßt 5 . Durch den Nachweis der unmittelbaren oder mittelbaren Konformität m i t der Verfassung, die materiell wie formell die Erzeugungsbedingungen nachverfassungsmäßigen Rechts festlegt, w i r d insbesondere die Geltung des Gesetzes® entschieden. Diese umfassende Bedeutung des Verfassungsrechts macht die Einbeziehung der Verfassungserzeugung i n den Geltungsbereich des demokratischen Prinzips unabweisbar. Das demokratische Verständnis der Verfassunggebung begreift die verfassunggebende Gewalt des Volkes als rechtliche Gewalt und qualifiziert demgemäß bereits die Entstehung der Verfassung und nicht nur des der Verfassung nachgeordneten Rechts als rechtlichen Vorgang. Es ermöglicht daher auch, die politische, historische und soziologische Beschreibung 7 , Deutung und Beurteilung der demokratischen Verfassungsentstehung von den rechtswissenschaftlichen Bemühungen zu trennen, die juristisch notwendigen Elemente der einzelnen Verfahrensformen aufzufinden und deren Abgrenzung voneinander nach ihrem juristischen Gehalt zu bestimmen.

3 Peters, Demokratie S. 33 — Hervorhebungen v o m Verfasser. Affolter form u l i e r t nur anders, wenn er die demokratische Rechtserzeugungsmethode als „Ausdruck einer grundsätzlichen Staatsidee" begreift, die danach strebt, den „Gesamtaufbau des Staates" nach ihrem Ziel zu ordnen (S. 49). 4 Nach einer teilweise vertretenen Ansicht bestimmt die Verfassung auch die Zulässigkeit u n d den Umfang der B i l d u n g von Gewohnheitsrecht (vgl. z.B. Burckhardt, Organisation S. 167, 169). Siehe hierzu Hildesheimer S. 12ff.; Rümelin, Gewohnheitsrecht S. 204 u n d K ü h n e S. 96. 5 Vgl. Affolter S.55ff.; Burckhardt, a.a.O., S. 167, 169, 170, 179; Engisch, a. a. O., S. 10 f. u n d Radbruch, Rechtsphilosophie S. 175. 6 Vgl. hierzu auch Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 29 f. 7 Vgl. den Untertitel „politische Beschreibung" zu W i l h e l m Hasbachs D a r stellung der modernen Demokratie.

1. K a p i t e l : Rechtsqualität der verfassunggebende

Gewalt

27

I I . Verfassungsgeltung und Verfassungslegitimität

Die Geltung der demokratisch entstandenen Verfassung ist wesensmäßig keine andere als die juristische Geltung einer Rechtsnorm i m Sinne der allgemeinen Geltungslehre 8 . Auch die demokratisch bestimmte Verfassungsgeltung ist Geltung i m Rechtssinne, wenn die Verfassung „ A n spruch auf Verbindlichkeit als gesetzte (rechtliche) Norm 9 " erheben kann 1 0 . Von dieser juristischen Geltung der Verfassung ist begrifflich die soziale (bzw. tatsächliche 11 oder reale 12 ) Geltung zu unterscheiden 13 . Sie bezieht sich auf die Wirksamkeit der (Verfassungs-)Rechtsnormen i n der sozialen Wirklichkeit 1 4 und ihren Einfluß auf die gesellschaftlichen Zustände und Verhaltensweisen 15 . Die juristische Geltungsform interessiert hier allein. Sie kann i m übrigen von der sozialen Geltung unterschieden werden, unabhängig davon, ob man i m Streit der Geltungslehren der „juristischen" oder der „soziologischen" Theorie 16 folgt. Denn beide Geltungstheorien kennen neben der juristischen Geltungsweise 17 eine soziale Normgeltung. Auch die soziologische Geltungskonzeption, die die Wirksamkeit der Rechtsnorm als Merkmal ihrer juristischen Geltung betrachtet, kann, ohne daß damit die grundsätzliche Verbindlichkeit der Rechtsnorm berührt wird, den Erfolg eines Normge- oder «Verbots i m sozialen Sein abstufen 18 . Auch sie spricht einer Rechtsnorm nicht 8 Z u r Geltung des Rechts als seiner spezifischen Seinsform siehe Affolter S. 6; Bierling, Prinzipienlehre S. 47; Giacometti, Staatsrecht S. 18 f.; Heller, Souveränität S. 47; Husserl, Rechtskraft S. 1, 6; Kelsen, Rechtslehre S. 220 und Larenz, Rechtsgeltung S. 20. 8 Coing, Rechtsphilosophie S. 228. 10 Burckhardt sieht hierin die „Nominaldefinition" des Rechts (Organisation S. 166 I f.). Z u m Begriff der „Geltung" allgemein siehe Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 1965, S. 30 ff. 11 Vgl. Coing, Rechtsphilosophie S. 228; Henkel, Rechtsphilosophie S. 440; M a x Weber, Rechtssoziologie, 1960, S. 53. 12 Vgl. Bühler, Einl. S. X V I I . 13 Vgl. Badura, Methoden S. 38 A n m . 67. 14 Siehe hierzu Henkel, a. a. O., S. 440 f. u n d Husserl, Rechtskraft S. 13 f. Z u r Bedeutung der sozialen Geltung einer Verfassung siehe Burdeau, Verfassungsbegriff S. 399 u n d zu den Bedingungen f ü r eine normative Entfaltung der Verfassung Hesse, Normative K r a f t S. 13. 15 Vgl. A r n d t , Grundgesetz S. 7 u n d Giacometti, Staatsrecht S. 19 f. 16 Z u diesen herkömmlichen Gruppierungen der Geltungslehren vgl. Burckhardt, Organisation S. 193 ff.; Badura, a.a.O., S. 37 ff. u n d Radbruch, Rechtsphilosophie S. 174 ff. Vier Kategorien bildet Larenz (Rechtsgeltung S. 9 ff.). 17 Bedingung der juristischen Geltung nach soziologischem Verständnis ist z. B. die Eigenschaft einer Rechtsnorm als „garantiertes Recht" (Weber, a. a. O. S. 54). Vgl. hierzu auch Ehrlich S. 133 ff. u n d S. 158 ff. 18 Entgegen der streng normativen Theorie ist die juristische Geltungsform gegenüber der sozialen Geltung eine n u r begrenzt selbständige Geltungsweise. Die Rechtsnorm verliert bei entsprechender Minderung ihrer sozialen Geltung auch ihre juristische Verbindlichkeit. Vgl. unten S. 28 A n m . 19 und zur „ R ü c k w i r k u n g der soziologischen Geltung auf die juristische" Coing, Rechtsphilosophie S. 239 f.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

deshalb die juristische Geltung ab, weil deren Anordnung i m Einzelfall keinen Gehorsam gefunden hat 19 . Daher läßt sich auch von ihrem Standpunkt aus die juristische von der tatsächlichen Geltung prinzipiell trennen 20 . Wesentlich unterschieden sind juristische und soziologische Geltungstheorie dadurch, daß erstere mit dem Merkmal der Normwirksamkeit nur die soziale, letztere dagegen die soziale und die juristische Geltungsweise bestimmt 21 . Juristische und soziale Geltung, Aussagen über Geltungsgrund und Geltungsbegriff, über äußere und innere Verbindlichkeit einer Verfassung finden i m vieldeutigen Begriff der Legitimität 2 2 einer Verfassung eine undifferenzierte Ausdrucksweise. Teilweise w i r d mit diesem Begriff nur die juristische Verbindlichkeit einer Verfassung in besonderer Weise gekennzeichnet 23 oder eine Verfassung prädikatisiert, die eine hohe tatsächliche Geltung in der Rechtsgemeinschaft aufweisen kann. Der Begriff der Legitimität w i r d ferner auf den Inhalt einer Verfassung bezogen und drückt dann die Konformität einer Verfassung mit den Staats- und Rechtsvorstellungen eines Volkes 24 aus oder steht für die „Integration durch sachliche Werte 2 5 ". Schließlich w i r d auch die Legitimität einer Verfassung m i t der Legalität i m Sinne der Meßbarkeit der Verfassunggebung an (noch oder nicht mehr) geltendem Recht gleichgesetzt26. I m demokratisch orientierten Sprachgebrauch w i r d der Be19 Vgl. Nef, Schranken S. 125 und ferner i n diesem Zusammenhang Dahm S. 165; Götz S. 1023 und Henkel, Rechtsphilosophie S. 454. 20 Z u einer anderen Interpretation der soziologischen Geltungslehre k o m m t w o h l Henkel. Nach seiner Ansicht kennt die soziologische Lehre n u r die soziale Geltung als Geltungsart (a. a. O., S. 444). 21 So ist z. B. die Anerkennung einer Rechtsnorm durch die Rechtsgenossen bei Bierling ein Element seiner soziologischen Geltungslehre (vgl. unten S. 56 ff), bei A r n d t ein M e r k m a l der sozialen Geltungstoeise einer N o r m (Grundgesetz S. 7 f.). Freilich w i r d bei A r n d t die Geltung des Gesetzes i m Sinne seiner „juristischen Verbindlichkeit" vom „Einfluß auf das gesellschaftliche L e ben" (S. 7) jedenfalls terminologisch nicht immer scharf unterschieden. So bezeichnet er z. B. an anderer Stelle die Annahme eines Gesetzes durch die Rechtsgenossen als einen Vorgang, ohne den k e i n Gesetz „ g i l t " (S. 8). 22 Teilweise spricht man auch von „Legitimation". Vgl. Hamann, Grundgesetz S. 14 und H. Schneider, Grundgesetz S. 937 f. 23 Siehe z. B. v. Hippel, Prüfungsrecht S. 547 und w o h l auch L a u x S. 28, 44. Die an der Verfassung geprüfte u n d nachgewiesene Legalität eines politischen Vorgangs oder Zustandes w i r d daher auch als „verfassungsrechtliche L e g i t i m i t ä t " bezeichnet (vgl. z. B. Leibholz, Strukturwandel S, 115). 24 Siehe Goeschen S. 38 ff. und H. Schneider, Grundgesetz S. 937 f. 25 Smend, Verfassung S. 226. Vgl. auch S. 217. Die Folge eines solchen w e r t orientierten Begriffs der Legitimität sind dann „verschiedene Grade der Legit i m i t ä t " (Smend, a. a. O., S. 166). 26 So bezeichnet z. B. Fritz Münch eine Verfassung als „ l e g i t i m " bzw. „legal", die sich „juristisch aus der vorangehenden Verfassung" ableiten kann (Bonner Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung, i n : Die Dritte Gewalt, Nr. 1, 1954, S. 7 f.). I m allgemeinen w i r d die Gleichsetzung von Legitimität und

1. Kapitel : Rechtsqualität der verfassunggebende

Gewalt

29

griff der Legitimität i n der Regel i n doppelter Weise eingesetzt. Die Legitimität w i r d einmal auf dem Boden eines soziologischen Begriffs der Demokratie einer Verfassung zugestanden, die bei den Rechtsgenossen faktische Anerkennung gefunden hat 2 7 . Zum anderen w i r d sie i n einem normativen Sinne der Verfassung zuerkannt, die i n einem demokratischen Verfahren entstanden ist 2 8 und deshalb als freie Willensentscheidung des Volkes erscheint 29 . Politisch-soziale und juristische Geltung verbinden sich in diesem Falle i m Begriff der demokratischen Legitimität einer Verfassung auf besondere Weise: Die Wahrung des demokratischen Verfahrens der Verfassungserzeugung ist die Voraussetzung — jedenfalls der demokratischen Grundidee nach — für die inhaltliche Richtigkeit einer Verfassung und für deren juristische Geltung. I n diesem Sinne stellt Leisner fest, der Begriff „legitim" tendiere „aus der rein politischen i n die rechtliche Sphäre 30 ". I n Deutschland steht dieser Vorgang i m Zusammenhang mit der rechtlichen Anerkennung der verfassunggebenden Gewalt, wie sie sich vor allem nach dem zweiten Weltkrieg vollzogen hat.

B. Die verfassunggebende Gewalt als rechtliche Gewalt I. Die gegenwärtige Beurteilung der originären Verfassunggebung

Die staatsrechtliche Literatur der Gegenwart i n Deutschland notiert i n aller Regel die Rechtsqualität der verfassunggebenden Gewalt m i t einer Selbstverständlichkeit, die angesichts der Gegenposition des staatsrechtlichen Positivismus wohl nur deshalb nicht erstaunlich ist, weil der Vorstellung einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes das demokratische Prinzip als unbestrittene Basis der staatlichen Ordnung zugrunde liegt 31 . Legalität (hierzu kritisch C. Schmitt, Verfassungslehre S. 88) vermieden. Vgl. z.B. Bachof, Verfassungsnormen S. 33; Maunz, Gutachten Hessen S. 17 und Zinn-Stein I, Einf. I I I (S. 62 f.). 27 So z. B. durch C. Schmitt i n seinem Begriff der stillschweigenden Z u stimmung (a. a. O., S. 91) unter K r i t i k am verfahrensorientierten Legitimitätsbegriff (a. a. O., S. 90 f.). Die Anerkennung oder Zustimmung der Rechtsgenossen w i r d dabei als Folge des Verfassungsinhalts verstanden. Siehe z. B. K u r t Eichenberger, Die oberste Gewalt i m Bunde, 1949, S. 92 f. 28 Vgl. Zülch S. 11 u n d Kägi, Volksinitiative S. 754 a. Die Eigenschaften der „ L e g i t i m i t ä t " oder „Legitimation" werden dann auch dem Organ zugeschrieben, das auf demokratischem Wege m i t verfassunggebender Gewalt ausgestattet worden ist (vgl. z. B. Zülch S. 2). Z u m Zusammenhang von Legitimität einer Verfassung und Verfassungsentstehung siehe auch Krauss S. 581. 2 ® Thoma, Reich als Demokratie S. 192. 50 Verfassunggebung S. 357. 31 Vgl. Urt. d. BVerfG v. 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 ff. (61).

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

Die Volkssouveränität ist, stellt Thieme fest, „soweit sie gilt, selbstverständlich geworden 32 " und m i t ihr die rechtliche Befugnis des Volkes zur Verfassunggebung. Die oft nur indirekten Äußerungen i n der deutschen Literatur zur Normativität der Verfassunggebung durch das Volk stehen zumeist am Rande. Unbefangenheit kennzeichnet i m allgemeinen die Beschäftigung m i t der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, für die eine eingehendere rechtswissenschaftliche Darstellung und Begründung wohl deshalb als zweitrangig erachtet wird, weil sie letzten Endes von der politisch-sozialen Situation getragen wird. Häufig w i r d die verfassunggebende Gewalt des Volkes als „rechtliche Befugnis 33 " oder als „Recht zur Verfassunggebung 34 " dargestellt. Die Arbeiten zu speziellen Problemen der Verfassungsentstehung gehen nach einem Hinweis, die betreffende Staatsordnung gestalte sich demokratisch, zur juristischen Untersuchung der konkreten Fragen über, ohne diesen Schritt theoretisch zu rechtfertigen 35 . Teilweise finden sich Stellungnahmen zur Rechtsqualität der verfassunggebenden Gewalt i m Schrifttum zur Verfassungsänderung. Man bejaht z. B. die rechtliche Existenz einer permanenten konstituierenden Gewalt des Volkes neben der Revisionsgewalt m i t „allgemeinen rechtlichen und geschichtlichen Erwägungen 3®". Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat, soweit sie m i t Fragen der Verfassunggebung befaßt war, den m i t verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Organen eine Rechtsstellung zuerkannt 3 7 . I n konstruktiver Hinsicht interessieren vor allem Äußerungen der Literatur, die aus der verfassungsgesetzlich positivierten Staatsgewaltformel auch für das Verfahren der originären Verfassunggebung 82 Staatsgewalt S. 658. Eine allmähliche Durchsetzung volkssouveräner Vorstellungen auch außerhalb „eigener Traditionen" beobachtet Leisner (Verfassunggebung S. 357 f.). 33 So Maunz, Staatsrecht S. 45. 34 v. Mangoldt, Grundgesetz, A n m . 6 zur Präambel. Danco bezeichnet die Verfassunggebung durch das V o l k als „vorausgesetztes, überpositives, v o r staatliches und vorkonstitutionelles Recht" (S. 23; vgl. ferner S. 25). Zinn-Stein stellen fest, i n der verfassunggebenden Gewalt des Volkes sehe man jedenfalls i n Kontinentaleuropa eine „ausschließliche Verfassungsrechtsquelle" (I, A r t . 41 Anm. 2 a — S. 217). Vgl. ferner Dahm S. 162; Förster S. 4; K ö h l m a n n S. 1; Maunz, Gutachten Wehrbeitrag S. 614; Quaritsch, Kirchen und Staat S. 178 u n d Schlenker S. 74. K i n d meint zwar, es gebe keine N o r m „ i m strengen Sinne", die über die Entstehung einer Verfassung aussage, gesteht aber dem Staatsv o l k ein „Mitwirkungsrecht" an der Verfassunggebung schon vor einer verfassungsgesetzlichen Normierung zu. Diese würde n u r die „ausdrückliche A n erkennung" der Mitwirkungsbefugnisse des Staatsvolkes vornehmen (S. 32). 35 Vgl. z. B. die Gutachten von Grewe und Maunz zum sog. hessischen V e r fassungsstreit. Siehe hierzu unten 2. Abschnitt, 2. Kapitel. 36 v. M a n g o l d t - K l e i n I I , Vorb. I I 2 c vor A r t . 70 ff. (S. 1334) — w o h l i m A n schluß an W. Zeidler, Grundrechte S. 599. 37 Vgl. i m einzelnen Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1, 14 ff. Siehe auch schon Urt. d. vorl. S t G H f ü r das Deutsche Reich v. 12. 7.1921, LammersSimons S. 357 ff. (365).

1. K a p i t e l : Rechtsqualität der verfassunggebende

Gewalt

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Aussagen herleiten und der Souveränitätsformel meist unausgesprochen vorkonstitutionelle Rechtsqualität zuerkennen. Sie bezeichnen z. B. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als „Geltungsgrundlage" des Grundgesetzes 38 oder wählen diese Bestimmung als Ausgangspunkt für eine kritische Stellungnahme zum Verfahren der Grundgesetzentstehung 39 . Die Rechtsqualität der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und der auf ihr beruhenden Verfahrensakte der Verfassunggebung w i r d i m Schrifttum ebensowenig begründet wie bestritten 40 . C. Schmitts Feststellung, die „Lehre von den konstituierenden Vorgängen und von den Erscheinungsformen einer verfassunggebenden Gewalt" gehöre „zur rechts wissenschaftlichen Erörterung 4 1 ", gibt wohl die überwiegende Meinung der gegenwärtigen deutschen Staatsrechtslehre wieder. I I . Die originäre Verfassunggebung und der staatsrechtliche Positivismus

Zur Qualifizierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als rechtlicher Befugnis zur Verfassunggebung findet sich vor allem i n der Theorie des staatsrechtlichen Positivismus deutscher, aber auch schweizerischer Herkunft die Gegenposition. Der monarchischen Legitimitätslehre oder der Vorstellung von der Souveränität des Staates 42 teilweise noch verhaftet, hat der Positivismus seinen inneren Widerstand 43 gegen die übermächtig erscheinende Idee der auch den vorkonstitutionellen Raum erfassenden Volkssouveränität 44 i n rechtstheoretische Argumente gefaßt. Die M i t w i r k u n g des Volkes an der Verfassunggebung läßt sich danach nur dann als Rechtsakt begreifen, wenn sie durch einen Rechts88

L a u x S. 53 f. Asam S. 28. Siehe ferner Golay S. 40 und Zülch S. 10 f. Daß die Staatsgewaltformel des A r t . 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine über den Geltungsbereich der Verfassungsurkunde hinausgehende rechtliche Bedeutung besitzt, stellt w o h l auch Maunz mittelbar durch den Hinweis heraus, daß „das V o l k i m Sinne des A r t . 20 Abs. 2 Satz 2 pouvoir constitué ist" (Maunz-Dürig, A r t . 20 Rdnr. 50 A n m . 4 — Hervorhebung v o m Verfasser). I m übrigen hat schon Jacobi seine Ansicht, das V o l k sei Träger der verfassunggebenden Gewalt, durch Verweisung auf die Staatsgewaltformel der Weimarer Verfassung belegt (S. 242). 40 Vorbehaltlich der noch darzustellenden sog. soziologischen Betrachtungsweisen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Vgl. unten S. 39 f¥. 41 Der Nomos der Erde, 1950, S. 51. 42 Vgl. G. Jellinek, Staatenverbindungen S. 24 ff. 48 I n Hatscheks wenig überzeugender Unterscheidung der französischen und amerikanischen Theorie zur Inhaberschaft der verfassunggebenden Gew a l t von der deutschen w i r d dieses Widerstreben deutlich: Die Weimarer N a tionalversammlung hat die verfassunggebende Gewalt nach seiner Ansicht zwar ausgeübt, aber nicht, w i e nach amerikanischen u n d französischen V o r stellungen, i m Sinne eines „Rechtes der Nation" (Staatsrecht S. 24; vgl. auch Allgemeines Staatsrecht I I S. 33). 44 Vgl. Hans Herzfeld, Demokratie u n d Selbstverwaltung i n der Weimarer Epoche, 1957, S. 18. 39

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

satz ausgewiesen ist. V o r der V e r f a s s u n g aber ist e i n solcher nach p o s i t i vistischer A n s i c h t n i c h t n a c h w e i s b a r 4 5 . D e n n der S t a a t entstehe d u r c h u n d m i t seiner Verfassung, m i t d e m S t a a t aber erst entstehe das Recht. D e r v o r k o n s t i t u t i o n e l l e R a u m , das ist der B e r e i c h der verfassunggebend e n G e w a l t u n d der Verfassungsentstehung, ist f o l g e r i c h t i g „ v o r j u r i stisch 4 0 " oder „ m e t a j u r i s t i s c h 4 7 " . D a r a u s ergeben sich f ü r d e n staatsrechtlichen P o s i t i v i s m u s k l a r e Gegenthesen z u r demokratischen V o r s t e l l u n g v o n der verfassunggebenden G e w a l t : Das Recht des V o l k e s z u r Schaffung der V e r f a s s u n g e x i s t i e r t n u r als politische F o r d e r u n g . Das V o l k ist n i c h t i m rechtlichen, sondern l e d i g l i c h i m i d e e l l e n S i n n e Q u e l l e des Verfassungsrechts 4 8 . E i n rechtlicher V o r g a n g k a n n die E r z e u g i m g v o n V e r f a s s u n g s n o r m e n d u r c h das V o l k n u r sein, w e n n sie sich i n n e r h a l b eines p o s i t i v r e c h t l i c h vorgegebenen Verfassungssystem v o l l z i e h t . Verfassungsschöpfung außerhalb der V e r f a s s u n g steht a u ß e r h a l b des Staatsrechts 4 9 . E i n e verfassunggebende G e w a l t i m Rechtssinne v o r u n d neben der V e r f a s s u n g e x i s t i e r t n i c h t ; verfassungserzeugende G e w a l t i m j u r i s t i s c h e n S i n n e ist n u r die verfassungsändernde G e w a l t 5 0 . D i e G e l t u n g einer V e r f a s s u n g ist daher n i c h t m i t den M i t t e l n d e r Rechtswissenschaft nachweisbar 5 1 . D i e E n t s t e h u n g einer V e r f a s s u n g l ä ß t sich „ n u r i m S i n n e 43 Die vorverfassungsmäßige Zuständigkeit des Staatsvolkes zur Verfassunggebung, f ü h r t Burckhardt (Organisation S. 218 f.) aus, k a n n nur auf dem Rechtssatz beruhen, „daß das Volk, d. h. gewisse Personen einer menschlichen Gruppe, i n gewissen Verfahren das Grundgesetz dieser Gesellschaft i n rechtsverbindlicher Weise aufstellen kann". Dieser Rechtssatz wäre bereits eine V e r fassung, die ihrerseits der rechtlichen Begründung bedürfe. Burckhardts A n sicht, ein solcher Rechtssatz existiere nicht und „über der Verfassung stehe nichts mehr" (a. a. O., S. 214), w i r d freilich nicht durch die von i h m zitierte These von Sieyès belegt, die verfassunggebende Nation sei an das positive Recht nicht gebunden (a. a. O., S. 214 A n m . 1). Burckhardt löst das Problem der Verfassungsgeltung dadurch, daß er es als „logische Notwendigkeit" bezeichnet, „ m i t dem geltenden Gesetzesrecht auch eine geltende Verfassung zu denken" (a. a. O., S. 212 A n m . 1). Auch Zweig beurteilt den Anspruch der Nation auf Selbstorganisation als ein „rechtlich i m höchsten Maße relevantes, nicht aber rechtlich weiter ableitbares F a k t u m " (S. 228). Z u r methodischen Anlage des staatsrechtlichen Positivismus vgl. i m übrigen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 211 ff. 46 So noch jetzt Götz S. 1022. 47 Cellier S. 108. 48 Giacometti, Staatsrecht S. 43. Auch Schulz-Schaeffer ordnet die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes dem „Problemkreis der tatsächlichen Volkssouveränität" zu. N u r die Verfassungsänderung auf G r u n d einer bestehenden Verfassung steht nach seiner Ansicht „ i m Rahmen der rechtlichen Volkssouveränität" (S. 10 — Hervorhebungen v o m Verfasser). 49 Vgl. hierzu K ö h l m a n n S. 13 ff. 50 Folgerichtig w i d m e t sich Hildesheimer n u r der Revisionsgewalt u n d bezeichnet sie allgemein als „verfassungssetzende Gewalt". Sie ist nach seiner Ansicht allein „staatsrechtlich verwertbar" (S. 43). Vgl. ferner Haug S. 157; v. H e r r n r i t t S. 42 u n d Lüchinger S. 87 Anm. 3. 51 Die Weimarer Verfassung ist z. B. „nicht durch juristische A k t e " , sondern durch die „Macht der Tatsachen" entstanden (Hatschek, Staatsrecht S. 56 und ferner S. 24).

1. Kapitel : Rechtsqualität der verfassunggebende

Gewalt

33

einer Einführung i n das geltende Recht" würdigen 5 2 . Das Volk vor der Verfassung ist lediglich ein „sozialer Faktor 5 3 ". Staatsorgan kann nur ein Verfassungsorgan sein 54 . Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes blieb damit für die deutsche Staatsrechtslehre über die historische Verbindung mit den Vorgängen von 1918/19 hinaus i n einem begrifflich-systematischen Zusammenhang mit dem revolutionären Prinzip. Sie war dadurch dem ganzen Unbehagen ausgesetzt, das die Rechtswissenschaft schon immer revolutionären Vorgängen gegenüber empfand 55 , und wurde höchstens als „Notbehelf" akzeptiert, „um nach Revolutionen wieder zu verfassungsmäßigen Zuständen zu gelangen 56 ". Damit trat der Gegensatz von extrem demokratischer und positivistischer Auffassung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes klar hervor: Nach demokratischem Verständnis ist diese immer originär, nach positivistischer Theorie immer zugleich revolutionär 57 . Für die Publizistik bedeutete diese These des deutschen Positivismus, daß zu einer rechtswissenschaftlichen Behandlung der Verfassunggebung und der verfassunggebenden Gewalt kein Anlaß bestand. Der pouvoir constituant wurde nicht als „juristische Gewalt" konstruiert 5 8 . Die Zerlegung der einheitlichen verfassungserzeugenden Gewalt i n eine revolutionäre Handlungsform einerseits und i n die verfassungsgesetzliche Tätigkeit der Revisionsorgane andererseits muß daher als „gesicherter Bestand des deutschen normativen Denkens 59 " angesehen werden. Die vorliegende Untersuchung hat sich dafür entschieden, das Verständnis der verfassunggebenden Gewalt als vorkonstitutionelle Rechtsfigur zur unerörterten Prämisse zu wählen. Von ihrem Standpunkt aus lassen sich daher nur wenige kritische Bemerkungen zur dargestellten Konzeption des staatsrechtlichen Positivismus anfügen. Die Überlegungen müssen vor allem dort ansetzen, wo die positivistische Lehre die 52 M a r t i gebraucht diese Formulierung freilich i n einem anderen Zusammenhang (S. 9). 38 Hildesheimer S. 39. 54 Vgl. Burckhardt, Organisation S. 218 und Hildesheimer S. 45. 55 Vgl. hierzu auch Leisner, Verfassunggebung S. 346. 56 H ä r t u n g S. 230. 57 Der Begriff des „pouvoir constituant" w i r d daher i m zugehörigen Schrifttum entweder als Bezeichnung für die außerrechtliche revolutionäre Verfassunggebung durch das V o l k verwendet (vgl. z. B. Grewe, Gutachten Hessen S. 7) oder steht lediglich f ü r die Rechtsgewalt der Revision (vgl. z. B, v. H e r r n r i t t S. 42). Siehe hierzu auch Leisner, Verfassunggebung S. 367 und Burdeau, Traité I I I S. 204 f. 58 Vgl. Hatschek, Staatsrecht S. 55 f. 59 Leisner, a. a. O., S. 371.

3 Steiner

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

rechtliche m i t der f o r m e l l e n V e r f a s s i m g eines Staates gleichsetzt 8 0 u n d d a m i t z u e i n e m b e g r i f f l i c h e n J u n k t i m v o n V e r f a s s u n g g e b u n g u n d Staatse n t s t e h u n g k o m m e n k a n n 6 1 . D e n n diese Betrachtungsweise e r m ö g l i c h t es d e m P o s i t i v i s m u s , die grundsätzlichen B e d e n k e n gegen die rechtliche E r f a ß b a r k e i t der Staatsgründung auch gegen die rechtswissenschaftliche B e s c h ä f t i g u n g m i t der E n t s t e h u n g einer formellen Verfassung vorzutragen 6 2 . F r e i l i c h w i r d die k r i t i s c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der K o p p e l u n g v o n V e r f a s s u n g s e n t s t e h u n g u n d Staatsentstehung d a d u r c h e r schwert, daß die einschlägige L i t e r a t u r n i c h t i m m e r e r k e n n e n läßt, ob sie die V e r f a s s u n g s u r k u n d e oder einen a l l g e m e i n e r e n Verfassungsb e g r i f f m e i n t , w e n n sie v o n „ V e r f a s s u n g " spricht 6 3 . S o w e i t aber die E n t s t e h u n g des Staates m i t der Schöpfung einer V e r f a s s u n g i m f o r m e l l e n S i n n e gleichgesetzt w i r d , ist i n d e n staats- u n d v ö l k e r r e c h t l i c h e n U n t e r s u c h u n g e n z u r Frage der K o n t i n u i t ä t des Deutschen Reiches u n d der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d überzeugend herausgestellt w o r d e n , daß der juristische F o r t b e s t a n d eines Staatsgebildes u n a b h ä n g i g v o m Wechsel z u m i n d e s t seiner f o r m e l l e n V e r f a s s u n g b e u r t e i l t w e r d e n m u ß 6 4 . D i e k o n k r e t e historische V e r f a s s u n g ist eben n u r die spezielle O r g a n i s a 60 Dagegen hat bereits P h i l i p p Zorn Bedenken angemeldet (Staatsrecht I S. 33 ff.; ders v Bundesstaat S. 477 ff.). Eine Identität von Staat u n d Verfassung n i m m t er nur für den F a l l an, daß der Begriff der „Verfassung" allgemein die Existenz einer irgendwie organisierten Staatsgewalt, nicht aber das geschriebene Verfassungsgesetz bezeichnet. 61 Verfassunggebung und Staatsentstehung koppeln begrifflich: Burckhardt, Kommentar S. 9; Cellier S. 108; Hatschek, Staatsrecht S. 54 (bei der Gründung eines Bundesstaates); Hildesheimer S. 38; G. Jellinek, Staaten Verbindungen S. 262, 265 f. und Schönherr S. 54 f. Weitere Literaturnachweise finden sich bei Laband (Reichsstaatsrecht I S. 8 ff.) und Zorn (Staatsrecht I S. 32 ff. A n m . 36 ff.). 62 Siehe G. Jellinek, Staatslehre S. 266 ff. (273); ders., Staatenverbindungen S. 262, 266; Hans Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920, S. 137; Rauschenberger S. 115 ff. und Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de Pétat, Bd. 1, 1920, S. 62. Weitere Literaturnachweise finden sich bei Hornheffer S. 48 Anm. 1. 63 So geht w o h l Laband von einem weiteren Begriff der Verfassung aus. N u r deren Entstehung fällt nach seiner Meinung m i t der Staatsentstehung zusammen (a. a. O., S. 9 f.). Vgl. ferner Somló, Grundlehre S. 309 f. 64 Vgl. z. B. W i l h e l m Grewe, E i n Besatzungsstatut f ü r Deutschland, 1948, S. 74, 78; Friedrich Klein, Das Besatzungsstatut f ü r Deutschland, SJZ 49, Sp. 738 ff. (743) und Ulrich Scheuner, Die Funktionsnachfolge u n d das Problem der staatsrechtlichen Kontinuität, i n : V o m Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung, Festschrift für Hans Nawiasky, 1956, S. 9 ff. (10 f.). I m System Kelsens ist der Wechsel der positivrechtlichen Verfassung ohne E i n fluß auf die rechtliche Existenz des Staates (Staatslehre S. 249). Der Staat bleibt identisch, solange die Grundnorm bleibt (vgl. Usteri S. 185). Z u r K o n t i nuität des Staates bei Verfassungsumstürzen vgl. ferner noch Rauschenberger S. 113 ff. u n d allgemein zu den bei der Lösung des „Kontinuitätsproblems" verwendeten K r i t e r i e n die Nachweise bei H. J. Wolff, Juristische Person S. 456 f., 458.

1. K a p i t e l : Rechtsqualität der verfassunggebenden Gewalt

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t i o n M eines Staatswesens, das i n seinem F o r t b e s t a n d v o m rechtlichen Schicksal der einzelnen V e r f a s s u n g z u t r e n n e n ist. Das g i l t u n a b h ä n g i g davon, ob m a n die K o n t i n u i t ä t eines Staates an das F o r t b e s t e h e n des Staatsvolkes k n ü p f t 6 6 oder an die Tatsache, daß das S t a a t s v o l k T r ä g e r der S t a a t s g e w a l t b l e i b t 0 7 . D a b e i h a t i m ü b r i g e n v o r a l l e m die l e t z t genannte A n s i c h t k l a r g e s t e l l t , daß die Z u w e i s u n g der S t a a t s g e w a l t u n d d a m i t der verfassunggebenden G e w a l t an das V o l k u n a b h ä n g i g v o n der Existenz einer diese Z u o r d n u n g aussprechenden p o s i t i v r e c h t l i c h e n V e r fassungsnorm i s t 6 8 . M a n w i r d zu einer b e g r i f f l i c h e n U n t e r s c h e i d u n g v o n Staats- u n d Verfassungsentstehung sogar i n d e n F ä l l e n k o m m e n , i n denen S t a a t s g r ü n d u n g u n d Staatsgestaltung, w i e z. B . b e i der N e u b i l d u n g v o n S t a a t e n 6 9 , z e i t l i c h k a u m t r e n n b a r e V o r g ä n g e s i n d u n d das V o l k sich als S t a a t s v o l k u n t e r U m s t ä n d e n erst i n der M i t w i r k u n g a m V e r f a h r e n der Verfassunggebung, z. B . der W a h l einer n a t i o n a l e n V e r s a m m l u n g , k o n s t i t u i e r t . Jedenfalls steht einer solchen T r e n n u n g die L e h r e v o n der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s n i c h t entgegen. D e n n sie o r d n e t die k o n s t i t u i e r e n d e F u n k t i o n e i n e m e x i s t e n t e n S t a a t s v o l k z u 7 0 u n d sagt u n m i t t e l b a r nichts ü b e r die B i l d u n g dieses Staatsvolkes — der vorausgesetzten politischen E i n h e i t i m S i n n e C. S c h m i t t s 7 1 — u n d ü b e r ®5 Vgl. Friedrich August Frhr. v. d. Heydte, Deutschlands Rechtslage, i n : Die Friedenswarte, Bd. 50 (1950/51), S. 323 ff. (327); v. H e r r n r i t t S. 45 und Kölble S. 586. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Fleiner, Gründung S. 70 f. M Siehe Herbert Krüger, Bundesrepublik Deutschland und Deutsches Reich, SJZ 50, Sp. 113 ff. (115 f.) und Liermann S. 108 ff. Weitere Nachweise finden sich bei Schuster (S. 31 ff.). 67 Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre S. 93 und Stödter S. 46, 47. Z u den sich f ü r C. Schmitt bei der Beurteilung der K o n t i n u i t ä t zwischen Kaiserreich u n d Weimarer Republik ergebenden Schwierigkeiten siehe P. H a r t m a n n S. 252. 88 So hält z. B. Stödter der Ansicht, nach dem Geltungszusammenbruch der Weimarer Verfassung ruhe die Staatsgewalt nicht mehr beim Volk, entgegen, daß es für die „Existenz einer politischen Verfassung nicht auf das geschriebene Verfassungsgesetz ankommt" (S. 48). Politische Verfassung versteht er dabei w o h l als Gegenbegriff zur geschriebenen, nicht zur rechtlichen Verfassung. eö Vgl. Dupraz S. 357 a. 70 Vgl. hierzu eingehend C. Schmitt, Verfassungslehre S. 79. Er weist am Vorgang der Entstehung der amerikanischen Bundesverfassung nach, wie die Vorstellung von der verfassunggebenden Gewalt i m Schatten der Staatsentstehung stand (a. a. O., S. 78). Das Staatsvolk kann eine staatsrechtliche Größe sein, auch w e n n es nicht Träger der verfassunggebenden Gewalt ist (vgl. hierzu A r n o l d S. 11) oder diese verliert (Köhlmann S. 87 f.). Z u m Verhältnis von Staatsvolk u n d Verfassunggebung siehe auch die Feststellungen Liermanns zu den Verfassungsvorgängen i n Deutschland i n den Jahren 1848,1871 u n d 1919 (S. 102,105 ff., 107). 71 Siehe a. a. O., S. 21. Daher konnte es auch zu dem V o r w u r f von Jahrreiß kommen, C. Schmitt habe i n seiner Verfassungslehre das Problem der „Staatsentstehung" und der Entstehung der „politischen Einheit" vernachlässigt (System S. 344 — dort gesperrt). Z u m Verhältnis von Staats- und Verfassungsentstehung vgl. auch Bodo Dennewitz, V o l k und Staat, 1943, S. 48.

3*

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

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die Techniken der Staatsentstehung aus 72 . Andernfalls würde sie sich von ihrem Standpunkt aus i n einem circulus vitiosus bewegen: Das Staatsvolk ist der Schöpfer der Verfassung, die Verfassung ihrerseits aber wäre die Schöpferin des Staatsvolkes. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes besteht eben nicht vor dem Staat 73 . Eine andere, hier nicht zu erörternde Frage ist es, ob eine Verfassung „ins Leben t r i t t " , bevor die wesentlichen Staatsorgane effektiv werden 74 . Die prinzipielle methodische Position des staatsrechtlichen Positivismus w i r d freilich durch diese Überlegungen nicht widerlegt. Auch die folgenden Untersuchungen unternehmen den Gegenbeweis nicht. Sie wollen lediglich das Selbstverständnis der demokratischen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes verdeutlichen, wenn sie dieses mit abweichenden Theorien konfrontieren. I I I . Echte und unechte Versuche einer normativen Begründung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes

Es fehlt nicht an Versuchen insbesondere naturrechtlicher Herkunft 7 5 , den Anspruch des Volkes auf Setzung von Verfassungsrecht zu begründen 76 und damit die „Frage nach der rechtlichen Natur des pouvoir Constituante seiner „rechtlich erfaßbaren Struktur" oder „rechtlichen Wirkung 7 7 " zu lösen. Dogmengeschichtlich bedeutsam ist dabei vor allem die Konstruktion des Gesellschaftsvertrages geworden 78 . Die modernen Deutungen der Staatsgewaltformel bleiben nicht bei deren ge72 z. B. darüber, welche Individuen zum Staatsvolk i m juristischen Sinne gehören. 73 So ist i n jedem Falle die rechtliche Existenz einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes an den Fortbestand des Staates geknüpft (Ernst Friesenhahn, Grundgesetz und Besatzungsstatut, i n : Hecht, Staat, Wirtschaft, Bd. 2, 1950, S. 145 ff. —150). 74 Siehe hierzu Giese, Bundesstaatsgründung S. 70 ff., ders., Das G r u n d gesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1955, S. 5 f. und ferner Danco S. 45 ff. sowie Wengler S. 88 f. Anm. 86. 73 Z u r naturrechtlichen Begründung von Volkssouveränität und verfassunggebender Gewalt siehe Messner S. 679 ff., 740 ff. 76 Siehe neben den bei Sauerwein (S. 81 A n m . 136) u n d Leisner (Verfassunggebung S. 349 A n m . 2) nachgewiesenen Lehren noch Förster (S. 4, 35, 52) u n d Burdeau (Traité I I I S. 213 ff.). Cellier hält es nicht für notwendig, die Souveränität des Volkes zu begründen, da diese „auf G r u n d eines Sozialgesetzes, das keiner weiteren Legitimierung bedarf", gelte (S. 40; vgl. auch S. 12). Freilich umfaßt bei Cellier die Idee der Volkssouveränität nicht die vorkonstitutionelle verfassunggebende Gewalt des Volkes. 77 78

Vgl. die Umschreibungen der Fragestellung bei Affolter S. 67 f.

Siehe hierzu u. a. Hedslob S. 18 ff. u n d C. Schmitt, Verfassungslehre S. 61 f. Zur Abgrenzung v o m Herrschaf tsver trag vgl. z. B. Jagmetti S. 4 und zu den sog. Vertragstheorien allgemein Bierling, Grundbegriffe S. 68 ff.

1. K a p i t e l : R e c h t s q a l i t ä t der verfassunggebende

Gewalt

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schriebener Aussage stehen. Die Ansicht, die Legitimität aller staatlichen Herrschaftsäußerungen beruhe auf dem Willen des Volkes, ist wesensmäßig ebenso eine vorverfassungsgesetzliche Vorstellung wie das theologische Verständnis der Volkssouveränität, das i m Volk den göttlich eingesetzten Herrschaftsträger sieht 79 und seinen Willen deshalb als verbindliche irdische Instanz versteht 80 . Eine kurze Darstellung sollen hier nur die Untersuchungen Sauerweins finden, die neue Wege einschlagen. Sauerweiii bemüht sich, die Begriffe „Demokratie" und „verfassunggebende Gewalt" aus den „Grundgegebenheiten" der menschlichen Existenz — dem Menschen in seiner Pluralität, der Verschiedenartigkeit jedes Menschen, der Begrenztheit des Raumes und der Zeit 8 1 — als sachlogische Strukturen herzuleiten. Aus ihnen w i r d als sogenannte erste sachlogische Struktur die These entwickelt, daß „nur ein objektivistischer Standpunkt" „ i n bezug auf den genannten Sachverhalt' sinnvoll sei 82 ". „ M i t der Forderung eines ,objektivistischen' Standpunktes" werde „das anspruchsvolle Begehren gestellt, der einzelne solle erkennen, welches zu jeder Zeit die — von uns i m Begriff der ,objektiven Einsicht' fiktiv zusammengefaßte — Totalität aller menschlichen Beziehungen ist 8 3 ." „Da Objekt der — als ,gegeben' angenommene — Sachverhalt, also zur Hauptsache die Pluralität des Menschen ist", sei die „objektive Einsicht" dann am genauesten bestimmt, wenn zu einer bestimmten Frage alle Individuen Stellung genommen haben 84 . Daraus folgert Sauerwein „logisch" das „für das Verfassungsrecht höchst bedeutsame Ergebnis": Die „oberste Einsicht" ist dann „am genauesten", wenn alle Individuen an der Bestimmung der „obersten Einsicht" direkt teilnehmen 85 . I n den Begriffen der Demokratie und der verfassunggebenden Gewalt habe diese Erkenntnis ihren Niederschlag gefunden. Auf der ersten sachlogischen Struktur baut Sauerwein die zweite „Einsicht" auf, „daß prinzipiell, um eine wahrheitsgetreue ,oberste Einsicht' zu garantieren, die Mitgestaltung und Mitbestimmung aller Individuen an der ,obersten Einsicht' zu sichern ist 8 0 ". Damit entwirft er zugleich ein be79

Vgl. aber auch Klaus Mörsdorf, Kirchenrecht, Bd. 1, 11. Aufl. 1964, S. 45 f. Näheres bei Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 20 Rdnr. 46 ff. Z u m Begriff der Volkssouveränität nach katholischer Auffassung siehe Mörsdorf, a. a. O., S. 46. Z u r Vereinbarkeit der i n A r t . 20 Abs. 2 Satz 1 GG niedergelegten Aussage m i t der katholischen Lehre vgl. Wernicke in: Bonner Kommentar, A r t . 20 Erl. 2 c, und v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 V 4 a (S. 595) einerseits, v. Mangoldt, G r u n d gesetz, A r t . 20 Anm. 3 (S. 36) andererseits. 81 S. 154. 82 S. 156. 83 S. 157. 84 S. 157 f. 85 S. 158. 8r > S. 158. 80

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

stimmtes Programm der Volkssouveränität, die unmittelbare Demokratie 8 7 . Alle bisher genannten Versuche, die vorkonstitutionelle Rechtsnatur der verfassunggebenden Gewalt 8 8 des Volkes zu begründen, sind dadurch gekennzeichnet, daß sie das sachliche Ziel anstreben, die Volksherrschaft als solche vom Ursprung her als rechtmäßig zu erweisen 89 . Dagegen kommen vor allem Affolter und Kelsen staatsformneutralen, methodologischen Forderungen nach, wenn sie die Verfassunggebung durch das Volk i n die Rechtssphäre einbeziehen. So muß Affolter eine (Grund-)Norm auffinden, die das Volk i m vorkonstitutionellen Raum zur „Einheit" formt 9 0 und die rechtliche Basis für die Verfassunggebung abgibt 9 1 . Denn er geht von der rechtstheoretischen These aus, daß alle Staatswillensbildung durch verfassungsmäßig eingesetzte, i n ihren Zuständigkeiten festgelegte Staatsorgane zu erfolgen hat 0 2 . Eine Norm der erst zu schaffenden Verfassung kann aus rechtslogischen Gründen nicht das verfassunggebende Volk in das Rechtserzeugungssystem einordnen 93 . Diese Funktion erfüllt die Grundnorm. Seiner lediglich methodischen Intention entsprechend legt Affolter dabei die aufgefundene Grundnorm nicht auf einen bestimmten Verfassungserzeuger fest. Das Staatsvolk ist nur ein möglicher von der Grundnorm ausgewiesener Verfassunggeber 94 . Durch diese Neutralität des Grundnorminhalts gegenüber den durch die Souveränitätstheorien angebotenen obersten Rechtserzeugern unterscheidet sich die normlogische Theorie Affolters von den echten Versuchen einer normativen Konstituierung des demokratischen Prinzips i m vorkonstitutionellen Bereich ebenso wie die Lehre Kelsens 05. Da für diesen der Geltungsgrund einer Norm nur die Geltung einer anderen Norm sein kann 9 6 , geht er für den Vorgang der 87 Darauf, daß seine Ansicht Rousseaus Konzeption des Gemeinwillens nahesteht, weist Sauerwein selbst h i n (S. 160 A n m . 36). 88 Sauerwein faßt sie als „Idealistische Darstellungen des pouvoir constituant" zusammen (S. 81). 89 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch G. Jellinek, Staatslehre S. 723 f. 90 I n der Schaffung dieser Einheit vollzieht sich für Affolter ein Vorgang der Objektivierung, der es allein ermögliche, daß durch die kollektive A u s übung der verfassunggebenden Gewalt als einer Summe von Einzelwillen objektives Recht entsteht. Denn das Recht als verbindliches Sollen k a n n nach seiner Ansicht nicht aus der Selbstverpflichtung der einzelnen Rechtsgenossen entstehen (S. 69 f.). Z u diesen, durch das Stichwort „volonté générale" (Rousseau, Contrat social I V 2) angesprochenen Fragen siehe Fraenkel S. 8, 14; E. Kaufmann, Volkswillen S. 7 ff.; Laun, Mehrheitsprinzip S. 176 ff. und Schindler, Staatswillen S. 26 ff. 91 S. 73. 92 Affolter S. 55 f. 93 Affolter S. 66 f. 94 Vgl. S. 68 f., 70, 72. 95 Vgl. ferner Usteri S. 72 f. 98 Siehe Rechtslehre S. 196.

1. K a p i t e l : R e c h t s q a l i t ä t der verfassunggebende

Gewalt

39

Verfassungserzeugung von der vorausgesetzten Existenz einer Verfassung „ i m rechtslogischen Sinne" aus 07 , die den Verfassungserzeuger legitimiert 9 8 und zugleich m i t diesem den Vorgang der Verfassunggebung in den rechtlichen Raum hineinnimmt 9 9 . Die Folgerungen aus diesem normlogischen Aufbau der Rechtserzeugung decken sich dabei teilweise m i t den Vorstellungen der demokratischen Rechtserzeugungslehre 100 . So bestimmt sich die Schaffung der positivrechtlichen Verfassung nach den formalen Regeln der Grundnorm 1 0 1 über die Zurechnung der positiven Verfassung zum Willen des durch die Grundnorm eingesetzten Verfassunggebers 102 . Der Vorgang der Verfassunggebung gehört der rechtlichen Sphäre an. Das verfassungserzeugende Volk w i r d als Staatsorgan tätig 1 0 3 . Die Änderung oder Vernichtung der positivrechtlichen Verfassung hat nicht notwendig einen Wechsel des Trägers der verfassunggebenden Gewalt und das Ende des Staatsgebildes zur Folge 104 . Aber Kelsens Grundnorm ist eben nur formal und auf keinen bestimmten obersten Normerzeuger festgelegt 105 . Das Staatsvolk kann der durch die Grundnorm berufene Verfassungsschöpfer sein, muß es aber keineswegs 106 . Denn mit der Einführung des Effektivitätsprinzips 107 i n das Rechtserzeugungssystem ist für Kelsen der effektive Verfassunggeber legitim 1 0 8 . Damit gestatten die normativen Lehren Affolters und Kelsens i m Prinzip ebenso nur eine fallweise Festlegung des zur Verfassungserzeugung berufenen Willensträgers wie die soziologische Betrachtungsweise der Verfassunggebung, die eine „a priori bestehende Volkszuständigkeit 97 Z u r Lehre von der Verfassung i m „rechtslogischen" u n d „positivrechtlichen" Sinne siehe Staatslehre S. 248 ff. u n d Rechtslehre S. 202. 98 Vgl. Rechtslehre S. 197, 201, 202. 99 Beispiele einer praktischen Anwendung finden sich bei Fleiner-Giacom e t t i (S. 25 f.) und Kraft-Fuchs (S. 533). 100 Kelsen bemerkt i n diesem Zusammenhang, sein Grundnormbegriff gleiche teilweise den naturrechtlichen Vertragslehren (Staatslehre S. 250). 101 Vgl. hierzu Büchel S. 51 f. 102 Z u r demokratischen K o n s t r u k t i o n siehe oben A I . 103 Vgl. Affolter S. 25 f., 31 f., 59, 71 f. und Usteri S. 72. Z u r demokratischen Lehre v o m Verfassunggeber als Staatsorgan siehe unten I V 3. 104 Kelsen, a. a. O., S. 249 und Usteri S. 185. 105 Vgl. Badura, Methoden S. 40. loe Siehe i n diesem Zusammenhang auch Ehmke, Verfassungsänderung S. 33. 107 Siehe Rechtslehre S. 215. Die Effektivität oder Wirksamkeit der Verfassung ist zwar nicht deren Geltungsgrund oder Geltung selbst, jedoch die Bedingung der Geltung (a. a. O., S. 215, 220). Vgl. i m einzelnen a. a. O., S. 217 ff. u n d hierzu Reinhold Zippelius, Z u m Problem der Rechtsfortbildung, N J W 64, 1981 ff. (1981 A n m . 4). 108 a. a. O., S. 214.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

i n b e z u g a u f die V e r f a s s u n g g e b u n g " a b l e h n t 1 0 9 u n d d e n T r ä g e r der verfassunggebenden G e w a l t nach allgemeinen M e r k m a l e n als d e n p o l i tischen W i l l e n b e s t i m m t , „ d e r sich i m Staate durchzusetzen v e r m a g 1 1 0 " oder „dessen M a c h t oder A u t o r i t ä t i m s t a n d e i s t 1 1 1 " , die V e r f a s s u n g z u geben. B e i der A n w e n d u n g dieser F o r m e l n w i r d z w a r die f a l l w e i s e Fests t e l l u n g des „ z u s t ä n d i g e n " Verfassungserzeugers m e i s t n i c h t e r f o r d e r l i c h sein. D e n n die Rechtserzeugungssysteme s i n d i n der Regel auf e i n b e s t i m m t e s 1 1 2 , f ü r eine gewisse D a u e r festgelegtes oberstes Rechtsetz u n g s s u b j e k t ausgerichtet. A u c h w i r d die Erzeugerfeststellung d u r c h die E x i s t e n z anderer politisch-sozialer Gesetzmäßigkeiten erleichtert, z. B . die B e o b a c h t u n g einer „ T e n d e n z " der verfassunggebenden G e w a l t , „ i m A k t e der Verfassungsschöpfung die R e v i s i o n s g e w a l t an sich z u reißen, d. h. z u m i n d e s t , diese G e w a l t auf k e i n anderes L e g i t i m i t ä t s p r i n z i p z u g r ü n d e n als auf jenes, das i h m selbst A u t o r i t ä t v e r l e i h t 1 1 3 " . D o c h geht der A n s p r u c h 1 1 4 der d e m o k r a t i s c h e n L e h r e v o n der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s i n d o p p e l t e r H i n s i c h t ü b e r dieses „Schema der t a t sächlichen M a c h t v e r t e i l u n g 1 1 5 " h i n a u s : Das Volk w i r d — z u m i n d e s t f ü r jede d u r c h b e s t i m m t e A t t r i b u t e q u a l i f i z i e r t e 1 1 6 Rechtsgemeinschaft — als unabsetzbarer Verfassungserzeuger gedacht 1 1 7 . 109 Götz S. 1022 unter Auseinandersetzung m i t den Thesen von Maunz (Staatsrecht S. 45 ff.; ders., Verfassunggebende Gewalt S. 645). Z u Unrecht sieht er seine Ansicht, die verfassunggebende Gewalt sei eine „ n o r m a t i v nicht faßbare" Größe durch die Feststellung bei Maunz bestätigt, das Staatsvolk könne nie „zuständige Stelle" sein (Verfassunggebende Gewalt S. 647). Die demokratische Lehre erfaßt den pouvoir constituant als rechtliche Erscheinung, ohne damit zugleich die allein durch Maunz, a. a. O., angesprochene Frage der N o r mierbarkeit ihrer Äußerungen zu bejahen. 110 Götz S. 1021 u n d ähnlich H . J . W o l f f , Juristische Person S. 454 sowie Heller, Staatslehre S. 278. Auch Jagmetti weist dem Willensträger die Schaffung einer Verfassung zu, bei dem sich „ a m meisten Macht ansammelt" (S. 33). Das V o l k sei keineswegs „ v o n Natur aus" oder „denknotwendig" i m Besitze dieser Macht (a. a. O.). Nach Ansicht Jagmettis verwandelt sich die „ n u r t a t sächliche konstituierende Gewalt" „ i n eine rechtliche" erst dann, „ w e n n sie i n einer konkreten Verfassung dem V o l k w i r k l i c h zugeschrieben w i r d " (S. 34). 111

C. Schmitt, Verfassungslehre S. 75.

112

Auch die Dachkonstruktion der sog. Staatssouveränität konnte auf die Dauer die Entscheidung i m Dualismus von demokratischem und monarchischem Prinzip nicht verhindern. Vgl. Affolter S. 48. 113 HaugS. 156. 114 I m Sinne von „ l a nation en a le droit" (Sieyès S. 55 — Übers. S. 89), u n d nicht von „ I m Besitze sein heißt hier i m Rechte wohnen" (Gerhard A n schütz, Das Programm der Reichsregierung, JW 18,751 ff. — 751). 115

Wie es C. Schmitts Lehre i m Gegensatz zur französischen Theorie nach der Ansicht Leisners kennzeichnet (Verfassunggebung S. 118 ff.). 118 z.B. w e n n die Rechtsgemeinschaft auf einem „geläuterten Rechtsbewußtsein" (Thoma, Wesen der Demokratie S. 32), einem bestimmten M e n schenbild (Scheuner, Repräsentation S. 222 f.) aufgebaut oder durch einen gewissen Bildungsstand (J. Beck S. 325) ausgezeichnet ist. Vgl. ferner Siegfried Landshut, Volkssouveränität und öffentliche Meinung, i n : Gegenwartspro-

1. Kapitel: R e t s q u a l i t ä t der verfassunggebende

Gewalt

41

Diese Skizze der v i e l f ä l t i g e n Ä u ß e r u n g e n 1 1 8 z u m „ S t a n d o r t p r o b l e m " der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s sei d a m i t abgeschlossen 1 1 9 . D i e f o l g e n d e n U n t e r s u c h u n g e n basieren a u f d e m M o d e l l der d e m o k r a tisch o r i e n t i e r t e n Rechtsgemeinschaft u n d b e g r e i f e n das Z u r e c h n u n g s gebot der S t a a t s g e w a l t f o r m e l als v o r k o n s t i t u t i o n e l l e n Rechtssatz, dessen k o n k r e t e A u s f o r m u n g e n , z . B . i n der L e h r e v o n der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s , a u f das m o d e r n e verfassungsbestimmte u n d p y r a m i d a l e Rechtserzeugungssystem bezogen s i n d 1 2 0 . Dieser Rechtssatz b e s t i m m t als S u b j e k t der V e r f a s s u n g g e b u n g das V o l k u n d l e g t die B e d i n g u n g e n fest, „ u n t e r denen e i n Satz oder Gebot als A u s d r u c k des w a h r e n W i l l e n s des B e r e c h t i g t e n angesehen w e r d e n m u ß 1 2 1 " . Verfassungg e b u n g u n d verfassungsmäßiger Rechtssetzung l i e g t g e m e i n s a m 1 2 2 das demokratische P r i n z i p als Basis der Rechtserzeugung z u g r u n d e — eine M o d e l l v o r s t e l l u n g , die v o n der politischen W i r k l i c h k e i t e i n e r s c h r i t t w e i s e n D u r c h s e t z u n g der d e m o k r a t i s c h e n Rechtserzeugungsidee 1 2 3 oder bleme des internationalen Rechts u n d der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 579 ff. 117 Vgl. hierzu Rudolf Laun, Mehrheitsprinzip S. 175 ff. Kritisch zur V o r stellung eines unverlierbaren natürlichen Rechts des Volkes auf Verfassunggebung Henke (S. 38) u n d Jagmetti (S. 33 f.). Zur Idee der freiheitlichen Demokratie als einer von der konkreten politisch-sozialen Situation unabhängigen Staatsform siehe auch M a r t i n Drath, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 60 f. 118 Hinzuweisen wäre noch auf die von Viehoff i n Anlehnung an Hans J u lius Wolff unternommenen rechtstheoretischen Bemühungen zur Frage, ob die Entstehung einer Verfassung als „sozialer" oder auch positivrechtlicher V o r gang zu würdigen sei (S. 17 f.). Viehoff begreift die verfassunggebende Gewalt als eine „vorpositivrechtliche" Gewalt und qualifiziert die Beziehungen z w i schen Staatsvolk u n d repräsentativem Organ beim Vorgang der Verfassunggebung als „soziale" Vertretung (S. 61 ff.). 119 Bei einer weiteren Auswertung des Schrifttums wären noch die Arbeiten heranzuziehen, die sich m i t dem demokratischen Gedanken unter dem Gesichtspunkt des Majoritätsprinzips auseinandersetzen. Siehe z. B. Heinrich Höpker, Grundlagen, Entwicklung und Problematik des Mehrheitsprinzips und seine Stellung i n der Demokratie, Diss. K ö l n 1957; Schindler, Staatswillen S. 66 ff., 80 ff. sowie Georg Simmel, Soziologie, 4. Aufl. 1958, S. 192 ff. 120 Dabei ist hier nicht zu entscheiden, ob das System der abgestuften Normenerzeugung historisch gesehen auf die Auffächerung der einheitlichen Gew a l t des Volkes i n verfassunggebende u n d gesetzgebende Gewalt zurückgeht oder ob sich das demokratische Prinzip einem bereits vorgegebenen Stufenbau der Rechtsordnung angepaßt hat. 121 So beschreibt Bierling allgemein den I n h a l t seiner „ G r u n d n o r m " (Grundbegriffe S. 19). 122 Z u r Frage, ob der Träger der verfassunggebenden Gewalt auch Subjekt der Verfassungsgewalten, insbesondere der verfassungsändernden Gewalt, sein „muß", vgl. Haug S. 156; K i n d S. 31 u n d Viehoff S. 92. 123 So wurde z. B. die deutsche Nationalversammlung i m Jahre 1919 zwar nach demokratischen Grundsätzen gewählt. Dennoch w a r auf G r u n d der politischen Lage die Möglichkeit einer Entscheidung der Nationalversammlung für eine undemokratische Räteverfassung gegeben. Vgl. Liermann S. 108.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

des Dualismus unterschiedlich legitimierter Träger von Rechtsetzungsgewalt absieht 124 . Aus dieser Prämisse ergeben sich Konsequenzen i n methodischer wie sachlicher Hinsicht.

I V . Methodische und sachliche Folgerungen aus dem normativen Verständnis der verfassunggebenden Gewalt

1. Juristische und politische Betrachtungsweise des demokratischen Prinzips Die verfassunggebende Gewalt des Volkes in der beschriebenen Weise normativ zu verstehen und für die vorliegende Untersuchung vorauszusetzen, befreit freilich nicht von allen methodischen Sorgen. Zwar w i r d damit die konstituierende Gewalt des Volkes für das hier zugrunde gelegte Modell einer Rechtsgemeinschaft nicht nur als Gegenstand einer politischen Forderung qualifiziert, die i m Vorgang der Verfassunggebung erfüllt werden kann. Die Abgrenzung der politischen von der juristischen Betrachtungsweise der Verfassunggebung bereitet jedoch noch in anderer Hinsicht Schwierigkeiten. Soweit die originäre Verfassunggebung i n Frage steht, w i r d es darauf ankommen, die rechtlich möglichen und rechtlich „gleichwertigen" Formen der Ausübung von verfassunggebender Gewalt gegenüber einem „nur" politisch einzuordnenden Anspruch auf allgemeine oder konkrete Ausschließlichkeit einer bestimmten Verfahrensart der Verfassunggebung aufzuzeigen. Die differenzierende Darstellung des juristischen und des politischen Aspekts kann dabei bereits bei der Deutung des Sprachgebrauchs beginnen. Während z. B. die politische Theorie unter der Verfassunggebung „durch das Volk" teilweise nur die Technik der Verfassungserzeugung sieht, in der das Volk unmittelbar durch Sachabstimmung der Verfassung Geltung verleiht, w i r d die juristische Lehre i n diesen Ausdruck auch die Form einer rein repräsentativen Verfassunggebung einbeziehen 125 . Die notwendige Abgrenzung w i r d freilich dadurch erschwert, daß sich i n jedem Rechtskreis eine bestimmte politische Übung der Verfassunggebung zu einer allein rechtmäßigen Gewohnheit verdichten kann. Der prinzipiell „offen" zu interpretierende Grundsatz, daß alle Staatsgewalt 124 Z u dem damit mittelbar ausgeklammerten Problem der Staatssouveränität siehe Hennis, Souveränität S. 12 ff., 16, 27, 39. 125

Siehe unten 2. Abschnitt, 1. Kapitel, Β I I . Als politische Begriffe sind „Volkssouveränität" u n d „Demokratie" auch steigerungsfähig, als juristische Begriffe jedoch Grenz- oder Minimalbegriffe. Dieser doppelte Begriffsgebrauch findet sich ζ. B. bei Affolter (S. 46 f.). Gesteigert w i r d das M e r k m a l „demokratisch" i m U r t e i l des BVerfG v o m 23.10.1951 (BVerfGE 1, 14 ff. — 62).

1. K a p i t e l : Rechtsqualität der verf assunggebenderi Gewalt

43

vom Volke ausgeht, würde dann m i t rechtlicher Relevanz 126 i n bestimmter Weise festgelegt werden 1 2 7 . Aber auch innerhalb einer positivierten Verfassungsordnung w i r f t das normative Verständnis der verfassunggebenden Gewalt Probleme auf. So stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt für die juristische Untersuchung nur dann, wenn man die Zuständigkeit des Volkes zur Verfassunggebung als vorkonstitutionelle Rechtsmacht begreift. Diese Frage ist wiederum nur eine Teilfrage innerhalb der durch die Lehre von den ungeschriebenen Zuständigkeiten des Staatsvolkes aufgeworfenen Probleme, die ohne die Prämisse einer vorkonstitutionellen und damit unter Umständen auch neben- bzw. außerkonstitutionellen Rechtsstellung des Volkes nicht diskutiert werden müßten. Verdeckter strahlen die Auswirkungen des hier gewählten Standpunktes i n die Auslegung der Verfassung hinein. Die bei der Verfassungshermeneutik i n gleicher Weise wie bei der Interpretation von Gesetzen aufgegebene Abgrenzung der rechtsnormorientierten von der rechtspolitischen Argumentation i n der Unterscheidung „de lege lata" bzw. „de lege ferenda" erhält einen besonderen Aspekt. Die Verfassung hat wegen der vorverfassungsmäßigen Struktur des demokratischen Prinzips die Vorgegebenheiten eines „allgemeinen demokratischen Staatsrechts 128 " zu berücksichtigen. Die Grenzziehung zwischen geltendem und erwünschtem Verfassungsrecht w i r d durch das Gebot der konformen Auslegung der Verfassung an diesen vorverfassungsmäßigen Strukturen erschwert 129 . Sie ist nur möglich, wenn der allein an der Normativität teilhabende „ K e r n " der Staatsgewaltformel herausgearbeitet wird. Verschwiegen soll freilich nicht werden, daß dieser normative „ K e r n " der Staatsgewaltformel durch Eliminierung der verschiedenen historisch-politischen Dogmen nur begrenzt freigelegt werden kann, wenn man darauf verzichtet, das normative Verständnis der verfassunggebenden Gewalt zu begründen. Auch kann nicht verborgen bleiben, daß der folgende Beitrag zum „allgemeinen demokratischen Staatsrecht" 126 I n Frankreich k a n n diese Rechtserheblichkeit gegebenenfalls durch die „ t r a d i t i o n républicaine (et) révolutionnaire" vermittelt werden. I h r weist Leisner den Charakter eines „ius suppletivum" und i n gewissen Fällen einer „authentischen Interpretation" zu, die „etwa die M i t t e hält zwischen A u s legungsmittel und Gewohnheitsrecht" (Verfassunggebung S. 11). Vgl. zu diesem Begriff noch Leisner, V o l k u n d Nation S. 97 ff., insb. S. 100 f. 127 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Affolter S. 37 f.; K i n d S. 27 Anm. 14 (in Anlehnung an Leibholz, Strukturwandel S. 80) und Leisner, Verfassunggebung S. 387 f. 128 120

K ö h l m a n n S. 78.

K l a r trennt z. B. Menzel „politische Einwände aus dem Gedanken der Volkssouveränität" als „vorkonstitutionelle Erwägungen" (Gutachten Wehrbeitrag S. 312 — Hervorhebung v o m Verfasser) von der Entscheidung des V e r fassungsgesetzgebers „de lege lata" (a. a. O., S. 310).

44

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

letztlich aus der Sicht des deutschen Rechtskreises gegeben wird. Denn bei der Ausdeutung eines Satzes, der, wie die Staatsgewaltformel, i m Zentrum der Rechts- und Staatsvorstellungen einer Rechtsgemeinschaft steht, gibt es letztlich keinen Dispens von der rechtskreisbedingten Enge des juristischen Grundempfindens.

2. Der deklaratorische Charakter der positivierten Staats gewaltformel Ist der Satz, daß die oder alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht 130 , eine vorkonstitutionelle Grund norm, die dem Volk die Staatsgewalt und damit auch die verfassunggebende Gewalt zuweist, so stellt die i n modernen Verfassungsurkunden regelmäßig wiederkehrende Souveränitätsformel nur eine bereits bestehende, in der Verfassunggebung durch das Volk schon praktisch gewordene Rechtslage fest 131 . Dies gilt freilich nur für den hier zugrunde liegenden Modellfall. Wo sich die Volkssouveränität erst in der Verfassung verwirklicht 1 3 2 , besitzt die positivrechtliche Staatsgewaltformel volle Konstitutivität. Von der Frage der konstitutiven oder deklaratorischen Funktion der Souveränitätsformel i m beschriebenen Sinne zu unterscheiden ist die Beurteilung ihres juristischen Eigengewichts innerhalb eines geltenden Verfassungssystems, z. B. als Befugnisnorm für ungeschriebene Entscheidungszuständigkeiten des Staatsvolkes in Verfassungssachen 133.

3. Das verfassunggebende Volk als Staatsorgan Das vorkonstitutionelle Verständnis der Staatsgewaltformel eröffnet dem Staatsvolk auch als Verfassunggeber 134 die von der positivistischen Lehre verweigerte Qualifizierung als Staatsorgan. Denn die Souveränitätsformel legt rechtssatzmäßig die Befugnis des Staatsvolkes zur Ver130

Z u m Verständnis dieses Satzes siehe auch Liermann S. 176 ff. v. H e r r n r i t t erachtet die Bestimmung des Souveräns u n d der Staatsform i n einer Verfassung insofern immer als deklaratorisch, als die „Ausgestaltung bzw. Umgestaltung der tatsächlichen Machtverhältnisse deren rechtlicher Festlegung durch die Verfassung stets voraus"geht (S. 48 f. — dort gesperrt). 132 So läßt sich nach der Ansicht Liermanns i m Rückblick nicht feststellen, ob Deutschland nach der Revolution von 1918 zeitweise durch eine D i k t a t u r der Räte oder von Anfang an demokratisch regiert wurde (S. 108). 133 Siehe hierzu unten 3. Abschnitt, 1. Kapitel, Β I. 134 A u f G r u n d der Verfassung w i r d das Staatsvolk unbestritten als Staatsorgan tätig. Vgl. G. Jellinek, Staatslehre S. 583; Leibholz, Repräsentation S. 132; v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 Anm. 4 a (S. 595) und Ent. d. Bayer. VerfG H v. 2. 12. 1949, V G H n. F. 2 I I 181 ff. (218). 131

1. Kapitel : Rechtsqualität der verfassunggebende fassunggebung fest u n d o r d n e t V o l k e s d e m Staate z u 1 3 5 .

Gewalt

den verfassunggebenden

Willen

45 des

D i e positivistische T h e o r i e r ü g t f r e i l i c h n i c h t n u r das F e h l e n einer grundsätzlichen rechtssatzmäßigen Z u w e i s u n g d e r V e r f a s s u n g g e b u n g a n das V o l k . Sie v e r l a n g t ü b e r die p r i n z i p i e l l e Z u o r d n u n g v o n verfassunggebendem V o l k s w i l l e n u n d S t a a t s w i l l e n 1 3 6 h i n a u s f ü r die Q u a l i f i k a t i o n einer Person oder P e r s o n e n m e h r h e i t als Staatsorgan e i n M i n i m u m an Organisationsrecht, das z. B. das V e r f a h r e n der W i l l e n s b i l d u n g regelt u n d d e n O r g a n w i l l e n i n den G e s a m t z u s a m m e n h a n g der staatlichen W i l l e n s b i l d u n g e i n o r d n e t 1 3 7 . W i r k t das S t a a t s v o l k b e i der F o r m u n g des S t a a t s w i l l e n s m i t , b e d a r f danach z. B . die A r t der z u r E n t s c h e i d u n g e r f o r d e r l i c h e n M e h r h e i t oder die Z u g e h ö r i g k e i t der einzelnen G l i e d e r des Staatsvolkes z u r S t i m m b ü r g e r s c h a f t einer n o r m a t i v e n F e s t l e g u n g 1 3 8 . N u r d u r c h sie e r h a l t e das V o l k einen „ e n t s c h e i d u n g s f ä h i g e n W i l l e n " 1 3 0 u n d w e r d e z u r A k t i v b ü r g e r s c h a f t , die a l l e i n i m v o r k o n s t i t u t i o n e l l e n u n d k o n s t i t u t i o n e l l e n R a u m O r g a n q u a l i t ä t h a b e n k ö n n e 1 4 0 . A b e r auch 135 N u r k r a f t eines entsprechenden Rechtssatzes kann nach der Lehre vom Staatsorgan der natürliche W i l l e einer Person oder einer Vielheit v o n Personen dem Staate zugerechnet werden. Dies gilt auch f ü r das Staatsvolk (Affolter S. 56). Z u r Staatsorgantheorie siehe G. Jellinek, a.a.O., S. 540 ff.; Kelsen, Staatslehre S. 267 ff.; H. J. Wolff, Vertretung S. 236 ff. sowie Affolter S. 56 m i t weiteren Nachweisen S. 57 Anm. 212. Wer die Existenz einer vorkonstitutionellen Staatsgewaltformel leugnet, k o m m t zwangsläufig zur Ansicht, daß das Volk einen rechtlich relevanten W i l l e n erst auf Grund der Verfassung äußert. Vgl. z. B. Cellier S. 93. Auch M a l l m a n n sieht i m verfassunggebenden V o l k der Präambel zur Weimarer Verfassung n u r den Träger der Staatsgewalt i m h i storisch-politischen Sinne, der als Element der sozialen, nicht der Rechtsordnung tätig w i r d (S. 78 i m Anschluß an die Begriffsbildung bei Triepel, Reichsaufsicht S. 539). Das V o l k ist i n dieser Eigenschaft dann auch nicht Staatsorgan (Mallmann S. 77). 136 Siehe oben A n m . 135. 137 Vgl. Affolter S.25; Büchel S.86ff.; Jacobi S. 254 Anm. 11 und ferner Bäumlin, Demokratie S. 12. 138 Vgl. Bierling, Grundbegriffe S. 79 f. und K i n d S. 52. 139 Siehe Heller, Staatslehre S. 278. Wie ein V o l k „substantiell w i e technisch" „aus einer amorphen Menge zu einer entscheidungsfähigen Willenseinheit" gelangt (Heller, a. a. O.), bleibt nach der Ansicht Waldeckers i n der „ r e i n theoretischen Aufmachung" des pouvoir constituant offen (S. 36). 140 Dementsprechend grenzen die Kommentierungen zu A r t . 20 Abs. 2 GG vom Volk als „politisch-ideeller Einheit" i m Sinne des Satzes 1 die A k t i v b ü r gerschaft des Satzes 2 ab, die die Staatsgewalt ausübt Vgl. z. B. v. MangoldtK l e i n I, A r t . 20 Anm. V 4 d (S. 595); Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 20 Rdnr. 49; Wernicke i n : Bonner Kommentar, Erl. 2 b zu A r t . 20, und allgemein schon H. J. Wolff, Juristische Person S. 448. Staatsvolk i m Sinne des A r t . 20 Abs. 2 GG u n d Aktivbürgerschaft setzt dagegen v. Mangöldt gleich (Grundgesetz, A r t . 20 A n m . 3 — S. 136). Vgl. ferner zu A r t . 2 d. Verf. v. N R W K l e i n r a h m i n : Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 2 Anm. 3 a (S. 49). V. Mangöldt lehnt sich dabei an die Lehre zur Weimarer Verfassung an (vgl. hierzu die Nachweise bei v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 2 0 V 4 d — S. 596). Z u m Verhältnis von Staatsvolk und Stimmbürgerschaft siehe allgemein E. Kaufmann, Volkswillen S. 12 und Leibholz, Repräsentation S. 52.

46

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

die demokratische T h e o r i e h a t t r o t z der B e w e r t u n g der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s als rechtliche G e w a l t das verfassunggebende V o l k n u r v e r e i n z e l t als Staatsorgan q u a l i f i z i e r t 1 4 1 . T e i l w e i s e w u r d e auch der verfassunggebende W i l l e des V o l k e s z w a r als Staatsw i l l e n b e u r t e i l t , die E i n s t u f u n g des verfassunggebenden V o l k e s als Staatsorgan jedoch a u s d r ü c k l i c h a b g e l e h n t 1 4 2 . V o r a l l e m aber h a t sich die i n der klassischen französischen T r a d i t i o n stehende T h e o r i e d e r verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s n i c h t u m die S t a a t s o r g a n q u a l i t ä t des V o l k e s als Verfassunggeber b e m ü h t , sondern i m G e g e n t e i l b e i der Wesensbeschreibung des p o u v o i r c o n s t i t u a n t gerade jene M e r k m a l e hervorgehoben, die die Organeigenschaft ihres Trägers ausschließen 1 4 3 : D i e verfassunggebende G e w a l t w i r d als „ n a t ü r l i c h " , i h r e Ä u ß e r u n g e n w e r d e n als u n o r g a n i s i e r b a r 1 4 4 u n d i h r T r ä g e r w i r d als Hechtsmacht ü b e r d e m Staat dargestellt, der erst d u r c h die V e r f a s s u n g seine O r g a n i sation erhält 145. Das P r o b l e m der Q u a l i f i k a t i o n des V o l k e s als S t a a t s o r g a n i m v o r k o n s t i t u t i o n e l l e n R a u m ist ohne eingehende B e s c h ä f t i g u n g m i t d e r L e h r e v o m Staatswillen 1 4 ® n i c h t z u l ö s e n 1 4 7 . Diese V o r a u s s e t z u n g k a n n die 141 So bezeichnet z. B. Friedrich K l e i n den Verfassunggeber als „Staatsorgan" (Bundes verfassungsgertcht und Südweststaatfrage, AöR 77, 452 ff. — 455). Siehe ferner Liermann S. 114 und i n diesem Zusammenhang zur Lehre v o m „natürlichen Staatsorgan" Bäumlin, Verfassung und Verwaltung S. 70. 142 So kann zwar A r n o l d das verfassunggebende V o l k nicht als Staatsorgan qualifizieren, w e i l die Geltung der Verfassung „ i m Grunde auf einer T a t sache beruht". Der verfassunggebende W i l l e des Volkes sei jedoch i n jedem Falle als Staatswille anzusehen, denn „ f ü r die höchste Stufe des staatlichen Rechts, f ü r das Verfassungsrecht", müsse „jedenfalls eine Ausnahme gelten, wenigstens, soweit die verfassunggebende Gewalt beim Volke liegt" (S. 12). 143 Freilich hat sie trotz der grundsätzlichen qualitativen Abgrenzung des verfassunggebenden Volkes von dem auf G r u n d der Verfassung tätig werdenden Volke den Unterschied nicht darin gesehen, daß das verfassunggebende V o l k als eine außerhalb der Rechtsordnung stehende Menge tätig w i r d . Die Einheit des Volkes ist vielmehr ein beiden Volksbegriffen gemeinsames M e r k mal. Daher k a n n auch Waldecker sagen, i m Falle der Errichtung eines neuen Staates „ n i m m t das Bekenntnis zum pouvoir constituant vorweg, was erst i n der kraft des pouvoir constituant erlassenen oder zu erlassenden Verfassung ausgesprochen w i r d , nämlich der Zusammenschluß der Beteiligten zur Einheit des Staatsvolkes" (S. 36). Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes geht von einem „verfaßten" Staatsvolk aus. Siehe Krüger, Staatslehre S. 200. 144 Hierzu Näheres unten 3. Abschnitt, 1. Kapitel., A I . Vgl. ferner Maunz, G u t achten Hessen S. 14 und Krüger,Staatslehre S. 834. 145 Vgl. Quaritsch, Kirchen und Staat S. 179. 146 Offen bleibt auch die Frage nach der juristischen Form des Volkes innerhalb der demokratischen Staatsordnung. Die naturrechtlichen Vertragslehren konstruierten das Staatsvolk unter dem Einfluß römisch-rechtlicher Vorstellungen als juristische Person (Liermann S. 63 f.). Insbesondere Rousseau gab unter Eliminierung des Herrschaftsvertrages dem Volke eine Rechtspersönlichkeit und i n der Figur der volonté générale den einheitlichen W i l l e n (Liermann S. 64 f.). Vgl. (zur weiteren dogmatischen Entwicklung) L i e r m a n n S. 68 ff. und (zu seinem eigenen Lösungsvorschlag, das V o l k i n das Recht i n

1. K a p i t e l :

echtsqualität der verfassunggebende

Gewalt

47

v o r l i e g e n d e A r b e i t n i c h t schaffen. D i e f o l g e n d e n U n t e r s u c h u n g e n w e r d e n jedoch das verfassunggebende S t a a t s v o l k a n die O r g a n q u a l i t ä t h e r a n f ü h r e n , i n d e m sie eine K l ä r u n g der rechtlichen S t e l l u n g des V o l k e s i m v o r k o n s t i t u t i o n e l l e n B e r e i c h u n t e r n e h m e n . D a b e i w i r d sich die S t a a t s g e w a l t f o r m e l b e i entsprechender I n t e r p r e t a t i o n v o n — f r e i l i c h begrenzter — O r g a n i s a t i o n s k r a f t erweisen. D e n n sie b e i n h a l t e t u n a u s gesprochen einen T e i l der Techniken, „ d u r c h welche das V o l k als E i n h e i t ü b e r das V o l k als V i e l h e i t herrschen" k a n n 1 4 8 .

4. Die Prüfung

der Verfassungsgeltung

durch den

Richter

W e n n m a n d e m V o r g a n g der Verfassunggebung, w i e h i e r , Maßstäbe j u r i s t i s c h e r N a t u r z u g r u n d e legt, so ist eine J u r i s d i k t i o n der V e r f a s sumgsentstehung p r i n z i p i e l l m ö g l i c h 1 4 0 . I s t z. B . Verfassungsrecht i n e i n e m Rechtsstreit a n z u w e n d e n , so w i r d das z u r E n t s c h e i d u n g berufene G e r i c h t die G e l t u n g der V e r f a s s u n g als V o r f r a g e b e u r t e i l e n k ö n n e n 1 5 0 , soweit n i c h t eine spezielle Z u s t ä n d i g k e i t , z. B . zugunsten eines b e s t i m m t e n Gerichts oder eines b e s t i m m t e n V e r f a h r e n s 1 5 1 , festgelegt ist. Z u m Form einer „realen Gesamtpersönlichkeit" einzuordnen) S. 73 ff. Siehe ferner (zur Lehre von der Volkspersönlichkeit) H. J. Wolff, Juristische Person S. 449 f.; (zur Einordnung des Volkes i n den Staat) Waldecker S. 49 f. und (zum Verhältnis von Staat und Volk) Leibholz, Repräsentation S. 124 ff. sowie Zweig S. 59, 60 A n m . 1. 147 p ü r den konstitutionellen Bereich sieht i m m e r h i n Fuß die Organqualität des Staatsvolkes bereits i n der allgemeinen Ausübungsregelung des A r t . 20 Abs. 2 Satz 2 GG statuiert. Durch die W a h l - und Abstimmungsnormen komme die Organeigenschaft n u r „zur konkreten Entfaltung" (S. 394). Siehe ferner i n diesem Zusammenhang L i e r m a n n S. 114 ff. 148 Heller, Souveränität S. 75. Er selbst nennt als Beispiel solcher „Techniken" das Majoritätsprinzip und die Repräsentation. Ferner w i r d der Staatsgewaltformel zu entnehmen sein, daß das V o l k über eine i h m vorgelegte Verfassung m i t einfacher Mehrheit entscheidet. Vgl. hierzu Herzog S. 86 u n d Maunz, Staatsrecht S. 46. 149 Auch Giese bejaht eine richterliche Prüfung der Verfassunggebung an den „allgemeinen staatsrechtlichen Grundsätzen" und den „elementaren V o r schriften über das Zustandekommen eines Gesetzes" (Gutachten Hessen S. 19). 150 v. Hippel meint, diese Befugnis ergebe sich „ n u r aus dem Sinn der F u n k tion" : „Der Richter, der bestellt ist Recht zu sprechen, hat allererst zu prüfen, ob i h m solches vorliegt" (Prüfungsrecht S. 547). 151 Eine ausdrückliche richterliche Zuständigkeit zur Überprüfung der Verfassungsgeltung w i r d positivrechtlich k a u m verankert und n u r i m Wege einer extensiven Interpretation vorhandener Kompetenzvorschriften anzunehmen sein. So versteht z. B. Grewe den Begriff der i n A r t . 132 Hess. Verf. v. 1.12.1946 (GVB1. S. 229) als Maßstabnorm für Gesetze u n d Verordnungen vorgesehenen „Verfassung" i n einem materiellen Sinne und bezieht i n i h n auch solche Gesetze ein, die zum Zwecke der Verfassunggebung ergangen sind. Die genannte Bestimmung ermächtigt daher nach seiner Ansicht den Hessischen Staatsgerichtshof, die Rechtsgültigkeit der Hessischen Verfassung an vorkonstitutionellen Gesetzgebungsakten der bezeichneten A r t zu messen (Gutachten Hessen S. 53).

48

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

Problem w i r d die richterliche Entscheidung über die Verfassungsgeltung, sei es inzident, sei es i n einem Verfahren der Normenkontrolle, erst dann, wenn der Richter, wie es insbesondere bei der Verfassungsgerichtsbarkeit meist der Fall sein wird, über die Gültigkeit einer Verfassung zu entscheiden hat, auf der seine Gerichtsbarkeit beruht 1 5 2 . Soweit das Gericht nur die ursprüngliche oder spätere Einfügung einer oder mehrerer Verfassungsbestimmungen zu beurteilen hat und deren Geltung von der Geltung der Verfassung insgesamt isoliert entscheiden kann, w i r d die verfassungsrechtliche Grundlage seiner Gerichtsbarkeit auch durch eine negative Entscheidung in der Geltungsfrage nicht berührt 1 5 3 . Keine Bedenken gegen eine förmliche richterliche Entscheidung bestenen ferner auch dann, wenn der Richter die Geltung der Verfassung insgesamt zu prüfen hat und sie in seinem Spruch bejaht 1 5 4 . Systematisch stellt sich ihm dabei die Frage der Verfassungsgeltung bereits bei der Prüfung seiner Entscheidungszuständigkeit. Denn i n sie kann und muß der Richter nicht nur eintreten, wenn seine Zuständigkeit i m Einzelfall streitig ist, sondern auch dann, wenn mit der Wirksamkeit der Gerichtserrichtung und Gerichtseinrichtung eine wesentliche Voraussetzung seiner Gerichtsbarkeit i n Frage steht. Verneint er jedoch die Geltung der Verfassung insgesamt und damit auch der Vorschriften, die seine Gerichtsbarkeit konstituieren, kann es zu einem förmlichen richterlichen Spruch auch nicht i n der Form einer Prozeßentscheidung kommen 155 . Ein negatives Urteil über die Geltung einer Verfassung als Ganzes durch ein von dieser eingesetztes Gericht ist nicht möglich.

152 Soweit ersichtlich, haben sich bisher n u r v. Hippel (Prüfungsrecht S. 547) u n d Jahrreiß (Gutachten Hessen S. 4) m i t dieser Frage befaßt. 153 Jahrreiß beschränkt die Entscheidungsbefugnis des Richters auf V o r schriften, die i n einem besonderen, gleichzeitigen oder späteren Verfahren i n die Verfassung aufgenommen worden sind (a. a. O.). Die i m Zusammenhang m i t der Lehre von den verfassungswidrigen Verfassungsnormen gestellte Frage Hans Nawiaskys, ob „ein auf G r u n d einer Verfassung errichteter Gerichtshof legitimiert sei, sich über die seine einzige Grundlage bildende Verfassung hinwegzusetzen" betrifft w o h l nicht die hier allein interessierende formale Berechtigung zur Geltungsentscheidung (Positives u n d überpositives Recht, JZ 54, 717 ff. — 717). Siehe ferner i n diesem Zusammenhang auch Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t L 20 (1961), Berlin 1963, S. 53 ff. (79). 154 Jahrreiß dagegen meint, die Verfassung i m ganzen sei immer „selbstverständlich gültig" anzusehen (a. a. O.).

als

155 Eine Entscheidung hält w o h l auch v. Hippel nicht für möglich, w e n n er die Zuweisung einer Zuständigkeit zum negativen Geltungsausspruch durch positive Rechtsvorschriften nicht für ausreichend hält, da ihre „Rechtskraft" „nicht größer sein" könne „als die der Verfassung, i n der sie stehen" (Prüfungsrecht S. 547).

Zweites Kapitel Die formale Struktur der demokratischen Rechtserzeugungslehre A. Das Wesen der Normerzeugung durch das Volk nach demokratischem Verständnis I. Allgemeine Geltungslehren und demokratische Geltungstheorie

Der i m folgenden unternommene Versuch, die Struktur der demokratischen Rechtserzeuguingstechnik durch Einordnung der demokratischen Rechtsgeltungslehre in die Muster der allgemeinen Geltungslehren zu beschreiben, setzt voraus, daß eine derartige Lokalisierung prinzipiell möglich ist. Die herkömmlichen Geltungstheorien legen nun die Bedingungen, von denen die Geltungsqualität einer Rechtsnorm nach ihren Vorstellungen abhängt, allgemein , d. h. für alle Rechtsordnungen und unabhängig von der konkreten Staatsform eines geschichtlichen Gemeinwesens fest. Die demokratische Lehre dagegen erscheint als die Geltungstheorie eines bestimmten staatsrechtlichen Systems. Daher findet sich auch die Ansicht, die traditionellen Rechtsgeltungstheorien seien rechtsphilosophische Lehren und „staatsrechtlich belanglos, weil sie i n dem Bemühen, für alle Zeiten und für die ganze Menschheit den ,Grund' des Rechts aufzuspüren, i m allgemeinen verschweben und die spezifischen Fragestellungen des neuzeitlichen und demokratischen Staates ignorieren müssen" 1 . Werden damit die demokratische Geltungslehre ausschließlich dem Staatsrecht, die allgemeinen Geltungstheorien ausschließlich der Rechtsphilosophie zugeordnet, so entspricht diese Systematik zumindest nicht dem Selbstverständnis der von der jeweiligen Disziplin entwickelten Rechtsgeltungsvorstellungen. Denn Bierling hat m i t seiner rechtsphilosophischen Anerkennungslehre die Deutung staatsrechtlicher Vorgänge unternommen 2 und sie gegenüber der demokratischen Geltungslehre verteidigt 3 . A u f der anderen Seite hat die staatsrechtliche Literatur zur deutschen Revolution von 1918 i m Zusammenhang mit der Prüfung der Geltung sogenannten Revolutionsrechts eine 1 Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 29. Die Frage nach der Verbindlichkeit einer Verfassung weist Quaritsch aus dem öffentlichen Recht i n die Rechtsphilosophie (a. a. O., S. 30 A n m . 43). 2

Siehe u n t e n S. 57 A n m . 53.

8

Siehe unten S. 58 A n m . 55.

4 Steiner

50

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

allgemeine Geltungstheorie entwickelt 4 . Doch kann das materielle Verhältnis der demokratischen Geltungslehre zu den allgemeinen Geltungstheorien hier auf sich beruhen. Denn die folgenden Überlegungen dienen nur dazu, die formale Struktur der demokratischen Geltungslehre zu erhellen.

I I . Die Geltungsbestimmung von Rechtsnormen als konstruktives Problem

1. „Richtigkeit"

des Rechts und Rechtsgeltung

I m modernen Rechtserzeugungssystem w i r d die Geltung nachverfassungsmäßiger Rechtssätze durch Festlegung eines Normerzeugers i n einem übergeordneten Rechtssatz bestimmt. Verfahrensmäßige und inhaltliche Geltungsbedingungen werden i n aller Regel hinzugefügt 5 . Keine andere Technik kann sinnvollerweise für die Erzeugung der Verfassung gelten. Für die demokratische Geltungstheorie ist die Orientierung am Normerzeuger oder „Subjekt der Gesetzgebung6" i n gleicher Weise selbstverständlich. Die Idee der demokratischen Rechtserzeugung knüpft die Ingeltungsetzung einer Rechtsnorm an einen Willensträger und bietet m i t dem Staatsvolk den Willen „natürlicher, originärer Rechtsträger" 7 an. Aber auch der Gegenstand einer allgemeinen Rechtsgeltungslehre kann es nur sein, die notwendigen Eigenschaften des willensbegabten Normerzeugers zu beschreiben 8. Daneben mag man noch Geltungsmerkmale formulieren, die auf den Inhalt der zu erzeugenden Norm abstellen. Sie machen den Normerzeuger keinesfalls überflüssig 9. Eine lediglich an der inhaltlichen „Richtigkeit" des erzeugten Rechts ausgerichtete Geltungstheorie kann die Maßstäbe — von deren Verifizierbarkeit ganz abgesehen10 — niemals so konkretisieren, daß es der Individualisierung durch eine Willenseinheit i m Vorgang der Normgebung nicht mehr bedarf 11 . Einer Geltungslehre des gesetzten Rechts ist es nicht möglich, auf die Rechtsetzungsentscheidung eines Willens4

Siehe unten S. 55. Vgl. Burckhardt, Organisation S. 168 f. β Bierling, Grundbegriffe S. 19. 7 Leisner, Verfassunggebung S. 33. 8 Heller spricht ausdrücklich f ü r den A k t der Verfassunggebung aus, er setze ein „verfassunggebendes Subjekt" i n F o r m einer „entscheidungs- und wirkungsfähige(n) Willenseinheit" voraus (Staatslehre S. 277). • Z u m Wesen des Rechts als Erzeugnis menschlichen Willens vgl. Hesse, N o r mative K r a f t S. 12, insb. A n m . 11, und zum Verhältnis von Souveränität u n d qualifiziertem Subjekt Hennis, Meinungsforschung S. 20 f. 10 Vgl. ferner zur methodischen Problematik Kelsen, Rechtslehre S. 200 f. 11 Siehe Heller, Souveränität S. 49 f. Vgl. hierzu ferner Beling, Rechtswissenschaft S. 14 u n d Henkel, Rechtsphilosophie S. 456 f. 5

2. K a p i t e l : S t r u k t u r der demokratischen Rechtserzeugungslehre

51

trägers als A n s a t z p u n k t der G e l t u n g s b e s t i m m u n g z u v e r z i c h t e n 1 2 . A u f der Ebene der V e r f a s s u n g g e b u n g k o m m e n i n h a l t l i c h e G e l t u n g s b e d i n gungen trotz positiver Konzipierung negativ zur A n w e n d u n g : Der N o r m b e f e h l des m a ß g e b l i c h e n Rechtsetzungssubjektes k a n n V e r b i n d l i c h k e i t beanspruchen, sofern er n i c h t a u s n a h m w e i s e 1 3 d e n v o r g e g e b e n e n i n h a l t l i c h e n M a ß s t ä b e n w i d e r s p r i c h t 1 4 , u n a b h ä n g i g davon, ob diese i n F o r m k a t a l o g i s i e r b a r e r „ R e c h t s g r u n d s ä t z e 1 5 " , i n „gewissen m a t e r i a l e n G r u n d g e h a l t e n 1 6 " oder a l l g e m e i n i n der „Rechtsidee 1 7 " b e r e i t g e s t e l l t w e r d e n 1 8 . D a h e r ist es m e t h o d i s c h u n b e d e n k l i c h , das G e l t u n g s p r o b l e m der V e r f a s s u n g auf der G r u n d l a g e der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s z u e r ö r t e r n , ohne die F r a g e nach d e n sogenannten m a t e r i e l l e n S c h r a n k e n der verfassunggebenden G e w a l t a u f z u w e r f e n u n d z u b e a n t w o r t e n . Sie w i r d m e i s t a l l g e m e i n als F r a g e nach d e n u n a b d i n g b a r e n i n h a l t l i c h e n Voraussetzungen des p o s i t i v e n Rechts ü b e r h a u p t g e s t e l l t 1 9 . I n der L i t e r a t u r z u r verfassunggebenden G e w a l t erscheint i h r e L ö s u n g g e g e n w ä r t i g als das theoretische P r o b l e m der V e r f a s s u n g g e b u n g d u r c h das V o l k schlechthin 2 0 . Es ist f ü r die g e g e n w ä r t i g e S i t u a t i o n der d e u t 12 Heller sieht darin „die ordnungstechnische Bedeutung einer jeden i n dividuellen Entscheidungseinheit" (a. a. O., S. 42). Vgl. hierzu auch Burckhardt, Organisation S. 164 u n d Coing, Rechtsphilosophie S. 227. 13 Vgl. f ü r den freiheitlich-demokratischen Verfassunggeber das Urt. d. BVerfG v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 225 ff. (232). 14 Die „ w o h l abgewogene Grenzziehung" (Bachof, Verfassungsnormen S. 12 f. A n m . 8) der sog. Radbruchschen Formel (Rechtsphilosophie S. 353), die i n die Rechtsprechung des BVerfG Eingang gefunden hat (BVerfGE, a. a. O., S. 232 f.), verdeutlicht dieses Regel-Ausnahmeverhältnis. Z u m Vorgang der „Grenzziehung" siehe auch Henkel, Rechtsphilosophie S. 456 u n d Walter Schönfeld, Die logische S t r u k t u r der Rechtsordnung, 1927, S. 43. 15 Heller, Souveränität S. 51, 52. 16 Hans Julius Wolff, Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, i n : Forschungen u n d Berichte aus dem öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 2. Aufl. o. J., M ü n chen, S. 33 ff. (35 f.). 17 Larenz, Rechtsgeltung S. 9, 31, 34. 18 Die Wertorientierung der Rechtserzeugung k a n n i m übrigen u n m i t t e l bar auf den Norminhalt bezogen sein. Sie kann aber auch mittelbar als M e r k m a l des Normerzeugers erscheinen. So beinhaltet z. B. nach der von Viehoff i m Anschluß an Arbeiten von Leonard Nelson u n d Hans Julius Wolff entwickelten Ansicht eine Verfassung Verfassungsrechtssätze, w e n n sie durch die M i t w i r k u n g einer „machtvollen" Willensentscheidung (vgl. S. 32, 43) nach den Forderungen des apriorischen Rechts gestaltet ist (S. 33, 51). Heller dagegen geht davon aus, eine „verfassunggebende Macht, welche m i t den für die Machtstruktur ausschlaggebenden Schichten nicht durch gemeinsame Rechtsgrundsätze verbunden ist", habe „weder Macht noch Autorität, also auch keine Existenz" (Staatslehre S. 279). Siehe i m übrigen unten S. 53 f. 19 Vgl. hierzu z. B. Franz Wieacker, Rechtsprechung u n d Sittengesetz, JZ 61, 337 ff. 20 Vgl. Krüger, Staatslehre S. 921 u n d Quaritsch, Kirchen u n d Staat S. 187. K ä g i bezeichnet die Auffindung von Normen, die die verfassunggebende Gewalt binden, als eine „Schicksalsfrage" „des Rechts und der K u l t u r

4 *

52

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

sehen Rechtswissenschaft kennzeichnend, daß eine B i n d u n g der verfassunggebenden G e w a l t des V o l k e s an b e s t i m m t e Rechtsinhalte auch v o n d e r j e n i g e n L e h r e b e j a h t w i r d , die den p o u v o i r c o n s t i t u a n t des V o l k e s als „ v o r r e c h t l i c h " oder „ n a t ü r l i c h " b e g r e i f t 2 1 . D i e i n der L e h r e v o n der O m n i p o t e n z der verfassunggebenden G e w a l t f o r m u l i e r t e Gegenposition k a n n jedoch h i e r n u r i n s o w e i t außer B e t r a c h t b l e i b e n , als die Festl e g u n g des Verfassungsinhalts i n Frage steht. I n i h r e r A u s f o r m u n g als T h e o r i e der formalen O m n i p o t e n z d e r verfassunggebenden G e w a l t 2 2 w i r d sie z u e r ö r t e r n sein, w e n n das V e r h ä l t n i s des p o s i t i v e n Verfassungsrechts z u der sie t r a g e n d e n Idee des a l l z u s t ä n d i g e n u n d verfassungsfrei w i r k e n d e n V o l k e s i n F r a g e steht. D e n n diese sieht sich o f t Verfassungsn o r m e n gegenüber, die die u n m i t t e l b a r e M i t w i r k u n g des V o l k e s a n der Rechtserzeugung u n d v o r a l l e m der E r z e u g u n g v o n V e r f a s s u n g s n o r m e n ausschließen, a u f b e s t i m m t e F ä l l e beschränken oder v e r f a h r e n s m ä ß i g festlegen. D e r i n n e r e Z u s a m m e n h a n g zwischen d e n L e h r e n v o n d e r m a t e r i e l l e n u n d der f o r m a l e n A l l m a c h t des souverän die Verfassungso r d n u n g gestaltenden V o l k e s ist t r o t z der s t r u k t u r e l l e n Unterschiede zwischen den gegen diese A l l m a c h t aufgebotenen N o r m o r d n u n g e n 2 8 überhaupt" (Grundordnung S. 160). Vor allem Sauerweins Arbeit ist der Frage gewidmet, ob der W i l l e der verfassunggebenden Gewalt allein „zur Schaffung einer reditsstaatlichen Ordnung geeignet und befähigt ist" oder ob es „dem W i l l e n des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt überlegene N o r men" gibt, „deren Respektierung seitens des Verfassungsschöpfers erst der Rechtsetzung das A t t r i b u t ,gerecht' verleiht" (S. 30 — dort gesperrt). K i n d bezeichnet die positive A n t w o r t auf diese Frage als „Legitimierung" des pouvoir constituant (S. 51). 21 Siehe z.B. Götz S. 1021, 1022; Haug S. 157; Maunz, Staatsrecht S. 47 und ders., Verfassunggebende Gewalt S. 646. Materielle Schranken der verfassunggebenden Gewalt befürworten i m übrigen z. B. Coing, Rechtsphilosophie S. 243, 257 ff.; Günter Dürig, Z u m hessischen Sozialisierungsproblem, D Ö V 54, 129 f.; Ehmke, Verfassungsänderung S. 85 ff.; Grewe, Gutachten Hessen S. 6; Hamann, Grundgesetz S. 3 f.; Jagmetti S. 23; Kägi, a.a.O., S. 47, 68, 150 f., 158; Maunz-Dürig, A r t . 79 Rdnr. 25; Thieme, Staatsgewalt S. 657 u n d Wintrich, Eigenart und Methode S. 231 (mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bayer. V e r f G H S. 230 A n m . 6). Aus der Rechtsprechung des BVerfG siehe Urt. v. 23.10.1951 (BVerfGE 1, 14 ff. — 61) und Urt. v. 18.12.1953 (BVerfGE 3, 225 ff. — 232). Die Schranken der verfassunggebenden Gewalt werden dabei teilweise als deren „immanente Grenze" verstanden (Wintrich, a. a. O., S. 229) m i t der Folge, daß die Statuierung der Änderungsverbote i n A r t . 79 Abs. 3 GG, soweit sie „menschliche Werte" betrifft, nicht als Widerspruch zum Prinzip der Volkssouveränität empfunden w i r d (vgl. Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 79 Rdnr. 6). Z u r französischen Lehre siehe Leisner, Verfassunggebung S. 230 f. 22 Vgl. zu diesem Begriff Kägi, Rechtsstaat S. 105. 23

A u f den Unterschied zwischen den durch selbstgesetzte Normen begründeten Beschränkungen der formalen Omnipotenz der verfassunggebenden Gewalt und den Begrenzungen der materiellen Souveränität, i n denen eine „neue selbständige normative Welt dem politischen W i l l e n des Staates entgegentritt", weist Leisner h i n (Verfassunggebung S. 130). Durch Verfassungsbestimmungen, die die Verfassungserzeugung (wie z. B. A r t . 79 Abs. 3 GG) gegenständlich begrenzen, w i r d freilich die materielle Omnipotenz durch

2. Kapitel : S t r u k t u r der demokratischen Rechtserzeugungslehre

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nicht zu übersehen: Beide Lehren entspringen einer prinzipiellen Normfeindlichkeit, die sich gegen jede Bindung gleich welchen Rechtsgrundes sträubt. I n ihrer klassischen Ausformung durch Rousseau i m allgemeinen 24 und durch Sieyès für die verfassunggebende Gewalt i m besonderen 25 stellen sie den Willen des souveränen Volkes über alles, auch selbstgesetztes Recht. Der Einbruch i n das Dogma vom allmächtigen Volkswillen, wie er heute durch die Bindung der verfassunggebenden Gewalt an vorgegebene Rechtsinhalte erfolgt ist, w i r d sich daher auf die Dauer auch gegenüber den Thesen von der Allzuständigkeit und Formfreiheit der verfassunggebenden Gewalt auswirken. Augenblicklich freilich ist man, stellt Krüger fest, zwar bereit, die verfassunggebende Gewalt an Sittengesetz und Naturrecht zu binden, nicht aber an ein geordnetes Verfahren 26 . Doch kommen dem Bedürfnis nach Setzung richtigen Rechts 27 in einer Rechtsgemeinschaft nicht nur solche, i n ihrer Verbindlichkeit und Tragweite oft umstrittenen Begrenzungsnormen nach. Primär w i r d diese Forderung bei der Bestimmung der Erzeugerqualitäten erfüllt. Denn die Ausstattung einer Person oder Personenmehrheit mit sozialer Macht, die zur Erzeugung verbindlichen Rechts erforderlich ist, w i r d oft, insbesondere bei ideologisch aufbereiteten Revolutionen von der Vermutung motiviert, der konkrete Normerzeuger werde richtiges Recht setzen. Ähnliches gilt für die Erhaltung entsprechender sozialer Macht. Wesentlich ist dieser Form, richtige Rechtserzeugung zu sichern, daß die bezeichnete Vermutung generell w i r k t . Sie bezieht sich auf die Rechtschöpfungstätigkeit eines bestimmten Willensträgers schlechthin und w i r d daher prinzipiell nicht vom punktuellen Konflikt der erzeugten Normordnung mit den Rechtsvorstellungen der Gemeinschaft berührt. Ein dauernder Gegensatz kann freilich auf lange Sicht die genannte Vermutung widerlegen und zur Beseitigung der politisch-sozialen Macht des Normerzeugers führen. Gelegentliche Kollisionen bewirken nur eine „Trübung" der Vermutung und begünstigen die Positivierung inhaltlicher Bedingungen der Rechtsetzung. Diese Erscheinung läßt sich an der selbstgesetzte Normen beschränkt, sofern es sich bei solchen Vorschriften nicht nur u m die Positivierung auch i n unpositivierter Form verbindlicher Prinzipien handelt. 24 Vgl. die berühmt gewordenen Formulierungen: „ u n peuple est toujours le maitre de changer ses lois, mème les meilleures" (Contrat social I I 12) und „ i l est con tre la nature du corps politique que le souverain s'impose une loi q u ' i l ne puisse enfreindre" (a. a. O., 17). 25 Vgl. seine Formel: „ i l suffit qu'elle (seil, la nation) veuille" (S. 61 — Übers. S. 95). 26 Staatslehre S. 921. Z u r französischen Situation siehe Leisner, Verfassunggebung S. 161 f. 27 Z u r Sicherung der „Richtigkeit" der Staatsgewalt siehe allgemein Krüger, a. a. O., S. 833 ff.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

E n t w i c k l u n g der d e m o k r a t i s c h e n Rechtserzeugungsidee beobachten. Diese f ü h r t e v o m o p t i m i s t i s c h ü b e r s t e i g e r t e n G l a u b e n , das V o l k setze selbst b z w . d u r c h seine R e p r ä s e n t a n t e n stets richtiges Recht 2 8 , z u r K o r r e k t u r der Rechtsmacht des V o l k e s d u r c h die v e r b i n d l i c h e V o r g a b e u n a b d i n g b a r e r Rechtsinhalte.

2. Das Verhältnis

von Normerzeuger und Normgeltung allgemeinen Geltungstheorie

in der

E i n rechtserzeugendes S u b j e k t 2 9 n e h m e n zahlreiche G e l t u n g s l e h r e n z u m A n s a t z p u n k t 3 0 d e r G e l t u n g s b e s t i m m u n g . B e i d e n sogenannten n o r m a t i v e n G e l t u n g s l e h r e n 3 1 b e s t i m m t die j e w e i l i g e Rechtserzeugungsnorm die E n t s t e h u n g nachgeordneten Rechts d u r c h E i n s e t z u n g einer Rechts e t z u n g s a u t o r i t ä t 3 2 . F ü r die V e r f a s s u n g n i m m t diese B e s t i m m u n g eine vorausgesetzte G r u n d n o r m v o r 3 3 . I n der G r u p p e der sogenannten soziologischen G e l t u n g s l e h r e n w e r d e n dagegen n u r t e i l w e i s e 3 4 die V o r a u s setzungen der Rechtsgeltung an M e r k m a l e n aufgezeigt, die die Q u a l i f i 28 Rousseau k a n n noch behaupten, „la vol on té générale est tou jours droite et tend tou jours à l ' u t i l i t é publique" (Contra t social I I 3), trage also „ex hypothesi die ratio i n sich" (Dietrich Jesch, AöR 85, 472 ff. — 480). Diese Vorstellung k l i n g t i n der Feststellung des BVerfG nach, die Überschreitung der äußersten Grenzen der Gerechtigkeit komme beim demokratischen Gesetzgeber „einer praktischen Unmöglichkeit" gleich (Urt. d. B V e r f G v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 225 ff. — 233). Z u m Zusammenhang von Willensentscheidung u n d Richtigkeit des Rechts i n der demokratischen Rechtserzeugungsidee siehe Schindler, Staatswillen S. 20 ff. Z u r Einheit v o n demokratischer Legitimation u n d Wertposi tivierung siehe Smend,, Verfassung S. 216. 29 Heller gebraucht die Begriffe „Entscheidungseinheit" (Souveränität S. 40, 42, 83) oder „Gemeinschaftsautorität" (a.a.O., S. 46). Der Lehre von der „Rechterzeugung durch Rechtüberzeugung", w i e sie z. B. Julius Hatschek (Völkerrecht als System rechtlich bedeutsamer Staatsakte, 1923, S. 1 ff.) vert r i t t , hält er entgegen, sie nehme dem Vorgang der rechtlichen Geltungsgenese „den notwendig aktivistischen Charakter eines Willensentschlusses" (a. a. O., S. 49 f.; siehe auch S. 81). Vgl. ferner speziell f ü r den Vorgang der Verfassunggebung noch Heller, Staatslehre S. 278. 80 Bierling spricht daher v o n einer „ P r i o r i t ä t des gesetzgebenden Subjekts". Er findet darin das M e r k m a l einer Gruppe von Geltungslehren, die den „ G r u n d der Gebundenheit" an das Recht „ i n der speziellen Qualifikation des gesetzgebenden Subjekts" sehen (Grundbegriffe S. 19 f.). Vgl. auch Kelsen, Staatslehre S. 307. 81 Vgl. hierzu Burckhardt, Organisation S. 194 ff. 8t Vgl. hierzu Badura, Methoden S. 39. 88 Vgl. z. B. Kelsen, Rechtslehre S. 197, 201 u n d Kraft-Fuchs S. 533. Freilich gründet sich dabei die Gültigkeit der Verfassung allein auf die Geltung der G r u n d norm (Kelsen, a. a. O., S. 196). V o r allem an diese These schließt sich die Polemik von Kraft-Fuchs gegen C. Schmitt an (S. 512, 516 f., 528). 84 Normbezogen ist vor allem die Gruppe der sog. Anerkennungstheorien. Z u r Kategorienbildung innerhalb der soziologischen Theorien siehe Badura, Methoden S. 37 f.; Bierling, Grundbegriffe S. 20f. und Radbruch, Rechtsphilosophie S. 176 ff.

2. Kapitel: S t r u k t u r der demokratischen Rechtserzeugugslehre

55

z i e r u n g einer Rechtserzeugungsautorität e r m ö g l i c h e n sollen 3 5 . H i e r z u gehören auch d i e j e n i g e n L e h r e n , die den A n e r k e n n u n g s a k t der Rechtsgenossen n u r auf das „ f o r m e l l e R e c h t " beziehen, d. h. auf „ j e n e N o r m e n , welche den Prozeß der Rechtsentstehung r e g e l n 3 6 " . V o r a l l e m die p r a k tische Rechtsfindung k n ü p f t e i n r e v o l u t i o n ä r e n oder n a c h r e v o l u t i o n ä r e n Z e i t e n a n d e n N o r m e r z e u g e r an, w e n n sie die G e l t u n g v o n R e c h t s n o r m e n z u p r ü f e n h a t t e 3 7 . Dessen B e r e c h t i g u n g z u r Rechtsetzung h a t sie d a b e i a n die A u s s t a t t u n g m i t p o l i t i s c h - s o z i a l e r M a c h t g e b u n d e n 3 8 . F ü r die p r a k tische F e s t s t e l l u n g der Rechtsgeltung k o n n t e f r e i l i c h auch k e i n anderer W e g i n B e t r a c h t k o m m e n . D e n n die staatlichen Organe s i n d z u r P r ü f u n g der Rechtsgeltung o f t i n e i n e m Z e i t p u n k t berufen, i n d e m eine B e f o l g u n g u n d A n e r k e n n u n g der z u r A n w e n d u n g stehenden R e c h t s n o r m e n d u r c h die Adressaten, anders als b e i m G e w o h n h e i t s r e c h t 3 9 , n o c h n i c h t feststellb a r ist. Z w a r ist die W i r k s a m k e i t der N o r m selbst f ü r i h r w e i t e r e s G e l 85 Vgl. z.B. Emge, Vorschule S. 63, 65 f. und w o h l auch Rudolf Stammler, Das Recht i m staatslosen Gebiet, i n : Rechtsphilosophische Abhandlungen, Bd. 1, 1925, S. 349 ff. (367); ders., Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, a. a. O., S. 385 ff. (410). Auch Belings Begriff der „MassenVorstellungen von einer Normierung" (Rechtswissenschaft S. 17) ist wohl, w i e den folgenden Ausführungen (a. a. O., S. 17, 18, 33 und 39 A n m . 1) zu entnehmen ist, auf das „Rechtsordnungssubjekt" (a. a. O., S. 14) oder „Ordnungssubjekt" (a. a. O., S. 15) zu beziehen. Burckhardt stellt zwar auf die Anerkennung der Normen durch die Rechtsgenossen ab, gesteht aber zu, daß diese Anerkennung bei der Setzung von Recht i n der Regel auf die gesetzgebenden Behörden und deren Recht zur Normsetzung bezogen ist. E i n Bestreiten der von diesen gesetzten Normen sei „folgerichtigerweise" dann nicht mehr möglich (Organisation S. 166 f.). 39 Schindler, Staatswillen S. 40. Die Grenze zu den „reinen" Anerkennungstheorien ist hier freilich fließend, da diese sich bis zur Anerkennung des „formellen Rechts" verflüchtigt haben. Vgl. unten S. 57. 57 Aus der Rspr. vgl. Urt. d. RG v. 8.7.1920, RGZ 100, 25 ff. (27) m i t weiteren Nachweisen aus der Spruchpraxis der Strafsenate des Reichsgerichts ; Urt. d. RG v. 13.7.1920, RGZ 99, 285 ff. (287); Ent. d. vorl. S t G H des Deutschen Reiches v. 12. 7.1921, Lammers-Simons S. 357 ff. (364) u n d Ent. d. S t G H f ü r das Deutsche Reich v. 16.10.1926, RGZ 114, Anh. S. 1 ff. (6). Aus der staatsrechtlichen L i t e r a t u r vgl. Gerhard Anschütz, Das Programm der Reichsregierung, J W 18, 751 ff. (751 f.); Paul, Die Gesetzgebungstätigkeit der Revolutionsregierung u n d ihre rechtliche Grundlage, L Z 19, Sp. 346 ff. (350 f.) u n d Stier-Somlo I S. 216. A n diesen Äußerungen interessiert i m v o r liegenden Zusammenhang n u r ihre formale Aussage, nicht aber die immer wiederkehrende These, die „Rechtmäßigkeit der Begründung" sei „ k e i n w e sentliches M e r k m a l der Staatsgewalt" (Urt. d. RG v. 8.7.1920, RGZ 100, 25ff. — 27; vgl. ferner Paul, a.a.O., Sp. 349; Alexander Graf zu Dohna, Die Revolution als Rechtsbruch u n d Rechtsschöpfung, 1923, S. 10). Gegen diese Ansicht hat vor allem P h i l i p p Zorn v o m demokratischen Prinzip her Bedenken vorgetragen (Die Staatsumwälzung i m Deutschen Reich, D J Z 19, Sp. 126 ff. —132). 38 z. B. daran, daß dem Rechtserzeuger die zur Durchsetzung des Rechts erforderlichen Macht- u n d Zwangsmittel zur Verfügung stehen (Beling, Rechtswissenschaft S. 15; Brodmann S. 21, 57). „Durchsetzbarkeit" der N o r m befehle u n d „Anerkennung" durch die Rechtsgenossen werden als Merkmale der souveränen Gewalt verstanden. Vgl. z. B. Rauschenberger S. 118. 33 Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie S. 454.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

tungsdasein 40 , das sich vom „Schicksal" des Normerzeugers löst 41 , unmittelbar bedeutsam. Für die vielleicht nur eine juristische Sekunde lange Verbindlichkeit der Rechtsnorm i m Augenblick ihrer Ingeltungsetzung ist das dialektische Verhältnis von juristischer Geltung und sozialer Wirksamkeit jedoch bereits bei der Konstituierung des Normerzeugers zugunsten der normativen Geltung entschieden. Die tatsächliche Geltung der einzelnen Rechtsnorm ist jedenfalls für ihre Verbindlichkeit i m Zeitpunkt ihrer Entstehung ohne unmittelbare Bedeutung 42 . Dem Effektivitätsprinzip w i r d dadurch Rechnung getragen, daß nur ein solcher Normerzeuger die notwendige Qualifikation zur Rechtsetzung aufweist, dessen Anordnungen i m allgemeinen eine echte Geltungschance haben 43 , wie umgekehrt die „regelmäßige Wirksamkeit der Gebote" „für das Ganze der Herrschaft lebensnotwendig" ist 44 . Dabei liegt freilich der Unterschied von erzeugerbezogener und normbezogener Geltungslehre i m Ergebnis nur i n einer verschiedenen Akzentuierung. Denn auch für eine Theorie, die bei der Beurteilung der Rechtsgeltung darauf abstellt, ob die fragliche Norm „der Bevölkerung oder dem i n Betracht kommenden Teile der Bevölkerung" als Norm bewußt wird 4 5 , ist der Umstand „von großer Bedeutung, von wem die Norm ausgeht 46 ". Die Qualifikation des Rechtsetzungssubjekts ist das eine Mal von unmittelbarer, das andere Mal von mittelbarer Bedeutung für die Geltung der erzeugten Norm. Der Unterschied der beiden Grundarten, die Geltung zu bestimmen, hat sich weiter durch die Zugeständnisse verringert, zu denen die Anerkennungslehre ihren K r i t i k e r n gegenüber gezwungen war. Denn i n der ihr durch Bierling gegebenen Fassung 47 erscheint 40

Vgl. Dahm S. 165; Götz S. 1023 und Henkel, a. a. O. I n diesem Loslösungsvorgang sieht Schindler das entscheidende M e r k m a l des gesetzten Rechts (Staatswillen S. 38). E i n Gesetz verliert also nicht automatisch seine Geltung, w e n n die Rechtsgemeinschaft dem Organ, von dem das Gesetz stammt, die Anerkennung als Rechtsetzungssubjekt entzieht (Coing, Rechtsphilosophie S. 239). 42 Vor allem Henkel stellt k l a r heraus, daß „ a m Beginn die durch den Positivierungsvorgang begründete Normgeltung" steht, „die — zum mindesten zunächst — von der tatsächlichen Geltung, dem Befolgt- u n d Angewendetwerden der Norm, unabhängig ist" (Rechtsphilosophie S. 454). Vgl. ferner Büchel S. 137. 43 Das Prinzip der Effektivität w i r d also nicht i n bezug auf die konkrete N o r m bedeutsam. Vgl. auch Nef, Schranken S. 125. 44 Heller, Souveränität S. 40 — Hervorhebung v o m Verfasser. Vgl. auch S. 88. 45 P. Hartmann S. 259. 46 P. H a r t m a n n S. 261. 47 Sie soll hier als die repräsentative Version der sog. Anerkennungslehren zu Wort kommen. Ihre Grundlegung findet sich i n Bierlings Prinzipienlehre (S. 41 ff. u n d 107 ff.). Die vielfältigen „Spielarten" der Anerkennungslehren sind bei Burckhardt (Organisation S. 200 ff.), Henkel (Rechtsphilosophie S. 442 f.) und Somló (Grundlehre S. 138 ff.) dargestellt. Aus der L i t e r a t u r zu Bierling siehe u.a. Brodmann S. 103 ff.; Ehrlich S. 133 f. und Larenz, Rechtsgeltung S. 10. 41

2. Kapitel : S t r u k t u r der demokratischen Rechtserzeugungslehre

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zwar als Normerzeuger der Normadressat, der den ihm zur Befolgung angebotenen Normen i m Akte der Anerkennimg Verbindlichkeit verleiht 4 8 . Die damit verbundene Schwierigkeit, den aktuellen Zustimmungsakt der betroffenen Rechtsgenossen für jede Rechtsnorm nachzuweisen, zwang die Anerkennungslehre jedoch, dazu, das grundsätzliche Erfordernis der Anerkennung bis zur Farce verflüchtigen zu lassen. Die moderne Geltungstheorie betrachtet die Anerkennungslehre als nur mehr historisch interessanten Beitrag zu einem grundsätzlichen Problem der Rechtswissenschaft, weniger, weil diese Lehre ohne Anstrengung durch Konfrontierung mit der Wirklichkeit der staatlichen Rechtserzeugung widerlegbar wäre, als vor allem deshalb, w e i l sie sich selbst, um naheliegenden Einwendungen zu entgehen, durch Negation der eigenen besonderen Aussage aufgegeben hat 4 9 . Dies ist insbesondere i m Begriff der sogenannten indirekten Anerkennung geschehen. Dieser wurde eingeführt, um den Nachweis der direkten Anerkennung jeder einzelnen Rechtsnorm durch den Adressaten, der nicht zu erbringen war, zu ersetzen. Danach soll die einzelne Norm schon dann anerkannt sein, wenn sie nichts anderes ist als die „schlechthin notwendige Konsequenz" einer vorausgehenden direkt anerkannten Rechtsnorm 50 . So sind mit der direkten Anerkennung auch nur derjenigen Verfassungsnormen, die sich auf das: Gesetzgebungsverfahren beziehen 51 , alle nach diesen Normen zustande kommenden Gesetze anerkannt 52 . Die Anerkennungslehre überfordert die Rechtsgenossen bei der Rechtsetzung eines Gemeinwesens. I n dieser Überforderung liegt — ebenso wie bei der Idee der unmittelbaren Demokratie — die Ursache für ihren Rückzug, wie i m übrigen auch der Rückgriff auf die Anerkennung des einzelnen Normadressaten die Anerkennungslehre den demokratischen Rechtserzeugungsvorstellungen verwandt erscheinen läßt. Diese Feststellung w i r d scheinbar noch dadurch belegt, daß die Anerkennungslehre Bierlings in der Frage der Geltungskonstruktion einer Verfassung zu ähnlichen Ergebnissen wie die demokratische Theorie gelangt 53 : 48

Siehe aber auch a. a. O., S. 42. Bierling, a. a. O., S. 45 ff. 50 Bierling, Prinzipienlehre S. 46. 51 Damit nähern sich, wie oben (S. 55 A n m . 36) bereits herausgestellt wurde, normbezogene u n d erzeugerbezogene Geltungslehren. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Grundnormvorstellung bei Engisch, Einheit der Rechtsordnung S. 12 Anm. 1. 52 Daher gehen die Auswirkungen der Anerkennungslehre jedenfalls i n der Ausprägung, die sie am Ende durch Bierling erfahren hat, nicht so weit, w i e Quaritsch annimmt (Parlamentsgesetz S. 37 f.). I m übrigen vereinfacht auch Husserl: „Bei der Aufstellung neuer Rechtsnormen i m Rahmen der V e r fassung braucht nicht immer wieder auf den W i l l e n jedes einzelnen Bürgers rekurriert zu werden" (Rechtskraft S. 73). 53 Bierling wendet seine Anerkennungstheorie auf Vorgänge der Verfassunggebung i m 19. Jahrhundert an. Vgl. a. a. O., S. 354 ff. 49

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

W i r d dem Staatsvolk der Verfassungsentwurf zur Abstimmung vorgelegt, so ist i n dessen positiver Entscheidung der maßgebliche Anerkennungsakt zu sehen. Wählt das Volk eine verfassunggebende Nationalversammlung, so enthält die Wahl eine vorweggenommene Anerkennung der von der Versammlung erlassenen Verfassungsnormen 54 . Dennoch deckt sich die Konstruktion der Rechtsgeltung durch die A n erkennungslehre nicht m i t dem demokratischen Verständnis der Rechtserzeugung 55 . Die Anerkennungslehre hat unter den Angriffen ihrer K r i t i k e r den Verzicht auf die bewußte 56 und freiwillige Zustimmungshandlung ausgesprochen, der für die demokratische Lehre von ihrer Idee her widersinnig wäre. Die anerkennenden Rechtsgenossen sind zudem nicht identisch m i t der — für die demokratische Rechtsgeltung wesentlichen — Mehrheit der Aktivbürgerschaft 57. Entscheidend aber ist der strukturelle Unterschied der Geltungserklärungen. Nach demokratischer Vorstellung ist das Volk Rechtserzeuger durch unmittelbare oder mittelbare Setzung von Recht, nicht durch Anerkennung gesetzten Rechts. Wahl und Abstimmung sind dementsprechend in der Anerkennungslehre nur Spielarten, die Anerkennung vorzunehmen. I n der Darstellung der verschiedenen Auffassungen vom Wesen der Volkssouveränität w i r d der prinzipielle Unterschied der beiden Lehren auch in seiner praktischen Auswirkung noch deutlicher werden.

B. Normativer und soziologischer Begriff der Volkssouveränität Die betonte Gegenüberstellung von Anerkennungslehre und demokratischer Rechtserzeugungstheorie ist geeignet, die Besonderheit des staatsrechtlichen Verständnisses der Volkssouveränität gegenüber einer Anschauung herauszustellen, die i n der Idee der Volkssouveränität lediglich die modern formulierte Erkenntnis sehen w i l l , daß alle Herrschaft auf die Dauer vom Willen der Regierten getragen werden muß und daß jede Rechtsordnung sich letztlich auf die Zustimmung der Rechtsgenossen gründet 58 . Denn das Staatsvolk hätte schon immer über 54 Diese Form, den Anerkennungsakt vorzunehmen, hält Bierling möglich (a. a. O., S. 357). Vgl. ferner auch Husserl, a. a. Ο., S. 74.

für

55 Siehe hierzu auch Coing, Rechtsphilosophie S. 238. Bierling selbst hat die demokratische Lehre als selbständige Geltungstheorie betrachtet u n d sich m i t i h r kritisch auseinandergesetzt (Grundbegriffe S. 78 ff.). 56

Vgl. hierzu Larenz, Rechtsgeltung S. 10. Bierling, Prinzipienlehre S. 46. Freilich w i l l er das Moment des Zwangs i n einem anderen Sinne als die von i h m befehdeten Zwangstheorien verstehen (vgl. a, a. O., S. 49 ff.). 58 Z u dieser Beobachtung siehe Ehrlich S. 123; E. Kaufmann, Volkswillen S. 11 u n d Schulz-Schaeffer S. 7. Z u r Herkunft des i n diesem Zusammenhang 57

2. Kapitel : S t r u k t u r der demokratischen Rechtserzeugungslehre

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die „größte tatsächliche Macht" verfügt 39 . Die Lehre von der Volkssouveränität wäre danach nur die Theorie dieser allgemeingültigen politisch-sozialen Situation 60 . Ist die Souveränität des Volkes auf diese Weise zu verstehen, so kann sich eine Verfassung auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes bereits dann berufen, wenn dieses die Verfassungsordnung hingenommen und damit stillschweigend angenommen hat 6 1 . I n diesem Sinne steht dann der pouvoir constituant „ m i t natürlicher Notwendigkeit hinter unserem gesamten Verfassungsleben 62 ". Denn die Verfassunggebung beruht „immer auf einer ,Annahme 4 durch dasl Volk 6 3 ". Dieser Auffassung von der Volkssouveränität und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes steht ein „soziologischer" Begriff der Demokratie nahe, der Staatswillen und Volkswillen nicht durch plebiszitäre oder repräsentative Techniken der Willensbildung zur Deckung bringt. Er verzichtet vielmehr auf die institutionalisierte Verbindung von Staatswillen und Volkswillen und fordert deren sachliche Identität i n dem Sinne, daß „der staatliche Wille tatsächlich so beschaffen ist, wie wenn er von der Gesamtheit des Staatsvolkes (das hier i n einem weitesten Sinne verstanden wird) gebildet worden wäre 6 4 ". Das „rechtliche" Verfahren der staatlichen Willensbildung bleibt i h m gleichgültig 65 . Ein solches Verständnis der Demokratie kann einem nur-rechtsnormativen Begriff der Demokratie gegenüber — sieht man von den i m oft zitierten Satzes „oboedientia facit imperantem" siehe W. Jellinek, Grenzen S. 16, insb. Anm. 29. 59 K i n d S. 17. Die Demokratie ist daher nach der Auffassung Kinds eine selbstverständliche Staatsform. Die demokratische Verfassung paßt lediglich das Sollen dem Sein an (a. a. O.). Z u r K o n s t r u k t i o n der „Fürstensouveränität" v o n Kinds Standpunkt aus siehe a. a. O., A n m . 57. K r i t i s c h zu diesem Verständnis der Demokratie E. K a u f m a n n (a. a. O., S. 11) u n d Jagmetti (S. 33 f.). Götz bezeichnet Kinds Auffassung als „überspitzt" (S, 1022 Anm. 15). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Schlenker S. 134 f. 60 Haug sieht darin die „Grundidee der Volkssouveränität", daß keine Herrschaft auf die Dauer ohne die Zustimmung der Normunterworfenen bestehen kann (S. 157). 61 Vgl. K i n d S. 17. 82 Schmidt S. 280 — Hervorhebung v o m Verfasser. 63 Drath, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 101. β4 Einen anderen Begriff der Demokratie i m soziologischen Sinne verwendet Otto Koellreuther, A r t . Demokratie i n : HdR, hrsg. v. Stier-Somló-Elster, Bd. 2,1927, S. 8. 65 Bäumlin, Demokratie S. 17 m i t Literaturnachweisen auf S. 18 A n m . 3. Schulz-Schaeffer geht von einer A r t rechtsethischem Verständnis der Volkssouveränität aus (vgl. S. 15, 20) und stellt fest, i m Bonner Grundgesetz sei „dem Prinzip der Volkssouveränität dadurch Rechnung getragen, daß die Grundrechte der rechtlichen Verfassungsänderung entzogen seien" (S. 90 — Hervorhebung vom Verfasser). Vgl. ferner i n diesem Zusammenhang Leisner, Verfassunggebung S. 431 ff.

60

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

Hintergrund stehenden methodischen Positionen einmal ab — immerhin anführen, daß der i n Wahl und Abstimmung förmlich gebildete Volkswillen durch die wirksamen Techniken einer modernen Meinungslenkung Zweifeln an seiner Echtheit ausgesetzt ist 06 . Es kann ferner auf das Bonner Grundgesetz hinweisen und behaupten, Verfassungen könnten eine hohe demokratische Legitimität i m soziologischen Sinne besitzen, ohne daß der Bezug zwischen dieser Wirkung und einer ausdrücklichen Willensbekundung des Volkes hergestellt wäre. Da auch Verfassungsordnungen eines anderen Legitimitätstypus die Herrschaftsakte verfahrensmäßig auf den Volkswillen zurückführen 67 , hat die Staatsrechtslehre umgekehrt wiederholt feststellen müssen, daß am Merkmal der institutionalisierten Willensbildung durch Wahl und Abstimmung der Unterschied der westlichen Demokratien zu den sogenannten Volksdemokratien nicht aufgezeigt werden kann 6 8 . Die begriffliche Bestimmung der Demokratie in der deutschen staatsrechtlichen Literatur enthält denn auch folgerichtig eine Anzahl von Elementen, die dem Vorgang der Willensbildung mehr oder weniger unmittelbar zugeordnet sind 69 und i m Ergebnis zu einer A r t materiellem Verständnis der Staatsgewaltformel führen 70 : Die Zurechnung von Staatswillen und Volkswillen w i r d nicht schon dann rechtlich vollzogen, wenn ein Willensakt des Staatsvolkes vorliegt. Man spricht von einer Ausübung staatlicher Gewalt durch das Volk nur dann, wenn die Freiheit der Willensbildung durch bestimmte Verfahrenseinrichtungen oder Rechtsgewährungen gesichert ist, ohne daß dies durch das positive Recht besonders angeordnet sein muß 71 . Dieses „Mehr" an Zurechnungsvoraussetzungen knüpft konstruk66 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch L a u x S. 44 und Scheuner, G r u n d fragen S. 127 f. 67 Siehe hierzu Dahm S. 145; Heller, Souveränität S. 72; Hennis, M e i nungsforschung S. 20; Loewenstein, Verfassungslehre S. 140 und Scheuner, Grundfragen S. 127. 68 So z. B. Bäumlin, Demokratie S. 16 f. und Scheuner, a. a. O. 69 Siehe hierzu Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 20 Rdnr. 30 ff. 70 Zur Notwendigkeit einer materiellen Interpretation des Demokratiebegriffes, z. B. i n A r t . 79 Abs. 3 GG, vgl. Maunz, Normen S. 145 f., u n d zur Einbeziehung rechtsstaatlicher Elemente i n den Begriff der Demokratie Bachof, Verfassungsnormen S. 31 A n m . 62 a. Nach der Auffassung von Hans Peters hat die Demokratie i n dem Kernsatz der Volkssouveränität, daß alle Staatsgewalt v o m Volke ausgeht, ihren „ersten materiellen Grundsatz" (Die Verfassungsentwicklung i n Deutschland seit 1945 bis zum Bonner Grundgesetz, i n : Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. 2, 1950, S. 83 ff. — 106; Hervorhebung v o m Verfasser) Thieme bezeichnet dagegen das Zurechnungsgebot als „formales" Prinzip (Staatsgewalt S. 658). Vgl. ferner hierzu Peters, Demokratie S. 25. 71 So fragt z. B. Usteri, ob nicht m i t der Einsetzung des Volkes als Verfassungsgesetzgeber i n der Grundnorm „außer dem rein demokratischen P r i n zip andere Prinzipien, z. B. Versammlungsfreiheit als notwendigerweise rechtsnormativ gegeben" sein müssen (S. 72 f. — Hervorhebungen v o m V e r fasser).

2. Kapitel: S t r u k t u r der demokratischen

echtserzeugungslehre

61

t i v a n das V e r f a h r e n der W i l l e n s b i l d u n g an, k o m m t aber sachlich d e m A n l i e g e n des soziologischen Verständnisses d e r D e m o k r a t i e entgegen 7 2 . D i e F o r d e r u n g nach E r s e t z u n g des r e c h t s n o r m a t i v e n Begriffs der D e m o k r a t i e d u r c h einen soziologischen e r ü b r i g t sich d a m i t . Das entscheidende M e r k m a l des n o r m a t i v e n Begriffs der D e m o k r a t i e b z w . der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t k a n n m a n i n einer „ F o r m a l i s i e r u n g 7 3 " der staatlichen W i l l e n s b i l d u n g s v o r g ä n g e sehen: D i e R e p r ä s e n t a t i o n des V o l k e s i m B e r e i c h der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t ist g r u n d s ä t z l i c h a n die Ü b e r t r a g u n g v o n V e r t r e t u n g s m a c h t d u r c h Wahl g e b u n d e n 7 4 . D a r ü b e r h i n a u s s i n d a l l g e m e i n W i l l e n s a k t e des Staatsvolkes i m U n t e r s c h i e d z u W i l l e n s e r k l ä r u n g e n v o n Personen des P r i v a t r e c h t s 7 5 n u r d a n n rechtserheblich, w e n n sie a u s d r ü c k l i c h oder k o n k l u d e n t u n d n i c h t n u r s t i l l s c h w e i g e n d e r f o l g e n 7 6 . D i e k o n k l u d e n t e E r k l ä r u n g des S t a a t s v o l k e s als schlüssige K u n d g a b e eines bestimmten W i l l e n s Inhalts w i r d i m Wege der — f r e i l i c h b e h u t s a m e n — A u s l e g u n g erfaßt 7 7 . D a h e r bestehen auch k e i n e p r i n z i p i e l l e n B e d e n k e n gegen eine L e h r e , die i n der B e t e i l i g u n g des V o l k e s an der W a h l z u m 1. Deutschen B u n d e s t a g u n d deren E r g e b n i s eine A r t nachgeholte V o l k s a b s t i m m u n g ü b e r das Grundgesetz sehen w i l l 7 8 . 72 I n diesen Zusammenhang ist w o h l auch Bäumlins Forderung zu stellen, die Institutionen der Willensbildung müßten so beschaffen sein, daß eine „der Demokratie i m soziologischen Sinne adäquate Willensbildung möglich w i r d " (Demokratie S. 31). 73 Jacobi spricht von einer „Veräußerlichung" des Volkswillens (S. 243). 74 Heller, Souveränität S. 74 und Leisner, Verfassunggebung S. 61. Siehe ferner schon Sieyès: „Mais ού est la procuration lorsqu'il n'y a pas élection libre et générale?" (S. 52 — Übers. S. 85). 75 Die zivilrechtliche Theorie wertet u. U. auch das Schweigen einer Partei als Erklärung. Vgl. hierzu u. a. Hefermehl i n : Soergel-Siebert, BGB, Bd. 1, Allg. Teil, 1959, Anm. 7 vor § 116. 76 I n der Staatsrechtslehre w e h r t man daher auch Versuche, die Ingeltungsetzung eines Rechtssatzes an den „tacitus consensus" des Volkes zu knüpfen und die stillschweigende Zustimmung des Volkes als eine demokratische Form der Willensbekundung zu werten, m i t dem Hinweis darauf ab, damit verliere das demokratische Prinzip als Rechtserzeugungsidee jede Besonderheit. Vgl. z. B. Leisner, a. a. O., S. 80 A n m . 1, 349 f., 431 ff. Z u m Begriff des „dauernden Consensus" siehe Smend, Verfassung S. 181 ff. 77 Anhaltspunkte für eine sachbezogene Auslegung des i m Wahlakt geäußerten Volkswillens gibt K ö h l m a n n (S. 146). E i n praktisches Beispiel f ü r eine solche Interpretation bringt Jacobi: Die nach seiner Ansicht zur A u f hebung oder Änderung eines sogenannten volksbeschlossenen Gesetzes notwendige Volksabstimmung k a n n auch i n der Neuwahl eines Reichstages liegen (S. 256). 78 Siehe Ipsen, Grundgesetz S. 27 und vor allem Schneider, Grundgesetz S. 937. Nymans kritische Bemerkung, Schneiders Lösung sei eine „reichlich abenteuerliche Theorie" (S. 13 A n m . 5), überrascht angesichts der Geschichte, die die Konstruktion des „konkludenten Plebiszits" (Zweig S. 44) aufweisen kann. Bereits Cromwell hat sich nach dem Bericht Zweigs, u m die Zustimmung des Volkes zu seiner Verfassungsakte zu beweisen, darauf berufen, die „ N a tion" habe sich „durch den Vollzug der von i h m ausgeschriebenen Parlamentswahlen implicite" „ f ü r das neue Grundgesetz entschieden" (S. 44). Auch Bier-

62

1. Abschnitt: All-gemeine Lehren

Ebensowenig aber wie der nur-soziologische Begriff der Demokratie ein K r i t e r i u m für deren Abgrenzung gegenüber anderen Staatsformen bietet 70 , ermöglicht ein Begriff der verfassunggebenden Gewalt, der die „stillschweigende 80 " Ausübung i n deren Äußerungsformen einbezieht, die Beurteilung einer Verfassung als undemokratisch. C. Schmitt, der über die konkludente Mitwirkungshandlung 8 1 hinaus auch die stillschweigende Beteiligung des Volkes an der Verfassunggebung als l i n g hat i m Zusammenhang m i t seiner Anerkennungstheorie den Wahlen zum 1. Deutschen Reichstag der Verfassung v o n 1871 eine ähnliche Bedeutung beigemessen (Prinzipienlehre S. 358). Schließlich hat C. Schmitt die PlebiszitK o n s t r u k t i o n Ipsens u n d Schneiders i n seiner Verfassungslehre vorbereitet: „ I n der bloßen Beteiligung an dem durch eine Verfassung bestimmten öffentlichen Leben k a n n z. B. eine konkludente Handlung erblickt werden, durch welche der verfassunggebende W i l l e des Volkes sich deutlich genug äußert", z. B. durch Beteiligung an Wahlen, „die ein bestimmter politischer Zustand m i t sich bringt" (Verfassungslehre S. 91). Die Problematik, die m i t dem I n stitut der konkludenten Willenskundgabe durch das V o l k verbunden ist, k a n n freilich nicht übersehen werden (vgl. hierzu auch P. H a r t m a n n S. 255 A n m . 44). Bereits Z w e i g hat i n i h m die Möglichkeit gesehen, „Bedürfnisse der praktischen P o l i t i k m i t den Forderungen des demokratischen Dogmas wenigstens scheinbar i n Einklang zu bringen" (S. 44 — Hervorhebung v o m Verfasser; vgl. auch S. 106). I m Falle des Bonner Grundgesetzes w a r die Heranziehung dieser (Hilfs-)Konstruktion sicherlich unverdächtig, hat doch, w i e Asarn zutreffend ausführt, „das deutsche V o l k durch seine wiederholten Bekenntnisse zum Grundgesetz dessen demokratische Legitimation überzeugender begründet, als bei mancher Verfassung, die sich auf die ursprüngliche Zustimmung des Volkes berufen kann" (S. 28). Die Einbeziehung der konkludenten Erklärung i n das Instrumentarium der demokratischen Willensbildung empfiehlt sich entgegen der Forderung nach „Ausdrücklichkeit u n d U n m i t t e l b a r k e i t " aller A k t e der verfassunggebenden Gewalt (Krauss S. 582) als v e r m i t telnde Lösung. Sie erhält die spezifisch demokratische Beteiligungsform des Volkes an der Willensbildung u n d bewahrt doch die i n der Staatspraxis u n erläßliche Beweglichkeit i n der Deutung des geäußerten Volkswillens. A u f die Auslegungsfähigkeit von Willensbekundungen des Volkes ist vor allem die Lehre von der extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt des Volkes angewiesen. Denn deren Äußerungen sind oft an Voten des Staatsvolkes m i t primär anderem Gegenstand u n d anderer Zielsetzung „angelehnt". Vgl. hierzu Maunz, Verfassunggebende Gewalt S. 646. Z u r A k k l a m a t i o n ohne individuelle Stimmabgabe als F o r m der Willensäußerung siehe Schindler, Staatswillen S. 71 m i t weiteren Nachweisen. 79 Siehe auch Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 37. 80 Keinen Grenzfall zwischen ausdrücklicher bzw. konkludenter Willenserklärung des Staatsvolkes einerseits u n d stillschweigender Kundgabe andererseits, sondern zwischen repräsentativer u n d plebiszitärer Rechtsetzung bilden meist die Fälle, i n denen eine Verfassungsvorschrift unter bestimmten Voraussetzungen die Untätigkeit oder das Schweigen des Staatsvolkes als stillschweigende Zustimmung wertet. So sieht z. B. A r t . 38 Abs. 2 d. ital. Verf. v. 22.12.1947 vor, daß nach der Verabschiedung eines Verfassungsgesetzes m i t weniger als zwei D r i t t e l n der Mehrheit der gesetzgebenden K a m m e r n das V o l k durch Schweigen gesprochen hat, falls weder aus den gesetzgebenden K a m m e r n noch aus dem V o l k ein A n t r a g auf Durchführung eines Volksentscheids eingebracht w i r d (abgedr. bei Anros J. Peaslee, Constitutions of Nations, Bd. 2, 2. Aufl. 1956, S. 502 f.). I m übrigen ist hier das Staatsvolk aufgerufen, die I n i t i a t i v e zu einer förmlichen Entscheidung zu ergreifen. 81

Verfassungslehre S. 91.

2. K a p i t e l : S t r u k t u r der demokratischen

echtserzeugungslehre

63

m ö g l i c h e F o r m der d e m o k r a t i s c h e n A u s ü b u n g v o n verfassunggebender G e w a l t betrachtet, s t e l l t d e n n auch selbst fest, daß „ d e n verschiedena r t i g s t e n V e r f a s s u n g e n der C h a r a k t e r d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m i t ä t zugesprochen w e r d e n " k ö n n e , „ i n d e m m a n sie a u f die i m m e r v o r h a n d e n e , sei es auch n u r s t i l l s c h w e i g e n d b e t ä t i g t e verfassunggebende G e w a l t des V o l kes g r ü n d e t 8 2 " . Daß sich h i e r die L e h r e v o n d e r d e m o k r a t i s c h e n V e r fassunggebung m i t d e r soziologischen A n e r k e n n u n g s l e h r e t r i f f t , w i r d n i c h t n u r daraus d e u t l i c h , daß C. S c h m i t t Bierling i n diesem Z u s a m m e n h a n g z i t i e r t 8 3 . D e r spezifische staatsrechtliche S c h r i t t der französischen R e v o l u t i o n i n d e r T h e o r i e der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t w a r der Ü b e r g a n g v o m „reinen F a k t u m des V o l k e s 8 4 " als „ l e t z t e m gedanklichem Zurechnungsp u n k t 8 5 " a l l e n staatlichen W i r k e n s z u r juristischen E x i s t e n z des souv e r ä n e n V o l k e s , das seine V e r f a s s u n g d u r c h e i n e n „ r e a l e n " A k t schafft 8®. Diesen S c h r i t t w ü r d e m a n i m E r g e b n i s r ü c k g ä n g i g machen, w e n n m a n die stillschweigende A u s ü b u n g v o n S t a a t s g e w a l t v o r b e h a l t los i n die d e m o k r a t i s c h e n W i r k u n g s w e i s e n des Staatsvolkes einbezieht. D a h e r ist auch die stillschweigende A u s ü b u n g v o n verfassunggebender G e w a l t d u r c h das S t a a t s v o l k k e i n e rechtliche V e r f a h r e n s w e i s e 8 7 . 82 Verfassungslehre S. 91. Die Auffassung, man könne jede Verfassung, die Bestand hatte, „auf den ausdrücklichen oder stillschweigenden W i l l e n des Volkes zurückführen", bezeichnet C. Schmitt als konsequente demokratische Lehre (a. a. O., S. 94 f.). A u f G r u n d seiner oben wiedergegebenen Ausführungen w i r d man davon ausgehen können, daß diese Lehre auch seinem V e r ständnis der demokratischen L e g i t i m i t ä t einer Verfassung entspricht. P. H a r t mann hält freilich diese Stelle bei C. Schmitt insoweit für „nicht ganz k l a r " (S. 252 A n m . 23). 83 Daß C. Schmitt damit die Figur der verfassunggebenden Gewalt aus der spezifischen Ausformung einer Verfassungslehre, die v o m demokratischen Prinzip bestimmt w i r d , herauslöst, hat P. H a r t m a n n nachgewiesen, freilich u m seine eigene Rechtsgeltungstheorie zu stützen (S. 258 ff.). Er k o m m t i m übrigen zum Ergebnis, die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt sei „der für die Verfassung i m positiven Sinne bedeutsame Ausschnitt aus dem T a t bestand, den w i r , w e n n w i r den gesamten K o m p l e x des geltenden Rechts — ohne Hervorhebung eines besonderen Rechtsgebietes — betrachten, als Äußerung der Tatsache bezeichnen können, daß den jeweils beteiligten Kreisen der Bevölkerung die einzelnen Teile der gesamten Rechtsordnung als sie verpflichtende Rechtsnormen bewußt werden" (S. 263 — Hervorhebungen v o m V e r fasser). 84 Leisner, Verfassunggebung S. 40 — Hervorhebung v o m Verfasser. 85 Maunz, Gutachten Hessen S. 8 — Hervorhebung v o m Verfasser. Siehe auch Staatsrecht S. 45. 86 Maunz, a. a. O. Die Volkssouveränität wurde, formuliert Maunz an anderer Stelle, aus einem „Bestandteil der Staatsideenlehre" zu einem „praktischpolitischen Postulat" (Gutachten Hessen, a. a. O.). 87 Dieser Standpunkt w i r d heute w o h l überwiegend eingenommen. So stellt D r a t h fest, die Verfassunggebung beruhe „ i m m e r auf einer ,Annahme' durch das V o l k " , „gleichgültig, i n welcher F o r m sie sich rechtlich vollzieht" (Verfassungsgerichtsbarkeit S. 101 — Hervorhebung v o m Verfasser). Vgl. ferner Leisner, Verfassunggebung S. 350 und Krauss S. 581. Siehe aber auch Franz W. Jerusalem, Z u m Verfassungsproblem, SJZ 46, Sp. 108 ff. (109).

64

1. Abschnitt: A g e m e i n e Lehren

Die gegenteilige Auffassung würde i m übrigen auch die Grenzen zwischen der demokratischen Entstehung gesetzten Rechts und der Bildimg von Gewohnheitsrecht verwischen. I n der demokratischen Idee der Rechtserzeugung kann die Rechtstheorie nicht die oft angestrebte Einheit der Erklärungsweisen 88 von gesetztem und gewordenem Recht finden. Die M i t w i r k u n g des Staatsvolkes an der Rechtsschöpfung i m Sinne des demokratischen Prinzips ist nicht der „tacitus consensus89" der gewohnheitsrechtlichen Theorie noch ist umgekehrt die Entstehungsform des Gewohnheitsrechts die (für Teile der Rechtsordnung dann schon immer geltende) demokratische Technik der Rechtsbildung 90 . Die Selbständigkeit der Rechtsquellen 91 w i r d z. B. bei der Frage nach der gewohnheitsrechtlichen Geltung rechtswidrig gesetzten Rechts aktuell 9 2 . Die im Verfahren der Rechtsetzung unwirksam erzeugte Norm erlangt unter bestimmten Voraussetzungen als Gewohnheitsrecht rechtliche Geltung. Der Versuch einer rechtmäßigen Rechtsetzung ist dabei nur der Anlaß für die Bildung von Gewohnheitsrecht. Atypisch ist freilich diese Form der gewohnheitsrechtlichen Rechtserzeugung insofern, als hier das „Recht" schriftlich festgelegt ist, bevor es gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt. Schließlich bietet das rechtsnormative Verständnis der demokratischen Rechtserzeugung auch die Merkmale, die zur Abgrenzung der förmlichen Rechtsetzung gegenüber der auch i m Räume der Rechtsschöpfung wirkenden öffentlichen Meinung notwendig sind. Normerzeugung durch das Volk i m Sinne einer Anpassung der Rechtsinhalte an die öffentliche Meinung kann man in unterschiedlichem Umfang innerhalb jeder Herrschaftsordnung finden. Denn auf einen bestimmten Grad an Konformität der Normbéfehle m i t den allgemeinen und teilweise auch speziellen Rechtsvorstellungen des Volkes muß jeder Inhaber von Rechtsetzungsgewalt bedacht sein. Als Steuerungsvorgang ist dieser 88 I n den „psychologischen Quellen" des Rechts meinte z. B. G. Jellinek eine gemeinsame Geltungserklärung gefunden zu haben (Staatslehre S. 377 ff.). 89 Z u den Erfordernissen der Entstehung von Gewohnheitsrecht siehe u. a. Rümelin, Gewohnheitsrecht S. 216 ff. 90 Dagegen f ü h r t Götz aus, der Volkswille könne auch „ i n der geschichtlichen Form des Gewohnheitsrechts Rechtsgeltung" erlangen. Er spricht daher auch von einem „ A k t des pouvoir constituant" „ i n den Bahnen der Gewohnheitsrechtsbildung", wenn sich „derogatorisches Gewohnheitsrecht" auf „ v e r fassungsgesetzwidrige Weise als Verfassungsänderung" durchsetzt (S. 1023). I m Zusammenhang m i t der Lehre von der extrakonstitutionellen Gewalt des Volkes w i r d noch zu zeigen sein, daß weder die Möglichkeit verfassungswidrigen Gewohnheitsrechts die Existenz einer außerverfassungsmäßigen verfassunggebenden Gewalt beweist noch diese Gewalt i n der gewohnheitsrechtlichen Rechtsbildung eine spezifische Äußerungsform besitzt. 91 Sie besteht selbst für Kelsen, auch w e n n gesetztes Recht und Gewohnheitsrecht ihren Geltungsgrund u. U. i n der Grundnorm finden können (Rechtslehre S. 229, 232 f.). 92 Vgl. hierzu auch Götz, a. a. O.

2. K a p i t e l : S t r u k t u r der demokratischen Rechtserzeugungslehre

65

F a k t o r 9 3 neben den i n s t i t u t i o n e l l e n M ö g l i c h k e i t e n der W i l l e n s b i l d u n g d u r c h das V o l k i n e i n e r D e m o k r a t i e v o n selbstverständlicher p o l i t i s c h e r B e d e u t u n g . D i e demokratische S t a a t s f o r m w e i s t i n s o w e i t gegenüber anderen F o r m e n der H e r r s c h a f t s g e s t a l t u n g n u r g r a d u e l l e Unterschiede auf. I h r g r u n d s ä t z l i c h anderes P r i n z i p , d e n S t a a t s w i l l e n z u b i l d e n , b e steht i n d e m Versuch, die D e c k u n g v o n Staats- u n d V o l k s w i l l e n d u r c h eine i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e W i l l e n s f i n d u n g zu sichern. N u r diese F o r m der A k t u a l i s i e r u n g des V o l k s w i l l e n s i s t v o n rechtlicher Relevanz® 4 . D i e 95 „rechtsschöpfende, normerzeugende K r a f t " der öffentlichen Meinung 9 ® i n Verfassungssachen i s t daher auch n i c h t der p o u v o i r c o n s t i t u a n t des d e m o k r a t i s c h e n Staatsrechts 9 7 .

93

Das Volk, sagt Liermann, beeinflußt den Staat „psychisch" (S. 52). Z u r Einordnung der „opinion publique" i n das System der rechtlichen Gewalten durch die „Economistes frangais" i m 18. Jahrhundert siehe L i e r mann S. 51 f. I n einem anderen Zusammenhang steht die Forderung nach einer demokratischen Willensermittlung durch ein „rechtsstaatlich-geordnetes Verfahren " (Kägi, Rechtsstaat S. 138 — dort gesperrt). Siehe hierzu auch Schönherr S. 72 f., 116. 95 Schmidt S. 280. 96 Z u r wesensmäßigen Abgrenzung von Volkswillen und öffentlicher M e i nung siehe ferner Hennis, Meinungsforschung S. 27. 97 L i e r m a n n trennt daher auch die „reine Volksgewalt" als den „ d y n mische(n) Einfluß" des Volkes auf den Staat v o n der „Volksgewalt" i m dogmatischen Sinn (S. 50 f.). Die Äußerungen der reinen Volksgewalt sind dem Staat nicht zuzurechnen (S. 52). Dementsprechend bildet Liermann einen Begriff der „Volkssouveränität i n einem höheren Sinne", der die „staatschöpfende U r k r a f t " des „lebendigen Gemeinschaftsvolks" beinhaltet (S. 170 f.; vgl. auch S. 181 f.). Schmidts Zweifel an dem staatsrechtlichen W e r t des Begriffes „pouvoir constituant" sind i n der Gleichsetzung der speziellen demokratischen Rechtserzeugung m i t der allgemeinen Möglichkeit des Volkes begründet, die Rechtserzeugung indirekt zu steuern (S. 278 ff.). Kritisch hierzu Jagmetti S. 33 f. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Siegfried Landshut, Volkssouveränität u n d öffentliche Meinimg, i n : Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts u n d der Rechtsphilosophie, Festschrift f ü r Rudolf Laun, 1953, S. 579 ff., insb. S. 583, 586. 94

5 Steiner

Drittes Kapitel Der Begriff der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes A. Volkssouveränität und verfassunggebende Gewalt des Volkes I. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes als Modalität der Volkssouveränität

Die Lehre von der Volkssouveränität 1 ordnet die Souveränität als Inbegriff der höchsten Gewalt i n einem Gemeinwesen dem Volke zu 2 . Sie vereint der Substanz nach rechtsetzende, verwaltende und richterliche Gewalt beim Volke. Die Kernfunktion der Staatsgewalt und zentrale Technik der Herrschaftsausübung i m modernen Staat ist die Rechtsetzung3. Durch sie w i r d der Inhaber der Souveränität ausgewiesen4. Sie ist daher auch i m Vorstellungsbereich der Volkssouveränitätsidee die zentrale Befugnis des Staatsvolkes. Innerhalb der Rechtssätze sind i m Stufenbau der Rechtsordnung die Verfassungsnormen die höchsten; innerhalb der Typen von rechtsetzender Gewalt steht die verfassungserzeugende Gewalt über allen anderen 5 . Der Träger der Souveränität ist daher notwendig Träger der verfassungsschöpfenden Gewalt, ebenso wie umgekehrt derjenige i n einer Rechtsgemeinschaft souverän ist, der die verfassunggebende Gewalt be1 Z u r Ideengeschichte der Volkssouveränität und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes siehe u.a. O. v. Gierke, Althusius S. 123 ff.; Goeschen S. 10 ff.; Hans Herbert Gross, Die Volkssouveränität i n These und Antithese ihrer Entwicklung, Diss. Erlangen 1948/49; Hatschek, Allgemeines Staatsrecht I I S. 26 ff.; Friedrich August Frhr. v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, 1952, S. 345 ff.; Jagmetti S. 19 ff.; K ö h l m a n n S. 4 ff. u n d Redslob S. 46 ff. Z u r Lehre von der verfassunggebenden Gewalt i m deutschen Staatsrecht siehe Henke S. 66 ff. 2 Die Staatsrechtslehre fächert das „Souveränitätsproblem" i n mehrere Fragestellungen auf, z. B. nach dem Träger der Souveränität, der „Lokalisierung" der Souveränität i m Einheitsstaat, i m Bundesstaat u n d i n völkerrechtlichen Staatenverbindungen sowie nach den Grenzen der Souveränität. Vgl. Hennis, Souveränität S. 3 ff. u n d Affolter S. 53 A n m . 205. 3

Vgl. Affolter S. 60; Dahm S. 154 und Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 30.

4

Vgl. Leisner, Verfassunggebung S. 137 u n d ferner S. 19,20.

5

Siehe Heyen S. 4 und Viehoff S. 94.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung u n d verfassunggebenden Gewalt

67

sitzt®. I n der Zuordnung der verfassunggebenden Gewalt an das Volk findet die Idee der Volkssouveränität ihren wichtigsten Anwendungsfall 7 ; i n der Lehre vom pouvoir constituant hat sie sich i n der Auseinandersetzung mit anderen Souveränitätslehren ihre „bündigste programmatische Formel" geschaffen 8.

I I . Die Trennung von Volkssouveränität und verfassunggebender Gewalt bei Jagmetti

Stellt sich auch die Zuweisung der verfassunggebenden Gewalt an das Staatsvolk dogmengeschichtlich und dogmatisch als folgerichtige A n wendung des Prinzips der Volkssouveränität auf den Vorgang der Verfassunggebung dar 9 , so w i l l die demokratische Theorie doch teilweise diesen Zusammenhang von Volkssouveränität und konstituierender Gewalt des Volkes lösen. Sie stellt Volkssouveränität und verfassunggebende Gewalt des Volkes als die „zwei Grundprinzipien der demokratischen Organisation des Staates 10 " nebeneinander. I n den Begriff der Volkssouveränität bezieht sie alle Herrschaftsäußerungen des Volkes innerhalb einer Verfassungsordnung ein, soweit sie in der Form der Volksgesetzgebung erfolgen 11 . Dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt ordnet sie dagegen den Vorgang der vorverfassungsmäßigen Verfassungsschöpfung zu 12 . Soweit mit dieser Systematik nur eine Änderung des herkömmlichen Sprachgebrauchs verbunden ist, w i r d man lediglich Zweifel an der ° Vgl. Dahm S. 162 u n d Heller, Souveränität S. 50. Vgl. auch Meyer-Goßner S. 63 f. Die herrschende Lehre r ä u m t der v e r fassunggebenden Gewalt nicht n u r i n diesem Sinne eine Vorrangstellung ein. Sie gesteht i h r darüber hinaus i n der Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués einen Sonderstatus zu, der noch zu erörtern sein w i r d . Siehe unten 3. Abschnitt, 1. Kapitel, A l l . 8 Dies w i r d vor allem i n der Ideengeschichte der französischen Revolution deutlich, für die Zweig den Zusammenhang von Volkssouveränität und verfassunggebender Gewalt i n der zitierten Weise formuliert (S. 3). 9 Siehe z.B. Beyersdorff S. 86; Ehmke, Verfassungsänderung S. 87; H i l desheimer S. 38, 44, 104; G. Jellinek, Staatslehre S. 522; Kägi, Volksinitiative S. 805 a; K ö h l m a n n S. 12, 80; Maunz, Verfassunggebende Gewalt S. 645 u n d ders., Staatsrecht S. 45 f. Die klassische Idee der Volkssouveränität hat i n dreifacher Weise auf die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt eingewirkt. Sie hat diese dem Volke zugewiesen, i h r die plebiszitäre Ausübung vorgeschrieben und schließlich den Charakter einer allzuständigen u n d allmächtigen Gewalt verleihen wollen. Die Dogmengeschichte der verfassunggebenden Gewalt ist teilweise die Geschichte einer Loslösung von der Idee der Volkssouveränität i n ihrer klassischen Prägung. 10 Affolter S. 50 — Hervorhebung v o m Verfasser. 11 Siehe Jagmetti S. 171 u n d Affolter S. 66. 11 Siehe Affolter S. 50. 7

5

68

1. Abschnitt : Allgemeine Lehren

Zweckmäßigkeit und dogmenhistorischen Richtigkeit einer solchen Begriffsbildung anmelden können 13 . Jagmetti w i l l jedoch die Volkssouveränität als Inbegriff aller unmittelbaren Herrschaftsäußerungen des Volkes i m Bereich der Rechtsetzung nicht aus terminologischen Gründen von den Vorgängen der Verfassunggebung fernhalten. Er befürchtet, die Überordnung der Verfassung über das Gesetz sei gefährdet, wenn man die Vorstellungen der Volkssouveränitätsidee in allen Rechtsetzungsbereichen konsequent zur Anwendung bringe. Denn dann müsse man alle Rechtsnormen ohne Rücksicht auf ihren Inhalt rangmäßig allein danach einstufen, in welchem Umfang das Volk unmittelbar an ihrer Ingeltungsetzung mitgewirkt habe 14 . Daraus folge, daß die Verfassung nicht mehr über das plebiszitär zustande gekommene Gesetz gestellt werden könne. Die Lehre von der Volkssouveränität weise also ihrem „Wesen" nach die „Tendenz" auf, die verfassunggebende Gewalt als selbständige, allen anderen auf Rechtserzeugung gerichteten Gewalten übergeordnete Funktion zu absorbieren 15 und die Unterscheidung von konstituierender und konstituierter Gewalt zu verwischen. Man müsse um die „gesteigerte Autorität" und den „erhöhten" Glanz der Verfassung fürchten, wenn die Besonderheit der Verfassungsentstehung im Volksbewußtsein zurücktrete 16 . Die hier i m Hintergrund stehende Frage, wie die Uberordnung der Verfassung über das Gesetz dogmatisch zu begründen ist, stellt sich freilich auch auf dem Boden der repräsentativen Demokratie. Denn ebenso wie die Idee der unmittelbaren Demokratie, konsequent durchgeführt, nur einen Rechtserzeuger für Verfassung und Gesetz kennt 1 7 , nähert auch das repräsentative Prinzip der Rechtserzeugung die Verfahren der Verfassungs- und Gesetzesentstehung einander an 18 . Die unterschiedliche „Volksnähe" der Rechtserzeugung als Kriterium für den Rang des erzeugten Rechts i m Stufenbau der Rechtsordnung zu ver18 Weder Affolter (S. 66) noch Jagmetti (S. 2) verkennen den theoriengeschichtlichen Zusammenhang, der zwischen der Lehre v o n der verfassunggebenden Gewalt und der Idee der Volkssouveränität besteht. Nach Jagmettis Auffassung ist durchaus die „ D o k t r i n der konstituierenden Gewalt des Volkes n u r eine Modalität der Volkssouveränitätslehre; auf dem Boden dieser letzteren ruht sie und ist ohne sie undenkbar" (S. 2). Jedoch betrachtet er die V e r bindung von verfassunggebender Gewalt u n d Volkssouveränität f ü r die Dogmatik des verfassungsbezogenen demokratischen Staatsrechts als ungeeignet. 14 Jagmetti S. 171. Er w e h r t sich also gegen die Konsequenz einer „eindimensionalen Gesetzgebung" (Leisner, Verfassunggebung S. 402). 15 Jagmetti S. 169. Siehe auch Leisner, a. a. O., S. 151 ff. 16 Jagmetti S. 197. Seine Untersuchungen zur Frage, w i e die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt deren Standort i n einer Verfassungsordnung bestimmt, die das V o l k i n größerem Umfang mittels unmittelbarer Sachentscheidungen i n den Gesetzgebungsvorgang einbezieht, finden sich auf S. 172 ff. 17 Vgl. Jagmetti S. 154. 18 Siehe i n diesem Zusammenhang auch Zweig S. 87.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung und verfassunggebenden Gewalt

69

wenden, bereitet von der Idee der unmittelbaren Demokratie her vor allem dort Schwierigkeiten, wo die repräsentativ entstandene Verfassung Gesetzen übergeordnet wird, die vom Volk unmittelbar erzeugt werden. Jedoch gehört die grundsätzliche Frage, ob der Rang eines Rechtssatzes in einer demokratisch organisierten Rechtsgemeinschaft nach dem Umfang der direkten M i t w i r k u n g des Volkes an der Entstehung des betreffenden Rechtssatzes bestimmt werden kann, einem späteren Kapitel an 19 . Hat Jagmetti die Verfassunggebung und die ihr zugeordnete verfassunggebende Gewalt der Volkssouveränität als Inbegriff der innerverfassungsmäßigen Rechtserzeugung unmittelbar durch das Volk gegenübergestellt, so löst Henke die Volkssouveränität von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes i n der Unterscheidung von verfassunggebender Gewalt und Staatsgewalt. Dieser Unterscheidung liegt die Abgrenzung der Verfassung vom Verfassungsgesetz zugrunde, wie sie C. Schmitt entworfen hat. Sie ist zunächst darzustellen.

I I I . Die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz bei C. Schmitt

C. Schmitt hat in seiner „Verfassungslehre 20 " zur Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in doppelter Hinsicht beigetragen. Er entwickelte die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz und führte die Unterscheidung von „pouvoir constituant" und „pouvoir constitué" ins deutsche Staatsrecht ein. Auf beiden Begriffspaaren baut seine Lehre von den Grenzen der verfassungsändernden Gewalt auf. Die Abgrenzung von „Verfassung" und „Verfassungsgesetz" durchzieht C. Schmitts gesamte „Verfassungslehre"; sie ist nach seiner Ansicht für die Verfassungslehre schlechthin der „Anfang jeder weiteren Erörterung 2 1 ". Schmitt bereitet sie zunächst durch eine kritische Beschreibung des herkömmlichen Verfassungsbegriffes vor, den er als „relativen Verfassungsbegriff" bezeichnet und dessen Merkmale er als „formal" qualifiziert: eine Summe einzelner Verfassungsgesetze, die durch geschlossene Beurkundung und erschwerte Abänderbarkeit charakterisiert sind 22 . Der Verfassungsbegriff sei unzulässig relativiert, weil man Verfassung und Verfassungsgesetz gleichgesetzt habe. Die „inhaltliche und sachliche" Unterscheidung von Verfassungsrecht und Rechtssätzen zweiten 19

Siehe unten 2. Abschnitt, 1. Kapitel,, Β I I I 2. Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, unveränderter Neudruck Berlin 1957. 21 Verfassungslehre S. 21. 22 Vgl. hierzu i m einzelnen a. a. O., S. 11 ff. 20

70

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

Hanges gehe durch die Bemühung formaler Kriterien verloren 23 . Die praktische Folge dieses Verfassungsbegriffs, der „die sachliche Bedeutung der Verfassung" zurücktreten lasse24, bestehe darin, daß die „Bestimmung über Verfassungsänderungen, für die Weimarer Verfassung also A r t . 76, der wesentliche Kern und der einzige Inhalt der Verfassung" sei 25 . Den sachlichen, allein wesentlichen Verfassungsbegriff gewinnt C. Schmitt durch seinen Begriff der „Verfassimg i m positiven Sinne 2 8 " wieder. Der Inhalt dieser Verfassung ist die „Form und Art der politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt w i r d 2 7 " , ihr Ursprung ist ein „Akt der verfassunggebenden Gewalt 28". „Eine solche Verfassung ist eine bewußte Entscheidung, welche die politische Einheit durch den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt 29." Diese Verfassung kann selbst wiederum aus einer Mehrheit einzelner grundlegender politischer Entscheidungen bestehen, z.B. der Entscheidung für die Demokratie, den bundesstaatlichen Aufbau eines Gemeinwesens oder den bürgerlichen Rechtsstaat 30 . M i t dem Begriff der positiven Verfassung w i l l C. Schmitt das Problem des materiellen Verfassungsbegriffes lösen. Denn das Volk legt i n seiner verfassunggebenden Entscheidung den Inhalt des Verfassungskerns auch insoweit fest, als es die Materien bestimmt, die zu diesem Verfassungskern gehören. Da es dabei aus der Natur der Sache auf grundsätzliche Entscheidungen beschränkt ist, gestattet ein Vergleich von Verfassung und Verfassungsgesetz, alle — i n ihrer Bedeutung von C. Schmitt sicherlich überschätzten — nur-formellen Verfassungsnormen auszugrenzen. Dieser Eliminierungsvorgang ist freilich auch einer Verfassungstheorie möglich, die am überkommenen Verfassungsbegriff festhält, da Rechtsnormen ohne materiellen Verfassungsrang i n einer geschriebenen Verfassung i n den meisten Fällen ohne weiteres erkennbar sind. Hier w i r d deutlich, daß die Befreiung des Verfassungsbegriffs von seinen „unechten" Bestandteilen bei C. Schmitt weniger dem Verfassungsbegriff als der Revision der Revisionstheorie dienen soll. »

a.a.O.,S.ll. a.a.O.,S. 19. 25 a.a.O. 29 Hierzu i m einzelnen a. a. O., S. 20 ff. 27 a. a. O., S. 21 (Hervorhebungen v o m Verfasser). Die Schmittsche V e r fassungsformel ist i n die Nomenklatur der allgemeinen Verfassungslehre, t e i l weise m i t kleineren Abweichungen, eingegangen. Vgl. z. B. Ernst Friesenhahn, Staatsrechtslehrer u n d Verfassung, 1950, S. 34; Quaritsch, Kirchen u n d Staat S. 183 u n d W. Weber, Spannungen S. 13. 28 Verfassungslehre S. 21 — dort gesperrt. 29 a. a. O., — dort gesperrt. 30 Weitere Beispiele siehe a. a. O., S. 23 f. Vgl. hierzu auch Henkes Analyse der Verfassungssituation vor der Verfassungsgesetzgebung von 1919 (S. 104). 24

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung u n d verfassunggebenden Gewalt

71

Da der verfassungsgesetzlichen Normierung eine grundlegende politische Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt vorausgeht 31 , stellt sich die Frage, inwieweit die Beziehung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz juristisch qualifizierbar ist. C. Schmitt scheint i n diesem Zusammenhang zunächst auch klar zu formulieren: Die Verfassungsgesetze „gelten erst auf Grundl 32 der Verfassung und setzen eine Verfassung voraus 33 ". Der anschließende Satz stellt jedoch i n Frage, ob damit ein juristischer Zusammenhang von Verfassung und Verfassungsgesetz behauptet w i r d : „Jedes Gesetz als normative Regelung, auch 34 das Verfassungsgesetz, bedarf zu seiner Gültigkeit i m letzten Grunde 35 einer ihm vorhergehenden politischen Entscheidung, die von einer politisch existierenden Macht oder Autorität geschaffen wird 3 6 ." M i t einer solchen Verknüpfung von Verfassung und Verfassungsgesetz scheint nur die bereits erörterte 37 Erkenntnis aufgegriffen zu sein, daß die rechtliche Geltung einer Norm nicht von der sozialen „Umwelt" isoliert werden kann und lediglich die A r t und das Ausmaß der Abhängigkeit von juristischer und sozialer Geltung i n Frage stehen. Andererseits findet sich bei C. Schmitt auch die Feststellung, die „Gültigkeit jeder weiteren verfassungsgesetzlichen Regelung" leite sich aus den Entscheidungen der verfassunggebenden Gewalt ab 38 . M i t ihr wiederum w i l l C. Schmitt wohl über die allgemeine Einsicht der Verfassungstheorie hinausgehen, daß vor jeder Verfassungsgesetzgebung bereits eine teilweise „vorgeformte Ordnung 3 0 " vorhanden ist 4 0 . 31

a. a. O., S. 23.

32

Hervorhebungen v o m Verfasser.

33

Verfassungslehre S. 22 — dort gesperrt.

34

Hervorhebung v o m Verfasser.

35

Hervorhebungen v o m Verfasser.

38

a. a. O., S. 22 — dort gesperrt.

87

Siehe oben S. 56.

38

a. a. O., S. 76. A n anderer Stelle bezeichnet C. Schmitt das Verfassungsgesetz als die „ausführende Normierung" des verfassunggebenden Willens bzw. als „Ausführung u n d Formulierung" der Verfassung (a.a.O., S. 91) oder stellt fest, das Verfassungsgesetz stehe „ganz unter der Voraussetzung und auf der Grundlage der i n diesem (seil, verfassunggebenden) W i l l e n enthaltenen politischen Gesamtentscheidung" (a. a. O., S. 76). 39 Bühler S. 77. Ob der Verfassungsgesetzgeber, w i e dies Tiefenbacher befürwortet (S. 89), k r a f t seiner Souveränität von der Verpflichtung zur Positivierung der von i h m vorgefundenen Mehrheitsvorstellungen einer Rechtsgemeinschaft freizustellen ist, erscheint bei einer demokratischen Verfassunggebung nicht als dringliches Problem. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Quaritsch, Kirchen u n d Staat S. 189. 40 So f ü h r t er z. B. i n bezug auf die Weimarer Nationalversammlung aus, sie sei an die „rechtlichen Schranken gebunden", „die sich aus der politischen Gesamtentscheidung des deutschen Volkes ergeben" (Verfassungslehre S. 59).

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

72

D a m i t b l e i b t l e t z t l i c h das V e r h ä l t n i s v o n V e r f a s s u n g u n d Verfassungsgesetz seiner Q u a l i f i k a t i o n nach b e i C. S c h m i t t offen 4 1 . A u c h das sich a n C. S c h m i t t anschließende S c h r i f t t u m t r ä g t n u r t e i l w e i s e d a z u bei, die A r t d e r Z u o r d n u n g v o n V e r f a s s u n g u n d Verfassungsgesetz n ä h e r z u b e s t i m m e n 4 2 . D i e p r a k t i s c h e n F o l g e r u n g e n , die C. S c h m i t t aus d e r U n t e r s c h e i d u n g v o n V e r f a s s u n g u n d Verfassungsgesetz zieht, beziehen sich d e n n auch interessanterweise n i c h t a u f die G e l t u n g des o r i g i n ä r e n t s t a n d e n e n Verfassungsgesetzes, s o n d e r n a u f die (einschränkende) A u s l e g u n g d e r g e l t e n d e n verfassungsgesetzlichen R e v i s i o n s b e s t i m m u n g e n 4 3 .

I V . Die Trennung von Volkssouveränität und verfassunggebender Gewalt im Verhältnis von verfassunggebender Gewalt und Staatsgewalt bei Henke 1. Der Begriff

der verfassunggebenden

Gewalt

Henkes U n t e r s u c h u n g e n setzen k r i t i s c h a m ü b e r k o m m e n e n M o d e l l der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t s i d e e an. Diese h a t nach seiner A n s i c h t verfassunggebende G e w a l t u n d S t a a t s g e w a l t „ i n der u n g l ü c k l i c h s t e n W e i s e " v e r m i s c h t u n d „so eine heillose V e r w i r r u n g g e s t i f t e t 4 4 " . D e n n beide G e w a l t e n s i n d — diese These s t e l l t H e n k e a n den A n f a n g — g r u n d s ä t z l i c h d a d u r c h unterschieden, daß nur die verfassunggebende Gewalt, nicht aber die «Staatsgewalt i n den Händen des Volkes liegen k a n n 4 5 . I n seiner 41

Wie umstritten schon die Qualität der positiven Verfassung als politischer Begriff oder Inbegriff von Rechtsnormen ist, zeigen die unterschiedlichen Ergebnisse der Analysen von P. H a r t m a n n (S. 249 f.), Bachof (Verfassungsnormen S. 25) u n d K i n d (S. 53) einerseits u n d Henrich (S. 626) andererseits. 42 A r n o l d beurteilt einen i m Verfahren der verfassungsgesetzlichen Revision von den Revisionsorganen vorgenommenen A k t der Verfassunggebung als „rechtswidrig" (S. 21). Hof mann analysiert, alle „normativen Regelungen" seien f ü r C. Schmitt „sekundär" gegenüber der verfassunggebenden G r u n d entscheidung, die als „existentielle Entscheidung" „alle normativen Regelungen" „ t r ä g t " (S. 128). K i n d erfaßt die Verfassung als „Grundlage jeder weiteren verfassungsgesetzlichen Regelung" (S. 53). Krüger beschreibt dais Verhältnis von Verfassung u n d Verfassungsgesetz i m Sinne C. Schmitts als „einmalige, punktuelle Verbindung zwischen Sein u n d Sollen" (Staatslehre S. 150). Die verfassunggebenden Entscheidungen w ü r d e n die „Grenzen" festlegen, „ i n n e r halb deren legitime Verfassungsänderungen u n d Verfassungswandlungen zulässig sind" (a. a. O.). Siehe i m übrigen die kritischen Bemerkungen zur j u ristischen Existenzform der „Verfassung" bei Heller, Staatslehre S. 276; Hennis, Souveränität S. 47 und Zülch S. 73. 43 Dementsprechend weist die Darstellung der Lehre C. Schmitts durch Krüger eine Aktualisierung des Verhältnisses von Verfassung und Verfassungsgesetz n u r f ü r den Bereich der Verfassungsänderung nach (Staatslehre S. 150). 44 S. 10. 45 a. a. O. Die Unterscheidung beider Gewalten bezeichnet Henke als das „eigentliche Thema" seiner Arbeit (a. a. O.).

3. K a p i t e l : Begriff der Verf assung und verfassunggebenden Gewalt

73

Beweisführung geht Henke davon aus, daß die „politische Einheit" als Einheit, „ i n der es um Sein oder Nichtsein des Menschen als Mensch" geht und deren „ A r t und Form" die Verfassung i m Sinne der Terminologie C. Schmitts ist, „nicht von selbst" besteht 46 . Denn die Beziehungen der Menschen untereinander enthielten immer „die Möglichkeit der Feindschaft oder Zwietracht 4 7 ". Den Schutz der politischen Einheit gewähre die Staatsgewalt. Sie geht nach seiner Auffassung „nicht irgendwie aus der Nation hervor, sondern steht ihr von Anfang an gegenüber 4 8 ". Damit hat Henke den für alle weiteren Überlegungen maßgeblichen Ausgangspunkt gewonnen: „Man kann daher die Staatsgewalt nicht auf die Nation zurückführen, ohne ihr Wesen zu verkennen 49 ." Die Staatsgewalt liege niemals in der Hand des Volkes 50 . Dagegen befinde sich die verfassunggebende Gewalt als der politische Wille des Volkes zu einer bestimmten Verfassung „tatsächlich und unveräußerlich" i m Besitz des Volkes 51 . Sie bringe die Verfassung hervor, die Staatsgewalt dagegen — also jene Gewalt, die nicht i m Besitze des Volkes sein kann — das Verfassungsgesetz 52. Die Verfassunggebung besteht damit i n einem Zusammenwirken von verfassunggebender Gewalt und Staatsgewalt 53 . Die Staatsgewalt bewahrt nicht nur die politische Einheit des Volkes i n der A r t und Form, die ein bestehendes Verfassungsgesetz vorsieht, sondern vollzieht auch die i n der Verfassung festgelegte A r t und Form dieser Einheit i n der Setzung verfassungsgesetzlicher Rechtsnormen 54 . Das bedeutet für die Stellung des Volkes: Nur in der Funktion der Verfas46

S. 16. a.a.O. 43 S. 17 — Hervorhebungen v o m Verfasser. 49 a.a.O. 50 S. 18. 51 S. 24. 52 Vgl. Diss. S. 36. Den praktischen Unterschied zwischen Henkes Vorstellungen über die Verfassunggebung u n d deren herkömmlicher K o n s t r u k t i o n zeigt seine These, eine i m Falle der Wiedervereinigung Deutschlands gewählte Nationalversammlung hätte n u r beratende u n d klärende Funktionen i n bezug auf den verfassunggebenden W i l l e n des Volkes. Den Erlaß des Verfassungsgesetzes müsse der „staatliche Gesetzgeber" vornehmen (S. 39 f.). Die durch Henke vorgenommene Trennung von Staatsgewalt und verfassunggebender Gewalt paßt letztlich n u r auf die Verfassunggebung i n einem Gemeinwesen, i n dem unterschiedliche Träger für beide Gewalten bereitstehen, z. B. auf den Versuch einer Verfassungsschöpfung 1848 i n Deutschland. Siehe hierzu Henke S. 66 ff. und seine verfassungstheoretische Würdigung S. 86 f. Vgl. ferner i n diesem Zusammenhang auch a. a. Ο.,, S. 106. Daß gerade die Verfassunggebung gescheitert ist, die Henkes Modell der Verfassungsentstehung prinzipiell entspricht, macht zugleich die politische Problematik deutlich, die Henkes Unterscheidung von verfassunggebender und Staatsgewalt auf w i r f t : Der T r ä ger der Staatsgewalt muß eine Verfassung m i t Gesetzeskraft ausstatten, durch die er u. U. beschränkt oder gar entmachtet w i r d . 53 Diss. S. 36. 54 S. 32. 47

74

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

sunggebung, nicht i n der Funktion der Veriassungsgesetzgebung handelt das V o l k als Träger der verfassunggebenden Gewalt, auch wenn es selbst einem Verfassungsgesetzentwurf zustimmt und nicht n u r Vertreter zum Zwecke der Verfassungsgesetzgebung w ä h l t 5 5 . Denn die Verfassungsgesetzgebung ist Aufgabe der gesetzgebenden (Staats-)Gewalt, die niemals i n der Hand des Volkes liegen kann. Damit werden zwei verschiedene Begriffe des Volkes eingeführt: Das V o l k als Träger der verfassunggebenden Gewalt ist v o m V o l k als Träger der Staatsgewalt und damit auch der verfassungsgesetzgebenden Gewalt zu unterscheiden 56 . Die Funktion der Verfassungsgesetzgebung ist dabei von sekundärer Bedeutung. Denn Geltung, Legitimität und Rang des Verfassungsgesetzes werden nicht durch dessen Entstehungsverfahren, sondern allein durch dessen inhaltliche Konformität m i t der vom V o l k bestimmten Verfassung entschieden 57 . Dieser Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes gehört nicht dem demokratischen Staatsrecht an und soll i h m auch nicht angehören. Henkes Feststellung, die verfassunggebende Gewalt des Volkes sei „tatsächlich und unveräußerlich i m Besitz des Volkes 5 8 ", basiert nicht auf naturrechtlichen Vorstellungen 5 9 , sondern auf dem bereits beschriebenen politisch-sozialen Sachverhalt, daß i n jeder Staatsform die Meinungen und Vorstellungen des Volkes die Rechts- und damit auch Verfassungserzeugung beeinflussen. Daher w i r d für Henke der verfassunggebende Wille des Volkes auch i n der öffentlichen Meinung erkennbar 6 0 . Soweit Henke ferner den „Vorgang der geschichtlichen Ausbildung 55

Nach Henkes Ansicht ist die Volksabstimmung über eine Verfassung nur „ein Mittel", die „Ubereinstimmung" des Verfassungsgesetzes „ m i t dem verfassunggebenden Willen des Volkes festzustellen". Sie ist nur eine „Ausdrucksform" der verfassunggebenden Gewalt, nicht aber „unmittelbare Verfassungsgesetzgebung durch das Volk" (S. 40). Solche Unterscheidungen wollen freilich nur schwer eingehen. 56 Das spricht Henke deutlich aus. „Das ,Volk', das i n der unmittelbaren Demokratie als Träger der Staatsgewalt und damit auch als Gesetzgeber und Verfassungsgesetzgeber auftritt", ist nach seiner Ansicht „ m i t dem Volk als Nation, dem Gesamtvolk als politischer Einheit, nicht identisch" (S. 33). Das Volk als Inhaber der verfassunggebenden Gewalt umfaßt das gesamte Volk, das Volk als Subjekt der Staatsgewalt nur die Aktivbürgerschaft (Diss. S. 36). 57 S. 32. Vgl. auch Diss. S. 41. Dementsprechend betrachtet Henke auch die Nationalversammlung nicht als Volksvertretung, sondern als einen zum Zwecke des Verfassungsvollzugs m i t einer besonderen Autorität ausgestatteten „Spezialgesetzgeber", dessen Beschlüsse m i t großer Wahrscheinlichkeit der Verfassung konform seien (S. 39). 58 S. 24. 59 Nach der Interpretation, die C. Schmitt den „lois politiques" oder „lois fondamentales" Rousseaus (Contrat social I I 12) gegeben hat (vgl. Verfassungslehre S. 95), scheint freilich Henkes Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes m i t Rousseaus Vorstellungen verwandt zu sein. 60 S. 25.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung und verfassunggebenden Gewalt

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nationaler, politischer Lebensformen" — d. h. der Ausbildung von „Zuständen®1" — als eine Form der Betätigung verfassunggebender Gewalt 6 2 begreift, spricht er eine selbstverständliche, von der Staatsform unabhängige Äußerungsform als Wirkungsweise der konstituierenden Gewalt des Volkes an 63 . Sein Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hat daher mit der Demokratie als Staatsform nichts zu tun 6 4 . Vielmehr trifft i n seinem System die verfassunggebende Gewalt des Volkes als Nation die Entscheidung darüber, ob das Volk als Aktivbürgerschaft die Staatsgewalt i m demokratischen Sinne innehat 65 . Henke weist daher auch darauf hin, daß es eine „ideologische Vorwegnahme der verfassunggebenden Entscheidung 66 " sei, wenn man, demokratischen Vorstellungen folgend, fordere, das Verfassungsgesetz müsse „ i n jedem Fall" vom V o l k oder seinen Repräsentanten erlassen werden 67 . Diesem politischen Charakter des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt 6 8 und der Verfassung entspricht es, daß Henke die Verfassung nicht als Geltungsgrundlage des Verfassungsgesetzes i m rechtlichen Sinne, sondern „nur" als Bedingung der politischen Legitimität begreift. Zwar spricht er mehrmals davon, daß der Verfassungsgesetzgeber an die — von ihm ohne Zweifel als politische Basis verstandene 69 — Verfassung „gebunden" sei 70 . Eine Verletzung dieser Bindung hat jedoch bei Henke nicht die rechtliche Unverbindlichkeit der verfassungsgesetzlichen Norm zur Folge 71 , sondern berührt „ n u r " deren Legitimität 7 2 . 61

a.a.O. S. 26. 03 Von dieser verfassunggebenden Gewalt des Volkes k a n n Henke u n widersprochen sagen, sie könne „weder rechtlich geregelt noch organisiert w e r den" u n d ihre Betätigung sei „ a n keine Form u n d k e i n Verfahren gebunden" (S. 25). 64 Daran läßt Henke selbst keinen Zweifel. Die Bezeichnung „demokratisches" Verfahren der Verfassunggebung enthält nach seiner Ansicht einen „inneren Widerspruch", sofern m a n unter Demokratie eine „Staatsform und nicht einfach den f ü r die L e g i t i m i t ä t u n d A u t o r i t ä t jeder Staatsgewalt notwendigen allgemeinen Konsens des Volkes versteht" (S. 38). 65 Vgl. S. 116. ββ S. 38. 67 a.a.O. 68 Die politische Qualität dieses Begriffs w i r d bei Henke auch dort deutlich, w o er den Zusammenhang aufzeigt, der zwischen der „allgemeinen Z u stimmung" durch die Rechtsgenossen' als klassischem M e r k m a l der soziologischen Geltungslehren u n d der verfassunggebenden Entscheidung des Volkes nach seiner Auffassung besteht (S. 154). 69 Vgl. S. 161. 70 Vgl. z. B. S. 33, 37. A n anderer Stelle spricht er von der „Aufgabe einer Nationalversammlung", „ i n einem Verfassungsgesetz die Verfassung zu normieren" (S. 105). 71 K l a r ergibt sich diese Ansicht Henkes aus seiner Verweisung auf die Untersuchungen Welzels zum Begriff der „sachlogischen Strukturen". Vgl. Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, Festschrift f ü r Hans Niedermeyer, 63

76

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

Auch die Bindung des verfassungsändernden Verfassungsgesetzgebers an die verfassunggebenden Entscheidungen des Volkes betrifft „nur" die Legitimität des verfassungsgesetzgeberischen Handelns 78 . Henke muß daher die politische und rechtspolitische Forderung aufstellen, daß das Verfahren der Verfassungsgesetzgebung „den verfassunggebenden Willen des Volkes zur Geltung kommen läßt" und zugleich „ i n Zweifelsfällen eine echte Entscheidung ermöglicht 74 ". Man kann somit Henkes Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als eine politische Theorie der richtigen Verfassung verstehen, die die Funktionen von verfassunggebender Gewalt und Staatsgewalt idealtypisch fixiert und die Wirklichkeit der Verfassungsentstehung an dieser als sachgerecht empfundenen Konstellation der Gewalten mißt 7 5 . Das w i r d vor allem dort sichtbar, wo Henke es als Mangel der demokratischen Auffassung von der Verfassungsentstehung bezeichnet, daß sie das „Verfahren zum einzigen Kriterium der Legitimität des Verfassungsgesetzes" erhebt, und der Wille einer Nationalversammlung schlechthin und unbesehen als Wille des Volkes gilt 7 6 . Freilich gesteht auch Henke zu, daß die inhaltliche Konformität von Verfassung und Verfassungsgesetz dann am besten gewährleistet ist, wenn das Volk als Nation die Verfassung schafft und als Aktivbürgerschaft dem Verfassungsgesetz Geltung verleiht 7 7 . Wann auch letzteres der Fall ist, hängt freilich vom Inhalt der Verfassung ab 78 . Denn i m Gewaltensystem Henkes entscheidet das Volk als 1953, S. 279 ff. (290) und ders., Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 197 f. bzw. 4. Aufl. 1962, S. 244 Anm. 11. Ebenso w i e der Gesetzgeber durch die „sachlogischen Strukturen" „relativ" gebunden w i r d (vgl. Henke S. 35), und eine Verletzung dieser Bindung „die Regelung nicht ungültig, aber sachlich unzutreffend macht" (vgl. Henke S. 35), schafft auch der Verfassungsgesetzgeber kein unverbindliches Verfassungsrecht, wenn er die „ i n den sachlogischen Strukturen der Verfassung und des öffentlichen Lebens" liegenden „Grenzen u n d Bindungen" unbeachtet läßt. Vgl. auch Diss. S. 21 f., 46. 72 Siehe S. 37, 149. Vgl. ferner die Formulierung Henkes, daß die Verfassungsgesetzgebung „die rechtliche Normierung der verfassunggebenden E n t scheidung" sei (S. 37). Daß der Begriff der „ L e g i t i m i t ä t " bei Henke die politisch-soziale Richtigkeit der Verfassung meint, w i r d auch auf S. 41 deutlich. 73 Vgl. S. 43. Eine Änderung des Verfassungsgesetzes entgegen dem W i l l e n der verfassunggebenden Gewalt berührt somit nicht ihre rechtliche Geltung. 74 S. 36. Henke sieht also, daß der I n h a l t des verfassunggebenden Volkswillens nicht immer m i t der zum Vollzug erforderlichen K l a r h e i t offen liegt. I n diesem Zusammenhang ist auch sein Hinweis zu sehen, daß die Verfassung sich „manchmal mehr, manchmal weniger spürbar" ändert (S. 42). 75 Siehe hierzu vor allem S. 40 ff. Folgerichtig k o m m t Henke auch zur Unterscheidung von richtiger und unrichtiger Verfassunggebung (S. 87). Der Vorgang der Revolution kennzeichnet sich dadurch, daß die Gewalten die ihnen zukommende F u n k t i o n nicht wahrnehmen bzw. überschreiten (S. 41 f.). 76 S. 36. 77 S. 37 f. 78 Vgl. S. 116. Daher sind auch „Verfahrensgrundsätze", wie z. B. das Mehrheitsprinzip, und „Formprinzipien" I n h a l t einer erst zu schaffenden Verfassung (S. 25).

3. Kapitel : Begriff der Verfassung und verfassumggebenden Gewalt

77

Träger der verfassunggebenden Gewalt darüber, ob dem Staatsvolk als Aktivbürgerschaft die Souveränität i m Sinne der demokratischen Lehre zukommt 79 .

2. C. Schmitts Lehre und Henkes Theorie der verfassunggebenden Gewalt Aus der bisherigen Darstellung der Theorie Henkes geht bereits hervor, daß sich dieser an C. Schmitts Lehre von Verfassung und Verfassungsgesetz bzw. verfassunggebender und verfassungsgesetzgebender Gewalt i n wesentlichen Punkten nur scheinbar anschließt. Zunächst darf man davon ausgehen, daß C. Schmitt die verfassungsgesetzgebende Gewalt, unbeschadet ihrer Trennung von der verfassunggebenden Gewalt, i m Rahmen der originären Verfassunggebung systematisch der verfassunggebenden Gewalt zuordnet. So bezeichnet er die Weimarer Nationalversammlung zwar nicht als „Subjekt oder Träger" der verfassunggebenden Gewalt; wohl aber w i r d sie von ihm deren „Beauftragter" genannt 80 . Er stellt fest, sie habe die „verfassunggebende Gewalt" des deutschen Volkes zumindest insoweit ausgeübt, als sie „die i n der politischen Entscheidung des deutschen Volkes enthaltenen Inhalte sowie die zu ihrer Ausführung notwendigen verfassungsgesetzlichen Normen" „formulierte 8 1 ". Weiterhin führt die von Henke und C. Schmitt gleichermaßen vorgenommene Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsgesetzgebender Gewalt bei C. Schmitt i m Gegensatz zu Henke 82 keineswegs dazu, i n der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ein jeder Staatsform und jeder Verfassung zugrunde liegendes Institut zu sehen83. C. Schmitt hält auch der Idee der Volkssouveränität in ihrer 79 Henke sieht selbst den darin liegenden Bruch m i t der herkömmlichen Auffassung, daß die verfassunggebende Gewalt „ n u r ein Bestandteil der u m fassenden Souveränität des Volkes" ist (S. 36). 80 Verfassungslehre S. 59. Vgl. auch a.a.O., S. 91. 81 Verfassungslehre S. 58 — Hervorhebung v o m Verfasser. Das ergibt sich daraus, daß diese Feststellung m i t „ u n d " an den vorausgehenden Satz anschließt. Dieser f ü h r t aus, die Weimarer Nationalversammlung habe die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes ausgeübt. 82 Nach Henkes Vorstellung ist das Volk immer „tatsächlich und unveräußerlich" Träger der verfassunggebenden Gewalt (S. 24). Eine solche Feststellung k a n n er treffen, da das V o l k i n dieser Eigenschaft niemals unmittelbar verbindliches Recht setzt (vgl. S. 106). 83 Schmitt selbst gibt eine Darstellung der möglichen Subjekte der verfassunggebenden Gewalt (a. a. O., S. 77 ff.). Auch definiert er die verfassunggebende Gewalt allgemein als den politischen Willen, „dessen Macht oder A u t o rität imstande ist", die Verfassung zu schaffen (a. a. O., S. 75). Vgl. hierzu auch Hennis, Souveränität S. 50 A n m . 4 u n d Leisner, Verfassunggebung S. 118 ff. Hofmanns Feststellung, C. Schmitt habe „sich selbst der theoretischen Möglichkeit einer K o n s t r u k t i o n der verfassunggebenden Gewalt des Monarchen beraubt" (S. 145 f.), gehört i n einen anderen Zusammenhang. Ob-

78

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

überkommenen Ausprägung nicht vor, sie habe zu Unrecht durch die Zuteilung aller Gewalt an das Volk den Unterschied zwischen verfassunggebender und Staatsgewalt verwischt 84 . Denn für ihn ist die verfassunggebende Gewalt ein Begriff des demokratischen Staatsrechts. Bei C. Schmitt ist das Volk der mögliche Träger der verfassunggebenden Gewalt. Bei Henke dagegen ist das Volk möglicher Träger der verfassungsgesetzgebenden Gewalt 8 5 , immer aber Subjekt der verfassunggebenden Gewalt 8 6 . A u f diese unterschiedlichen Auffassungen ist es zurückzuführen, daß C. Schmitt und Henke auch das Verhältnis von Verfassung und Verfassungsgesetz verschieden verstehen. Während Henke an die Verletzung der Verfassung durch den Verfassungsgesetzgeber nicht die juristisch allein interessante Rechtsfolge knüpft, daß solche Normen des Verfassungsgesetzes ungültig sind, die von der Verfassung nicht gedeckt werden 87 , spricht C. Schmitt der Inkongruenz von Verfassung und Verfassungsgesetz diese Konsequenz niemals ab. Schließlich w i r d in der Auseinandersetzung Henkes m i t Sieyès' Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués 88 , die C. Schmitt seiner Verfassungslehre jedenfall teilweise 89 zugrunde legen kann und auch zugrunde legt 90 , deutlich, daß die Trennung von verfassunggebender Gewalt und Staatsgewalt bei Henke sich nicht m i t der Trennung von konstituierender Gewalt und konstituierten Gewalten deckt. Der pouvoir constituant bzw. die konstituierende Gewalt des Volkes i m Sinne der herkömmlichen Konzeption ist eher die verfassungsgesetzgebende gleich sich die Standpunkte i n C. Schmitts Lehre von der stillschweigenden Ausübung der verfassunggebenden Gewalt (vgl. a. a. O., S. 91 u n d oben S. 62 f) nähern, k a n n man Henke daher nicht zustimmen, seine Aussage, die verfassunggebende Gewalt gehöre „wesentlich" dem Volk, finde sich bereits bei C. Schmitt (S. 24 A n m . 9). 84 Daher überschreibt Henke auch seine entsprechenden kritischen Überlegungen „Die ideologische Verfehlung der verfassunggebenden Gewalt i n der Lehre von der Volkssouveränität" (S. 43). Er begründet diesen V o r w u r f damit, die Lehre von der Volkssouveränität teile dem Volke alle Gewalt zu, ohne zu sehen, daß dieses die verfassunggebende Gewalt, nicht aber die Staatsgewalt haben kann. Denn letztere stehe infolge ihrer Ordnungsaufgabe dem Volke notwendig gegenüber (S. 48). Der „Gleichsetzung von verfassunggebender Gew a l t u n d Staatsgewalt" (S. 62), von Verfassung und Verfassungsgesetz geht Henke i n seinen verfassungsgeschichtlichen Untersuchungen nach (S. 53 ff.). 85 Siehe S. 38 f. 88 S. 24. 67 Vgl. oben S. 75 f. Henke hält lediglich fest, „daß ein Verfassungsgesetzgeber, der den verfassunggebenden W i l l e n des Volkes nicht vollzieht, seine Aufgabe verfehlt u n d daß sein Werk nicht gelingen k a n n oder doch nicht von Dauer sein w i r d , w e i l ein Verfassungsgesetz, das der Verfassung nicht entspricht, auf die Dauer nicht bestehen k a n n " (S. 41). Siehe dazu auch seine historischen Analysen S. 53 ff. 88 Siehe HenkeS. 48 f. 89 Siehe unten 3. Abschnitt, 2. Kapitel, C. 90 Siehe Verfassungslehre S. 77 ff.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung u n d verfassunggebenden Gewalt

79

als die verfassunggebende Gewalt Henkes. C. Schmitts verfassunggebende Gewalt des Volkes findet i n Henkes System der Gewalten keinen Platz. Sie deckt sich weder mit dessen verfassunggebender noch mit dessen verfassungsgesetzgebender Gewalt.

3. Entstehungstheorie

und Entstehungswirklichkeit

der Verfassung

Henkes Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes kann als politische Theorie i m Rahmen dieser Untersuchung, die sich m i t den Bedingungen der rechtlichen Geltung einer Verfassung befaßt, ohne eingehende Erörterung bleiben. Da das demokratische Prinzip jedoch die Legitimität des Verfassungsgesetzes i n anderer Weise als Henke bebestimmt, seien noch einige wenige Bemerkungen zu seiner Theorie der richtigen Verfassunggebung angefügt. Zunächst ist Henkes Auffassung, die Verfassung werde am besten durch eine vom Volk getragene Verfassungsgesetzgebung verwirklicht 9 1 , auch bei Verwendung eines doppelten Volksbegriffs nur schwer mit seiner Ausgangsthese zu vereinbaren, die Staatsgewalt stehe dem Volke gegenüber und bedürfe lediglich der Anerkennung durch dieses Volk 9 2 , da die Ausübung von Staatsgewalt i m Hinblick auf deren Schutzfunktion dem Volke seiner zänkischen Natur wegen verschlossen bleiben müsse93. Zudem fällt auf, daß immerhin die verfassunggebende Gewalt beim Volke liegt. Die Staatsgewalt ist damit an die Verfassungsentscheidungen des Volkes gebunden und vollzieht diese durch Normierung, ist jedoch selbst von der Verfassunggebung ausgeschlossen. Sie kann aber die politische Einheit legitim nur in der vom Volk geschaffenen Form wahren. Denn nicht die politische Einheit schlechthin, sondern immer nur eine bestimmte politische Einheit läßt sich sichern 94 . Trifft das uneinige Volk keine verfassunggebende Entscheidung 95 , fehlt es an der Verfassung 91

S. 37 f. Vgl. S. 18. Die Staatsgewalt fällt nach Henkes Ansicht selbst i m Falle einer Revolution nicht an das V o l k (S. 39) u n d w i r d daher auch nicht von diesem wiederum delegiert. A u f der anderen Seite aber w i r d nach Henkes Darstellung der neue Träger der Staatsgewalt, z. B. eine Nationalversammlung, durch W a h l autorisiert (a. a. O.). 93 Siehe oben S. 73. 94 Daher erscheint Henkes Forderung an die Staatsgewalt nicht unproblematisch, sie müsse die politische Einheit des Volkes wahren, „denn n u r i n dieser Einheit" könne „sich der verfassunggebende W i l l e bilden" (S. 40). 95 Henke stellt selbst fest, „spontane Solidarität" der I n d i v i d u e n könne man i n der politischen W i r k l i c h k e i t k a u m voraussetzen (S. 46). So sind z. B. bei der Entstehung der französischen Verfassungen von 1793 u n d 1795 für Henke verfassunggebende Entscheidungen nicht „erkennbar u n d w o h l auch nicht vorhanden" (S. 56). 92

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

80

und daher an den Ordnungsmaßstäben für die Staatsgewalt 98 . Die Konsolidierung der Verhältnisse, insbesondere in revolutionären Zuständen, erweist sich nicht nur in dem Bereich, den Henke der Staatsgewalt zuordnet, sondern auch i m Raum der Verfassungsentscheidungen durch das Volk als notwendig. Denn dieses ist sich oft in der Beseitigung der vorausgehenden, weniger aber i n der Gestaltung der zukünftigen Verfassungsordnung einig. Die gerade revolutionäre und nachrevolutionäre Verhältnisse kennzeichnende Allmacht eines bestimmten Organs, z. B. einer verfassunggebenden Versammlung 97 , macht deutlich, daß die Bewahrung oder Schaffung der politischen Einheit und die Gestaltung einer Verfassungsordnung nicht zu trennende Funktionen sind. Die Staatsgewalt erfüllt ebenso Gestaltungsaufgaben wie die verfassunggebende Gewalt ihrerseits auch Ordnungsaufgaben wahrnimmt 9 8 . Diese W i r k lichkeit der Verfassungsentstehung muß auch eine Differenzierung künstlich erscheinen lassen, wie sie Arnold bezüglich der Rechtsstellung einer verfassunggebenden Versammlung unter Fortführung der Lehre C. Schmitts entwickelt hat 99 . Danach bilde eine verfassunggebende Versammlung, soweit sie die „Regelung der verfassungsgesetzlichen Einzelheiten" vornimmt, den Willen des Volkes 1 0 0 ; soweit sie die grundlegenden Entscheidungen formuliere, vertrete 101 sie die Nation nur in der Erklärung 102. 96 Es mangelt an „Beschlüssen" der Nation, denen die Staatsgewalt „Gesetzeskraft und Geltung" zu verschaffen hat (Henke S. 39). 97

Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre S. 59 f. u n d ferner Henke S. 43.

98

Verfassunggebende Gewalt gesteht Henke i m m e r h i n einer Nationalversammlung begrenzt insofern zu, als durch die Öffentlichkeit des Verfahrens die Vorbereitung des Verfassungsgesetzes „klärend und läuternd auf die verfassunggebende Entscheidung des Volkes zurückwirken" k a n n (S. 40). 99 S. 13. Damit gibt er zugleich dem unscharfen Begriff der „ B i n d u n g " des Verfassungsgesetzgebers an eine verfassunggebende Entscheidung des V o l kes eine bestimmte dogmatische Form. 100 Interessanterweise begründet A r n o l d diese umfassende Befugnis einer verfassunggebenden Versammlung m i t dem Hinweis, der W i l l e des Volkes sei i n gewissem Grade unbestimmt, da dieses zu technischen Einzelheiten der V e r fassungsgestaltung keine Vorstellungen entwickle (a. a. O.). Er sieht also grundsätzlich die mangelnde Bestimmbarkeit einer Verfassungsentscheidung als schlüssigen Einwand gegen die Auffassung an, der Verfassungsgesetzgeber sei an die Verfassung gebunden. 101 Z u r Unterscheidung der Begriffe „Bote", „Vertreter" und „Repräsentant" unter dem Gesichtspunkt der Willensbildung siehe Fraenkel S. 42 A n m . 52. 102 - ^ i e aus den Ausführungen Arnolds hervorgeht, ist er grundsätzlich geneigt, dieser dogmatischen Unterscheidung auch praktische Bedeutung für die Verfassungsgeltung zuzuerkennen (a. a. O.). F ü r die Entstehung der Weimarer Verfassung verneint er freilich die Anwendbarkeit seiner Lehre. Das entspricht auch C. Schmitts Vorstellung von der Rechtsstellung der Weimarer Nationalversammlung (vgl. Verfassungslehre S. 59 f.) sowie deren Selbstverständnis (vgl. hierzu die bei Beyersdorff — S. 85 f. — angeführten Äußerungen).

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung und verfassunggebenden Gewalt

81

A n der Realität der Verfassungsentstehung hat sich i m übrigen auch C. Schmitts Lehre von der Verfassung immer wieder messen lassen müssen 103 . Die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz w i r d zwar vor und innerhalb einer Verfassungsordnung der Auslegung bei der Ermittlung der Verfassungsinhalte keine unüberwindbaren Schwierigkeiten bereiten, vor allem, wenn nur ein „deutlich erkennbarer Ausdruck des Volkswillens" als Verfassungsentscheidung gewertet wird 1 0 4 . Die positivrechtlich fixierten Schranken der Verfassungsrevision, wie sie in modernen Verfassungen teilweise zu finden sind, stellen den Verfassungsinterpreten wahrscheinlich vor größere Probleme 105 . Weniger weil es also auf praktische Schwierigkeiten stößt, den Inhalt der getroffenen Verfassungsentscheidungen festzustellen 106 , erscheint C. Schmitts Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz als Ausgangspunkt einer allgemeinen Strukturbeschreibung der originären Verfassungsgenese problematisch. Der Grund liegt eher darin, daß derartige Entscheidungen keineswegs immer vorhanden sind 107 . Man hat daher auch beobachtet, daß C. Schmitt die Existenz verfassunggebender Entscheidungen i m wesentlichen nur am Beispiel von Revolutionsverfassungen nachweist 108 . Die autonome und spontane Bekundung von Verfassungsvorstellungen durch das Volk muß wohl als Handlungsform der Ausnahmesituation gelten 109 . I m modernen, wesentlich inhomogenen 110 Gemeinwesen w i r d die Verfassung auch in ihren prinzipiellen Aussagen im Grunde durch das i n irgendeiner Form repräsentative, verfassungsberatende oder verfassunggebende Organ konstituiert. Konkrete Gestaltungsvorstellungen des Staatsvolkes treten regelmäßig erst als Reaktion auf vorformulierte Verfassungsinhalte auf 111 . Überfordert man das Volk i n seiner Fähigkeit zur aktiven Willensbildung, w i r d der Begriff der verfassunggebenden Entscheidung verflachen 112 . Es büßt so mehr an Souveränität ein als durch eine Lehre, die das notwendige repräsenta103

Vgl. z. B. Tiefenbacher S. 68. dies bei Maunz geschieht (Verfassunggebende Gewalt S. 646). 105 Vgl. hierzu Maunz-Dürig, A r t . 79 Rdmr. 31 ff. 106 Vgl. hierzu auch Leibholz, Repräsentation S. 69 A n m . 1. Weil der Volkswillen nicht ausreichend präzisierbar ist, v e r w i r f t i m übrigen Lüchinger eine Methode der Verfassungsauslegung, die sich am „zeitgemäßen" Volksw i l l e n orientiert (S. 93). 104

107

Siehe hierzu auch C. J. Friedrich, Verfassungsstaat S. 143. Siehe Hofmann S. 128. 109 v g l hierzu auch Scheuner, Grundfragen S. 128. 110 Vgl. hierzu Ehmke, Verfassungsänderung S. 86 f. u n d Fraenkel S. 6 f. 111 Z u r Fähigkeit des Volkes, a k t i v seinen W i l l e n zu bilden, siehe allgemein Liermann S. 51, 55 ff., 69 u n d Scheuner, Grundfragen S. 128. 112 Bei C. Schmitt äußert sich diese Erscheinung i n der Lehre von der s t i l l schweigenden Ausübung der verfassunggebenden Gewalt. Siehe Verfassungslehre S. 91. 108

6 Steiner

82

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

tive Element i n die Entstehungstheorie der Verfassungsordnung von vornherein einbezieht und damit auch nicht die normativen Rückwirkungen einer Verfassung auf die Grundüberzeugungen des Volkes als soziologisch oft nachweisbaren Vorgang übersehen muß 1 1 3 . Henke kann sein Anliegen, dem Volk durch seinen Begriff der verfassunggebenden Gewalt einen Raum freier Entscheidung zu gewährleisten 114 , nicht dadurch verwirklichen, daß er mit dem Bereich der Verfassungsentscheidungen eine herrschafts- und staatsgewaltfreie Sphäre schafft und dorthin, wo Herrschaft sein muß um der Ordnung und Einheit eines Volkes willen, die verfassungsgebundene Staatsgewalt stellt. Denn die verfassunggebende Gewalt Henkes ist keine politische Größe, die den Träger der Staatsgewalt i n einem Maße binden kann, das es rechtfertigt, zugunsten des Gebots einer inhaltlichen Konformität von Verfassung und Verfassungsgesetz das demokratische Prinzip der Verfassunggebung durch ein förmliches Verfahren der Willensermittlung zu vernachlässigen 115 . Daß i n Henkes Theorie die demokratische Legitimation des Verfassungsgesetzes i m verfahrensmäßigen Sinne — wie wohl i n jeder Lehre, die die Legitimität der geschriebenen Verfassung an vorgegebenen Inhalten messen w i l l — zurücktritt, ist nur folgerichtig. Denn soweit der Verfassungsgesetzgeber die Entscheidungen der verfassunggebenden Gewalt lediglich urkundlich fixiert, ist seine Legitimation zweitrangig, weil seine Normsetzung sachlich festgelegt ist. Soweit er selbst Entscheidungen fällt, ist seine demokratische Berechtigung nicht wesentlicher, da sie nur sogenannte Verfassungsgesetze betreffen können.

B. D e r Begriff der verfassunggebenden G e w a l t des Volkes I. Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt im materiellen Sinne

1. Verfctßsunggebende

Gewalt und Verfassungsinhalt

Begrifflich ist unter der verfassunggebenden Gewalt des Volkes i m materiellen Sinne die unmittelbar oder mittelbar ausgeübte Befugnis des Staatsvolkes zu verstehen, i m Wege der Rechtsetzung Inhalt und 113

Siehe hierzu Hesse, Normative K r a f t S. 4 f., 9,13. Siehe S. 52. 115 Daß Henkes Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes außerhalb des staatsrechtlich-technisch verstandenen demokratischen Prinzips steht, macht die A n w e n d u n g seines Legitimitätsmaßstabes auf die nationalsozialistischen Verfassungsgesetze (vgl. S. 114) deutlich: „Daß diese Verfassungsgesetze nicht durch eine verfassunggebende Versammlung, sondern durch die Regierung erlassen wurden, hindert nicht ihre Legitimität, die n u r i n ihrer Übereinstimmung m i t der verfassunggebenden Entscheidung der N a tion liegt" (S. 116). 114

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung u n d verfassunggebenden Gewalt

83

Umfang des formellen Verfassungsrechts zu bestimmen. Diese Kernfunktion der verfassunggebenden Gewalt umfaßt demnach die Rechtsmacht, sowohl den Umfang der Verfassung — i m grundsätzlichen 116 wie i n Einzelheiten — als auch den Inhalt der einzelnen Verfassungsbestimmungen festzulegen. Dogmatisch w i r f t das letztgenannte Bestimmungsrecht u. a. das Problem der Bindung der verfassunggebenden Gewalt an Rechtsetzungsschranken materieller A r t auf 117 . Träger der verfassunggebenden Gewalt ist zwar nicht begrifflich das Staatsvolk 118 . Die historische Verbindung von verfassunggebender Gewalt und Staatsvolk ist jedoch so eng, daß die verfassunggebende Gewalt teilweise — vor allem i n der Bezeichnung „pouvoir constituant 1 1 9 " — als spezifischer Begriff des demokratischen Staatsrechts auftritt 1 2 0 . 2. Verfassunggebende

Gewalt und formeller

Verfassungsbegriff

Verfassunggebende Gewalt und Verfassungsbegriff sind einander naturgemäß zugeordnet 121 . I n einem untechnischen Sinne bezieht sich der Begriff der verfassunggebenden Gewalt nicht auf eine bestimmte Verfassungsart, z. B. eine geschriebene Verfassung, sondern auf die Erzeugung einer Verfassungsordnung schlechthin. Da jede Rechtsgemeinschaft die Grundzüge ihrer Ordnung i n irgendeiner Form verfaßt 122 , ist dieser Begriff der verfassunggebenden Gewalt an keinen Typ der Organisation gebunden und ein Wesensbegriff der Rechtsgemeinschaft schlechthin. I n solcher Allgemeinheit hat er freilich für die Dogmatik keine Bedeutung. Nach modernem Verständnis sind denn auch verfassunggebende Gewalt und Verfassung i m formellen Sinne einander zugeordnet. Die verfassunggebende Gewalt ist, rechtstechnisch verstanden, auf die Schaffung einer Verfassung i m formellen oder formalen 123 Sinne gerichtet, d.h. auf die Erzeugung eines urkundlich 1 2 4 geschlossenen125, mit so116 Der Verfassunggeber k a n n beispielsweise zwischen der Schaffung eines Organisationsstatuts u n d einer sog. Vollverfassung wählen. 117 Siehe oben S. 51 ff. 118 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre S. 77 f. u n d Hildesheimer S. 42. 119 Siehe Hildesheimer S. 42. 120 Vgl. hierzu Hildesheimer S. 42 f. 121 Schlesinger stellt daher an die Spitze seiner Erörterungen über die verfassunggebende Gewalt die Frage nach dem Verfassungsbegriff (S. 106). 122 Vgl. Heller, Staatslehre S. 270 und Schlesinger S. 105. 123 Von Verfassung i m formalen Sinne spricht Franz Weyr (Das Verfassungsrecht der Tschechoslowakischen Republik, ZöR Bd. I I , 1921, S. 1 ff. — 4). 124 I m Augenblick der Verfassunggebung deckt sich i n aller Regel der i n der Verfassungsurkunde niedergelegte Normenbestand m i t der Verfassung i m formellen Sinne. 6*

84

1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

genannter Verfassungskraft 126 ausgestatteten 127 Rechtsnormeninbegriffs. Ist damit die verfassunggebende Gewalt i m rechtsdogmatischen Sinne begrifflich auf die Schaffung einer formellen Verfassung bezogen 128 , so treten alle anderen Verfassungsbegriffe 129 , insbesondere 123 Z u m ideengeschichtlichen Hintergrund dieser Verfassungskonzeption siehe Heller, Staatslehre S. 270 f. 120 das I n s t i t u t der erschwerten Abänderbarkeit von Rechtsnormen auch außerhalb des formellen Verfassungsrechts kennt (siehe z. B. Schlesinger S. 114 i m Gegensatz zu Maunz, Gutachten Hessen S. 25 f. u n d Staatsrecht S. 46), muß zur Verleihung erhöhter Bestandskraft einen entsprechenden W i l l e n des Trägers der verfassunggebenden Gewalt fordern (vgl. Schlesinger S. 115). Siehe hierzu auch Jeselsohn S. 29 ff. Zur Frage nach den subjektiven Voraussetzungen der Verfassungsänderung, wenn einfacher und verfassungsändernder Gesetzgeber ein Organ sind, siehe W. Jellinek, Verfassungsänderndes Reichsgesetz S. 188; Jeselsohn S. 35 ff. u n d Loewenstein, Erscheinungsformen S. 65 ff. m i t weiteren Nachweisen S. 65 A n m . 1. 127 N u r terminologischer A r t ist zunächst die Frage, ob zum Begriff der formellen Verfassung neben dem M e r k m a l der einheitlichen Beurkundung auch die gegenüber dem Gesetzesrecht erhöhte Bestandskraft gehört. Den wenigen Äußerungen i n der Literatur, die auch bei Verfassungsurkunden ohne Verfassungskraft von formeller Verfassung sprechen (vgl. A r n o l d S. 2; Dörfle S. 25) u n d demgemäß zwischen starren u n d biegsamen Typen der formellen Verfassung unterscheiden können (vgl. z. B. Hsü, Verfassungswandlung S. 18), steht ein überwiegender Begriffsgebrauch gegenüber, der bei der Definition des formellen Verfassungsbegriffs das M e r k m a l der besonderen Bestandskraft nicht n u r einbezieht, sondern einseitig hervorhebt (siehe z. B. Maunz, Gutachten Hessen S. 26; ders., Staatsrecht S. 46 u n d Fleiner-Giacometti S. 22). T e i l weise stellt man auch das eine oder andere M e r k m a l nach dem jeweiligen Z u sammenhang heraus (vgl. z. B. G. Jellinek, Staatslehre S. 508 einerseits und ders., Verfassungsänderung u n d Verfassungswandlung, 1906, S. 8 andererseits). Diskutiert w i r d freilich dieser Sprachgebrauch nicht, da Urkundeneigenschaft und Verfassungskraft i n der Geschichte der demokratischen Verfassungen selbstverständliche Merkmale der Grundgesetze sind (vgl. Jeselsohn S. 11); Verfassungsbegriff und Verfassungskraft werden dementsprechend allgemein gekoppelt. Vgl. z.B. C . F . C u r t i u s , Schranken S. 12; Fleiner-Giacometti S. 22; Fleck i n : Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 69 A n m . 4 (S. 446) und Kägi, Volksinitiative S. 747 a f. Die terminologische Frage läßt sich freilich letztlich nicht v o m Sachproblem trennen, ob der Verfassung gegenüber dem Gesetz höherer Rang auch dann zukommt, w e n n sie unter den gleichen Bedingungen w i e dieses abgeändert werden kann. Teilweise w i r d der höhere Rang der Verfassung an die Idee der geschriebenen Verfassung schlechthin geknüpft. So beanstandet z. B. Bryce, die italienische Verfassung v o m 4. 3.1848 sei durch die Gesetzgebung i n einem Maße geändert worden, daß man sie dem T y p der flexiblen Verfassungen zuzurechnen habe, „though originally set f o r t h i n one document" (I S. 155). I m übrigen ist die Verbindung von Verfassungsrecht u n d Verfassungsrevisionsrecht der Verfassungsgeschichte so selbstverständlich, daß K ä g i die Existenz von Vorschriften über die erschwerte Abänderbarkeit einer Verfassung als das „logische Korrelat" der „erhöhten formellen Gesetzesk r a f t " ansehen kann (a. a. O.). 128 Z u m Zusammenhang von Verfassungsurkunde und verfassunggebender Gewalt siehe auch Ehmke, Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung S. 393 A n m . 34. 129 Z u den verschiedenen Verfassungsbegriffen siehe Emge, Vorschule S. 65 ff.; Friedrich, Verfassungsstaat S. 136 f.; G. Jellinek, Staatslehre S. 505 ff.; Loewenstein, Verfassungslehre S. 140 ff. und C. Schmitt, Verfassungslehre S. 3 ff.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung und verfassunggebenden Gewalt

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der materielle Verfassungsbegriff 130 , für die vorliegende Untersuchung zurück. Nur ein so verstandener Begriff der verfassunggebenden Gewalt kann staatsrechtlich selbständig gegenüber dem Begriff der gesetzgebenden Gewalt sein und läßt die Abgrenzung der beiden Rechtserzeugungsfunktionen sinnvoll erscheinen 131 . Die Schöpfung der Verfassung in der Form der Verfassungsurkunde gehörte im übrigen von Anfang an zum Kernbereich der Volkssouveränität und bildet den Anlaß für deren spezielle Ausformung in der Gestalt einer besonderen konstituierenden Gewalt des Volkes. Diese Zuordnung von verfassunggebender Gewalt und formeller Verfassung ist geschichtlich verursacht und in der Verfassungsgeschichte beibehalten. Sie läßt sich nicht mit der Begründung angreifen, „weder logisch noch juristisch" „möglich" zu sein 132 . Freilich kann man nicht übersehen, daß die Idee einer besonderen verfassunggebenden Gewalt des Volkes i m materiellen Verfassungsbegriff ihren Ausgangspunkt hat: Das Volk als Träger der Souveränität soll die fundamentalen Normen der staatlichen Ordnung i m Rahmen einer Verfassung formulieren. Aus dieser Vorstellung hat sich der formelle Verfassungsbegriff entwickelt 1 3 3 ; der Sinn der besonderen Bestandsgarantie für Verfassungsnormen liegt in der Sicherung dieser Rechtssätze vor gesetzgeberischen Eingriffen um ihres Inhalts willen 1 3 4 . Diese innere Verbindung von materiellem Verfassungsbegriff und außerordentlicher Bestandskraft des Verfassungsgesetzes ist in der Verfassungsgeschichte nicht aufgelöst worden und findet heute infolge einer Standardisierung der Verfassungsgestaltung 135 ihre Fortsetzung: Der materielle Verfassungs130 Z u m materiellen Verfassungsbegriff siehe die Standardfassung bei G. Jellinek, a. a. O., S. 505. V o m materiellen Verfassungsbegriff ist der soziologische zu trennen. Vgl. hierzu Heller, Staatslehre S. 274 f. 131 Vgl. hierzu auch Jagmetti S. 21 u n d K i n d S. 22 Anm. 78. Dieser Gedanke liegt w o h l auch der Feststellung v. Mangoldts zugrunde, der K o n f l i k t zwischen der Gruppe der Verfassungsnormen und dem Gesetzesrecht sei „durch die E i n führung des formalen Prinzips überhaupt erst möglich gemacht" (Geschriebene Verfassung S. 26). 132 C. Schmitt, Verfassungslehre S. 19. Dagegen auch Jagmetti S. 20, 22. 133 Z u m Vorgang der „Formalisierung" des Verfassungsbegriffs siehe i m einzelnen Jagmetti S. 20 f.; Schmidt S. 271 f. und Zweig S. 6 ff., 28 ff. Z u m Verhältnis von formellem und materiellem Verfassungsbegriff vgl. ferner noch Dahm S. 163. 134 Vgl. Heller, Staatslehre S. 274; Leisner, Verfassunggebung S. 38 und v. Mangöldt, a. a. O., S. 24. Auch Ehmke stellt für diesen Zusammenhang das Verhältnis von Ursache und Folge k l a r : Die erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung folgt aus der „grundlegenden Bedeutung" der Verfassung, nicht aber der Verfassungsbegriff aus dem M e r k m a l der erschwerten Abänderbarkeit (Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung S. 399). 135 So hat z. B. Leisner beobachtet, daß die i n der Verfassung geregelte Materie „ i m Laufe der Zeit eine gewisse traditionelle Abgrenzung erhalten" hat (Verfassunggebung S. 246). Es sei zur „ B i l d u n g eines gewissen Grundstockes europäischer Verfassungsformen" gekommen (a. a. O.). A u f die sprach-

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

begriff liegt auch gegenwärtig der formellen Verfassung de constitutione ferenda zugrunde. Weil diese Deckung von formeller Verfassung und staatlicher Grundordnung i n der Verfassungspraxis prinzipiell besteht 18 *, ist C. Schmitts Vorwurf gegenüber dem herkömmlichen Verfassungsbegriff, dieser bestimme sich „nach äußerlichen und nebensächlichen" Kennzeichen 137 , voreilig. Die Qualifizierung sekundärer Bestimmungen als formelles Verfassungsrecht spielt in der Verfassungsgeschichte eine untergeordnete Rolle 138 . Ihr liegt oft nur scheinbar eine Prinzipienlosigkeit i n der Auswahl des Verfassungsrechts zugrunde; meist w i r d sie durch eine historisch begrenzte politische oder juristische Situation bestimmt 139 . Das Auftreten nur-formellen Verfassungsrechts i n den Grundgesetzen macht daher den Verfassungsbegriff lediglich in seinen Grenzbereichen und nicht prinzipiell dualistisch. Die formelle Verfassung ist grundsätzlich auch die sachliche Verfassung. Ist die sachliche Verfassung aber nicht zugleich formelle Verfassung, kann ihr auch C. Schmitts Verfassungsbegriff keine rechtliche Geltung vermitteln 1 4 0 . Die neuere Lehre hat sich deshalb unter dem Einfluß eines materiellen Verfassungsdenkens vom formellen Verfassungsbegriff und seiner Idee der rangmäßigen Gleichheit aller Verfassungsnormen nur teilweise, z. B. i n der Lehre vom verfassungswidrigen Verfassungsrecht, gelöst und lediglich begrenzte Rechtsfolgen aus der Qualifikation einer Norm als materiellen bzw. nur-formellen Verfassungsrechts innerhalb der einheitlichen Verfassung gezogen141. I n jedem Fall hat sie nur eine Diffeliche Standardisierung der Verfassungen hat Maunz aufmerksam gemacht (Normen S. 141 f.). Z u den Problemen, die durch die unbesehene Übernahme der parlamentarisch-demokratischen Verfassungsmodelle i n den E n t w i c k lungsländern aufgeworfen werden, siehe Franz Ronneberger, Das Verfassungsproblem i n den Entwicklungsländern, Der Staat 62, 39 ff. 136 Nach Kägis Ansicht hat sich freilich v o m „Zusammenhang zwischen wesentlichem I n h a l t und Verfassungsform" n u r „etwas" i m 20. Jahrhundert erhalten (Volksinitiative S. 751 a). 137 VerfassungslehreS.il. 138 I m übrigen weist Nef nach, daß das sogenannte nur-formelle Verfassungsrecht bisweilen lediglich scheinbar materiell der Gesetzesstufe angehört (Schranken S. 115 f.). 139 So ist i n der Schweiz die Aufnahme zweitrangiger Bestimmungen i n die Verfassung dadurch mitbedingt, daß die Bundesverfassung eine Verfassungsinitiative, aber keine Gesetzesinitiative des Volkes kennt (vgl. Kägi, Volksi n i t i a t i v e S. 765 a). I m revolutionären Frankreich hatte die Einrichtung des königlichen Vetorechts f ü r legislative A k t e zur Folge, daß die Nationalversammlung von 1789 möglichst viele Bestimmungen i n den Verfassungsstand erhob, u m sie dem monarchischen Einspruch zu entziehen (siehe Zweig S. 267 ff.). 140 C. Schmitts Verfassungsbegriff ist daher, w i e Henrich zutreffend feststellt, kein Ersatz f ü r den herkömmlichen Verfassungsbegriff (S. 629). 141 Vgl. u. a. Bachof, Verfassungsnormen u n d Maunz, Normen passim sowie Kägi, a. a. O., S. 811 a ff. Als Beispiel einer allgemeinen Klassifizierung von Verfassungsnormen siehe Nawiasky, Rechtslehre S. 31 ff.

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renzierung der Verfassungsnormen innerhalb eines geltenden Verfassungssystems herbeigeführt, nicht aber — und darin liegt der entscheidende Unterschied zu C. Schmitts Lehre von Verfassung und Verfassungsgesetz — die juristische Einheit der Grundgesetzgebung zugunsten der Unterscheidimg von Verfassung und Verfassungsgesetzgebung aufgegeben. Damit wurde zugleich der Nachweis erbracht, daß eine sachgerechte Unterscheidung der einzelnen Verfassungsnormen auch nach ihrem juristischen Rang durchaus möglich ist, ohne einen Begriff der verfassunggebenden Gewalt zugrunde zu legen, der lediglich auf die Schaffung sogenannten materiellen Verfassungsrechts gerichtet ist. Die Zuordnung von formeller Verfassung und verfassunggebender Gewalt ist schließlich die Basis für die spezifisch demokratische Technik der Verfassungserzeugung. Denn die Beschränkimg der verfassunggebenden Gewalt i m Rechts- oder technischen Sinne auf die Erzeugung formeller Verfassungsnormen konzentriert die Willensbildung des Volkes i n Verfassungssachen auf die förmliche Schöpfung der Verfassungsurkunde. Dem „Zuschnitt" der verfassunggebenden Gewalt auf den formellen Verfassungsbegriff entspricht als weitere wesentliche Befugnis der verfassunggebenden Gewalt i m materiellen Sinne das Recht zur Qualifikation von Rechtsnormen als formelles Verfassungsrecht. Die Freiheit der konstituierenden Gewalt zu bestimmen, welche Normen Verfassungsnormen werden sollen — eine A r t Freiheit vom materiellen Verfassungsbegriff — äußert sich in doppelter Hinsicht. Der Verfassunggeber ist souverän sowohl in der Erhebung von Gesetzesrecht zu Verfassungsrecht 142 wie auch i n der Ausstattung des materiellen Verfassungsrechts mit Verfassungskraft 143 . Er ist demnach i n der Verleihung von Verfassungskraft weder nach der positiven noch nach der negativen Seite h i n gebunden 144 . Es gibt keinen verbindlichen materiellen Verfassungsbegriff 145 und daher auch keine Norm, die kraft ihrer Zugehörigkeit zu 142

I n diesem Falle w i r d das Qualifikationsrecht des Verfassunggebers besonders deutlich, obgleich die Fälle materiellen Verfassungsrechts ohne V e r fassungsrang zahlreicher sind als die Beispiele für Gesetzesmaterien i m V e r fassungsstand. Vgl. hierzu Loewenstein, Erscheinungsformen S. 3. 143 Z u diesem Bestimmungsrecht des Verfassunggebers siehe Bachof, V e r fassungsnormen S. 26 f.; Götz S. 1024; Hans Helfritz, Allgemeines Staatsrecht, 5. Aufl. 1949, S. 269; Ridder S. 323 u n d Scheuner, Gutachten Wehrbeitrag S. 114. 144 Angesichts der Bemühungen der Verfassunggeber u m eine Kongruenz von materiellem und formellem Verfassungsrecht (vgl. hierzu auch Heller, Staatslehre S. 275) dient die Anerkennung des Einstufungsrechts praktisch n u r dazu, die Verbindlichkeit einer Ausgrenzung materiellen Verfassungsrechts aus der formellen Verfassung bzw. die Einbeziehung nichtmateriellen V e r fassungsrechts i n die formelle Verfassung i n Grenzfällen zu begründen. Vgl. hierzu auch Krüger, Verfassungsauslegung S. 722. 145 Vgl. auch Nef. SchrankenS. 114 f.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

i h m de c o n s t i t u t i o n e ferenda Verfassungsrang beanspruchen k ö n n t e 1 4 6 . D i e E n t s c h e i d u n g e n der verfassunggebenden G e w a l t stehen n i c h t u n t e r d e m V o r b e h a l t eines m a t e r i e l l e n Verfassungsbegriffs 1 4 7 . Dies g i l t g r u n d sätzlich auch f ü r die R e g e l u n g v o n Gegenständen, die die Rechtslehre k o n t r o v e r s l o s d e m m a t e r i e l l e n Verfassungsbegriff zuordnet148, u n d nicht n u r für di^ Einstufung von Materien i n Grenzfällen 149. D e r f e h l e n d e n B i n d u n g des Verfassunggebers a n einen i r g e n d w i e gefaßten m a t e r i e l l e n Verfassungsbegriff e n t s p r i c h t die Rechtsmacht der gesetzgebenden G e w a l t , m a t e r i e l l e m Verfassungsrecht u n t e r der B e zeichnung u n d i n d e r F o r m des einfachen Gesetzes V e r b i n d l i c h k e i t z u v e r l e i h e n , solange u n d s o w e i t es (noch) n i c h t f o r m e l l e n V e r f a s s u n g s r a n g a u f w e i s t . D e n n es g i b t k e i n e n Regelungsgegenstand, d e r nur d u r c h einen N o r m s e t z u n g s a k t der verfassunggebenden G e w a l t i n eine R e c h t s n o r m eingehen k a n n . Staatsrechtlich ließe sich daher n i c h t v e r h i n d e r n , daß der Gesetzgeber eine V e r f a s s u n g i m m a t e r i e l l e n S i n n e als Gesetz b e schließt. D a d u r c h b l i e b e f r e i l i c h die B e f u g n i s der verfassunggebenden G e w a l t u n b e r ü h r t , die zunächst i n Gesetzesform v e r b i n d l i c h e n Rechtsn o r m e n m i t V e r f a s s u n g s k r a f t auszustatten. M a n k ö n n t e daher die Schaf146 Siehe Dörfle S. 26; Götz S. 1024; Maunz, Gutachten Hessen S. 26 und ders., Staatsrecht S. 46. 147 Materiellen Gesichtspunkten w i l l v. Mangöldt wenigstens für die „ E i n ordnung des Gewohnheitsrechts und de lege ferenda" Bedeutung beimessen (Geschriebene Verfassung S. 25).

Eine Einschränkung der Qualifikationsbefugnis des Verfassungserzeugers läßt sich freilich u. U. aus anderen Gesichtspunkten herleiten. So k a n n z. B. i n der Erhebung v o n Gesetzesrecht i n die Verfassungsstufe ein rechtlich erheblicher Verfahrensmißbrauch dann liegen, w e n n ein bestimmtes Organ, wie z. B. i m schweizerischen Staatsrecht das Volk, mangels eines Initiativrechts i n Gesetzgebungssachen sein Rechtsetzungsziel durch eine Verfassungsinitiative verfolgt. Siehe hierzu Burckhardt, Kommentar, A r t . 121 Bern. I I (S. 882 f.) u n d Ernst Fischli, Probleme der Verfassungsgebung i n unserer Zeit, i n : Die Wiedervereinigung der Kantone Basel-Stadt u n d Basel-Land, 1963, S. 7 ff. (11 f.). 148 Versuche, einen „absoluten" Verfassungsbegriff zu bilden, finden sich bei Fleiner-Giacometti (S. 21 f.); Zaccaria Giacometti (Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts, 1933, S. 1 f.) und Schlesinger (S. 107). Z u m E n t w u r f einer modernen demokratischen M i n i m a l Verfassung siehe Loewenstein, Gutachten Wehrbeitrag S. 342 ff.; allgemein zum Problem der Gewinnung eines materiellen Verfassungsbegriffs siehe Smend, Verfassung S. 237 f. Den Bemühungen, einen Verfassungskern herauszuschälen, kann m a n w o h l nicht schlechthin, w i e dies K ä g i t u t (Rechtsstaat S. 129 ff.), m i t dem E i n w a n d entgegentreten, sie würden eine „Entleerung des Verfassungsbegriffs" bewirken u n d seien v o m dezisionistischen Rechtsdenken beeinflußt. Denn sie versuchen vor allem, einen materiellen Verfassungsbegriff als brauchbaren Anknüpfungspunkt f ü r bestimmte Rechtsregeln herauszuarbeiten. 149 Solche Grenzfälle sind nicht n u r bei der Abgrenzung des materiellen Verfassungsrechts von der Gesetzesmaterie, sondern auch bei der Absetzung des Verfassungsrechts v o m Detail zu finden, dessen Regelung dem einfachen Gesetz vorbehalten ist. Z u r Grenzziehung zwischen Verfassungs- u n d Gesetzesmaterie siehe i m übrigen auch Schätzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 334.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung und verfassunggebenden Gewalt

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fung eines Grundgesetzes i m Gesetzesrang nicht m i t dem Argument zurückweisen, die Inanspruchnahme einer solchen Regelungsbefugnis durch den Gesetzgeber stelle sich als unzulässige Umgehung der Regel dar, daß nur die verfassunggebende Gewalt die Verfassung schaffen könne 150 . I n diesem Zusammenhang steht auch die — wohl nur theoretische — Frage, wie ein Versuch des einfachen Gesetzgebers, eine formelle Verfassung zu erlassen, staatsrechtlich zu würdigen wäre. Sie ist wohl nach den Regeln über die Teilnichtigkeit von Rechtsetzungsakten zu lösen 151 . Denn Vorschriften über die erhöhte Bestandskraft können in einer vom Gesetzgeber konstituierten „Verfassung" keine rechtliche Geltung beanspruchen. Verfassunggebende Gewalt und formelle Verfassung sind einander wechselseitig zugeordnet: Die verfassunggebende Gewalt erzeugt nur die Verfassung i m formellen Sinne; die formelle Verfassung kann andererseits nur derjenige erzeugen, der verfassunggebende Gewalt besitzt. Modifiziert werden diese Regeln dann, wenn der Verfassunggeber in einer Verfassungsurkunde das formelle Verfassungsrecht zusammengefaßt hat mit der Maßgabe, daß die weitere Erzeugung von Verfassungsnormen einem anderen Organ, z. B. einem „verfassungsändernden" Gesetzgeber, übertragen ist 1 5 2 . Freilich gilt auch für den Vorgang der Verfassungsänderung der Grundsatz, daß weder die wirkliche oder behauptete Zugehörigkeit einer regelungsbedürftigen Materie zum herkömmlich konzipierten materiellen Verfassungsbegriff zwingend den Weg der Verfassungsänderung weist noch die Zugehörigkeit eines Regelungsgegenstandes zur Gesetzesstufe 153 seine verfassungsgesetzliche Regelung ausschließt 154 . Entsprechend w i r d auch die gesetzgebende Ge150 A u f Grund dieser Überlegungen ist der Vorschlag der Redaktionskommission des Verfassungsausschusses des Landtages von Nordrhein-Westfalen als rechtlich zulässig zu beurteilen. Er sah vor, das Inkrafttreten der Landesverfassung i n zwei Stufen zu vollziehen. Die entworfene Verfassung sollte zunächst als einfaches Gesetz v o m nordrhein-westfälischen Landtag beschlossen werden, u m eine Grundlage für die Regierungsbildung abgeben zu können. F ü r einen späteren Zeitpunkt w a r daran gedacht, sie dem Volke zur Entscheidung vorzulegen. Siehe hierzu K l e i n r a h m i n : Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 90 Anm. 2 (S. 569). 151 Vgl. hierzu aus der Rechtsprechung des BVerfG Beschl. v. 21.7.1955, BVerfGE 4, 219 ff. (250); Beschl. v. 17.1.1957, BVerfGE 6, 55 ff. (84); Beschl. v. 17.3.1959, BVerfGE 9, 213 ff. (217 f.); Beschl. v. 14.4.1959, BVerfGE 9, 237 ff. (254 f.); Beschl. v. 9.5.1962, BVerfGE 14, 56 ff. (72) u n d vor allem Beschl. v. 12.11.1958, BVerfGE 8, 274 ff. (301) m i t weiteren Nachweisen. 152 Z u den folgenden Fragen siehe auch Schätzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 332 ff. 153 Beispiele hierfür bei H a m m S. 9 Anm. 21. 154 Auch Scheuner lehnt es ab, aus „allgemeinen staatsrechtlichen Gesichtspunkten" einen notwendigen Verfassungsinhalt abzuleiten (Gutachten Wehrbeitrag S. 115; vgl. auch S. 112 und 113). Siehe ferner E. Menzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 302.

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

wait nicht durch einen materiellen Verfassungsbegriff gebunden. Die Qualifikationsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers bzw. die Regelungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers stehen jedoch unter dem Vorbehalt der Verfassung. Einige sich daraus ergebende Konsequenzen für die Verteilung der Regelungszuständigkeiten zwischen dem verfassungsändernden Organ und dem Gesetzgeber seien hier kurz aufgezeigt. Die Änderung der formellen Verfassung i m materiellen Sinne 155 hat i n der für Verfassungsänderungen vorgesehenen Form zu erfolgen. Dabei ist für Rechtssätze, die i n die Verfassungsurkunde aufgenommen sind, zu vermuten, daß sie an der Verfassungskraft teilhaben 158 . Jedoch muß die sich anschließende Neuregelung eines Gegenstandes nicht durch Verfassungsrechtssatz erfolgen, da das verfassungsändernde Organ mit der Befugnis zur Änderung der Verfassung auch die Rechtsmacht zur Eliminierung einer Norm aus dem Bereich des formellen Verfassungsrechts und zur Freigabe an den einfachen Gesetzgeber hat. Die Verfassung muß durch formelles Verfassungsrecht ergänzt werden, wenn die zu ergänzende Materie bereits i n der Verfassung geregelt ist 1 5 7 , und sich aus einer sinnvollen Verfassungsauslegung ergibt, daß die fragliche Ergänzung i n Verfassungsform mit Verfassungsrang zu erfolgen hat 1 5 8 . Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der ursprüngliche Verfassunggeber die Ergänzung der Verfassung i n einem Sachbereich aus bestimmten Gründen einem späteren Zeitpunkt vorbehalten hat 1 5 9 , aber auch dann, wenn die Notwendigkeit oder Möglichkeit einer Ergänzung noch nicht i m Blickfeld des Verfassunggebers lag 1 6 0 . Vom „Sog" des formellen Verfassungsrechts w i r d freilich i n diesem Falle die ergänzende Rechtsetzung nur erfaßt, wenn das betreffende Sachgebiet iss D e r materielle Begriff der Verfassungsänderung bezieht sich also nicht auf die Änderung der Verfassung i m materiellen Sinne. Vgl. Krüger, Verfassungsänderung S. 722 f. 156 I n einigen Verfassungen ist freilich die Abänderung bestimmter V o r schriften ausdrücklich dem Verfahren der Verfassungsänderung entzogen u n d dem Gesetzgebungsverfahren zugewiesen. Aus dem landesrechtlichen Bereich siehe z. B. A r t . 107 d. Verf. v. Württemberg-Baden v. 28. 11. 1946 (Füßlein, Deutsche Verfassungen, 1951, S. 356); aus dem Grundgesetz siehe z. B. A r t . 106 Abs. 3 GG und zu den durch diese Bestimmung aufgeworfenen Problemen Theodor Maunz, Die Finanzverfassung i m Rahmen der Staatsverfassung, V V D S t L 14 (1956), S. 37 ff. (56 ff.) u n d Hans Meyer, Das Beteiligungsverhältnis an der Einkommensteuer u n d an der Körperschaftsteuer (Art. 106 Abs. 3 GG), D Ö V 64, 397 ff. 157 Natürlich k a n n auch hier der verfassungsändernde Gesetzgeber i m Zuge der Normergänzung den bereits vorhandenen Regelungsbestand aus der Verfassung herausnehmen. 158 z. B. Vorschriften, die das allgemeine Wahlrecht einschränken. Vgl. Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1,14 ff. (33). 159 Hier handelt es sich u m sog. offene Verfassungslücken. Vgl. hierzu Tiefenbacher S. 58 m i t Nachweisen. 160 v g l hierzu Maunz, Staatsrecht S. 50.

3. K a p i t e l : Begriff der Verfassung und verfassunggebenden Gewalt

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i n der Verfassung abschließend geregelt werden soll 1 6 1 und sich die Verfassungsergänzung nicht nur als Detaillierung der bestehenden, als grundsätzliche Normierung angelegten verfassungsrechtlichen Regelung erweist 162 . Wird schließlich die Verfassung durch eine Materie ergänzt, die bisher nicht i n die Verfassung eingeführt war, so bedarf die Erstregelung einer verfassungsgesetzlichen Form auch dann nicht, wenn der Verfassunggeber die Normierung aus zeitbestimmten Gründen dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten wollte 1 6 3 . Denn ein solcher Wille des Verfassunggebers kann für den Gesetzgeber nur verbindlich sein, wenn er i n der Verfassung zumindest mittelbar seinen Ausdruck gefunden hat. Materien, die noch nicht i m Blickfeld des Verfassunggebers lagen, können i m übrigen auch dann wahlweise gesetzlich oder verfassungsgesetzlich geregelt werden, wenn sie dem materiellen Verfassungsbegriff zugeordnet werden 164 . Dieser w i r d auch nicht dadurch verbindlich, daß der Verfassunggeber eine sogenannte Vollverfassung 165 schaffen wollte 1 6 6 . Rechtliche Probleme w i r f t die Konkurrenz der Regelungszuständigkeiten nicht auf. Bei Erstregelungen kommt die höhere Kompetenz des verfassungsändernden Organs zur Geltung. Besteht bereits Gesetzesrecht, w i r d es vom Verfassungsrecht gebrochen.

I I . Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt im formellen Sinne

Begrifflich ist unter der verfassunggebenden Gewalt i m formellen Sinne die Befugnis des Staatsvolkes zu verstehen, das Verfahren der Verfassunggebung zu bestimmen 167 . Sie liegt der Substanz nach im161 So auch v. Mangoldt, Gutachten Wehrbeitrag S. 74; Maunz, Gutachten Wehrbeitrag S. 616 und E. Menzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 304. 162 Das dadurch aufgeworfene Abgrenzungsproblem w i l l E. Menzel m i t der Formel lösen, eine Verfassungsergänzung sei n u r dann erforderlich, w e n n „der zu regelnde Tatbestand i n seinen Auswirkungen i n dem Bereich der verfassungsrechtlichen Normierungen" besondere Probleme entstehen läßt" (a. a. Ο.). 163 Α. Α. v. Mangoldt, Gutachten Wehrbeitrag S. 74 und Maunz, Gutachten Wehrbeitrag S. 616. 164 Vgl. hierzu auch Scheuner, Gutachten Wehrbeitrag S. 116 u n d Schätzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 335. Andreas Hamann spricht dagegen dem einfachen Gesetzgeber allgemein das Recht ab, „Grundsatzentscheidungen" nachzuholen, die der Verfassunggeber „bewußt oder versehentlich" nicht geregelt hat. Der Gesetzgeber greife damit unzulässig i n den Bereich des pouvoir constituant ein (Das Grundgesetz, Kommentar, 1956, S. 3, 5). 165 Z u diesem Begriff siehe E. Menzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 302 f. 1ββ So auch Götz S. 1024. 167 Die Dogmatik hat bisher den Begriff der verfassunggebenden Gewalt noch nicht nach deren Wirkungsweisen systematisch aufgegliedert, obgleich sie die einzelnen Befugnisse kennt (vgl. ζ. B. Danco S. 23 f.). Sie w a r jedoch gezwungen, i m Zusammenhang m i t dem Problem der Bindung des pouvoir con-

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1. Abschnitt: Allgemeine Lehren

mer, der Ausübung nach zumindest bei der ersten Verfahrensentscheidung immittelbar beim Staatsvolk 168 . Dabei kann dieses Recht zur Entscheidung über das Verfahren naturgemäß nicht i n initiierender oder verfahrensleitender Form wahrgenommen werden. Das würde die Fähigkeit des Volkes zu aktiver Verfahrensgestaltung voraussetzen. Die Befugnis der verfassunggebenden Gewalt zur Bestimmung des Verfahrens i m rechtlichen Sinne muß vor allem i n der Weise bestimmt werden, daß in der Prozedur der Verfassungsschöpfung die Verfahrensakte oder Verfahrensentscheidungen lediglich solcher Organe rechtserheblich sein können, die mit verfassunggebender Gewalt ausgestattet sind. I m einzelnen w i r d dieser Aspekt der verfassunggebenden Gewalt noch an späterer Stelle zu erörtern sein.

stituant den Einfluß „von außen" auf das Verfahren der verfassunggebenden Gewalt als besonderen Einwirkungstypus herauszuarbeiten. Vgl. Zinn-Stein I, A r t . 41 A n m . 2 c (S. 217) u n d Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1,14 if. (61). 1ββ ζ. Β. i n der F o r m des sog. Konventionsreferendums. Vgl. Loewenstein, Volk und Parlament S. 87 f.

Zweiter

Abschnitt

Das Verfahren der Verfassunggebung in rechtlicher Sicht Erstes

Kapitel

Plebiszitäre u n d repräsentative der verfassunggebenden

Ausübung

Gewalt

A . Die rechtlichen M e r k m a l e der herkömmlichen Verfahrenstypen E i n e an den rechtlichen M e r k m a l e n des V e r f a h r e n s der Verfassungg e b u n g o r i e n t i e r t e T y p e n l e h r e k a n n die geschichtlichen T e c h n i k e n der Verfassungserzeugung 1 zunächst auf z w e i G r u n d f o r m e n z u r ü c k f ü h r e n : z u m einen auf die p l e b i s z i t ä r e 2 u n d z u m anderen auf die r e p r ä s e n t a t i v e F o r m der Verfassunggebung. V o n p l e b i s z i t ä r e r oder u n m i t t e l b a r e r V e r fassunggebung spricht m a n , w e n n e i n V e r f a s s u n g s e n t w u r f d u r c h V o l k s entscheid 8 rechtliche G e l t u n g e r l a n g t . I m r e i n p l e b i s z i t ä r e n V e r f a h r e n 1 A n den herkömmlichen Verfahrensformen der Verfassungsgeschichte entwickelt C. Schmitt seine Typologie (Verfassungslehre S. 84 ff.). Siehe hierzu auch Maunz, Gutachten Hessen S. 20. Dabei w i r d teilweise betont, die verfassunggebende Gewalt sei unbeschadet der Herausbildung „gewisser Äußerungsweisen" i n der Verfassungsgeschichte als „demokratisches u n d überkonstitutionelles Urphänomen an keine bestimmten Modalitäten gebunden" (W. Weber, Gesamtdeutsche Verfassung S. 25 f., w o h l i m Anschluß an C. Schmitt, a. a. O., S. 84 f.). 2 Von einem „plebiszitären" A k t w i r d i m folgenden immer dann gesprochen, w e n n das Staatsvolk eine unmittelbare Sachentscheidung trifft. M i t dem Begriff des Plebiszits werden i m staatsrechtlichen Sprachgebrauch freilich meist spezielle Inhalte verbunden, z. B. die Volksabstimmung über territoriale Fragen (vgl. Schlenker S. 15 f. und Loewenstein, Verfassungslehre S. 271 f.) oder den A k t der Zustimmung des Volkes zu Maßnahmen, die i m Zeitpunkt der Abstimmung bereits vollzogen oder unwiderruflich entschieden sind (vgl. Theodor Curti, Der Weltgang des Referendums, AöR 28, 1 ff. — 37 f. und Zweig S. 390 f.). 3 Die Begriffe „Volksentscheid", „Volksabstimmung" und „Referendum" beziehen sich i m folgenden auf die Entscheidung des Volkes über die Ingeltungsetzung eines vorgelegten Verfassungs- oder Gesetzesentwurfs i n Form der Stimmabgabe. Z u den terminologischen Fragen siehe i m übrigen A n schütz, Kommentar, A r t . 73 Anm. 3 (S. 385); Hans Gmelin, Referendum, i n : HdbPol. Bd. 3 (1921), S. 71 ff. (S.72); Schlenker S. 9 und C.Schmitt, a.a.O., S. 260.

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

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ist nur dieser Verfassungsentscheid unter allen i m Laufe der Prozedur vorgenommenen Kreationshandlungen für die Verbindlichkeit der Verfassung von unmittelbarer rechtlicher Bedeutung 4 . Repräsentativ oder mittelbar ist eine Erzeugungstechnik, nach der die Verfassung auf Grund des Beschlusses einer durch Wahl mit verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Vertretungskörperschaft verbindlich wird. Die rechtlich relevante M i t w i r k u n g des Staatsvolkes ist hier auf die Wahl der mit Gestaltungsvollmacht und Sanktionsrecht ausgestatteten Vertretungskörperschaft beschränkt, die meist als „verfassunggebende 5 ", „konstituierende", „Verfassungsbeschließende" oder „verfassungsverabschiedende 6 " (National- bzw. Landes-)Versammlung bezeichnet wird. Feststellung und Sanktion einer Verfassung können aber auch auf zwei verschiedene repräsentative Organe übertragen sein. Ein solches, ebenfalls vollrepräsentatives Verfahren wurde beispielsweise bei der Entstehung des Bonner Grundgesetzes gewählt 7 . Die repräsentative Verfassunggebung kann auch mehrstufig erfolgen. Das ist der Fall, wenn Feststellung und Sanktion der Verfassung oder auch nur die Feststellung 8 durch ein Organ vorgenommen werden, das von einem ebenfalls gewählten Organ durch Wahl bestellt ist. Zwischen diese „reinen" Formen der plebiszitären und repräsentativen Verfassunggebung läßt sich schließlich ein drittes Verfahren einordnen: Den Verfassungsentwurf als Gegenstand einer Volksabstimmung erstellt eine gewählte verfassungsberatende oder verfassungsentwerfende, auch Verfassungskonvent 9 oder 4

Vgl. hierzu Hildesheimer S. 53 f.

5

Der Sprachgebrauch ist freilich auch insoweit nicht einheitlich. Teilweise w i r d von einer „verfassunggebenden" Versammlung auch dann gesprochen, wenn dieser n u r verfassungsberatende Funktionen zustehen oder zustanden. Vgl. z. B. Abschnitt I I I A Abs. 3 des „Londoner Deutschland-Kommuniqué" v o m 7. 6.1948 (zit. nach Bonner Kommentar, Einl. S. 28) und Ent. d. Bayer. V e r f G H v. 2.12.1949, V G H n. F. 2 I I 181 if. (203, 208). Z u m Sprachgebrauch der deutschen Verfassungen nach dem ersten Weltkrieg siehe K ö h l m a n n S. 46 f. 6

C. Schmitt, Verfassungslehre S. 85.

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Auch die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika wurde von einem Konvent entworfen, der aus gewählten Delegierten der gesetzgebenden Körperschaften i n den Einzelstaaten bestand (siehe Beck S. 63), u n d i n jedem Bundesstaat besonders gewählten Ratifikationskonventen zur Entscheidung vorgelegt (siehe Beck S. 207 ff.). 8 So haben z. B. die Parlamente und Bürgerschaften der westdeutschen Länder dem Parlamentarischen Rat nur die Feststellung des Grundgesetzes übertragen. 9 Verfassungskonvent ist die gewählte verfassungsberatende Versammlung, nicht der bestellte Sachverständigenausschuß (siehe hierzu C. Schmitt, Verfassungslehre S. 85 f.). Daher k a n n m a n den Parlamentarischen Rat als „ K o n v e n t " bezeichnen (Grewe, Verfassungsrechtliche Grundlagen I I S. 313), nicht aber von einem Herrenchiemseer „Verfassungskonvent" sprechen. K r i t i k an diesem Sprachgebrauch üben auch Demmler (S. 42) u n d Hermann v. M a n göldt (Zum Beruf unserer Zeit für die Verfassunggebung, D Ö V 48, 51 if. — 52).

1. K a p i t e l : Plebiszitäre u n d repräsentative Verfassunggebung

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Verfassungskonvention genannte Versammlung 10 . Die Frage, ob dieser Verfahrenstyp auch i m rechtlichen Sinne eine selbständige Zwischenform darstellt, w i r d noch eingehend zu erörtern sein 11 .

B. Das Verhältnis der repräsentativen zur plebiszitären Ausübung von verfassunggebender Gewalt I . Die Idee der Volkssouveränität und die Formen der Ausübung rechtsetzender Gewalt

Die Lehre von der Volkssouveränität i n ihrer klassischen Ausformung bewertet die Willensäußerungen des Repräsentanten niedriger als die des Staatsvolkes, die M i t w i r k u n g des Volkes an der Staatswillensbildung in der Form von Wahlen geringer als i n der Form von Sachabstimmungen 12 . Sie systematisiert dementsprechend die einzelnen Verfassungsordnungen nach der Größe des Anteils, der dem Staatsvolk unmittelbar an der Rechtsetzung zukommt 1 3 , und sieht dann das Ordnungsbild der Volkssouveränität je nach dem Ergebnis der Bestandsaufnahme mehr oder weniger verwirklicht 1 4 . Alle repräsentative W i l lensbildung ist für sie eine „Abschwächung 15 " des demokratischen Prinzips, die „Referendumsdemokratie" dagegen die „relativ reinste Durchführung" des demokratischen Gedankens 16 . Ohne die unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Ausübung der Staatsgewalt bleibt die Volkssouveränität nach dieser Konzeption ein „leerer Begriff 17 ". Allein der wirkliche, nicht der hypothetische oder gar fiktive, von Re10 Dementsprechend unterscheidet C. Schmitt die Verfahren der Verfassunggebung danach, ob der Abstimmungsgegenstand von einer gewählten Versammlung entworfen wurde (a. a. O., S. 85) oder „irgendwie zustande gekommen ist" (a. a. O., S. 86). 11 K ö h l m a n n läßt diese Frage offen, w e n n er feststellt, i n einem solchen Verfahren liege der „Schwerpunkt" „bei der Annahme durch das V o l k " (S. 109). 12 Vgl. Liermann S. 150. 13 Vgl. Affolter S. 62. 14 Siehe z.B. die Analysen v o n Beyersdorff S. 90; Bryce I S. 213; FleinerGiacometti S. 701; Jagmetti S. 171; Liermann S. 182 f. u n d W. Jellinek, Revolution S. 85. 15 Scheuner, Repräsentatives Prinzip S. 237. 16 K ü h n e S. 187 u n d ähnlich Jagmetti S. 43. Siehe ferner Schlenker S. 122. 17 Fetzer S. 2. Dieser Gedanke w i r d i m einschlägigen Schrifttum i n v i e l fältigen Formulierungen vorgetragen. Vgl. z.B. Affolter S. 63; Cellier S. 40; Jagmetti S. 57; Schlenker S. 87 (mit weiteren Nachweisen zur Dogmatik der unmittelbaren Demokratie i n A n m . 42) u n d Leisner, Verfassunggebung S. 67 f. m i t Belegen aus der französischen Lehre. 18 Vgl. E. Menzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 317. Siehe hierzu auch ausführlich Fraenkel S. 5, 7 ff., 34 ff., 41 ff.; Heyen S. 27 und Peter Schneider, JZ 61,36 f.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Präsentanten gebildete Wille 1 8 ist „logisch vereinbar 1 0 " m i t der Idee der Volkssouveränität. Er ist die Grundlage der „reinen" Demokratie 20 . Diesem politischen Leitbild 2 1 entspricht eine Vorstellung der verfassunggebenden Gewalt, die den „pouvoir constituant" des Volkes nur dort verwirklicht sieht, wo die verfassungserzeugende Gewalt unmittelbar vom Volke oder zumindest ad hoc gewählten Vertretern ausgeübt wird 2 2 . Dagegen werden solche Vorstellungen i n der neueren deutschen staatsrechtlichen Literatur selten m i t dem Begriff der Volkssouveränität verbunden. Sein Inhalt w i r d vielmehr mit der Aussage der Formeln „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus 23 " bzw. „Das Volk ist Träger der Staatsgewalt 24 " gleichgesetzt25. M i t i h m ist dann sowohl die repräsentative wie die unmittelbare Demokratie „verträglich 2 6 ". Auch läßt sich, legt man diesen Begriffsgebrauch zugrunde, feststellen, das repräsentative System des Bonner Grundgesetzes basiere auf dem Grundsatz der Volkssouveränität 27 . Terminologisch ist daher zu unterscheiden: Der Begriff der Volkssouveränität i m eigentlichen und engeren Sinne umfaßt die Aussage über Subjekt und Ausübung der Staatsgewalt bzw. der verfassunggebenden Gewalt 2 8 , der Begriff der Volkssouveränität i m weiteren Sinne bestimmt lediglich den Träger dieser Gewalten. Die Verknüpfung unterschiedlicher Inhalte mit ein und demselben Begriff hat dazu beigetragen, daß die Staatsgewaltformel teilweise ohne weiteres als 19

Cellier S. 20 — Hervorhebung v o m Verfasser. Cellier, a. a. O., A n m . 17. Er meint sogar, n u r auf sie passe der Begriff der Demokratie (S. 96). 21 Z u r politischen Zweckmäßigkeit plebiszitärer Einrichtungen siehe u. a. Bäumlin, Demokratie S. 32 ff.; Bryce I S. 213; W. E. Meyer, Volksvertretung S. 146 ff. und Schlenker S. 131 ff. 22 Vgl. Cellier S. 92; Fleiner-Giacometti S. 701; Jagmetti S. 71 u n d Schlesingers. 111. 23 Siehe ζ. Β. A r t . 20 Abs. 2 Satz 1 GG u n d A r t . 2 Abs. 1 Satz 1 d. Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung v. 13.4.1951 (GVBl. S. 103). 24 Siehe ζ. B. A r t . 74 Abs. 2 d. Verf. v. Rheinland-Pfalz v. 18. 5.1947 (VB1. S. 209). 25 So stellen ζ. B. v. M a n g ö l d t - K l e i n fest, die Staatsgewaltformel spreche das· „Prinzip der Volkssouveränität im Sinne der Staatsträgerschaft des Volkes" aus (v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 A n m . V 4 — S. 594; dort gesperrt). 26 So sagen nach der Ansicht Schlenkers weder der Begriff der Volkssouveränität noch das demokratische Prinzip darüber etwas aus, „durch w e n und auf welche Weise die beim V o l k liegende Staatsgewalt ausgeübt w i r d " (S. 1; vgl. auch S. 36). Den weiteren Begriff der Volkssouveränität verwendet auch Leisner: Die Volkssouveränität „gestattet" verschiedene „Verbindungen u n mittelbarer u n d mittelbarer Demokratie" (Verfassunggebung S. 50). Er stellt auch den „technischen, nicht grundsätzlichen Charakter" der Unterscheidung von direkter u n d indirekter Demokratie heraus (a. a. O., S. 72; vgl. auch S. 66 f., 69). Siehe ferner i n diesem Zusammenhang Fritz Fleiner, Schweizerische und deutsche Staatsauffassung, i n : Ausgewählte Schriften u n d Reden, Zürich 1941, S. 236 ff. 27 So Schlenker S. 71. Vgl. auch S. 39,131. 28 Vgl. auch G. Jellinek, Staatslehre S. 524. 20

1. Kapitel : Plebiszitäre und repräsentative Verfassunggebung

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Verankerung der Volkssouveränität i n ihrem ursprünglichen klassischen Sinne verstanden und als verfassungsgesetzliche Bestätigung bestimmter Wertvorstellungen über die repräsentative und plebiszitäre Rechtsetzung i n einer Verfassungsordnung herangezogen wurde 2 9 . I n W i r k lichkeit legt jedenfalls i n den modernen Grundgesetzen die Staatsgewaltformel für sich die Verfassungsordnimg noch nicht auf einen bestimmten Typ der Demokratie fest 30 . Sie bietet vielmehr typenneutral den juristischen Rahmen für alle Ausformungen der demokratischen Organisation einer Rechtsgemeinschaft, insbesondere auch für das repräsentative Prinzip als „Spielform des demokratischen Denkens 31 ". Der allgemeinen Festlegung einer staatlichen Ordnung auf die Demokratie, wie sie in der Souveränitätsformel erfolgt, muß „die notwendige Erklärung und Konkretisierung 3 2 " durch Organisationsnormen folgen, um den Verfassungstyp i m konkreten Fall zu fixieren.

I I . Die juristische „Gleichwertigkeit" von plebiszitärem und repräsentativem Rechtserzeugungsverfahren

Die Forderung der klassischen Volkssouveränitätsidee nach plebiszitärer Erzeugung aller Rechtssätze33 mußte sich von Anfang an 34 i m Rechtsetzungsbereich der Gesetzgebung dem Prinzip der rechtlichen „Gleichwertigkeit" oder „Austauschbarkeit" des plebiszitären und des repräsentativen Verfahrens der Rechtserzeugung beugen 35 . Die unmittelbare M i t w i r k u n g des Staatsvolkes i m Gesetzgebungsverfahren ist nach allgemeinem demokratischen Staatsrecht kein Erfordernis für die Geltung des Gesetzes. Die Notwendigkeit einer mittelbaren Gesetzgebung durch repräsentative Organe ist angesichts der Rechtserzeugungsbedingungen des modernen Staates 36 so evident, daß die Dogmatik teil29 I m Zusammenhang m i t der Lehre v o m Vorrang des volksbeschlossenen Gesetzes w i r d diese Verwendung der Staatsgewaltformel noch zu erörtern sein. Auch i n der französischen Staatslehre führt, w i e Leisner berichtet, die Gleichsetzung von Demokratie und Volkssouveränität i m Sinne Rousseaus zu Verwechslungen (Volk und Nation S. 104 Anm. 31). 30 Auch A r t . 20 Abs. 2 Satz 1 GG sagt „ w e n i g über die spezifische S t r u k t u r der grundgesetzlichen Ordnung" aus, „da auf i h n fast alle modernen Verfassungen zurückgreifen" (Jesch S. 92). 31 Peter Schneider, JZ 61, 36 f. (36). 32 So Hamann für das Verhältnis des Satz 1 zu Satz 2 i n A r t . 20 Abs. 2 GG (Grundgesetz A r t . 20 Erl. Β 6). Vgl. ferner die Interpretation der Staatsgewaltformel bei Giacometti, Staatsrecht S. 45. 33 Einen Überblick über die Möglichkeiten einer unmittelbaren Beteiligung des Staatsvolkes an der Rechtsetzung gibt Schlenker (S. 1 ff.). 34 Siehe Scheuner, Repräsentatives Prinzip S. 226. 35 Siehe schon Rousseau, Con trat social I I I 15. 36 Hierzu gehören u. a. die Großräumigkeit, die Notwendigkeit einer k o n tinuierlichen Gesetzgebungsarbeit, dringliche Gesetzgebungsaufgaben u n d

7 Steiner

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

weise eine V e r f a s s u n g s o r d n u n g schon b z w . auch d a n n noch als u n m i t t e l b a r e D e m o k r a t i e q u a l i f i z i e r t , w e n n das V o l k l e d i g l i c h z u r u n m i t t e l b a r e n M i t w i r k u n g a n b e s t i m m t e n Gesetzgebungsaufgaben b e r u f e n i s t 3 7 . E i n w e n d u n g e n gegen d i e j u r i s t i s c h e A u s t a u s c h b a r k e i t d e r g e n a n n t e n Rechtsetzungsformen w e r d e n i m ü b r i g e n d u r c h eine i n n e u e r e r Z e i t o f t beobachtete politische E n t w i c k l u n g ü b e r h o l t : M i t t e l b a r e u n d u n m i t t e l b a r e D e m o k r a t i e n ä h e r n sich 3 8 d u r c h d e n C h a r a k t e r d e r W a h l e n als v o r w e g g e n o m m e n e r S a c h a b s t i m m u n g e n 3 9 u n d d u r c h die p l e b i s z i t ä r e n M e r k m a l e des Parteienstaates 4 0 . M a n k a n n s o m i t das demokratische P r i n z i p als „ o f f e n " bezeichnen. F ü r die A u s l e g u n g des A r t . 79 A b s . 3 G G e r g i b t sich daraus beispielsweise, daß das absolute Gebot z u d e m o k r a t i s c h e r Gesetzgebung i m S i n n e des A r t . 20 A b s . 1 G G i n gleicher Weise d u r c h eine r e p r ä s e n t a t i v e w i e d u r c h eine plebiszitäre A u s g e s t a l t u n g des Gesetzgebungsverfahrens e r f ü l l t w i r d . E i n e V e r s t ä r k u n g der p l e b i s z i t ä r e n E l e m e n t e i m V e r f a h r e n der Gesetzgebung 4 1 d u r c h E i n f ü h r u n g v o n V o l k s i n i t i a t i v e oder R e f e r e n d u m auf d e m Wege der V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g w ä r e i n gleicher Weise zuläss i g 4 2 w i e eine v o l l s t ä n d i g e B e s e i t i g u n g d e r p l e b i s z i t ä r e n B e s t a n d t e i l e hohe Kosten bei der Durchführung v o n Volksbefragungen. Siehe dazu K i n d S. 24, 37; Leibholz, Repräsentation S. 28 ff., 51, 71 u n d Montesquieu, V o m Geist der Gesetze (Orig. franz.: De l'Esprit des Lois, 1748), hrsg. von E. Forsthoff, Bd. 1,1951, S. 219. 37 Siehe z. B. Bäumlin, Demokratie S. 14 und K i n d S. 33. Nicht ganz k l a r formuliert Affolter, die Demokratie fordere die Volksgesetzgebung f ü r die „gesamte primäre Rechtsetzung des Staates" (S. 61 f. — Hervorhebung v o m V e r fasser). 88 Siehe z. B. Bäumlin, Demokratie S. 34 u n d W. Weber, Mittelbare u n d u n mittelbare Demokratie S. 770. 89 Siehe Fraenkel S. 15; Leibholz, Strukturwandel S. 104 u n d W. Weber, a. a. O., S. 776 ff. 40 Leibholz betrachtet den modernen Parteienstaat unbeschadet seiner konkreten institutionellen Ausformung „seinem Wesen w i e seiner Form nach" als „nichts anderes w i e eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie" (a. a. O., S. 93). Siehe auch ders., Repräsentation S. 118. 41 Ob auch die Bestimmungen über das Verfahren der Verfassungsänder u n g i n dieser Richtung rechtmäßig geändert werden können, hängt zunächst von der Lösung der Frage ab, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber gesetzgebende oder verfassungserzeugende Gewalt ausübt. W i r d er als Verfassungserzeuger tätig, bestimmt sich die Zulässigkeit einer solchen Änderung nach den noch zu erörternden Grundsätzen über das Verhältnis von plebiszitärem u n d repräsentativem Verfahren i n Verfassungssachen. 42 Die überwiegende Meinung geht, durch A r t . 20 Abs. 2 Satz 2 GG ermutigt, davon aus, daß das Staatsvolk durch Verfassungsänderung u n m i t t e l bar i n das Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden kann. Siehe z. B. C. F. Curtius, Schranken S. 112; Hamann, Grundgesetz, A r t . 79 Erl. Β 10 (S. 348) und A r t . 20 Erl. Β 6 (S. 209); L a u x S. 80 A n m . 8; v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 V 5 a (S. 597) u n d Maunz-Dürig, A r t . 79 Rdnr. 47; a. A. H a m m S. 97. Ä h n l i c h offen w a r schon die Interpretation des A r t . 17 W V . Vgl. Anschütz, Kommentar, A r t . 17 A n m . 6 (S. 137).

1. K a p i t e l : Plebiszitäre u n d repräsentative Verfassunggebung

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aus dem Grundgesetz 48 . Ebenso ist auch der Einbau eines mehrstufigen Systems der Repräsentation möglich 44 . Die Vorstellungen über die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt nehmen demgegenüber i n der Dogmatik aus verschiedenen Gründen eine besondere Stellung ein 45 . Während die Lehre von der Volkssouveränität die Gleichstellung von repräsentativer und plebiszitär organisierter Rechtsetzung für die gewöhnliche Gesetzgebung deshalb hinnahm, weil hier die unmittelbare M i t w i r k u n g des Volkes aus technischen Gründen zurückgedrängt war, sah sie sich nicht gezwungen, auch für den außerordentlichen Rechtsetzungsvorgang der Verfassunggebung auf die sachliche Stellungnahme des Volkes i m direkten Entscheid zu verzichten. Die unmittelbare Ausübung schien daher begriffliches Merkmal des pouvoir constituant zu sein 46 . Zudem war die Zuweisung der verfassunggebenden Gewalt an das Volk die zentrale Idee der Volkssouveränität. Es lag daher für diese nahe, auch ihre Vorstellung über die Ausübung dieser Gewalt zur Anwendung zu bringen 47 . Dabei konnte sie sich darauf berufen, daß die Wahl zwischen der repräsentativen und der plebiszitären Form des Verfahrens zur Erzeugung von Verfassungsrecht nicht nur an der Schaffung optimaler Voraussetzungen der Verfassunggebung orientiert ist. Der pathosverdächtige Satz, das Recht des Volkes auf Selbstgestaltung seiner öffentlichen Ordnung schließe auch das Recht auf eine i m Einzelfall unrichtige Entscheidung ein 48 , weist auf einen Gesichtspunkt hin, den auch eine repräsentationsfreundliche Theorie nicht übersehen kann: Die unmittelbar vom Volk angenommene Verfassung w i r d unter Umständen m i t größerer Treue i n einer Rechtsgemeinschaft rechnen können als eine repräsentativ vollzogene 43

C. F. Curtius, Schranken S. 112. L a u x S. 115 f. Vgl. auch Danco S. 24. Mehrstufig erfolgt dabei nur die Bestellung der Repräsentanten. Die notwendige Unmittelbarkeit der Repräsentation bleibt davon unberührt. Vgl. zu diesem Prinzip Leibholz, Repräsentation S. 38. 45 Das stellt Redslob schon i n bezug auf die Vorstellungen der französischen Nationalversammlung von 1789 fest (S. 151). 46 Von diesem Standpunkt aus k a n n eine Verfassung auf den pouvoir constituant des Volkes n u r zurückgeführt werden, w e n n sie v o m Staatsvolk u n mittelbar angenommen wurde (vgl. Jagmetti S. 71 und ferner S. 49). Das Staatsvolk ist i m Rahmen der Verfassungsrevision n u r dann i m Besitz des pouvoir constituant, wenn es i m obligatorischen Verfassungsreferendum die letzte Entscheidung über die Erzeugung von Verfassungsnormen treffen k a n n (vgl. Schlenker S. 111 u n d W. Jellinek, Revolution S. 85). Siehe aber auch Loewenstein, Verfassungslehre S. 138 f. 47 „Nach der Staatsphilosophie der Volkssouveränität" ist die Verfassunggebung die „ureigenste Domäne der Gesamtnation" (Loewenstein, V o l k und Parlament S. 33; vgl. auch S. 280,, 284). Die klassische Idee der Volkssouveränität hat i m übrigen i n dreifacher Weise auf die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt eingewirkt. Siehe oben S. 67, A n m . 9. 48 Siehe Rousseau, Contrat social I I 12. 44

7*

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Verfassungsschöpfung 49. Die plebiszitäre Erzeugung zumindest der Verfassungsnormen mußte den Verfechtern der Volkssouveränität ferner deshalb jedenfalls zweckmäßig erscheinen, weil das „Moment der Wiederwahl" — beim parlamentarischen Gesetzgeber ein institutioneller Ausgleich für das Fehlen von Instruktionsbefugnissen des Staatsvolkes — i m Falle der Verfassunggebung fehlt: Die Vertreter einer verfassunggebenden Versammlung werden regelmäßig zeitlich unbefristet gewählt 5 0 . Die Verbindung von verfassunggebender Gewalt und unmittelbarer Ausübung findet eine weitere Erklärung in der Lehre von der extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt. Die Handlungsform einer solchen Gewalt stellen naturgemäß häufig unmittelbare Aktionen des Volkes dar; sie lassen die verfassunggebende Gewalt allgemein als eine notwendig plebiszitär ausgeübte Macht erscheinen 51. Schließlich ist in der Dogmengeschichte die verfassunggebende Gewalt mit ihrer unmittelbaren Ausübung durch das Volk verknüpft, ohne daß dieser Koppelung die prinzipielle Forderung nach plebiszitärer Rechtsetzung 52 zugrunde lag. Vor allem in der nordamerikanischen Theorie wurde der — am Gesetz gemessen — besondere Rang der Verfassung mit der unmittelbaren Ableitung der Verfassung aus dem Volkswillen begründet 53 . Für Frankreich w i r d die „Identifizierung des pouvoir constituant mit dem Akte der direkten Gesetzgebung" als der theoretische Aus49

Vgl. hierzu auch Bryce I S. 213; Jagmetti S. 66 f. und ferner J.Curtius, Volksinitiative S. 13 sowie Hildesheimer S. 63. F ü r Cellier z. B. ist eine repräsentativ entstandene Verfassung „nicht das Werk des Volkes" (S. 92). Freilich k o m m t hier alles auf die konkreten Umstände an. Gegebenenfalls kann bei einer repräsentativen Verfassunggebung der aktuelle W i l l e des Volkes durch die W a h l bestimmter, i n ihrem Programm festgelegter Repräsentanten oder i n der F o r m der öffentlichen Meinung stärker zur Geltung kommen als i n einem Verfassungsentscheid, der n u r eine pauschale Stellungnahme zum Verfassungsentwurf zuläßt. Weitere politische Aspekte der plebiszitären Verfassunggebung ließen sich hinzufügen. So hat z. B. die Überlegung, eine durch Volksentscheid angenommene Verfassung erlange ein besonderes Gewicht, die Ministerpräsidenten der deutschen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg bewogen, auf die von den A l liierten vorgeschlagene Volksabstimmung über das Grundgesetz zu verzichten. Vgl. unten 3. Kapitel, A I I 1. 50

Darauf weist Hildesheimer (S. 63) hin. Er entscheidet sich daher dafür, „auf konstitutionellem Gebiet" „die direkte Volksgesetzgebung der repräsentativen vorzuziehen" (a. a. O.). 51 I n diesen Zusammenhang gehört w o h l auch Ridders Feststellung, plebiszitäre Verfahren würden der „Bestätigung der verfassunggebenden Gew a l t " dienen (S. 324). 52 Die unmittelbare M i t w i r k u n g an der Rechtserzeugung grenzt Affolter als „materielle" Kompetenz von der Bestellung der rechtsetzenden Organe ab (S. 63). 53 Siehe v. Mangöldt, Geschriebene Verfassung S. 9. Z u m amerikanischen Staatsrecht vgl. ferner Loewenstein, Volk u n d Parlament S. 44 ff., zur Idee der unmittelbaren Verfassunggebung insbesondere S. 81 ff.

1. Kapitel: Plebiszitäre und repräsentative Verfassunggebung

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gangspunkt der Revolution bezeichnet, an dessen „logisch-dogmatischer Berechtigung" „nicht zu zweifeln " sei 54 . Dennoch läßt sich heute ein allgemeiner Satz des demokratischen Staatsrechts, nur eine solche Verfassung komme „demokratisch" zustande, die das Volk unmittelbar durch Volksentscheid angenommen habe, nicht nachweisen. Man hat vielmehr das vollrepräsentative Verfahren der Verfassunggebung als ein „allgemein befolgtes und sogar stereotyp gewordenes Verfahren" der Verfassunggebung bezeichnet, das sich „ i n Übereinstimmung m i t den Lehren von der Volkssouveränität und dem originären pouvoir constituant des Volkes" vollziehe 55 . Die Verfassungsratifikation w i r d sogar als Spätform der Verfassunggebung verstanden 56 . Die grundsätzliche juristische Zweispurigkeit der Entstehungsweisen einer Verfassung i m Geltungsbereich des demokratischen Prinzips läßt sich i m wesentlichen auf zwei Konstellationen zurückführen, die das Verhältnis der Theorie zur Praxis der Verfassunggebung durch das Volk bestimmt haben: Die plebiszitäre Theorie war entweder ohne Einfluß auf die Praxis der Verfassunggebung, weil diese von einer wirksameren Theorie der Repräsentation beherrscht war. Oder sie konnte nicht das volksunmittelbare Verfahren durchsetzen, weil die konkreten politischen Bedingungen eine repräsentative Entstehungsform zwingend nahelegten. I n Frankreich war die Idee der Volkssouveränität seit Beginn der Revolution an ihrer staatsrechtlichen Wirksamkeit durch eine Lehre von Sinn und Funktion der Repräsentation gehindert 57 , die in der repräsentativen Erzeugung von Rechtsnormen nicht nur die „unvermeidliche Konsequenz 58 " der äußeren Rechtsetzungsbedingungen i n einem Gemeinwesen von bestimmter Größe und Bedeutung und damit i n ihr nicht lediglich ein „Surrogat 5 9 " der unmittelbaren Rechtsschöpfung sah. Diese Lehre entwickelte vielmehr eigene Wertvorstellungen zur repräsentativen Ausübung öffentlicher Gewalt 6 0 und forderte, 54 Loewenstein, a. a. O., S. 30. Freilich muß er sogleich feststellen, daß die „Idee des pouvoir constituant" „schon i n ihrer Geburtsstunde ihrer dogmatischen N a t u r untreu" wurde (a. a. O.). 55 Loewenstein, Verfassungslehre S. 138 f. 56 Loewenstein, a. a. O., S. 139. 57 I n der Dogmengeschichte dokumentiert sich dieser Gegensatz i n Rousseau und Sieyès, i n der französischen Verfassungsgeschichte i n den extremen Sätzen „ L a Nation, de q u i seule émanent tous les pouvoirs, ne peut les exercer que par la délégation" (tit. I I I , préam., art. 2 d. Verf. v. 3. 9.1791 — zit. nach Duguit-Monnier S. 6) einerseits und „ L a Convention déclare: Qu'il ne peut y avoir de Constitution que celle q u i est acceptée par le peuple" (Dekret ν. 21. 9.1792 — zit. nach Duguit-Monnier S. 33) andererseits. 58 Zweig S. 214. Vgl. auch S. 128 f. 5H Loewenstein, V o l k und Parlament S. 10. 00 M i t Sieyès t r i t t nach der Deutung Loewensteins „eine dem Prinzip der unmittelbaren Volksanteilnahme logisch antithetische, durchaus eigenartige und die Repräsentation bewußt zum Ausdruck u n d Symbol des höchsten Staat-

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

i h r e m u n t e c h n i s c h - q u a l i t a t i v e n V e r s t ä n d n i s des r e p r ä s e n t a t i v e n P r i n zips entsprechend, die V e r w i r k l i c h u n g der R e p r ä s e n t a t i o n f ü r die gesamte W i l l e n s b i l d u n g i m Staate einschließlich der V e r f a s s u n g g e b u n g 6 1 . A u c h die neuere deutsche L i t e r a t u r h a t die staatsrechtliche Repräsentat i o n t e i l w e i s e aus der n u r - t e c h n i s c h e n Sicht gelöst 6 2 u n d gesteht der r e p r ä s e n t a t i v e n W i l l e n s b i l d u n g i m Rechtsetzungsbereich eine höhere G a r a n t i e der E n t s c h e i d u n g s r i c h t i g k e i t 6 3 als d e m p l e b i s z i t ä r e n V e r f a h r e n z u 6 4 . Das r e p r ä s e n t a t i v e S y s t e m w i r d n i c h t n u r i n seiner o r g a n i satorischen F u n k t i o n begriffen, sondern m i t d e m selbständigen A u f t r a g b e t r a u t , d e n vielschichtigen V o l k s w i l l e n zu einer E i n h e i t i n R i c h t u n g a u f das G e m e i n w o h l z u f ü h r e n 6 5 . Dementsprechend l ä ß t sich i n der d e u t schen staatsrechtlichen L i t e r a t u r ü b e r die juristische G l e i c h b e w e r t u n g der liehen Ethos erhebende D o k t r i n auf" (a. a. O. — Hervorhebungen v o m Verfasser). Siehe hierzu auch Zweig S. 124, 128 f. Auch der modernen Theorie erscheinen Repräsentation u n d Staatswillensbildung unmittelbar durch das V o l k als verschiedene politische Konstitutionsprinzipien. Siehe Leibholz, Repräsentation S. 29 ff., 120 f. u n d ferner auch W. E. Meyer, Volksvertretung S. 100 f. 61 Als „absorptive K r a f t des Repräsentationssystems" bezeichnet Zweig diese natürliche Tendenz des repräsentativen Prinzips zur durchgehenden Einspurigkeit der Willensbildungstechnik (S. 299; vgl. ferner auch Zweig S. 87). Plebiszitäre und repräsentative Idee gehen, konsequent verwirklicht, immer auf eine „eindimensionale Gesetzgebung" (Leisner, Verfassunggebung S. 402) zu. 62 V o m Verständnis der repräsentativen Willensbildung i n einer Verfassungsordnung hängt die Lösung zahlreicher staatsrechtlicher Probleme ab, z. B. die Zulässigkeit verfassungsgesetzlich nicht vorgesehener sogenannter konsultativer Volksbefragungen. Repräsentative u n d plebiszitäre Elemente i n einer Verfassung können, müssen aber nicht „ i n der Tiefe auf abweichenden Vorstellungen v o m Wesen der Demokratie" (vgl. Scheuner, Repräsentatives Prinzip S. 225) beruhen. 63 Eine eindeutige politische und rechtspolitische Wertung findet das plebiszitäre Prinzip freilich i n der Gegenwart nicht. Z w a r ist nach der Feststell u n g Herbert Krügers die moderne Demokratie „grundsätzlich" der Meinung, das V o l k solle nicht unmittelbar, sondern durch Repräsentanten beschließen und handeln (Die Stellung der Interessenverbände i n der Verfassungswirklichkeit, N J W 56, 1217 ff. — 1219); andererseits konstatiert Bäumlin, man erhoffe sich „bis i n die Gegenwart hinein eine Lösung der Strukturaufgaben der Demokratie i n weiten Kreisen nach wie vor von einem erneuten Aufbau der direkt demokratischen Institutionen" (Verfassung u n d V e r w a l t u n g S. 78; ähnlich auch Scheuner, Repräsentatives Prinzip S. 222). 64 Siehe vor allem Krüger, a. a. O.; ders., Verfassungsauslegung S. 686 u n d Gutachten Südweststaat S. 62. Das höhere Maß an Entscheidungsrichtigkeit w i r d dabei durch den Hinweis auf die nach den geschichtlichen Erfahrungen m i t repräsentativen Systemen meist verbundene Mäßigung der Staatsgewalt (vgl. Scheuner, a. a. O., S. 237; H. Schneider, Volksabstimmungen S. 165 f. u n d ferner Leibholz, Repräsentation S. 67 ff.), den erforderlichen Besitz an Sachkunde (vgl. aber auch M a r t i S. 19 f.) usw. begründet. 65 Vgl. Bäumlin, a. a. O., S. 80. I n der Veränderung des gesellschaftlichen Aufbaus v o m einheitlichen oder doch systematisch strukturierten zum p l u r a listischen Gefüge liegt ein wesentlicher G r u n d f ü r den Vorrang des repräsentativen Prinzips i n der Gegenwart. Vgl. hierzu auch Bäumlin, a. a. O., S. 79 f. A d o l f A r n d t sieht den Zusammenhang von Parteienstaat und Repräsentation als „rechtsnotwendig" an (Grundgesetz S. 19).

1. Kapitel : Plebiszitäre u n d repräsentative Verfassunggebung

103

r e p r ä s e n t a t i v e n u n d der p l e b i s z i t ä r e n Verfassungserzeugung 6 ® h i n a u s teilweise sogar eine — f r e i l i c h auch t r a d i t i o n s b e d i n g t e — B e v o r z u g u n g der r e p r ä s e n t a t i v e n Entstehungsweise feststellen 6 7 . Dieser Offenheit des deutschen Staatsrechts entspricht auch eine unterschiedliche P r a x i s d e r Verfassunggebung i n d e n deutschen Bundesstaaten seit d e m e r s t e n 6 8 u n d v o r a l l e m nach d e m z w e i t e n W e l t k r i e g 6 9 . V e r f a s s u n g u n d Gesetz unterscheiden sich d e m n a c h n i c h t dadurch, daß n u r das Gesetz i n m i t t e l b a r e r F o r m entstehen k a n n . D i e Staatsrechtsl e h r e h a t die r e p r ä s e n t a t i v e V e r f a h r e n s w e i s e i n Verfassungssachen v i e l m e h r auch d o r t als zulässig a n e r k a n n t , w o sie v o n der verfassunggebenden G e w a l t als einer „besonderen, v o m V o l k selbst ausgeübten" v e r fassunggebenden G e w a l t gesprochen h a t 7 0 . D i e sichtliche B e v o r z u g u n g d e r r e p r ä s e n t a t i v e n V e r f a s s u n g g e b u n g i n der französischen Verfassungsgeschichte 7 1 h a t sich f r e i l i c h andererseits auch n i c h t d u r c h die T h e o r i e der „ N a t i o n a l e n S o u v e r ä n i t ä t 7 2 " u n d „ N a t i o n a l e n R e p r ä s e n t a t i o n 7 3 " C a r r é de M a l b e r g s — t r o t z der V o r l i e b e dieser L e h r e f ü r die r e p r ä s e n t a t i v e Rechtsetzung — z u einer Rechtsregel v e r d i c h t e t 7 4 . I m U n t e r s c h i e d z u d e n L e h r e n der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t steht ββ Von den direkten und indirekten Äußerungen hierzu seien u. a. genannt: Herzog S. 86 Anm. 49; Hildesheimer S. 50; Krüger, Sozialisierung S. 54; Leisner, Verfassunggebung S. 247; Maunz, Staatsrecht S. 47 f.; Quaritsch, Kirchen und Staat S. 179; Peters, Demokratie S. 33; Scheuner, Verfassunggebende Gew a l t S. 582; C. Schmitt, Verfassungslehre S. 84 f. u n d ferner Golay S. 40 sowie N y m a n S. 13. Aus der Rechtsprechung siehe Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1,14 ff. (61). 67 Siehe Zülch S. 11, 12. Henke bezeichnet es als „heute fast selbstverständlich, daß das Verfassungsgesetz von einer volksgewählten sogenannten verfassunggebenden Versammlung gegeben w i r d " (S. 36). Es gäbe „ n u r eine legitime A r t der Verfassunggebung, nämlich die der Verfassungsgesetzgebung durch eine frei und allgemein gewählte Nationalversammlung" (a. a. O.). 88 Siehe hierzu Schönherr S. 121 ff. 69 Vgl. die Übersicht bei Schlenker S. 75 ff. 70 Siehe Herrfahrdt S. 274 und ähnlich G. Jellinek, Staatslehre S. 531. 71 Die direkte Demokratie, stellt Leisner fest, ist i n Frankreich eine „ E p i sode der revolutionären Tradition" geblieben (Verfassunggebung S. 174). Trotz der wenigen Verfassungsplebiszite i n der verfassungsreichen Geschichte Frankreichs hat Fetzer behauptet, die Anerkennung der konstituierenden Gew a l t des Volkes habe i n Frankreich dazu geführt, daß die Verfassungen der Volksabstimmung unterworfen worden seien (S. 12). Die ebenfalls i n dieser Richtung liegende These Borgeauds, das Recht des Volkes, „d'etre consulté sur les lois fondamentales de l'Etat", sei ein Teil der ungeschriebenen V e r fassung Frankreichs geworden (S. 408 f.), w i r d von Zweig als „absurd" bezeichnet (S. 391) u n d auch von Leisner kritisch beurteilt (a. a. O. S. 190 Anm. 1). 72 Siehe Carré de Malberg, Contribution I I S. 167 ff. Z u m Begriff der „souveraineté nationale" siehe allgemein Adémar Esmein, Eléments de droit c o n s t i t u t i o n a l , Bd. 1,7. Aufl. 1921, S. 284 ff. 73 Siehe Carré de Malberg, a. a. O., S. 199 ff. 74 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Leisners Bemerkungen zur A n nahme der französischen Verfassung von 1946 i m Wege der Volksabstimmung (Verfassunggebung S. 355 f.).

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

nach Carré de Malbergs Vorstellungen die Souveränität weder einer einzelnen Person, wie z. B. dem Monarchen 75 , noch einer Personenvielheit, wie z.B. dem Volke, zu 76 . Die absolute und höchste Herrschaftsmacht kann nur eine „entité abstraite" besitzen, nämlich die Nation, die nicht die Summe ihrer einzelnen Bürger 7 7 , sondern eine von ihnen abstrahierte, gedachte Einheit ist 78 . Volk und Monarch üben daher die Souveränität nur als Organe aus, ohne sie als „droit propre" oder „pouvoir propre" zu besitzen 79 . Die repräsentative Ausübung von Staatsgewalt durch Organe, die vom Volk getrennt sind, fügt sich damit zwangloser i n Carré de Malbergs Systems ein 80 . Denn die Zuordnung der Souveränität an die Nation und nicht an das Volk ist im Falle der bloßen Organbestellung durch das Volk leichter demonstrierbar als bei volksunmittelbaren Sachentscheidungen. Das Volk bleibt freilich, mag auch Carré de Malbergs Theorie zur repräsentativen Ausübung der verfassunggebenden Gewalt aus „optischen" Gründen 81 neigen 82 , als pouvoir constitué zur unmittelbaren Verfassunggebung berechtigt. Auch in Nordamerika hat sich trotz theoretischer 83 und praktischer 81 Ansätze kein gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz m i t dem Inhalt herausgebildet, die Verfassung könne nur durch Volksabstimmung demokratische Geltung erlangen 85 . Einmal läßt sich i n den Bundesstaaten eine 75

Carré de Malberg, a. a. O., S. 170 f. a. a. O., S. 167 f., 171,172. 77 a. a. O., S. 172. 78 a. a. O., S. 173 f. A n m . 7. 79 a. a. O., S. 200, 201,483. 80 Daher versucht auch Carré de Malberg nachzuweisen, daß die W a h l von Repräsentanten v o m Beginn der französischen Revolution an die wesentliche Form der Ausübung von Souveränität gewesen sei. Vgl. a. a. O., S. 196 f. und hierzu Leisner, a. a. O., S. 21. 81 Siehe Leisner, Verfassunggebung S. 50. 82 Z u r Auseinandersetzung m i t Carré de Malberg siehe Leisner, a. a. O., S. 28 if., 43, 47 if.; ders., V o l k und Nation S. 101 ff. und Schindler, Staatswillen S. 25. 83 Siehe hierzu J. Curtius, Volksinitiative S. 12. 78

84 M i t Massachusetts u n d New Hampshire beginnend (siehe Borgeaud S. 172; G. Jellinek, Staatslehre S. 517 u n d Loewenstein, V o l k und Parlament S. 81) haben die meisten nordamerikanischen Bundesstaaten die Verfassung dem V o l k zur unmittelbaren Stellungnahme vorgelegt. Z u r Entwicklung des „plébiscite constituant" i n Nordamerika siehe i m einzelnen Borgeaud S. 157 ff., insb. S. 183 ff. 85 Die deutsche L i t e r a t u r beurteilt die staatsrechtliche Situation i n A m e r i k a i n diesem Punkte freilich teilweise anders. M a n sieht i n der Volksabstimm u n g über einen Verfassungsentwurf nicht n u r eine nordamerikanische I n stitution (so z. B. Schlenker S. 3 u n d Vogels, A r t . 90 A n m . 2). Hatschek stellt sogar als „Ergebnis der amerikanischen Lehre" fest, die verfassunggebende Gewalt könne nicht durch Repräsentanten (Allgemeines Staatsrecht I I S. 28), sondern „letzten Endes n u r v o m Volke" ausgeübt werden (Staatsrecht S. 21). Dagegen meint Hasbach, das französische Dekret vom 21. 9.1792 gehe m i t sei-

1. Kapitel : Plebiszitäre u n d repräsentative Verfassunggebung

105

lückenlos plebiszitäre Übung nicht nachweisen 80 . Vor allem aber ist die amerikanische Bundesverfassung weder durch Abstimmungen auch nur der einzelnen Bundesstaatsvölker angenommen worden noch kennt ihr Revisionssystem trotz der einheitlichen Betrachtungsweise von Verfassunggebung und Verfassungsänderung in der amerikanischen Theorie den plebiszitären Weg der Erzeugung von Verfassungsrecht 87 . Die rechtliche Gleichwertigkeit der repräsentativen und der plebiszitären Verfassungserzeugung 88 ist i n jedem Falle heute ein Grundsatz des allgemeinen demokratischen Staatsrechts i n Deutschland 89 . Demokratie als Oberbegriff zu ihrer direkten und indirekten Ausgestaltung umfaßt daher auch die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt. Die Entscheidung für eine bestimmte Form der Verfassungsentstehung ist politischer bzw. rechtspolitischer Natur. Sie kann von allgemeinen Überlegungen zur Zweckmäßigkeit eines bestimmten Verfahrens 90 ebenso getragen sein wie von den besonderen Bedingungen einer Verfassunggebung i m Einzelfall oder einer bestimmten Verfahrenstradition. Diese Freiheit der Verfahrenswahl gilt auch für die Gestaltung der Verfassungsänderung 91 . Daher finden sich auch i n der Verfassungspraxis Revisionssysteme, die das repräsentative und das plebiszitäre Verfahren der Verfassungserzeugung wahlweise oder i m Verhältnis der Subsidiarität vorsehen 92 .

ner Forderung nach ausschließlich unmittelbarer Verfassungsabstimmung i n jedem Falle „über das amerikanische V o r b i l d hinaus" (S. 71). Siehe ferner Schlenker S. 75. 86 Eine Aufzählung der bundesstaatlichen Verfassungen, die von Konventen ohne Abstimmung durch das V o l k angenommen wurden, geben Hatschek (Allgemeines Staatsrecht I I S. 27 f.), M o l l (S. 54 Anm. 2) u n d Zweig (S. 60 A n m . 1). 87 Z u m schweizerischen Staatsrecht vgl. i n diesem Zusammenhang die Bemerkung Kägis (Volksinitiative S. 768 a). 88 Siehe hierzu auch Fonteneau S. 15. 89 Eine Übersicht über die durch Volksabstimmung angenommenen Verfassungen auch außerhalb des deutschen Rechtskreises findet sich bei J. Curtius (Volksinitiative S. 12 f.) u n d Theodor C u r t i (Der Weltgang des Referendums, AöR 28, 1912, S. 1 ff . — 35 ff.). Beispiele obligatorischer Verfassungsreferenden i m Rahmen von Revisionssystemen gibt Schlenker (S. 11 A n m . 38). 90 Vgl. hierzu J. Curtius, a.a.O., S. 13; Hildesheimer S. 63 u n d Jagmetti S. 19 f. 91 Siehe Schlenker S. 82; Zülch S. 115 und ferner die Überlegungen de constitutione ferenda bei J. Curtius, a. a. Ο., S. 13 ff. 92 Siehe ζ. Β . A r t . 90 d. franz. Verf. v. 1946 (abgedr. bei Duguit-Monnier S. 568 f.) und hierzu Hans Kutscher, Der französische Verfassungsentwurf v o m 19. A p r i l 1946 und die französische Verfassung v o m 13. Oktober 1946, AöR 74, 51 ff. (74 f.). Vgl. ferner A r t . 69 d. Verf. v. N R W v. 28. 6.1950 (GVB1. S. 127).

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung I I I . Folgerungen aus dem Prinzip der rechtlichen Gleichwertigkeit von plebiszitärer und repräsentativer Ausübung der verfassunggebenden Gewalt 1. Das Entstehungsverfahren einer gesamtdeutschen Verfassung nach Art. 146 GG

F ü r die A u s l e g u n g des A r t . 146 G G h a t die A n w e n d u n g des g e n a n n t e n P r i n z i p s z u r Folge, daß eine V e r f a s s u n g „ v o n d e m deutschen V o l k i n f r e i e r E n t s c h e i d u n g " ( A r t . 146 G G ) s o w o h l d u r c h eine g e w ä h l t e v e r fassunggebende V e r s a m m l u n g als auch d u r c h einen V o l k s e n t s c h e i d ü b e r e i n e n (gegebenenfalls d u r c h eine g e w ä h l t e verfassungsberatende V e r s a m m l u n g erstellten) E n t w u r f „beschlossen" ( A r t . 146 GG) w e r d e n k a n n . I n b e i d e n F ä l l e n t r i t t die B e d i n g u n g des A r t . 146 G G ein, a n die das Grundgesetz sein Geltungsende k n ü p f t . Diese „offene" I n t e r p r e t a t i o n der G r u n d g e s e t z b e s t i m m u n g n i m m t die L e h r e i m a l l g e m e i n e n auch v o r 9 8 . S o w e i t sie sich f ü r e i n v o l l r e p r ä s e n t a t i v e s V e r f a h r e n der V e r f a s s u n g g e b u n g d u r c h eine verfassunggebende N a t i o n a l v e r s a m m l u n g auss p r i c h t 9 4 , w i r d diese E n t s t e h u n g s w e i s e als t r a d i t i o n e l l 9 5 oder a l l e i n z w e c k m ä ß i g 9 6 , n i c h t aber als a l l e i n r e c h t m ä ß i g angesehen. D i e D u r c h f ü h r u n g eines Volksentscheids w i r d d u r c h A r t . 146 G G n i c h t geford e r t 9 7 , i s t aber auch n i c h t u n z u l ä s s i g 9 8 . 93 Siehe Hamann, Grundgesetz, A r t . 146 Erl. Β 4 (S. 508); v. Mangöldt, Grundgesetz, A r t . 146 A n m . 2 (S. 668) und Scheuner, Verfassunggebende Gew a l t S.582. 94

Wie z.B. Ellwein, Wiedervereinigung S. 93 f.; Klein, Wiedervereinigung S. 125 u n d Zülch S. 3,11,12. 95

Siehe z.B. Zülch S . U .

96

So bei Klein, a. a. O., S. 132. Auch Wolfgang Abendroth sieht k a u m einen anderen Weg f ü r eine gesamtdeutsche Verfassung als die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung (Deutsche Einheit und europäische I n t e gration i n der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, Europa Archiv 1951, S. 4385 ff. — 4388). Siehe ferner W. Weber, Gesamtdeutsche Verfassung S. 26. Teilweise hält man es f ü r erforderlich, vor der Durchführ u n g eines Volksentscheides wenigstens eine verfassungsberatende Versamml u n g einzuberufen (so v. Mangöldt, Grundgesetz, A r t . 146 A n m . 2 — S. 668). 97 Dennewitz w i l l freilich dem A r t . 146 GG den speziellen Verfassungsbefehl zur Volksabstimmung über den von einer gewählten Nationalversamml u n g geschaffenen E n t w u r f entnehmen und weist zur Begründung darauf hin, A r t . 146 GG habe ursprünglich n u r von der W a h l einer verfassunggebenden Nationalversammlung gesprochen, u m erst später seine allgemeine Fassung zu erhalten (Bonner Kommentar, Erl. zu A r t . 146). Diese Änderung der Bestimm u n g i m Laufe ihres Entstehungsverfahrens (siehe hierzu Doemming u. a., Entstehungsgeschichte Grundgesetz S. 925) zwingt freilich nicht zu einer solchen Interpretation. Näher liegt die Annahme, die endgültige Fassung habe die Volksabstimmung möglich gemacht, sie aber nicht notwendig werden lassen. 98

v. Mangöldt, Grundgesetz, A r t . 146 A n m . 2 (S. 668).

1. K a p i t e l : Plebiszitäre u n d repräsentative Verf assunggebung

107

2. Rechtssatzrang und Rechtssatzentstehung Da nach allgemeinem deutschem Staatsrecht plebiszitäre und repräsentative Entstehungsweisen prinzipiell gleichwertige Formen der Normerzeugung i m Rechtssinne sind, kann sich der Rang eines Rechtssatzes i m Stufenbau einer demokratisch organisierten Rechtsordnung grundsätzlich nicht danach bemessen, i n welchem Ausmaß das Volk an der Entstehung dieses Rechtssatzes mitgewirkt hat". Eine Zweiteilung des staatlichen Rechts i n unmittelbar und mittelbar vom Volk gesetzte Normen ist für deren staatsrechtlichen Rang ohne unmittelbare Bedeutung. Weder bedingt der besondere Rang der Verfassung, daß sie vom Volke unmittelbar beschlossen werden muß noch begründet die unmittelbare Sanktion des Volkes den besonderen Rang einer Verfassung 100 . Der Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués, auf der nach französischer Lehre die Überordnung der Verfassung über das Gesetz beruht, entspricht nicht das plebiszitäre bzw. repräsentative Verfahren der Normerzeugung 101 . Da es somit an einer Zuordnung von Normgattung und Verfahrensweise fehlt, muß die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt darauf verzichten, durch das leicht faßbare Kriterium der Entstehungstechnik verfassunggebende und gesetzgebende Gewalt voneinander abzugrenzen. Daß damit die Unterscheidung beider Gewalten schwierig geworden ist, w i r d von der plebiszitären ebenso wie von der repräsentativen Theorie her festgestellt 1 0 2 . Zwar bleibt es dem Verfassunggeber unbenommen, von einem bestimmten Begriff der Volkssouveränität her die Erzeugung von Ver fassungsrecht plebiszitär, die Erzeugung von Gesetzesrecht dagegen repräsentativ zu gestalten. Er kann auch den Vorrang der plebiszitär erzeugten Norm innerhalb einer Normgattung und auf derselben Normstufe anordnen. Verbindlich ist diese Systematik jedoch nicht vorgegeben. Daher kann eine Verfassungsordnung auch die unmittelbare M i t wirkung des Volkes i m Verfahren der Verfassungsrevision nur für den Fall vorsehen, daß eine bestimmte parlamentarische Mehrheit für das Änderungsvorhaben nicht erreicht wird, zugleich aber auf der Gesetzesstufe die Möglichkeit einer Volksinitiative allgemein verankern 1 0 3 . 99

Siehe i n diesem Zusammenhang auch Hildegard Krüger, DVB1. 62, 581 ff. (584). Vgl. aber f ü r die nordamerikanische Theorie v. Mangoldt, Geschriebene Verfassung S. 9 und G. Jellinek, Staatslehre S. 519. I h r liegt die allgemeine These zugrunde, „ i n einem popular government" gehe „der v o m V o l k u n m i t t e l bar geäußerte W i l l e den Willensäußerungen seiner Repräsentanten" vor (v. Mangoldt, a. a. O.). Z u m französischen Standpunkt siehe Redslob S. 151. 101 Siehe auch Zweig S. 129. 102 Siehe Jagmetti S. 197 einerseits u n d Leisner, Verfassunggebung S. 140 andererseits. 103 Siehe z. B. i n der Verf. v. N R W v. 28. 6.1950 A r t . 69 Abs. 2 einerseits und A r t . 68 Abs. 1 u n d 2 andererseits (GVB1. S. 127). Aus allgemeinen staats100

108

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Ebenso bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber des Art. 79 GG i m Wege der Verfassungsänderung lediglich in das Verfahren der Gesetzgebung plebiszitäre Elemente einfügt 104 . Auch Herzog w i l l wohl nicht den Vorrang der Verfassung aus ihrer besonderen Entstehungs/orm ableiten, wenn er ihn damit begründet, daß die Verfassung „vom Träger der verfassunggebenden Gewalt geschaffen" ist und „demgemäß allen Äußerungen abgeleiteter Staatsgewalt vorgeht 1 0 5 ". Diese Feststellung ist ebenso i m Zusammenhang mit der französischen Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués zu verstehen wie die Überlegungen von Quaritsch zur „demokratischen Intensität" als Kriterium des Normranges i m Stufenbau der Rechtsordnung 106 . Die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Rechtsetzungstechnik legt dieser wohl nur scheinbar zugrunde, wenn er Begriffe wie „demokratische Intensität" und „unmittelbare" Zurechnung der Verfassung zum V o l k 1 0 7 verwendet und mit deren Hilfe die Verfassung vom einfachen Gesetz abgrenzt, bei dessen Entstehung die Staatsgewalt des Volkes bereits „einfach" „mediatisiert 1 0 8 " wird. Das Rangverhältnis von Verfassung und Gesetz w i r d vielmehr bei Quaritsch durch die Zuordnung der Verfassung zum (ursprünglichen) pouvoir constituant bzw. durch die Zuordnung des Gesetzes zu den (abgeleiteten) pouvoirs constitués bestimmt. Denn ohne diese „Schichten"-Vorstellung würde das unmittelbar beschlossene Gesetz eine höhere „demokratische Intensität" aufweisen als die i m repräsentativen Verfahren entstandene Verfassung. Aber auch das repräsentativ erzeugte Gesetz würde nur insofern einer repräsentativ gegebenen Verfassung an „demokratischer Intensität" nachstehen, als im Falle der originären Verfassunggebung die Rechtsmacht ad hoc, i m Falle der Gesetzgebung dagegen generell dem Rechtserzeugungsorgan übertragen wird. Ist der repräsentative Gesetzgeber befugt, unter bestimmten Vorrechtlichen Erwägungen ist die Anwendung der Initiativbestimmung auf das Verfahren der Verfassungsänderung nicht geboten. Zum Streit um die Zulässigkeit eines Volksbegehrens im Verfahren der Verfassungsänderung siehe Fleck in: Geller-Kleinrahm-Fleck, Art. 68 Anm. 2 b aa (S. 439) und Art. 69 Anm. 5 (S. 447), aber auch Vogels, Art. 68 Anm. 3 (S. 134). Das parallele Problem werfen Art. 123 und Art. 125 d. Verf. d. Freien Hansestadt Bremen v. 21.10.1947 (GVB1. S. 251) auf. 104

A. A. aber H a m m S. 96 f. Herzogs. 82. 108 Siehe Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 7 ff., 59. 107 a. a. O. S. 7. Von i h r spricht Quaritsch i m übrigen auch i m Zusammenhang m i t dem Parlamentsgesetz (a. a. O., S. 31). 108 Quaritsch, a. a. O. S. 7. Die Rechtsverordnung ist nach seiner Auffassung bereits „doppelt mediatisiert" (a. a. O.). Übrigens spricht schon Loewenstein i m Zusammenhang m i t dem pouvoir constituant von einer „unmediatisierten Selbstorganisationsbefugnis der Gesamtheit" (Volk und Parlament S. 159). 105

1. Kapitel: Plebiszitäre und repräsentative Verfassunggebung

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aussetzungen die Verfassung zu ändern, entfiele sogar jeder Unterschied. M i t der verfahrensorientierten „Volksnähe" läßt sich daher i n keinem Falle der Vorrang einer vom verfassungsändernden Gesetzgeber erzeugten Verfassungsnorm gegenüber dem Gesetz begründen. Bei der unmittelbaren Erzeugung von Verfassung und Gesetz kann schließlich ein Unterschied an „demokratischer Intensität" nur noch mit Hilfe der Unterscheidung von ursprünglicher und abgeleiteter Gewalt nachgewiesen werden. Freilich bereitet die Einstufung des verfassungsändernden Gesetzes und der ihm zugrunde liegenden Gewalt auch der Lehre vom pouvoir constituant Schwierigkeiten. Sie sind an späterer Stelle noch aufzuzeigen. I m vorliegenden Zusammenhang genügt es festzustellen: Auch für Quaritsch beruht der Vorrang der Verfassung auf dem Vorrang des pouvoir constituant an sich als einer ursprünglichen und unabgeleiteten Gewalt und nicht auf dem Vorrang eines bestimmten Erzeugungsverfahrens 10 *.

3. Verfassunggebende und Verfassungsabstimmung

Versammlung durch das Volk

Eine vom Volk mit verfassunggebender Gewalt ausgestattete Versammlung kann die Verfassung feststellen und sanktionieren, ohne daß es einer M i t w i r k u n g des Volkes über den A k t der Vollmachtserteilung an die Versammlung hinaus bedarf. Die Entscheidung einer verfassunggebenden Körperschaft, ihr Verfassungswerk (dennoch) dem Volk zur Abstimmung vorzulegen 110 , ist daher niemals Ausfluß einer rechtlichen Verpflichtung 111 . Von der Würdigung eines solchen Vorlagebeschlusses als politischem A k t ist die Qualifikation der dann folgenden 109 Daß Quaritsch seiner Stufenvorstellung die Unterscheidung von pouvoir constituant u n d pouvoirs constitués zugrunde legt, läßt sich auch durch andere Äußerungen belegen. So bezeichnet er die Verfassung als „die erste, einmalige" Totalentscheidung des Volkes (Parlamentsgesetz S. 7). Die Hechtsmacht des verfassungsändernden Gesetzgebers beschränkt er dementsprechend i n dem Sinne, daß dieser „die grundlegenden Entscheidungen des pouvoir constituant nicht korrigieren" darf (a. a. O.). Für das Verhältnis von V e r fassung u n d Gesetz einerseits und Verordnung andererseits ist freilich das K r i t e r i u m der „demokratischen Intensität" auch i n seinem verfahrensmäßigen Sinne verwendbar. Zweifel an der Richtigkeit der i m Text vertretenen Interpretation der Thesen Quaritschs ergeben sich ferner daraus, daß dieser das Parlamentsgesetz als „einfach" u n d die Rechtsverordnung als „doppelt" mediatisiert bezeichnet (a. a. O.), obgleich die französische Lehre innerhalb der pouvoirs constitués nicht weiter differenziert. 110 Z u einem staatsrechtlichen Beispiel siehe Hans Kutscher, Der französische Verfassungsentwurf vom 19. A p r i l 1946 und die französische Verfassung vom 13. Oktober 1946, AöR 74, 51 ff. (51 f.). 111 Vgl. J. Curtius, Volksinitiative S. 12; K ö h l m a n n S. 110; Maunz, Staatsrecht S. 48 u n d Schlenker S. 82. Eine n u r knappe Mehrheit f ü r die Verfassungsannahme i n der verfassunggebenden Körperschaft kann z. B. den poli-

110

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Abstimmung durch das Volk zu trennen. Sie erlangt praktische Bedeutung vor allem dann, wenn die Mehrheit des Volkes dem vorgelegten Verfassungswerk die Zustimmung versagt. Man könnte i n der Stellungnahme des Staatsvolkes von vornherein einen Unterfall des Plebiszits i m Sinne der Zustimmimg zu einer bereits vollzogenen oder unwiderruflichen gesetzgeberischen Maßnahme 1 1 2 sehen und ihr daher keine staatsrechtliche Bedeutung beimessen 118 . Dann würde man freilich die entscheidende Frage nach dem noch möglichen rechtlichen Beitrag des Staatsvolkes zur Ingeltungsetzung der Verfassung überspringen. Als Parallelfall bietet sich das fakultative Referendum über den Gesetzesbeschluß einer parlamentarischen Körperschaft an 114 . Doch ist die mit diesem Institut aufgeworfene Frage, ob die Verbindlichkeit des repräsentativen Gesetzesbeschlusses bis zur Zustimmung durch das Volk aufgeschoben ist oder durch eine ablehnende Entscheidung des Volkes aufgelöst wird 1 1 5 , i m vorliegenden Zusammenhang zweitrangig. Bei ihrer Lösung geht es nur um die passende Konstruktion für eine grundsätzlich feststehende Abhängigkeit der Gesetzesgeltung von der Zustimmung des Volkes. Denn ohne diese kann die parlamentarisch erzeugte Rechtsnorm letztlich keine Verbindlichkeit erlangen. Eine derartige Rechtsregel besteht aber gerade für den Fall nicht, daß eine Versammlung m i t verfassunggebender Gewalt ausgestattet ist. Nach den Regeln über die verfassunggebende Gewalt i m formellen Sinne11® kann die Zustimmung des Staatsvolkes zu einer Verfassung nur dann Bedingung der Verfassungsgeltung sein, wenn der Durchführung einer Volksabstimmung nach dem Willen der verfassunggebenden Gewalt eine derartige juristische Bedeutung zukommen soll. Die verfassunggebende Versammlung ist für eine solche Entscheidung zuständig, da sie die erforderliche verfassunggebende Gewalt besitzt. Denn man w i r d davon ausgehen können, daß das Staatsvolk regelmäßig i m Wahlakt einer zum Zwecke der Verfassunggebung konstituierten Versammlung die verfassunggebende Gewalt i m materiellen und i m formeltischen Entschluß zur Vorlage der Verfassung auslösen. A b e r auch die i r r tümliche Annahme der Versammlung, zur Vorlage des Verfassungswerkes an das V o l k verpflichtet zu sein, k a n n einen solchen Beschluß bedingen. Vgl. hierzu K ö h l m a n n S. 111 f. 112 Siehe oben S. 93, A n m . 2. na z β Fetzer S. 13. Z u r staatsrechtlichen Beurteilung solcher Plebiszite vgl. Heyen S. 28 A n m . 2 u n d C. Schmitt, Verfassungslehre S. 86 f.; zu den nationalsozialistischen Plebisziten vgl. H. Schneider, Volksabstimmungen S. 160 ff. 114 115 118

Siehe ζ. B. A r t . 73 WRV. Vgl. hierzu Fetzer S. 55 f. Siehe hierzu oben 1. Abschnitt, 3. Kapitel, Β I I .

1. K a p i t e l : Plebiszitäre u n d repräsentative Verfassunggebung

111

l e n S i n n e ü b e r t r ä g t . E i n e D e l e g a t i o n der V e r f a h r e n s g e w a l t findet dagegen n i c h t b e i der W a h l einer verfassungsberatenden V e r s a m m l u n g statt. B e s t i m m u n g e n ü b e r das (weitere) V e r f a h r e n der V e r f a s s u n g g e b u n g i n e i n e m E n t w u r f , den e i n verfassungsberatendes O r g a n e r s t e l l t hat, h a b e n daher n u r die B e d e u t u n g eines r e c h t l i c h u n v e r b i n d l i c h e n V o r schlags 1 1 7 . A u f G r u n d d e r A u s s t a t t u n g m i t verfassunggebender G e w a l t i m f o r m e l l e n S i n n e k a n n also eine verfassunggebende V e r s a m m l u n g die i m W a h l v o r g a n g v o m V o l k getroffene E n t s c h e i d u n g f ü r e i n repräsentatives V e r f a h r e n z u g u n s t e n einer u n m i t t e l b a r e n rechtserhebl i c h e n E i n b e z i e h u n g des S t a a t s v o l k e s 1 1 8 i n das V e r f a h r e n d e r V e r f a s s u n g g e b u n g a b ä n d e r n 1 1 9 . D i e Z u s t i m m u n g des V o l k e s z u m Verfassungsw e r k der verfassunggebenden V e r s a m m l u n g w i r d d a m i t z u r B e d i n g u n g 1 2 0 der V e r f a s s u n g s g e l t u n g 1 2 1 . O b e i n solcher Ä n d e r u n g s b e s c h l u ß 1 2 2 117 Diese Ansicht wurde auch i m Zusammenhang m i t der Entstehung der Schweizerischen Bundesverfassung von 1848 vorgetragen. Siehe hierzu Fleiner, Gründung S. 29. Dagegen sieht es Barbey als logisches Gebot an, daß Bestimmungen, z. B. eines Verfassungsentwurfs, über das Verfahren u n d die Voraussetzungen der Ingeltungsetzung einer Verfassung rechtliche Verbindlichkeit besitzen, w e i l sich nach ihnen das Inkrafttreten der Verfassung bemessen soll (S. 573 A n m . 53). Ferner beurteilt Bachof A r t . 144 Abs. 1 GG als zwingende Verfahrensnorm für die Gültigkeit des Grundgesetzes. Er hält a l l gemein die Legalitätsfrage bei der Entstehung einer Verfassung dann f ü r sinnvoll, w e n n die Verfassungsurkunde selbst i h r Inkrafttreten v o n Bedingungen abhängig macht (Verfassungsnormen S. 33). 118 Danco qualifiziert die Einfügung des A r t . 144 GG i n das Grundgesetz durch den w o h l nach seiner Ansicht m i t verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Parlamentarischen Rat als A k t der „Selbstbindung des Parlamentarischen Rats" (S. 42). 110 Nach der Ansicht des BVerfG (Urt. v. 23.10.1951, BVerfGE 1, 14 ff. — 61) besteht die Unabhängigkeit einer verfassunggebenden Nationalversammlung bei der Erfüllung ihres Auftrags auch „hinsichtlich des Verfahrens, i n dem die Verfassung erarbeitet w i r d " . A n ein Abänderungsrecht i m beschriebenen Sinne hat das Gericht freilich nach dem Zusammenhang, i n dem es diese Feststellung getroffen hat, k a u m gedacht. 120

Z u r K o n s t r u k t i o n i m einzelnen siehe K ö h l m a n n S. 110.

121

Maunz geht zwar davon aus, daß einer solchen A b s t i m m u n g des Staatsvolkes grundsätzlich keine „rechtsschöpferische Bedeutung, w o h l aber p o l i t i sches Gewicht zukommt". Er hält es aber auch f ü r möglich, daß eine verfassunggebende Versammlung „ i h r Werk von deren Ergebnis abhängig macht" (Staatsrecht S. 48). Schlenker sieht i n dem fraglichen Volksentscheid keinen „Ausfluß des pouvoir constituant" mehr (S. 82). Denn nach seiner Ansicht „setzt" das Repräsentationsorgan „frei die Norm, aus der er (seil, der Volksentscheid) seine Verbindlichkeit ableitet" (S. 83). 122 Sein I n h a l t k a n n auch auf eine Abspaltung beratender Funktionen gehen. Danco weist als Beispiel hierfür auf das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt v o m 10.2.1919 (RGBl. S. 169) hin. Von einer „Selbstbeschränk u n g " der Nationalversammlung w i r d man freilich angesichts der nur beratenden u n d begutachtenden Funktionen des Staatenausschusses nicht sprechen können. Stier-Somlo, auf den sich Danco beruft (S. 42), stellt denn auch eine Selbstbeschränkung n u r f ü r bestimmte Fälle der Gesetzgebung fest (I S. 202).

112

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

i m Einzelfall i n der Entscheidung einer verfassunggebenden Versammlung, die Verfassung dem Volke vorzulegen, zu sehen ist, hängt von den konkreten Umständen ab und muß gegebenenfalls durch Auslegung ermittelt werden.

Zweites Kapitel Das mehraktige Verfahren der Verfassunggebung A. Das Rechtsproblem des Art. 41 der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 19461 I. Die Entstehungsgeschichte des Art. 41 der Hessischen Verfassung 2

Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches i m Jahre 1945 setzte die amerikanische Militärregierung u. a. eine „Groß-Hessische Regierung" ein. Diese erließ i m Rahmen ihrer gesetzgebenden Gewalt mit Genehmigung der Besatzungsmacht am 22. November 1945 ein sogenanntes vorläufiges Staatsgrundgesetz 3. I n Art. 9 dieser provisorischen Verfassung wurde die Hessische Staatsregierung mit der Vorbereitung einer demokratischen Verfassung beauftragt. A m 16. Mai 1946 erließ daraufhin das mit gesetzgebender Gewalt ausgestattete „Groß-Hessische Staatsministerium" ein Wahlgesetz für die verfassungsberatende GroßHessische Landesversammlung 4 . Dieses bestimmte i n seinem § 2 als Aufgabe der zu wählenden Versammlung die Vorbereitung einer Verfassung für das Land Groß-Hessen. Der ausgearbeitete Verfassungsentw u r f sollte nach der genannten Vorschrift i n Kraft treten, wenn er durch einen Volksentscheid „gebilligt" werden würde. Nach dem Zusammentritt der verfassungsberatenden Versammlung erließ die „Groß-Hessische Regierung" alle weiteren Gesetze, die i m Zusammenhang mit der Verfassunggebung standen, „ i n Übereinstimmung mit den Beschlüssen der verfassungsberatenden Landesversammlung", so u. a. das Gesetz betreffend den Volksentscheid über die Verfassung des Landes Hessen vom 14. Oktober 19465. Nach diesen Gesetzen® sollte 1

GVB1.S.229. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 41 Hess. Verf. w i r d hier i n ihren wesentlichen Zügen dargestellt, da die Vorgänge k a u m mehr allgemein gegenw ä r t i g sind. Ihre Wiedergabe folgt den ausführlichen Darstellungen i m Urt. d. Hess. S t G H v. 20. 7.1951 (AöR 77, 469 ff.) sowie bei Giese (Gutachten Hessen S. 1 ff.) und Zinn-Stein (I, Einf . I I — S. 54 ff.). 2

5

GVB1.S.23. GVB1.S. 139. 5 GVB1.S. 177. • Sie sind bei Giese (Gutachten Hessen S. 2) aufgeführt. 4

8 Steiner

114

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

der von der Landesversammlung zu beschließende Verfassungsentwurf den Gegenstand des Volksentscheids bilden. A r t . 41 Hess. Verf. erhielt i n der zweiten Lesung laut Sitzungsprotokoll folgende Fassung: (1) M i t Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. i n Gemeineigentum überführt: der Bergbau... und das an Schienen und 7 Oberleitungen gebundene Verkehrswesen,

2. ... (2) Das Nähere bestimmt das Gesetz. (3) Wer Eigentümer eines danach i n Gemeineigentum zu überführenden 7 Betriebes oder m i t seiner Leitung betraut ist, hat ihn als Treuhänder des Landes bis zum Erlaß von Ausführungsgesetzen weiterzuführen." Über Art. 41 Hess. Verf. sollte auf Verlangen der Militärregierung 8 i m Rahmen des Volksentscheids gesondert abgestimmt werden. Dementsprechend wurde das Gesetz betreffend den Volksentscheid über die Verfassung des Landes Hessen vom 14. Oktober 19469 durch das Gesetz zur Abänderung dieses Gesetzes vom 30. Oktober 194610 geändert 11 . Gegenüber der protokollarisch ausgewiesenen Fassung der zweiten Lesung unterscheidet sich der i m Änderungsgesetz niedergelegte und am 18. Dezember 1946 ausgefertigte und verkündete Text des Art. 41 i n zwei Punkten: (1) M i t Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau . . . und das an Schienen oder 7 Oberleitungen gebundene Verkehrswesen, 2. . . . (2) Das Nähere bestimmt das Gesetz. (3) Wer Eigentümer eines danach i n Gemeineigentum überführten 7 Betriebes oder mit seiner Leitung betraut ist, hat ihn als Treuhänder des Landes bis zum Erlaß von Ausführungsgesetzen weiterzuführen." 7

Hervorhebung v o m Verfasser. Die weitere M i t w i r k u n g der Besatzungsmacht beim Verfahren der Verfassunggebung bleibt hier außer Betracht. • GVB1.S. 177. 10 GVB1.S. 188. 11 Die gesonderte A b s t i m m u n g über einen bestimmten A r t i k e l oder eine zusammenhängende Mehrheit von A r t i k e l n eines Verfassungsentwurfes findet sich nach dem zweiten Weltkrieg i n Deutschland nicht nur bei der hessischen Verfassunggebung. Weitere Beispiele f ü h r t Schlenker (S. 126) an. 8

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

115

Diese Fassung findet sich auch auf dem Volksentscheidzettel II. Sein Text leitet mit der Frage ein: „Stimmen Sie für die Aufnahme folgenden Art. 41 i n die Verfassung des Landes Hessen ...?". Auch die amtlichen Plakate auf den Litfaßsäulen enthielten die geänderte Fassung. Der Volksentscheid fand am 1. Dezember 1946 statt. Die Mehrheit stimmte sowohl dem Verfassungsentwurf i m ganzen als auch dem Art. 41 zu. Damit war die Verfassung in Kraft getreten. A m 11. Dezember 1946 folgten Ausfertigung und Verkündung 1 2 .

I I . Das gerichtliche Verfahren

Der Streit um die Rechtsgültigkeit des Art. 41 Hess. Verf. wurde vor den Staatsgerichtshof des Landes Hessen gebracht. Dieser vertrat i n seinem Teilurteil vom 20. Juli 195113 die Ansicht, die Neufassung des Art. 41 Hess. Verf. sei durch die verfassungsberatende Landesversammlung i n der dritten Lesung beschlossen worden. Man habe jedoch aus Versehen die Textänderung nicht protokolliert. Die verkündete Fassung entspreche also der von der Landesversammlung beschlossenen und vom Volke gebilligten Formulierung. Daran hielt der Gerichtshof auch i m Wiederaufnahmeverfahren durch Beschluß vom 18. Januar 1952 fest 14 . I n diesem Verfahren sollte durch Vorlage neuer Urkunden und weitere Beweiserhebungen der Nachweis geführt werden, daß die gerichtliche Klärung des Sachverhalts i m Urteil vom 20. Juli 1951 i m entscheidenden Punkt unrichtig gewesen sei 15 . Damit brauchte der Gerichtshof nicht die rechtlichen Fragen abschließend zu erörtern, die sich aus einem Unterschied zwischen dem durch die Landesversammlung erstellten und dem zur Volksabstimmung vorgelegten Text ergeben hätten 16 . I m fol12

GVB1.S.229. AöR 77,469 ff. 14 Siehe AöR 77, 495. 15 Die Ansicht, der dem Volke vorgelegte T e x t des A r t . 41 Hess. Verf. stamme nicht von der verfassungsberatenden Versammlung, vertreten z. B. E. R. Huber (Wirtschaftsverwaltungsrecht I I S. 181) u n d Giese (Gutachten Hessen S. 5). Kritisch zur Lösungsmethode des Hess. S t G H Jahrreiß, Gutachten Hessen S. 5 ff. 10 Der Staatsgerichtshof ging i n rechtlicher Hinsicht davon aus, daß die Rechtsgültigkeit der Aufnahme des A r t . 41 i n die Hessische Verfassung an den vorausgegangenen verfahrensleitenden Gesetzen zu messen sei (a. a. O,, S. 471). Daher w a r die Feststellung des Sachverhalts f ü r i h n n u r i m Hinblick auf das Verhältnis der entsprechenden vorkonstitutionellen Gesetze zueinander von Bedeutung. Nach § 2 des Wahlgesetzes f ü r die verfassungsberatende Landesversammlung v o m 16. 5.1946 (GVB1. S. 139) konnte n u r der von der Landesversammlung geschaffene Verfassungsentwurf Gegenstand des Volksentscheides sein. Bei einer Abweichung des i m Abänderungsgesetz v o m 30.10.1946 (GVB1. S. 188) enthaltenen Textes von der durch die Landes Versammlung beschlossenen Fassung hätte der Gerichtshof daher — w i e er selbst zutreffend 13

8*

116

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

genden ist die Abweichung unterstellt, um die juristische Problematik des Sachverhalts zu erhalten. Von den durch Art. 41 Hess. Verf. aufgeworfenen Problemen interessiert i m vorliegenden Zusammenhang nur die Frage nach der Rechtsgültigkeit dieser Bestimmung. Der durch das zitierte Teilurteil des Hessischen Staatsgerichtshofs vom 20. J u l i 1951 nicht entschiedene Streit um die Rechtsuuricimgren des als geltendes Recht vorausgesetzten Art. 41 Hess. Verf. bleibt außer Betracht 17 . Es ging i n ihm i m wesentlichen um die Frage, ob Art. 41 Hess. Verf. die Sozialisierung i n dem von ihm vorgesehenen Umfang mit dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens sofort und unmittelbar herbeigeführt hat oder ob die angeordnete Sozialisierung erst durch entsprechende Vollzugsakte wirksam werden konnte 18 .

I I I . Die staatsrechtliche Fragestellung

Das mehraktige Verfahren der Verfassunggebung durch Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf einer gewählten verfassungsberatenden Versammlung ist der Verfassungsgeschichte geläufig und vor allem durch die Praxis der nordamerikanischen Bundesstaaten i n der „Kombination von Konventions- und Verfassungsreferendum 19 " zu einem Verfahrensmodell geworden. Je nach der Akzentuierung seines repräsentativen oder seines plebiszitären Bestandteils kann man von einem teilrepräsentativen 20 oder teilplebiszitären 21 Verfahren sprechen. Die Frage nach der rechtlichen Struktur dieses mehraktigen Verfahrens läßt sich aufgliedern. Sie betrifft zunächst die Rechtserheblichkeit herausstellt (a. a. O., S. 472) — die Frage erörtern müssen, ob das Abänderungsgesetz v o m 30.10.1946 dem Volksentscheid als Rechtsgrundlage dienen konnte. 17 E. R. Huber unterscheidet zwischen der Frage nach der „Legalität" und der Frage nach der „ A k t u a l i t ä t " des A r t . 41 Hess. Verf. (Wirtschaftsverwaltungsrecht I I S. 181). Z u r letzteren Frage siehe a. a. O., S. 182 ff. 18 Z u diesem Problemkreis sind vor allem die sog. Wetzlarer Märzgutachten aus dem Jahre 1952 erstattet worden. Sie berühren das Geltungsproblem n u r zum T e i l u n d am Rande. I n der Regel unterstellen sie die Rechtsgültigkeit des A r t . 41 Hess. Verf. Vgl. z. B. H. P. Ipsen, Rechtsgutachten zu A r t . 41 der Verfassung des Landes Hessen v o m 11. Dezember 1946, Wetzlar März 1952, S. 3. Auch Carl Heyland ist bereits von der rechtsgültigen A u f nahme des A r t . 41 i n die Hessische Verfassung ausgegangen (Die Sozialisierungsbestimmungen der Verfassung des Landes Hessen v o m 11.12.1946 als Rechtsproblem, Gießen 1951, S. 28). Eine Übersicht über die umfangreiche L i teratur geben E. R. Huber (a. a. O., S. 180 ff.) und Zinn-Stein (I S. 215). 19 Loewenstein, V o l k und Parlament S. 126. 20 Die dogmengeschichtliche L i t e r a t u r verwendet hier den Begriff „gouvernement semi-réprésentatif". Siehe Loewenstein, a. a. O., S. 155 u n d Redslob S. 108. 21 M a n kennt auch den Begriff „semi-plebiszitäres" Verfahren. Siehe H i l desheimer S. 48, 55 f.

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

117

des repräsentativen Teilaktes und ist für eine juristische Typologie der Verfassungsentstehungsweisen von Bedeutung. Denn handelt es sich um einen „Gesamtakt mehrerer Organe" auch i m rechtlichen Sinne 22 , so ist zwischen das rein plebiszitäre Verfahren der Abstimmung über einen „irgendwie 2 3 " zustande gekommenen Entwurf und das vollrepräsentative Verfahren ein dritter, juristisch selbständiger Verfahrenstyp einzufügen. Gekennzeichnet ist er dadurch, daß die Erstellung eines Verfassungsentwurfs und die Zustimmung der Mehrheit des Staatsvolkes geltungserheblich sind. Bestimmt man dagegen die Volksabstimmung als den i m rechtlichen Sinne „allein verfassungsschöpfenden A k t 2 4 " und nimmt die verfassungsberatende Versammlung nur die Funktion einer „Redaktionskörperschaft 25 " wahr, so bleiben die dem Volksentscheid vorausgehenden Verfahrensteile ohne rechtlichen Bezug zur Verfassungsgeltung. Eine nähere Untersuchung der mehraktigen Entstehungstechnik unter diesem rechtswissenschaftlichen Aspekt fehlt, soweit ersichtlich, vor dem Schrifttum zum hessischen Verfassungsstreit. Lediglich in der dogmengeschichtlichen Darstellung der klassischen Volkssouveränitätslehre findet sich die dogmatisch wenig aufschlußreiche Feststellung, der „Schwerpunkt" eines solchen Verfahrens liege im Akte der Volksabstimmung 28 . Über diese bloße Akzentuierung hinaus geht wohl nur noch Loewenstein mit seiner Feststellung, i n Rousseaus Lehre äußere sich der „Gemeinwille" „zwingend erst i m Gesamtakt der ratifikatorischen Sanktion 2 7 ". Schließlich knüpft sich an das teilrepräsentative bzw. teilplebiszitäre Verfahren der Verfassunggebung noch eine weitere, über die eben aufgezeigte Problemstellung hinausgehende Frage an: Ist das Staatsvolk beim Abstimmungsvorgang in dem Sinne an den ihm vorgelegten Verfassungsentwurf gebunden, daß es nur diesem Verbindlichkeit verleihen kann? Bejaht man dies, so ist damit notwendig auch die Frage nach der Rechtserheblichkeit des repräsentativen Verfahrensteils positiv be22 Darüber ist m i t der Feststellung, ein „konstituierender Gesamtakt mehrerer Organe" sei „ein dem konstitutionellen u n d demokratischen Staatsrecht seit langem geläufiger Vorgang" (Grewe, Gutachten Hessen S. 21 f.), noch nichts gesagt. 23 C. Schmitt, Verfassungslehre S. 86. 24 Maunz, Gutachten Hessen S. 21. Nach seiner Ansicht „überlagert" der Abstimmungsakt alle dem Volksentscheid vorausgehenden Vorgänge u n d „setzt ihnen selbst" „ e i n Ende" (a. a. O.). 25 Loewenstein, a. a. O., S. 138. 28 Siehe Loewenstein, V o l k und Parlament S. 155 und ferner K ö h l m a n n S.109. 27 a. a. O. Damit spricht er w o h l auch mehr als Redslob aus, auf den er sich an dieser Stelle beruft. Dieser deutet Rousseau (Contrat social I I 1) w o h l nur i n dem Sinne, daß die Sanktion rechtsnotwendig dem Volke verbleiben muß und die gewählte Versammlung keine endgültigen Beschlüsse fassen k a n n (S. 107 f.). Vgl. i m übrigen auch Contrat social I I I 15.

118

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

antwortet. Das Schrifttum zum Geltungsproblem des Art. 41 Hess. Verf. leitet freilich auch umgekehrt aus der Qualifizierung des repräsentativen Verfahrensteils als rechtserheblichen Akts die Bindungswirkung des Entwurfs ohne weiteres ab. Es hat daher, anders als die vorliegende Untersuchung, keinen Anlaß, das Qualifikationsproblem von der Frage nach der Bindung des Volkes an den Entwurf zu trennen. Beide Fragestellungen gehören zum Kreis der staatsrechtlichen Probleme, die durch den Versuch aufgeworfen werden, das „Ineinandergreifen" repräsentativer und plebiszitärer Akte in einem Rechtsetzungsverfahren dogmatisch zu bewältigen. Sie haben vor allem die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit angesichts eines unbefangenen Verfassungstextes beschäftigt 28 .

B. Lösungsversuche zum Geltungsproblem des Art. 41 der Hessischen Verfassung I. Das Verhältnis von Verfassungsgeltung und vorkonstitutionellem Verfahrensrecht

1. Problemstellung

und Lösungsvorbehalt

Der Einschaltung des Staatsvolkes i n das Verfahren in der Verfassunggebung durch Wahl oder Sachabstimmung gehen i n aller Regel verfahrensordnende Bestimmungen voraus. Sie „regeln" z.B., unter welchen Voraussetzungen das Stimmrecht ausgeübt werden kann, ob das Staatsvolk einer gewählten Versammlung durch den Wahlakt verfassungsberatende oder verfassunggebende Gewalt überträgt oder i n welchem Verfahren der dem Volk zur Abstimmung vorzulegende Verfassungsentwurf erstellt wird. Solches vorkonstitutionelle Verfahrensrecht ergeht nach revolutionären Vorgängen oft ohne M i t w i r k u n g des Volkes i m demokratisch-technischen Sinne oder w i r d von Organen gesetzt, die vom Volke lediglich mit gesetzgebender Gewalt ausgestattet sind. Seine Existenz w i r f t allgemein die Frage auf, ob und inwieweit die Befolgung und Einhaltung derartiger Vorschriften rechtliche Voraussetzung der Verfassungsgeltung ist 29 . 28

So beklagt z. B. Schlenker, die vielschichtige Problematik solcher V e r fahren sei von der Weimarer Nationalversammlung „dogmatisch weder erkannt, noch durchdacht worden". Auch die Regelungen der Länderverfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Verfahrensfragen der Weimarer Zeit nicht entschieden (S. 110). 29 N u r i n ihrer rechtlichen Bedeutung f ü r die Geltung der Verfassung sind die betreffenden Vorschriften i m vorliegenden Zusammenhang von Interesse.

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

119

Eine Lösung dieser Frage kann hier nur eingeschränkt aus der Sicht des demokratischen Staatsrechts versucht werden. Das Verhältnis sogenannter vorkonstitutioneller Verfahrensnormen zur Geltung der Verfassung w i r d also lediglich vom Begriff und vom Rang der verfassunggebenden Gewalt innerhalb einer demokratisch organisierten Rechtsgemeinschaft her erörtert werden können. Verbindlichkeit und Rang vorkonstitutioneller Verfahrensvorschriften leiten sich jedoch häufig aus anderen als demokratischen 30 Rechtsquellen ab 31 . Die Bestimmung der rechtlichen Beziehung zwischen solchen Verfahrensregeln und der Geltung einer Verfassung hängt dann davon ab, in welchem Verhältnis die Geltungsquellen zueinander stehen 32 . Vor allem durch die Rechtserzeugungsvorgänge während und i m Anschluß an revolutionäre Zustände w i r d das rechtstheoretisch wie praktisch interessante Problem der Fortgeltung von Rechtssätzen beim Übergang von einer Legitimationssphäre in eine andere aufgeworfen 33 . Durch die Rangordnung der Rechtsnormen i n der Organisation der modernen Rechtsgemeinschaft erhält es noch seine besonderen Aspekte. Da die Begründung der demokratischen Rechtsgeltungslehre und damit auch ihr Verhältnis zu den A n sprüchen anderer Theorien auf ausschließliche Bestimmung der Geltungsfaktoren offengeblieben sind, kann die rechtliche Einordnung vorkonstitutioneller verfahrensleitender Bestimmungen nur für den demokratischen Raum erörtert werden. Der dadurch bedingte Verlust an praktischer Bedeutung ist freilich für die folgende Untersuchung nicht allzu groß. Denn man w i r d davon ausgehen können, daß auch nicht demokratisch legitimierte Organe durch die Einleitung eines demokratischen Verfahrens zur Schaffung einer freiheitlichen Verfassungsordnung in aller Regel ihren Rechtssätzen Verbindlichkeit und Wirkung in bezug auf die Geltung der Verfassung nur insoweit beimessen wollen, als dies dem demokratischen Verständnis der verfassunggebenden Gewalt entspricht.

30 Das gilt jedenfalls i m Sinne eines normativ verstandenen Begriffs der demokratischen Rechtserzeugung. I n einem soziologischen Sinne kann man dagegen oftmals revolutionär konstituierten Rechtsetzungsorganen die demokratische Legitimation nicht absprechen. 31 Verfahrensregeln demokratischer H e r k u n f t i m Verfassungsrang sind vor allem i m Zusammenhang m i t der Totalrevision einer Verfassung i m formellen Sinne denkbar. Hier liegen die Beziehungen zwischen den Vorschriften der bisherigen Ordnung u n d der Geltung der neuen Verfassung innerhalb eines Rechtsquellenbereichs. Einen weiteren F a l l stellen Verfahrensbestimmungen eines Homogenitätsgebots i n einem bundesstaatlichen Gemeinwesen dar. 82 33

Siehe hierzu auch Poetzsch S. 95 f.

Z u m Problem der Verbindlichkeit sog. Übergangsvorschriften siehe auch Büchel S. 136 ff.

120

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

2. Verfahrensfreiheit und Verfahrensbindung verfassunggebenden Gewalt

der

Der Streit um die rechtsgültige Aufnahme des Art. 41 i n die Hessische Verfassung hat der Rechtsprechung und Lehre insofern Anlaß gegeben, den Geltungswert vorkonstitutioneller Verfahrensnormen zu bestimmen, als die i m Laufe des Entstehungsverfahrens ergangenen Regelungen den Abstimmungsakt des Volkes auf den Verfassungsentwurf der verfassungsberatenden Versammlung festgelegt hatten 34 . Zur Verbindlichkeit einer solchen Zuordnung finden sich dabei i m wesentlichen gegensätzliche Positionen. Einerseits w i r d die Verfassungsgeltung grundsätzlich von der Befolgung vorkonstitutioneller Verfahrensbestimmungen abhängig gemacht, es sei denn, ein solcher Rechtsbestand ist, z.B. infolge revolutionärer Vorgänge, nicht vorhanden 35 . Auf der anderen Seite werden Verfassung und verfassunggebende Gewalt vom vorkonstitutionellen Recht gleich welchen Ursprungs und Rangs gelöst 38 . Diese extremen Auffassungen lassen sich auf eine unterschiedliche Anwendung der französischen Lehre vom rechtsfreien pouvoir constituant auf den Vorgang der Verfassunggebung zurückführen: Während sie nach einer Meinung nur auf die revolutionären Fälle der Verfassunggebung „paßt 3 7 ", bietet sie nach anderer Ansicht eine Theorie der Verfassunggebung und Verfassungsgeltung schlechthin. Nun ist das Verfassungsrecht dem Recht jeder nachgeordneten Normstufe i n einer demokratischen Rechtsordnung auch i n dem Sinne übergeordnet, als seine Geltungsbedingungen nicht von Rechtsnormen i m Range unter dem Verfassungsrecht festgelegt werden können 38 . Vor34

Vgl. oben A I . Vgl. Grewe, Gutachten Hessen S. 6, 7, 16. I m Anschluß an i h n trennt der Hess. S t G H i n seiner Entscheidung vom 20. 7.1951 (AöR 77, 469 ff.) die „ r e i n revolutionäre Verfassungsentstehung" v o m gesetzlich geordneten Verfahren der Verfassunggebung (a. a. O., S. 471). I m letzteren Falle ist der Verfassungsakt meßbar. Die Verletzung einer Verfahrensbestimmung hat prinzipiell die Rechtsungültigkeit der hiervon betroffenen Verfassung oder Verfassungsbestimmung zur Folge (a. a. O.). Die „Legalität" der Verfassungsentstehung ist danach eine Bedingung der rechtlichen Geltung einer Verfassung. 36 Siehe u.a. Maunz, Gutachten Hessen S. 14, 15, 21; ders., Verfassunggebende Gewalt S. 646 und Staatsrecht S. 46 f. sowie Zinn-Stein I, A r t . 41 A n m . 2 e (S. 218). Bildhaft formuliert Bachof, der Träger des pouvoir constituant könne vorkonstitutionelle Vorschriften „jederzeit durch einen A k t u r sprünglicher Verfassunggebung überspielen" (Verfassungsnormen S. 34). V e r fahrensnormen der Verfassungserzeugung sind danach n u r i m Rahmen der Verfassungsänderung denkbar. 37 So sieht Grewe den pouvoir constituant n u r i m Falle eines revolutionären Aktes w i r k s a m werden. Bei einem „staatsrechtlich geregelten A k t zum Zusammenwirken verbundener verfassunggebender Organe" dagegen sind nach seiner Ansicht die „pouvoirs conistitués" am Werk (a. a. O., S. 7.). 38 Siehe i n diesem Zusammenhang auch Klaus Vogel, Der räumliche A n wendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 264. — Damit ist die 35

2. Kapitel: Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

121

k o n s t i t u t i o n e l l e V e r f a h r e n s v o r s c h r i f t e n besitzen dabei Verfassungsr a n g n i c h t schon deshalb, w e i l sie der Schaffung f o r m e l l e n Verfassungsrechts d i e n e n 3 9 . D e m e n t s p r e c h e n d k a n n staatsrechtlich n u r die v e r f a s sunggebende G e w a l t des V o l k e s ( i m f o r m e l l e n Sinne) das V e r f a h r e n der V e r f a s s u n g g e b u n g b e s t i m m e n 4 0 . D i e W i l l e n s b e k u n d u n g e n des V o l kes i n A u s ü b u n g verfassunggebender G e w a l t s i n d „ d e r einzige j u r i s t i sche H a l t 4 1 " des Verfassungsentstehungsverfahrens. Alle anderen rechtsetzenden G e w a l t e n h a b e n — i m m e r rechtlich gesehen — i n bezug auf die Entstehungsweise der V e r f a s s u n g n u r e i n Vorschlagsrecht 4 2 gegenüber d e m V o l k als T r ä g e r der k o n s t i t u i e r e n d e n G e w a l t 4 3 . D i e v e r fassunggebende G e w a l t k a n n i h r e m Wesen nach n i c h t d u r c h Gesetzesrecht, gesetzesgleiches oder d e m Gesetz nachgeordnetes Recht, sondern Bindung an Verfassungsgrundsätze nicht ausgeschlossen, die „so sehr Ausdruck eines der Verfassung vorausliegenden Rechtes sind, daß sie den Verfassungsgesetzgeber selbst binden" (Ent. d. BayerVerfGH v. 24.4.1950, VerwRspr 2, 273 ff. — 280; vgl. ferner Ent. d. Hess. S t G H v. 20. 7.1951, AöR 77, 469 ff. — 470 und Grewe, a. a. O., S. 6). 39 Siehe hierzu auch Maunz, Gutachten Hessen S. 37. 40 So auch Danco S. 23 f. Z u m Vorrang des pouvoir constituant siehe auch Krüger, Sozialisierung S. 52. Soweit Maunz verfahrensleitende Rechtssätze i m Range unter der Verfassung meint, beanstandet er zu Recht, die Bindung der verfassunggebenden Gewalt an vorkonstitutionelles Recht würde dazu f ü h ren,, daß dieses über die Verfassung gestellt w i r d (a. a. O., S. 21; ders., Verfassunggebende Gewalt S. 646). 41 K ö h l m a n n S. 62. Daran schließt sich die Frage an, ob u n d inwieweit Rechtssätze oder Verfahrensakte f ü r die Geltung der Verfassung dadurch Bedeutung gewinnen können, daß das Staatsvolk sie i n Ausübung seiner verfassunggebenden Gewalt i n seinen W i l l e n erkennbar aufnimmt. E i n entsprechender Grundsatz wäre freilich leichter formuliert als i n der Verfahrenswirklichkeit der Verfassunggebung angewandt, sind doch schon die ausdrücklichen und unmittelbaren Entscheidungen der verfassunggebenden Gew a l t des Volkes oft n u r Reaktionen auf vorgegebene Regelungen (siehe hierzu auch P. Hartmann S. 254 A n m . 37). So k a n n zwar i n der Teilnahme des Staatsvolkes an einer W a h l noch die Zustimmung zu einem bestimmten Verfahren der Verfassunggebung gesehen werden. Problematisch w i r d aber schon eine Deutung, die i n einer solchen Mitwirkungshandlung des Volkes eine A n e r kennung der Wahlordnung sieht (so z. B. A r n o l d S. 12 Anm. 3). Dabei liegt die Problematik nicht n u r i n der mangelnden Differenzierbarkeit der Willensbekundungen des Volkes. Vor allem fragt sich hier, ob nicht z. B. die Voraussetzungen, unter denen der einzelne zur Stimmbürgerschaft gehört, auch der verfassunggebenden Gewalt objektiv, wenn auch unpräzisiert vorgegeben sind. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Danco S. 23 f. Möglichkeiten der Disposition bestehen w o h l bei der Mehrheitsfrage. Hier ist denkbar, daß das V o l k m i t einfacher Mehrheit beschließt, über die Verfassungsannahme m i t qualifizierter anstatt m i t einfacher Mehrheit (vgl. Herzog S. 86 und Schlenker S. 83) zu entscheiden. 42 Vgl. i n diesem Zusammenhang das Selbstverständnis der französischen Wahlordnung v o m 11. 8.1792, die nur „vorschlagsweise ein N o r m a t i v " aufstellte (Zweig S. 332). 43 Das ist nur i n bezug auf die Geltung der Verfassung gesagt. Davon u n berührt bleibt der Geltungsanspruch unterverfassungsmäßiger Normen gegenüber anderen Organen, die nicht m i t verfassunggebender Gewalt ausgestattet sind.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

a l l e i n 4 4 d u r c h selbstgesetztes Recht g e b u n d e n w e r d e n 4 5 . D i e F r e i h e i t v o n A n o r d n u n g e n u n t e r v e r f a s s u n g s m ä ß i g e r Rechtssätze genießt jedes m i t verfassunggebender G e w a l t ausgestattete O r g a n 4 8 . Schließlich l ä ß t sich die B i n d u n g der verfassunggebenden G e w a l t an B e s t i m m u n g e n nachgeordneter rechtsetzender G e w a l t e n n i c h t d u r c h eine B e r u f u n g a u f den Rechtsstaatsgedanken 4 7 b e g r ü n d e n , auch w e n n solche V o r s c h r i f t e n i m v o r k o n s t i t u t i o n e l l e n B e r e i c h eine wesentliche O r d n u n g s f u n k t i o n e r f ü l l e n . D e n n das Rechtsstaatsprinzip l ä ß t F o l g e r u n gen, die sich aus der H i e r a r c h i e d e r Rechtssätze f ü r d e n G e l t u n g s z u s a m m e n h a n g der R e c h t s n o r m e n ergeben, u n b e r ü h r t 4 8 , g e w ä h r l e i s t e t also n i c h t eine B i n d u n g an vorhandenes Recht schlechthin. Setzt sich daher das V o l k i n A u s ü b u n g seiner verfassunggebenden G e w a l t ü b e r die v o r k o n s t i t u t i o n e l l e , v o n einer d e m p o u v o i r c o n s t i t u a n t nachgeordneten Gew a l t erlassene B e s t i m m u n g h i n w e g , f ü r das S t a a t s v o l k stehe n u r e i n b e s t i m m t e r V e r f a s s u n g s e n t w u r f z u r Entscheidung, w i r d die Rechtsgelt u n g der V e r f a s s u n g d a d u r c h n i c h t b e r ü h r t 4 9 . 44 Eine grundsätzliche Bindungslosigkeit, auch gegenüber selbstgesetztem Recht, w i r d damit f ü r die verfassunggebende Gewalt nicht i n Anspruch genommen. I n diesem weitergehenden Sinne aber w i r d i h r das A t t r i b u t der „formlos Formenden" zuerkannt (siehe z. B. C. Schmitt, Verfassungslehre S. 79, 81 ; Maunz, Gutachten Hessen S. 14 u n d W. Weber, Gesamtdeutsche Verfassung S. 25). Wenn Maunz formuliert, der Verfassunggeber sei „keine rechtlich organisierte Instanz" (vgl. z. B. a. a. O., S. 14), w i r d hier dieser Ansicht n u r insoweit gefolgt, als die Verfassunggebung nicht durch Rechtssätze der gesetzgebenden Gewalt organisiert werden kann. Maunz scheint i m übrigen letzten Endes die Frage der Regulierbarkeit der Verfassunggebung durch Rechtsnormen i m Verfassungsrang offen zu lassen, w e n n er ausführt, vorkonstitutionelle Verfahrensbestimmungen seien „jedenfalls" dann nicht maßgeblich, „ w e n n sie von vorkonstitutionellen K r ä f t e n aufgestellt werden" (a. a. O.). Siehe aber auch unten S. 122, A n m . 49. 45 Ä h n l i c h w o h l auch Burdeau: „ I I (seil, pouvoir constituant) peut tolérer d'autres règles que Celles q u ' i l se donne au moment ού i l intervieni" (Traité I I I S. 204). Z u r Entstehungswirklichkeit siehe aber auch Η . Schneider, Volksabstimmungen S. 169 ff. 46 F ü r die Rechtsmacht einer verfassunggebenden Versammlung spricht dies das Bundesverfassungsgericht k l a r aus (Urt. v. 23.10.1951, BVerfGE 1, 14 ff. —61). 47 So aber Grewe, Gutachten Hessen S. 20. Kritisch hierzu Maunz, a. a. O., S. 15 u n d ders., Verfassunggebende Gewalt S. 646. 48 Bezüglich der sich aus dem bundesstaatlichen Aufbau eines Gemeinwesens ergebenden Hierarchie der Rechtsnormen stellt Danco fest, die Bestimmungen des Landesrechts könnten keinen rechtlichen Einfluß auf das Verfahren der Schöpfung einer Bundesverfassung nehmen (S. 37 f.). 49 Maunz begründet die Verfahrensfreiheit der verfassunggebenden Gew a l t damit, Vorschriften „ v o n anderer Seite" würden gegen den Grundsatz der Volkssouveränität verstoßen (Gutachten Hessen S. 15). Sein Rückgriff auf die Lehre v o m pouvoir constituant läßt freilich erkennen, daß für i h n die originäre, d.h. die an keinerlei Vorschriften meßbare Verfassunggebung die dem pouvoir constituant wesensgemäße Form der Verfassungsschöpfung ist. Maunz beruft sich i m übrigen auf das U r t e i l des vorläufigen Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich v o m 12. 7.1921 (Lammers-Simons S. 357 ff.; abgedr.

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

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3. Besatzungsrecht und verfassunggebende Gewalt Die vorausgegangenen Feststellungen stehen nicht einer rechtswirksamen Steuerung der Verfassungsentstehung durch vorkonstitutionelles Verfahrensrecht i m Wege, das die Besatzungsmacht bzw. die von ihr besonders autorisierten deutschen Organe, gestützt auf die Ausübung eigener, kraft Völkerrechts für Deutschland verbindlicher 50 oder kraft Völkerrechts „treuhänderisch" verwalteter deutscher 51 Staatsgewalt, auch i n : AöR 42, 79 ff.) w o h l zu Unrecht (a. a. O., S. 14; ders., Verfassunggebende Gewalt S. 646). Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das braunschweigische Gesetz über die Wahlen zu den Gemeindevertretungen und zur Landes Vertretung v o m 15.1.1918 — v o m Arbeiter- und Soldatenrat w i r k sam erlassen — sah i n seinem § 5 für jedes Jahr eine Neuwahl der Landes Versammlung vor. Es stellte sich die Frage, ob diese Fristbestimmung durch § 3 der — von der Landesversammlung beschlossenen — vorläufigen Verfassung v o m 27. 2.1919 stillschweigend für die Dauer der konstituierenden Tätigkeit der Landesversammlung außer K r a f t gesetzt worden war. Dieser § 3 bezeichnete es als Aufgabe der Landesversammlung, dem Lande eine Verfassung zu geben. Er enthielt keine ausdrückliche Bestimmung über die Tagungsdauer. Das Gericht ging i m Zuge der Auslegung des genannten § 3 von dem G r u n d satz aus, eine zeitliche Beschränkung der Tagungsdauer sei m i t der F u n k t i o n einer verfassunggebenden Versammlung unvereinbar (Lammers-Simons S. 365). Einen Beitrag zum Problem der Bindung der verfassunggebenden Gewalt an vorkonstitutionelle Verfahrensvorschriften enthält diese Entscheidung nicht. Denn i n i h r wurde die angeführte Regel n u r herangezogen, u m festzustellen, i n welcher Richtung von einer unbestrittenen gesetzgeberischen Rechtsmacht Gebrauch gemacht worden war. Zudem läßt er n u r die V e r m u tung zu, daß das V o l k i m W a h l a k t die Tätigkeit der verfassunggebenden Gew a l t grundsätzlich nicht befristet. Rechtlich ist das Staatsvolk aber nicht gehindert, die Ausübung von verfassunggebender Gewalt zeitlich zu begrenzen. Auch Poetzsch hält es f ü r zulässig, einer gewählten Versammlung den V e r fassungsauftrag n u r für eine genau bestimmte Zeit zu erteilen (S. 96). Vgl. i m übrigen seine kritischen Bemerkungen zum zitierten U r t e i l des Staatsgerichtshofs S. 95 f. 50 Vgl. z.B. K a r l Geiler, Die gegenwärtige Lage Deutschlands, 1947, S. 13; Erich Kaufmann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, 1948, S. 27 u n d Stödter S. 184. 51 Vgl. z. B. W i l h e l m Grewe, E i n Besatzungsstatut f ü r Deutschland, 1948, S. 81 u n d Urt. d. Obergerichts d. Züricher Kantons v. 1.12.1945, DRZ 47, 31 ff. (33). Die beiden Möglichkeiten einer rechtlichen Qualifikation der von den Besatzungsmächten ausgeübten Gewalt verbindet Henke (Diss. S. 123). Siehe ferner zur Frage der Rechtsnatur W i l l i b a l t Apelt, Betrachtungen zum G r u n d gesetz, N J W 49, 481 ff. (481); Bachof, Verfassungsnormen S. 9 f.; Ipsen, Grundgesetz S. 25 f.; Maunz, Gutachten Hessen S. 12, 15 und N y m a n S. 9. F ü r die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist vor allem die i n diesem Zusammenhang teilweise vollzogene begriffliche Einheit von verfassunggebender Gewalt u n d Staatsvolk interessant. Die verfassunggebende Gewalt erscheint als „urdemokratischer Begriff" (Loewenstein, V o l k u n d Parlament S. 283), deren Ausübung durch die Besatzungsmächte aus der „ N a t u r der Sache" nicht i n Betracht komme (Kölble S. 584; vgl. ferner, seinem Begriff der verfassunggebenden Gewalt entsprechend, Henke S. 135). Siehe hierzu auch Friedrich Klein, Das Besatzungsstatut f ü r Deutschland, SJZ 49, Sp. 738 ff. (743) und v. M a n g ö l d t - K l e i n I, Bern. V I I I zur Präambel (S. 48) einerseits und W i l helm Grewe, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland, I. Das Besatzungsstatut, DRZ 49,265 ff. andererseits.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

erlassen haben. Solche Bindungen der verfassunggebenden Gewalt sind Bindungen „von außen" und i m Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ohne prinzipielles Interesse. Daher werden hier auch nicht solche Lösungen des hessischen Verfassungsproblems erörtert, die die Verbindlichkeit der ergangenen Verfahrensbestimmungen aus der M i t wirkung übergeordneter Besatzungsmacht herleiten 52 und bei der Beurteilung der Frage, ob Art. 41 Hess. Verf. wirksam i n die hessische Verfassung eingefügt wurde, auf die Genehmigung der dem Volk vorgelegten Fassung des Entwurfs durch die zuständigen Besatzungsbehörden abstellen 53 . Von Interesse ist für die Lehre vom pouvoir constituant in diesem Zusammenhang aber die Frage, ob sich eine Verfassung auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes berufen kann, wenn ein Eingriff in deren materielle Befugnisse 54 nicht erfolgt, die Besatzungsmächte aber einen der nach demokratischen Regeln möglichen Verfahrenswege bindend vorgeschrieben haben. Zwar ist auch die verfassunggebende Gewalt i m formellen Sinne ein Bestandteil der konstituierenden Befugnis des Volkes. Doch w i r d man die Verfassung dem Volke zurechnen können, auch wenn ihm die Wahl eines bestimmten demokratischen Verfahrens nicht möglich war. I m übrigen läßt es sich nicht ausschließen, in Verfahrenshandlungen des Volkes, z. B. einer Wahl oder Abstimmung, dessen Zustimmung zu dem eingeschlagenen Verfahrenswege zu sehen, auch wenn dem Volke eine Entscheidung für eine andere Prozedur gar nicht möglich ist 55 . Ebenso w i r d man eine Verfassung dem Staatsvolk i m demokratischen Sinne auch dann zuordnen können, wenn ihr Inkrafttreten an die Zustimmung „von anderer Seite 56 " geknüpft ist 57 . 52

Vgl. hierzu Giese, Gutachten Hessen S. 10 f. und grundsätzlich Z i n n Stein I, Einf. I I I (S. 62). 53

Siehe hierzu Giese, a. a. O., S. 12 if.

34

Die Folgen eines Eingriffs der Besatzungsmächte i n die materiellen Befugnisse der verfassunggebenden Gewalt sind vor allem i m Zusammenhang m i t der Entstehung des Grundgesetzes diskutiert worden. Siehe hierzu Ipsen, Grundgesetz S. 9 f.; Krauss S. 581; H. Schneider, Grundgesetz S. 937 und W. Weber, Spannungen S. 12 f. 55

So i m Ergebnis w o h l auch Zinn-Stein I, A r t . 41 Anm. 2 c (S. 217).

50

Maunz, Gutachten Hessen S. 14.

57

Vgl. hierzu Danco S. 9 und Zinn-Stein I, A r t . 41 A n m . 2 c (S. 217). Die Lehre weist aber zu Recht darauf hin, daß man i n einem solchen Falle von einer souveränen verfassunggebenden Gewalt nicht sprechen könne. Siehe z. B. H. P. Ipsen, Hamburg zwischen K r i e g u n d Frieden, i n : Festschrift für Leo Raape, 1948, S. 423 ff. (454); Krauss S. 581; Poetzsch S. 95, 96; Schmid S. 656 und Walter Menzel, Verfassungsprobleme der Gegenwart, i n : Recht, Staat, Wirtschaft, 1949, S. 93 ff. (96 f.). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Leisners (Verfassunggebung S. 225) zu A r t . 94 d. franz. Verf. v. 27.10.1946 ( „ A u cas d'occupation de tout ou partie du territoire métropolitain par des forces étrangères, aucune procédure de revision ne peut ètre engagée ou poursuivi" — zit. nach Duguit-Monnier S. 569) und ferner A r t . 81 Abs. 4 GG.

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

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I I . Das mehraktige Verfahren der Verfassunggebung und die Theorie des Gesetzgebungsverfahrens

1. Verfassungsfeststellung und Verfassungssanktion technischen und rechtstechnischen Sinne

im arbeits-

Der Entstehungsvorgang einer Verfassung kann — arbeitstechnisch gesehen — in die Formulierung der Rechtsregel — die Feststellung des Verfassungsinhalts — und in die Anordnung ihrer Verbindlichkeit — die Erteilung des Verfassungsbefehls — aufgegliedert werden 58 . I m rechtstechnischen Sinne stellt die „Feststellung des Verfassungsinhalts" — ebenso wie beim Gesetz59 — die „endgültige Entscheidung über die Gestaltung des Gesetzestextes60", die Sanktion die Entscheidung darüber, „ob der festgestellte Text Gesetz81 werden soll 6 2 ", dar. Feststellung und Sanktion i m rechtstechnischen Sinne sind begrifflich auch dann zu trennen, wenn sie i m Einzelfall tatsächlich zusammenfallen und „nach außen hin" nicht zu unterscheiden sind 63 . Andererseits entspricht einer Aufteilung von Feststellung und Sanktion i m arbeitstechnischen Sinne auf verschiedene Organe nicht notwendig eine Trennung dieser Funktionen i m rechtstechnischen Sinne. Werden die Verfassungsberatung durch eine gewählte Versammlung und die Abstimmung über den erstellten Entwurf durch das Volk getrennt, so ist der Vorgang der Verfassunggebung i m arbeitstechnischen Sinne geteilt. Ob damit auch eine Aufteilung i m rechtstechnischen Sinne verbunden ist, ist die Rechtsfrage des mehraktigen Verfassungsverfahrens in der Sprache der allgemeinen Gesetzgebungstheorie. Sie zu erörtern hat freilich nur dann Sinn, wenn man die Feststellung des Verfassungstextes i m Rechtssinne nicht von vornherein als rechtlich unerheblichen Teil des Rechtsetzungsverfahrens begreift. Das könnte sich aus der Anwendung der Sanktionslehre Labands auf den Fall des mehraktigen Verfahrens der Verfassungserzeugung ergeben. 58 Die weiteren Stadien der Verfassunggebung, die Ausfertigung und V e r kündung der Verfassung, interessieren hier nicht. 50 Die Unterscheidung von Feststellung und Sanktion kann für das Gesetz ebenso w i e f ü r die Verfassung (vgl. Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 41), i m konstitutionellen ebenso wie i m demokratischen Staatsrecht (vgl. M a l l m a n n S. 147; Anschütz, Kommentar, A r t . 68, 69 A n m . 6 — S. 365 und Giese, G u t achten Hessen S. 15) entwickelt werden. M a l l m a n n bezeichnet sie als die Grundlage für ein „allgemein gültiges Schema" zur „Einteilung des Entstehungsprozesses aller staatlichen Willensakte, insbesondere des Weges der Gesetzgebung" (S. 236). Siehe jedoch auch W. Jellinek, Einfaches Reichsgesetz S. 163. 60 M a l l m a n n S. 53 — Hervorhebung vom Verfasser. 61 Der Begriff des „Gesetzes" i m Sinne der Labandschen Gesetzgebungstheorie umfaßt auch das Verfassungsgesetz. 82 Mallmann, a. a. O. — Hervorhebung v o m Verfasser. 63 Vgl. M a l l m a n n S. 56 und M a x Fleischmann, Der Weg der Gesetzgebung i n Preußen, 1898, S. 59.

126

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

2. Die Lehre von den Stadien der Gesetzgebung bei Paul

Laband 64

Laband geht von den Begriffen „Gesetzesinhait" und „Gesetzesbefehl 65" als Bestandteilen jedes Gesetzes einschließlich des Verfassungsgesetzes aus. Ihnen entsprechen i m Verfahren der Gesetzgebung bzw. der Verfassunggebung die Feststellung des Gesetzesinhalts und die Erteilung der Gesetzessanktion. Beide Vorgänge können nach Labands Ansicht i m rechtlichen Sinne zusammenfallen, z. B. i m Abstimmungsakt einer souveränen Volksversammlung oder i n der Entscheidung eines absoluten Monarchen 66 . I n solchen Fällen ist die begriffliche Unterscheidung „ohne staatsrechtliche Bedeutung 67 ". Sie hätte aber auch keinen praktischen Sinn; denn beide Gesetzgebungsstadien fallen zugleich nach außen hin zusammen. Von dieser Fallgruppe unterscheidet Laband solche Verfahrensgestaltungen, i n denen „für die Feststellung des Gesetzesinhalts andere Vorschriften bestehen" und an der Gesetzesfeststellung „andere Kräfte mitwirken, wie für die Ertheilung des Gesetzesbefehls 68". Zur juristischen Beurteilung dieser Fälle hält er die Unterscheidung von Gesetzesfeststellung und Gesetzessanktion für theoretisch wie praktisch wichtig. Ihren staatsrechtlichen Wert sieht er freilich nur darin, daß der juristisch allein erhebliche A k t der Sanktion von dem i m Rechtssinne unwesentlichen Vorgang der Festlegung des Gesetzesinhalts geschieden wird. Denn das „spezifische Wirken der Staatsgewalt, das Herrschen" kommt „nur in der Sanktion des Gesetzes zur Geltung 6 9 ". Zwar w i l l Laband mit dieser These den Sanktionsvorgang nicht nur i n politischer Hinsicht innerhalb der einzelnen Gesetzgebungsstadien herausheben. Doch läßt sich auf Grund dieser Formulierungen noch nicht ausschließen, daß er die Sanktion als wesentlichen und unentbehrlichen Bestandteil der Ingeltungsetzung eines Gesetzes herausstellen wollte, ohne zugleich der Gesetzesfeststellung durch Organe der Staatsgewalt die Rechtserheblichkeit abzusprechen. Ob die Fixierung des Gesetzestextes eine staatsrechtliche Bedeutung aufweist, käme also auf die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens i m Einzelfall an. Die sich der herausgestellten These anschließenden Bemerkungen zum Vorgang der Gesetzesfeststellung scheinen diese Deutung seiner Lehre zu belegen 70 . Laband führt 64 Die Wiedergabe der Grundgedanken Labands genügt i m vorliegenden Zusammenhang. Eine eingehende Darstellung gibt M a l l m a n n (S. 7 if.). 65 Laband, Staatsrecht I I S. 3 — dort gesperrt. Laband, Staatsrecht I I S. 4. 67 Laband, a. a. O. 68 Laband, a. a. O. 69 Laband, a. a. O. — dort gesperrt. 70 Teilweise spricht auch die Formulierung seiner Ansicht dafür, daß L a band n u r ein M i n i m u m oder Z e n t r u m der M i t w i r k u n g von Staatsgewalt am

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

127

zunächst Beispiele dafür an, daß der Gesetzgeber den Gesetzesinhalt nicht „erfindet", und weist in diesem Zusammenhang auf die Tätigkeit von Sachverständigenkommissionen und die Verwertung der Regelungen anderer Rechtsordnungen hin 7 1 . Offenbar geht er dabei von einem weiten Begriff der „Feststellung des Gesetzesinhalts" aus. Denn die angeführten Beispiele illustrieren nur den Vorgang der gesetzgeberischen Rechtsfindung als gedankliches Problem, erläutern aber nicht die Feststellung des Gesetzesinhalts i m technischen Sinne als förmliche Fixierung dessen, was Recht werden soll. Damit wäre nicht ausgeschlossen, daß der Vorgang der Feststellung des Gesetzesinhalts, z. B. durch eine verfassungsberatende Versammlung, weder institutionell noch begrifflich mit der Sanktion zusammenfällt und rechtlich als A k t des Staates erheblich ist 72 . Den eigentlichen und technischen Begriff der „Feststellung des Gesetzesinhalts" verwendet aber auch 73 Laband, wenn er anschließend die Fälle untersucht, bei denen „innerhalb 74 des einzelnen Staates" die Feststellung des Gesetzesinhalts einem „anderen Organ" obliegt „als demjenigen, welchem die Sanktion zukommt 7 5 ". Hier spricht er die Gesetzgebungsverfahren an, i n denen die Funktionen der Gesetzesfeststellung und der Gesetzessanktion in dem Sinne auf verschiedene Organe verteilt sind, daß das Feststellungsorgan den Gesetzesinhalt vorgibt und das Sanktionsorgan den Gesetzesbefehl erteilt 7 0 . Der Feststellungsakt ist dabei i n der von Laband vorgefundenen Verfassungsordnung von 1871 durch die partielle oder ausschließliche M i t w i r k u n g von Organen gekennzeichnet, die, wie z. B. die Volksvertretung, jedenfalls nicht monarchisch legitimiert sind. Staatsgewalt üben diese Feststellungsorgane aber nicht aus. Denn Laband ordnet allein den Vorgang der Sanktion der Staatsgewalt zu. Nur dieser Teil des Gesetzgebungsverfahrens ist für ihn „Gesetzgebung i m staatsrechtlichen Sinne 7 7 ". Gesetzgebungsverfahren feststellen und festhalten wollte. So schließt er z. B. an eine Aufzählung von Beispielen nichtstaatlicher Möglichkeiten der Gesetzesfindung den Satz an: „Dagegen die Erteilung des Gesetzesbefehls ist notwendig eine That des Staates" (Staatsrecht I I S. 4 — Hervorhebungen vom Verfasser). 71 Laband, a. a. O. 72 Die weiteren Ausführungen a. a. O. scheinen zudem nur den Satz beweisen zu wollen, daß es ohne die Sanktion der Staatsgewalt kein verbindliches Recht gibt. 73 Labands Begriff der „Feststellung des Gesetzesinhalts" ist somit nicht eindeutig. Siehe hierzu kritisch M a l l m a n n S. 25 ff. unter Auswertung weiterer Textstellen. 74 Hervorhebung v o m Verfasser. 75 Laband, Staatsrecht I I S. 4 f. 76 a.a.O.,S.5. 77 a. a. 0 „ S. 6.

128

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Diese Qualifikation macht das Anliegen Labands deutlich. Er w i l l nicht nur die Sanktion der Staatsgewalt, sondern auch die Staatsgewalt der Sanktion vorbehalten. Denn die Sanktion erteilt der Monarch. Alle nicht monarchisch ausgewiesenen Organe, vor allem des Feststellungsverfahrens, kann Laband somit außerhalb der Staatsgewalt halten. Auf diese Weise rettet er für das Verfahren der Gesetzgebung die Grundthese, daß der Monarch „der alleinige Träger der ungetheilten und untheilbaren Staatsgewalt" ist und „allein i m Stande, ein Staatsgesetz zu erlassen 78 ". Damit entfällt für die vorliegende Untersuchung eine Auseinandersetzung mit Labands Sanktionstheorie 79 aus einem doppelten Grunde. Einmal sind die Mängel dieser Konstruktion offensichtlich zugunsten des politischen Ziels i n Kauf genommen, den Anspruch der monarchischen Souveränitätstheorie in der Lehre vom Gesetzgebungsverfahren trotz der Beteiligung „dritter" Organe zu bestätigen 80 . Zum anderen gibt Laband auch von seinem Standpunkt aus keine Lösung des hier zur Diskussion stehenden Bindungsproblems. Er qualifiziert zwar die Sanktion als den alleinigen staatsrechtlichen A k t des Gesetzgebungsverfahrens, zieht daraus jedoch keine Folgerungen für die Frage, ob das Sanktionsorgan an den Gesetzesvorschlag des Feststellungsorgans gebunden ist. Vor allem leitet er nicht die naheliegende Konsequenz ab, das Sanktionsorgan könne in alleiniger Ausübung staatlicher Gewalt jedem beliebigen und nicht nur dem vom Feststellungsorgan vorgegebenen Norminhalt Verbindlichkeit verleihen. Seine These, die Sanktion sei an den Gegenstand der Feststellung gebunden 81 , besitzt zu seiner Theorie kei78

a. a . O „ S . 5 . Unerörtert k a n n daher z. B. bleiben, ob das Gesamtbild des Gesetzgebungsverfahrens den von Laband konstruierten Vorrang der Sanktion rechtfertigt. Denn der Feststellungsvorgang besitzt ein unbestritten erhebliches materielles Gewicht. Hier setzt die K r i t i k Mallmanns u. a. ein (vgl. S. 69, 73). Z w a r bestimmt die gesetzespolitische Bedeutung eines Teilaktes i m Gesamtverfahren noch nicht automatisch dessen rechtlichen Rang. Da aber L a band selbst aus solchen Erwägungen heraus die Sanktion zum Kernstück des Gesetzgebungsverfahrens macht, hält i h m M a l l m a n n zutreffend entgegen, das Herrschaftsrecht des Staates drücke sich i n der endgültigen Festlegung des Gesetzesinhalts ebenso aus w i e i n der Sanktion (a. a. O.). Weitere kritische Bemerkungen zu Laband finden sich z. B. S. 69 f. u n d S. 75 ff. 80 Z u diesem politischen Hintergrund der Sanktionslehre siehe eingehend M a l l m a n n S. 126 ff., insb. S. 142 ff. Selbst die Übernahme der Begriffsbildungen ins demokratische Staatsrecht mußte auf Mißtrauen stoßen, da die Organe der Demokratie „nicht wesensverschiedene politische Mächte w i e früher Monarch und Parlament, sondern Repräsentanten ein u n d derselben Macht" sind (Mallmann S. 145). Doch ist für Anschütz die Sanktion „die oberste der i m Gesetzgebungsverfahren erfolgenden Willensäußerungen" u n d steht „nach w i e vor i m M i t t e l p u n k t dieses Verfahrens als dessen zentraler A k t " (Kommentar, A r t . 68, 69 A n m . 6 S. 365; vgl. auch Husserl, Rechtskraft S. 9). Z u r Übernahme der Sanktionslehre ins deutsche Staatsrecht nach 1919 siehe i m ü b r i gen M a l l m a n n S. 145 ff. 81 Staatsrecht I I S. 5. 79

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

129

nen Bezug. Es würde aber auch nicht weiterführen, wenn das Sanktionsorgan bei Laband kraft der exklusiven Zuordnung zum Bereich der Staatsgewalt von dieser Bindung freigestellt wäre. Denn damit fänden die Fälle keine Lösung, i n denen an der Entstehung eines Gesetzes mehrere Organe mitwirken, deren Rangverhältnis nicht durch die unterschiedliche Ausstattung mit Staatsgewalt bestimmt wird, weil sie sich ausschließlich in derselben Legitimationssphäre befinden. Aus diesem Grunde kann auch Grewe die demokratische Möglichkeit eines „konstituierenden Gesamtaktes" m i t einer Verteilung der Zuständigkeiten auf mehrere Organe nicht dadurch belegen, daß er auf die Verfassungsvereinbarungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland zwischen Monarchen und Fürsten einerseits und der Volksvertretung 8 2 andererseits verweist 83 . Der besonderen rechtstechnischen Form der demokratischen Verfassung als Rechtsetzungsakt gegenüber der Vertragsnatur solcher Verfassungsvereinbarungen 84 entspricht die M i t w i r k u n g einheitlich demokratisch legitimierter Organe i m Verfahren der Verfassunggebung gegenüber dem Zusammenwirken mehrerer Organe verschiedener Legitimation i m Falle des Verfassungsvertrages 85 . Labands Sanktionslehre steht somit einer Zuweisung der Verfassungsfeststellung i m rechtstechnischen Sinne an eine gewählte verfassungsberatende Versammlung nicht entgegen.

3. Die „Analogie " zu innerverfassungsmäßigen mehraktiger Rechtsetzungsverfahren

Formen

Aus allgemeinen Lehren über die Stadien der Gesetzgebung lassen sich keine Bedenken gegen die Annahme herleiten, daß Verfassungsfeststellung und Verfassungssanktion i m Abstimmungsakt des Volkes einheitlich vorgenommen werden, auch wenn diese Funktionen arbeitstech82 Siehe hierzu C. Schmitt, Verfassungslehre S. 63 f., 84 u n d Zweig S. 29 ff. sowie zur T y p i k der Verfassungsverträge Ernst Rudolf Huber, Deutsche V e r fassungsgeschichte, Bd. 1, 1957, S. 642. Z u m sogenannten Bundesvertrag siehe ferner ders., Verfassungsgeschichte S. 620 ff. 83 Gutachten Hessen S. 21 f. Kritisch hierzu auch Maunz, Gutachten Hessen S. 27 f. 84 Eine klare dogmatische Trennung des vereinbarten v o m gesetzten V e r fassungsrecht n i m m t C. G. Liebe (Staatsrechtliche Streitfragen, ZgesStW Bd. 38, 1882, S. 624 ff. — 624 f.) i m Anschluß an M a x Seydel (Der Bundesstaatsbegriff, ZgesStW Bd. 28, 1872, S. 185 ff. — 211) vor. Siehe ferner Bernatzik S. 310. 85 Siehe hierzu auch Leisner, Verfassunggebung S. 90; Peters, Demokratie S. 33; Quaritsch, Kirchen u n d Staat S. 179 u n d Schneider, Grundgesetz u n d Nationalversammlung S. 10.

9 Steiner

130

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

nisch auf mehrere Organe aufgeteilt sind 86 . Voraussetzung ist nur, daß sich diese rechtliche Koinzidenz aus der Lehre von der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt ergibt. Versucht man die Verfahrenstechnik der konstituierenden Gewalt aufzufinden, so haben zunächst Überlegungen über eine (untechnisch verstandene) Analogie zu innerverfassungsmäßigen Formen mehraktiger Rechtsetzungsverfahren i n den Hintergrund zu treten. Bevor nicht widerlegt ist, daß die Lehre von der Ausübung des pouvoir constituant ihre Regeln selbständig entwickelt, muß jede Anlehnung des Verfahrens der Verfassunggebung an innerverfassungsmäßige Verfahrensmuster zurückgestellt werden. Die Übertragung der zu diesen Verfahren entwickelten Regeln auf die Prozedur der Verfassunggebung würde sich freilich nicht schon deshalb verbieten, weil sie aus positivrechtlichen Verfahrensgestaltungen hervorgehen. Die Ausgestaltung des mehraktigen innerverfassungsmäßigen Rechtserzeugungsverfahrens ist zwar prinzipiell der Entscheidung des Verfassunggebers überlassen. Doch haben sich, traditionell oder sachbedingt, allgemeine Verfahrensstrukturen herausgebildet. Andererseits muß das Verfahren der Verfassunggebung nicht immer i n der gleichen Weise organisiert sein 87 . Soweit z. B. Verfassungen das Staatsvolk mittels Volksentscheid i n den Gesetzgebungsvorgang einbeziehen, bestimmen sie regelmäßig abschließend, über welchen oder welche 88 Gesetzesentwürfe bzw. Gesetzesbeschlüsse abzustimmen ist. Die Volksabstimmung kann folgerichtig i n solchen Fällen nur dann zu einem „rechtswirksamen Ergebnis führen", „wenn ihr Gegenstand die Entscheidung über eine von dem dazu zuständigen Organ formulierte Abstimmungsfrage ist 8 9 ". Das Verfahren der Verfassunggebung ist jedoch i n doppelter Hinsicht nicht festgelegt. Offen ist, wer i m Einzelfall das zur Feststellung des Abstim80 Die Feststellungsfunktion des Volksentscheids i m rechtlichen Sinne wäre keine Besonderheit des Verfahrens der Verfassunggebung. Siehe M a l l m a n n S. 198, insb. A n m . 123, und S. 199. 87 Vor allem steht die dogmatische Qualifikation der einzelnen Rechtsetzungsteilakte oft unter einem speziellen positivrechtlichen Aspekt. So hat die Staatsrechtslehre zur Weimarer Verfassung teilweise den Reichstag auch dann als Sanktionsorgan betrachtet, wenn der Rechtsetzungsgegenstand dem Volke zur A b s t i m m u n g unterbreitet wurde. Sie glaubte sich dabei von der Bestimm u n g des A r t . 68 Abs. 2 W R V gebunden. Danach beschloß der Reichstag dem Wortlaut nach ausnahmslos die Gesetze. Z u r K o n s t r u k t i o n i m einzelnen siehe W. Jellinek, Einfaches Reichsgesetz S. 174; M a l l m a n n S. 175 ff. und Schlenker S. 40 ff. I m Falle der mehraktigen Verfassunggebung steht aber außer Streit, daß das V o l k auch dann Sanktionsorgan ist, wenn man davon ausgeht, der Verfassungsentwurf einer verfassungsberatenden Versammlung werde dem V o l k n u r deshalb unterbreitet, u m „auch die leisesten Zweifel" an dem demokratischen Charakter von Verfahren und I n h a l t der Verfassung auszuschließen (Krüger, Sozialisierung S. 54). 88

Siehe Schlenker S. 44 f., 109 f.

89

Grewe, Gutachten Hessen S. 56. Siehe ferner Asam S. 36 und Schlenker

S. 124.

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

131

mungsgegenstandes zuständige O r g a n ist. A u c h ist die B i n d u n g des V o l kes an einen v o r f o r m u l i e r t e n N o r m i n h a l t 9 0 n i c h t ohne w e i t e r e s aus d e m geschriebenen Verfassungsrecht ü b e r t r a g b a r 9 1 . D e n n z u r spezifisch souv e r ä n e n W i r k u n g s w e i s e der verfassunggebenden G e w a l t gehört die M ö g l i c h k e i t der f a l l w e i s e n F e s t l e g u n g des E n t s t e h u n g s v e r f a h r e n s .

I I I . Verfassungsentwurf und Volksabstimmung 1. Die rechtliche Funktiort der repräsentativen Verfassungsberatung im mehraktigen Verfahren der Verfassungsentstehung Das S t a a t s v o l k k a n n a u f G r u n d der n a t ü r l i c h e n E i g e n a r t seiner W i l l e n s b i l d u n g u n d W i l l e n s b e k u n d u n g i m V o l k s e n t s c h e i d den i h m v o r g e l e g t e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f n u r i m ganzen 9 2 a n n e h m e n oder a b l e h n e n 9 3 . D i e E n t s c h e i d u n g ü b e r d e n I n h a l t der k ü n f t i g e n V e r f a s s u n g l i e g t daher i n der E n t s t e h u n g s w i r k l i c h k e i t eines Verfassungsverfahrens b e i m E n t w u r f o r g a n 9 4 . Dieses besitzt angesichts der g e r i n g e n B e w e g l i c h k e i t des V o l k s w i l l e n s eine h e r v o r r a g e n d e B e d e u t u n g auch i n e i n e m m i t d e m p l e b i s z i t ä r e n A k t d e r V o l k s a b s t i m m u n g schließenden Rechtset90

Beispiele finden sich bei Schlenker (S. 44 f., 107).

91

Kritisch zu Grewes Schluß v o m geschriebenen Verfassungsrecht auf das Verfahren der Verfassunggebung auch Maunz, Gutachten Hessen S. 24. Die „juristische Gleichwertigkeit" der repräsentativen u n d plebiszitären Teile eines mehraktigen Verfahrens (Fleiner-Giacometti S. 716) ist i m übrigen nicht m i t der juristischen Gleichwertigkeit v o n repräsentativer u n d plebiszitärer Rechtsausübung zu verwechseln. 92 Positivrechtlich ist dieser Tatsache z. B. i n § 15 d. Reichsgesetzes ü. d. Volksentscheid v. 29. 6.1921 (RGBl. S. 789) u n d A r t . 68 Abs. 4 d. Verf. v. N R W v. 28. 6.1950 (GVB1. S. 127) Rechnung getragen. 93 A u f diese Situation hat vor allem E. K a u f m a n n aufmerksam gemacht (Volkswillen S. 12 ff.). I h r ist nach seiner Ansicht das „erste Gesetz" der Volkswillensbildung zu entnehmen: „Je unmittelbarer das V o l k als Einheit sich äußern w i l l , u m so einflußloser w i r d es auf den Inhalt dessen, was w i r k lich geschieht" (a. a. O., S. 13). Vgl. ferner hierzu Bühler S. 96; Kägi, Volksinitiative S. 795 a; K r ü g e r u. a., Gutachten Südweststaat S. 62, 75; L i e r m a n n S. 55, 56; Schindler, Staatswillen S. 67; Schlenker S. 15, 137; H. Schneider, Volksabstimmungen S. 169 u n d Viehoff S. 76 f. Das Schweizer Staatsrecht hat auf dieses Problem jeder Volksabstimmung m i t dem Grundsatz der „Einheit der Materie" reagiert (Art. 121 Abs. 3 Schweiz. Bundesverfassung; vgl. hierzu i m einzelnen Fleiner-Giacometti S. 730 ff.). Freilich h i l f t auch dieser bei der A b stimmung.des Volkes über die Totalrevision der Verfassung nicht weiter (vgl. Fleiner-Giacometti S. 714 f., 731 A n m . 68). 94 Daher bezeichnet Grewe die Zuständigkeit zur Formulierung der A b stimmungsfrage als das „Kernproblem jedes Plebiszits" (Gutachten Hessen S. 55). Vgl. ferner W. Weber, Mittelbare und unmittelbare Demokratie S. 775, und zu einem konkreten F a l l Krüger u. a., a. a. O., S. 55 ff.

9

132

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

zungsverfahren 95 . Dementsprechend w i r d z. B. i m Schrifttum das Grundgesetz als „Werk" des (verfassungsberatenden) Parlamentarischen Rats bezeichnet9®. Diese Beobachtung macht das Anliegen verständlich, das Staatsvolk auf den Entwurf seiner Repräsentanten festzulegen, um die Manipulierung seiner Entscheidungsfreiheit durch die Entwürfe nichtrepräsentativer oder nicht qualifizierter Personen oder Personengruppen zu verhindern. Eine solche Zuordnung könnte aus dem Institut der demokratischen Repräsentation hergeleitet werden. M i t dem Hinweis, die verfassungsberatende Landesversammlung habe das Volk repräsentiert, ist denn auch in den hessischen Verfassungsstreit ein entscheidendes A r gument eingebracht worden 97 . Wählt das Volk eine Vertretung zum Zwecke der Verfassungsberatung 98, so ist der von dieser Vertretung geschaffene Entwurf auf Grund der Zurechnung 99 , wie sie das Institut der Repräsentation vermittelt, rechtlich so anzusehen, als hätte ihn das Volk selbst kraft seiner verfassunggebenden Gewalt erstellt 100 . Die Festlegung des Verfassungsinhalts ist damit ein geltungserheblicher Teilakt des Verfahrens der Verfassunggebung. Dieser Qualifikation liegt eine allgemein formulierbare Rechtsregel zugrunde: Für die Geltung einer Verfassung können i m Hinblick auf das Entstehungsverfahren grundsätzlich nur die Mitwirkungsakte solcher Personen oder Personenmehrheiten von rechtlicher Bedeutung sein 101 , die vom Staatsvolk unmittelbar oder mittelbar mit verfassunggebender Gewalt aus95 Z u den teilweise i n der allgemeinen Gesetzgebungstheorie aus der Bedeutung des Feststellungsaktes gezogenen Folgerungen siehe M a l l m a n n S. 59 f., 60, 65. 96 H. Schneider, Grundgesetz S. 937. Wie sehr die A b s t i m m u n g über das Grundgesetz i n den deutschen Landtagen und Bürgerschaften gegenüber der Arbeit des Parlamentarischen Rats zurücktrat, w i r d auch bei Asam deutlich (S. 28). 97 Siehe Grewe, Gutachten Hessen S. 16 und Krüger, Sozialisierung S. 53 f. 98 A u f diesen speziellen A u f t r a g k o m m t es entscheidend an. Nicht zugerechnet kann dem V o l k ein E n t w u r f werden, den ein m i t Aufgaben der einfachen Gesetzgebung betrautes Organ erarbeitet hat. 99 Vgl. H. J. Wolff, Vertretung S. 122 ff., 204 ff. und Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 31,41. 100 Vgl. Hildesheimer S. 52. A r t . 108 Abs. 1 d. Verf. v. Württemberg-Baden v. 28.11.1946 (abgedr. bei Rudolf Werner Füßlein, Deutsche Verfassungen, 1951, S. 340 ff.) spricht davon, das V o l k habe der „von seiner Verfassunggebenden Landesversammlung entworfenen Verfassung durch Volksabstimmung v o m 24. November 1946 zugestimmt" (Hervorhebung v o m Verfasser). Siehe hierzu Nebinger, A r t . 108 A n m . 1 und Maunz, Gutachten Hessen S. 23*. 101 Grewe trennt dementsprechend zwischen „echter" u n d „scheinbarer" A u f t e i l u n g von Zuständigkeiten auf mehrere Organe i m Verfahren der Verfassunggebung. N u r die M i t w i r k u n g s a k t e von Organen, die m i t „echter" Z u ständigkeit ausgestattet sind, weisen eine unmittelbare rechtliche Bedeutung für die Verfassungswirksamkeit auf (Gutachten Hessen S. 19).

2. Kapitel: Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

133

gestattet sind 102 . Die Handlungen nicht mit verfassunggebender Gewalt betrauter Organe i m Verfahren der Versassunggebung sind „rechtlich bedeutungslose Vorstufen der eigentlichen Verfassungsentscheidung 103 ". Wird die verfassunggebende Gewalt durch „Dritte" auf die Kreationsorgane übertragen, so üben diese jedenfalls nicht die konstituierende Gewalt des Volkes i m demokratischen Sinne aus 104 . Dabei werden mit verfassunggebender" Gewalt auch Organe betraut, die nur Teilaufgaben der Verfassunggebung wahrnehmen, z. B. eine initiierende und beratende Tätigkeit i m unmittelbaren Zusammenhang m i t der Verfassunggebung. Es handelt sich i n solchen Fällen um „Repräsentanten des pouvoir constituant mit begrenzter Funktion 1 0 5 ". So w i r d durch den Wahlakt eine verfassungsberatende Versammlung m i t derjenigen verfassunggebenden Gewalt ausgestattet, die sie zur Feststellung des Verfassungstextes im rechtstechnischen Sinn 1 0 6 berechtigt 107 . Die rechtliche Einbeziehung ihrer Tätigkeit i n die Verfassunggebung erfolgt bereits durch den Vorgang der Wahl, nicht erst durch den positiven Entscheid des Staatsvolkes über den von ihr erstellten Verfassungsentwurf. Nimmt das Volk in der Abstimmung auf einen Entwurf Bezug, w i r d dieser nur dann mit konstitutiver Wirkung i n den Vorgang der Verfassunggebung eingeführt, wenn er nicht von einem mit verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Organ erstellt worden ist 1 0 8 . 102 Damit soll nur eine Regel für die Ausgrenzung nicht wesentlicher A k t e formuliert sein. Ob den M i t w i r k u n g s a k t e n von Organen, die m i t verfassunggebender Gewalt ausgestattet sind, die Eigenschaft von Geltungsbedingungen zukommt, hängt von deren F u n k t i o n i m Gesamtzusammenhang des Verfahrens ab. loa Grewe, a. a. O., S. 23. 104 Die demokratische Legitimation des Grundgesetzes läßt sich daher nicht aus einer Übertragung der verfassunggebenden Gewalt durch die Besatzungsmächte auf die am Verfahren der Grundgesetzentstehung beteiligten Organe herleiten. Vgl. aber Hamann, Grundgesetz S. 14. io.» Krüger, Sozialisierung S. 52 (in bezug auf die Ausübung verfassungsberatender Funktionen durch hierzu gewählte Versammlungen). Vgl. ferner auch Grewe, a. a. O., S. 18. Gegen eine derartige Beschränkung der Repräsentation auf Teilfunktionen bestehen keine Bedenken. Vgl. aber Maunz, G u t achten Hessen S. 16.

106 E ) e r Sprachgebrauch untertreibt hier m i t der Bezeichnung „verfassungsberatende" Versammlung. Vgl. aber auch Maunz, Gutachten Hessen S. 30. 107 Büchel spricht zwar von der endgültigen Feststellung des Verfassungsentwurfs durch die Schweizerische Tagsatzung am 27. 6.1848 (S. 26), stellt aber erst für die Beschlußfassung über den von dieser erstellten E n t w u r f die Z u ständigkeitsfrage (S. 27). 108

Nach der Ansicht von Maunz w i r d die Tätigkeit ratenden Versammlung erst durch die Volksabstimmung „ i n den Prozeß" der „eigentlichen" Verfassunggebung S. 22). Folgerichtig ist f ü r i h n jede Bezugnahme auf den i m Abstimmungsakt konstitutiv (a. a. O., S. 29).

einer verfassungsbeüber deren E n t w u r f einbezogen (a. a. O., Verfassungsentwurf

134

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Diese Aufteilung der verfassunggebenden Gewalt auf mehrere Organe i m Verfahren der Verfassunggebung verstößt nicht gegen die Grundsätze der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der konstituierenden Gewalt, wie sie i m Anschluß an die klassische französische Theorie 100 formuliert werden 110 . Diese Prinzipien wenden sich, der politischen Stoßrichtung i m Zeitpunkt ihrer Formulierung durch die französische Lehre entsprechend, gegen eine Beteiligung nicht demokratisch legitimierter Personen oder Gruppen am Vorgang der allein dem Volke zustehenden Verfassungsschöpfung. Sie verbieten daher, ebenso wie für die Staatsgewalt i m engeren Sinne 111 , keineswegs eine „funktionelle" Differenzierung 112 der verfassunggebenden Gewalt und eine daran angepaßte Aufteilung der einzelnen Funktionen auf mehrere Organe 113 . Ferner tangiert die Übertragung von Teilfunktionen an repräsentative Organe i m Verfahren der Verfassunggebung das Prinzip der Unveräußerlichkeit der verfassunggebenden Gewalt jedenfalls nach modernem Verständnis ebensowenig wie die konzentrierte Übertragung verfassunggebender Gewalt auf eine repräsentative Versammlung 114 .

2. Das Problem der Bindung des Volkes an den Entwurf verfassungsberatenden Versammlung

einer

Aus dem repräsentativen Charakter einer verfassungsberatenden Versammlung und ihrer rechtlichen Funktion i m Verfahren der Verfassunggebung w i r d nun geschlossen, daß das Staatsvolk an den Entwurf einer von ihm zum Zwecke der Verfassungsberatung gewählten Vertre109 Das A t t r i b u t „indivisible" hat neben dem Prädikat „inaliénable" i m übrigen Rousseau der Souveränität allgemein zugeschrieben (Contrat social I I 1, 2), nicht aber Sieyès dem pouvoir constituant i n seiner Schrift über den D r i t t e n Stand. Auch i n tit. I I I art. 1 d. franz. Verf. v. 3. 9.1791 sind die Eigenschaften „une, indivisible, inaliénable et imprescripible" Merkmale der Souveränität schlechthin (zit. nach Duguit-Monnier S. 6). 110 Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre S. 77 u n d Maunz, Staatsrecht S. 46. 111 Siehe Meyer-Anschütz S. 18 u n d Messner S. 674. 112 v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 V 4 b (S. 595). 113 Auch Maunz scheint den Begriff der Unteilbarkeit zunächst i n dem Sinne zu verstehen, daß dieser lediglich die M i t w i r k u n g „anderer Organe" u n d die Erteilung einer „Ermächtigung" oder „ Z u s t i m m u n g " „von anderer Seite" i m Verfahren der Verfassunggebung ausschließt (Gutachten Hessen S. 13). Er geht jedoch i m folgenden weiter und meint, der Grundsatz der U n teilbarkeit verbiete die „Aufspaltung des einheitlichen Trägers der verfassunggebenden Gewalt i n mehrere gleichgeordnete Mitträger" (a. a. O., S. 22 — dort gesperrt). Eine ähnliche Interpretation des TeilungsVerbots findet sich bei Zinn-Stein (I, A r t . 41 A n m . 2 a — S. 217). Gegen eine M i t w i r k u n g mehrerer Organe i m Verfahren der Verfassungsänderung hat i m übrigen auch Maunz nichts einzuwenden (a. a. Ο.,, S. 22 f.). Vgl. hierzu noch Fleiner-Giacometti S. 702 u n d Scheuner, Gutachten Hessen S. 10 f. 114 Siehe auch Grewe, Gutachten Hessen S. 19.

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

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tung gebunden sei. Man argumentiert, die Wahl eines solchen Organs diene der demokratischen Legitimation auch des Entwurfstadiums 1 1 5 . M i t der Entscheidung für eine durchgehende Demokratisierung 118 des Verfahrens der Verfassunggebung sei aber die Erstellung eines gleichrangigen Entwurfs durch eine dritte Instanz ausgeschlossen117. Die verbindliche Feststellung des Verfassungsinhalts bleibe auch dem Staatsvolk gegenüber ausschließlich eine Zuständigkeit des speziell mit dieser Aufgabe betrauten Organs 118 ; dessen Verfassungsvorschlag sei dem Staatsvolk unabänderlich vorgegeben. Stimme dieses über einen ganz oder teilweise von der „offiziellen" Fassung abweichenden Grundgesetzentwurf ab, komme Verfassungsrecht (insoweit) nicht zustande 119 , da es an einem geltungswesentlichen Teil des Rechtsetzungsverfahrens fehle 120 . Dieser Mangel werde durch die Abstimmung nicht „geheilt 1 2 1 ". Das so gelöste Rechtsproblem findet in der Formel von der Bindung des Volkes an den Entwurf einer verfassungsberatenden Versammlung eine unscharfe Fassung. Es w i r d klarer i n der Frage formuliert, ob das Staatsvolk i m Zeitpunkt der Abstimmung durch seinen Entscheid nur noch der Verfassung Geltung verleihen kann, die von einem zur Verfassungsberatung gewählten Organ erstellt worden ist. U m sie zu beantworten, bedarf es der Besinnung auf den Begriff der verfassunggebenden Gewalt i m formellen Sinne. Diese gewährt dem mit ihr ausgestatteten Organ die Befugnis, i n jedem Zeitpunkt des Verfahrens dessen Fortsetzung und Abschluß nach A r t und Form auch unter Abänderung vorausgegangener Entscheidungen zu bestimmen 122 . Durch die Wahl einer verfassungsberatenden Versammlung entscheidet sich zwar das Volk für die rechtstechnische Feststellung der Verfassung durch die115 Krüger, Sozialisierung S. 53 f. D a m i t läßt sich die Legitimität der Verfassungsentstehung innerhalb der Verfahren abstufen, die das V o l k durch Sachabstimmung i n die Prozedur der Verfassunggebung einschalten, je nachdem, von welcher Instanz der Verfassungsentwurf erstellt w i r d . Diese Graduierung hat w o h l auch Hatschek m i t seiner Feststellung i m Auge, nach amerikanischer Auffassung dürfe die Verfassung „letzten Endes n u r v o m Volke (mindestens durch Ratifikation )" gegeben werden (Staatsrecht S. 23 — dort gesperrt). 116 Vgl. Krüger, a. a. O. 117 Krüger, a. a. O., S. 54. 118 Krüger, a. a. O. 119 Krüger, a. a. O., S. 54 f. 120 Auch E. R. Huber hält, freilich ohne nähere Begründung, eine T e x t änderung i m Zeitraum zwischen der Feststellung des Verfassungsinhalts und dem Verfassungsplebiszit nicht f ü r zulässig. Werde sie dennoch vorgenommen, liege ein „rechtswirksamer A k t der verfassunggebenden Gewalt" wegen eines „Fehlers der Verfassunggebung" nicht vor (Wirtschaftsverwaltungsrecht I I S. 181 f.). 121 Krüger, a. a. O., S. 54 u n d Scheuner, Gutachten Hessen S. 10. 122 Vgl. auch Maunz, Gutachten Hessen S. 18, 30.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

ses Organ, behält aber die verfassunggebende Gewalt i m formellen Sinne und mit ihr die Möglichkeit, eine abweichende Verfahrensentscheidung auch noch i m Zeitpunkt der Verfassungsabstimmung zu treffen. Solange freilich diese abändernde Entscheidung nicht ergangen ist, liegt die Verfassungsfeststellung i m rechtstechnischen Sinne beim hierzu gewählten verfassungsberatenden Organ 123 . Das Volk gibt sich in diesem Falle die Verfassung durch seine Repräsentanten und (im A k t der Abstimmung) unmittelbar durch sich selbst 124 . Der Vorgang der Verfassungsfeststellung ist hier ein rechtlicher Bestandteil des Verfassungsverfahrens. Wird daher dem Staatsvolk ein Verfassungsentwurf vorgelegt, der vom Verfassungsvorschlag einer volksgewählten verfassungsberatenden Versammlung abweicht, und stimmt ihm das Staatsvolk ohne Kenntnis von den inhaltlichen Abweichungen zu, „greift" die Sanktion „ins Leere", ohne daß es noch darauf ankommt, welche Folge man einem (gegebenenfalls durch Täuschung herbeigeführten) I r r t u m für die Rechtswirksamkeit öffentlich-rechtlicher Willenserklärungen, insbesondere von Willensbekundungen des Volkes, zumißt 125 . Die rechtlich festgestellte Verfassung bleibt ohne Sanktion; die Sanktion w i r d einem nicht rechtlich festgestellten Text erteilt. Das Staatsvolk beantwortet eine nicht gestellte Frage; die gestellte Frage beantwortet es nicht 1 2 6 . Die Verfassungsentwürfe sind dabei bereits dann nicht mehr austauschbar, wenn sie i m Wortlaut voneinander abweichen. Denn die Feststellung des Verfassungsinhalts i m rechtstechnischen Sinne umfaßt begrifflich die Textierung schlechthin. I m übrigen werden durch das Gebot der wörtlichen Ubereinstimmung Streitigkeiten bezüglich des Norminhalts vermieden, die von einer unterschiedlichen Formulierung ausgehen können 127 . 123 Daher formuliert auch A r t . 90 Abs. 1 d. Verf. v. N R W v. 28. 6.1950 (GVB1. S. 127) : „Die Verfassung ist dem Volke zur Billigung zu unterbreiten" (Hervorhebung v o m Verfasser). Beispiele aus dem Sprachgebrauch der verfassungsgesetzlichen Revisionsregelungen finden sich bei Schlenker (S. 124). 124 Der Bayer. V e r f G H spricht freilich davon, daß sich das V o l k seine Verfassung „durch A b s t i m m u n g selbst gegeben" habe (Ent. v. 2.12.1949, V G H n. F. 2 I I 181 ff. — 203). Solche obiter dicta lassen sich jedoch nicht gegen eine zweiaktige Entstehungstheorie ins Feld führen. Siehe aber Maunz, a. a. O., S. 23. 125 A u f die Erörterung dieser Frage k a n n jedoch die Lehre nicht verzichten, die i n der A b s t i m m u n g durch das V o l k den allein verfassungsschöpfenden A k t i m Rechtssinne sieht. Vgl. Zinn-Stein I, A r t . 41 Anm. 2 a (S. 217). 126 Krüger, Sozialisierung S. 54. 127 I m Ergebnis ebenso Grewe, Gutachten Hessen S. 25; Krüger, a. a. O., S. 52 f.; Scheuner, Gutachten Hessen S. 11 ff. u n d w o h l auch Danco S. 37. A. A. Maunz, Gutachten Hessen S. 46 f. I n der Praxis des Referendums ist freilich teilweise zwischen redaktionellen u n d sachlichen Änderungen unterschieden worden. So hat man eine Pflicht zur Vorlage eines Initiativentwurfs aus der M i t t e des Volkes an das V o l k n u r angenommen, wenn dieser wesentliche A b änderungen durch das Parlament erfahren hatte. Die Entscheidung über die A r t der Abweichung w a r teilweise freilich einem bestimmten Organ zugewiesen. Siehe hierzu Schlenker S. 108.

2. Kapitel : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

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Ist der Verfassungsentwurf nicht von einem mit verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Organ erstellt, so vereinigen sich i m Abstimmungsakt Verfassungsfeststellung und Verfassungssanktion. Befindet sich i n diesem Falle das Volk i m I r r t u m über die Herkunft des Verfassungsentwurfs, so bestimmen sich die rechtlichen Folgen nach den Regeln über den I r r t u m bei Abgabe staatsrechtlicher Willenserklärungen durch das Volk 1 2 8 . Stimmt dagegen das Volk bewußt einem anderen Entwurf zu als dem, den die von ihm gewählte Versammlung erstellt hat, so nimmt es i m Abstimmungsakt unter gleichzeitiger Abänderung seiner bisherigen Verfahrensentscheidung Feststellung 129 und Sanktion des „inoffiziellen" Entwurfs vor 1 3 0 . Zugleich verweigert es dem Verfassungsentw u r f der verfassungsberatenden Versammlung die Sanktion. Für die Lösung des hessischen Streitfalls ergibt sich daraus: Ist der Entwurf des Art. 41 Hess. Verf. in der Formulierung, die er abschließend durch die verfassungsberatende Landesversammlung erhalten hat, von dritter Seite geändert worden, so wurde diese Bestimmung in der neuen Fassung nur dann geltendes Verfassungsrecht, wenn das Volk bei der Abstimmung von der Änderung wußte und der Vorschrift i n der geänderten Fassung mit einfacher Mehrheit zugestimmt hat. Für die Rechtsfindung kommt daher alles auf die Feststellung dieses Sachverhalts an 131 . Diese Grundsätze lassen sich nicht nur auf dem Boden einer Theorie des pouvoir constituant entwickeln, die sich dessen absolutem und rechtsfreiem Verständnis verschrieben hat 1 3 2 . Sie können daher für den deutschen Rechtskreis nicht deshalb für unanwendbar erklärt werden, weil die sie angeblich tragende Konzeption der verfassunggebenden Gewalt deren Eigenschaften aus einem „System des extremen demokra128 Vgl. hierzu (speziell f ü r Volksabstimmungen) Grewe, Gutachten Hessen S. 64 u n d (allgemein für Äußerungen des Volkswillens) Leisner, Verfassunggebung S. 256. Siehe ferner i n diesem Zusammenhang Friedrich Schack, Redaktionsfehler, formelle Verfassungswidrigkeit und Täuschung des Gesetzgebers, DÖV 64, 469 ff. (470 f.). 129 Die Person oder Personenmehrheit, die den akzeptierten E n t w u r f erstellt hat, w i r d also durch den A k t der Volksabstimmung nicht nachträglich Repräsentant der verfassunggebenden Gewalt. Vgl. aber Maunz, Gutachten Hessen S. 29. Die Verleihung einer Repräsentantenstellung ist grundsätzlich nur durch W a h l möglich. Auch läßt sich das Bewußtsein der Repräsentanten, das V o l k i n einer T e i l f u n k t i o n zu repräsentieren, als notwendiger subjektiver Tatbestand der Repräsentation nicht rückwirkend fingieren. 130 Z u einem ähnlichen Ergebnis w i r d w o h l auch Bachof auf G r u n d seiner Ansicht gelangen, ein Verstoß gegen vorkonstitutionelle Verfahrensbestimmungen sei n u r dann rechtserheblich, „ w e n n und solange die Träger der verfassunggebenden Gewalt jene Gesetze noch als verbindlich anerkennen" (Verfassungsnormen S. 35). 131 Die Schwierigkeiten einer solchen Feststellung demonstriert Giese (Gutachten Hessen S. 16 f.). 132 Siehe aber Grewe, Gutachten Hessen S. 16.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

tisch-revolutionären Nationalismus" nehme 135 . Auch eine rechtsstaatliche Theorie der verfassunggebenden Gewalt muß nicht deren Bindung an jeden Rechtssatz gleich welcher Herkunft und welchen Ranges vertreten, sofern nur dessen Befolgung ein „geordnetes Verfahren 1 3 4 " der Verfassunggebung garantiert 1 3 5 . Gegen den hier vorgetragenen Versuch einer differenzierenden Lösung mag man schließlich einwenden, sie überfordere den Erklärungswert des Abstimmungsaktes und zwinge dazu, in diesen künstlich Vorstellungen des Volkes hineinzuinterpretieren. Doch überschreitet sie kaum das Maß an Auslegung, ohne das ein auf Willensbekundungen des Volkes verwiesenes Staatsrecht nicht auskommen kann. Die Bindung des Volkes an den Verfassungsentwurf einer demokratisch gewählten verfassungsberatenden Versammlung zu bejahen, mag rechtspolitisch wünschenswert sein 136 . Diese Bindung ist aber staatsrechtlich nicht nachzuweisen. Auch Krügers Beweisführung ist dies wohl nicht gelungen. Zwar mag die Vorlage des Verfassungsentwurfes an das Volk nur erfolgen, um auch die „leisesten Zweifel" am demokratischen Verfahren und demokratischen Inhalt der Verfassung auszuschließen137. Immerhin aber kann das Staatsvolk dem Entwurf die Zustimmung versagen und hat die Zustimmung i n der Geschichte der Verfassungsplebiszite auch versagt. Die Entscheidung des Staatsvolkes w i r d oft, muß aber nicht immer „Bestätigung der demokratischen Legitimation der Landesversammlung und ihres Werkes" sein 138 . Sicherlich vermag eine gewählte verfassunggebende Versammlung die Verfassung ohne einen sachbezogenen Mitwirkungsakt des Staatsvolkes festzustellen und zu sanktionieren. Daraus ergibt sich aber nicht zwingend, daß dann die verfassungsberatende Versammlung die Verfassung zumindest i n einer das Staatsvolk bindenden Weise feststellen kann. Denn der Freiheit seiner Verfahrensentscheidungen hat sich das Staatsvolk durch den A k t der Wahl nicht begeben.

I V . Folgerungen für eine Typenlehre der Verfassunggebung

Zwischen das repräsentative und das plebiszitäre Verfahren der Verfassunggebung t r i t t als dritte 1 3 9 juristisch selbständige Verfahrensform das teilrepräsentative bzw. teilplebiszitäre Verfahren. I n ihm 133

Grewe, a. a. O. Grewe, a. a. O., S. 17. 135 Siehe auch oben S. 122. 136 Das haben Grewe (a. a. O., S. 63) u n d Krüger (Sozialisierung S. 52 ff.) durchaus glaubhaft machen können. 137 Krüger, a. a. O., S. 54. iss Krüger, a. a. O. 189 Grewe e n t w i r f t dagegen eine A r t Ein-Typenlehre. Nach seiner Ansicht repräsentiert die beim Volksentscheid tätig werdende Aktivbürgerschaft das 134

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

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erfolgt die Feststellung der Verfassung repräsentativ, die Erteilung der Sanktion plebiszitär. Es ist demnach durch das Nacheinander zweier rechtlich gleichwertiger Akte gekennzeichnet. Der verfassungsschöpfende A k t muß also nicht durch ein repräsentatives Organ oder unmittelbar durch das Volk vorgenommen werden 140 . Feststellung und Sanktion einer Verfassung durch eine verfassunggebende Versammlung einerseits, durch einen Volksentscheid andererseits sind Minima der Verfassungsgeltung, stellen also nicht das Höchstmaß an geltungserheblichen Verfahrensteilen der Verfassunggebung dar. Da sich freilich das Staatsvolk vor der Erteilung der Sanktion in der Verfassungsabstimmung noch für ein rein plebiszitäres Verfahren der Verfassunggebung entscheiden kann, liegt die rechtliche Eigenständigkeit des dritten Verfahrenstypus i n der möglichen Geltungserheblichkeit der repräsentativ vollzogenen Verfassungsfeststellung.

V. Mehraktige Verfassunggebung und subjektiv-historische Verfassungsauslegung

I m Anschluß an die Theorie der mehraktigen Verfassunggebung ist noch kurz zu erörtern, ob sich aus deren rechtlicher Bewertung der einzelnen Verfahrensakte Folgerungen für die Lehre vom Willen des historischen „Gesetzgebers ergeben. I m einaktigen Verfahren der vollrepräsentativen bzw. vollplebiszitären Verfassunggebung findet sich dieser Staatsvolk ebenso w i e eine gewählte Vertretungskörperschaft (Gutachten Hessen S. 19). Damit vollzieht sich f ü r Grewe alle Verfassunggebung letzten Endes repräsentativ. 140 So aber Maunz, Gutachten Hessen S. 20 ff. u n d Zinn-Stein I, A r t . 41 Anm. 2 a (S. 217). Nebinger w i r f t f ü r die (durch Volksabstimmung über den E n t w u r f einer gewählten verfassungsberatenden Versammlung zustande gekommene) Verfassung von Württemberg-Baden v o m 28.11.1946 (abgedr. bei Rudolf Werner Füßlein, Deutsche Verfassungen, 1951, S. 340 ff.) die Frage, wer als i h r Schöpfer i m Rechtssinne anzusehen ist, n u r auf (Art. 108 A n m . 1). Denn eine A n t w o r t habe für die Fortbildung der Verfassung n u r dann praktische Bedeutung, wenn die Verfassung k e i n verfassungsänderndes Organ vorgesehen hat. U n k l a r bleibt die Ansicht Viehoffs. Einerseits spricht er i m Zusammenhang m i t der W a h l einer verfassungsberatenden Versammlung davon, der von i h r erstellte E n t w u r f werde k r a f t Repräsentation dem Träger der verfassunggebenden Gewalt zugerechnet (S. 73 f.), andererseits aber bezeichnet er den Abstimmungsakt des Volkes als „Verfassunggebung" (S. 74, 75), sieht i n i h m die „ W a l t u n g der verfassunggebenden Gewalt" u n d i n den an der A b s t i m m u n g Beteiligten die „verfassunggebenden Subjekte", da unmittelbar auf ihnen die Geltung der Verfassung beruhe (S. 75 f.). I n der Staatsrechtslehre werden zumeist als Wege der Verfassunggebung n u r die W a h l einer verfassunggebenden Nationalversammlung und die Volksabstimmung genannt (siehe z. B. Eschenburg, Wiedervereinigung S. 37 f.; Herzog S. 86 A n m . 49 u n d K l e i n r a h m i n : Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 90 A n m . 2 — S. 569). Diese Äußerungen sind jedoch ohne Bezug zum Problem getan. Daß sie die Möglichkeit eines i m Rechtssinne mehraktigen Verfassungsverfahrens verneinen, läßt sich ihnen w o h l schwerlich entnehmen.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Wille i n einem Organ, der verfassunggebenden Versammlung oder dem Staatsvolk, konzentriert. Aber auch i m mehraktigen Verfahren der Verfassungserzeugung sind der historische Wille des Verfassunggebers und seine textlich nicht fixierten Vorstellungen zu den einzelnen Verfassungsbestimmungen nur scheinbar eine Addition des Willens und der Vorstellungen mehrerer Organe. Denn der Wille des historischen Gesetzgebers i m Sinne der subjektiven Auslegungslehre kann nur der Wille des Sanktionsorgans sein. Nur was das Sanktionsorgan zur Verfassung erhebt, ist mit Verfassungskraft ausgestattet, mag auch das Feststellungsorgan den Inhalt bindend vorgeben. Dementsprechend können für eine subjektive Interpretationstheorie nur die Vorstellungen des Sanktionsorgans zum Verfassungstext erheblich sein, auch wenn sie an der „Gesetzeskraft" nicht teilhaben 141 und daher auf die Erteilung der Sanktion nicht „angewiesen" sind. Soweit Vorstellungen beim repräsentativen verfassungsberatenden Organ zu finden sind, können sie für die Ermittlung des „gesetz"geberischen Willens nicht unmittelbar auf Grund der Repräsentationseigenschaft 142 des Feststellungsorgans verwertet werden, sondern nur insoweit, als sie vom Sanktionsorgan, d. h. i m teil- bzw. vollplebiszitären Verfahren vom Volke, aufgenommen sind 143 . Ob hierfür ein globales Akzept i m Akte der Volksabstimmung über den erstellten Entwurf ausreichend ist, w i r d als weitere Frage noch zu untersuchen sein. Welche Materialien herangezogen werden können, um den Willen des historischen Gesetzgebers festzustellen, ist i m Verfahren der Verfassunggebung wie auch sonst vom Nachweis irgendeiner rechtlichen Zuordnung ihrer Quellen zum Sanktionsorgan unabhängig. Ebenso wie die sogenannte amtliche Begründung zur Ermittlung des parlamentarischen Willens bemüht wird 1 4 4 , können z.B. auch die Vorstellungen eines i m rechtlichen Sinne nicht repräsentativen Organs bei der Erstellung eines Verfassungsentwurfs prinzipiell Aufschluß über den Willen des Sanktionsorgans, z. B. des Staatsvolkes, geben 115 . Eine Besonderheit gegenüber dem vollrepräsentativen Verfahren der Verfassung141

P. Schneider, Verfassungsinterpretation S. 8. Vgl. i n diesem Zusammenhang die hier freilich nicht unmittelbar einschlägige Kontroverse zwischen Hildegard Krüger (DVB1. 62, 581 ff. — 584) und Helmut Quaritsch (DVB1. 62, 584 ff. — 589). 143 So i m Ergebnis auch Ent. d. Bayer. V e r f G H v. 2.12.1949, V G H n. F. 2 I I 181 ff. (203). 144 Das B V e r w G erachtet z. B. die „Erklärungen der beiden Berichterstatter des Vermittlungsausschusses" „als Interpretation des gesetzgeberischen Willens" (Beschl. d. GrS v. 18. 3.1961, B V e r w G E 12, 119 ff. — 122). Z u r Rechtsprechung des Supreme Court siehe Zweigert, Interpretation S. 382. 145 Lüchinger w i l l den W i l l e n des Volkes „nötigenfalls auf G r u n d von i m Zusammenhang m i t der Volksabstimmung erscheinenden Presseartikeln" erm i t t e l n (S. 121 f.). 142

2. K a p i t e l : Mehraktiges Verfahren der Verfassunggebung

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gebung könnte sich beim teil- bzw. vollplebiszitären Verfahren daraus ergeben, daß das Volk als Massenorgan kaum i n seiner Mehrheit detaillierte Vorstellungen vom oder gar zum Verfassungstext erwirbt oder entwickelt 146 . M i t diesem Umstand hat sich freilich eine am subjektiven Willen des Gesetzgebers orientierte Auslegung bereits dann auseinanderzusetzen, wenn mehrere Personen und nicht erst dann, wenn alle A k t i v bürger Gesetzgeber sind 147 . So sind auch repräsentative Körperschaften Kollektivorgane. Sie beschließen oft, ohne daß die jeweilige Mehrheit den gesamten Gesetzesinhalt oder gar die Unterlagen kennt, die später i m Rahmen der Auslegung zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens gewöhnlich herangezogen 148 werden 149 . Man nimmt daher für das teil- bzw. vollplebiszitäre Verfahren der Verfassunggebung keine prinzipielle Ausnahme jedenfalls gegenüber der einfachen Gesetzgebung i n Anspruch, wenn man für diese Form der Verfassunggebung davon ausgeht, daß das Staatsvolk i m Abstimmungsvorgang nicht nur den Verfassungstext, sondern auch die zu ihm entwickelten repräsentativen Vorstellungen pauschal akzeptiert. Die — gegenwärtig sowieso zurückhaltende 150 — Heranziehung des historischen Willens des Gesetzgebers bei der Auslegung von Verfassung und Gesetz ist daher nicht allein dann möglich, wenn eine bestimmte Vorstellung bei der Mehrheit des Volkes real nachweisbar ist 1 5 1 . Nur wenn man den Be140 v g l Scheuner, Gutachten Hessen S. 22. Giacometti weist darauf hin, daß der allgemein gegen die subjektiv-historische Auslegung plebiszitär entstandener Verfassungen erhobene Einwand, es fehle am willensfähigen Gesetzgeber, auch gegen eine solche Interpretationsweise der Schweizerischen B u n desverfassung möglich sei, da hier „Bundesverfassungsgesetzgeber Bundesversammlung u n d V o l k zugleich sind" (Auslegung S. 28). Vgl. ferner i n diesem Zusammenhang L i v e r S. 19. I m übrigen stellt sich das Problem bei der I n t e r pretation jedes Rechtssatzes, der v o m V o l k unmittelbar sanktioniert wird. 147 Das stellt Lucas k l a r (S. 403 f.). 148 Hier kommen als sog. Materialien u. a. die Beratungen der zuständigen Parlamentsausschüsse u n d die Entwürfe der Ministeriälbürokratie i n Betracht. 149 Siehe hierzu Hildegard Krüger, DVB1. 62, 581 ff. (584). Sie bezeichnet es als eine „ F i k t i o n " , „daß jeder Abgeordnete Kenntnis jedes von i h m beschlossenen Rechtssatzes hat". 130 Das BVerfG hat der subjektiven Auslegungsmethode k l a r eine subsidiäre F u n k t i o n zugewiesen. Siehe Urt. v. 21. 5.1952, BVerfGE 1, 299 if. (312) und ferner Beschl. v. 15.12.1959, BVerfGE 10, 234 ff. (244). Weitere Nachweise finden sich bei Krüger (Verfassungsauslegung S. 685 A n m . 3) und Horst Joachim M ü l l e r (Subjektive u n d objektive Auslegungstheorie i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 62, 471 ff.). I n der L i t e r a t u r weisen z.B. Giacometti (Auslegung S. 28) und Zweigert (Interpretation S. 383) der subjektiv-historischen Interpretation eine Hilfsfunktion zu. 151 Dagegen fragt der Bayer. V e r f G H danach, „ob u n d inwieweit die Motive der verfassunggebenden Landesversammlung u n d ihres Verfassungsausschusses v o m Volk tatsächlich aufgenommen werden" (Ent. v. 2.12.1949, V G H n. F. 2 I I 181 ff. — 203; Hervorhebung v o m Verfasser). Vorsichtig formuliert Scheuner, die „parlamentarischen Vorarbeiten" verlören „ a n Gewicht", wenn das Gesetz einem Volksentscheid unterbreitet werde (Gutachten Hessen S. 22).

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

g r i f f des historischen gesetzgeberischen W i l l e n s i n dieser Weise i n t e r p r e t i e r t , b l e i b t auch der i m t e i l - b z w . v o l l p l e b i s z i t ä r e n V e r f a h r e n z u stande g e k o m m e n e n V e r f a s s u n g die f ü r i h r e A u s l e g u n g u n v e r z i c h t b a r e M ö g l i c h k e i t einer s u b j e k t i v - h i s t o r i s c h e n Betrachtungsweise e r h a l t e n 1 5 2 . D e r dargestellte E i n w a n d gegen die s u b j e k t i v - h i s t o r i s c h e A u s l e g u n g e i n e r d e m o k r a t i s c h entstandenen V e r f a s s u n g w i l l diese I n t e r p r e t a t i o n s m e t h o d e aus tatsächlichen Gründen zurückdrängen. Der Methodenstreit w i r d , a r g u m e n t i e r t m a n i n der bezeichneten Weise, n i c h t dogmatisch, sondern „ z w a n g s l ä u f i g " d u r c h die besonderen V e r h ä l t n i s s e der d e m o k r a t i s c h e n V e r f a s s u n g s e n t s t e h u n g entschieden 1 5 3 . Solche Ü b e r l e g u n gen s i n d n i c h t m i t I n t e r p r e t a t i o n s t h e o r i e n z u v e r w e c h s e l n 1 5 4 , die e i n e n unmittelbaren dogmatischen Z u s a m m e n h a n g zwischen der Idee der D e m o k r a t i e oder V o l k s s o u v e r ä n i t ä t u n d der A u s l e g u n g s l e h r e herstellen. Dagegen sind für den V e r f G H Koblenz die Vorstellungen einer beratenden Versammlung auch die des Volkes (Ent. v. 5.12.1950, AS H h - P f 2, 349 ff. — 352). Keine Bedenken gegen eine Verwertung der Entstehungsgeschichte einer v o m V o l k beschlossenen Verfassung hat ferner der Hess. S t G H (Urt. v. 6. 6.1952, VerwRspr 5 Nr. 3 — S. 20). 152 Die Verfassungsauslegung k o m m t ohne die, w e n n auch nur hilfsweise Heranziehung der Verfassungsmaterialien nicht aus. Vgl. hierzu auch Leisner, Verfassungsauslegung S. 642. I n diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß man sowohl für die deutsche Verfassungsrechtsprechung als auch f ü r die Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts Abweichungen v o m verbindlich erklärten objektiven Auslegungskurs zugunsten der subjektiven Auslegung i m Einzelfall festgestellt hat. Siehe Otto Bachof u n d Dietrich Jesch, Die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte i n der Bundesrepublik Deutschland, JöR n. F. 6, 47 ff. (65 f.) einerseits u n d L i v e r S. 17 andererseits. 153 So macht z. B. Zweigert gegen die historische Auslegungsmethode „die ans Unmögliche grenzende Schwierigkeit" geltend, den W i l l e n des modernen Gesetzgebers festzustellen. Denn dieser sei ein „anonymes Wesen" und bestehe aus einer „Vielzahl von Willensrichtungen" (Interpretation S. 382). 154 Freilich erscheint i n der Literatur teilweise der Hinweis auf die m i t der Demokratie eingetretene Veränderung der S t r u k t u r des Gesetzgebers als dogmatischer Einwand gegen die subjektiv-historische Auslegung. So bezeichnet z. B. Lucas die Lehre v o m W i l l e n des Gesetzgebers als „absolutistische D o k t r i n " , die i m konstitutionellen Staat keine Berechtigung mehr habe, da „bei der Vielheit von Gesetzgebungsfaktoren der fiktive Charakter des Willens des Gesetzgebers sich allzu deutlich offenbart" (S. 426). Zutreffend stellt dagegen Tiefenbacher heraus, daß die Entscheidung i m Methodenstreit nicht zugunsten einer bestimmten Theorie ausfallen dürfe, w e i l diese die Schwierigkeiten bei der Feststellung des gesetzgeberischen Willens umgehe (S. 99, 100). Die U n t e r scheidung von I n d i v i d u a l - und Kollektivgebot spielt nach seiner Ansicht keine Rolle für die Anwendbarkeit der subjektiven Auslegung, w e n n diese nicht auf einem „psychologischen", sondern einem „normativen" Willensbegriff aufbaue, der nur die bei der Normsetzung i n Erscheinung getretenen kausalen Interessen zum I n h a l t hat (S. 101 f.). Eine dogmatische Verbindung von demokratischer Staatsform und Auslegungslehre sieht auch Hermann Conrad. Der W i l l e des Gesetzes als Ausgangspunkt der Interpretation ist f ü r i h n „etwas", „was der Demokratie eigen ist, w e i l es i n der Demokratie keinen persönlichen Gesetzgeber gibt" (Beitrag i n der Diskussion zum Vortrag v o n Hermann Coing über „Die juristischen Auslegungsmethoden u n d die Lehren der allgemeinen Hermeneutik" i n : Heft 84 der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 1959, S. 28).

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Nur diese berühren die allgemeine, i m folgenden kurz behandelte Frage, wie das Verhältnis von Staatsform und Interpretationsmethode zu bestimmen ist. Die Schweizer Bundesverfassung hat, argumentiert Lüchinger zugunsten des Vorrangs der subjektiv-historischen Auslegungsmethode i m Verfassungsrecht, durch die Bestimmungen über die Verfassungsrevision die Entscheidung über die richtige Gestaltung der Verfassungsordnung auch für die Zukunft dem Volke zugewiesen 155 . Für die Auslegung der Verfassung habe dies zur Folge, daß die Orientierung am subjektivhistorischen Willen des Verfassunggebers maßgeblich sei 156 . Ein „späterer" Wille des Volkes könne nur in dem durch die Revisionsbestimmungen vorgezeichneten Rahmen der förmlichen Verfassungserzeugung zur Geltung kommen. Solange das Volk nicht das Grundgesetz i n dem ihm jederzeit verfügbaren 157 Verfahren der Verfassungsrevision geändert habe, verletze eine am historischen Willen des Verfassunggebers orientierte Auslegung nicht den Volkswillen 1 5 8 und damit auch nicht das demokratische Prinzip. Eine Fortbildung der Verfassung auf interpretatorischem Wege schließt Lüchinger folgerichtig aus 159 . Dagegen läßt sich mit guten Gründen die Ansicht vertreten, aus dem Prinzip der Volkssouveränität folge das Gebot einer Auslegung am Maßstab des Volkswillens i m Zeitpunkt der Interpretation 160 . A m Postulat einer periodischen förmlichen Verfassungsrevision durch das Volk gemessen, erweist sich die Forderung nach einer Orientierung der Interpretation am aktuellen Volkswillen 1 6 1 als gemäßigte Folgerung aus dem Vorstellungsbereich der Generationenlehre, die dem Grundsatz nach eine Bindung späterer Generationen durch Rechtsetzungsakte vor155

S. 91. Vgl. S. 90 f. und 92. 157 Z u m Verhältnis von Verfassungsrigidität u n d Auslegungsmethode siehe Krüger, Verfassungsänderung S. 722. 158 S. 93 A n m . 14. 159 Damit n i m m t Lüchinger innerhalb des m i t der subjektiv-historischen Auslegung sympathisierenden Teils der Schweizer Lehre einen extremen Standpunkt ein. Vgl. H. Huber, Besprechung Lüchinger S. 509. Kritisch zu Lüchinger Bachof, DÖV55, 31 (freilich ohne nähere Auseinandersetzung m i t dessen Thesen); H. Huber, a. a. O., S. 51 I f f . ; Krüger, Verfassungsauslegung S. 686 u n d P. Schneider, Verfassungsinterpretation S. 29. Bühler moniert a l l gemein, daß das „ I n s t i t u t der Abstimmung, die den augenblicklichen Stand des Gesamtwillens ohne Bezug auf Vergangenheit u n d Z u k u n f t ergibt", „auch i n einem demokratischen Staat nicht verabsolutiert werden" darf (S. 96). Vgl. aber auch L i v e r S. 20. ieo v g L Krüger, a. a. O., S. 685 f. u n d zu seinem Begriff des „gegenwärtigen" Verfassunggebers a. a. O., S. 686 ff. 156

161 Hans Nawiasky spricht von einer Auslegung nach dem „erkennbaren letzten W i l l e n " des Normgebers (Rechtslehre S. 130 — dort gesperrt). Z u m Einfluß der von i h m entwickelten Auslegungsgrundsätze auf die Rechtsprechung des Bayer. V e r f G H siehe Wintrich, Eigenart und Methode S. 248 A n m . 55.

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ausgehender Generationen ablehnt. Die Richtlinien für die Auslegung können dabei entweder einem realen oder einem hypothetischen Willensinhalt entnommen werden. Der hypothetische Wille läßt sich seinerseits wiederum auf zwei Weisen feststellen. Man kann fragen, welchen Inhalt der vernünftige historische Gesetzgeber der von ihm erzeugten Norm gegeben hätte, wenn ihm die Gesamtheit der erheblichen Umstände und Verhältnisse i m Zeitpunkt der Auslegung bekannt gewesen wäre 1 6 2 . Der Inhalt des hypothetischen Volkswillens läßt sich aber auch dadurch realisieren, daß die betreifende Norm so interpretiert wird, wie ein aktualisierter Volkswille ihren Inhalt festlegen würde 1 6 3 . Das demokratische Prinzip scheint demnach i n seinen Folgerungen für die Hermeneutik jedenfalls insoweit nicht mehrdeutig zu sein, als es den Verfassungs- bzw. Gesetzesinterpreten auf den i m Volkswillen maßgeblich zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers, nicht den des Gesetzes festlegt. Diese Konsequenz ist jedoch nicht zwingend. Die demokratische Theorie hat lediglich eine Auslegungstechnik, die bereits einem bestimmten Verständnis der monarchischen Staatsform geläufig war, auf den neuen Willensträger, das Volk, zugeschnitten. Denn die subjektive Auslegung, vor allem in der Form der subjektiv-historischen Auslegung, wurde und w i r d nicht nur für den Volkssouverän in Anspruch genommen, sondern ist rechtsgeschichtlich m i t der souveränen Einzelperson und der diese tragenden Idee des absoluten Herrschers verknüpft 1 6 4 . Ebenso wie der Vorrang des gesetzgeberischen Willens gegenüber dem Willen des Gesetzes einem absoluten Begriff der monarchischen Staatsform entspricht, sind die Gründe für die Ableitung der subjektiven Auslegung aus dem demokratischen Prinzip i m absoluten Verständnis der Volkssouveränität zu suchen 165 . Für den Bereich der 162 Siehe P. Schneider, Verfassungsinterpretation S. 7 f. Kritisch zu dieser — oft als veredelte subjektive Methode bezeichneten — Auslegungstechnik Lüchinger S. 93 und Zweigert, Interpretation S. 382. 163 Da i n den Fällen, i n denen die Auslegung am hypothetischen W i l l e n des Gesetzgebers orientiert w i r d , an die Stelle des realen Volkswillens der „vernünftige" und „zeitgemäße" W i l l e des Volksgesetzgebers t r i t t , nähern sich hier subjektive u n d objektive Auslegung i m Ergebnis. Eine Bestimmung des Volkswillens i m letztgenannten Sinne würde sich i m übrigen v o m soziologischen Begriff der Demokratie her anbieten. Vgl. oben S. 59. 184 Siehe hierzu Giacometti, Auslegung S. 29; Meier-Hayoz, Die Bedeutung der Materialien f ü r die Gesetzesanwendung, SchwJZ 52, 213 ff. (214); L i v e r S. 57; Lucas S. 405 ff.; Zweig S. 173 und vor allem Tiefenbacher S. 96 f. 165 Lüchinger meint, auf den Begriff der absoluten Demokratie i m Sinne der „unbedingten und schrankenlosen Herrschaft des jederzeitigen V o l k s w i l lens" greife man n u r dann zurück, wenn der zeitgemäße Volkswille i m Rahmen der Auslegung herangezogen werde (S. 94). N u n beruht nach seiner A n sicht die Bindung des Verfassungsaiuslegers an den subjetiv-historischen Volkswillen auf dem der Schweizer Bundesverfassung zugrunde liegenden Prinzip der demokratischen „Rechtsetzung" (a. a. O. — dort gesperrt). Danach kann der W i l l e des Volkes n u r i m förmlichen Rechtssatz maßgeblich werden.

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Auslegungstheorie bestätigt sich hier Zweigs Feststellung, das „absolutistische Prinzip" bringe „ i n bezug auf Wesen und Grenzen der politischen Gewalt überall die gleichen Anschauungs- und Erscheinungsformen" hervor 16®. Die objektive Gesetzesinterpretation ist rechtshistorisch die Auslegungsmethode der gemäßigten Herrschaftsform 167 . Die gegenwärtige Interpretationslehre m i t ihrer „Tendenz zu dieser oder jener Spielform der objektiven Methode 1 6 8 " trifft i m allgemeinen die Entscheidung zwischen den zur Debatte stehenden Auslegungswegen unbeeinflußt von der Staatsformbestimmung und deren konkreten verfassungsgesetzlichen Ausgestaltung 169 . Das Gesetz· ist nicht „ i n erster Linie" „die Kundgebung des persönlichen Willens eines historischen Gesetzgebers 170 ", sondern löst sich m i t dem Erzeugungsvorgang vom Normgeber und seinen Ansprüchen auf die Auslegung des von i h m gesetzten Rechts. Die Interpretationslehre hat sich „neutralisiert 1 7 1 "; sie begreift das Recht als menschliche Schöpfung schlechthin 172 . Das demokratische Prinzip w i r d dabei auch dort nicht i n die Diskussion eingebracht, wo die Zuständigkeiten von Legislative und Rechtsprechung i m Bereich der Rechtsfortbildung m i t Hilfe des Gewaltenteilungsprinzips 173 abgegrenzt werden sollen. K a u m w i r d vermerkt, daß der Anspruch der gesetzgebenden Körperschaften auf ausschließliche Rechtserzeugung i n der Verfassungs- und Gesetzesstufe vom demokratischen Prinzip als der Idee der unmittelbaren bzw. mittelbaren Rechtserzeugung durch das Volk getragen wird. Denn dieser Anspruch ist eben i n dem Maße durchsetzbar, als die demokratische Vorstellung der richtigen Rechtserzeugung GlauSolange das Volk den Weg der Rechtsetzung nicht beschreitet, bleibt sein i m Zeitpunkt der Verfassunggebung geäußerter Wille unabdingbar verbindlich. Darin liegt das absolute Element i n Lüchingers Interpretationslehre. 160 S. 60. Vgl. auch S. 181. 167 Zweigert lehrt die Rechtsvergleichung, daß aus der jeweiligen Staatsform weder für noch gegen die historische Auslegungsmethode A r g u mente hergeleitet werden können. Er weist zur Begründung auf die unterschiedliche Übung i n England und Kanada einerseits und den Vereinigten Staaten von Nordamerika andererseits hin (Interpretation S. 382). 168

P. Schneider, Verfassungsinterpretation S. 10. Jedoch hat Leisner wieder den Blick auf den „konkreten , aus der Volkssouveränität heraus höchst beachtlichen Willen der répresentants du peuple" gelenkt. Vgl. Verfassungsauslegung S. 644 — dort gesperrt. 170 A r t h u r Meier-Hayoz, Die Bedeutung der Materialien für die Gesetzesanwendung, SchwJZ 52, 213 ff. (214). 171 „Die Rechtsbildung", formuliert H. Huber, „geht ihren eigenen Weg" unabhängig von der speziellen Staatsform des einzelnen Gemeinwesens (Besprechung Lüchinger S. 513). 172 Siehe Gustav Radbruch, Einführung i n die Rechtswissenschaft, 11. Aufl. 1964, bearb. von Konrad Zweigert, S. 253 f. 173 Vgl. Otto Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht i n der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 2. Aufl. 1964, S. 99 und Leisner, Verfassungsauslegung S. 642. 169

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

ben findet 174. I n der deutschen Verfassungsordnung hat der Legitimitätsverlust des demokratischen Gedankens über den Einbau der einzelnen Norm „ i n ein logisch-teleologisches Sinngebilde 1 7 5 " zu einer Objektivierung sogar der — an vorpositiven Grundsätzen und einer vorgegebenen Wertordnung 17 ® meßbaren — Verfassungserzeugung geführt. Die wertgebundene Rechtsfortbildung durch den Richter erscheint folgerichtig als angemessene Form der Rechtsentwicklung 177 . Die Rechtsprechung hat danach über die Ausführung des gesetzgeberischen W i l lens hinaus das Recht zu verwirklichen 1 7 8 . Soweit die Vereinbarkeit solcher Überlegungen m i t dem Prinzip der Volkssouveränität erörtert wird, klammert man die Funktion der Gerichte, vor allem der Verfassungsgerichtsbarkeit, aus dem Organisationsbereich der Staatsgewaltformel aus 179 oder sieht die Zuordnung von Gerichtsentscheid und V o l k bzw. Volkswillen durch die Zurechnungsfunktion der einschlägigen Verfassungsnormen gewährleistet 180 . I n Deutschland hat die durch A r t . 79 Abs. 3 hervorgerufene materielle Rigidität des Grundgesetzes und nicht dessen verfahrensbedingte Starrheit (Art. 79 Abs. 1) die Grenzen zwischen förmlicher Verfassungsänderung bzw. förmlicher Verfassungsergänzung einerseits und gerichtlicher Verfassungsfortbildung andererseits zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit verschoben 181 . 174 Daher sind letzten Endes die Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung durch die Gerichte rational nicht zu ziehen. Vgl. auch Krüger, Verfassungsänderung S. 725 und Leisner, a. a. O. 175 P. Schneider, Verfassungsinterpretation S. 13. 176 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Wintrich, Methode und Eigenart S. 246 if. Zum Einfluß der „abstrakten, unvoluntaristischen Ordovorstellung" der Verfassung auf die Auslegungsmethode siehe Leisner, a. a. O., S. 644 und in diesem Zusammenhang auch H. Huber, Besprechung Lüchinger S. 510. 177 Tiefenbacher bezeichnet die Verfassungswandlung, wie sie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bewirkt werde, als „materielle Verfassungsgesetzgebung" (S. 80, 82) m i t der „Aufgabe, in dem mehr oder m i n der weiten und lockeren Rahmen des Verfassungsrechts selbst den pouvoir constituant auszuüben, wobei schließlich nicht einmal der Inhalt des u r sprünglichen Verfassungsrechts unberührt bleiben w i r d " (S. 96 — dort gesperrt). Vgl. ferner Drath, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 108 f. und Dahm S. 164. 178 Siehe K a r l Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 65,1 if. (2, 6) und W. Thieme, Staatsgewalt S. 658. 179 Vgl. W. Thieme, Staatsgewalt S. 657 ff. 180 Siehe Hans Peters, Die Rechtslage von Rundfunk und Fernsehen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1961, 1961, S. 26 und Tiefenbacher S. 82. 181 Siehe hierzu auch Krüger, Verfassungsänderung S. 725. Die beschriebene Erscheinung, der hier nicht näher nachgegangen werden kann, ist nicht ohne kritische Analyse geblieben. I n der „Ersetzung des Gesetzmäßigkeitsprinzips" durch die „Rechtmäßigkeit" sieht z. B. K a r l Zeidler eine „große Gefahr der Minderung demokratischer Substanz" (Einige Bemerkungen zum Verwaltungsrecht und zur Verwaltung in der Bundesrepublik seit dem Grundgesetz, in: Der Staat 1, 321 ff. — 326). Siehe ferner W i l l i b a l t Apelt, Die Gesetzgebungstechnik, 1950, S. 9 ff.

Drittes Kapitel D i e repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht A . Das rechtstheoretische Problem der repräsentativen Verfassungserzeugung I. Einleitung in die Problemstellung

Die Verfassunggebung durch das Volk kann repräsentativ vollzogen werden. Das Staatsvolk überträgt dann i n der Wahl einer verfassunggebenden Versammlung einer repräsentativen Körperschaft die Rechtsmacht, den Inhalt der Verfassung zu bestimmen und dieser ohne seine weitere M i t w i r k u n g rechtliche Geltung zu verleihen. I m Falle der originären Verfassungsschöpfung vertraut es die Verfassunggebung i n aller Regel einer zu diesem Zweck gewählten besonderen Vertretung an. Denkbar ist aber auch, daß ein (gegebenenfalls bereits bestehendes) mit Aufgaben der einfachen Gesetzgebung betrautes Organ die Verfassung schaffen w i l l oder soll. Die Prüfung der staatsrechtlichen Möglichkeit einer solchen Verfassungsentstehung w i r f t vor allem zwei miteinander zusammenhängende Fragen auf. Einmal ist zu klären, ob verfassungserzeugende und gesetzgebende Gewalt dahin zu unterscheiden sind, daß sie nicht vom selben Organ ausgeübt werden können. Falls beide Gewalten in einem Organ vereinigt sein können, bleibt die Frage, ob es einer doppelten Delegation durch das Volk bedarf oder ein Organ m i t der einen Gewalt immer zugleich auch die andere besitzt. Diese rechtstheoretischen Probleme der repräsentativen Verfassungserzeugung sollen am Beispiel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 erörtert werden. Seine wesentlichen Entstehungsakte sind von repräsentativen Organen vorgenommen worden 1 . Sie können auch an den demokratischen Regeln über die Schaffung einer Verfassung durch die konstituierende Gewalt des Volkes gemessen werden. Denn das Grundgesetz leitet sich selbst nach der Aussage seiner Präambel aus der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes ab. Es weist ferner alle Merkmale einer Verfassung i m formellen Sinne auf 2 . 1 Die Lehre von der unmittelbaren M i t w i r k u n g des Staatsvolkes an der I n geltungsetzung des Grundgesetzes durch konkludente Zustimmung i n der W a h l zum 1. Deutschen Bundestag bleibt hier außer Betracht. Siehe hierzu oben S. 61. 2 Siehe L a u x S. 4; Ipsen, Grundgesetz S. 9; Scheuner, Grundfragen S. 160 A n m . 15 und W. Weber, Spannungen S. 15 f. Z u m Selbstverständnis des Parlalo*

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung I I . Die Entstehung des Bonner Grundgesetzes

1. Der Sachverhalt* Auf der Londoner Konferenz der drei westlichen Alliierten wurden i n der Zeit vom 23. bis 26. Februar 19484 gemeinsame Empfehlungen an die Regierungen der Konferenzländer zur Verfassungsfrage i n Deutschland ausgearbeitet. I n Abschnitt I I I A Abs. 3 des abschließenden „Londoner Deutschland-Kommuniqués" vom 7. Juni 1948 sprachen die Delegationen aus, sie seien übereingekommen, „ihren Regierungen zu empfehlen", den Ministerpräsidenten der Westzonen Deutschlands auf einer gemeinsamen Sitzung Vollmacht zu erteilen, „eine verfassunggebende Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung einzuberufen, die von den Ländern zu genehmigen sein w i r d " . Abs. 4 des Abschnittes I I I legte weiter fest: „Die Abgeordneten dieser verfassunggebenden Versammlung werden von den einzelnen Ländern nach Bestimmungen ernannt werden, die von den einzelnen Länderparlamenten selbst festgelegt werden." I n Abs. 6 war schließlich vorgesehen, daß die „Militärgouverneure die Bevölkerung in den betreffenden Staaten zur Ratifizierung ermächtigen 5 ". I n Vollzug dieser Empfehlungen wurden die westdeutschen Länderchefs in der Sitzung vom 1. Juli 1948 in Frankfurt/a. M. durch das Dokument Nr. I zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung ermächtigt®. Dieses Dokument legte ferner fest, daß die Zahl der Delegierten dieser Versammlung aus jedem Land i m selben Verhältnis zur Gesamtzahl der Mitglieder stehen sollte wie die von ihr repräsentierte Bevölkerung zur Gesamtbevölkerung der an der Grundgesetzgebung beteiligten Staaten. Weiter bestimmte es: „Die Ratifizierung in jedem beteiligten Lande erfolgt durch ein Referendum, das eine einfache Mehrheit der Abstimmenden i n jedem Land erfordert, nach von jedem Land jeweils anzunehmenden Regeln und Verfahren. Sobald die Verfassung mentarischen Rates siehe u. a. Walter Menzel, Verfassungsprobleme der Gegenwart, i n : Recht, Staat, Wirtschaft, 1949, S. 93 ff. (96 f.). 3 Die „ V o r - und Entstehungsgeschichte des Bonner Grundgesetzes" (vgl. Bonner Kommentar, Einl. S. 1) w i r d i m T e x t n u r insoweit wiedergegeben, als sie die juristische Problemstellung verdeutlicht oder auf sie i m folgenden Bezug genommen w i r d . Eine ausführliche Darstellung der gesamten Vorgänge findet sich i m Bonner Kommentar (Einl. S. 1 f., 3 ff.) sowie bei Herbert Demmler (Die Entstehungsgeschichte des Bonner Grundgesetzes, Diss. K ö l n 1951). Die Darstellung des Sachverhalts i m Text folgt dem Bonner Kommentar (Einl. S. 3 ff.). 4

Die Konferenz wurde am 20. A p r i l 1948 fortgesetzt.

5

Zit. nach Bonner Kommentar, Einl. S. 28.

β Das Dokument ist i n englischer und deutscher Sprache i m Bonner K o m mentar wiedergegeben (Einl. S. 40 f.).

3. Kapitel : Repräsentative Erzeugung v o n Verfassungsrecht

149

von zwei Dritteln der Länder ratifiziert ist, t r i t t sie in Kraft und ist für alle Länder bindend 7 ." Die Stellungnahme der Ministerpräsidenten zu Dokument Nr. I wurde auf der Koblenzer Konferenz vom 8. bis 10. Juli 1948 formuliert. Sie sah von der Einberufung einer „deutschen Nationalversammlung" und der „Ausarbeitung einer deutschen Verfassung" ab und stellte die Wahl einer „Vertretung (Parlamentarischer Rat)" zur Ausarbeitung eines Grundgesetzes i n Aussicht 8 . Die Durchführung eines Volksentscheids war nicht geplant 9 . Nach Verhandlungen zwischen den Militärgouverneuren und den Chefs der deutschen Länder schlugen am 26. Juli 1948 die Ministerpräsidenten auf einer gemeinsamen Konferenz i n Frankfurt/a.M. in Ziff. 1 des deutsch-alliierten SchluB-Kommuniqués die Ratifizierung eines vom Parlamentarischen Rat entworfenen Grundgesetzes durch die Länderparlamente vor. Sie erklärten sich hilfsweise auch m i t der Abhaltung einer Volksabstimmung einverstanden, falls die alliierten Regierungen auf deren Durchführung bestehen würden 1 0 . Das „Modell eines Gesetzes über die Errichtung eines Parlamentarischen Rates", das ein durch die Ministerpräsidenten eingesetzter Verfassungsausschuß11 anschließend schuf, wurde von den westdeutschen Ländern mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen 12 i n der Zeit vom 6. August 1948 bis 30. September 1948 i n Form von Ländergesetzen erlassen 13. A m 10. August 1948 trat der Verfassungsausschuß der Konferenz der Ministerpräsidenten auf Herrenchiemsee zusammen („Herrenchiemseer Konvent"), um eine A r t Regierungsvorlage für den Parlamentarischen Rat auszuarbeiten 14 . Der Parlamentarische Rat selbst wurde durch die Konferenz der Ministerpräsidenten zum 1. September 1948 einberufen 15 . A m 8. Mai 1949 stellte er das Grundgesetz endgültig fest 16 . Die alliierten Militärgouverneure erteilten am 12. Mai 1949 die grundsätzliche Genehmigung 17 . Entsprechend dem in Art. 144 GG vorgesehenen Verfahren wurde das Grundgesetz den Landtagen und Bürgerschaften der Länder zur Annahme vorgelegt. Für eine Ratifikation durch die Volksvertretungen i n zwei Dritteln der westdeutschen Länder, in denen es gelten 7

Zit. nach Bonner Kommentar, Einl. S. 41. Siehe a. a. O., S. 45. 9 Siehe a.a.O. 10 Siehe a. a. O., S. 49. 11 Siehe a. a. O., S. 51. 12 Siehe a . a . O . 13 Siehe a. a. O., S. 52. 11 Siehe a. a. O., S. 53. 15 Siehe a. a. O., S. 84. 1(5 Siehe a. a. O., S. 126. Vgl. hierzu Giese, Bundesstaatsgründung S. 69. 17 Siehe Bonner Kommentar, Einl. S. 127 ff. 8

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

sollte, hatte sich die Mehrheit des Parlamentarischen Rates ausgesprochen 18 . Die Beschlußfassung der Länderparlamente erfolgte in der Zeit vom 18. bis 21. Mai 1949 und führte zu einer ausreichenden Mehrheit. A m 23. Mai 1949 wurde das ratifizierte Grundgesetz ausgefertigt und verkündet 19 . M i t Ablauf dieses Tages trat es i n Kraft. Da die Parlamente und Bürgerschaften der Länder die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats m i t der inhaltlichen Festlegung des Grundgesetzes beauftragt hatten, konzentriert sich die Frage nach der staatsrechtlichen Wirksamkeit von Feststellung und Sanktion des Grundgesetzes auf die Beurteilung ihrer Rechtsmacht 20 . Diese erschien i n bezug auf die Grundgesetzgebung nicht nur deshalb nach A r t und Umfang zweifelhaft, w e i l die Vertretungskörperschaften der Länder zur einfachen Gesetzgebung berufen waren. Auch wenn das deutsche Staatsrecht eine Trennung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt nicht entwickelt hat, mußte die Legitimation der Parlamente und Bürgerschaften der Länder zur Schaffung einer Bundesverfassung deshalb fraglich sein — und dies ist in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Verfahren der Grundgesetzgebung teilweise übersehen worden 2 1 —, w e i l die Länderorgane von den jeweiligen Landesstaatsvölkern mit Landesstaatsgewalt ausgestattet waren. Damit sind grundsätzliche Probleme i m Zusammenhang mit der Entstehung einer Bundesverfassung bzw. mit der bundesstaatlichen Entstehung einer Verfassung aufgeworfen. Einige Aspekte hierzu sollen i m folgenden von der Theorie der verfassunggebenden Gewalt her aufgezeigt werden.

18

Siehe a. a. O., Erl. 1 zu A r t . 144. a. a. O., Erl. zu A r t . 145. 20 Das bei der Grundgesetzentstehung eingeschlagene Verfahren hat eine Reihe weiterer Probleme aufgeworfen. Hierher gehört z. B. die Frage nach dem Rechtsgrund der i n A r t . 144 GG getroffenen Vorlageentscheidung. Danco geht davon aus, daß der Parlamentarische Rat i m Besitz der gesamten verfassungsschaffenden Gewalt w a r und qualifiziert dementsprechend die Vorlage des Grundgesetzes an die Parlamente u n d Bürgerschaften der Länder als einen A k t der „Selbstbindung" (S. 41 f.). I m übrigen bezeichnen auch andere Autoren den Parlamentarischen Rat als verfassungsschaffendes Organ (siehe Asam S. 28; vgl. ferner auch Quaritsch, Kirchen und Staat, S. 179), stellen i h n i n den Vordergrund der Legitimationskritik (siehe Zülch S. 11) oder vergleichen i h n m i t der Weimarer Nationalversammlung von 1919 (siehe v. M a n g o l d t - K l e i n I S. 45). Z u diesen Fragen gehört ferner das Problem der gesamtdeutschen oder „ n a tionalen" L e g i t i m i t ä t des Grundgesetzes. Siehe hierzu Grewe, Verfassungsrechtliche Grundlagen I I S. 313 u n d Krauss S. 581. 21 Siehe aber Wolfgang Abendroth, Zwiespältiges Verfassungsrecht i n Deutschland, AöR 76,1 ff. (6) u n d H. Schneider, Grundgesetz S. 937. 19

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von V e r f a s s u n g s r e c h t 1 5 1

2. Bundesstaatliche Entstehung einer Verfassung und Entstehung einer Bundesverfassung 22 Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes knüpft an eine bestehende Einheit, das Staatsvolk, an 23 , ähnlich wie die Zuordnung des Selbstbestimmungsrechts in Status- und Gebietsfragen an einen konkreten Träger „zum mindesten" „eine bereits formierte und konstituierte Einheit 24" verlangt. Sie bestimmt ferner lediglich, wie sich der Vorgang der Verfassunggebung innerhalb dieser vorausgesetzten Einheit vollzieht. Über die Bildung der m i t dieser Einheit ins Leben tretenden Staatsgewalt und das Verhältnis der verschiedenen Träger von Staatsgewalt zueinander sagt sie nichts aus. I n welcher Form die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf den Vorgang der Verfassungsentstehung i n einem Gemeinwesen zur Anwendung kommt, das mehrere Staatsgewaltträger kennt, ist daher ihr selbst nicht zu entnehmen. Existiert bei der Schaffung einer Bundesverfassung kein Gesamtstaatsvolk, kann sich eine solche Gesamtverfassung nicht aus dessen pouvoir constituant ableiten, sondern nur aus den verfassunggebenden Gewalten der Einzelstaatsvölker mit der Folge, daß eine Majorisierung der Einzelstaatsgewalten nicht möglich ist. Eine Anwendung des Mehrheitsprinzips i m Verhältnis der Staatsgewalten zueinander läßt sich i n einem demokratisch orientierten Rechtssystem auch nicht aus dem allen Einzelstaatsgewalten und auch der neu sich bildenden Staatsgewalt zugrunde liegenden demokratischen Prinzip herleiten 25 . Denn dieses verankert 22 Eine allgemeine Theorie der Bundesstaatsentstehung k a n n i m vorliegenden Zusammenhang nicht gegeben werden. Sie ist Gegenstand einer u m fangreichen deutschsprachigen Literatur, die sich vor allem an die Verfassungsschöpfungen von 1871 und 1919 angeschlossen hat. Aus jüngerer Zeit sei auf die auch hier zitierten Untersuchungen v o n Barbey, Giese, Herzog u n d Usteri hingewiesen. 23 Vgl. K ö l b l e S. 584 und Maunz, Verfassunggebende Gewalt S. 648. Der Prozeß von der natürlichen zur rechtlichen Existenz der Nation ist für G. Jellinek „ m i t einer juristischen Formel" nicht faßbar (Staatenverbindungen S. 263 f.). 24 Krüger u. a., Gutachten Südweststaat S. 11 (Hervorhebungen v o m V e r fasser). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 59. Wann eine solche Einheit gegeben ist u n d welche natürlichen Personen i h r zugehören, ist für die praktische Anwendung des Selbstbestimmungsrechts von entscheidender Bedeutung. Siehe i m einzelnen Krüger u. a., a. a. O., S. 9 ff.; Zaccaria Giacometti, Echte u n d unechte Volksbefragung, i n : Festgabe für E r w i n Ruck, Basel 1952, S. 47 ff. und Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1,14 ff. (50). 25 Eine solche Argumentation k l i n g t aber i n Nymans Feststellung an, die Einführung der Majoritätsklausel i n A r t . 144 GG erscheine „bei einer demokratischen Staatsform m i t Mehrheitsbeschluß als der grundlegenden Regierungsform vielleicht leichter annehmbar", „als w e n n es sich u m nicht-demokratische Staaten handelt" (S. 46).

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

nicht schlechthin den Vorrang der größeren Quantität 2 6 . Demokratische und bundestaatliche Entstehungsweise einer Verfassung sind verschiedenartige Verfahrenskategorien 27 . Man stellt daher keine adäquaten Begriffe nebeneinander, wenn man die Schaffung einer Bundesverfassung i n den Fällen als demokratisch bezeichnet, in denen sie durch eine demokratisch entscheidende Bundesgewalt hervorgeht, als bundesstaatlich dort, wo sie durch mehrere demokratisch formierte Staatsgewalten erfolgt. „Föderalismus" und „demokratisches Mehrheitsprinzip" bilden für die juristisch-konstruktive Analyse der Verfassunggebung 28 keine Gegensätze20. Das Verfahren der Verfassunggebung kann bundesstaatlich und demokratisch zugleich organisiert sein 30 . W i r d daher eine Verfassung, wie das Grundgesetz, durch qualifizierten Mehrheitsbeschluß der Bundesstaaten angenommen, ist damit keine von den „exakten Maßstäben" der französischen Revolutionslehre abweichende Verfahrensweise gewählt 31 , sofern sich nur die Willensbildung der einzelnen Staaten jeweils nach den demokratischen Regeln über die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt vollzieht. Denn die französische Lehre vom pouvoir constituant ist eine Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Staatsvolkes allgemein, nicht des Gesamtvolkes. Eine kraft der verfassunggebenden Gewalten der Einzelstaatsvölker zustande gekommene Gesamtverfassung fördert freilich nachweisbar die Heranbildung eines auch m i t verfassunggebender Gewalt ausgestatteten Gesamtstaats26 Siehe hierzu Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 59. A k t e des Gesamtstaatsvolkes gehen dementsprechend denen der Gliedstaats Völker nicht schon deshalb vor, w e i l ersteres den größeren Personenkreis umfaßt. Vgl. Herzog S. 86. 27 Vgl. z. B. Ellwein, Wiedervereinigung S. 114. Siehe i n diesem Zusammenhang auch Hesse, Bundesstaat S. 32. Zweckmäßiger ist die Unterscheidung von „nationaler" und „föderaler" Entstehungsweise einer Verfassung je nachdem, ob diese auf der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtvolkes oder auf den konstituierenden Gewalten der Einzelstaatsvölker aufbaut. Vgl. M o l l S. 65. I m übrigen f ü h r t jede bundesstaatliche Verfassungsschöpfung zu einer bundesstaatlichen Verfassung; nicht jede bundesstaatliche Verfassung aber beruht auf einer bundesstaatlichen Verfassungsschöpfung. So bezeichnet z. B. Grewe das Grundgesetz n u r i m Hinblick auf die Verfassungsform, nicht auf die Verfassungsgrundlage als bundesstaatliche Verfassung (Verfassungsrechtliche Grundlagen I I S. 334). 28 Z u m F a l l einer Konkurrenz von demokratischem u n d föderalistischem Prinzip innerhalb einer gliedstaatlichen Verfassungsordnung siehe Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1,14 ff. (50). 2tt

Siehe i n diesem Zusammenhang auch Hesse, Bundesstaat S. 32.

30

Diese Feststellung ist nicht i n dem Sinne zu verstehen, daß das Gesamtvolk und die Staatsvölker der Einzelstaaten selbständige Träger der verfassunggebenden Gewalt sind, die der Gesamtverfassung zugrunde liegt. Fleiner w i l l diese Situation freilich f ü r das Schweizerische Staatsrecht annehmen (Verfassungsmäßigkeit S. 2 a). 31

Siehe aber Maunz, Staatsrecht S. 47.

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von Verf assungsrecht

153

volkes 3 2 . Konstruktiv aber t r ä g t z u r E n t s t e h u n g einer solchen Gesamtg e w a l t das demokratische P r i n z i p nichts b e i 3 3 . E x i s t i e r t dagegen n e b e n den S t a a t s g e w a l t e n der E i n z e l s t a a t e n eine selbständige, d e m V o l k e zugewiesene G e s a m t s t a a t s g e w a l t 3 4 , e r f o l g t die V e r f a s s u n g g e b u n g k r a f t d e r verfassunggebenden G e w a l t des G e s a m t v o l k e s 3 5 . I n diesem F a l l e e r h ä l t e i n bereits bestehender Gesamtstaat eine neue ( V e r f a s s u n g s - ) O r d n u n g 3 6 . D e r S t i m m b ü r g e r ü b t h i e r die k o n s t i t u ierende G e w a l t als G l i e d des Gesamtvolkes u n d n i c h t als T e i l des j e w e i l i gen Gliedstaatsvolkes aus 3 7 , auch w e n n aus organisatorischen G r ü n d e n die M i t w i r k u n g s a k t e der s t i m m b e r e c h t i g t e n Einzelpersonen z u E i n h e i t e n zusammengefaßt w e r d e n , die sich personal m i t d e n Landesstaats32 Siehe hierzu auch C. Schmitt, Verfassungslehre S. 65. Die Entwicklungen von der amerikanischen Konföderation zur Unionsverfassung und vom schweizerischen Bundesvertrag des Jahres 1815 zur Bundesverfassung von 1848 sind Beispiele einer solchen Tendenz.

Schwierigkeiten bereitet der Bundesstaatstheorie die Frage, ob die Heranbildung einer Gesamtstaatsgewalt n u r i m Rahmen des Staatsgewaltverzichts der Gliedstaaten — sei es originär, sei es derivativ — erfolgt oder ob sie sich unabhängig von einem Verzicht der Einzelstaaten vollzieht. Vgl. hierzu Herzog S. 85 und zu den Parallelproblemen, die durch die Frage nach der Rechtsnatur der Hoheitsrechte zwischenstaatlicher Einrichtungen aufgeworfen werden, Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 24 Rdnr. 7 if. 33 I n einem politisch-ideellen Sinne hat dagegen z. B. der Sieg der Volkssouveränität i n den Schweizer Kantonen nach dem Jahre 1830 die Bestrebungen zur Schaffung einer wirkungsvollen Gesamtstaatsgewalt verstärkt. Siehe hierzu Büchel S. 18 ff. 34 Von der Existenz eines deutschen Staatsvolkes geht man seit der W a h l zum 1. Reichstag der Reichsverfassung von 1871 aus (Liermann S. 102, 113 f., 126). M i t der W a h l der verfassunggebenden Versammlung von Weimar hat dieses Gesamtstaatsvolk zum ersten Male verfassunggebende Gewalt ausgeübt (Apelt, Föderalismus S. 7, 10; Hans Schäfer, Wie steht es u m unsere bundesstaatliche Ordnung?, N J W 61, 1281 ff. — 1283 und Zinn, B u n d und L ä n der S. 291 Anm. 2. Vgl. hierzu ferner Krüger u. a., Gutachten Südweststaat S. 13 unter Berufung auf Thoma, Reich als Demokratie S. 186 ff.). 35 C.Schmitt spricht i n diesem Falle von einem „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" (a. a. O., S. 389). 36 Da die ganz überwiegende Meinung vom Fortbestand des Deutschen Reiches als Gesamtstaat ausgeht (siehe z. B. Ernst Friesenhahn, Die völkerrechtliche u n d staatsrechtliche Lage Deutschlands, i n : Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. 1, 1949, S. 34 ff. — 40ff.; Friedrich August Frhr. v. d. Heydte, Deutschlands Rechtslage, i n : Die Friedenswarte, Bd. 50, 1950/51, S. 323 ff. — 328; Erich K a u f mann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, 1948, S. 9 ff.; Friedrich Klein, Neues deutsches Verfassungsrecht, 1949, S. 33 f.; Ulrich Scheuner, Die Entwicklung der völkerrechtlichen Rechtsstellung Deutschlands seit 1945, i n : Die Friedenswarte, Bd. 51, 1951/53, S. 1 ff. — 7 f.; ders., Verfassunggebende Gew a l t S. 581; Schmid S. 653 f.; W. Weber, Gesamtdeutsche Verfassung S. 7 und Schuster S. 42 ff. m i t zahlreichen Nachweisen auch aus der neueren Literatur), w a r die Schaffung des Grundgesetzes ein A k t der Verfassunggebung und nicht der Staatsgründung. 37 Das Gliedstaatsvolk ist „trotz der Gleichheit der personalen Substanz" m i t dem Gesamtstaatsvolke „rechtlich nicht identisch" (Herzog S. 86). Siehe ferner Fuß S. 396, 409 und Lenhard S. 22 f.

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2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Völkern decken. Diese sind nur quantitative, rechtlich unselbständige Größen innerhalb des Gesamtstaatsvolkes. Entsprechend kann i n einem solchen Falle ein repräsentatives Organ zur Verfassunggebung nur dann befugt sein, wenn es vom Gesamtvolk mit verfassunggebender Gewalt ausgestattet ist 38 . I n diesem Sinne w i r d durch den „demokratischen Begriff der verfassunggebenden Gewalt des ganzen Volkes" „die bündische Grundlage und damit der Bundescharakter aufgehoben 39 ". Soll daher über einen Verfassungsentwurf durch Volksabstimmung entschieden werden, bedarf es zu dessen Annahme einer Mehrheit der abstimmungsberechtigten Gesamtbürgerschaft, nicht einer (u. U. qualifizierten) Mehrheit der Gliedstaaten. Wird die Verfassunggebung (ganz oder teilweise) repräsentativ vollzogen, hat die Zahl der Abgeordneten aus den einzelnen Gliedstaaten zur Gesamtzahl der Abgeordneten in einem Verhältnis zu stehen, das der jeweils vertretenen Bevölkerungszahl entspricht 40 . Ein an der einzelstaatlichen Gliederung orientierter Verfahrensmodus einer Verfassunggebung durch das Gesamtvolk kann nur organisatorische Gründe und Wirkungen haben 41 . Für die Geltungskonstruktion einer Gesamtverfassung kommt es daher entscheidend darauf an 42 , ob den juristischen Ausgangspunkt ein mit verfassunggebender Gewalt ausgestattetes Gesamtvolk oder eine Summe von Einzelstaatsvölkern bildet, die einzeln im Besitz eines landesstaatlich begrenzten pouvoir constituant sind 43 . Zwischen diesen Möglichkeiten der Verfassunggebung 44 n i m m t die Mehrheitsklausel des Art. 144 GG eine eigenartige Stellung ein. Sie 38 Dieser Grundsatz ist zu berücksichtigen, w e n n die M i t w i r k u n g s a k t e der Landtage und Bürgerschaften bei der Grundgesetzentstehung zu beurteilen sind. 39 C. Schmitt, Verfassungslehre S. 389 — dort gesperrt. 40 Vgl. i n diesem Zusammenhang Dokument Nr. I der sog. Frankfurter Konferenz v o m 1. 7.1948. Siehe oben S. 148, 41 1848 w a r dagegen i n Deutschland die Wahltechnik nicht von organisatorischen Überlegungen bestimmt. Denn damals konnten nicht das deutsche Volk, sondern n u r die deutschen Landesvölker i m Rechtssinne agieren. Vgl. L i e r m a n n S. 113 f. 42 Siehe i n diesem Zusammenhang aber auch Herzog S. 86 f. einerseits u n d Barbey S. 574 sowie K ö l b l e S. 583 ff. andererseits. 43 Gerade diese Frage ist bei der Entstehung einer Gesamtstaatsverfassung häufig umstritten. Die beiden oben dargestellten prinzipiellen Entstehungsweisen einer Bundesverfassung standen z. B. bei der Schaffung der nordamerikanischen Unionsverfassung zur Diskussion (siehe hierzu M o l l S. 24 ff. u n d Zweig S. 237 A n m . 3). Deren Eingangsworte weisen auf die Nation als Schöpferin der Verfassung hin. Sie stehen i m Widerspruch zur Tatsache, daß nicht einmal eine Majorisierung der Einzelstaaten vorgesehen war. Siehe v. Holst S. 14, 23, 25 und M o l l S. 65. Z u r K o n s t r u k t i o n der schweizerischen Bundesstaatsverfassung von 1848 siehe Büchel S. 15 ff., 26 ff., 118 ff.; Fleiner, G r ü n dung S. 73 f.; Fleiner-Giacometti S. 10 ff., 24 ff.; Jagmetti S. 129 f. und Usteri S. 207. 44 Ob sich i m Einzelfall eine Bundesverfassung auf die verfassunggebende Gewalt des Gesamtvolkes oder auf die verfassunggebenden Gewalten der

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von V e r f a s s u n g s r e c h t 1 5 5

scheint die Länder und deren Staatsvölker als rechtlich selbständige Abstimmungsgrößen anzuerkennen 45 und sieht dennoch eine Majorisierung der Einzelstaaten vor. Sie ist aber auch dann nicht folgerichtig konstruiert, wenn man ihr die (ganz überwiegende) Lehre vom Fortbestand der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes zugrunde legt 46 . Man w i r d wohl am ehesten ihrem Zweck gerecht, wenn man davon ausgeht, daß sie das Erfordernis der Zustimmung von zwei Dritteln der Ländervertretungen rechnerisch an die Stelle der einfachen Mehrheit des deutschen Volkes setzte. Versteht man so Art. 144 GG als scheinbare Grundlage für eine Majorisierung der Länder, läßt er sich staatsrechtlich einordnen, ohne daß auf die „historisch noch nicht Wirklichkeit" gewordene Konstruktion einer Gesamtstaatsgewalt zurückgegriffen werden muß, die von einem Bundesvolk als „Verein der Landesvölker" getragen wird 4 7 .

I I I . Die „Spezialität" der verfassungserzeugenden Gewalt

Mehrere Kategorien bieten sich an, die Besonderheit der (repräsentativ ausgeübten) verfassungserzeugenden Gewalt gegenüber der gesetzgebenden Gewalt der parlamentarischen Körperschaften zu erfassen. Insbesondere läßt sich eine institutionelle Spezialität von einer d e l a torischen Spezialität der Ausübungsform unterscheiden. Von ersterer kann man sprechen, wenn die Ausübung der verfassungserzeugenden Gewalt einem besonderen, vom Gesetzgeber also verschiedenen Organ Landesvölker gründet, ist f ü r die Lösung einer Reihe weiterer Probleme von Bedeutung, z. B. f ü r die Frage, ob u n d inwieweit die Bundesgewalt auf das Verfahren und den I n h a l t von Landesverfassungen einwirken kann. Siehe hierzu Krüger u.a., Gutachten Südweststaat S. 54; Maunz, Staatsrecht S. 47; Lenhard S. 44 ff. und Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951„ BVerfGE 1,14 ff. — 61 f. 45 I m Schrifttum spricht Usteri von den Ländern „als Faktoren", die an der Verfassunggebung m i t g e w i r k t hätten (S. 334 f.). Zülch ordnet den Parlamentarischen Rat als „parlamentsähnliches Staatsorgan" den westdeutschen L ä n dern zu (S. 11). Leisner sieht das „Element des vertragsartigen Zusammenschlusses der Zonen und Länder i m Vordergrund" der Grundgesetzgebung (Verfassunggebung S. 434). 46 Zinns Ansicht, die Annahme des Grundgesetzes durch die Landtage sei keine „ M i t w i r k u n g i m eigentlichen Sinne" (Bund und Länder S. 291 A n m . 3) und die Ratifikation der Verfassung durch sie n u r ein „behelfsmäßiger Ersatz" für die Annahme durch das Volk „ i n seiner Gesamtheit" (a. a. O., S. 293), w i r d von der überwiegenden Meinung geteilt. Vgl. z. B. Apelt, Föderalismus S. 14; Barbey S. 573 f.; Danco S. 36, 41, 64; Golay S. 40; Herzog S. 86; L a u x S. 55 Anm. 15; W. Menzel, Entscheidungen S. 312; Nawiasky, Grundgedanken S. 12 und Robert Neuhoff, Kommunale Selbstverwaltung u n d Bonner Grundgesetz, D Ö V 52, 259 ff. (260). N y m a n meint zwar, das föderalistische Prinzip komme „ i n indirekter und ziemlich abgeschwächter F o r m " bei der Entstehung des Grundgesetzes zur Auswirkung, schließt sich aber letzten Endes doch der h. M. an (S. 45 f.). 47

Herzogs. 86.

156

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

e i n m a l i g , f a l l w e i s e 4 8 , i n b e s t i m m t e n zeitlichen A b s t ä n d e n oder gener e l l 4 9 ü b e r t r a g e n w i r d . D i e S p e z i a l i t ä t ist dagegen i n der gesonderten Ermächtigung z u suchen, w e n n e i n O r g a n der Gesetzgebimg zusätzlich m i t verfassungserzeugender G e w a l t a d h o c 5 0 oder g e n e r e l l ausgestattet w i r d . D i e Ü b e r t r a g u n g b e i d e r G e w a l t e n k a n n u n d w i r d dabei m e i s t i n einem A k t erfolgen 51. A n h a n d dieser K a t e g o r i e n w i r d i m f o l g e n d e n die Verfassungserzeug u n g i n d e n E r s c h e i n u n g s f o r m e n der V e r f a s s u n g g e b u n g u n d der V e r fassungsänderung d a r a u f h i n untersucht, i n w i e w e i t sich die B e d i n g u n gen der r e p r ä s e n t a t i v e n A u s ü b u n g verfassungserzeugender G e w a l t v o n denen der p a r l a m e n t a r i s c h vollzogenen Gesetzgebung r e c h t s n o t w e n d i g u n d n i c h t n u r i n der p o l i t i s c h e n Ü b u n g unterscheiden. D i e B e m ü h u n g e n , auf diese Weise einen der V e r f a s s u n g g e b u n g u n d der Verfassungsänder u n g gemeinsamen dogmatischen N e n n e r aufzufinden, sollen zugleich f ü r den T e i l b e r e i c h der r e p r ä s e n t a t i v e n Verfassungserzeugung die spät e r zu e n t w i c k e l n d e These v o n der E i n h e i t der Verfassungserzeugung vorbereiten 52.

48 z. B. bei der W a h l einer verfassunggebenden Nationalversammlung zum Zwecke der Verfassunggebung. 40 Vgl. hierzu Fonteneau S. 230. 50 z. B. i n Form der Durchführung von Neuwahlen vor Verfassungsänderungen. 51 Von der klassischen französischen Lehre des extrakonstitutionellen pouvoir constituant her hat die Suche nach der i n rechtlicher Beziehung gemeinsamen Substanz von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt keinen Sinn. Eine Analyse der Verfassungsänderung f ü h r t v o m Standpunkt dieser Theorie aus niemals zu einer A n t w o r t auf die Frage, ob die betreffende Verfassungsordnung eine von der gesetzgebenden Gewalt verschiedene verfassunggebende Gewalt kennt. Die K r i t i k Kleins (v. M a n g o l d t - K l e i n I I , Vorb. I I 2 c vor A r t . 70 ff. — S. 1333) an der Ansicht v. Mangoldts (Grundgesetz A n m . 2 zu A r t . 79 — S. 427), das Grundgesetz kenne keine von der gesetzgebenden Gewalt verschiedene verfassunggebende Gewalt, muß berücksichtigen, daß v. Mangöldt sich m i t dieser Feststellung n u r auf die Aussage des Grundgesetzes stützen w i l l . 52 I n der L i t e r a t u r w i r d meist anders systematisiert. M a n stuft die Techniken der Verfassungsänderung ein je nachdem, ob die Zuständigkeit zur Verfassungsänderung bei den gesetzgebenden Organen liegt oder ob i n der Ausgestaltung der Revision die Idee der besonderen verfassunggebenden Gewalt i n irgendeiner Form zum Ausdruck kommt. Vgl. z.B. Herrfahrdt S. 274ff.; G. Jellinek, Staatslehre S. 531 und v. Mangöldt, Geschriebene Verfassung S. 14 f. Eine Übersicht über die möglichen Formen der Verfassungsrevision geben i m übrigen Schlesinger S. 108 f. und C. Schmitt, Verfassungslehre S. 101 f.

3. Kapitel : Repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht

157

B. Die Trennung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt I. Institutionelle und delegatorische Spezialität der verfassungserzeugenden Gewalt im deutschen Staatsrecht

1. Verfahrensunterschiede zwischen repräsentativer Verfassunggebung und repräsentativer Verfassungsänderung Der i n Deutschland üblichen Form der repräsentativen Verfassunggebung 53 entspricht die Verfassungsschöpfung durch eine zu diesem Zwecke gewählte (National- oder Landes-)Versammlung, deren gesetzgeberisch. e Arbeit untergeordnete Bedeutung hat und i m wesentlichen i m unmittelbaren Zusammenhang m i t der Aufgabe der Verfassunggebung steht. I m Verfahren der Verfassungsänderung kennen die deutschen Verfassungen i m Gegensatz zu anderen Verfassungssystemen 54 nicht die institutionelle Spezialität, wie sie i m Verfahren der Verfassunggebung zur Geltung kommt. Von der plebiszitären Technik einiger deutscher Länderverfassungen abgesehen, liegt die Abänderung der Verfassung vielmehr traditionell bei den Organen der Gesetzgebung. Dieses „Gefälle" zwischen dem repräsentativen Verfahren der Verfassunggebung und dem repräsentativen Verfahren der Verfassungsänderung 5 5 hat die deutsche Staatsrechtslehre teilweise dazu bewogen, neben bzw. über die verfassungsändernde Gewalt einen i n der Verfassung nicht geregelten außerkonstitutionellen pouvoir constituant zu stellen. Denn die Prozedur der Verfassungsänderung durch Organe der einfachen Gesetzgebung schien von der Technik der repräsentativen Verfassunggebung zu verschieden zu sein, als daß man in der verfassungs53 Wie sie vor allem nach dem Ersten Weltkrieg i m Reich u n d i n den L ä n dern üblich war. 54 Beispiele einer V e r w i r k l i c h u n g der institutionellen Spezialität auch i m Bereich der Verfassungsänderung nennen A r n o l d (S. 25), v. H e r r n r i t t (S. 18 f.), Jeselsohn (S. 13) u n d C. Schmitt (Verfassungslehre S. 101). Hier sei vor allem auf die „assemblée de revision" des A r t . 345 d. franz. Verf. v. 5. Fructidor A n I I I (22. 8.1795) hingewiesen (abgedr. bei Duguit-Monnier S. 106). Das Mandat i n dieser Versammlung w a r m i t der Mitgliedschaft i n den gesetzgebenden Körperschaften unvereinbar. Siehe hierzu näher Leisner, Verfassunggebung S. 182 f. Die Verwirklichung der institutionellen Spezialität i n der Phase der Verfassungsberatung ist der amerikanische Beitrag zur demokratischen Techn i k der Verfassungsentstehung. Siehe hierzu Hasbach S. 313 ff. ss p ü r Nordrhein-Westfalen stellt Fleck heraus, die Landesverfassung sei zwar durch Volksentscheid angenommen worden, das verfassungsändernde Gesetz könne jedoch v o m Landtag ohne A n r u f u n g des Volkes beschlossen werden (Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 69 A n m . 5 — S. 447). Daraus schließt er freilich nicht auf die Existenz einer außerkonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt. Er sieht i n dieser Regelung der Verfassungsänderung vielmehr eine A b k e h r von dem „unter der W R V verbreiteten Gedanken", daß das souveräne V o l k als Träger des pouvoir constituant „frei und unmittelbar" über die Verfassung verfügen könne (a. a. O.).

158

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

ändernden Gewalt die Fortsetzung der i m Akte der Verfassunggebung wirksam werdenden verfassunggebenden Gewalt hätte sehen können. Die i m Schrifttum zur staatsrechtlichen Problematik der Grundgesetzentstehung zu findenden Bemerkungen orientieren sich freilich weder am Verfahrensbild der institutionell von der einfachen Gesetzgebung abgehobenen Verfassunggebung noch an der i m Bereich der Verfassungsrevision üblichen Technik, die Erzeugung von Verfassungsrecht den Organen der Gesetzgebung anzuvertrauen. Dementsprechend fordert man nicht die Wahl einer besonderen verfassunggebenden Versammlung, sondern hält eine Verfassungssanktion durch Organe der Gesetzgebung unter bestimmten Voraussetzungen für möglich. Andererseits w i r d auch nicht aus der Innehabung der gesetzgebenden Gewalt durch die Landtage und Bürgerschaften der Länder auf die Befugnis zur Setzung von Verfassungsnormen geschlossen. Soweit man K r i t i k am juristischen Werdegang des Grundgesetzes übt, geht man davon aus, daß Gesetzgebungsorgane gesondert m i t verfassungserzeugender Gewalt ausgestattet sein müssen, wenn sie Verfassungsrecht setzen wollen. Ob sich hinter dieser ohne weitere Begründung erhobenen Forderung ein Prinzip verbirgt, das für die repräsentative Verfassungserzeugung nach deutschem Staatsrecht allgemeine Geltung beanspruchen kann, w i r d nicht erläutert 56 . 2. Der dogmatische Standort der institutionellen „ad hoc57"-Prinzips

Spezialität und des

Die verschiedenen Formen der institutionellen und der delegatorischen Spezialität der verfassungserzeugenden Gewalt werden in der allgemeinen Verfassungslehre häufig in bestimmter Reihenfolge aufgeführt. Den Platz, den die einzelne Variation dabei einnimmt, bestimmt sich danach, i n welchem Maße sie die Unmittelbarkeit des pouvoir constituant, d. h. dessen plebiszitäre Grundlage zum Ausdruck bringt 5 8 . Die Verwendung dieses Kriteriums macht deutlich, daß die Idee der institutionell selbständigen Verfassungserzeugung und das „ad hoc"-Prinzip ihren dogmatischen Standort i n einer Theorie der verfassunggebenden Gewalt haben, die von der klassischen Volkssouveränitätslehre beeinflußt ist. 50 Vgl. Golay S. 40; Krauss S. 581; Krüger, Sozialisierung S. 54; Nawiasky, Grundgedanken S. 79; N y m a n S. 13 und Sauerwein S. 29. A u f die besondere Ausstattung m i t verfassunggebender Gewalt wollen dagegen Danco (S. 41), A n t o n Pfeiffer (Vom Werden einer Verfassung, DÖV 48, 49 ff. — 49) und Schlenker (S. 83 A n m . 29) i n Anlehnung an Vogels (Art. 90 A n m . 2) verzichten. 57 Der Begriff findet sich bereits bei Sieyès (S. 80 — Übers. S. 112). Z u r Ideengeschichte des Spezialmandats siehe Zweig S. 95, 96, 136, 139, 141, 214, 247, 278, 288, 386, 393. 58 Siehe z. B. Herrfahrdt S. 274 ff. u n d G. Jellinek, Staatslehre S. 531.

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung v o n V e r f a s s u n g s r e c h t 1 5 9

Die Möglichkeit, verfassunggebende Gewalt repräsentativ auszuüben, w i r d zwar aus dieser Sicht grundsätzlich anerkannt. Eine solche Organisation der Verfassungserzeugung w i r d jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden, um der verfassunggebenden Gewalt wenigstens einen gewissen Grad an „Unmittelbarkeit" zu erhalten 59 . Die Verbindung von institutioneller Selbständigkeit und kasueller Ermächtigung durch das Volk i n einer von den Gesetzgebungskörperschaften unterschiedenen und nach Bedarf gewählten Vertretung steht der unmittelbaren Verfassunggebung durch das Volk am nächsten 80 . Aber auch die Erteilung eines „ad hoc "-Auftrages durch das Volk i n der Neuwahl eines Gesetzgebungsorgans vor der Durchführung eines bestimmten Revisionsvorhabens®1 sichert der verfassunggebenden Gewalt einen (noch) ausreichenden Grad an Volksunmittelbarkeit 8 2 . Für das teilplebiszitäre Verfahren der Verfassunggebung haben diese Vorstellungen zur Folge, daß mit der Feststellung der Verfassung ein Organ speziell beauftragt wird 8 3 . Somit ist die repräsentative Verfassungserzeugung dem plebiszitären A k t der Verfassungsschöpfung juristisch nur gleichwertig, wenn das verfassungserzeugende Organ ausschließlich oder zumindest ad hoc m i t verfassungserzeugender Gewalt ausgestattet ist. Denn allein unter solchen Voraussetzungen erscheint die repräsentative Setzung von Verfassungsnormen der plebiszitären Lehre lediglich als Sonderform der unmittelbaren Demokratie 64 und kann als Verfassungserzeugung durch 59 Loewenstein bezeichnet daher Sieyès' Lehre v o n den außerordentlichen Stellvertretern i n Verfassungssachen als „wesentliche Konzession" an die V o r stellung von der Unmittelbarkeit des pouvoir constituant (Volk und Parlament S. 33). 60 Eine speziell gewählte Vertretung tendiert nach der Ansicht von Leibholz verhältnismäßig mehr nach der plebiszitären Seite als eine gewöhnliche Legislative (Repräsentation S. 69 A n m . 1). 61 Das Erfordernis der „ad hoc"-Ermächtigung ist auch dann gewahrt, w e n n Revisionsbegehren u n d Revisionsbeschluß nach den Änderungsbestimmungen einer Verfassung verschiedenen Legislaturperioden angehören müssen. Das V o l k hat dann i n den dazwischenliegenden Wahlen Gelegenheit zur Stellungnahme (vgl. Borgeaud S. 152). T i t . V I I art. 2 d. franz. Verf. v. 3. 9.1791 verteilt das Revisionsverfahren sogar auf drei Legislaturperioden (abgedr. bei DuguitMonnier S. 31). 62 Das System der Neuwahl des Legislativorgans vor dem Revisionsbeschluß verankert nach Ansicht Jagmettis eine „abgeschwächte" Form des pouvoir constituant (S. 151). Keine Bedenken gegen eine Übertragung verfassungserzeugender Gewalt an „représentants ordinaires" hatte Sieyès (S. 63 f. —Übers. S. 97). 63 Z u m amerikanischen System der Konventionen siehe M o l l S. 54. G. Jellinek bezeichnet die A b s t i m m u n g i m Konvent als „indirekte Volksabstimmung" (Staatslehre S. 521). Siehe ferner Hasbach S. 71; v. Holst S. 158 und Zülch S. 115. 64 Vgl. die Bemerkungen Loewensteins zum amerikanischen K o n v e n t system (Volk und Parlament S. 308 u n d ferner S. 291, 292, 309, 314). Vogels sieht dagegen das M e r k m a l einer „besonderen verfassunggebenden Gewalt" n u r i n der unmittelbaren Verfassungsabstimmung v e r w i r k l i c h t (Art. 90 A n m . 2).

160

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

das Volk gelten. Das Prinzip des Verfassungsauftrages ad hoc erweist sich als juristischer Restbestand einer nur-plebiszitären Theorie der Verfassungserzeugung. Die Idee der institutionellen Spezialität ist darüber hinaus noch i m Prinzip der Gewaltenteilung verwurzelt. Denn die Einrichtung einer „assemblée de revision" ist i n der Verfassungsgeschichte auch von den Bedenken gegen die Übermacht eines repräsentativen Organs beeinflußt, das verfassungserzeugende und gesetzgebende Gewalt in sich vereint 6 5 . Soweit die deutsche Staatsrechtslehre von diesem Verfahrensbild der verfassunggebenden Gewalt ausging, hat sie es folgerichtig abgelehnt, i m deutschen System der Verfassungsänderung durch den Gesetzgeber eine Erscheinungsform des pouvoir constituant zu sehen66. M i t der Feststellung, die verfassungsändernde Gewalt weise gegenüber der gesetzgebenden Gewalt bei einer solchen Revisionsart keinen Unterschied auf, stellt sie jedoch nur die Gleichheit oder Ähnlichkeit der Organisation beider Gewalten heraus, leugnet aber nicht die Möglichkeit, diese in anderer Hinsicht zu unterscheiden 67 .

3. Die Spezialität der verfassungserzeugenden Staatsrecht

Gewalt im deutschen

Die ideengeschichtliche Einordnung der genannten Spezialitätsformen erlaubt für das deutsche Staatsrecht den Schluß, daß die verfassungserzeugende Gewalt weder von einem besonderen Organ noch auf Grund einer gegenständlich-speziellen Ermächtigung ausgeübt werden muß. Einmal ist die institutionelle Spezialität der Verfassungserzeugung durch kein Gewaltenteilungsschema strukturell vorgegeben. Ob die Unterscheidung zwischen verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt auch institutionell durchzuführen ist, hat die konstituierende Gewalt zu entscheiden88. Organisatorische Konsequenzen sind auch von Sieyès nicht aus der Wesensverschiedenheit von pouvoir constituant und pouvoirs constitués gezogen worden. Denn die „représentans ordinaires" können nach seiner Meinung auf Grund einer entsprechenden 65 Siehe hierzu Fonteneau S. 20; Jagmetti S. 26; Loewenstein, a. a. O., S. 125; Redslob S. 152 u n d Zweig S. 59,138. Vgl. Anschütz, Kommentar, A r t . 76 A n m . 1 (S. 401); Beyersdorff S. 86; Hildesheimer S. 68; Thoma, Reich als Demokratie S. 153 u n d aus der französischen Lehre Carré de Malberg, Contribution I I S. 542 ff. Dagegen meint Hugo Preuß, i n den Fällen, i n denen die verfassungsändernde Gewalt speziell institutionalisiert sei, werde der pouvoir constituant n u r besonders evident (Verfassungsändernde Gesetze S. 651). 67 Hatschek folgert freilich, das deutsche Staatsrecht trenne verfassungsändernde und gesetzgebende Gewalt nicht (Staatsrecht S. 24). ββ Vgl. auch Zweig S. 56.

3. Kapitel : Repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht

161

E r m ä c h t i g u n g verfassunggebende G e w a l t ausüben 8 0 , w e n n sie d a n n f r e i l i c h auch i n A u s ü b u n g dieser F u n k t i o n den besonderen V o r z u g der Verfassungsfreiheit genießen 7 0 . Das „ a d h o c " - P r i n z i p k a n n als R u d i m e n t einer p l e b i s z i t ä r e n T h e o r i e der Verfassungserzeugung f ü r das deutsche Staatsrecht k e i n e G e l t u n g beanspruchen, da die V o r s t e l l u n g e n der klassischen V o l k s s o u v e r ä n i t ä t s lehre ü b e r die u n m i t t e l b a r e A u s ü b u n g der verfassunggebenden G e w a l t k e i n e n E i n g a n g i n die deutsche Verfassungstheorie g e f u n d e n h a b e n 7 1 . Ganz a l l g e m e i n ist d e m deutschen Rechtskreis das I n s t i t u t der „ a d h o c " E r m ä c h t i g u n g eines r e p r ä s e n t a t i v e n Organs z u r E n t s c h e i d u n g ü b e r Sachf r a g e n — auch als politische Ü b u n g 7 2 — n i c h t geläufig. V i e l m e h r ist schon b z w . n u r dasjenige r e p r ä s e n t a t i v e O r g a n z u r Setzung v o n V e r f a s sungsrecht befugt, das v o m V o l k e nach d e m o k r a t i s c h e n G r u n d s ä t z e n m i t verfassungserzeugender G e w a l t a l l g e m e i n 7 3 oder i m H i n b l i c k a u f e i n spezielles Rechtsetzungsvorhaben 7 4 ausgestattet ist. D i e Ü b e r t r a g u n g v o n verfassungserzeugender u n d gesetzgebender G e w a l t k a n n dabei i n e i n e m A k t erfolgen 7 5 . S o m i t m a c h t auch n i c h t die Besonderheit des V e r et>

S. 63 f. —Übers. S. 97. S. 64 —Übers. S. 97. 71 Siehe oben 1. Kapitel, Β I I . 72 Z u r englischen „convention" des ad hoc-Auftrags aus deutscher Sicht siehe G l u m S. 281 ff.; Erich Kaufmann, Rechtsgutachten zum Vertrage über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft u n d zum Deutschlandvertrage, i n : Der K a m p f u m den Wehrbeitrag, 2. Halbbd., 1953, S. 42 ff. (71); Leibholz, Strukturwandel S. 107; E. Menzel, Gutachten Wehrbeitrag S. 318; Nawiasky, Grundgedanken S. 67 u n d Scheuner, Gutachten Wehrbeitrag S. 135. 73 So w i r d i m Falle der Verfassungsrevision durch Organe der Gesetzgebung die verfassungserzeugende Gewalt allgemein i n den periodisch erfolgenden Wahlen übertragen. Fehlen Revisionsvorschriften, k a n n das Gesetzgebungsorgan die Verfassungsrevision vornehmen, es sei denn, der Verfassunggeber wollte die Revision der Verfassung schlechthin ausschließen. Siehe ζ. B. Hildesheimer S. 23, 24 und Jagmetti S. 68. Nebinger geht dagegen davon aus, daß der Verfassunggeber zur Abänderung der Verfassung nach der Lehre vom actus contrarius berufen ist, w e n n die Verfassung zur Frage der Revision schweigt (Art. 108 A n m . 1). Z u r Änderung der französischen Verfassungen von 1814 und 1830, die keine Vorschriften über die Revision enthielten, siehe Fonteneau S. 107,108,125 ff. 74 Bei der Verwendung des Begriffs „speziell" i n der L i t e r a t u r w i r d nicht immer deutlich, ob er auf die Qualität der übertragenen Gewalt bezogen oder i m Sinne des „ad hoc"-Prinzips verstanden w i r d . I n den meisten Fällen ist er w o h l i m letzteren Sinne gebraucht, z. B. bei Bryce („specially empowered person or body", I S. 151), K l e i n r a h m (kraft „unmittelbaren besonderen A u f t r a ges", Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 90 A n m . 2 — S. 569) und 1 Sieyès („procurations speciales", S. 63 f. — Übers. S. 97). 73 Trotz Fehlens einer organisatorischen Trennung qualifiziert W. Jellinek zutreffend den Verfassungsgesetzgeber als Inhaber der staatsrechtlich höchsten Gewalt (Grenzen S. 3). Hans Peter Ipsen spricht i m H i n b l i c k auf A r t . 79 Abs. 1 GG von der „Institutionalisierung eines besonderen Verfassunggebers" (Grundgesetz und richterliche Prüfungszuständigkeit, D V 49,486 ff. — 490). 70

11 Steiner

162

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

fahrens den besonderen Rang der Verfassung aus 76 . Die institutionelle Sonderung der verfassunggebenden Gewalt und die Erteilung einer adhoc-Ermächtigung, wie sie für die Verfassunggebung durch eine gewählte Versammlung kennzeichnend sind, erscheinen vom rechtsdogmatischen Standpunkt aus willkürlich 7 7 und finden i n den spezifischen Verhältnissen der originären Verfassunggebung ihre Erklärung: Soweit das Verfassungsvorhaben von einem besonderen Organ durchgeführt wird, erklärt sich diese Verfahrensweise aus der Tatsache, daß i m Zeitpunkt der ursprünglichen Verfassungsschöpfung häufig geeignete Gesetzgebungsorgane noch nicht existieren. Der ad-hoc-Auftrag ist dem einmaligen und geschlossenen Charakter der ursprünglichen Verfassunggebung angemessen. I n dieser Fassung des Spezialitätsprinzips besitzen repräsentative Verfassunggebung und repräsentative Verfassungsänderung einen gemeinsamen dogmatischen Nenner. A u f seiner Grundlage muß die Verfassungsrevision durch Organe der Gesetzgebung, verfassungstheoretisch gesehen, nicht mehr als „Außenseiter" bewertet werden. Zugleich legen die vorausgegangenen Untersuchungen ein gewisses Maß an Selbständigkeit auch für die Verfassungserzeugende Gewalt des deutschen Staatsrechts fest, i n dem das verfassungsändernde Reichsgesetz nur als „Abart des einfachen Gesetzes78" bezeichnet wurde und die Änderung des Grundgesetzes als eine „von der einfachen Gesetzgebung nur unwesentlich abweichende Gesetzgebungsart 79 " beurteilt wird. Die Verfassungsänderung durch Organe der Gesetzgebung ist nicht nur Gesetzgebung auf einem besonderen Gebiet 80 , sondern eine — wenn auch i n begrenztem Umfang — besondere Gesetzgebung81. Die selbständige staatsrechtliche Existenz der verfassungserzeugenden Gewalt folgt aus 76 A . A . aber Burckhardt, Kommentar, Einl. S. 1 f.; Jeselsohn S. 12 u n d Maunz, Staatsrecht S. 46. 77

Siehe auch Fonteneau S. 132.

78

W. Jellinek, Verfassungsänderndes Reichsgesetz S. 182.

79

Maunz-Dürig, A r t . 79 Rdnr. 22 A n m . 4.

80

So aber Hildesheimer S. 46 i n Anlehnung an Labands oft zitierte Feststellung: „Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates u n d m i t h i n nach dem W i l l e n des Staates veränderlich" (Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 4. Aufl. 1901, S. 35 — dort gesperrt). Bernatzik, auf den sich Hildesheimer ebenfalls beruft, betont freilich an der zitierten Stelle (S. 310) die Gesetzesform der Verfassung, u m sie gegenüber dem Verfassungsvertrag abzugrenzen. 81

Zutreffend bezeichnet C. Schmitt die auf die Änderung der Verfassung bezogene Gewalt als „außerordentliche Befugnis", die i n der Kompetenz zur einfachen Gesetzgebung nicht ohne weiteres enthalten sei (Verfassungslehre S. 102). Daraus k a n n aber nicht gefolgert werden, die gesetzgebenden Organe seien beim Fehlen von Abänderungsvorschriften von der Revision des V e r fassungsgesetzes ausgeschlossen.

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht

163

dem Begriff der förmlichen Verfassung als einer Urkunde, die das politisch primäre Recht eines Staates enthält. Der Verfassimggeber des deutschen Rechtskreises kann demnach das Verfahren der Verfassungsänderung nach politischen und rechtspolitischen Gesichtspunkten gestalten. Dogmatische Bindungen, beispielsweise an das „ad hoc"-Prinzip, bestehen nicht 82 . Diese Freiheit demonstriert sich vor allem in den dualen Systemen der Verfassungsänderung, die neben die Revision durch Organe der Gesetzgebung wahlweise oder subsidiär die Möglichkeit einer Verfassungsänderung durch Verfassungsreferendum oder durch ad hoc vom Volke m i t verfassungsändernder Gewalt ausgestattete Organe stellen 83 . Praktische Bedeutung hat die Unterscheidung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt i m deutschen Staatsrecht nur dann, wenn die Kompetenz von Rechtsetzungsorganen zu bestimmen ist, die vor einer geschriebenen Verfassungsordnung existieren. I n diesem Falle ist der oben formulierte Spezialitätsgrundsatz zur Deutung von Wahlordnungen heranzuziehen, die den Rechtsetzungsauftrag des zu wählenden Vertretungsorgans nicht bezeichnen oder allgemein von Aufgaben der „Gesetzgebung" sprechen. Freilich w i r d es auch dazu nur kommen, wenn eine Verfassunggebung, wie i m Falle der Schaffung des Bonner Grundgesetzes, erst i m Laufe der politischen, staats- oder völkerrechtlichen Entwicklung möglich bzw. notwendig w i r d und sich die vorhandenen Vertretungskörperschaften, z.B. aus organisatorischen Gründen, als Verfassunggeber anbieten oder verfassunggebende Befugnisse i n Anspruch nehmen. Einige Überlegungen politischer bzw. rechtspolitischer A r t 8 4 verdeutlichen i m übrigen, daß die Verfassungsänderung i m Verfahren der Gesetzgebung der Verfassunggebung durch eine ad hoc gewählte Versamm82 Zur Stellung der französischen Nationalversammlung von 1789 zwischen den Forderungen des Dogmas u n d den Erfordernissen der politischen Zweckmäßigkeit siehe Zweig S. 306. Herrfahrdt k o m m t i n seinem Überblick über die Revisionsformen moderner Verfassungen zum Schluß, für die Ausgestaltung der Verfassungsänderung seien „weniger prinzipielle Gesichtspunkte" als „ r e i n praktische Zweckmäßigkeitsgründe" ausschlaggebend (S. 277). 83 Siehe z. B. A r t . 76 W R V ; A r t . 69 d. Verf. v. N R W v. 28. 6.1950 (GVB1. S. 127) u n d A r t . 89 d. franz. Verf. v. 28. 9.1958 (abgedr. bei Franz S. 488 ff.). Die Zweispurigkeit der Verfassungsänderung, w i e sie die amerikanische Bundesverfassung vorsieht (Art. 5 d. Unionsverfassung v. 17. 9.1787 — abgedr. bei Franz S. 34 f.), ist i m übrigen vor allem deshalb interessant, w e i l die nordamerikanische Theorie den höheren Rang der Verfassung auf die unmittelbare M i t w i r k u n g des Volkes an der Verfassunggebung gründet. Sie müßte daher folgerichtig das V o l k unmittelbar auch an der Erzeugung v o n Verfassungsnormen innerhalb der Verfassungsordnung beteiligen. Siehe hierzu v. Mangöldt, Geschriebene Verfassung S. 9. 84 Siehe hierzu auch Fonteneau S. 230 ff. u n d Loewenstein, V o l k u n d Parlament S.347. 11*

164

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

lung näher steht, als es ein Vergleich der Verfahrensbilder vermuten läßt, zumindest aber keinen „Bruch" gegenüber der repräsentativ erfolgenden Verfassunggebung darstellt. Die Wahl eines juristisch selbständigen Organs zum Zwecke einer konkreten Verfassungsrevision muß nicht notwendig zu einem politisch neuen Gebilde von eigener personaler Substanz führen 85 , zumal eine Inkompatabilität der Mandate i n den gesetzgebenden Körperschaften und dem Revisionsorgan — sieht man von der Einbeziehung ständischer oder gliedstaatlicher Elemente in das Revisionsverfahren ab — praktisch kaum durchführbar wäre. Ferner läßt die Struktur des modernen Parteienstaates eine Vielfalt vom Gesamtvolk gewählter Rechtsetzungsorgane wenig sinnvoll erscheinen 86. Die Durchführung von Neuwahlen der gesetzgebenden Körperschaften vor der Durchführung verfassungsgesetzgeberischer Aufgaben 87 stößt auf naheliegende politische Bedenken 88 . Weiterhin beruht die organisatorische Einbeziehung der Verfassungsänderung in das Verfahren der Gesetzgebung auf einer verständlichen Entscheidung des Verfassunggebers, da die Verfahren der Verfassungserzeugung und der Gesetzgebung „Strukturgleichheit 8 9 " aufweisen und auf die Schaffung allgemeiner, für alle geltenden Normen gerichtet sind 90 . Auch war das Gesetz· i m konstitutionellen deutschen Staatsrecht schlechthin die Form, i n der das Volk zur Ausübimg der Staatsgewalt berufen war 9 1 . Und schließlich nähert die spezifische Form der Verfassungsrigidität i m Bonner Grundgesetz — partielle Starrheit durch Änderungssperren, nicht durch Änderungserschwerungen 92 — den Vorgang der Verfassungsänderung an die einfache Gesetzgebung an 93 . Denn eine durch materielle Revisionsverbote bedingte Beschränkung der Verfassungsänderung auf den Kreis der zweitrangigen Verfassungsnormen läßt die Einrichtung eines speziellen 85

Siehe hierzu Härtung S. 230. Auch die moderne materielle Theorie der Repräsentation fördert die Konzentration der Volksrepräsentation i n einem Organ. Vgl. zu i h r Edgar Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtstellung der Abgeordneten, ihre Pflichten und Rechte, i n : HdbDStR Bd. I, 1930, S. 413 ff. u n d Leibholz, Repräsentation S. 32 f. 87 Vgl. G. Jellinek, Staatslehre S. 534 A n m . 3. 88 Siehe i n diesem Zusammenhang Loewenstein, a. a. O., S. 362. 89 Ehmke, Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung S. 399. 00 Ehmke, a.a.O. 91 Vgl. Ehmke, Verfassungsänderung u n d Verfassungsdurchbrechung S. 399 und Herrfahrdt S. 272. 92 V o n „Verfassungskraft" i m herkömmlichen Sinne k a n n man hier nicht sprechen. Denn die einer Änderungssperre unterliegenden Verfassungsbestimmungen sind der Revision schlechthin entzogen und nicht n u r i n der Relation zum Gesetz besonders beständig. 93 Z u r Frage, inwieweit Verfassungen, die i n einem (qualifizierten) Gesetzgebungsverfahren abänderbar sind, noch dem rigiden Verfassungstyp zuzurechnen sind, siehe Bryce I S. 128 ff. und v. Mangoldt, Geschriebene Verfassung S. 26 ff. 86

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht

165

Revisionsmechanismus m i t eigenem Organ und besonderem Verfahren unangemessen erscheinen. Nach deutschem Staatsrecht übt das Organ, das Gesetzesrecht und Verfassungsrecht erzeugt, nicht eine einheitliche Gewalt aus. Verfassungserzeugende und gesetzgebende Gewalt werden auch bei Organidentität getrennt repräsentiert. Eine besondere Theorie der Repräsentation in Verfassungssachen hat die Unterscheidung nicht zur Folge. Zum Grundsatz der Gleichwertigkeit von repräsentativer und plèbiszitärer Ausübung der verfassunggebenden Gewalt — mit der Konsequenz der Befugnisgleichheit von Volk und volksgewählten Organen 94 — kommt das Prinzip der Gleichartigkeit der Repräsentation von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt hinzu: Der Repräsentant i n Verfassungssachen ist — ebenso wie der Repräsentant i n Angelegenheiten der Gesetzgebung — Vertreter im „Willen" und nicht nur Vertreter in der „Erklärung 9 5 ".

4. Die Einheit der Repräsentation in der sogenannten revolutionären französischen Tradition I m Vorstellungsbereich der sogenannten französischen revolutionären Tradition scheint freilich die Unterscheidung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt ganz zu entfallen. Nach der Darstellung dieser Lehre durch Leisner 96 ist der „von den Volksvertretern ausgedrückte souveräne Volkswille" „stets ,zu höchst', in welcher Form er auch immer zum Ausdruck kommen mag 9 7 ". Der „Einheit der souveränen Gewalt und ihrer Vertreter 0 8 " entspricht die „völlige grundsätzliche Einheit der allgemeingültigen normativen Regeln 99 ". Die Repräsentan04 Dagegen hält Zülch das Repräsentationsorgan nur dazu befugt, „ f ü r seine Zeit den jeweiligen Volkswillen schriftlich zu fixieren" (S. 121). Verfassungsgesetzliche Anordnungen, Fundamentalnormen nicht zu ändern, blieben außerhalb „seines i h m v o m Volk gegebenen Auftrages" (S. 122). Siehe i n diesem Zusammenhang auch Leisner, Verfassunggebung S. 230. 95 Die Qualifizierung der Repräsentanten i n Verfassungssachen als bloße Vertreter i n der „ E r k l ä r u n g " galt i n der französischen Nationalversammlung von 1789 als das „rechtliche Mittel, u m die Einflußnahme der Gesamtheit auf die Konvention zu sichern" (Loewenstein, V o l k u n d Parlament S. 294). Siehe ferner Redslob S. 154 ff., 159. Diese Konstruktion hat A r n o l d f ü r das deutsche Staatsrecht verwerten wollen. Siehe oben S. 80. 96 Die folgende Analyse der französischen Tradition ist freilich nicht u n bestritten. Vgl. i n diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung Leisners m i t Carré de Malberg (Verfassunggebung S. 146 f.). 97 Leisner, a. a. O., S. 215. 98 Die gesetzgebenden Körperschaften sind hier die Repräsentanten der Nation schlechthin. 99 Leisner, a. a. O., S. 356.

166

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

ten üben daher „ i m Grunde nur eine einzige Gewalt" aus 100 . Die Verfassunggebung i n Frankreich ist nach dieser Auffassung jedenfalls bis zum Jahre 1919 „nur ein durch geringe Verfahrensunterschiede abgetrennter ,anderer Aspekt 4 der souveränen Normsetzungsbefugnis" gewesen 101 . Obwohl verfassungserzeugende und gesetzgebende Gewalt damit i n gleicher Weise abgeleitet und ausgeübt werden, w i r d man davon ausgehen dürfen, daß auch die französische Tradition die Trennung der beiden Gewalten, ebensowenig wie den formellen Verfassungsbegriff, völlig aufgegeben hat. Die Selbstkonstituierung des Dritten Standes zur verfassunggebenden Nationalversammlung i m Jahre 1789 ist angesichts ihrer besonderen Umstände von geringer Beweiskraft 102 . Zudem haben damals namhafte Theoretiker die Erteilung einer besonderen Ermächtigung durch das Volk für die Durchführung der Verfassunggebung gefordert 1 0 3 . Schließlich beweist die ausdrücklich vollzogene „Selbstverwandlung" „die Berechtigung dieser Kompetenzbedenken 104 ". Auch die weiteren von Leisner aufgeführten Beispiele aus der französischen Verfassungsgeschichte 105 verdeutlichen wohl, wie schwach die Trennung der Gewalten ausgeprägt war 1 0 6 , belegen aber nicht die Annahme, verfassungserzeugende und gesetzgebende Gewalt seien i m wesentlichen identisch gewesen. A n anderer Stelle spricht denn auch Leisner aus, beide Gewalten ließen sich zwar auf die „natürliche unteilbare Souveränität" zurückführen, fielen aber nicht völlig zusammen 107 . Die Vollgewalt der französischen Repräsentationskörperschaften muß nicht auf der rechtlichen Identität von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt beruhen, sondern kann sich auch aus der konzentrierten Übertragung beider Gewalten durch das Volk auf ein Organ 108 ableiten. 100 Leisner, a. a. O., S. 352 f. — dort gesperrt. Siehe aber auch Hatschek, Staatsrecht S. 24 u n d Allgemeines Staatsrecht I I S. 33. 101 Leisner, a. a. O., S. 392 und ferner S. 264. 102 Siehe aber Leisner, a. a. O., S. 353. 103 Vgl. Zweig S. 214, 282. Auch C. Schmitt stellt trotz seiner i m Ergebnis nachsichtigen rechtlichen Beurteilung des Konstituierungsvorgangs fest, daß die französische Nationalversammlung von 1789 „formell betrachtet, keine verfassunggebende Nationalversammlung" w a r (Verfassungslehre S. 80). 104 ZweigS. 214 f. 105 Siehe a. a. O., S. 353 f. I n allen Fällen w a r der Anspruch der betreffenden Körperschaften auf Setzung von Verfassungsrecht nicht unbestritten, doch blieben die theoretischen Bedenken aus politischen Gründen i m Ergebnis ohne Gehör. Das zeigt sich deutlich bei der Inanspruchnahme von verfassunggebender Gewalt durch die französische Versammlung von 1871. Vgl. hierzu Esmein, Éléments I I S. 4 ff.; Fonteneau S. 168 ff. u n d Leisner, a. a. O., S. 190. 106 Z u diesem Ergebnis k o m m t auch Scheuner bei der Darstellung der französischen Auffassung (Verfassungen S. 20). 107 a. a. O., S. 279. 108 Vgl. Fonteneau S. 132. Auch Zweig stellt fest, daß die „Vereinigung von verfassunggebender u n d gesetzgebender F u n k t i o n " i n einer Körperschaft i n

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung v o n Verf a s s u n g s r e c h t 1 6 7

Dabei hat wohl die traditionelle Ausstattung der französischen Nationalversammlungen m i t umfassenden Befugnissen i n dem Sinne auf die Wählervorstellungen zurückgewirkt, daß die einzelnen Gewalten i m Ubertragungsakt nicht mehr gesondert ausgewiesen wurden 1 0 9 . Die für das deutsche Staatsrecht entwickelte Selbständigkeit der verfassungserzeugenden Gewalt läßt sich daher auch für den Bereich der französischen revolutionären Tradition durchaus behaupten. Denn sie ist sowohl mit der einheitlichen Ausübung aller Gewalten durch ein Organ als auch mit der nicht substantiierten Übertragung der „souveränen Vollgew a l t 1 1 0 " auf Repräsentanten vereinbar.

5. Die Gesetzgebungsmacht einer verfassunggebenden

Versammlung

Aus der aufgezeigten Trennung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt folgt zwingend, daß eine zu Zwecken der Verfassunggebung mit dem pouvoir constituant ausgestattete (National- oder Landes-)Versammlung nicht ipso iure auch gesetzgebende Befugnisse besitzt 111 . Gesetzgebende Gewalt läßt sich für sie keinesfalls mit einem vom Rangverhältnis der beiden Gewalten nahegelegten Schluß „a maiore ad minus" begründen 112 , sondern allein aus einem entsprechenden Verleihungswillen des Staatsvolkes i m A k t der Wahl 1 1 3 . Daher bestimmt sich auch die Rechtsmacht einer künftigen gesamtdeutschen Nationalversammlung allein nach dem Umfang der ihr vom Volk übertragenen Zuständigkeiten 114 . Ob und i n welchem Umfang eine verfassunggebende Versammlung gesetzgeberische Befugnisse besitzt, ist durch dem Satz begründet ist, „daß die Zuständigkeit eines Repräsentanten sich nach dem Auftrags w i l l e n seiner Mandanten bestimmt" (S. 109). 109 Einer solchen Auslegung hält freilich Leisner entgegen, sie baue „ n o r mative Konstruktionen i n eine unterschiedslose W i r k l i c h k e i t " ein (Verfassunggebung S. 354). 110

Leisner, a. a. O.

111

A u f der anderen Seite k a n n man auch nicht folgern, die rechtliche Gew a l t der Weimarer Nationalversammlung sei „ k e i n pouvoir constituant i m streng theoretischen Sinne" gewesen, w e i l die Nationalversammlung auch gewöhnliche Gesetze verabschiedet habe (so aber Beyersdorff S. 86). 112 V o m „ a l i u d " der gesetzgebenden gegenüber der verfassunggebenden Gewalt geht w o h l auch das BVerfG aus (Urt. v. 23.10.1951, BVerfGE l e 14 ff. —61). 118 Unter diesen Vorbehalt muß der Versuch des BVerfG gestellt werden, den Aufgabenkreis einer verfassunggebenden Versammlung allgemein zu beschreiben (BVerfGE 1,14 ff. — 61). 114 Eine andere, hier nicht zu klärende Frage ist es, inwieweit das G r u n d gesetz die Rechtstellung einer gesamtdeutschen verfassunggebenden V e r sammlung festlegen w i l l u n d kann. Z u m gesamten Problemkreis siehe Henke S. 147 ff. und v. d. Heydte, Grundgesetz S. 6 f.

168

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

Auslegung zu ermitteln 1 1 5 . Diese Auslegung hat sich zwar immer an den Umständen des Einzelfalls zu orientieren. Gleichwohl lassen sich gewisse Grundsätze der Interpretation festhalten. So w i r d regelmäßig die Befugnis zur Schaffung von Gesetzen, die i n unmittelbarem Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Verfassunggebung stehen, zugleich mit der verfassunggebenden Gewalt übertragen sein. Ferner ist eine verfassunggebende Versammlung i m Zweifel bis zur Kreation eines Gesetzgebungsorgans jedenfalls zum Erlaß „dringender" Gesetze11® erermächtigt 117 . Auch kann ein bestimmter traditioneller Befugnisbestand der verfassunggebenden Versammlungen i n einem Rechtskreis 118 auf die Wählervorstellungen zurückwirken. Dieser Umstand ist ebenfalls bei der Interpretation des Wählerwillens zu berücksichtigen. Eine weitere Frage ist es, ob sich eine verfassunggebende Versammlung nach der Erledigung ihres Auftrags als gesetzgebende Körperschaft i m Rahmen der geschaffenen Verfassung konstituieren kann 1 1 9 . Das Bundesverfassungsgericht geht offenbar davon aus, die Antwort hierauf bestimme sich allein nach der beschlossenen Verfassung 120 . Doch begründet die Verleihung von verfassunggebender Gewalt für sich allein nur die Befugnis zur Schöpfung von Verfassungsnormen und nicht von Gesetzesrecht, auch nicht auf dem Umweg über eine entsprechende, kraft der verfassunggebenden Gewalt geschaffene Verfassungsnorm. Besitzt die verfassunggebende Versammlung i m Einzelfall keine gesetzgebende Gewalt, kann sie demnach diese Rechtsmacht auch nicht auf ein anderes Organ 1 2 1 übertragen. Doch w i r d man dem Wahlakt auch die befristete 115 Das BVerfG legt dagegen generell den A u f t r a g einer Nationalversamml u n g fest. Nach seiner Ansicht ist diese berufen, „die Verfassung eines neuen Staates und die Gesetze zu schaffen, die notwendig sind, damit der Staat durch seine Verfassungsorgane w i r k s a m handeln u n d funktionieren kann" (a. a. O.). Siehe auch v. d. Heydte, a. a. O., S. 6. 110 Vgl. § 1 des Reichsgesetzes über die vorläufige Reichsgewalt v. 10. 2.1919 (RGBl. S. 169). 117 So w o h l auch K ö h l m a n n S. 50. Die Befugnisse einer verfassunggebenden Versammlung i n revolutionären Zeiten lassen sich daher nicht m i t denen eines verfassungsinternen Konvents vergleichen. Siehe hierzu Hasbach S. 314. Zutreffend bemerkt Leisner, i n der Periode der Verfassunggebung falle die Trennung von Verfassung u n d Gesetz schwer, „da alles neu geschaffen w i r d " (Verfassunggebung S. 277). 118 F ü r Deutschland siehe Hatschek, Staatsrecht S. 24; Schlenker S. 74; C. Schmitt, Verfassungslehre S. 58 ff. und H. Schneider, Grundgesetz und N a tionalversammlung S. 9. Für Frankreich vgl. Leisner, Verfassunggebung S. 277 u n d Zweig S. 109 f. 119 Siehe z. B. A r t . 180 WRV. 120 U r t . v. 23.10.1951, BVerfGE 1,14 ff. (62). 121 Falls man die Organidentität von verfassunggebender Versammlung und verfassungsgeschaffenem Gesetzgebungsorgan i m Falle einer Selbsteinsetzung trotz gleicher personaler Substanz leugnet. Davon geht aber A r t . 180 W R V offenbar nicht aus.

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von V e r f a s s u n g s r e c h t 1 6 9

Übertragung gesetzgebender Gewalt an eine verfassunggebende Versammlung dann entnehmen können, wenn auf Grund der konkreten Umstände i m Zeitpunkt der Wahl eine vorläufige Übernahme der Gesetzgebungsfunktionen durch den Verfassunggeber in der neu zu schaffenden Verfassungsordnung zu erwarten war oder die Selbsteinsetzung zum Gesetzgeber einer Übung entspricht 122 .

I I . Die Trennung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt in flexiblen Verfassungssystemen

Ob das Erfordernis der gesonderten Ermächtigung zur Ausübung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt auch für jene Verfassungen Geltung besitzt, die wie Gesetze abgeändert werden können, ist für das demokratische Staatsrecht ohne praktische Bedeutung. Denn alle demokratisch entstandenen Verfassungsurkunden enthalten, soweit ersichtlich, Bestimmungen, die die Revision der Verfassungsnormen gegenüber dem einfachen Gesetz erschweren 123 . Die Lösung des Problems verlangt zunächst, das Verhältnis zu bestimmen, i n dem das Institut der Verfassungsrigidität zur Trennung von verfassungserzeugender und gesetzgebender Gewalt steht. Ist diese Unterscheidung aus dem Begriff der formellen Verfassung als urkundlich zusammengefaßten Inbegriffs erschwert abänderbarer Normen 1 2 4 abgeleitet, kann sie dort nicht getroffen werden, wo die Verfassung das Merkmal einer besonderen Bestandskraft nicht aufweist 125 . 122 Vgl. i m übrigen die Bedenken gegen eine derartige Selbsteinsetzung i m Urt. d. BVerfG v. 23.10.1951, BVerfGE 1, 14 ff. (62) und schon bei Si-yès S. 69 (Übers. S. 102). 123 Die wenigen geschriebenen Verfassungen, die wie Gesetze abgeändert werden können, beruhen nicht auf der verfassunggebenden Gewalt des V o l kes. Siehe z. B. das italienische Statuto del Regno v o m 4. 3.1848 (sog. A l b e r tinisches Statut; vgl. hierzu Borgeaud S. 104 ff.) und die französischen Verfassungen von 1814 und 1830. Weitere Beispiele finden sich bei Jagmetti S. 61 f.,

68.

124 Bryce stellt zur Frage, ob auch ein flexibles Grundgesetz als Verfassung bezeichnet werden kann, fest: „ A t h i n g is not the less real because its limits cannot be sharply defined" (I S. 158 f.). 125 E i n gewisses Maß an Rigidität kann auch durch das Gebot der Verfassungsänderung i n Form der Verfassungstextänderung gewährleistet sein.

Die Gleichsetzung von Verfassungsänderung u n d Verfassungstextänderung bezeichnet Ehmke als einen Grundsatz des demokratischen Verfassungsrechts (Verfassungsänderung u n d Verfassungsdurchbrechung S. 397). Ob das Gebot des A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG ein Element der Rechtsstaatlichkeit ist, hat für die Verfassungen solcher Länder praktische Bedeutung, die das Gebot der V e r fassungstextänderung nicht ausgesprochen haben (z. B. A r t . 88 d. Verf. v. Berl i n v. 1. 9.1950, VB1. S. 433 und A r t . 129 d. Verf. v. Rheinland-Pfalz v. 18. 5.1947, VB1. S. 209). Maunz verneint dies m i t der Begründung, es habe rechtsstaatliche Verfassungen ohne ein solches Gebot gegeben (in: Maunz-Dürig, A r t . 79

170

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

D i e R i g i d i t ä t e i n e r V e r f a s s u n g u n d die U n t e r s c h e i d u n g v o n verfassungserzeugender u n d gesetzgebender G e w a l t s i n d selbständige Folgerungen aus der Idee der geschriebenen V e r f a s s u n g 1 2 6 , K o n s e q u e n z e n also aus der i n h a l t l i c h b e g r ü n d e t e n S u p e r i o r i t ä t 1 2 7 eines Grundgesetzes. Das F e h l e n einer j u r i s t i s c h w i r k s a m e n B e s t a n d s k r a f t der V e r f a s s u n g k a n n daher n u r e i n I n d i z d a f ü r sein, daß die betreifende Rechtsgemeinschaft der U n t e r s c h e i d u n g v o n V e r f a s s u n g u n d Gesetz auch i n s o f e r n k e i n e rechtliche B e d e u t u n g b e i m i ß t , als die gesetzgebende G e w a l t z u r Schaffung v o n V e r f a s s u n g s n o r m e n b e f u g t ist. B e g r i f f l i c h ist also die T r e n n u n g der G e w a l t e n n i c h t d a d u r c h ausgeschlossen, daß A b ä n d e r u n g s vorschriften fehlen 128.

I I I . Folgerungen für die Ableitbarkeit des Grundgesetzes aus der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes D i e G r u n d g e s e t z e n t s t e h u n g h a t sich i n e i n e m a l l g e m e i n e n S i n n e n i c h t ohne die M i t w i r k u n g des V o l k e s vollzogen. D e n n Feststellungs- u n d S a n k t i o n s a k t b e r u h e n a u f der staatsrechtlichen L e g i t i m a t i o n d e m o k r a tisch g e w ä h l t e r Organe. Doch fehlte diesen die nach deutschem Staatsrecht erforderliche besondere B e f u g n i s z u r V e r f a s s u n g g e b u n g 1 2 9 . Sie Rdnr. 5 m i t weiteren Nachweisen i n Anm. 4). Er übersieht dabei wohl, daß die Gleichsetzung von Verfassungsänderung und Verfassungstextänderung den demokratischen Verfassungssystemen selbstverständlich war. Die ausdrückliche Positivierung i n A r t . 79 GG erfolgte n u r i m Hinblick auf die anomale Übung der Weimarer Zeit. 128 Z u r dogmengeschichtlichen Einordnung der Rigiditätsbestimmungen zwischen Verfassungsgedanken u n d Volkssouveränitätsidee siehe G. Jellinek, Staatslehre S. 523; Loewenstein, V o l k u n d Parlament S. 218 sowie Zweig S. 285. 127 Die Verfassung von Rheinland-Pfalz v. 18. 5.1947 (VB1. S. 209) ordnet daher auch die Bestimmungen über ihre erschwerte Abänderung i n den A b schnitt V I I des zweiten Hauptteils ein. Dieser ist m i t „Der Schutz der Verfassung" überschrieben. 128 Siehe aber G. Jellinek, a. a. O., S. 527. Die Existenz einer der gesetzgebenden Gewalt übergeordneten verfassunggebenden Gewalt ist f ü r Fleiner ein M e r k m a l der geschriebenen Verfassung schlechthin (Verfassungsmäßigkeit S. 1 a). Bryce empfindet es als widersprüchlich, daß i n Italien das Albertinische Statut v o m 4. 3.1848 infolge der Abänderungen, die es durch die Legislative erfahren hat, zum T y p der flexiblen Verfassung zu rechnen ist, obgleich seine Bestimmungen i n einem Dokument zusammengefaßt waren (I S. 155). Vgl. aber auch Jeselsohn S. 12 f. u n d i n diesem Zusammenhang noch Fleck i n : GellerKleinrahm-Fleck, A r t . 69 A n m . 7 (S. 448). 129 N y m a n bezeichnet sogar die i n der Präambel niedergelegte „Formel über die M i t w i r k u n g des Volkes" als „ F i k t i o n " (S. 13). Siehe ferner Ellwein, Wiedervereinigung S. 94 und H. Schneider, Grundgesetz S. 937. F ü r Nawiasky w a r der Abstimmungsakt der Landtage u n d Bürgerschaften eine „Geschäftsführung ohne A u f t r a g " (Grundgedanken S. 12; vgl. auch S. 79). Siehe ferner W i l l i b a l t Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, N J W 49, 481 ff. (481); Hans Peter Ipsen, Das Grundgesetz i n seiner Vorläufigkeit, i n : Recht,

3. K a p i t e l : Repräsentative Erzeugung von Verfassungsrecht

171

machte weder einen Teil der den Landtagen und Bürgerschaften übertragenen Gesetzgebungsgewalt aus noch war sie diesen Vertretungsorganen wenigstens stillschweigend übertragen worden. Denn i m Augenblick der Parlaments- und Bürgerschaftswahlen stand eine künftige deutsche Verfassunggebung noch nicht zur Diskussion 130 . Der Annahme, die Landtage und Bürgerschaften seien unausgesprochen zur Verfassunggebung ermächtigt worden, steht zudem entgegen, daß eine Verfassungsschöpfung m i t Hilfe der Landesparlamente angesichts der traditionell festgelegten Wege demokratischer Verfassungsentstehung nicht i m Blickfeld der Wähler lag. Neuwahlen haben vor der Annahme des Grundgesetzes nicht stattgefunden 131 . Die deutschen Landtage und Bürgerschaften waren demnach keine Repräsentanten i n Verfassungssachen. Sie konnten somit auch dem Parlamentarischen Rat keine Befugnis zur Verfassungsberatung verschaffen 132 . Damit sind weder Maßstäbe des schweizerischen Staatsrechts unzulässig übernommen noch ist die Ähnlichkeit der Grundgesetzentstehung mit dem Schöpf un gs vor gang der amerikanischen Bundesverfassung übersehen. Denn das Gebot der besonderen Ausstattung eines repräsentativen Organs mit verfassungserzeugender Gewalt folgt aus dem Verfassungsbegriff, nicht aus der Eigenart der unmittelbaren Demokratie, z. B. Schweizer Prägung 133 . Die amerikanische Unionsverfassung wurde, anders als das Grundgesetz, gliedstaatlichen Organen zur Entscheidung Staat, Wirtschaft, Bd. 2, 1950, S. 182 ff. (182, 193) u n d Laun, Grundgesetz S. 5. A m Problem geht Hamann vorbei, w e n n er feststellt, es bestehe k e i n „ z w i n gender Rechtssatz", daß die verfassunggebende Gewalt durch einen „ u n m i t telbaren Willensakt" des Volkes i n F o r m eines Volksentscheids oder durch die W a h l einer verfassunggebenden Versammlung ausgeübt werden müsse (Grundgesetz S. 15). 130 Darauf weisen Golay (S.40), L a u n (a.a.O., S. 6) u n d H. Schneider (a. a. O.) hin. 131

Vgl. Laun, a. a. O., u n d N y m a n S. 14. 132 Dagegen bezeichnen v. M a n g o l d t - K l e i n die Länderparlamente als i n „abgeschwächt mittelbarerweise" gewählte Organe (I S. 45). Ä h n l i c h äußert sich auch Theodor Eschenburg (Die deutsche Frage, 1959, S. 15). Maunz qualifiziert den Parlamentarischen Rat sogar als „Konstituante" (Staatsrecht S. 48). Auch Quaritsch geht davon aus, daß die Landtage u n d Bürgerschaften „Repräsentanten des pouvoir constituant" waren, „die bei der A b s t i m m u n g gemäß A r t . 144 GG ad hoc ihre Qualität wechselten" (Kirchen u n d Staat S. 179). Die i m übrigen Schrifttum vorsichtig vorgebrachten Bedenken tragen erkennbar den „außergewöhnlichen Verhältnissen" (Nyman S. 7, 17) der Grundgesetzentstehung Rechnung. Siehe z.B. Bachof, Verfassungsnormen S. 36 A n m . 7 3 ; H a m m S. 13 A n m . 25; Krauss S. 582; Leisner, Verfassunggebung S. 131; Zinn, B u n d u n d Länder S. 293 u n d Beschl. d. O L G Düsseldorf v. 20. 7.1949, N J W 49, 718 f. 183 Z u Unrecht hält daher Herrfahrdt Nawiasky (siehe oben S. 170 A n m . 129) entgegen, dieser ginge v o m „Schweizer Standpunkt" der unmittelbaren Demokratie aus (Bonner Kommentar, Nr. I I I zu A r t . 79).

172

2. Abschnitt: Verfahren der Verfassunggebung

vorgelegt, die hierzu besonders vom Volk berufen waren 1 3 4 . Die nicht zu bestreitende, sondern nur zu begründende Geltung des Grundgesetzes muß daher auf sekundäre Tatbestände gestützt werden, z.B. auf eine gewohnheitsrechtliche Ingeltungsetzung oder auf die konkludente Zustimmung des Staatsvolkes in der Teilnahme an der Wahl zum 1. Bundestag und deren Ergebnis 135 .

134

Siehe K a r l Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 10. Das übersehen w o h l Maunz (a. a. O.) und Peters (Demokratie S. 34). M o l l weist darauf hin, die Eingangsworte zur amerikanischen Verfassung sprächen von der Verfassungsannahme durch das Volk, nicht durch die Staaten, da die Verfassung von Konventionen, und nicht von „Legislaturen" ratifiziert worden sei (S. 29 f. Anm. 4). 135

Siehe oben S. 61.

Dritter

Abschnitt

Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt des Volkes Erstes Kapitel Die Theorie der extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt des Volkes A. Das Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt in der deutschen Staatsrechtslehre I. Verfassunggebende Gewalt und Verfassungsgewalten

1. Die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués Das Verhältnis der verfassunggebenden Gewalt zu den Gewalten der Verfassung, insbesondere zur verfassungsändernden Gewalt, ist theoretisch wie praktisch ein zentrales Kapitel der Lehre vom Volk als Verfassungserzeuger. Soweit das deutsche Schrifttum die rechtliche Existenz einer verfassunggebenden Gewalt i m vorkonstitutionellen Bereich anerkennt und damit vor die Aufgabe gestellt ist, deren Verhältnis zu den Verfassungsgewalten zu bestimmen, greift es auf das von den Begriffen „pouvoir constituant" und „pouvoirs constitués" 1 geprägte Gewaltenschema Sieyès'* zurück 3 . Der pouvoir constituant w i r d als die Gewalt 1 Z u m Streit zwischen der amerikanischen Lehre und Sieyès u m die Priorität dieser Unterscheidung siehe Hatschek, Allgemeines Staatsrecht I I S. 21; Kägi, Hechtsstaat S. 113 A n m . 16; K ö h l m a n n S. 3; C. Schmitt, Verfassungslehre S. 78 u n d Zweig S. 1. 2 Seine theoretische Hauptschrift „Qu'est-ce que le tiers état?" liegt hier i n der französischsprachigen Ausgabe von Franz Koppel und i n der Übersetzung von Otto Brand zugrunde. 3 Siehe z.B. A r n o l d S. 11; Bachof, Verfassungsnormen S. 34; Ehmke, Verfassungsänderung u n d Verfassungsdurchbrechung S. 398 f.; Jahrreiß, Gesetzgebung S. 57 Anm. 10; Kölble S. 586; Maunz, Staatsrecht S. 45 ff.; ders., G u t achten Hessen S. 24 ff. u n d Verfassunggebende Gewalt S. 645 ff.; Meyer-Goßner S. 65; Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 8 u n d C. Schmitt, a. a. O., S. 78 ff. I n der Darstellung Hasbachs erscheint die französische Version schlechthin als Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes (S. 310 f.). Z u m pouvoir constituant i m schweizerischen Schrifttum siehe z.B. Haug S. 149; Jagmetti S. 19 f. und Dupraz S. 353 a ff. Von den französischen Darstellungen siehe z. B. Burdeau, Traité I I I S. 171 ff. und Carré de Malberg, Contribution I I S. 483 ff.

174

3. Abschnitt : Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

beschrieben, die stets und nicht nur vor der Verfassungsschöpfung bei der Nation liegt und immer außerhalb des Verfassungsgesetzes verbleibt. Denn keine Revisionsvorschrift könne sie organisieren 4 ; i n keinem Organ und i n keiner Gewalt der Verfassung finde sie ihre sichtbare Gestalt 5 . Sie stehe vielmehr neben und über der Verfassung 0 . Bestimmungen der Verfassung könnten sie i n keiner Form binden 7 . Die pouvoirs constitués dagegen bewegen sich nach dieser Lehre nicht nur innerhalb der vom pouvoir constituant geschaffenen Verfassung, sondern beruhen auf ihr 8 . Für die Verfassungsgewalten gilt der Vorbehalt und nicht nur der Vorrang der Verfassung. Die verfassungsändernde Gewalt ist dabei pouvoir constitué, nicht anders als die gesetzgebende Gewalt auch. Zwar w i r d der Revisionsgewalt zum Teil eine „außerordentliche" Funktion i m Verhältnis zur einfachen Gesetzgebungsgewalt zugestanden; gleichwohl teilt sie mit dieser die Qualität einer Verfassungsgewalt 9 . Dogmengeschichtlich hat man i n dieser Systematisierung der Gewalten den Versuch der Verfassungstheorie gesehen, durch die Idee der unteilbaren verfassunggebenden Gewalt die Montesquieusche Gewaltenteilung m i t der rivalisierenden Vorstellung von der einen Vollgewalt des souveränen Staatsvolkes zu versöhnen 10 . Dogmatisch erschöpft sich die Bedeutung der dargestellten Konstruktion keineswegs i n einer Ordnung der Gewalten, die der verfassunggebenden Gewalt den ihr angemessenen Rang einräumt und die Grenze zwischen vorkonstitutionellem und konstitutionellem Rechtsbereich klar zieht. Denn die Gegenüberstellung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués hat zur Folge, daß die verfassunggebende Gewalt niemals i n die verfassungsändernde Gewalt eingehen kann. Sie verkörpert sich auch nicht insoweit i n der verfassungsändernden Gewalt, als diese i n Gestalt der Abänderung sekundärer Verfassungsnormen ausschließlich zur Verfassungserzeugung berufen ist 1 1 . Denn der pouvoir constituant ist wesensmäßig von vorneherein für erstrangige Verfassungsentscheidungen zuständig und bleibt i n dieser Funktion außerhalb der Verfassung. Er geht nicht i m Wege der Verfassungs4

Vgl. Viehoff S. 34 u n d auf Schweizer Seite Affolter S. 74. Siehe A r n o l d s . 11 f. ® Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre S. 91. Sieyès formuliert: „ L a nation existe avant tout, elle est l'origine de tout" (S. 58 — Ubers. S. 92). 7 Vgl. A r n o l d S. 12 u n d Maunz, Verfassunggebende Gewalt S. 647. Die französische Lehre meint diese Eigenschaft, w e n n sie von „primauté", „liberté" oder „autonomie" des pouvoir constituant spricht. Siehe Burdeau, a. a. O., S. 204. 8 Siehe C. Schmitt, a. a. O., S. 79 u n d A r n o l d S. 11. 9 C. Schmitt, a. a. O., S. 102 u n d H a m m S. 32. 10 Siehe Zweig S. 66 f., 116, 117. Diese These w i r d allgemein übernommen. Vgl. z. B. K i n d S. 22; Jagmetti S. 21; Maunz, Gutachten Hessen S. 25 u n d Nef, Schranken S. 133. 11 Siehe unten 3. Abschnitt, 1. Kapitel, A I I 1. 5

1. Kapitel: Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

175

Schöpfung aus d e m „ N a t u r z u s t a n d 1 2 " i n die verfassungsgesetzlichen F o r m e n der R e v i s i o n ü b e r 1 3 . D i e R e v i s i o n s g e w a l t m u ß daher eine „ p a r o die d u p o u v o i r c o n s t i t u a n t v é r i t a b l e " b l e i b e n 1 4 . D i e verfassunggebende G e w a l t erschöpft sich auch n i c h t i m E r l a ß einer k o n k r e t e n V e r f a s s u n g 1 5 , sondern b l e i b t „ U r g r u n d alles politischen Geschehens 1 8 " u n d „ d e r M ö g l i c h k e i t nach i m m e r v o r h a n d e n 1 7 " . Das V o l k als T r ä g e r der verfassunggebenden G e w a l t ist dementsprechend n i c h t i d e n t i s c h m i t d e m V o l k als T r ä g e r d e r verfassungsändernden G e w a l t 1 8 . Z w a r k a n n es sich auch als Verfassunggeber i n verfassungsgesetzlichen F o r m e n äußern, z . B . i n e i n e r V o l k s a b s t i m m u n g 1 9 oder i n d e r W a h l eines verfassunggebenden Organs 2 0 . N i e m a l s aber ist das verfassunggebende V o l k m i t d e m V o l k als T r ä g e r verfassungsgesetzlicher Befugnisse i d e n t i s c h 2 1 . S o w e i t die deutsche T h e o r i e i n solchen A n a l y s e n die verfassunggebende G e w a l t v o n d e n V e r f a s s u n g s g e w a l t e n nach q u a l i t a t i v e n M e r k m a l e n unterscheidet, l e h r t sie durchaus Sieyès' zentrales A n l i e g e n . D e n n v o r a l l e m i m V . K a p i t e l seiner S c h r i f t ü b e r d e n D r i t t e n Stand, das die 12 Diese Existenzform des pouvoir constituant ist nicht identisch m i t der „öffentlichen Meinung". Siehe aber Sauerwein S. 167. 13 Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre S. 79; A r n o l d S. 12 u n d Maunz, V e r fassunggebende Gewalt S. 647. Dagegen bejaht Haug die Transformation (S. 157). 14 Burdeau, Traité I I I S. 204. Z u m Verhältnis von pouvoir constituant und Revisionsgewalt siehe ferner Scheuner, Verfassunggebende Gewalt S. 584. 15 Siehe C. Schmitt, a. a. O., S. 77. 16 C. Schmitt, Verfassungslehre S. 79. Er w i l l aus der Lehre Sieyès' die Merkmale einer „pantheistischen Metaphysik" lösen u n d deren Beitrag für eine Lehre der verfassunggebenden Gewalt herausstellen, die er als „positiv" bezeichnet (a. a. O., S. 79 f.). 17 C. Schmitt, a. a. O., S. 91. Der pouvoir constituant besitzt m i t den Worten von H e l m u t Quaritsch eine „unverbrauchbare Dauerkompetenz" (DVB1. 62, 587). 18 Siehe C. Schmitt, a.a.O., S. 98, 238 f.; A r n o l d S. 15 f.; K i n d S. 63; K ö h l mann S. 17 f., 83; ferner Affolter S. 74. K l a r stellt auch Quaritsch den doppelten Volksbegriff heraus: A l s Verfassungsschöpfer ist das V o l k Erzeuger u n d Herr der Verfassung, als Staatsvolk Adressat der Verfassung als der „ E n t scheidung eines D r i t t e n " (Kirchen u n d Staat S. 178). Von dieser Unterscheidung her bereitet es keine Schwierigkeiten zu erklären, weshalb das V o l k über die Verfassungsannahme m i t einfacher Mehrheit, i m Verfahren der Verfassungsänderung aber gegebenenfalls m i t qualifizierter Mehrheit entscheidet. 19 Siehe K ö h l m a n n S. 18 und Maunz, Verfassunggebende Gewalt S. 646. Vgl. ferner Burdeau, Traité I I I S. 212 f. 20 Siehe A r n o l d S. 20 A n m . 2. 21 Z u Einschränkungen scheint freilich i n diesem Punkte K ö h l m a n n bereit zu sein. Denn gegenüber dem Einwand, die verfassunggebende Gewalt sei i n einem solchen Verfahren durch die Revisionsbestimmungen „gesetzlich geregelt u n d prinzipiell begrenzt", weist er darauf hin, daß m a n von einer Beschränkung des pouvoir constituant „ m i t derselben Berechtigung sprechen kann, als es anerkannten Rechtes ist, von einer beschränkten Souveränität zu sprechen" (S. 18). Siehe i n diesem Zusammenhang auch Henke S. 40.

176

3. Abschnitt: Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

Dogmatik der verfassunggebenden Gewalt i m wesentlichen enthält, kann er den prinzipiellen Unterschied zwischen dem an keinerlei Formen der Verfassung gebundenen pouvoir constituant der Nation 2 2 und den konstituierten Gewalten der Verfassung nicht oft genug herausstellen. I n diesem Lehrstück der Verfassungstheorie finden sich die immer wieder zitierten Formulierungen Sieyès', die Nation verbleibe stets i m „rétat de nature 2 3 " und trete niemals aus ihm heraus 24 . Hier bezeichnet Sieyès die Annahme als „ridicule", die Nation sei durch die Verfassungsformen, denen sie ihre Beauftragten unterworfen hat, selbst gebunden 25 . Die gesetzgebende Gewalt legt er in die Hand von Körperschaften, die keinen Einfluß auf die Organisation und Aufgabe der Gesetzgebung regelnde Verfassung 26 haben 27 . Denn diese, so betont er, ist nicht das Werk einer konstituierten, sondern der konstituierenden Gewalt 2 8 . Die verfassungsfreie verfassunggebende Gewalt ist damit klar den verfassungsmäßig organisierten Gewalten gegenübergestellt.

2. Verfassunggebende

Gewalt und Staatsgewalt

Von diesem Gewaltenschema her könnte man der verfassunggebenden Gewalt einen Begriff der Staatsgewalt gegenüberstellen, der die gesamte auf Grund und i m Rahmen einer formellen Verfassung ausgeübte Gewalt umfaßt. Unterschieden wären beide Gewalten — von den differierenden Funktionen abgesehen — dann nur durch das Merkmal der Verfassungsfreiheit i m einen, der Verfassungsabhängigkeit und Verfassungsgebundenheit i m anderen Falle. Eine solche Begriffsbildung würde demnach auf ein Merkmal abstellen, das gerade nicht den StaatsgewaltCharakter der verfassunggebenden Gewalt ausschließt. Spricht man dennoch von „Staatsgewalt" einerseits und „verfassunggebender Gewalt" andererseits, so könnte diese Gegenüberstellung darüber hinwegtäuschen, daß der Staatsgewalt i m weiteren Sinne als der „Summe aller öffentlichen Gewalt 2 9 " auch die verfassunggebende Gewalt unterfällt. Dieses Verständnis des Begriffes „Staatsgewalt" aber liegt regelmäßig der 22

S. 79. 23

Z u m Begriff der Nation bei Sieyès siehe C. Schmitt, Verfassungslehre

S. 61 (Übers. S. 95). a.a.O. 25 S. 59 (Übers. S. 93). 26 S. 58 (Übers. S. 92). 27 S. 59 (Übers. S. 93). 28 S. 59 (Übers. S. 93). 29 Zweig S. 281. Vgl. ferner den Begriff der Staatsgewalt bei Wernicke i n : Bonner Kommentar, A r t . 20 Erl. 2 a. 24

1. Kapitel: Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

177

Verfassungspraxis 80 und der Literatur 3 1 zugrunde. Auch Art. 2 Abs. 1 der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13.12.1949 32 hat durch die Formulierung „Alle Gewalt geht vom Volke aus" nicht den Begriff „Staatsgewalt" vermieden, um die verfassunggebende Gewalt in die Souveränitätsformel einbeziehen zu können 33 . Die verfassunggebende Gewalt des Volkes ist Staatsgewalt; sie steht nicht vor und über dem Staat 34 . Die Verfassung formiert und begrenzt zwar die Staatsgewalt, w i r d aber zugleich in Ausübung von Staatsgewalt gegeben35. Die positivistische Theorie gesteht den Charakter von Staatsgewalt lediglich deshalb ausschließlich den Verfassungsgewalten zu, weil Staatsgewalt für sie nur rechtlich ausgeübte Herrschaft sein kann3® und der verfassunggebenden Gewalt dieser Rechtscharakter fehlt 3 7 . Henkes K r i t i k an der Gleichsetzung von verfassunggebender Gewalt und Staatsgewalt basiert gerade nicht auf der herkömmlichen Systematik von verfassunggebender Gewalt und Verfassungsgewalten. Denn er ordnet den Vorgang der Verfassungsgesetzgebung der Staatsgewalt zu 38 . Die Verfassung bzw. die ihr zugrunde liegende verfassunggebende Gewalt ist daher auch keine „dritte Größe" i m Verhältnis von Kirchen und Staat 39 . Man tauscht nur scheinbar aus, wenn man die Kirchen mit der Verfassung anstelle des Staates konfrontiert 4 0 und das herkömmliche Gegenüber von Kirchen und Staat als zweitrangige Konstellation 30 Der Begriff der Staatsgewalt i n den Souveränitätsformeln erfaßt auch die verfassunggebende Gewalt. Siehe oben S. 31, insb. Anm. 38, 39 und Otto Weidner, Der Grundsatz der Gewaltenteilung u n d die Weimarer Verfassung, 1932, S. 130. 81 Vgl. z. B. Affolter S. 40, 46; Danco S. 9; Fuß S. 394 Anm. 31; Krüger, V e r fassungsauslegung S. 686 und Nef, Schranken S. 140. 32 GVB1.1950, S. 3. 38 Hervorhebung v o m Verfasser — Dieser Sprachgebrauch wurde gewählt, da zweifelhaft war, ob Schleswig-Holstein i m Zeitpunkt des Satzungserlasses Staatlichkeit besaß. Vgl. Hermann Held, Verfassungs- und Verwaltungsrecht i n Schleswig-Holstein, 1951, Einführung S. X I X ff., insb. Anm. 13; vgl. ferner A r t . 25 d. Belg. Verf. v. 7. 2.1831 : „Tous les pouvoirs émanent de la nation" (abgedr. bei Franz S. 60 f.). 34 Siehe oben S. 36 85 Dagegen ist nach der Auffassung von Quaritsch die demokratische V e r fassung nicht das „Erzeugnis des Staates, sondern als normativierte Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ein (auch) dem Staat auferlegtes Gesetz" (Kirchen u n d Staat S. 178). 36 Siehe Giacometti, Staatsrecht S. 45 f.; G. Jellinek, Staatslehre S. 367 ff., 386 f., 476 ff. und ders., Gesetz und Verordnung, 1887, S. 197,198, 216. 87 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Kapitel, Β I I . Siehe aber auch Danco S. 9 ff. u n d Viehoff S. 34 ff., 92. 88

Vgl. oben 1. Abschnitt, 3. Kapitel, A I V 1.

39

So aber Quaritsch, a. a. O., S. 178 A n m . 8.

40

Siehe Quaritsch, a. a. O., S. 178.

12 Steiner

178

3. Abschnitt: Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt

„unterhalb der Verfassungsstufe" begreift 41 . Der Souveränitätsanspruch der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist seinem Wesen nach kein anderer als der der Verfassungsgewalten 42 .

3. Rechtliches und revolutionäres

Verständnis des pouvoir

constituant

Für das Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt i n der Sicht der französischen Lehre vom pouvoir constituant ist von entscheidender Bedeutung, daß sich der Wille der verfassunggebenden Gewalt, um rechtserheblich zu sein, nicht nur durch das Medium bestimmter verfassungsgesetzlich vorgesehener Organe äußern kann oder nur i n den Formen der Willensbildung und Willensbekundung rechtliche Relevanz erlangt, an die die Verfassungsorgane und damit auch das Staatsvolk, z. B. i m verfassungsgesetzlichen Rahmen einer Volksabstimmung, normativ gebunden sind 43 . Aber auch i n materieller Hinsicht bestimmt sich die Rechtmäßigkeit von Akten des pouvoir constituant nicht nach den Vorschriften des Verfassungsgesetzes. Sie ergibt sich, so muß man die französische Lehre interpretieren, allein aus dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt. I h r Wirken kann damit — von der Bindung an vorpositive Rechtsgrundsätze abgesehen — an keinerlei außerhalb ihrer selbst liegenden Maßstäben rechtlich beurteilt werden 44 . Wesentlich ist dabei, daß die verfassunggebende Gewalt von den Regeln der Verfassung freigestellt ist, weil das Verfassungsgesetz aus rechtslogischen Gründen nicht die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit von Akten der verfassunggebenden Gewalt festsetzen kann. Die französische Lehre vom pouvoir constituant begreift sich selbst als rechtliche, nicht als revolutionäre Theorie. Man unterschätzt ihren Anspruch, wenn man die von ihr vollzogene Anerkennung einer außerkonstitutionellen Verfassungserzeugung durch das Volk nur als einen Versuch bewertet, das der Verfassungsgeschichte geläufige Phänomen der politisch41 Quaritsch, a. a. O., S. 180. Staatliche „Sicht" ist f ü r i h n „Sicht aus zweiter Hand" (a. a. O., S. 181). 42 Siehe aber Quaritsch, a. a. O. 43 Siehe A r n o l d S. 20 f.; Maunz, Verfassunggebende Gewalt S. 646 und C. Schmitt, Verfassungslehre S. 79 i n Anlehnung an Sieyès' These: „Une nat i o n est indépendante de toute forme, et, de quelque manière qu'elle veuille, i l suffit, que sa volonté paroisse pour que tout droit positif cesse devant elle" (S. 61 — Übers. S. 95). Vgl. hierzu auch Leisner, Verfassunggebung S. 448 und Burdeau, Traité I I I S. 204. A r n o l d begründet unter Berufung auf Carl B i l f i n ger (Nationale Demokratie als Grundlage der Weimarer Verfassung, 1929, S. 17) die Wirkungsfreiheit der verfassunggebenden Gewalt wenig überzeugend m i t dem Hinweis, sie folge „schon aus dem Wesen der Verfassung, ohne einer schriftlichen Niederlegung zu bedürfen" (S. 21). 44 „ L a volonté nationale, au contraire, n'a besoin que de sa realité pour ètre toujours légale, elle est l'origine de toute légalité" (Sieyès S. 60 — Übers. S. 94).

1. K a p i t e l : Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

179

sozialen Macht einer volksgetragenen Verfassungsbewegung verfassungssoziologisch zur Geltung zu bringen. Wäre dies der Fall, könnte man die Auseinandersetzung mit der französischen Lehre und deren Rezeption durch einen Teil der deutschen Theorie i n der Frage nach der Fortgeltung existenten* Rechts beim Einbruch sozialer Sachverhalte aufgehen lassen. Eine Interpretation, die die Lehre vom pouvoir constituant als genuin revolutionär versteht, findet sich denn auch nur vereinzelt 45 . I n der Regel geht man davon aus, daß die französische Theorie den pouvoir constituant als Rechtsbegriff etabliert hat, und zieht daraus auch rechtstheoretische Folgerungen für den Begriff der Revolution 46 . Denn als revolutionär kann man sie nur ihrer politischen und rechtspolitischen Auswirkungen für ein bestehendes Verfassungssystem wegen bezeichnen. Weil aber die französische Theorie die Existenz eines rechtlichen Trägers der verfassungserzeugenden Gewalt neben der Revisionsgewalt behauptet, ist eine Auseinandersetzung mit ihr auch i h m Rahmen einer juristischen Untersuchung der Verfassungserzeugung erforderlich. Das Nebeneinander eines legalen und eines rechtswidrig-revolutionären Normerzeugungsverfahrens wäre kein Problem, das speziell der Theorie der Verfassunggebung gestellt ist. Zum besonderen Gegenstand der Verfassungstheorie w i r d die Lehre vom pouvoir constituant französischer Herkunft durch die Annahme zweier rechtlicher Verfahren für die Erzeugung formellen Verfassungsrechts. Die materiell und verfahrensmäßig selbständige Existenz einer verfassunggebenden Gewalt neben der verfassungsändernden Gewalt läßt sich daher auch andererseits nicht mit der Erfahrung wirksamer Abänderungen oder Aufhebungen von Verfassungen auf revolutionärem Wege beweisen 47 . Eine Theorie der verfassunggebenden Gewalt hat den rechtlichen Raum der Verfassungserzeugung abzustecken. Die rechtswidrig revolutionäre Entstehung wirksamen Verfassungsrechts bleibt dabei stets vorbehalten. Daß der revolutionäre und der rechtmäßige Aspekt der Verfassunggebung dennoch nicht immer mit der erforderlichen Schärfe getrennt werden, erschwert die Bewertung der positiven Äußerungen des Schrifttums zur Existenz einer außerkonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt. Sie lassen oft nicht erkennen, ob sie eine dritte Rechtsetzungsmacht neben der verfassungsändernden und der gesetzgebenden Gewalt an45

Vgl. ζ. Β. v. H e r r n r i t t S. 37 u n d ferner H a m m S. 34. Leisner bezeichnet es als M e r k m a l der französischen Theorie, daß sie die originäre Verfassunggebung i n den Bereich des Rechts einbezieht (Verfassunggebung S. 378). Folgerichtig wendet er die Lehre v o m pouvoir constituant auf den Rechtsbegriff der Revolution an (a. a. O., S. 223, 357). Loewenstein versteht den pouvoir constituant „als die gesetzliche Äußerungsform der souveränen Dispositionsgewalt (seil, der Gesamtheit) über die Organisation des sozialen Verbandes" (Volk u n d Parlament S. 139 — Hervorhebung v o m Verfasser). Siehe ferner Jeselsohn S. 90. 47 So aber H a m m S. 34 ff. 46

12 *

180

3. Abschnitt: Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt

erkennen oder nur der mit rechtstechnischen Mitteln nicht zu verhindernden rechtschaffenden Macht der Revolution Rechnung tragen. Die Begriffe „pouvoir constituant" und „pouvoirs constitués" grenzen nicht den metajuristischen, rechts- und rechtswissenschaftsfreien Raum vom Rechtsbereich ab. Zwar hat die begriffliche Unterscheidung von verfassunggebender Gewalt und Verfassungsgewalten ebenso wie die positivistische, den Rechtscharakter der originären Verfassunggebung leugnende Theorie den Gebrauch eines doppelten Volksbegriffs zur Folge. I n der französischen Lehre ist jedoch das Volk als Träger des pouvoir constituant keine außerrechtliche Erscheinung 48 . Gemeinsam ist der positivistischen und der französischen Theorie lediglich die Zäsur zwischen vor- bzw. außerkonstitutionellem und konstitutionellem Bereich. Sie hat zur Folge, daß beiden Lehren die verfassungsändernde Gewalt nicht als Fortsetzung der verfassunggebenden Gewalt erscheint, der ersteren, weil die verfassunggebende Gewalt keine rechtliche Gewalt ist, der letzteren, weil die verfassunggebende Gewalt ihrem Wesen nach vor- und nebenkonstitutionell ist. Der Stand der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt i m deutschen Rechtskreis ist durch gegensätzliche Positionen gekennzeichnet 40 . Auf der einen Seite findet sich die gegenwärtig vorherrschende klassische französische Konzeption vom pouvoir constituant als der immerwährenden, unorganisierbaren und stets zur Verfassunggebung befugten Gewalt 5 0 . Ihr steht, vor allem i m staatsrechtlichen Positivismus, eine Auffassung gegenüber, die eine verfassunggebende Gewalt im Rechtssinne nur i m Rahmen der Revisionsbestimmungen anerkennt 51 und den Begriff des pouvoir constituant als Bezeichnung für eine außerhalb der Rechtsordnung stehende Gewalt wählt 5 2 . Die Theorie französischer Prägung hat den Ubergang vom vorkonstitutionellen Wirken der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu den verfassungsgesetzlichen Formen der Verfassungserzeugung nicht gefunden 53 ; die positivistische 48 Z u Unrecht bringt daher Schönherr die Trennung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués i n den Vorstellungsbereich der positivistischen Lehre ein (S. 54 f.). 49 Ähnlich wie i m folgenden fällt auch Burdeaus Analyse des französischen staatsrechtlichen Schrifttums aus (Traité I I I S. 203 ff.). Auch er findet „les deux hypothèses classiques" vor (a. a. O., S. 203). Vgl. aber auch v. H e r r n r i t t S. 42 und kritisch hierzu C. Schmitt, Verfassungslehre S. 77. 50 Sie w i r d oft als „radikale" Lehre bezeichnet. Vgl. z. B. Kägi, Rechtsstaat S. 130. 51 Vgl. hierzu Burdeau, a. a. O., S. 204 u n d oben 1. Abschnitt, 1. Kapitel, Β I I . 52 Siehe ζ. B. Otto Weidner, Der Grundsatz der Gewaltenteilung u n d die Weimarer Verfassung, 1932, S. 130. 53 C. Schmitt habe bei seinen verdienstvollen Bemühungen u m eine E i n beziehung der Verfassunggebung i n den Bereich des Staatsrechts „ohne Not

1. Kapitel : Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

181

Lehre hat den Ausbruch aus einer bloßen Revisionstheorie zur Vorkonstitutionalität der verfassunggebenden Gewalt — nicht zuletzt mit Blick auf die radikale Erscheinungsform der vorkonstitutionellen Theorie 54 — nicht gewagt 55 . Die gegenwärtig allgemein anerkannte Bindung des pouvoir constituant an vorpositivrechtliche und damit auch vorverfassungsmäßige Grundwerte und Rechtsgrundsätze stellt einen vereinzelten und begrenzten Versuch dar, zwischen völliger Rechtsfreiheit der verfassunggebenden Gewalt einerseits und totaler Verrechtlichung durch ausnahmslose Identifizierung m i t der verfassungsändernden Gewalt andererseits zu vermitteln 5 6 . Andere Bemühungen, einen „Kompromiß" i m Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt zu erzielen 57 , haben lediglich dazu geführt, daß die Erzeugung von Verfassungsnormen auf verschiedene Träger verfassungserzeugender Gewalt aufgeteilt w i r d : Man weist die Totalrevision i m materiellen Sinne dem Befugniskreis der verfassunggebenden, die Änderung sekundärer Verfassungsnormen den verfassungsgesetzlichen Revisionsorganen zu. Damit werden, ebenso wie im Falle materieller Bindungen der verfassunggebenden Gewalt, in dogmatischer Hinsicht „relations existantes entre le pouvoir originaire et le pouvoir de revision 58 " nicht begründet. Die Bedeutung, die das Revisionssystem einer konkreten Verfassung bzw. eines Rechtskreises für die Theorie der Verfassungserzeugung schlechthin besitzt, ist in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen. Die Gegenüberstellung einiger Schweizer Lehren und der Theorie C. Schmitts macht deutlich, daß die Grundthesen auch einer allgemeinen Verfassungslehre ohne Blick auf die Revisionsregelung der „heimischen" Verfassung als Hintergrund nicht zutreffend gewürdigt werden können. Die Schweizer Theorie kann i m Hinblick auf die plebiszitäre, vom Verfahren der Gesetzgebung abgehobene Prozedur der Verfassungsänderung i n der Schweizerischen Bundesverfassung deren Revisionsbestimmungen ohne weiteres als Erscheinungsform der verfassunggebenüberkommene Auffassungen" zerstört, bedauert Jeselsohn (S. 90). Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß C. Schmitts Lehre v o n der verfassunggebenden Gewalt als Lehre von den Schranken der Verfassungsänderung entstanden ist. M i t dieser besonderen Zielsetzung w a r die Annahme unvereinbar, der pouvoir constituant werde i n die Revisionsgewalt transformiert. 34 So lehnt z. B. Jeselsohn unter dem Eindruck der Ausformung, die die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt bei C. Schmitt gefunden hat, trotz seiner Sympathie für eine „Verrechtung des dem Recht neu erschlossenen Gebiets" der Verfassunggebung (S. 92) die „Annahme einer juristisch faßbaren verfassunggebenden Gewalt ab" (S. 93). 55

Vgl. z. B. Hildesheimer S. 22.

56

Siehe oben S. 51 ff.

57 Siehe unten I I 1 und den Versuch einer „conciliation" bei Burdeau, Traité I I I S. 210 ff. 58

Burdeau, Traité I I I S. 204.

182

3. Abschnitt: Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

den Gewalt begreifen 59 . C. Schmitt dagegen ist es nicht möglich, die Revisionsgewalt angesichts der legislativen Form der Verfassungsänderung i m deutschen Staatsrecht als Verkörperung der verfassunggebenden Gewalt anzusehen60. Für die das Revisionsverfahren der positiven Verfassung zum Ausgangspunkt nehmende positivistische Lehre mußte der Einfluß der verfassungsgesetzlichen Revisionsgestaltung die umgekehrte Folge haben. Hier hat die Einbeziehung der Verfassungsrevision „ i n die gewöhnliche Staatstätigkeit Gesetzgebung 01 " dazu beigetragen, den Zugang zur vorkonstitutionellen Lehre vom pouvoir constituant i n ihrer französischen Prägung und damit zur Anerkennnung einer verfassunggebenden Gewalt i m Rechtssinne zu erschweren. Unter dem Eindruck der gesetzgebungsähnlichen Revisionstechnik der Weimarer Verfassung hat man daher teilweise auch in der Verfassunggebung von 1919 keinen „Ausfluß einer der gesetzgebenden Gewalt übergeordneten besonderen verfassunggebenden Gewalt" sehen können 82 . Der Zusammenhang von konkreter Revisionsgestaltung und allgemeiner Theorie der Verfassungserzeugung läßt sich an weiteren Beispielen nachweisen. So hat z. B. die französische Lehre die generelle Unterscheidung von „articles réglementaires" und „articles fondamentaux" zu den französischen Verfassungen von 1814 und 1830 entwickelt, die beide keine Revisionsbestimmungen aufweisen und daher in der Verfassungspraxis wie Gesetze abgeändert wurden 6 3 . Unmittelbar gibt es jedoch für die Lehre vom pouvoir constituant keine dogmatische Verbindung zwischen verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt. Denn beide Gewalten bewegen sich in verschiedenen, nicht austauschbaren Ebenen. Die verfassunggebende Gewalt existiert für die französische Theorie immer nur extrakonstitutionell, auch wenn die Ausübung der Revisionsgewalt in Form von Volksinitiative und Verfassungsreferendum unmittelbar beim Volke liegt. Ob 59 Siehe Dupraz S. 377 a; Haug S. 156 f. u n d Lüchinger S. 88. Nach der A n sicht Haugs geht freilich die verfassunggebende Gewalt m i t den Revisionsvorschriften einer Verfassung überhaupt erst i n die Rechtsform, nicht n u r i n eine bestimmte Rechtsform über (S. 157). 60 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Bemerkung Leisners, beim deutschen Revisionsverfahren könne man „ k a u m mehr von regelnder Anerkennung", sondern müsse von „konstitutiver Bedeutung der Verfassung" sprechen (Verfassunggebung S. 410,411). 61 Jeselsohn S. 14. 62 W. Scheicher, Besprechung der Verfassungslehre C. Schmitts, Fischers Zeitschrift f ü r Verwaltungsrecht, Bd. 63 (1929), S. 112 ff. (115) — dort gesperrt. 63 Siehe Fonteneau S. 117 ff. Die Unterscheidung von Partial- u n d Totalrevision hat i n der Dogmengeschichte freilich noch eine zweite verfassungstheoretische Wurzel. Sie geht auf eine plebiszitäre Theorie der Verfassungserzeugung zurück, die die Setzung von Verfassungsnormen durch repräsentative Organe auf Korrekturen der Verfassung i m Detail beschränken wollte. Siehe hierzu Loewenstein, Volk und Parlament S. 358.

1. K a p i t e l : Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

183

sich der pouvoir constituant i m Einzelfall i n den Bahnen der Verfassung bewegt, hängt von der politischen Zweckmäßigkeit des verfassungsgesetzlich angebotenen Verfahrens ab 64 . Die vermeintliche oder w i r k liche, konkrete oder allgemeine Unzweckmäßigkeit eines geltenden Revisionssystems hat daher i n der Verfassungstheorie die Rezeption der französischen Lehre vom verfassungsfreien pouvoir constituant nachweisbar gefördert oder sogar veranlaßt. Das w i r d i m folgenden noch zu zeigen sein.

I I . Extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt und verfassungsändernde Gewalt

1. Das Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt bei C. Schmitt Entsprechend der Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsgesetzgebender Gewalt i m Zusammenhang m i t dem Vorgang der Verfassunggebung 65 entwickelt C. Schmitt aus seinem Begriffspaar Verfassung und Verfassungsgesetz für den Vorgang der Verfassungsänderung die Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsändernder oder auch verfassungsgesetzlicher Revisionsgewalt. Die klassische französische Lehre gab i h m für die Bestimmung des Verhältnisses beider Gewalten lediglich den Satz vor, daß die verfassunggebende Gewalt immer extrakonstitutionell bleibe. Uber dieses Grundprinzip hinaus ergibt die dogmatische Auswertung der Arbeit Sieyès ' zur Frage des Dritten Standes keine weiteren Lehren für das Verhältnis von pouvoir constituant und Revisionsgewalt. Letztere findet in dieser de constitutione ferenda niedergeschriebenen Untersuchung keine Erwähnung und ist für deren verfassungspolitische Zielsetzung auch ohne unmittelbares Interesse. Die verfassungsändernde Gewalt, wie sie die meisten demokratischen Verfassungen i n irgendeiner Form kennen, liegt wohl zwischen den bei Sieyès entwickelten Typen von rechtsetzender Gewalt. M i t seinem pouvoir constituant hat sie die verfassungserzeugende Funktion, m i t seiner gesetzgebenden Gewalt die Bindung an die Verfassung gemeinsam. Diese beiden Merkmale kommen zur Geltung, wo das Schrifttum die verfassungsändernde Gewalt als „pouvoir constituant constitué®6" bezeichnet. W i l l man die verfassungsgesetzliche Revisionsgewalt 64

Vgl. hierzu auch Ehmke, Verfassungsänderung S. 87.

65

Siehe oben 1. Abschnitt, 3. Kapitel, A I I I .

66

Dieser Begriff findet sich, soweit ersichtlich, bei Burdeau (Traité I I I S. 203, 211) und Jahrreiß (Gesetzgebung S. 57 A n m . 10).

184

3. Abschnitt: Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

i n Sieyès' System der Gewalten 67 einordnen, muß man sie letzten Endes — jedenfalls solange man die Schrift über den Dritten Stand zugrunde legt 6 8 — extrakonstitutionell begreifen. Eine Qualifizierung als Verfassungsgewalt wäre für sie zumindest mit einer erheblichen Begrenzung des Funktionsbereichs verbunden. Denn nach der Auffassung Sieyès' könnte die verfassungsändernde Gewalt des „pouvoir délégué" jedenfalls „rien changer aux conditions de sa délégation 69 ". Sieyès' Interpret Bastid w i l l darüber hinaus die Verfassung als der Disposition der Verfassungsgewalten schlechthin entzogen verstehen 70 . Eine solche totale Bindung läßt sich aus der Sieyès' Gewaltenverständnis innewohnenden Logik begründen, daß eine vom pouvoir constituant geschaffene Norm nicht durch eine vom pouvoir constituant geschaffene Gewalt abgeändert oder aufgehoben werden kann. Die verfassungsändernde Gewalt müßte also extrakonstitutionell bleiben. Revisionsbestimmungen einer Verfassung hätten daher allenfalls deklaratorische Bedeutung. Immerhin ist jedoch bereits in der französischen Nationalversammlung der vermittelnde Gedanke entwickelt worden, die Verfassungserzeugungsfunktionen zwischen verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt aufzuteilen: Lediglich die Teilrevision sollte dem vom pouvoir constituant in der Verfassung eingesetzten Revisionsorgan zustehen. M i t dieser Einschränkung hielt man dann eine Revision der Verfassung durch einen pouvoir constitué für vertretbar 71 . Zur Durchführung einer Totalrevision sollte in einem besonderen Organ die ganze Souveränität des Volkes zum Tragen kommen. Ohne den Anschluß an diese in der französischen Verfassungspraxis nicht zur Geltung gekommenen Gedankengänge herzustellen, hat Carl Schmitt eine arbeitsteilige Theorie der Verfassungserzeugung innerhalb eines geltenden Verfassungssystems entwickelt. Die verfassunggebende Gewalt bezieht sich danach auf die Schaffung und Änderung der Verfassung, die verfassungsändernde oder Revisionsgewalt i m herkömmlichen Sinne nur auf die Änderung des Verfassungsgesetzes 72. Dabei ist 67 Z u r Interpretation Sieyès' vgl. auch Leisner, Verfassunggebung S. 157, 162 A n m . 2 und Zweig S. 134. 68 Z u den Wandlungen i n der Lehre Sieyès' siehe u. a. Bastid S. 577 ff. 69 S. 59 (Übers. S. 93). Siehe ferner S. 57 (Übers. S. 91) u n d S. 58 f. (Übers. S. 92 f.). 70 S. 375. Die Situation der Verfassungsgewalten gegenüber der Verfassung vergleicht Bastid m i t dem Menschen ,,à l'égard des lois physiques" (a. a. Ο.). 71 Siehe Loewenstein, V o l k u n d Parlament S. 358, 365 f., 367, 370 u n d Zweig S. 303. Z u m Verständnis der Revisionsregelung i n der französischen Verfassung von 1791 vgl. Loewenstein, a. a. O., S. 371 f. 72 Verfassungslehre S. 99. F ü r C. Schmitt ist der Begriff „Verfassungsänderung" ungenau, w e i l er i m allgemeinen Sprachgebrauch die Verfassungsgesetzänderung bezeichnet (a. a. O.), also für „verfassungsgesetzliche Verfassungsänderungen" steht (a. a. O., S. 101).

1. Kapitel: Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

185

auch das Verfassungsgesetz der Änderung durch die verfassungsgesetzliche Revisionsgewalt entzogen, soweit es die verfassunggebenden Entscheidungen des souveränen Volkes normiert 7 3 . Diese Einschränkung folgt aus dem Wesen der Verfassung als Grundlage des Verfassungsgesetzes und aus der Qualifizierung der verfassungsgesetzlichen Revisionsgewalt als konstituierter Gewalt. Die zur Revision berufenen Organe können also verfassungsgesetzliche Regelungen insoweit ändern, als „Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt bleiben 74 ". Die verfassungsgesetzliche Revisionsgewalt ist zwar gegenüber der einfachen Gesetzgebungsgewalt eine „außerordentliche Befugnis", jedoch begrenzt wie jede verfassungsgesetzliche Rechtsmacht 75 und i m Hinblick auf die Zuständigkeit der verfassunggebenden Gewalt speziell dadurch beschränkt, daß sie eine neue Verfassung nicht geben kann. Es fällt auf, daß C. Schmitt den durchaus denkbaren Fall nicht allgemein erörtert, daß der Verfassungsgesetzgeber eine Verfassungsänderung vornimmt, die ihrem Inhalt nach eine verfassunggebende Entscheidung darstellt, und sich dabei darauf beruft, er vollziehe nur durch Normierung i m Verfassungsgesetz eine von der verfassunggebenden Gewalt bereits vorgenommene Änderung der Verfassung 76 . Denn ein solches Verhalten des verfassungsändernden Gesetzgebers entspräche nur der Normierung verfassunggebender Entscheidungen durch den Verfassungsgesetzgeber beim Vorgang der originären Verfassungsgesetzgebung. Lediglich für den Fall einer Änderung der Weimarer Verfassung durch Einführung der Monarchie als Regierungsform spricht C. Schmitt aus, dadurch werde eine verfassunggebende Entscheidung erforderlich, die i n Form des „Beschlusses einer »verfassunggebenden' Nationalversammlung" oder eines „besonderen Pebiszits" zu erfolgen hätte 77 . Damit schließt C. Schmitt nicht nur — insoweit folgerichtig — aus, daß die Bestimmungen über die Revision des Verfassungsgesetzes Rechtsgrund einer Verfassungsänderung sein können, sondern legt die ÄndeDer Unterscheidung von Verfassungsänderung und Verfassungsgesetzänderung entspricht ein doppelter Volksbegriff, je nachdem, ob das V o l k auf Grund verfassunggebender Gewalt oder auf Grund der Verfassung tätig w i r d . Das übersieht Zülch (S. 73). 78

a. a. O., S. 103.

74

C. Schmitt, a. a. O.

75

C. Schmitt, Verfassungslehre S. 102.

76

Unzulässig ist nach der Auffassung C. Schmitts auch eine Änderung der Revisionsbestimmungen durch 1 den Verfassungsgesetzgeber (a. a. O. S. 103). M i t der Bindung der Revisionsgewalt an die i m Verfassungsgesetz enthaltenen Grundentscheidungen ist freilich diese Sperre nicht zu erklären. Hier klingen w o h l die Vorstellungen Sieyès' an. Vgl. oben S. 184. 77

Siehe hierzu auch die Überlegungen P. Hartmanns S. 258 f.

186

3. Abschnitt: Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt

rung der Verfassung auch insoweit außerhalb des revisionsgesetzlichen Verfahrens, als ihr verfassungsgesetzlicher Vollzug i n Betracht kommt 7 8 . Z u ähnlichen Ergebnissen wie C. Schmitt gelangt Burdeau beim Versuch, die Lehre von der Permanenz und Allmacht des pouvoir constituant m i t der Institution der Revisionsgewalt „auszusöhnen" 79 . Die Lösung sieht er nach einer Abwägung 8 0 der i m Hintergrund stehenden Grundwerte — der Garantie eines „consentement actuel 81 " des Souveräns i n Verfassungssachen einerseits und der Stabilität der Verfassungsinstitutionen andererseits 82 — i n einem Kompromiß. Er stellt zwar die Schöpfung von Verfassungsnormen i m Wege des verfassungsgesetzlichen Revisionsverfahrens — gleichsam als Alltag der Verfassungserzeugung — in den Mittelpunkt, schränkt sie aber zugunsten des pourvoir constituant i n mehrfacher Hinsicht ein. So gilt grundsätzlich, daß die Revisionsgewalt die verfassunggebende Gewalt niemals ausschalten kann. Ihre verfassungsgesetzliche Instutionalisierung führt nicht zu einem Verzicht des pouvoir constituant ,,à ses prérogatives Constituantes 83 ". I m einzelnen präzisiert Burdeau, wie auch C. Schmitt, das Verhältnis der Gewalten durch eine Aufteilung der Regelungszuständigkeiten: Die Revisionsgewalt hat die „retouches partielles" vorzunehmen; eine Totalrevision ist ihr nicht möglich 84 . Der dritte Bestandteil des Burdeauschen Kompromisses ist rechtspolitischer A r t : Das Verfahren der Verfassungsrevision soll dem Souverän optimale Möglichkeiten zur Entfaltung seines Willens geben. Auf diese Weise könne der pouvoir constituant „abgefangen" werden 85 . M i t solchen Überlegungen entwirft Burdeau eher eine idealtypische Ordnung der Gewalten als eine dogmatische Lösung ihres Verhältnisses. Eine wesentliche Bedingung seiner Konstruktion, die Begrenzung des 78 I n diesem Sinne versteht auch Henke die Sperre des A r t . 79 Abs. 3 GG. Nach seiner Meinung ist es dem Verfassungsgesetzgeber durch diese Bestimm u n g untersagt, die dort niedergelegten Grundprinzipien der Verfassung zu ändern, „selbst w e n n die verfassunggebende Gewalt anders entscheiden sollte" (S. 145). Z u m Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt bei Henke siehe ferner Diss. S. 47 f. 79

Burdeau spricht von „conciliation" (Traité I I I S. 210). Siehe a. a. O., S. 211. 81 a. a. O., S. 205. 82 Die Verfassungsstabilität ist durch einen „appel au pouvoir originaire, dont les réactions sont souvent brutales et touj ours imprévues" gefährdet (a. a. Ο., S. 205). Siehe ferner a. a. Ο., S. 211. 83 a.a.O. 84 Siehe Burdeau, Traité I I I S. 212. Die verfassungsändernde Gewalt hat sich dabei vor allem auf eine Verbesserung der „fonctionnement des mécanismes constitutionnels existants" zu beschränken (a. a. O.). 89

85 Vgl. a. a. O., S. 212 f. Diese Stelle w i r d jedoch von Henke w o h l anders interpretiert (S. 162).

1. K a p i t e l : Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

187

pouvoir constituant auf die totale Revision, bleibt unbegründet. Auf Sieyès' ursprüngliche Theorie der verfassunggebenden Gewalt läßt sich diese Einschränkung jedenfalls nicht stützen; hier ist der pouvoir constituant schlechthin zur Verfassungserzeugung berufen. C. Schmitt hat daher auch der französischen Lehre die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz hinzugefügt. Burdeau bemüht sich erkennbar, das Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt vom praktisch-politischen Ziel her zu bestimmen. Bei Einwänden methodischer A r t gegen ein solches Verfahren darf nicht übersehen werden, daß auch eine dogmatische Lösung der i n diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen oft nur die Übersetzung einer politischen Ordnungsvorstellung in den Bereich des Juristisch-Konstruktiven darstellt.

2. Verfassunggebende und verfassungsändernde neueren deutschen Schrifttum

Gewalt im

Eingehende Bemühungen, das Verhältnis von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt i m Rahmen einer geltenden Verfassung zu fixieren, finden sich — von den Äußerungen der sich an C. Schmitt anschließenden Autoren abgesehen86 — i m gegenwärtigen deutschen Schrifttum nicht. Soweit die Existenz eines pouvoir constituant behauptet wird 8 7 , begnügt man sich mit einer knappen Feststellung 88 oder kurzen Begründung 89 und läßt den Umfang seiner materiellen Zuständigkeiten 89

So konzentriert z. B. Maunz die Befugnisse der verfassunggebenden Gew a l t auf die „Gesamtneuschöpfung" und die „Teilneuschöpfung" wesentlicher Verfassungsteile (Verfassunggebende Gewalt S. 645). Siehe ferner Henke S. 140 u n d Quaritsch, Parlamentsgesetz S. 7. 87 Ernst Wolgast äußert sich nicht grundsätzlich, w e n n er feststellt, E n t scheidungen über Gegenstände fundamentaler A r t , die i n der Verfassung mangels Voraussehbarkeit nicht geregelt sind, habe nicht die Revisionsgewalt, sondern der pouvoir constituant zu treffen (Grundgesetz u n d Wehrmacht, DÖV 52, 33 ff. — 33 f.). 88 Siehe z.B. H a m m S. 53f.; L a u x S. 40; H. Weber, Materielle Schranken S. 58 f. und Wintrich, Menschenwürde S. 137. 89 Die Möglichkeit einer „verfassungsschaffenden Normsetzung" ergibt sich nach der Ansicht Wolf gang Zeidlers „aus allgemeinen rechtlichen und historischen Erwägungen" (Grundrechte S. 599). I h m schließen sich ohne Bezugnahme v. M a n g o l d t - K l e i n an (II, Vorb. I I 2 c v o r A r t . 70 ff. — S. 1333 f.). F ü r K l e i n beurteilt sich die Zulässigkeit einer Verfassunggebung für den Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls „nach den diesbezüglichen Grundsätzen der Allgemeinen Staatslehre" positiv (Wiedervereinigung S. 128). K ö h l m a n n beruft sich zum Existenznachweis einer immerwährenden verfassunggebenden Gewalt auf A r t . 28 der „Déclaration des droits de l'homme et d u citoyen" v o m 24. 6. 1793 (siehe unten S. 204) als eines Gebots der Demokratie schlechthin.

188

3. Abschnitt: Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

ebenso wie die Formen, i n denen er sich äußert 90 , offen 91 . Allgemein w i r d lediglich noch ausgesprochen, daß die verfassunggebende Gewalt zur Vornahme einer Totalrevision i m formellen Sinne zuständig ist 92 . Nach einer näheren Festlegung des Wirkungsbereichs und der Wirkungsweisen des pouvoir constituant scheint freilich auch kein praktisches Bedürfnis zu bestehen. Vieles deutet darauf hin, daß die Lehre vom pouvoir constituant des Volkes — von der Neuschöpfung der Verfassung insgesamt abgesehen — i m deutschen Staatsrecht eine A r t „Reserveverfassunggeber" bereitzustellen 95 und mit i h m i n den Fällen auszuhelfen hat, in denen eine „ordentliche" Verfassungsänderung zur Verwirklichung eines wirklich oder scheinbar berechtigten Revisionsziels aus politischen oder rechtlichen 94 Gründen nicht durchgeführt werden kann oder eine „scheinbar verfassungswidrige Revision" „sich in Wirklichkeit als ein vom Willen des Volkes als des Inhabers der verfassunggebenden Gewalt getragener A k t der Verfassunggebung" darstellt 95 . Dann ist freilich nur wesentlich, daß eine verfassunggebende Gewalt existiert. Ihr Verhältnis zur verfassungsändernden Gewalt festzulegen, ist von zweitrangiger Bedeutung. Die Theorie der extrakonstitutionellen verfassunggebenden Gewalt des Volkes hat denn auch i m Laufe der allgemeinen Verfassungsgeschichte, soweit ersichtlich, i n wenigen Fällen 96 einen A k t der außerkonstitutionellen Verfassungserzeugung tragen müssen. So hat man z. B. i m Jahre 1924 in Bayern die Zulässigkeit eines Volksbegehrens, das die — verfassungsgesetzlich nicht vorgesehene — Auflösung des bisherigen und die Berufung eines neuen verfassunggebenden Landtags zum Gegenstand haben sollte, mit dem Hinweis auf ein permanentes außerverfassungsmäßiges Recht des Volkes zur Verfassungs90 So meint Bachof — w o h l i m Anschluß an W. Weber (Gesamtdeutsche Verfassung S. 25) —, es gebe „mancherlei Erscheinungsformen, i n denen sich der verfassunggebende W i l l e des Volkes Geltung verschaffen kann" (Verfassungsnormen S. 36). Zustimmend Henke S. 39 Anm. 23. 91 Dies w i r d z. B. an Köhlmanns allgemeinen Formulierungen deutlich: Die verfassunggebende Gewalt „als solche" bleibe durch die Rechtsetzungsbefugnisse der Revisionsorgane „unberührt". Diese seien nicht i m gleichen Umfang w i e die verfassunggebende Gewalt zur Verfassunggebung berechtigt (S. 83). Vgl. ferner Ehmke, Verfassungsänderung u n d Verfassungsdurchbrechung S. 399. 92 Siehe z.B. Maunz, a.a.O.; Maunz-Dürig, A r t . 79 Rdnr. 26; Schönherr S. 56 und H. Weber, a. a. O., S. 81. 93

Siehe i n diesem Zusammenhang auch Leisner, Verfassunggebung S. 188 ff.

94

Eine einfache Mehrheit des Volkes würde sich dann auch über A r t . 79 Abs. 3 GG hinwegsetzen können. Vgl. Maunz, Normen S. 146. 95 96

Bachof, Verfassungsnormen S. 36.

Neben dem i m folgenden berichteten F a l l wäre als weiteres Beispiel der Verfassungskonflikt u m A r t . 45 d. franz. Verf. v. 4.11.1848 (abgedr. bei D u g u i t Monnier S. 218) zu nennen. Siehe hierzu Leisner, a. a. O. Z u einem Fall aus dem schweizerischen Staatsrecht siehe Jagmetti S. 48 f.

1. Kapitel : Die extrakonstitutionelle verf assunggebende Gewalt

189

erzeugung begründet 97 . Dieser Vorgang ist für die Theoriengeschichte des pouvoir constituant insofern von Interesse, als hier der Nachweis der staatsrechtlichen Unbedenklichkeit einer solchen Verfahrensweise praeter constitutionem nach der Darstellung Köhlmanns 9 8 an Hand der Grundsätze erbracht werden sollte, die das klassische gedankliche Instrumentarium der Lehre vom pouvoir constituant in der Verfassungstheorie ausmachen: Die unmittelbare Aktion des Volkes sei kraft seiner verfassunggebenden Gewalt der „legale" Weg zur erstrebten grundlegenden Verfassungsreform 99 . Diese Gewalt sei durch ihre Ausübung i m Akte der Verfassunggebung nicht „versiegt". Auch habe die Verfassung den „primären" Volkswillen nicht binden können 100 . Daher lasse sich ein Volksbegehren zur Einberufung einer Konstituante aus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes rechtfertigen 101 . Seine Beurteilung bewege sich nicht i m Bereich der „positivrechtlichen Betrachtung einzelner Sätze der Verfassungsurkunde". Vielmehr müsse es bezüglich seiner Rechtmäßigkeit „vom allgemeinen demokratischen Verfassungsrecht" aus bewertet werden 102 . I m übrigen bestätigt auch dieser Fall die Feststellung, daß die Besinnung auf die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes i m Bereich einer geltenden Verfassungsordnung in der Regel hilfsweise und nicht um des i m pouvoir constituant zum Ausdruck kommenden Selbstbestimmungsrechts des Volkes willen erfolgt 103 . Schon für die Beratungen der französischen Nationalversammlung von 1789 kann Zweig registrieren, „die Berufung auf theoretische Lehrmeinungen und ähnliche Einrichtungen des Auslands" habe „fast immer ganz konkreten parteimäßigen Zwecken der nächsten Zukunft" gedient 104 .

97 Z u den Vorgängen i m einzelnen siehe K ö h l m a n n S. 73 ff. und Heinrich von Jan, Verfassung und V e r w a l t u n g i n Bayern 1919—1926, JöR X V , 1 ff. (2 ff.). M a n wollte damals den Weg der Neuwahl eines verfassunggebenden L a n d tages beschreiten, da man der Ansicht war, die notwendigen Verfassungsreformen seien auf dem verfassungsgesetzlichen Wege der Verfassungsänderung nicht durchzusetzen. 98

S. 77 ff.

99

Siehe S. 77.

100

Siehe a.a.O.,S. 82.

101

Siehe a. a. O., S. 80.

102

a. a. O., S. 78.

103

Siehe i n diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen von W. Weber, Mittelbare u n d unmittelbare Demokratie S. 771. 104

S. 285.

190

3. Abschnitt: Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

B. Die rechtliche Funktion der Staatsgewaltformel im Rahmen einer geltenden Verfassungsordnung I . Souveränitätsformel und ungeschriebene Mitwirkungsrechte des Volkes an der staatlichen Willensbildung

1. Das Verhältnis der Souveränitätsformel zu den speziellen Kompetemznormen der Verfassung Die Lehre vom permanenten pouvoir constituant des Volkes dient nicht der Begründung ungeschriebener Verfassungszuständigkeiten, sondern der Rechtfertigung einer extrakonstitutionellen Kompetenz des souveränen Volkes zur Verfassungserzeugung, über die eine Verfassungsnorm keine Aussage treffen kann 1 0 5 . Daher ist die Ableitung dieser Befugnis aus einer konstitutiv verstandenen Staatsgewaltformel rechtslogisch unzulässig, aus einer deklaratorisch bewerteten Staatsgewaltformel 106 überflüssig. Eine rechtsbegründende Funktion kann der Staatsgewaltoder Souveränitätssatz also nur i m Bereich der Verfassungsgewalten entwickeln; diese sind ihrerseits auf die positivierte Staatsgewaltformel angewiesen. Ordnet man die verfassungsändernde Gewalt dem Bereich der pouvoirs constitués zu, so könnten ungeschriebene Mitwirkungsrechte des Staatsvolkes an der Verfassungsänderung nur aus der Feststellung, daß alle bzw. die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, hergeleitet werden. Dennoch hat man sich zum Nachweis verfassungsgesetzlich nicht vorgesehener Zuständigkeiten des Staatsvolkes zur Erzeugung von Verfassungsrecht prinzipiell auf die Lehre vom extrakonstitutionellen pouvoir constituant berufen. I m Bereich der Verfassungsgewalten ist aus der Aussage der Staatsgewaltformel kaum ein ungeschriebenes M i t wirkungsrecht des Staatsvolkes an der Staatswillensbildung abgeleitet worden. Denn da das Staatsvolk zum Zwecke der Rechtsetzung ohne verfassungsrechtliche Grundlage nur in Fällen von besonderer Bedeutung aufgerufen wurde, fielen diese Aktionen i n den Verfassungsraum und wurden damit vom Anwendungsbereich der Theorie des pouvoir constituant erfaßt. Zudem ordnete man Handlungen, die der Vorbereitung einer verfassungserzeugenden Tätigkeit des Staatsvolkes dienten, bereits rechtlich dem Vorgang der Verfassungsschöpfung zu 1 0 7 . Auch i m gegenwärtigen deutschen Staatsrecht findet die Annahme einer ungeschriebenen Zuständigkeit des Staatsvolkes lediglich für den außerkonstitutionellen Raum Unterstützung. Bezüglich der Verfassungsordnung los v g l . auch Scheuner, Verfassunggebende Gewalt S. 584. 106

Siehe oben 1. Abschnitt, 1. Kapitel, Β I V 2. ζ. Β . eine Volksinitiative oder ein Referendum zur Frage, ob eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden soll. Siehe K ö h l m a n n S. 73 ff. 107

1. K a p i t e l : Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

191

des Bonner Grundgesetzes geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, daß die speziellen Verfassungsbestimmungen über die Beteiligung des Staatsvolkes an der Staatswillensbildung i n Form von Wahlen und Abstimmungen den Satz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, abschließend aktualisieren 108 , und daß jede Erweiterung der unmittelbaren Befugnisse des Staatsvolkes einer förmlichen Verfassungsänderung bedarf 109 . Aus der Souveränitätsformel allein ergeben sich somit auch nicht solche Hechte des Staatsvolkes, die mit dem Begriff der Demokratie in politischer Hinsicht zwingend verbunden werden 110 . Berufen spezielle Bestimmungen einer Verfassung das Volk zur M i t w i r k u n g i m Gesetzgebungsverfahren lediglich in der Form des Volksentscheides, so läßt sich allein auf Grund des Souveränitätssatzes die Verfassung i m Wege der Auslegung nicht dahingehend erweitern, daß das Volk in diesem Verfahren auch das Initiativrecht besitzt 111 . I n Lebens- oder Schicksalfragen eines Staates w i l l freilich Kägi eine ungeschriebene Entscheidungszuständigkeit des Staatsvolkes dann i n eine demokratische Verfassung hineininterpretieren, wenn diese eine solche Kompetenz nicht „ausdrücklich" vorsieht 112 . Er trennt dabei zunächst durchaus den Vorgang der Auslegung des geltenden Rechts von Überlegungen de constitutione ferenda und bestimmt den Umfang der direkten Entscheidungsmöglichkeiten des Staatsvolkes i n einer Verfassungsordnung an Hand der speziellen positivrechtlichen Kompetenz108 Siehe z.B. Danco S. 21; Götz S. 1021; Obermayer, Volksabstimmungen S. 1175; Schlenker S. 83; W. Weber, Mittelbare u n d unmittelbare Demokratie S. 772 und die unten i n A n m . 109 zitierten Autoren. Vgl. ferner f ü r die Verfassung von Nordrhein-Westfalen K l e i n r a h m i n : Geller-Kleinrahm-Fleck, A r t . 2 A n m . 3 b (S. 49) u n d aus der Schweizer Lehre Affolter S. 53 ff.; Giacometti, Staatsrecht S. 45 u n d Nef, Wandlungen S. 10. 109 Siehe Herrfahrdt i n : Bonner Kommentar, Erl. 3 zu A r t . 79 GG; v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 V 5 a (S. 597) u n d Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 2 Rdnr. 53. Dagegen meint Fuß, der Gesetzgeber habe „freie Hand" zum weiteren Einsatz des Staatsvolkes i n der Staatswillensbildung, nachdem das Grundgesetz dessen Organqualität i n A r t . 20 Abs. 2 Satz 2 festgelegt habe (S. 394 f.). I n der Begründung dieser Ansicht klingen die Argumente der Lehre von der außerordentlichen Stellung des Staatsorgans „ V o l k " an (S. 394 A n m . 31). Vgl. i m übrigen hierzu unten I I . 110 So n i m m t z. B. Loewenstein an, es sei der „Minimalgehalt eines jeden demokratischen Verfassungsstaates", daß das V o l k „die letzte Instanz für die Machtkonflikte unter den konstituierten Staatsorganen" ist (Gutachten Wehrbeitrag S. 344). K r a f t der Souveränitätsformel w i r d diese Zuständigkeit jedenfalls nicht ungeschriebener Bestandteil einer demokratischen Verf assung. 111 112

Siehe hierzu auch Schlenker S. 96.

Rechtsstaat S. 125 f. Siehe aber auch S. 126 A n m . 56. Eine vermittelnde Lösung zwischen einer parlamentarischen Entscheidung u n d einer u n m i t t e l baren Volksabstimmung wäre die Auflösung der repräsentativen Körperschaft und deren Neuwahl i m Hinblick auf die zur Debatte stehende Entscheidung. Siehe hierzu Fraenkel S. 57; G l u m S. 281 ff. u n d Leibholz, Strukturwandel S. 108.

192

3. Abschnitt: Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt

bestimmungen 118 . Auch lehnt er es zutreffend ab, von der demokratischen Staatsform unmittelbar auf eine bestimmte Zuständigkeit des Volkes zu schließen 114 . Dennoch kommt er i m Ergebnis ohne diesen Schluß nicht aus, wenn er es als Aufgabe der richtigen Verfassungsauslegung bezeichnet, „vom Sinnganzen der Verfassung aus zu bestimmen, ob eine Entscheidung von so grundlegender Bedeutung vorliegt, daß sie trotz Fehlens einer ausdrücklichen Zuständigkeitsnorm doch vom Volk — als Verfassungsgesetzgeber — getroffen werden muß 1 1 5 ". Denn w i l l er das „Sinnganze" der Verfassung aus der Gesamtheit der Bestimmungen über die M i t w i r k u n g des Volkes an der Willensbildung ermitteln, so hat sein Auslegungsgrundsatz kaum praktische Bedeutung. I n einer teilplebiszitären Verfassung w i r d eine Entscheidungsmöglichkeit i n lebenswichtigen Fragen eines Volkes entweder vorgesehen sein oder ihre Annahme sich angesichts des vom Verfassunggeber regelmäßig ausgewogenen Verhältnisses der plebiszitären und repräsentativen Elemente verbieten. I n einer vollrepräsentativ ausgestalteten Verfassung aber spricht der Verfassungssinn gerade gegen eine solche Zuständigkeit. Der Rückgriff auf die Souveränitätsformel führt höchstens dann weiter, wenn diese eine Entscheidung für die Volkssouveränität i m engeren Sinne 116 und nicht nur allgemein für das demokratische Prinzip verankert. Ob dies der Fall ist, läßt sich wiederum nur aus einer Gesamtschau der speziellen Zuständigkeitsregelungen ermitteln. Dieser Weg führt aber, wie oben ausgeführt wurde, kaum zum erstrebten Zuständigkeitsnachweis. Kägi bleibt daher auf die isolierte Auswertung der Staatsgewaltformel angewiesen.

2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit sogenannter konsultativer Volksbefragungen Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit verfassungsgesetzlich nicht vorgesehener, unverbindlicher, amtlicher 117 Volksbefragungen 118 i n Gesetzgebungsangelegenheiten gehört nicht zum Problemkreis der A n 113 114

S. 126). 115

a . a . O , S . 125. Das wäre seiner Ansicht nach eine „diezisionistische Auffassung" (a. a. O.,

a. a. O. — dort gesperrt. Siehe hierzu auch Bartlsperger S. 137 f. Siehe oben S. 96. 117 Z u r Problematik privater Meinungsumfragen siehe u. a. Ernst Fraenkel, Parlament u n d öffentliche Meinung, i n : Z u r Geschichte u n d Problematik der Demokratie, Festgabe für Hans Herzfeld, 1958, S. 163 ff. (186); Hennis, M e i nungsforschung S. 40 ff. und v. M a n g o l d t - K l e i n I, A r t . 20 A n m . V 5 a (S. 597). 118 Vgl. i n diesem Zusammenhang zur „consultation populaire" v o m 12.3.1950 i n Belgien Krüger, Verfassungsauslegung S. 686; H. Schneider, Volksabstimmungen S. 159 u n d M. Paul de Visscher, L'Evolution d u droit beige de 1930 à 1950, JöR n. F. 2, 217 ff. (243). 116

1. K a p i t e l : Die extrakonstitutionelle verfassunggebende Gewalt

193

erkennung ungeschriebener Zuständigkeiten des Staatsvolkes. Auch wenn man die Antwort des befragten Volkes auf solche Konsultationen als staatsorganschaftliches Handeln qualifiziert 119 , muß die Frage nach der positiven Kompetenz nicht notwendig gestellt und damit für die Zuständigkeitsordnung des repräsentativen Grundgesetzes verneint werden 120 . Denn das Gebot, jede Zuständigkeit des Staatsvolkes speziell auszuweisen, kann nur gelten, soweit es sich um die Ausübung echter Zuständigkeiten, z.B. in Wahlen oder verbindlichen Abstimmungen, handelt 121 . Das Ergebnis einer konsultativen Volksbefragung ist aber unbestritten für die Entscheidung des zuständigen Organs ohne rechtliche Wirkung. Das durch amtliche Volksbefragungen konsultativer A r t aufgeworfene Rechtsproblem konzentriert sich demnach nicht auf die Frage, ob das Volk i n solchen Fällen unzulässig eine nicht vorhandene Zuständigkeit in Anspruch nimmt, sondern ob es unzulässig die vorhandene Kompetenz eines anderen, von der Verfassungsordnung zur Entscheidung berufenen (repräsentativen) Organs beeinträchtigt. Die Antwort hierauf hängt zunächst davon ab, ob man den Einfluß einer derartigen Meinungsbekundung durch das Volk auf das entscheidungsbefugte Organ als wesentlich betrachtet 122 oder allein darauf abstellt, daß eine rechtliche Bindung des betreffenden Organs an das Ergebnis der Volksbefragung fehlt 1 2 8 . I n diesem Falle wäre eine konsultative Volksbefragung juristisch unbedenklich. I m ersteren Falle hängt die rechtliche Beurteilung davon ab, wie die konkrete Verfassungsordnung das Institut der Repräsentation versteht. Ist die repräsentative Ausübung der gesetzgebenden Gewalt nur ein aus technischen Gründen unumgängliches Surrogat der Volksgesetzgebung 124 , kann das Ergebnis einer Volksbefragung nur eine willkommene Orientierungsmöglichkeit für 119 Das BVerfG ordnet i n seinem U r t e i l v o m 30. 7.1958 die Meinungsbekundung des Volkes i m Rahmen einer amtlichen konsultativen Volksbefragung dem Bereich der organschaftlichen Ausübung von Staatsgewalt zu (BVerfGE 8, 104 ff. —112). Siehe hierzu eingehend Fuß S. 386 ff. 120 Vgl. dagegen Maunz i n : Maunz-Dürig, A r t . 20 Rdnr. 54. Das BVerfG konnte i n seiner zitierten Entscheidung die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Probleme der konsultativen Volksbefragung offen lassen, da i m konkreten F a l l die von den Ländern organisierte Volksbefragung Bundeszuständigkeiten verletzt hatte. Es begnügte sich daher m i t der allgemeinen Feststellung, jedes Tätigwerden eines Staatsorgans i n einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sei durch Kompetenzen begrenzt (BVerfGE 8, 104 ff. — 115 f.). 121 Z u r Zuweisung von Zuständigkeiten bedarf es i m übrigen einer Änderung der Verfassung u n d nicht n u r eines gesetzgeberischen Aktes. Daran ist auch gegenüber den Argumenten von Fuß (S. 394 f.) festzuhalten. 122 So z.B. Obermayer, Volksabstimmungen S. 1175; Scheuner, Repräsentatives Prinzip S. 236 u n d K r ü g e r u. a., Gutachten Südweststaat S. 38. 123 So z. B. Schlenker S. 84 f. A u s der ausländischen Staatsrechtslehre siehe Leon Duguit, Traité de droit constitutionnel, Bd. 2, 2. Aufl. 1923, S. 492 u n d Nef, Wandlungen S. 10 f. 124 Siehe oben S. 95 f.

13 Steiner

194

3. Abschnitt: Verfassunggebende u n d verfassungsändernde Gewalt

den repräsentativen Gesetzgeber sein. Gesteht man dagegen der parlamentarischen Repräsentation, wie in der Verfassungsordnung des Bonner Grundgesetzes, eine selbständig-schöpferische Funktion innerhalb der staatlichen Willensbildung zu 125 , muß jede erhebliche Einflußnahme tatsächlicher A r t durch ein anderes Staatsorgan, die geeignet ist, auf das Parlament Druck auszuüben, unzulässig sein. Da vom Ergebnis einer Volksbefragung eine derartige Einwirkung ohne weiteres ausgeht, w i r d man für die durch das Bonner Grundgesetz 12® geschaffene verfassungsrechtliche Lage amtliche konsultative Volksbefragungen 127 als unzulässig ansehen müssen 128 .

I I . Die Lehre vom begrenzten Vorrang des volksbeschlossenen Gesetzes

I m Zusammenhang mit der These Kägis von der ungeschriebenen Zuständigkeit des Staatsvolkes, unmittelbare Entscheidungen i n Lebensund Schicksalsfragen eines Staates zu treffen, ist bereits deutlich geworden, wie schwer Argumentationen dieser A r t als Erwägungen de constitutione ferenda zurückzuweisen sind. Man begegnet solchen Schwierigkeiten aber auch dort, wo verfassungsrechtlich ausdrücklich niedergelegte Befugnisse des Staatsvolkes aus dem „Gesamtbau 129 " der Verfassung privilegiert werden. Unter dem Stichwort „Vorrang des volksbeschlossenen Gesetzes" sind solche Intentionen vor allem durch Jacobi i n die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit eingeführt worden 1 3 0 . Sie zielen zwar nicht auf die Begründung einer ungeschriebenen, sondern auf die Auslegung einer geschriebenen Zuständigkeit des Staatsvolkes. Ihnen liegt aber ein ähnliches methodisches Problem wie den Versuchen 125

Siehe oben S. 101 f. Z u r Frage, ob i n dem v o m BVerfG entschiedenen F a l l (s. oben S. 193 A n m . 119) Landes- oder Bundesrecht zur rechtlichen Beurteilung der Volksbefragungen heranzuziehen war, siehe Fuß S. 396. 126

127 Keine verfassungsrechtlichen Bedenken macht Obermayer gegen Befragungen des Volkes zur Gewinnung von Beurteilungsgrundlagen für die Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments geltend (Volksabstimmungen S. 1175). Siehe hierzu auch Krüger u. a., Gutachten Südweststaat S. 38 f. A n m . 53. 128