Verborgene Quellen des Hegelschen Denkens [Zweite Auflage, Reprint 2021] 9783112528983, 9783112528976


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German Pages 302 [301] Year 1984

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Verborgene Quellen des Hegelschen Denkens [Zweite Auflage, Reprint 2021]
 9783112528983, 9783112528976

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Jacques D'Hondt Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens

Jacques D'Hondt

Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens Zweite Auflage

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1983

Titel der

Originalausgabe:

Jacques D'Hondt, Hegel secret Presses Universitaires de France, Paris Ins Deutsche übertragen von Joachim Wilke, Berlin Wissenschaftliche Bearbeitung: Werner Bahner und Manfred Buhr, Berlin

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 © der deutschsprachigen Ausgabe Akademie-Verlag Berlin 1983 Lizenznummer: 202 • 100/256/83 Printed in the German Democratic Republic Fotomechanischer Nachdruck und buchbinderische Verarbeitung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Einband und Schutzumschlag: Rolf Kunze LSV 0115 Bestellnummer: 754 282 7 (5791) 02500

Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe Das Erscheinen einer zweiten deutschen Ausgabe dieses Buches bezeugt, welches Interesse die Leser dem Denken Hegels und seinen Fortsetzungen in der Lehre von Marx entgegenbringen. E s handelt sich in der Tat um eine wichtige historische Frage. In verschiedenen Ländern, und insbesondere in Frankreich, wurde die Tatsache eines Hegeischen Erbes bei Marx in jüngster Zeit angezweifelt. Unter den verschiedenen vorgebrachten Argumenten machte man auch geltend, daß Marx nicht den Einfluß eines so reaktionären Philosophen erlitten haben könnte. Niemand wird bezweifeln, daß es im Denken Hegels konservative Züge gibt, ebensowenig wie man die tiefe Originalität des Marxschen theoretischen und praktischen Denkens im Verhältnis zu Hegel bestreitet. Eine Welt trennt sie. Diese Feststellung verbietet keineswegs die Anerkennung eines von Marx nach Bestandsaufnahme dialektisch übernommenen Erbes. Das Verständnis dieser Übernahme wird erleichtert, räumt man ein, daß Hegel keineswegs der Parteigänger der Reaktion, der Restauration und des monarchischen Absolutismus war, als den man ihn denunzierte. Ich habe mich bemüht, das in meinem Buch Hegel in seiner Zeit (Akademie-Verlag) nachzuweisen. Diese Übernahme wird ferner leichter verständlich, wenn man entdeckt - dabei will vorliegendes Buch helfen - daß die Quellen des Hegelschen Denkens nicht nur jene sind, die von der traditionellen Geschichte festgehalten werden, sondern daß man ergänzende Quellen bei den verschiedensten revolutionären, jakobinischen, freimaurerischen, häretischen und nichtkonformistischen Schriftstellern findet. Dieser Aspekt der Entstehung und der Entwicklung von Hegels Denken wurde, selbst nach der Veröffentlichung dieser beiden Bücher, mitunter in Frage gestellt. Ihr Autor kann mit Genugtuung feststellen, daß verschiedene Versionen der Rechtspbilospbie, die man in jüngster Zeit wiederfand, die Existenz fortschrittlicher Züge im Denken Hegels, insbesondere in seinem politischen Denken, in glücklicher Weise bestätigen. E r dankt dem Akademie-Verlag für die Möglichkeit, neue Leser davon zu überzeugen. Jacques D'Hondt

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Vorwort

„Das Interesse der Biographie... scheint direkt einem allgemeinen Zwecke gegenüber zu stehen, aber sie selbst hat die historische Welt zum Hintergrunde, mit welchem das Individuum verwickelt i s t . . . " Hegel*

Muß man darauf achten, was Philosophen lesen? Meist wird nicht verlangt, daß sie es bekennen. Doch das ist auf eine Art schade, denn wenn man wüßte, was sie lesen, könnte man oft leichter verstehen, was sie sagen. Bisweilen läßt eine überraschende Wendung in ihrer Rede vermuten, daß sie Worte eines anderen wiedergeben, ohne es anzukündigen. Sie transponieren sie, und sie werden gleichsam zum gebrochenen, fast unerkennbaren Echo. Das Rätsel der Formulierungen löst sich erst, wenn, man den Urtext wiederfindet. So wäre es zum besseren Verständnis Hegels angebracht, ohne Hast in einigen veralteten Werken nachzulesen, die in seinem Geist viele Anklänge ausgelöst haben. Aber wir wissen nicht immer, welches einfache Thema der Meister entlehnte, um seine prächtigen Variationen darüber anzuschließen. Diese Unkenntnis läßt sich leicht erklären. Hegel hat selbst dargelegt, was er hervorragenden Geistern schuldete. Doch es traf sich auch, daß er sich, und zwar weitaus diskreter, heute vergessenen Autoren zuwandte, so bescheidenen Talenten, daß unsere Zeit nichts mehr von ihnen weiß, so kompromittierenden Menschen, daß er ihren Namen lieber verschwieg. Im Augenblick ihres kurzlebigen Ruhms wußte Hegel einige Vorstellungen zu nutzen, von denen sie sich gänzlich einnehmen ließen, * Hegel, „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830)", neu herausgegeben von Friedhelm Nicotin und Otto Pöggeler, Berlin 1969, S. 429;

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konnte er ihre Besorgnis mitempfinden, sich momentan von ihrer Inspiration leiten lassen, ilyre Ahnungen ausforschen. Er hat diesen unbedeutenderen Schriftstellern etwas entnommen. Er hat dieses Fußvolk nicht verachtet. Und das meldet jetzt seine Rechte an. Will es dem Philosophen seinen Besitz streitig machen? Schmälert man nicht, wenn man seine Verdienste bekanntmacht, die Hegels? Keine Bange! Die neue Schuldforderung führt nicht zum Ruin. Und überdies wird Hegels Besitztum schließlich um alles vermehrt, was man zunächst scheinbar davon wegnimmt. Die Bedeutung seines Werks wird bei weitem nicht schwinden ; sie wird vielmehr in jedem Fall, da man ihm weitere Vorläufer zuschreibt, akzentuiert und vergrößert, ganz im Gegensatz zu den Strömen, die zu versiegen drohen, wenn man ihre Quellen einfaßt. Hegel besaß den Stein der Weisen, er verwandelte sofort alle gängige Münze, die man ihm anvertraute, in kostbares Gold. Das Herbeizitieren einiger kleiner Vorgänger des Hegelianismus wird dessen eigenen Reichtum um so mehr erstrahlen lassen. Es wird um so mehr die Kraft und Ursprünglichkeit einer Philosophie hervorheben, die mit derselben Ungezwungenheit majestätisch zusammengefügte Systeme und in ungleichen Werken aufgelesene bruchstückhafte Intuitionen absorbieren Und übertreffen konnte. Aus dieser Konfrontation wird Hegel weder erschüttert noch geschmälert hervorgehen. Sein Porträt wird nur, in einem ungewöhnlichen Licht, einige neue, unerwartete Nuancen erhalten. Was jene Schriftsteller angeht, die er zur Kenntnis nahm, so hat Hegel ihnen den von ihnen erhaltenen geringfügigen Beistand tausendfach vergolten. Dank ihm sind sie hier aus dem Schatten hervorgetreten, ganz geblendet; sie können diese späte, unverhoffte Chance kaum glauben. Der literarische Ehrgeiz hat sie einst verzehrt. Seien wir uns klar darüber, daß er nun wieder Appetit bekommt, daß er sie schnell arrogant machen wird. Achten wir darauf, daß sie nicht die Grenzen ihrer bescheidenen Rolle überschreiten. Für die Quellen der Ströme, nicht für die Menschen gilt der Brauch; nur sie nehmen den Namen des Gottes an, der die Güte hatte, sich über sie zu neigen. Das entscheidende Ereignis im Leben aller dieser Autoren ist die Französische Revolution. Hegel hat sich für das Konsultieren von Zeugen entschieden, die zugleich Teilnehmer waren : Volney, Rabaut de Saint-Étienne, Louis-Sébastien Mercier, Bonneville, Adepten einer „kosmopolitischen" Freimaurerei, Anhänger der „girondistischen" Richtung. 8

Wir werden ohne weiteres Hegels eigene Verbindungen zu dieser Freimaurerei aufdecken können, und wir werden dann einige Schriften Hegels verstehen, die ohne diesen Rückgriff unerklärlich sind. Doch zuvor müssen wir die Personen und Publikationen, die ihn zu diesem Engagement anregten, wieder auffinden. So werden sich von der Begegnung zur Lektüre, von der Lektüre zur Entscheidung allmählich Hegel-Aspekte entschleiern, die der Philosoph zu seiner Zeit geheim gehalten hatte.

I. Begegnungen

j.Minerva" Hegel und Schelling lasen die Zeitschrift „Minerva", in der die „Briefe" von Oelsner erschienen. Das sagt uns Hegel selbst, und dieser wertvolle Hinweis wird es uns erlauben, einige noch wenig bekannte Aspekte des geistigen Milieus aufzudecken, in dem er verkehrte. Er bietet uns die Möglichkeit, überraschende Einflüsse aufzuspüren. Also verdient er achtsame Prüfung. Zum Jahresende 1794 lernt Hegel Oelsner in Bern kennen und erfahrt so die wahre Identität des Verfassers der „Briefe aus Paris"1. Eine interessante, pikante Offenbarung; er macht Schelling umgehend Mitteilung davon. Er schreibt ihm: „Zufälligerweise sprach ich vor einigen Tagen hier den Verfasser der Dir wohl bekannten Briefe in Archenholz' Minerva, — von O. unterzeichnet, angeblich einem Engländer. Der Verf. ist aber ein Schlesier und heißt Oelsner. Er gab mir Nachricht von einigen Württembergern in Paris, auch von Reinhard, der im Département des affaires étrangères einen Posten von großer Bedeutung hat. Oelsner ist ein noch junger Mann, dem man ansieht, daß er viel gearbeitet; — er privatisiert diesen Winter hier." 2 Demnach war Hegel die wahre Person Oelsners bis zu dieser Begegnung nicht bekannt. Er begann also nicht die „Minervti' zu lesen, um dort die „Briefe" zu finden. Vielmehr fand er Oelsners Schriften darin, weil er diese Zeitschrift verfolgte. Die „Minerva, ein Journal bistoriscb-politischen Inhalts", vertrat — zumindest in ihren Anfängen — ziemlich genau die politische Richtung, zu der sich die „drei Tübinger Gefährten"3 Hegel, Hölderlin und Schelling bekannten. Ihr Interesse für sie kann uns nicht in Erstaunen „Briefe aus Paris über die neuesten Begebenheiten in Frankreich", in: „Minerva", Nr. 14, 1792. In der Nr. 15 ändert sich der Titel in „Historische Briefe über Se neuesten Begebenheiten in Frankreich". 2 Brief vom Heiligen Abend 1794, in: Hegel, „Briefe von und an Hegpl", herausgegeben von J. Hoffmeister Bd. I, Berlin 1970, S. l l f . 3 Diese schöne Formulierung ist von R. Minder. 1

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setzen. Was uns hingegen übertascht, ist vielmehr, daß man den Einfluß dieser Zeitschrift auf Hegel nicht eher bemerkt hat. Wir finden Spuren davon bis in seine letzten Werke, bis zu den ,Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte". Hegel hat stets die Erinnerung an bestimmte „Minerva!' -Beiträge bewahrt, ohne dabei übrigens besondere Vorliebe für Oelsners Beiträge erkennen zu lassen. Das Wiedererscheinen dieser Jugenderinnerungen in den letzten Vorlesungen des Berliner Professors wirft unweigerlich schwierige Probleme hinsichtlich der Entwicklung seiner Denkweise auf. Die Zeitschrift erschien in monatlichen Lieferungen von kleinem Format (12°) und geringem Umfang. Hegel hat offenbar aus allen Beiträgen Ideen, Informationen oder Probleme geschöpft. Sie betrafen vor allem die politische Gegenwart oder die Geschichte in ihrer Beziehung zu dieser Gegenwart, und die meisten berührten direkt oder indirekt die Geschehnisse der Französischen Revolution. Die Geheimnisse der „Minerva" Ehe wir in den nächsten Abschnitten Ansichten und Themen, die Hegel bestimmten Mitarbeitern der „Minerva" schuldet, in Erinnerung bringen und im Detail analysieren, müssen wir zunächst diese Zeitschrift näher kennzeichnen und ihre ideologischen Tendenzen darlegen, denn wir nehmen uns vor, deren Widerhall im Leben und Denken Hegels aufzufinden. Sie hat als Mitder zwischen dem Philosophen und bestimmten französischen Denkern gewirkt; aber sie hat außerdem auf Hegel einen umfassenden Einfluß ausgeübt. Für uns ist es um so unumgänglicher, alle brauchbaren Informationen über sie zu sammeln, als wir doch das Vorhandensein einer Verbindung zwischen Hegel und dem sozialen und geistigen Milieu, zu dessen Sprecher sie sich machte, nachweisen möchten. Wenn die Hegel-Historiker es unterlassen haben, diesen Beitrag zu verzeichnen, dann zweifellos deshalb, weil er ihnen nicht behagte, und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Doch diese Lücke erklärt sich auch durch andere Ursachen und insbesondere durch die äußerste Diskretion, die Hegel selbst bewahrte, durch sein Schweigen. Diskretion und Verschwiegenheit, dafür fand er das Beispiel und das Vorbild in der „Minerva". Wir werden uns gestatten, etwas bei den objektiven Bedingungen zu verweilen, unter denen die Zeitschrift erschien. Von Polizei und Zensur überwacht, des Weiterbestehens halber gezwungen, ihren Erscheinungsort von einem deutschen Staat zum anderen zu verlegen, sah sie sich des öfteren genötigt, ihre Quellen zu verbergen. Sofern sie es sich erlaubte, den Verfasser eines von ihr veröffentlichten franzö12

sischen Beitrags zu nennen, dann oft unter der Voraussetzung, daß der Name des Übersetzers oder des Herausgebers verschwiegen wurde. Außerdem wurde sie durch die brüsken Veränderungen der politischen Situation in Frankreich und durch deren Rückwirkungen in einem Deutschland, das allgemein feindselig wurde, des öfteren zu schroffem Meinungswechsel gezwungen. Sie leugnete dann offen, was sie vorher proklamiert hatte und was ihr Leiter womöglich auch jetzt nicht so völlig verwarf, wie er glauben machen wollte. Diese Umstände machen einen besonderen Gesichtspunkt der Tätigkeit der „Minerva" verständlich: um weiterzubestehen, manövriert und verschleiert sie. Anonyme Beiträge; Texte, von denen nur ein relativ harmloser Teil übersetzt wird, ohne kenntlich zu machen, daß sie im Original eine aufrührerische Fortsetzung haben; Porträts, bei denen der Name des deutschen Stechers das Fehlen des Signums des — unnennbaren — französischen Zeichners vergessen läßt; Anspielungen, die die unterrichteten Leser dann selbst vervollständigten und aufhellten; systematische Beseitigung aller Anzeichen, die womöglich den Nachweis eines — immerhin realen — geheimen Einverständnisses mit einer wohldefinierten und von den deutschen Reaktionären besonders verabscheutenfranzösischenpolitisch-ideologischen Gruppierung ermöglicht hätten: das ist die Art der „Minerva". Hat Oelsner für Hegel bei ihren Berner Unterhaltungen einen Zipfel des Schleiers von diesen kleinen Mysterien gelüftet? Wir werden tatsächlich sehen, daß Hegel, wenn er zuvor auch die wahre Person Oelsners nicht kannte, dennoch imstande war, etliche verborgene Merkmale der „Minerva" ohne die Hilfe jenes Informators zu erraten. Zweifellos wußte er, woher die von der Zeitschrift veröffentlichten französischen Texte stammten, insbesondere die von Bonneville, Mercier und Genossen. Und jene Art Verwandtschaft, die weitere „Minerva"-Mitarbeiter wieVolney oder Rabaut mit ihnen verband, hat er sie etwa nicht erkannt? Es ist wichtig, diese Umstände und die Konsequenzen, die sie für die „Minerva" hatten, in Erinnerung zu rufen. Denn auch Hegel war ihnen unterworfen, sein Leben lang, und man hat unseres Erachtens allzusehr versäumt, ihre Wirkungen auf den Ausdruck seines Denkens zu berücksichtigen. Arcbenbolz Die Person des Begründers und Leiters der „Minerva" zeigt Besonderheiten, die wir bei fast allen seinen französischen und deutschen Mitarbeitern erkennen werden. Geistige Verwandtschaft aller Art brachten sie jenem Johann Wilhelm von Archenholz nahe, der sich nach einer Offiziers13

dienstzeit in der preußischen Armee durch Abfassung von Geschichtsbüchern und Veröffendichung der Ergebnisse seiner politischen Untersuchungen im Ausland einen Ruf in der Geisteswelt erworben hatte. Archenholz, ausgeprägter Anhänger des englischen politischen Regimes, ließ sich 1791 in Paris nieder, um die Französische Revolution aus der Nähe zu beobachten. Wie die meisten deutschen Intellektuellen sympathisierte er zu dieser Zeit mit ihr und setzte große Hoffnungen in sie. Er trug dazu bei, sie in seinem Land besser bekanntzumachen. Doch er war ein Gemäßigter, wurde bald zum Bewunderer La Fayettes und blieb es für immer. Auf Grund seiner aktiven Sympathie für La Fayette, auch auf Grund bestimmter von der „Minerva" veröffentlichter Artikel konnte gesagt werden, daß er der politischen Linie der Feuillants folgte.4 Tatsächlich bezeugt „Minerva" zeitweise eine sich wild gebärdende Feindschaft gegenüber der Bergpartei und sogar gegenüber den Girondisten. Dennoch scheint uns die Einschätzung als Feuillant für Archenholz nicht wirklich treffend. Lange war er mit den Girondisten einverstanden. Er attackierte sie nur während jener kurzen Periode, da keine deutsche Zeitschrift für sie eintreten konnte, ohne Gefahr zu laufen, nicht mehr erscheinen zu dürfen. Überdies zeigt die politische Orientierung der „Minerva" weder große Beständigkeit noch große Strenge. Wir möchten sie eher, und zwar vor allem zu Beginn ihres Erscheinens — zu der Zeit, da wir mit Sicherheitwissen, daß Hegel sie las — als Organ eines „gemäßigten Girondismus" sehen.5 Zweifellos mußte Archenholz aus praktisch-taktischen Gründen oft Ideen zur Schau stellen, die rückschrittlicher waren als seine wirklichen Leitgedanken, mußte die Kühnheit mancher Veröffentlichungen durch Herausgabe konterrevolutionärer Beiträge kompensieren, um sich Alibis zu verschaffen. Im übrigen hat er nicht nur dem deutschen Publikum die Schriften der Girondisten zugänglich gemacht, und zwar in Fülle; er hat sich überdies bemüht, Robespierre zu übersetzen6 und sogar einige BabeufTexte wiederzugeben7. J. Droz, „U Allemagne et la Révolution française", Paris 1949, S. 59f. Zur Zuneigung, die Hegels Umgebung für die Girondisten empfand, siehe Hölderlins Brief an Neuffer (Oktober 1793): „Schreib mir's doch, wenn Du früher das Nähere von dem Schicksale der Deputierten Guadet, Vergniaud, Brissot p. p. hörst. Ach! das Schicksal dieser Männer macht mich oft bitter. Was wäre das Leben ohne eine Nachwelt?" (Friedrich Hölderlin, „Sämtliche Werke und Briefe", herausgegeben von Günter Mieth, Berlin 1970, Bd. 4, S. 115.) 6 „Kobespierres letzte Rede", in: Archenholz, „Miscellen zur Geschichte des Tages", Band 2, Hamburg 1795. ? Archenholz, „Glaubensbekenntnis", in: „Minerva", 1796, S. 162ff„ 320ff. Oelsner kannte 4 5

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Gewiß hat Hegel im August 1792 Archenholz' „Glaubensbekenntnis" gelesen. Darin äußerte er, neben einem Verdammungsurteil gegen die derzeitigen Jakobinerführer, Mitleid mit dem König, Verachtung für die Aristokraten und Emigranten und schließlich ein Empfinden, dessen öffentliche Bekanntgabe im Deutschland jener Zeit mutig wirkt: „Ich liebe also die französische Revolution "8 Archenholz verließ Paris zu eben der Zeit, da er dieses „Glaubensbekenntnis" veröffendichte, und leitete weiter seine „Minerva", die, anfangs in Berlin gedruckt, von der dreizehnten Nummer (Juli 1792) an nach Hamburg verlagert wurde, um der preußischen Zensur zu entgehen. Für seine Zeit und sein Land war Archenholz ein „fortgeschrittener", wenn auch etwas wandelbarer Geist. Er unterhielt Beziehungen zu den freisinnigsten Deutschen. Ein großer Teil von ihnen war eng mit den Geheimgesellschaften verbunden. Seit den sechziger Jahren war Archenholz Freimaurer.9 Er war es nicht geworden, um sich der Magie hinzugeben oder um mit der Mystik zu liebäugeln. Im Gegenteil, er verurteilte scharf die Machenschaften Cagliostros und Swedenborgs im Orden.10 Als Freidenker kämpfte er gegen alle positiven Religionen. Doch seinem Biographen zufolge führte ihn trotzdem „sein politischer Instinkt zu der Erkenntnis, daß der Gottesglaube für die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung unbedingt notwendig sei, und die öffentliche Predigt des Atheismus keineswegs geduldet werden dürfe"". Als Schüler von Voltaire, Helvetius, Rousseau, Raynal, Hume, Gibbon reihte er sich eindeutig in das Gefolge der Aufklärung ein. Man nimmt mit Interesse seine beständige Freundschaft mit dem schwäbischen Dichter Schubart zur Kenntnis. Schiller — und hier sei daran erinnert, daß alles, was ihn betraf, Hegel lebhaft interessierte — hatte sich sehr um Schubarts väterlichen Segen bemüht. Auch Hölderlin hatte zu der Zeit, da er im Tübinger Stift lebte und eng mit Hegel befreundet war, bei Schubart Rat gesucht, voller achtungsvoller Bewunderung für diesen Freiheitshelden. Von allen schwäbischen Schriftstellern jener Zeit trat Schubart am entschiedensten für die Französische Revolution ein. Er wußte, weshalb er an Babeuf gut; er muß ihn gewiß geschätzt haben, denn er stellte ihm seinen Freund Zschokke vor, den liberalen Schweizer Schriftsteller. Hegel war seinerseits nicht in Unkenntnis über dessen politische Tätigkeit; er ließ ihn in der humoristischen Wiedergabe eines Traumes auftreten (Brief an Niethammer, in: Hegel, „Briefe von und an Hegel", Bd. II, Berlin 1970, S. 18). « In: „Minerva", 1792, Bd. III, S. 179-182. » F. Ruof, „J. W. von Arcbenboh?, Berlin 1915, S. 11 und 12. M Ebenda. « Ebenda.

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den Menschenrechten und an der Freiheit hing. Die Roheit des Despotismus hatte er am eigenen Leibe in der Festung Hohenasperg gespürt, wo er lange auf Anordnung Karl Eugens von Württemberg wegen seiner Tätigkeit als „aufklärerischer" Publizist eingekerkert war. Als Hölderlin ihn sah, war er erst zwei Jahre auf freiem Fuß. Bald darauf, im Jahre 1790, erlebt er selbst in Straßburg das Föderationsfest, den 14. Juli. Dieses Ereignis nimmt ihm einige Vorbehalte, die er bis dahin den Franzosen gegenüber hatte: Von da y i heißt die Zeitschrift, die er unter dem Titel „Deutsche Chronik" veröffentlichte, einfach „Chronik'.12 Bei Forschungen über Hegel und seine Umgebung stößt man auf die Namen vieler Personen, mit denen Archenholz in Verkehr stand, fast alles Freimaurer und Illuminateni 3 : der berühmte Wieland; Schillers Freund Körner; Georg Forster, dessen Werke Hegels Denkweise so weitgehend und so beständig beeinflußten14; Forsters Gefährte Sömmering, der später in Frankfurt Hausarzt der Gontards wurde, bei denen Hölderlin dann Hofmeister war und die dann Hegel empfingen; Campe, der Pädagoge der „Aufklärung" und Bewunderer der Französischen Revolution, und auch Gleim, der Gegner dieser Revolution, der dem Andenken Friedrichs II. die Treue hielt; Georg Kerner, der schwäbische Revolutionär und Sekretär Reinhards; Schlabrendorff, der Mentor der als Beobachter der großen Erschütterungen nach Paris gekommenen Deutschen; Sieveking und Reimarus, zeitweilig Propagandisten der revolutionären Ideen in Hamburg; der Schweizer Füssli, der in Paris den Deutseben Club gründete, und schließlich von Held, der sich später in eine aufsehenerregende Komplott-Affaire gegen den preußischen Staat verwickelt fand, und zwar im Verein mit dem Buchhändler Frommann, der Hegel dann in Jena so freundlich willkommen hieß. Können wir Archenholz' Bindung an die Gefolgschaft der Illuminaten behaupten? Seine Beziehungen und seine Tätigkeit verraten allein schon seine Neigung zu dieser Denkrichtung. Enge Verbindungen hatte er zu dem Mann, der nach Weishaupts Zurücktreten treibende Kraft der Illuminatenbewegung war, zu dem Weimarer Bode, zu eben dem Mann, der Bonneville Unterlagen über das deutsche Freimaurertum und über den " Droz, a. a. O., S. 117f. D. h. Mitglieder oder Anhänger des geheimen bayrischen Illuminaten-Ordens. 1 4 Zu bestimmten Aspekten dieses Einflusses kann man unseren Beitrag über die Bedeutung der christlichen Kunst nach Forster und Hegel („Revue 557. s«9 Rabaut, a. a. O., S. 4. 268

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selbstbewußter Freiheit und Menschheit keinen Platz mehr hatten, und die sonst auf gegenseitigem Gemüth und in der Dumpfheit und Selbstlosigkeit des Bewußtseyns ihren Grund und Haltung hatten, die dem Geiste, der sie etablirt hatte, nicht mehr entsprachen, und nun durch die hervorgegangene wissenschaftliche Bildung auch der Vernunft als etwas Heiliges und Gerechtes gelten sollten, — diesen Formalismus haben sie (die französischen Philosophen) g e s t ü r z t . . . Diese Seite verhielt sich zerstörend gegen das in sich Zerstörte." 270 Das in sich Zerstörte! — da haben wir das „politische Nichts", auf das Rabaut Frankreich vor 1789 reduziert sah: „ . . . was für eine Nullität damals König, Regierung und Nation waren." 2 7 1 Die Institutionen sterben von selbst, von innen her zerfressen. Wenn sie dann gestorben sind, müssen sie noch vernichtet werden I Zu den großen „Institutionen" des vorrevolutionären Frankreich ge hört der Adel. Im 18. Jahrhundert ist er noch immer präsent, lebt aber nicht mehr. Rabaut gibt die Beschreibung dieser falschen Existenz, eine Beschreibung, die einen Vergleich mit vielen Hegeltexten nahelegt: „Der Adel, dessen imaginäre Überlegenheit nur in der Meinung existierte, bildet sich ein, daß er immer noch existiert, obwohl diese Meinung beseitigt ist. 272 E r suchte den hehren Geist der Feudalität in Zeiten wiederzubeleben, wo die Feudalität nicht mehr war, und die ritterlichen Vorstellungen des 12. Jahrhunderts in der AufklärungsAtmosphäre des 18. hervorzubringen. So werden die Körperschaften bei ihrem Altern anfangs nicht gewahr, daß ihre Maximen mit ihnen altern und daß sie, wenn ringsum alles anders geworden ist, selbst anders werden oder untergehen müssen. Wie könnten sich solche Gebäude noch halten, wenn sie nicht mehr von den Stützpfeilern der öffentlichen Meinung gehalten werden." 273 Diese Zeilen rufen einem natürlich eine ähnliche Äußerung Hegels in den Sinn, die von Hegel-Kommentatoren sehr oft zitiert wird : Hegel, „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Hegel, „Sämtliche Werke", Ausgabe Glockncr, Bd. 19, S. 515. 271 Rabaut, a. a. 0., S. 15. 272 D i e Ähnlichkeit dieser Hinschätzung mit bestimmten Formulierungen Marxens ist frappierend : „Das jetzige deutsche Regime dagegen, ein Anachronismus, ein flagranter Widerspruch gegen allgemein anerkannte Axiome, die zur Weltschau gestellte Nichtigkeit des ancien régime, bildet sich nur noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung." (Marx, „ Zur Kritik der Hegelscben Rechtsphilosophie. Einleitung", in: MEW, Bd. 1, S. 382.) Rabaut,«.«. O . , S . 3 . 2,0

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„Wie blind sind diejenigen, die glauben mögen, daß Einrichtungen, Verfassungen, Gesetze, die mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist, länger bestehen, daß Formen, an denen Verstand und Empfindung kein Interesse mehr nimmt, mächtig genug seien, länger das Band eines Volkes auszumachen!" 274 Wenn sich die Institutionen so nur noch als lebloses Äußeres behaupten, verfaulen sie im Innern durch eine Art Krebsschaden. Man muß sich diese Verdorbenheit in Erinnerung rufen, um das Verdienst der französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, die gegen Religion und Staat angingen, zu erkennen. Hegel sagt es uns in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" : „Man muß ein Bild von dem horriblen Zustand der Gesellschaft, dem Elend, der Niederträchtigkeit in Frankreich haben . . . " 275 Dieses Bild hatte ihm Rabaut geboten, und in Rabauts Darstellung war nichts ausgelassen, weder das Elend noch die Würdelosigkeit! Hegel scheut sich nicht, in seinen Berliner Vorlesungen einige ganz besonders hervorstechende Züge dieses Bildes wieder anzuführen: „Jetzt kann die Heuchelei, die Frömmelei, die Tyrannei, die sich ihres Raubs beraubt sieht, der Schwachsinn können sagen, sie (die Franzosen) haben die Religion, Staat und Sitten angegriffen. Welche Religion! Nicht durch Luther gereinigt, — der schmähligste Aberglaube, Pfaffenthum, Dummheit, Verworfenheit der Gesinnung, vornehmlich das Reichthum-Verprassen und Schwelgen in zeitlichen Gütern, beim öffentlichen Elend. Welcher Staat! Die blindeste Herrschaft der Minister und ihrer Dirnen, Weiber, Kammerdiener; so daß ein ungeheures Heer von kleinen Tyrannen und Müßiggängern es für ein göttliches Recht ansahen, die Einnahme des Staats und den Schweiß des Volks zu plündern2713. Die Schaamlosigkeit, Unrechtlichkeit ging in's Unglaubliche; die Sitten waren nur entsprechend der Verworfenheit der Einrichtungen." 277 Ursachen und Wirkungen der übermäßigen Macht der Minister hatte Rabaut ausführlich analysiert. „Das Wesirat" — so schrieb er — „ist in Hegel, „Über die neuesten inneren Verhältnisse Württembergs . . .", in: Hegel, „Schriften Zur Politik", in: a. a. O., S. 151. Zur Entwicklung dieser Doktrin durch Hegel siehe unsere Abhandlung „Hegel, philosophe de l' bistoire vivante", II. Teil, Kap. IV, Les survivances. 275 Hegel, „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", Ausgabe Glockner, Bd. 19 S. 515 276 In dem Rabaut-Auszug der „Minerva." heißt es: Die Höflinge waren nur bestrebt, „zu plündern, um verschwenden zu können" („Bemerkungen . . .", a. a. O., S. 553). 277 Hegel, .Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Ausgabe Glockner, S. 515f. 274

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Frankreich eine der Epochen des Despotismus, und die Völker sind dabei mehr oder minder Sklaven gewesen, je nachdem, ob die Minister mehr oder minder absolut waren . . . " 278 Er führte die Räubereien aller Art an, unter denen das Volk zu leiden hatte, und brandmarkte vor allem die allgemeine Korruption, die universelle Käuflichkeit: Die Granden waren nur bestrebt, „Ämter und Schenkungen zu erhalten"; der Stellenhandel und die Käuflichkeit des Adelsprädikats „wurden bis ins Lächerliche ausgedehnt" 274 . „Alles, was im Reiche auch nur etwas Bedeutung hatte, lebte von dieser Käuflichkeit, weil alles verkauft worden war." 280

Das Bewußtwerden Diese trostlose Lage ihres Landes wurde für die Franzosen in dem Augenblick unerträglich, wo sie anfingen „nachzudenken", wie Rabaut sagt; zu „untersuchen", sagt Hegel. Das Unrecht ruft weder Empörung noch Aufruhr hervor, wenn es nur nicht bewußte Wesen trifft. Gerade im vorrevolutionären Frankreich maßte sich die ungerechte Staatsmacht an, den Franzosen das Denken zu verbieten, und sie bediente sich bei diesem Unterfangen der Autorität einer unterdrückenden Religion. Nun bemerkt Hegel in diesem Zusammenhang: „Barbaren als Laien zu behandeln, ist in der Ordnung, — eben die Barbaren sind Laien; denkende Menschen aber als Laien behandeln, ist das Härteste." 281 Rabaut hatte jene Erschwerung der Unterdrückung hervorgehoben, die deren Bewußtwerden mit sich bringt: „Die Untertanen des Königs . . . waren ständig einem Unterdrückungsregime unterworfen, das um so demütigender war, als dieses Volk mit jener unerklärlichen Gabe der Natur, die man Geist nennt, ausgestattet war und als es neuerdings die Aufklärung gab." 282 Für Hegel ist bekanntlich der Augenblick, wo ein Volk seiner selbst bewußt wird, zugleich der Beginn seines Verfalls. Die Einleitung zu den 2» Rabaut, a. a. 0., S. 8. -•9 Rabaut, a.a. 0., S.13. 260 Ebenda, S. 33.

Hegel, .Vorlesungen über die Geschichte der Pbiiesopbie", Ausgabe Glockner, S. 517. =82 Rabaut, a. ti. O., S. 9.

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„Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" wählt das Beispiel des antiken Griechenland, um das Verderben einer Nation zu beschreiben; sie analysiert Sokrates' zersetzenden Einfluß. Das aber, was sie darüber aussagt, könnte ebensogut für das Frankreich Ludwigs XV. und das Werk der „Philosophen" gelten! Hegel zeigt, daß die Mission eines Volkes darin besteht, dazu zu gelangen, über sich selbst nachzudenken, um das Wissen dessen zu gewinnen, was es ist. Dann fügt er hinzu: „Dieses Denken, diese Reflexion, hat dann vor dem Unmittelbaren, das es als ein besonderes Prinzip erkennt, keinen Respekt mehr; es entsteht eine Trennung des subjektiven Geistes von dem allgemeinen. Die Individuen treten in sich zurück und streben nach eigenen Zwecken; wir haben schon bemerklich gemacht, daß dieses das Verderben des Volkes ist: jeder setzt sich nach seinen Leidenschaften seine eigenen Zwecke. Zugleich aber tritt bei diesem Zurücktreten des Geistes in sich nun das Denken als besondere Wirklichkeit hervor, und es entstehen die Wissenschaften. So sind Wissenschaften und das Verderben, der Untergang eines Volkes immer miteinander verpaart." 283 Wir werden im weiteren zu zeigen versuchen, aus welchen Gründen Hegel diese Beschreibung nicht ausdrücklich mit dem Frankreich des 18. Jahrhunderts in Verbindung gebracht hat. Sie gibt jedoch dem von ihr veranschaulichten Gesetz eine sehr allgemeine Tragweite. Nun begegnen wir diesen Hegel-Ideen über die Entstehung der Wissenschaften in der Verfallszeit eines Volkes in dem von der „Minerva" übersetzten Abschnitt aus dem „Almanacb": „Und doch" — so konstatiert Rabaut bei der Besprechung des Despotismus Ludwigs XV. — „wurden gerade unter dieser Herrschaft die Waffen geschmiedet, die die Fesseln der Tyrannei gesprengt haben. In der Fortbewegung des Menschengeistes folgt das Jahrhundert der Philosophie notwendig dem der schönen Künste . . . Das Jahrhundert der untersuchenden Vernunft folgt dem der malenden Vorstellungskraft." 284 Nach dieser Behauptung ruft der französische Historiker das Werk Montesquieus, Voltaires, Rousseaus, Raynals ausführlich und lobend in Erinnerung. 253 284

Hegel, „DieVcrnunft in dir Geschichte", S. 71. Rabaut, a. a. 0 . , S. 15f.; „Bemerkungen ...", setzung folgt nicht der der „Minerva". D. Üb.).

a. a. 0 . ,

S. 555f. (Die vorstehende Uber-

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Unter diesen B e d i n g u n g e n k o m m e n unsere beiden A u t o r e n ohne weiteres zu einer gemeinsamen Einschätzung der Wirksamkeit der Philosophie in der Genesis der Revolution. Rabaut behauptet: „Alle Prinzipien der Freiheit, alle K e i m e der Revolution sind i n Voltaires Schriften enthalten. E r hatte sie vorhergesagt, und er schuf sie." 2 8 5 A m Schluß seiner Arbeit folgert e r : „ D i e Revolution war also d a s P r o d u k t der A u f k l ä r u n g . " 2 8 6 Hegel macht ebenfalls die „ P h i l o s o p h e n " f ü r die Revolution verantwortlich: „ M a n hat gesagt, die französische Revolution sey v o n der Philosophie a u s g e g a n g e n , und nicht ohne G r u n d hat man die Philosophie Weltrveisbeit genannt, denn sie ist nicht nur die Wahrheit an u n d f ü r sich, als reine Wesenheit, sondern auch die Wahrheit, insofern sie in der Wirklichkeit lebendig wird. Man muß sich also nicht d a g e g e n erklären, wenn gesagt wird, daß die Revolution v o n der Philosophie ihre erste A n r e g u n g erhalten habe. A b e r diese Philosophie . . Z' 2 8 7 Für H e g e l wie f ü r Rabaut hätte sich diese philosophisch vorbereitete R e v o lution gewaltlos vollziehen könnqn, wenn die Führer des monarchischen Frankreich auch ihrerseits die N o t w e n d i g k e i t der v o n den Philosophen geforderten Veränderungen erkannt hätten. A b e r , s o erklärt H e g e l : „ D i e französische Revolution ist durch die steife Hartnäckigkeit der Vorurtheile, hauptsächlich den H o c h m u t h , die völlige Gedankenlosigkeit, die Habsucht erzwungen w o r d e n . " 2 8 8 D a s entspricht der B r a n d m a r k u n g „jener Despotentugenden, des H o c h muts und der Eitelkeit" 2 8 9 , durch Rabaut. A u f jeder Seite seines Buches geht R a b a u t auf die „ F e h l e r " ein, die die Regierungen der K ö n i g e v o n Frankreich beim Herannahen der Revolution begingen. D i e s e wäre nicht ausgebrochen, wenn die Herrschenden in E r kenntnis der Notwendigkeit v o n Veränderungen willens gewesen wären, die Maßnahmen zu ergreifen, die der gesunde Menschenverstand verlangte und die v o m V o l k gefordert wurden. A b e r , s o bemerkt R a b a u t : „ . . . die Räte des K ö n i g s spotteten über die Urteile des V o l k e s u n d seine Satiren; und als sich schließlich, bei stets zunehmender A u f klärung, eine A c h t u n g gebietende öffentliche Meinung herausbildete, 285 Rabaut, a. a. 0., S. 20; „Bemerkungen . . .", a. a. 0., S. 560. 28« Rabaut, a.a.O., S.256. Hegel, „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", Ausgabe Glockner, S. 556. 288 Hegel, „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie",a.a. O., S. 516. 2® Rabaut, a. a. O., S. 12; „Bemerkungen ...", a. a. O., S. 551. 108

die letzten Endes nur der Ausdruck des allgemeinen Willens war, da hielten die Minister an ihren gebieterischen Manieren und ihrer beleidigenden Geringschätzung fest. Dieses Außerachtlassen des Schicklichen wurden ihnen zum Verhängnis. Es kann nicht oft genug gesagt werden, daß usurpierte Macht nur zu Fall-kommt, weil sie nicht bemerkt hat, daß sie ein Ende nehmen mußte." 290 Diesem Standpunkt schließt sich Hegel an: „. . . Sache der Regierung wäre es gewesen, das Konkrete zu befehlen, Einrichtungen, Verbesserungen in konkreter Form; dieß hat sie nicht verstanden." 291 Die „Philosophen", die die Notwendigkeit der Veränderung proklamierten, hätten dabei nicht angegeben, wie sie sich vollziehen solle. Für den gewaltsamen Charakter falle die Verantwortung auf die blinden Regierungen zurück. 292 i Wahrscheinlich hat die Rabaut-Lektüre Hegel noch in seiner Ansicht bestärkt, daß der Feudalismus verschwinden kann, ohne daß eine Revolution ihn dazu zwingt. Die Revolution ist in Frankreich durch die Hartnäckigkeit einer absoluten Monarchie, die ihrerseits schon die wahre Feudalität beseitigt hatte, erzwungen worden. In Deutschland aber erscheint die Lage in anderem Licht, weil dort die Reformation ihr Besserungswerk vollbracht hat und weil die politische und religiöse Unterdrückung dort nicht in so schrecklicher Art gehandhabt wird wie im vorrevolutionären Frankreich. Wir haben in Erinnerung, wie Hegel im Hinblick auf Frankreich voller Abscheu ausruft: „Welcher Staat! . . . Welche ReligionI" Der Gipfel der Willkür, der Verdorbenheit, der Tyrannei — diesen Anblick bietet dieses Land von Ludwig XIV. bis zu Ludwig XVI. Rabaut regte dazu an, sich die Dinge in dieser Art vorzustellen. Einerseits zeigte er, daß die „Aufklärung" von „Nordeuropa" her nach Frankreich gekommen war. Andererseits betonte er die vergleichsweise viel schlimmere Lage Frankreichs. Er lieferte folgendes Zeugnis: „Alle Völker, die dem Willen eines einzigen Menschen unterworfen waren, hatten mehr oder minder unter dessen Despotismus zu leiden, doch keine Nation ist von ihren Herrschern verächtlicher unterdrückt worden als die französische Nation." 293 2» Rabaut, a. a. O..S.9. 201 Hegel,, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", a. a. O., S. 516. 292 Hegel, .Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", Ausgabe Glocknet,S. 557. Rabaut, a. a. 0., S. 8.

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Zur moralischen Erniedrigung, zur politischen Knechtschaft gesellte sich unter der Herrschaft L u d w i g s X I V . eine materielle N o t : „ E i n Elend, wie es kein neueres Volk ähnlich erlebt hat." 2 9 4 Die partiellen Verdienste der Herrschaft L u d w i g s X I V . wiegen jene Verschlechterung nicht auf. Rabaut zögert jedoch nicht, sie anzuerkennen. E r erwähnt „ . . . die Vervollkommnung der schönen Künste, ein Theater, das höher stand als das athenische, Geschmack und gutes Benehmen, wie sie allen Höfen als Vorbild dienten, und vor allem die Vereinigung sämtlicher — vorher zusammenhanglosen — Regierungs- und Reichsteile". 2 9 5 D e m Frankreich L u d w i g s X I V . schreibt Hegel ebenfalls den territorialen Zusammenschluß sowie die führende Rolle seiner Kultur und seiner Sprache in der Welt zugute. 2 9 6 Beide befassen sich aber v o r allem mit der Analyse der Folgen des A b solutismus, des Despotismus, den sie sorgfältig von der Monarchie unterscheiden. . Rabaut ist in dieser Richtung weit gegangen. War er nicht zunächst der Ansicht, daß die Beseitigung des Despotismus nicht die Vernichtung der Monarchie erfordere? I m Einvernehmen mit der Nationalversammlung hatte er zu Beginn der Revolution geglaubt, es sei „nicht daran zu denken, daß ein L a n d v o n so großer Ausdehnung der rein republikanischen F o r m unterworfen werden k ö n n e " 2 9 7 . Dessen ungeachtet wurde Rabaut Republikaner. Hegel seinerseits blieb beim Glauben an die Unmöglichkeit der Errichtung der Republik in einer großen Nation.

Die Dialektik

des Edelmütigen

und

Niederträchtigen

Wie erklärt es sich, daß sich Hegel gegen E n d e seines Lebens, zum Zeitpunkt, da er die , Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" und über die „Geschichte der Philosophie" zusammenstellte, noch so deutlich an Rabauts Ansichten, an das in der „Minerva" veröffentlichte Kapitel, an die „Geschichte der Französischen Revolution" erinnerte? L a s er vielleicht wieder die alter Hefte der deutschen Zeitschrift? Z o g er vielleicht ausführliche, bei einei ersten Lektüre angefertigte Notizen zu Rate? Oder hatte er womöglich 294

Ebenda, S. 12; „Bemerkungen . . .", a. a. O., S. 551. Rabaut, a. a. O., S. 11.

2;io Hegel, .Vorlesungen über die"Philosophieder Geschichte", Ausgabe Glockner, S. 541 f. Rabaut, a.a. O., S. 251.

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auch Rabauts Buch in Besitz? Es muß nämlich gesagt werden, daß viele Ideen, die Hegel und Rabaut gemein haben, zwar im „Almanacb", aber nicht in dessen Teilübersetzung in der „Minerva" zu finden sind. Doch abgesehen von allen diesen Möglichkeiten, können wir außerdem annehmen, daß sich Hegel in seiner Jugend zutiefst von Rabauts Ideen durchdringen ließ, so daß er deren Andenken ständig bewahrte. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen der Denkweise des jungen Hegel und der Denkweise Rabauts erlaubt uns ein besseres Wahrnehmen der Originalität des einen und ein besseres Erfassen bestimmter Theorien des anderen. Wir sehen so auch, wie Hegel in seinen Berliner Vorlesungen auf Elemente der Beschreibung der Ursprünge der Französischen Revolution verzichtete, die er vormals in der „Phänomenologie des Geistes" unterbreitet hatte. Man bemerkt unweigerlich, daß sich beide Autoren, ungeachtet der Abweichungen im Detail, dieselbe Art der Interpretation zu eigen machen. Zunächst lassen beide im Gegensatz zu einer, wie man sagen könnte, „dogmatischen" Deutung der Entstehung der Französischen Revolution diese aus einer inneren Entwicklung der französischen Gesellschaft und vor allem aus einer inneren Entwicklung des französischen Geistes hervorgehen. Wie wir gesehen haben, unterschätzen sie keineswegs den Einfluß der philosophischen Kritik im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie stellen sie jedoch nicht so dar, als ob sie plötzlich vom Himmel gefallen sei. Im Gegenteil, sie beschreiben das Auftreten dieser Philosophie selbst als unvermeidliche, von anderen vorhergegangenen Phänomenen hervorgerufene Erscheinung. Ja, es kann gesagt werden, daß es bei Rabaut gleichsam die Vorahnung oder besser das Schema einer Phänomenologie der Revolution gibt, in dem Sinne, in dem Hegel diese Worte verstanden hätte, und in Ausdrücken, die Hegel bisweilen einfach übernommen hat. Sie wollen, der eine wie der andere, das Anden régime zumindest ebensosehr begreifen wie c s verurteilen, und es begreifen heißt für sie, es in einer historischen Verkettung von geistigen Geschehnissen ansiedeln. Die Revolution entspringt einer Entwicklung des französischen Geistes. Sie ist einem Spiel der Widersprüche zu verdanken, die sich im Innern dieses Geistes gebildet haben. Dieser Entwicklung besonderer Art, deren Bewegung Rabaut skizziert und deren sämtliche wesentlichen Momente Hegel auszubreiten sucht, können wir den Namen geben, der dann im Hegelianismus so erfolgreich sein wird : eine Dialektik. Hegel wird nie müde, in der Geschichte einer jeden großen historischen Totalität die innere Notwendigkeit zu suchen, die sie von einer Ausgangssituation an unfehlbar zu ihrem Endzustand führt. Aus dem Charakter Abrahams, des Stammvaters des jüdischen Volkes, liest er das gesamte Los 111

dieses Volkes heraus. Das Schicksal des Christentums scheint ihm voll und ganz in Jesus und in dessen Art zu predigen gegeben. Völker wie Individuen haben die Keime ihrer Zukunft in sich selbst. So verhält es sich auch mit Persien, Griechenland, Rom usw. Ebenso entspringt die Französische Revolution einer im französischen Volk vorhandenen Dialektik, einer geistigen Dialektik — und dies für Rabaut wie für den Hegel der „Phänomenologie" — oder vielmehr einer Dialektik des Geistes, der sich rein halten will und der sich dennoch von einem Produkt seiner Taten verderben läßt, von einer zugleich nützlichen und schädlichen Absonderung: vom Geld. Die beiden Philosophen erkennen zwar die vielgestaltige wohltätige Wirkung des Geldes und seine ungeheure, nahezu unwiderstehliche Macht an, enthüllen aber nichtsdestoweniger seine zerstörenden Wirkungen, ohne indessen zu seiner vollständigen Bestimmung und zur genauen Analyse seines Wesens zu gelangen. Sie vergegenwärtigen sich, daß der Französischen Revolution ein Aufstieg des Geldes vorausging, und zwar ein Aufsteigen des Geldes zur Macht und parallel dazu eine Entartung, ein Verfall dessen, was einst die Substanz dieser Macht selbst ausmachte: der Ehre, die sie so auffassen wie Montesquieu. Bei der Analyse des Hegel-Kapitels „Die Welt des sich entfremdeten Geistes" aus der „Phänomenologie" hebt Hyppolite sehr zu Recht hervor, daß „sich hier hinter den dialektischen Formeln die Herrschaft Ludwigs XIV. zeigt" 298. Die Rabaut-Lektüre bestätigt diese Interpretation voll und ganz und verhilft zur Präzisierung im Detail. Der Rabaut-Text selbst nähert sich bisweilen auffallend der von Hyppolite gebotenen dechiffrierenden Übersetzung eines Hegel-Textes, der, Wort für Wort genommen, bisher vielfach rätselhaft blieb.299 Hier äußert sich Hegel in der Tat häufig im Stil der Anspielung. Er nennt nicht die historischen Beispiele, die er eigentlich im Sinn hat; er taucht seine Darstellung absichtlich in ein Halbdunkel, er verheimlicht seine Quellen. Alles wäre klarer, möglicherweise absolut deudich gewesen, wenn er sich nur bereitgefunden hätte, Rabauts Namen zu nennen! Denn Rabaut hatte in seinem „AJmanacb" jenen historischen Hintergrund ausgebreitet, vor dem Hegel die Gestalten der Staatsmacht und des Reichtums, des edelmütigen Bewußtseins und des niederträchtigen Bewußtseins, der Schmeichelei agieren läßt300. In diesem Kapitel denkt Hegel sehr wohl an » 8 J. Hyppolite, „Études sur Marx et sur Heg,el", Paris 1955, S. 59. 299 J. Hyppolite, „Genèse et structure de la Phénoménologie de l'Esprit de Hegel", Paris 1946, S. 386-404, und „Études sur Marx et sur Hegel", S. 56-60. 3 0 0 Hegel, „Phänomenologie des Geistes", herausgegeben von J. Hoffmeister, Berlin 1971, S. 350-376 (Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit 112

Frankreich, und er beschreibt die Entartung, den Verfall, die zum Untergang einer politischen und kulturellen Welt führen werden. In unserer heutigen Sprache würden wir normalerweise sagen, daß er die Fäulnis einer Zivilisation erforscht. Aber was wir uns unter dem Bild der Fäulnis vorstellen, das sieht Hegel eher als Verhärtung, als Versteinern. Die Vorlage zu diesem Gemälde fand Hegel bei Rabaut. Dieser beschrieb die schrittweise Ausbreitung des Übels, das seit Ludwig XIV. den Geist des alten Frankreich zerfressen hatte. Rabaut und Hegel machen uns zu Zeugen eines seltsamen Schauspiels: Eine tödlich verwundete Welt verliert langsam ihre gesamte Substanz; das Geld kauft die Ehre aus; die Herren vom Adel werden blutleere Hampelmänner, körperlose Rüstungen, seelenlose Köpfe. Vor einem Theaterdekor, der die Schändlichkeit der Kulissen nur schlecht verbirgt, vollführen sie mechanisch Handlungen, die nunmehr jede lebendige Bedeutung verloren haben. Und bald wird der Sturm der Geschichte diesen lächerlichen Zug von käuflichen Phantomen hinwegfegen. Das ist der Verfall des Feudalismus. Es hat durchaus den Anschein, als ob der Höhepunkt des alten Frankreich für Rabaut vor der Zeit Richelieus liegt. Damals existierte eine Monarchie, die sich nicht tyrannisch gab und auf den loyalen Dienst eines uneigennützigen, dem Gemeinwohl ergebenen Adels rechnen konnte. Rabaut stellt die absolute Monarchie Ludwigs XIV., die er verabscheut, der liberalen Monarchie von einst entgegen. Früher, sagt er, „ . . . ließen unsere Könige Gesetze nur vollstrecken, wenn die Leute einverstanden waren"; später dagegen „befragten sie sie nicht mehr"301. Unter Leuten versteht Rabaut hier aber den Adel, und kann man in Hinblick auf dies von seinen Königen zu Rate gezogene und ihnen treu dienende „Volk" nicht an die „Sprache des Rates" und den „Heroismus des Dienstes" denken, die Hegel dann zur Funktion der Adligen in der alten Monarchie macht302? . Hegel hält — und dies auch in der Berliner Zeit — an einer Auffassung von der französischen Monarchie fest, die der Auffassung Rabauts gleicht. Er verlegt die Entstehung dieser Ordnung in die Zeit Ludwigs IX. und Philipps des Schönen. Die volle Entfaltung der Monarchie fällt in die Zeit der Troubadours und der Entwicklung der Scholastik.303 Diese Angaben macht er im Kapitel über den Übergang der Feudalherrschaft in die Monarchie, das dem Kapitel über Kunst und Wissenschaft als Auflösung des 301 302 303

Rabaut, a.a. 0 . , S . 7 . Hegel, „Phänomenologiedes Geistes", a. a. O., S. 360f. Hegel, .Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", Ausgabe Glockner, S. 5 1 0 f .

8 D'Hondt, Hcgdsches Denken

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Mittelalters vorausgeht.304 Für Hegel ist der Höhepunkt der Monarchie vor dem Ende des Mittelalters erreicht, vor der neuen Zeit und der Reformation.305 Danach festigt sich die Monarchie, der König behauptet seine reale Macht über die Barone. Aber als Ludwig XIV. unumschränkter Herrscher wird, ist die Monarchie bereits in Gefahr; es ist für sie der Anfang vom Ende. Hegel wird den Ausdruck „siècle d'or", großes Jahrhundert, den gewisse französische Historiker wählen, um die Zeit Ludwigs XIV. zu bezeichnen, nur zögernd verwenden.306 Das Regime Ludwigs XIV. ist für ihn wie für Rabaut nicht die wahre Monarchie, sondern der Despotismus. Allerdings verwendet er dieses Wort kaum als Bezeichnung, als er unter der Restauration lehrt und schreibt. Man kann diese Enthaltung als bloße Vorsicht ansehen. Die Regierungszeiten Ludwigs XIV., Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. verkörpern in seinen Augen den Despotismus. An welches Land, an welches politische Regime außer Frankreich und seiner „Monarchie" kann er in der Tat gedacht haben, als er zum Beispiel schrieb: „ . . . der Untertan eines Klosters oder auch überhaupt ein Untertan eines despotischen Staates kann gegen seinen schwelgenden, den Schweiß der Armen vergeudenden Prälaten oder Finanzpächter seine Religion nicht zur Rache gegen ihn aufrufen, da dieser auch die gleichen Messen hört, ja selbst liest usw. . . ." 'im Die Institution der „Finanzpächter", die übrigens auch von Rabaut lebhaft kritisiert wird308, kennzeichnet die ausgehende französische Monarchie, die Hegel hier ohne Schwanken dem Despotismus gleichsetzt. Aber die Monarchie, die Hegel aus der Auflösung des Lehnswesens hervorgehen läßt, die aufsteigende Monarchie, ist nicht despotisch. Er beschreibt mehrere Formen des Übergangs von der Feudalherrschaft zur Monarchie, und bei jeder dieser Formen bleibt der Herrscher in seinen Vollmachten beschränkt. Die Vasallen konstituieren sich in der Tat als Stände und Korporationen, die Städte etablieren ihre eigene Macht. „Auf diese Weise", meint Hegel behaupten zu können, „kann die Macht des Herrschers keine bloß willkürliche mehr seyn. Es bedarf der Einwilligung der Stände und Corporationen, und will der Fürst diese haben, so muß er nothwendig das Gerechte und Billige wollen." 309 305 Ebenda, S. 519. 304 Ebenda, S. 515. Hegel, .Vorlesungen über die Philosophie der^Geschichte", in: Hegel, „Sämtliche Werke", herausgegeben von Georg Lasson und J. Hoffmeister, Bd. 9, Leipzig 1920, S. 911. 307 „Hegels theologischeJugetidscbriften", S. 365. 308 Rabaut,«.«. O., S.35. 309 Hegel, ,Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", Ausgabe Glockner, a. a. O., S. 505f. 306

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Rabaut und Hegel stimmen in folgendem Urteil überein: Die alte, auf der Ehre beruhende Monarchie ging zugrunde, als sie unumschränkt wurde. Und der französische Historiker nennt die Haupturheber dieser Umwandlung beim Namen; er beschuldigt „die Herrschaft Richelieus, das heißt des Despotismus' in Person", und das Wirken Mazarins, der „jene korrumpierte, die der andere Priester, sein Vorgänger, nur in Schrecken versetzt und erniedrigt hatte"310. Hegel wiederum konstatiert, daß Ludwig XIV. durch „die Depression der Großen seines Reiches, welche Richelieu und später Mazarin vollendet hatten,... unumschränkter Herrscher geworden"311 war. Im allgemeinen zeigt sich Hegel gegenüber Richelieu viel gewogener als Rabaut.312 Um seine Haltung richtig zu begreifen, muß beachtet werden, daß er zwei Arten von Adelsprivilegien unterscheidet: jene, welche die Adligen gegenüber König und Staat geltend machen, und jene, auf Grund derer sie die unteren Klassen unterdrücken und ausbeuten. Richelieu hat die erstgenannten Privilegien zunichte gemacht, er hat den Staat über alles gestellt, selbst über die Rechte der französischen Protestanten, und Hegel stimmt dem zu, während Rabaut, der Pastor aus den Cevennen, es verdammt.313 Aber die Adelsrechte über das Volk hat Richelieu nicht eingeschränkt; Hegel konstatiert dasi ebenso wie Rabaut. Dieses Erhalten der Privilegien der Adligen gegenüber dem Volk bei gleichzeitiger Beseitigung ihres Einflusses auf das Staatsgeschehen veranlaßte sie aber unglücklicherweise, sich nur noch um sich selbst zu kümmern. Sie konnten ihre Vorrechte 310 Rabaut, a. a. O., S.10. 3 1 1 Hegel, .Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", Ausgabe Glockner, S. 541. 3 1 2 Siehe insbesondere: Hegel, „Schriften Politik' a. a. O., S. 107f. 3 1 3 L. S. Mercier ist zu einer Einschätzung der Rolle Richelieus gelangt, die der Hegeischen recht nahe kommt. In einem Artikel „Portrait de Cboiseul", der in der „Cbroniquc du Mois" (September 1792) erschien und von der „Minerva" (1793, VI, S. 340) in deutscher Übersetzung wiedergegeben wurde, schrieb er: „Richelieu hatte die Granden erniedrigt, um den Thron zu erhöhen, auf dem in Wirklichkeit er selbst saß, während dem Volk ein gekröntes Phantom vor Augen gehalten wurde; seine mannhafte, nie zurückweichende Politik wies die lästigen Prätentionen des Adels sämtlich ab; das blutige Henkerbeil gab den für aufrührerisch gehaltenen oder befundenen Seigneurs zu verstehen, daß es auch das. kindische Geschrei der Parlamentsgerichtsbarkeit über unbequeme Gesetze zum Schweigen bringen würde; aber Richelieu identifizierte sich mit dem Reich, dessen Feinde waren die seinen; Frankreichs Ruhm wurde zum ständigen Ziel seiner verschiedenen Bemühungen, und er verschaffte sich Respekt in ganz Huropa,darunter auch bei dem Souverän, den er sich unterwarf." (Diese Übersetzung folgt nicht der der „Minerva". — D. Üb.) 8*

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nicht mehr in den Dienst des Staates stellen: Nun zogen sie rein persönlichen Gewinn daraus, kümmerten sie sich nur noch um ihr Einzelinteresse, um die Mehrung ihres individuellen Reichtums. Diejenigen, die einst dem Staat zu Ehren treu dienten, gingen so der Ehre verlustig und dienten nicht mehr dem Staat, als Richelieu sie aus den öffentlichen Angelegenheiten ausschaltete und als dann Ludwig XIV. unumschränkter Einzelherrscher wurde. Es trat damals eine Umkehrung des Adelsgeistes ein; Rabaut beschreibt sie wie folgt: „Mazarin korrumpierte jene, die der andere Priester, sein Vorgänger, nur in Schrecken versetzt und erniedrigt hatte. Sie hatten jene stolzen, unabhängigen Seelen verdorben, die in den Bürgerkriegen eine Art von Größe entfaltet hatten, welche der tapfere Henri mangels Zeit nicht gegen Frankreichs Feinde wenden konnte. Alle krochen nun vor einem Herrn, denn Richelieu hatte sie das Schmeicheln gelehrt. Über diese niederträchtig stolzen, dünkelhaft verdorbenen Menschen hatte dann Louis XIV. zu herrschen. Über Louis XIV. ist alles gesagt; die Nachwelt hat sich womöglich im Übermaß für die verlogenen Lobhudeleien seiner Untertanen gerächt." 314 . Für Hegel ergibt sich dieselbe Bewegung: Der „stolze Vasall" wird zum niederträchtigen Höfling. Die Sprache des Rates wandelt sich zur Sprache der Lobhudelei. Der „Heroismus des Dienstes" entartet zum „Heroismus der Schmeichelei". Rabaut verlegt die Anstiftung zur Schmeichelei und die seuchenhafte Ausbreitung der Niedertracht in die Zeit Richelieus. Er enthüllt den Doppelcharakter der Höflingsse'ele: „niederträchtig stolz", „dünkelhaft verdorben". Hegel wird sagen, daß diese Seele nie einem der beiden kontradiktorischen Werte, die sie verlocken, „gleich" ist: der Ehre und dem Geld. Der Höfling hält weder voll zum Staatswohl, worin einst seine Ehre lag, noch zum Reichtum, den er jetzt in seiner Entwürdigung begehrt. Rabaut und Hegel erarbeiten eine Dialektik der 'Entwürdigung, der sie enorme historische Bedeutung beimessen. Diese Überschätzung ergibt sich aus der grundlegenden Rolle, die sie der Ebre im Leben der alten Monarchie zuschreiben. Die Monarchie gründet sich auf die Ehre; Montesquieu hat sie dieses Prinzip gelehrt, und sie denken nicht daran, es in Zweifel zu ziehen. Wenn die Monarchie zusammenbricht, ist also die Ehre zugrunde gegangen. Sowohl Rabaut als auch Hegel glauben offenbar, daß Standesadel und Seelenadel ursprünglich vereint waren. Die Institution Adel verliert dann 3« Rabaut, a. a. 0., S.10. 116

ihren Sinn, wenn der Selenadel verschwunden ist. Nur das, was edelmütig war, kann entwürdigt werden. Rabaut und Hegel schildern das Sterben der Ehre, ein qualvolles Sterben, weil das Opfer nicht sogleich aufgibt. Der Stolz der Granden hätte sie zum Aufruhr gegen eine immer tyrannischer werdende Monarchie gebracht, doch ihre Entwürdigung legt sie in Ketten. Ihr von der Ehre genährter Adel erhob sie einst auf die Höhe des allgemeinen Wohls, aber der Herrscher hat den Adel von der Ehre getrennt, indem er ihm Ehren zukommen ließ, und er hat den Adel selbst zu etwas Käuflichem gemacht. So sagt es Hyppolite als Hegel-Interpret: „Der Adel, der seine Ehre veräußerte, erhielt als Entgelt Pensionen und materielle Vorteile" 315 . Rabaut hatte Ludwig XIV. am Werk gezeigt: „Er hat den Sturz des Adels vorbereitet, indem er ihn von seinen Schlössern holte, um ihn mit Litzen, Bändern und Tabourets zu amüsieren und zu entwürdigen; und als dieser Ehrentitel erst einmal käuflich geworden war und als man mit dem Geld erlaucht wurde, war die Meinung gebildet, und der Adel wurde in ganz Europa so beurteilt wie bei uns." 316 Der entwürdigte Höfling macht nunmehr das Geld zum einzigen Lebensinteresse. Immer mehr wird er zum Sklaven dessen, der den Reichtum besitzt und austeilt — zunächst des Königs, dann des Königs der Bourgeois, dann des Bourgeois als Königsmacher. Zu Beginn dieser Entwicklung beherrscht der despotische König alles. Vom Minister bis zum letzten Behördenagenten „war alles eine einzige Unterdrückungskette", schreibt Rabaut. Er erwähnt die „zehntausend goldbedeckten, titulierten Sklaven", die sich dem leisesten Wunsch ihres Herrn unterwerfen, und fügt hinzu: „Der Thron wurde von einem Haufen habgieriger Männer und eigennütziger Frauen belagert, an den unter verschiedenen Vorwänden der Staatsschatz verschwendet wurde." 317 Hyppolite,,, Études sur M arx et sur Hegel", S. 59f. 316 Rabaut, a. a. O., S . U . Hegel ist dieser Sichtweise stets treu geblieben. In seinen Papieren wurde folgende, in Berlin verfaßte Notiz gefunden: „Vis-à-vis vom Adel sind die Höfe magnifie [!] gewesen, haben den Adel um sich versammelt und ihn ruiniert. Nun vis-à-vis vom Reichtum — der Banquiers — sind die Höfe — Fürsten in Kleidung u.s.f. — einfach geworden, weil der Reichtum Kleidung, Schmuck der Frauen, Wohnung, Fêten ihnen gleich machen kann. Demselben Reichtum gegenüber können die Hofe steif, voll Etikette ein. Diese wird verlacht, und die Hofschranzen werden als Knechte, als Zierate angesehen, qui s'avilissent en y mettant un prix [. . . die sich entwürdigen und dafür einen Preis ansetzen. — D. Üb.]." (Hegel, „Berliner Schriften", Hamburg 1956, S. 704) 317 Rabaut, a. a. O., S. 6.

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Er verurteilt die Einflußnahme des Monarchen auf das Leben des Landes, auf seine Wirtschaft, seine militärischen Unternehmungen, seine Sitten: „Die moralische Knechtschaft, diese Art von Nichtigkeit abhängig und unfrei gemachter Seelen, kettete alle Denkweisen an eine Denkart, alle Willen an einen Willen. Auch die Meinung hatte ihren Despotismus, und dessen Thronsitz war bei Hofe." 318 Er zeigt, daß auf Grund der Entwürdigung des Adels „der Wille der Könige oberstes Gesetz war. Nun war die Monarchie entartet; sie war bei uns das, was die Griechen Tyrannei nannten, die Willkürherrschaft eines Einzigen."319 Wie man sieht, ist die wahre Monarchie für ihn die Feudalmonarchie, die, die auf der Ehre beruht. Der Despotismus Ludwigs XIV. zerstört dagegen das Ehrgefühl. Hegel selbst präzisiert dann in der „Philosophie des Brechts" diese Unterscheidung: „Daß Montesquieu die Ehre als das Princip der Monarchie erkennt, daraus ergiebt sich für sich schon, daß er . . . die Feudal-Monarchie... versteht."320 In dem Text aus der „Phänomenologie" spricht Hegel in Hinblick auf Ludwig XIV. weder von Despotismus noch von Tyrannei, sondern nur von absoluter oder unumschränkter Monarchie. Wir haben bereits gezeigt, daß bei ihm jedoch die Gleichsetzung von Despotismus und SteuerpächterRegime vorkommt. Der Staat Ludwigs XIV. entspricht durchaus jenem System, in dem gilt: „Einer ist frei": das heißt, der Definition des Despotismus selbst, wie er sie später geben wird. Doch vielleicht unterscheidet er 1806 noch nicht sehr deutlich zwischen Monarchie und Despotismus, weil er zu dieser Zeit die historische Rechtfertigung der konstitutionellen Monarchie als seiner Epoche gemäßes Regime noch nicht fest ins Auge faßt. Die Höflinge begründen selbst den Despotismus, indem sie dem König schmeicheln. Rabaut erwähnte die Rolle der Schmeichelei. Hegel analysiert sie ausführlich und räumt ihr einen außerordentlichen Einfluß ein. „Einer ist frei", der Monarch „ist der Staat", weil die Höflinge unaufhörlich wiederholen, daß es so ist. Im Prozeß der Gleichsetzung Ludwigs XIV. oder Ludwigs XV. mit dem Staat läßt Hegel die Sprache entscheidend wirksam werden; ganz besondere Bedeutung gibt er auch dem Namen des Königs, dessen Einzigartigkeit die Vereinsamung seines Trägers herbeiführt: 3« Ebenda, S. 14. 3» Ebenda, S. Ii. 3» Hegel, „Philosophiedes Rechts", a. a. O., § 273. 118

„Durch ihn also wird der Monarch schlechthin von Allen abgesondert, ausgenommen und einsam; in ihm ist er das Atom, das von seinem Wesen nichts mitteilen kann und nicht seinesgleichen hat." 3 2 1 An eine derartige Rolle der Sprache und des Namens scheint Rabaut nicht gedacht zu haben; er erwähnt jedoch ebenfalls, obwohl er sie aus anderen Ursachen hervorgehen läßt, „die enorme Distanz, in der er (der König) sich von seinem Volk hielt" 32 ?.

Die lautlose Revolution Im Verfallsprozeß des Feudalismus entsteht die absolute Monarchie, aber dieser Verfall treibt auch die Monarchie in den Tod. Die absolute Monarchie erniedrigt den Adel, der dem Absolutismus hinderlich war, zugleich aber entwürdigt sie die Ehre, die Stütze der Monarchie. Hegel stellt dieses Schicksal dar. Die Adligen sehen sich aus den Staatsangelegenheiten ausgeschaltet — folglich versinken sie in ihrer egoistischen Singularität. Man nimmt ihnen die Ehre — sie ersetzen sie durch die Habsucht. Man fragt nicht mehr nach ihrem Rat — nun ergreifen sie nur noch das Wort, um zu schmeicheln. Sie „belagern den Thron", wie Rabaut sagt, um Pfründen zu erbitten. Sie „stellen sich um den Thron", wie Hegel sagt, um eine Art Zierat zu bilden und dem König zu sagen, daß er König ist, um ihm immer wieder seinen Namen zu sagen. Und wenn sich dieser Prozeß vollendet, dann stützt sich der Staat nicht mehr auf die Ehre der Adligen, sondern auf den Reichtum: das Geld ersetzt die Ehre, das Niederträchtige tritt an die Stelle des Edelmütigen, und der Monarch selbst, der an diesen Veränderungen so viel Gewinn zu haben glaubte, ist nur noch ein Name, ein leerer Name. 323 Ein politisches Zunichtewerden ist eingetreten. Alles, was das Wesen der alten Monarchie ausmachte, seine lebendige Realität, dies alles hat nur noch eine Scheinexistenz, die trügerische Bewegung eines seelenlosen Mechanismus': die politische Nullität. Rabaut zeigt, daß das Geld die Ehre getötet und so das ganze politische Gebäude, das sich auf sie gründete, gründlich umgestaltet hat: „ . . .diese niedrige Spekulation verdarb den Charakter eines Volkes, bei dem alles zum Verkauf stand, einschließlich der Ehre, da ja der Adel käuflich war" 3 2 4 . Die Konsequenz dieser Veränderung tritt tragisch zutage: „So schritt eines der größten Reiche 321 322 323 324

Hegel, „Phänomenologiedes Geistes", a. a. O., S. 365. „Rabaut, a. a. O., S. 12; „Bemerkungen . . .", a. a. O., S. 551. Hegel, „Phänomenologiedes Geistes", a. a. O., S. 365f. Rabaut, a. a. 0., S.32.

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Europas seinem Verfall entgegen. Der Nationalcharakter war ausgelöscht." 325 Für Rabauts „ Histoire de la dévolution" wie für Hegels „ Phänomenologie" oder für seine Vorlesungen" ereignet sich die Französische Revolution also nicht wie ein Unglück oder wie eine unvorhergesehene Katastrophe, wie das willkürliche Werk von Intentionen, die je nachdem, ob man diese Umwälzung billigt oder mißbilligt, edelmütig oder teuflisch scheinen. Gewiß ergreifen Rabaut und Hegel Partei: Sie stellen sich an die Seite der Philosophen, ins Lager der Revolutionäre. Aber die Rechtfertigung der Philosophen und der Revolutionäre beruht weniger auf ihrem Gerechtigkeitssinn als auf ihrem historischen Sinn. Ihr Verdienst besteht vor allem darin, daß sie ihre Zeit begriffen haben. Sie haben mehr das Prinzip der sich vollziehenden Bewegung erfaßt, als daß sie sie hervorgerufen haben. Rabaut unterschätzt nicht die Wirksamkeit ihrer Aktion. Doch er unterscheidet zwischen den anlaßgebundenen Einzelursachen der Revolution und ihren tieferen Ursachen. „Die Nachwelt" — so schreibt er — „kann nur über die verborgenen Ursachen unterrichtet werden, denen die Einzelergebnisse, die den Verlauf der Revolution ausfüllten und ihn beschleunigten, zuzuschreiben sind: doch die allgemeinen Ursachen datieren von weiter her. Sie war vom Gang der menschlichen Dinge vorbereitet worden."3213 Wenn die Revolution in der Tat einen bestimmten Gang der Dinge unterbricht, so stellt sie doch, unter einem anderen Aspekt betrachtet, dessen Ergebnis, dessen notwendiges Resultat dar. Die ganze Vergangenheit führte zu ihr hin. Ein bemerkenswerter Gedanke! Für Rabaut und für Hegel hatte sich die wesentliche, wenn auch unsichtbare Veränderung vor der revolutionären Explosion ereignet. Das Oberflächengeschehen ist von einer Tiefenpolitik abhängig. Vorläufer und Wegbereiter der großen historischen Umwälzungen ist immer eine lange „lautlose Revolution" 327 . Die Basis trägt den Überbau mit seinen Aspe kten. Gewiß machen sich Rabaut und Hegel eine ganz andere Konzeption von dieser Basis als Marx. Die Dialektik der Entwürdigung, das Spiel der Schmeichelei, die Umkehrung des edelmütigen Bewußtseins, dies alles würde von Marx vielleicht dem Überbau selbst zugerechnet, oder er würde darin auch einige dieser „phantastischen Reflexe" sehen, die das Wirkliche zuweilen in die Geister projiziert. Die 5-3

Ebenda, S. 14; „Bemerkungen , . .", a. a. O., S. 553.

S26

Rabaut, a. a. O., S. 2 . J. Hyppolite, „Études sur Marx et sur Hegel", S. 55.

327

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ganze Entwicklung, die Rabaut und Hegel darstellen, ist noch im wesentlichen geistiger Natur, betrifft „den Geist der französischen Nation". Was bleibt, ist, daß unsere beiden Autoren, wenn sie dabei auch ganz anders konzipieren als Marx, nichtsdestoweniger an ein Verhältnis von — zunächst verborgener — Basis zu — zunächst augenfälligem — Überbau denken. Zum anderen ist der bestimmende Platz, den hier der Reichtum, das Geld innehaben, nicht wegzuleugnen. Einst dachte jedermann nur an den Staat, sah er in der „Stärke und Ehre des Staats", wie es bei Rabaut heißt, das Wesen seiner selbst. Jetzt aber wendet jedermann diesem Anziehungspol, der Stärke des Staats (die Staatsmacht, sagt Hegel), den Rücken und verlegt das Wesen seiner selbst in den Reichtum. So bewirkt das Geld die Zersetzung des alten Frankreichs. Rabaut und Hegel betonen jedoch vor allem die entiviirdigende Rolle des Geldes, und so löst sich die Dialektik, die sie analysieren, nicht entschieden vom Bereich des Geistes. Aber was für eine schöne Dialektik! Wie die aufeinanderfolgenden Momente dort jeweils Umkehrungen bringen — und damit auch die anerkannten Ideen umkehren. Wann hat also das Sterben der absoluten Monarchie begonnen? Manche Historiker würden das Datum dieses Absterbens vielleicht dem Zeitpunkt des Finanzbankrotts zuordnen oder der Entlassung Neckers, oder der Einberufung der Generalstände, oder dem Sturz der Bastille, oder der Proklamierung der Republik, usw. Doch Rabaut und Hegel fixieren einmütig ein ganz anderes Datum: Die absolute Monarchie hat sich selbst zum Tode verurteilt, als sie sich entschloß, zur Welt zu kommen! Der Zerstörer der Monarchie ist Ludwig XIV.! In ihrer augenscheinlichen Blüte erzeugte und nährte die Monarchie ihren eigenen Totengräber. Als die Ehre zu Spott geworden war, da hat der Reichtum die reale Macht übernommen, lange bevor er deren politisches Äußeres eroberte. Uberall konnte Ludwig XIV. seinen Namen verkünden lassen: der war leer geworden, just als er einzig geworden war. Er konnte sagen: „Der Staat bin ich!" Im selben Augenblick hörten König, Regierung, Nation auf, etwas zu sein. Rabaut gibt die Skizze, Hegel die peinlich sorgfältige, detaillierte Ausführung des Bildes der Widersprüche, die sich im entstehenden Absolutismus einnisteten und ihn schließlich, indem sie sich entfalteten, von innen her zugrunde richteten. Hegel zeigt, wie Hyppolite sagt, daß „die Staatsmacht dadurch, daß sie sich in einem absoluten Monarchen realisierte, ihren Allgemeinheitscharakter verloren hat; sie ist selbst nur noch Schein" 328. Die siegreiche Monarchie verliert sofort die Kraft, die sie durch 328 Ebenda, S. 61. 121

ihren Sieg gewonnen hatte. Jeder Macht, die sich erhöht, kann so untrüglich vorausgesagt werden, daß sie zu Fall kommen wird. Doch wenn sie auch die in ihrem Triumph umkommende Monarchie zeigen, so haben Rabaut und Hegel es doch nicht versäumt, die lange Vorbereitung dieses todbringenden Erfolgs darzustellen. Ludwig XIV. hat dem Absolutismus dadurch den Todesstoß versetzt, daß er ihn errichtete; vor ihm hatten andere, indem sie zur Errichtung beitrugen, den Verfall vorbereitet. Richeliau und Mazarin haben die Geburt des Todgeweihten bewirkt. Sie wären fast als die wahren Verantwortlichen der Französischen Revolution anzusehen! „Die Geschichte der Revolution schreiben heißt jenen allmählichen Weg der Geister zum politischen Nichts zeigen", behauptet Rabaut. Richelieu aber hat das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Ein sichtlich von Rabaut inspirierter Autor zögert dann auch nicht, diese Beschuldigung zu präzisieren und sie auszusprechen. In seiner Einleitung zu François de Bonnevilles „Portraits des personnages célèbres de la dévolution" (Porträts berühmter Persönlichkeiten der Revolution) 329 schreibt Quénard: „Hat uns die erschreckende Schnelligkeit des Untergangs in eben die Epoche hineingestellt, in der Richelieu, mehr mit den Revolutionen, denen er ein Ende zu bereiten hatte, als mit jenen befaßt, die er künftig zu gewärtigen hatte, die Grundlagen der unseren legte, indem er der Feudalherrschaft den ersten Schlag versetzte, um den noch schwankenden Thron Ludwigs XIII. zu befestigen?" Geschichte schreiben heißt einen allmählichen, von aufsehenerregenden Unstetigkeiten unterbrochenen Weg zeigen. Jedes politische Ereignis, dem Anschein nach unvorhersehbar und unvorhergesehen, ergibt sich aus der Verkettung aller jener, die ihm vorausgegangen sind. Untersucht man Vergangenheit und Struktur der Institutionen, so entdeckt man die Ursachen ihres Niedergangs, ihres Versteinerns, ihres Todes. Es gibt eine tiefere Notwendigkeit der Geschichte, und Rabaut zeigt, daß man sie eben tatsächlich in den Untergründen suchen muß. Hegel wird über das Beispiel, das ihm der französische Schriftsteller bietet, hinausgehen, dabei aber in derselben Richtung vorgehen. Unter den Ursachen des Auftretens einer absoluten Monarchie in Frankreich hatte Rabaut eine andere wichtige Ereignisreihe genannt. Sie betrifft eine Institution, über die auch Hegel viel nachgedacht hat: das stehende Heer. Zu diesem Thema schreibt Rabaut: 329 Erschienen beim Cercle social, Paris 1796. Siehe S. 40 dieser Arbeit,

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„Seit die Könige Europas, nach dem Beispiel der asiatischen, Truppen zur Verfügung hatten, waren sie Herren über Gut und Leben der Menschen, die ihnen untenan wurden. Diese Institution, die von den Königen erdacht wurde, um die übermäßige Macht der Seigneurs zu schwächen und sich von ihren Diensten, die sie sich allzu teuer bezahlen ließen, unabhängig zu machen, bezeichnet die Epoche des Despotismus* in Europa." 330 Hegel begrüßt das Aufkommen der stehenden Heere voller Freude, „denn sie geben der Monarchie eine unabhängige Macht, und sind ebenso nöthig zur Befestigung des Mittelpunkts gegen die Aufstände der unterworfenen Individuen, als sie nach außen hin den Staat vertheidigen" 331. Sie haben zum Verfall des Adels beigetragen: „In Frankreich z. B. wurden die großen Barone, welche Gouverneurs von Provinzen waren, die solche Stellen als Rechte ansprechen konnten, und gleichwie die türkischen Paschas aus den Mitteln derselben Truppen hielten, welche sie jeden Augenblick gegen den König auftreten lassen konnten, herabgesetzt zu Güterbesitzern, zu Hofadel, und jene Paschaschaften wurden zu Stellen, welche nun als Aemter ertheilt wurden; oder der Adel wurde zu Offizieren, Generalen der Armee und zwar der Armee des Staates verwendet." 332 Hegel billigt die Schaffung eines stehenden Heeres mehr als Rabaut, so wie er sich dem Wirken Richelieus und allgemein allem, was zur Festigung des Staates beiträgt, gewogener zeigt. Aber mehr als diese Nuancen in der Wertschätzung interessiert uns hier die Art, in der die Fakten begriffen und ihre Konsequenzen ins Auge gefaßt werden. Die Schaffung eines stehenden Heeres sollte die feudale Anarchie unterdrücken, hat aber tatsächlich zur Errichtung einer absoluten Monarchie, eines Despotismus geführt. Wenn Hegel oft der Denkweise Rabauts folgt, dann jedoch in aller Geistesfreiheit. Er berichtigt bestimmte Ansichten des französischen Historikers, er gibt ihnen bisweilen Weiterentwicklungen oder Ergänzungen, für die sich bei Rabaut nicht die geringste Andeutung fand: so beispielsweise die Bestimmung der Rolle der Sprache bei der Begründung der absoluten Monarchie, so der Einfluß, der dem Namen des Königs zu330 Rabaut, a. a. 0., S. 7. 331 Hegel, „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", Ausgabe Glockner, S. 537. M2 Ebenda. 123

geschrieben wird. Ganz abgesehen von allem, was ihm zur Verknüpfung der historischen Ereignisse mit dem phänomenologischen Prozeß des Bewußtseins dient, dessen Beschreibung Gegenstand seines Buches ist. Zu den bemerkenswerten Eigenarten der Behandlung, die Hegel den Rabautschen Konzeptionen in der „Phänomenologie" widerfahren läßt, gehört deren innige Verbindung mit den Auffassungen Diderots, der ausnahmsweise ausdrücklich genannt wird. Diderot inspiriert die Kapitel der „Phänomenologie", die auf die eben von uns erwähnten folgen. Die Entwicklungen über die Sprache der Zerrissenheit und über die 'Eitelkeit der Bildung schulden dem „Neveu de Kameau" (Rameaus Neffe) viel. 333 Ohne weiteres konnte Hegel eine Familienähnlichkeit zwischen den „niederträchtig stolzen, dünkelhaft verdorbenen Menschen" Rabauts und der berühmten Diderot-Gestalt wahrnehmen. Sie leben alle in einer Welt, in der „alles zum Verkauf steht", jedoch zu zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten der Versteigerung der Ehre. Muß womöglich ein Einfluß Diderots auf Rabaut selbst angenommen werden? Hegel hat die Geistesverwandtschaft der beiden französischen Schriftsteller erfaßt, die gleiche Neigung zur Dialektik, die gewisse Faszinierung, die das Schauspiel des Kampfes zwischen Entwürdigung und Stolz bei ihnen hervorrief. Verderhen und

Schöpfung

Wir können uns jetzt fragen, warum Hegel in seinen Berliner Vorlesungen das Beispiel der „alten Reichsstädte" wählt, wenn er geistverlassene Institutionen beschreiben will; warum er an Sokrates denkt, wenn er das Verderben der substantiellen Realität einer Nation durch die intellektuelle Kritik erläutert; warum er lieber das alte Griechenland heraufbeschwört, wenn er uns den Verfallsprozeß einer politischen und kulturellen Welc faßlich machen will — obwohl ihm die jüngste Geschichte Frankreichs ein weit lebendigeres, weit näher liegendes Bild von alledem bot, ein Bild das er überdies einst in der „ Phänomenologie" selbst gezeichnet hatte und das er erneut in seiner ganzen Schärfe ins Licht rücken wird, wenn ihn der Gang der Weltgeschichte erst zur Französischen Revolution selbst geführt hat. Ehe wir diese Frage zu beantworten suchen, sei zunächst bemerkt, daß diese Verfahrensweise Hegels Doktrin beleuchtet. Die Substitution historischer Beispiele zeigt zur Genüge, daß es sich um einen sehr allgemeinen Prozeß handelt: alle Verfallsvorgänge geschehen nach einem und demselben Gesetz, das alte Griechenland geht ebenso unter, wie die franzö333

Hegel, „Phänomenologiedes

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Geistes", a. a. O. S. 369—376.

sische Monarchie zu Tode kommt. Der Geist verläßt allmählich die Institutionen, die er beseelt hatte, und wenn sie völlig den Kopf verloren haben, beginnen die Menschen gewahr zu werden, daß sie da sind. Vorher lebten sie in ihnen, waren eins mit ihnen, waren von ihrer Schönheit entzückt. Doch die Schönheit muß zugrunde gehen, damit die Wahrheit zutage tritt. Die Menschen lösen sich nun von den Institutionen, kommen mit dem Intellekt wieder auf sie zu, kritisieren und bewerten sie. Bei jedem Verfall stirbt eine Kontemplation, erhebt sich eine Kritik. Der Tod der Kunst beginnt am Ende einer jeden wichtigen Geschichtsperiode wieder von neuem. Bereits Rabaut hatte gesagt: „In der Fortbewegung des Menschengeistes folgt das Jahrhundert der Philosophie notwendig dem der schönen Künste." Die „untersuchende Vernunft" zerstört unbarmherzig die Überreste eines großen Jahrhunderts, obwohl sie da selbst Gestalt angenommen hatte. Rabaut zeigte, wie wir sahen, sehr gut, daß sich die Wissenschaften in Frankreich im Augenblick des Niedergangs eines Gesellschaftssystems entwickelten und daß sie eine negative, zerstörende Richtung nahmen. Die Wissenschaften, das heißt hier, wie es sich aus dem Kontext ergibt, die Politische Ökonomie (die Physiokraten!) und die Philosophie (Montesquieu, Rousseau, Voltaire, Raynal!). Mit einem Einzelfall begnügt sich Hegel nicht. Er stellt das allgemeine Gesetz auf: „So sind Wissenschaften und das Verderben, der Untergang eines Volkes immer miteinander verpaart." Aber Vorsicht! Für ihn handelt es sich ebensowenig wie für Rabaut um die Naturwissenschaften. Hegel meint die Wissenschaft vo m Menschen, das Wissen des Menschen von sich selbst, das Sich-Bewußtwerden des Menschen über das, was er geworden ist, und seine Situation in der Welt, in der er lebt. Das ist nicht zu bezweifeln, denn Hegel nennt Sokrates als beispielhafte Verkörperung dieses Erwachens der Wissenschaft im Verderben des Volksgeistes. Hegels Denkweise bleibt hier jedoch recht unentschlossen; das muß zugegeben werden. Eben hat er die intellektuelle Kritik aus dem vorausgegangenen Verderben des Volkes hervortreten sehen 334 ; doch gleich darauf stellt er das kritische (hier sokratische) Denken an den Ursprung dieses Verderbens selbst: „Sobald nun die Reflexion eintrat.. ., da entstand das Verderben." 335 Gewiß fördern Reflexion und Verderben einander. Wichtig ist für Hegel, daß sie „immer miteinander verpaart" 336 sind. In seinem „Almanacb" hatte Rabaut ein außerordentlich lebendiges Beispiel dieser Verpaarung geboten: die Vorgeschichte der Französischen Revolution. 334 335

Hege), „Die Vernunft in der Geschichte", S.71. 336 Ebenda. Ebenda

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Es gab jedoch mehrere Gründe, die Hegel dazu bewegen konnten, dieses Beispiel nicht zu verwenden, als er den Verfall von Völkern allgemein behandelte. Zunächst taktische Gründe. Wenn Hegel den Prozeß des Verderbens eines Volksgeistes analysiert, zeigt er, wie dieses Verderben jedesmal eine Schöpfung ermöglicht. Aus der Trennung, der Reflexion, dem Versteinern entspringen eine neue Einheit, eine andere Substantialität, ein neues, höheres und reicheres Leben. Der Geist stirbt nicht. Er schlüpft aus einer abgenutzten Haut und existiert weiter, schmückt sich mit einer schöneren Hülle, kommt in den Genuß einer höheren Rangstufe der Freiheit. Ein Volk geht unter, der Geist aber wird in einem anderen Volk, das ihn nun nähren wird, erhöht. „Hiemit hat sich die substantielle Bestimmtheit dieses Volksgeistes geändert, d. i. sein Prinzip ist in ein anderes, und zwar höheres Prinzip aufgegangen." 337 Man muß wohl zugeben, daß Hegel nicht ungefährdet in seinen Berliner Vorlesungen, mitten in der europäischen Restaurationsperiode, hätte deklarieren können, daß der Verfall des Feudalismus und das Zugrundegehen der Monarchie 1789 ein höheres Prinzip hervorgebracht hatten, das Prinzip, das die Französische Revolution in seine sämtlichen Rechte einsetzte. Die Klugheit gebot ihm, sich vielmehr an die griechische Polis, die sokratische Kritik, die alten Reichsstädte zu halten. Doch außer dieser taktischen Vorsicht gibt es einen weiteren Beweggrund, der Hegels Haltung erklärt. In der „Phänomenologie" führt das Verderben des französischen Feudalismus zu einer höheren Etappe der Gesellschaftsentwicklung, die durch die Französische Revolution veranschaulicht wird. Im Einklang mit Rabaut betrachtet Hegel die Herrschaft Ludwigs XIV. nicht als geschichtlichen Höhepunkt, sondern vielmehr als Tiefpunkt: das Ende des Feudalismus, der seinerseits eine charakteristische Etappe darstellte. Die französische absolute Monarchie hält Hegel offenbar nicht für eine der großen,historischen Stationen. Hyppolite legt dar, was Hegel vor allem in ihr sieht: „Mit der Herrschaft des .Sonnenkönigs' haben die Feudalinstitutionen den Geist verloren, der sie beseelt hatte. Sie bestehen nur noch als Zierat, als Gesamtheit von Privilegien, die um so unerträglicher sind, als die dem Staatsorganismus nicht mehr entsprechen."338 337 Ebenda, S. 72. J. Hyppolite, „Études sur Marx et sur Hegel", S. 59.

338

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Der Übergang des Geistes erfolgt also wesentlich vom Feudalismus, der in der absoluten Monarchie zugrunde geht, zur bürgerlichen Gesellschaft, die in der Revolution den Sieg davonträgt. Diese ist das Ende einer Menschenwelt, aber auch der Beginn einer anderen, und als Hegel die Phänomenologie" schreibt, lebt diese andere Welt mit aller Kraft, Napoleon ist nun ihr Symbol und ihr Führer, ein neuer Geist will den Planeten erobern. So hat bei dieser Ansicht vom Werden der französischen Nation dasselbe Volk den Nutzen aus dem Verfall seiner früheren Institutionen. Die ungewöhnlich starke Präsenz Frankreichs in der „'Phänomenologie" ist oft hervorgehoben worden. Diese eine Nation verkörpert hier in der Neuzeit fast alle Gestalten der Geschichte, die Erfolge ebenso wie die Niederlagen des Geistes. Wenn man zwischen den Zeilen einen Namen lesen kann, gehört er fast immer einer großen französischen historischen Persönlichkeit: Karl der Große, Richelieu, Ludwig XIV., Robespierre, Napoleon! 1830 stellen sich die Dinge im Rückblick anders dar. Hegel nimmt eine Neueinteilung der Geschichtsperioden vor. Er glaubt nicht mehr, daß dasselbe Volk mehrere aufeinanderfolgende Etappen der Zivilisationsentwicklung verkörpern kann, daß eine Nation nacheinander das Sein mehrerer Nationen haben kann. Jetzt ist er der Ansicht, daß ein Volk in der Weltgeschichte „nur Einmal Epoche machen" kann. 339 Die Frucht, die ein Volk zur Reife bringt, wird, wie er sagt, „wieder Samen, aber Samen eines anderen Volkes, um dieses zur Reife zu bringen" 340 . Unter diesem Aspekt wirft die Französische Revolution von 1789 jetzt für ihn schwierige Probleme auf. Wenn sie den typischen Abschluß eines nationalen Verfalls darstellen soll, müßte sie mit der Übertragung der geistigen Souveränität an eine andere Nation einhergehen. Doch am Schluß seiner „Philosophie der Geschichte" schreibt Hegel diese Souveränität keinem Land zu. Die Revolution von 1789 spielt in bezug auf Frankreich nicht mehr die Rolle einer Weihe, auch nicht mehr die Rolle eines Abdankens. Sie wird zum bloßen Übergang, zum politischen Unternehmen. Diese Schwierigkeit und diese Umstellungen können nicht verhindern, daß Hegel gegen Ende seines Lebens seine ganze Wertschätzung für Rabauts Werk bewahrt und sich weiter von ihm inspirieren läßt. Daraus entnimmt er Schemata zur Erklärung. Doch überdies greift er das methodologische Verfahren, das dort als Richtschnur diente, wieder auf. Rabaut deutete die gesamte Vergangenheit Frankreichs, indem er sie auf die 338 340

Hegel, „Philosophiedes Rechts", a. a. O., § 347. Hegel, „DieVermnft in der Geschichte", S. 72.

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Gegenwart bezog. Die historischen Entwicklungen und Umstürze verfolgte er gleichsam gegen den Strich, von ihrem Ergebnis ausgehend. Er klärte das Frühere durch das Spätere, das Niedrigere durch das Höhere, und zwar im Licht der Französischen Revolution, deren Wechselfälle er erlebte. Für ihn war die Geschichte nicht Quelle von „Reflexionen", die der Geschichtsentwicklung selbst äußerlich sind, jener äußerlichen Reflexionen, die Hegel bei Johann von Müller so energisch tadelt341. Nein! Im Gegenteil, Rabaut ließ die historischen Lehren aus dem Inneren der Entwicklung selbst entspringen. Hegel dachte zweifellos u. a. an ihn, als er die deutschen Historiker kritisierte und ihnen die Franzosen entgegenhielt: Sie „bilden sich geistreich eine Gegenwart und beziehen die Vergangenheit auf den gegenwärtigen Zustand" 342.

Das Sein und das Nichts Rabaut begnügte sich nicht damit, die Vergangenheit in Erinnerung zu rufen und sie auf den gegenwärtigen Zustand zu beziehen. Die verschiedenen aufeinanderfolgenden Gestalten der Geschichte koppelte er nicht aneinander wie auf einer Schnur, deren Ende er in der Hand gehabt hätte. Er interessierte sich mehr für den Übergang, für die Passage von einer Gestalt zur anderen. Er zeigte das Entstehen einer jeden im Sterben der anderen — und das Sterben selbst war das Entstehen, das Sein traf sich hier wieder mit dem Nichts. Diese Verfahrensweise mußte Hegel frappieren, sei es, daß er sie sich bereits zu eigen gemacht hatte, oder sei es, daß sie ihm hier offenbart wurde. Sie gründete sich auf die Anerkennung des Widerspruchs in der Existenz, eine Idee, die uns gerade durch Hegels Lehre vertraut gemacht wurde. Gewiß formulierte Rabaut kein allgemeines, auf alle Formen des Realen anwendbares Gesetz des dialektischen Denkens. Aber dafür gab er Beispiele aus der jüngsten Geschichte. So mußte er solchen Lesern wie Hegel gefallen. Doch gleichzeitig erregte er damit den Unwillen anderer Leute, und was sie ihm vorwarfen, ist gerade das, was Hegel bewunderte. Der Historiker Johann von Müller offenbart seinem Freund Bonstetten, was er an Rabauts Art für unzulässig hält. Er schreibt ihm in französischer Sprache mit einer Interpunktion nach deutscher Art, die die logischen Gegensätze betont : „Lisez Démosthène, voyez le secrétaire de Florence ; le manière du Ebenda, S. 19. 342 Ebenda, S. 20.

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premier est-elle dans le genre de Rabaud (sic! — D. Verf.), avec ses distinctions, ses argumentations, pour prouver, que ce qu'on possède depuis mille ans, on ne le possède pas, que ce qui est, peut ne pas etre, qu'il peut y avoir un veto, qui n'empêche rien etc., etc." 343 „Daß das, was ist, womöglich nicht ist", das hat Rabaut in der Tat gezeigt, als er die Zersetzung des Feudalismus und der französischen Monarchie beschrieb. Ist das nicht gerade das Wesen der Dialektik? Hegel wird sie, wie wir sahen, mit denselben Beispielen veranschaulichen. Als Engels dann weit später den berühmten Hegel-Satz „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich" kommentiert, verwendet er wiederum die Geschichte des Sturzes der französischen Monarchie, um den revolutionären Gehalt der Hegeischen Denkweise hervorzuheben. Er schreibt: „Nun ist aber die Wirklichkeit nach Hegel keineswegs ein Attribut, das einer gegebnen gesellschaftlichen oder politischen Sachlage unter allen Umständen und zu allen Zeiten zukommt. Im Gegenteil. Die römische Republik war wirklich, aber das sie verdrängende römische Kaiserreich auch. Die französische Monarchie war 1789 so unwirklich geworden, d. h. so aller Notwendigkeit beraubt, so unvernünftig, daß sie vernichtet werden mußte durch die große Revolution, von der Hegel stets mit der höchsten Begeisterung spricht. Hier war also die Monarchie das Unwirkliche, die Revolution das Wirkliche. Und so wird im Lauf der Entwicklung alles früher Wirkliche unwirklich, verliert seine Notwendigkeit, sein Existenzrecht, seine Vernünftigkeit; an die Stelle des absterbenden Wirklichen tritt eine neue, lebenfähige Wirklichkeit — friedlich, wenn das Alte verständig genug ist, ohne Sträuben mit 343

August 1791. Briefe an Bonstetten, in: J. von Müller, „Sämtliche Werkt", Band 14, S. 398. J. v. Müllers Äußerung lautet in deutscher Übertragung (nach dem Zitat übersetzt) : „Lesen Sie Demosthenes, betrachten Sie den Sekretär von Florenz ; ist doch die Art des ersteren v o m Schlage Rabauds, mit seinen Distinktionen, seinen Folgerungen zum Beweis dessen, daß man das, was man seit tausend Jahren besitzt, nicht besitzt, daß das, was ist, womöglich nicht ist, d a ß es ein Veto geben kann, das nichts verhindert, usw. usf." Diese Briefe waren 1802 von Friedrich Brun bei Cotta in Tübingen nach einer f r ü h e ren Teilveröffentlichung im „Teutleben Magazin" herausgegeben worden.Hegel hatte sie gelesen, er erwähnt sie in „Die Vernunft in ¿1er Geschichte", S. 19. Ihm waren also die Kritiken, die Rabauts „Methode" hervorgerufen hatte, nicht unbekannt, und es ist sehr bezeichnend, daß er sich hütet, darüber ein Wort zu verlieren oder den Namen Rubaut zu nennen!

9 D'Hondt, Hegel ach es Denken

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Tode abzugehn, gewaltsam, wenn es sich gegen diese Notwendigkeit sperrt."344 So ist also eine der großen Lehren der Französischen Revolution von Hegel formuliert und entwickelt, in den Marxismus übertragen worden. Aber Rabaut hatte sie bereits packend zum Ausdruck gebracht.

Ein gemäßigtes

Konventsmitglied

, Viele Ideen Rabauts hat Hegel übernommen und sie in seinen eigenen Gedankengang integriert, ohne sie zu entstellen oder ihnen Zwang anzutun. Empfand er Sympathie für diesen französischen Politiker, dies Mitglied der Loge Les Neuf Soeurs? Die „Minerva" hatte ihn unter den Deputierten des Konvents genannt, die „sich durch große Fähigkeiten auszeichneten: Vergniaud, Condorcet, Cambon, Rabaud (sie! — D. Verf.), Mercier und andre"345. Sie hatte ihn — zusammen mit Kersaint, Sillery, Louvet und Mercier — gepriesen, weil er nicht für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hatte.346 Sie meldete seine Proskription und die der anderen Girondisten.347 Rabauts Verurteilung, dann seine Hinrichtung wurden in ganz Europa bekannt. Er hatte sich besonders mit Oelsner angefreundet;348 dieser kann Hegel von ihm erzählt haben. Unter all den Gründen, die ihn der Wertschätzung der Deutschen empfahlen, sei hier hervorgehoben, daß er Protestant und sogar Pfarrer war, ein Nachfahre jener Protestanten aus den Cevennen, die in Deutschland wegen der ausgestandenen Verfolgungen so berühmt waren. Rabaut hatte die Biographie eines jener großen Verfolgten in seinem Buch „Triompbe de f intolerance, ou Anecdotes de la vie