Untersuchungen zu Miltons “Paradise lost”: Interpretation der beiden Schlussbücher 9783111381701, 9783111022949


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German Pages 274 [284] Year 1963

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INHALT
VORWORT
ERSTER TEIL. Paradise Lost als dichterisches Werk
ZWEITER TEIL. Interpretation des XI. und XII. Buches
Anhang
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Untersuchungen zu Miltons “Paradise lost”: Interpretation der beiden Schlussbücher
 9783111381701, 9783111022949

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MORITZ-SIEBECK, U N T E R S U C H U N G E N ZU MILTONS PARADISE LOST

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

BEGRÜNDET

VON

B E R N H A R D TEN BRINK U N D WILHELM

SCHERER

NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN V O N H E R M A N N

KUNISCH

12 (136)

BERTA MORITZ-SIEBECK U N T E R S U C H U N G E N ZU MILTONS PARADISE LOST INTERPRETATION

DER BEIDEN

SCHLUSSBÜCHER

WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN VORMALS G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRÜBNER — VEIT & COMP.

U N T E R S U C H U N G E N Z U MILTONS PARADISE LOST I N T E R P R E T A T I O N

D E R

B E I D E N

S C H L U S S B Ü C H E R

V O N

BERTA MORITZ-SIEBECK

m WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN V O R M A L S G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — K A R L J . TRÜBNER —

VEIT &



GEORG R E I M E R COMP.



Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Archiv Nr. 4 3 3 0 6 3 / 3 © Copyright 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabc, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

DEM A N D E N K E N

MEINES LEHRERS

FRIEDRICH BRIE

INHALT Vorwort

1 ERSTER TEIL

Paradise Lost als dichterisches Werk Über "The Verse" und das erste "Argument" Hauptthema und Handlungsthema

9 20

Komposition

32

Wiederholt gebrauchte epische Darstellungsformen

49

ZWEITER TEIL

Interpretation des XI. und XII. Buches Einleitung zu Buch XI und XII

73

Interpretation des XI. Buches

90

A. Die Vorgänge bis zum Beginn der Visionen (XI, 1—422) B. Die Visionen (XI, 423—901)

Interpretation des XII. Buches

91 107

157

A. Die Nimrod-Episode (XII, 1—104)

162

B. Der Geschichtsbericht von Abraham bis Christi Geburt (XI, 105—371) 169 C. Die Botschaft von der Erlösung (XII, 372—587)

196

D. Die Schluß-Szene (XII, 588—649)

238

Zusammenfassung und Ergebnisse

254

ANHANG

Verzeichnis der Abkürzungen Literaturverzeichnis Index

263 264 269

VORWORT Wenn die vorliegende Arbeit die zwei Schlußbücher von Miltons großem Epos in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt, so bedarf das einer Erklärung und Rechtfertigung. Die wiederholte Beschäftigung mit Paradise Lost hat die Vf. zu einer Reihe von Fragen an die beiden letzten Bücher geführt, sie aber auch ihre grundlegende Bedeutung für die Dichtung erkennen lassen. Für viele Einzelheiten findet sich bei den Kommentatoren und Kritikern keine, oder doch keine befriedigende Auskunft. Auch gibt es, so erstaunlich es klingen mag, in der umfangreichen Miltonliteratur nur zwei kürzere Studien, die sich ausschließlich und eingehend mit den beiden Schlußbüchern befassen. Es sind die Aufsätze von E. N. S. Thompson, "For 'Paradise Lost' XI and XII", PQ, 22 (1943) und von F. T. Prince, "On the Last Two Books of 'Paradise Lost'", E & S, NS 11 (1958). Diesen beiden Arbeiten verdankt die Vf. die Ermutigung, den Gedanken einer monographischen Behandlung der zwei Schlußbücher ernsthaft aufzugreifen, und ist ihnen für manche wichtige Anregung verpflichtet. Meist werden Buch XI und XII als mehr oder weniger geglückte Anhänge zu den vorausgegangenen zehn Büchern behandelt, obwohl ihre Bedeutung für den Gesamtplan des Paradise Lost gerade in letzter Zeit wiederholt anerkannt worden ist. Thompson hat seinen Vorstoß als eine Apologie aufgefaßt und die besonderen Gegebenheiten und die Eigenart der Bücher zum erstenmal nach vielen Seiten hin abgegrenzt und begründet. Er hat ihr Ansehen nicht retten und in einem kurzen Artikel doch auch nur Winke in der oder jener Richtung geben können. Prince hat auf verschiedene wichtige Züge hingewiesen, aber eine ins einzelne gehende Erörterung ist bei einer auf Abrundung der Ausführung zielenden bewußten Auswahl der Fragen nicht zu erwarten. Neben Thompson und Prince hat B. Rajan in 'Paradise Lost' and the Seventeenth Century Reader (London, 1947) noch am ehesten einen Beitrag zu einem neuen Verständnis der Schlußbücher geliefert, freilich im Rahmen seines Buches nicht ausführlich 1 . Obwohl auch Rajan keine sehr hohe Meinung von den Schlußbüchern hat, erklärt er: ". . . because I think there is something in the last two books which is very much worth explaining I 1

A u c h B. A . Wright, Milton's 'Paradise Lost' (London, 1962) kommt im Schlußkapitel zu einer positiven, weitgehend auf Prince aufbauenden Beurteilung der Bücher X I und X I I . Moritz-Siebeck,

Paradise Lost

i

2

Vorwort

must ask my readers to try to see them anew" (S. 80). Die Absicht seines kenntnisreichen und einsichtigen Buches ist die Rechtfertigung des Paradise Lost aus der dichterischen Freiheit, aus der Souveränität des Dichters, und dieser Ansatz, den Rajan gegenüber der wuchernden Hintergrundforschung für notwendig gehalten hat, ist im Grunde auch der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Seine Übersicht über die kritischen Urteile zu Buch XI und XII2 macht es deutlich, wie recht Rajan damit hat, die dichterische Eigengesetzlichkeit des Paradise Lost hervorzuheben. Daß er dabei auf diese Bücher micht im einzelnen eingehen kann und sie auch nur als eine gewaltige Anstrengung, nicht als eine gelungene Leistung Miltons wertet, kann uns in unserem Vorhaben, die Bücher zum Gegenstand einer eingehenden Studie zu machen, nur bestärken. Das Urteil über die Schlußbücher ist in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten immer ablehnender geworden. Von Hume und Addison noch gerühmt, von Johnson zwar nur flüchtig berührt, aber als sinnvolle Bauteile der Dichtung anerkannt 3 , werden sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit Gleichgültigkeit behandelt und, abgesehen von den genannten Ausnahmen, abschätzig beurteilt. Die Auffassung, daß Buch XI und XII "the least stimulating and significant of the twelve" seien, weist McColley aber für den Leser noch bis etwa 1750 energisch zurück 4 . Solange man der religiösen Thematik des Paradise Lost noch nahestand und ihr gewachsen war, ist keine Kritik an den Schlußbüchern laut geworden. Erst die Entfremdung gegenüber dem christlichen Thema hat zu abwertenden Beurteilungen geführt. Das Urteil von K. Muir ist kennzeichnend für die heute allgemein gegenüber den Schlußbüchern eingenommene Haltung: "The last two books are poetically on a much lower level, but they are essential to the scheme of the poem" 5 . 2 3

4 6

Rajan, ' Paradise Lost', S. 79. Rajan meint, Johnson habe die Bücher nicht der Beachtung w e r t erachtet; aber im Unterschied zu Addison bietet sich ihm bei der Anlage seiner Besprechung des Paradise Lost keine Gelegenheit f ü r eine ausdrückliche Stellungnahme zu ihnen; vgl. The Lives of the English Poets, " J o h n Milton". G . McColley, " 'Paradise L o s t ' " , HTR, 3 2 (1939), S. 228. K . Muir, John Milton (London, 1955), S. 160. Ähnlich urteilt C. S. Lewis, A Preface to 'Paradise Lost' (London, 1942), S. 1 2 5 : "Such an untransmuted lump of futurity Coming in a position so momentous f o r thestructuraleffect of thewhole, is unartistic". V g l . ferner H. J . C. Grierson, Milton and Wordsworth (London, 2 1950), S. 1 2 0 : "The least interesting part of the poem is doubtless the visions and narrative of the last books". Doch ist Grierson bereit, auch diesen Teilen insofern Interesse zuzubilligen, als sie Miltons persönliche religiöse Empfindungen lebhaft zum Ausdruck bringen. W e n n er außerdem die G r ü n d e f ü r das nachlassende Interesse der Schlußbücher sowie ihren v o n Lewis heftig kritisierten Pessimismus nicht bei Milton, sondern im protestantischen Christentum sucht, weicht er auch

3

Vorwort

Die Gründe dafür, warum sie auf einer anderen dichterischen Ebene liegen, und die Gründe für ihre eigentümlichen Schönheiten und Schwächen sind bisher noch nicht in dem Anliegen und Aufbau der Dichtung gesucht worden. Man gewinnt immer wieder den Eindruck, daß nicht nur das Interesse am Paradise Lost mit dem X. Buch erlischt, sondern daß die Schlußbücher bei einer Gesamtbeurteilung der Dichtung unberücksichtigt bleiben. Hier setzt Prince mit seiner Ansicht ein, ihre Eigenart erkläre sich vorwiegend daraus, daß Milton die erschöpfte Aufmerksamkeit des Lesers mit neuen Mitteln fesseln wollte. Zugegeben, daß die ersten zehn Bücher des Paradise Lost mühsam zu lesen sind; aber würde Milton jemals einer solchen Ermüdungserscheinung Rechnung zu tragen gewillt sein ? Er mutet unserer Aufmerksamkeit auch an anderen Stellen, insbesondere aber auch in den beiden Schlußbüchern, viel zu. Wenn wir die Berechtigung von Buch XI und XII nicht aus ihrem dichterischen Eigenwert und aus der Anlage des Paradise Lost erweisen können, muß es bei der alten Auffassung bleiben, daß sie nicht viel mehr als ein notwendiges Übel sind. Die vorliegende Arbeit sieht es nicht auf eine Apologie ab; sie ist mehr auf das Nachweisen als auf das Beweisen gerichtet. Aber sie möchte dadurch, daß sie in einer eingehenden Interpretation die Grundlage zu ihrer Beurteilung schaffen hilft, ein Fragezeichen hinter die fast allgemein gültige Auffassung der Schlußbücher setzen. Sie möchte einen Kommentar geben, um ihr Verständnis zu erleichtern, weil diese Voraussetzung bisher fehlt. Seiner Absicht nach ist der Kommentar zugleich ein Beitrag zur Erhellung des Gesamtcharakters der Dichtung, in dem seine Einzelergebnisse ihren gemeinsamen Nenner finden. Die auffallende Tatsache, daß die Miltonforschung die zwei Schlußbücher weitgehend vernachlässigt hat, ja, daß schiefe oder unvollständige Urteile über Paradise Lost mit der Ausklammerung derselben ursächlich zusammenhängen, hat den Plan einer genaueren Untersuchung gefördert. Es schien mir nicht nur eine reizvolle, sondern zugleich eine lohnende und notwendige Aufgabe, wenn im Rahmen der so reichen und weitverzweigten Literatur über Paradise Lost eine Lücke geschlossen werden könnte. Von einer ausschließlichen Betrachtung der zwei Schlußbücher konnte freilich nicht die Rede sein, denn es war entscheidend, festzustellen, nicht nur, ob die Schlußbücher die allgemein geringe Einschätzung verdienen, sondern ob und in welchem Sinne sie im Epos integriert sind, d. h., welches Licht von einer solchen damit der Frage nach ihrer dichterischen Qualität aus; vgl. S. 119ff. Weit positiver ist dagegen die Beurteilung der Schlußbücher bei W. G. Madsen, "The Idea of Nature in Milton's Poetry" (New Häven, 1958), S. 256ff. sowie bei B. O. Kurth, Milton and Christian Heroism (Berkeley, 1959), S. 123 ff. 1»

4

Vorwort

Untersuchung auf das Verständnis des Paradise Lost fallen würde. Eine Isolierung der in den Schlußbüchern auftretenden Probleme muß aber zu einseitigen und daher fragwürdigen Ergebnissen führen. Für die Methode ergab sich daraus, daß der Weg vom Ganzen zu den Teilen, und von diesen immer wieder zurück zum Ganzen zu gehen sei. Daher mußte die Frage nach der Thematik und der Komposition des Paradise Lost geklärt werden, ehe die beiden letzten Bücher fruchtbar unter diesen Gesichtspunkten untersucht und ins Ganze eingeordnet werden konnten. Diese Klärung ist die Aufgabe des ersten Teils der Arbeit, in dem die Einzelheiten bewußt zugunsten einer systematischen Übersicht zurückgedrängt werden, weil diese vier Kapitel nur als ein Vorbau zu der Interpretation der Schlußbücher gedacht sind. In einer Vorfrage wird untersucht, wie weit sich Miltons dichterische Absichten aus den der Dichtung eng verbundenen, aber nicht einverleibten Äußerungen in "The Verse" und "The Argument" erkennen lassen. Was sich dabei als Miltons Ziel herausstellt, ist die große Synthese einer christlichen Verkündigung in klassischer Epengestalt (s. Über "The Verse" und das erste "Argument"). Gehen wir der vordringlichen Frage nach der Thematik des Paradise Lost nach, so ergibt sich, daß wir Miltons eigene Aussage darüber ernst zu nehmen haben; er will "justifie the wayes of God". Die dichterische Theodizee wird auf zwei Ebenen durchgeführt. Das dominierende Thema, das hier Hauptthema genannt wird, bewegt sich auf der höheren Ebene der Deutung und Lobpreisung der Wege Gottes; das zweisträngige Handlungsthema, die Satans- und Adamshandlung, sieht Milton durchgehend in Abhängigkeit von jenem und entwickelt es als die Geschichte der Geschöpfe Gottes (s. Hauptthema und Handlungsthema). Die Untersuchung, ob die so verstandene Thematik des Paradise Lost durch die Kompositionsweise bestätigt wird, führt, von immer neuen Ansätzen zu einem Verständnis seiner Architektur ausgehend, zu der Einsicht, daß der beherrschenden Funktion des Hauptthemas ein zentral ausgerichteter Bau der Dichtung entspricht. Da die Manifestationen Gottes sich auf drei Stufen vollziehen — Bezwingung Satans, Erschaffung der Welt, Erlösung des Menschen — ergibt sich gleichzeitig eine dynamische Gliederung, so daß sich in den Prophetien am Schluß der Dichtung die Theodizee erst vollendet (s. Komposition). Einen ergänzenden Beitrag zur Frage der Thematik des Paradise Lost liefert die Untersuchung der wiederholt gebrauchten epischen Darstellungsformen, indem es sich zeigt, daß Milton sie alle, ob er sie übernommen oder neu geschaffen hat, als Stützen seines Hauptthemas verwendet (s. Wiederholt gebrauchte epische Darstellungsformen). Während der erste Teil der Arbeit möglichst knapp gehalten ist, wird im zweiten Teil Wert darauf gelegt, ein möglichst lückenloses

Vorwort

5

u n d ins Detail gehendes Bild der Einzelprobleme s o w i e der inneren Z u s a m m e n h ä n g e in B u c h X I u n d X I I zu geben. D a f ü r ist die F o r m des fortlaufenden Kommentars gewählt worden, u m der Willkürlichkeit einer Auswahl, aber auch der E n g e v o n Spezialuntersuchungen zu entgehen. D a s Verfahren, durchgehend den A u f b a u u n d die Darstellungsw e i s e zunächst getrennt zu betrachten, ist zugrunde gelegt, u m den A u s f ü h r u n g e n eine g e w i s s e Übersichtlichkeit zu verleihen. E s wird aber auf diese Weise auch besonders deutlich, w e l c h unerhörte Mannigfaltigkeit der A u f b a u u n d die Darstellungsweise in den Schlußbüchern aufweisen, u n d w i e ausschlaggebend die dichterische Darbietung jeweils durch die Thematik bestimmt ist. D a i n den kommentierten A u s g a b e n des Paradise Lost v o n N e w t o n , T o d d , M a s s o n u n d Verity u n d unter den m o d e r n e n besonders in denen v o n Patterson u n d H u g h e s Sach- u n d W o r t k o m m e n t a r e zugänglich sind, konnten vereinzelte Beiträge dazu in die A n m e r k u n g e n verwiesen werden 8 . Auf die Herkunft v o n Miltons t h e o l o g i s c h e m u n d p o e t i s c h e m Material, die v o n amerikanischer Seite vielfach untersucht w o r d e n ist 7 , 6

7

Paradise Lost, ed., with Notes of Various Authors, by Th. Newton (London, 3 1754)» 2 vols. (zit. Newton). The Poetical Works of John Milton, ed. H. J. Todd (London, 51852), 4 vols.,Bd. I (zit. Todd). The Poetical Works of John Milton, ed. D. Masson (London, 1874), 3 vols., Bd. I (zit. Masson). Paradise Last, rev. edition by A. W. Verity (Cambridge, 1910), (zit. Verity). The Student's Milton, rev. edition by F. A. Patterson (New York, 1933), 1 vol. (zit. St. M.) Milton, Paradise Lost, ed. M. Y. Hughes (New York, 1935) (sehr gute, knappe Einleitung; ausgewählte, von manchem Ballast befreite Anmerkungen; zit. Hughes). Die Kommentare zu einzelnen Stellen des Paradise Lost werden stets ohne Seitenzahlen angeführt. Die vorliegende Arbeit benützt H. C. Beechings Ausgabe des Paradise Lost (London, 1928, 11899), weil diese den Originaltext der Erstausgabe genau wiedergibt. Doch wurden die Ausgaben von H. Darbishire (Oxford, 1952) und von B. A. Wright (Everyman, 1956) laufend herangezogen. Unentbehrlich ist die Faksimile-Ausgabe von H. F. Fletcher: John Milton's Complete Works, Reproduced in Photographic Facsimile with Critical Apparatus (Urbana, 1943—48), 4 vols., II und III. Die 18-bändige Columbia-Ausgabe von F. A. Patterson (New York, 1931—38) war der Vf. nicht zugänglich. Die Zeilenzählung folgt in den 1674 um einige Zeilen erweiterten Büchern V und XI, abweichend von Beechings Zählung, den auf der 2. Auflage des Paradise Lost basierenden Ausgaben von Darbishire und Wright. Besonders von G. McColley, 'Paradise Lost'-. An Account of Its Growth (Chicago, 1940), wo die religiöse Literatur von 16 Jahrhunderten herangezogen und die gesamte Quellenforschung bibliographisch zusammengestellt ist. A. Williams hat vor allem die Genesiskommentare der Renaissance untersucht in "Commentaries on 'Genesis' as a Basis for Hexaemeral Material in the Literature of the Late

6

Vorwort

geht die Arbeit deshalb nicht ein, weil es ihr darum zu tun ist, das dichterische Gefüge und seine Elemente vorwiegend aus dem Werk heraus verständlich zu machen. Eine Dichtung läßt sich als Dichtung nicht aus ihrer Ideologie rechtfertigen oder verwerfen, und wir können durch eine Untersuchung der theologischen Voraussetzungen allein nicht zu einer Gesamtdeutung oder -bewertung kommen. Was die dichterischen Quellen und Vorbilder anlangt, so gilt für sie Entsprechendes8. Hingegen mußte, wenn die Schlußbücher zu neuer Geltung gebracht werden sollten, ihre sprachliche Gestaltung immer wieder berücksichtigt werden. Die sprachlichen Erscheinungen der beiden Bücher mußten aufgenommen, untersucht und mit denen der anderen Teile des Paradise Lost in Beziehung gebracht werden. Dann erst konnte die Frage nach einer eventuellen Sonderstellung der Schlußbücher — die ja durch ihre Anlage als Zukunftschau durchaus nahe liegt — an Hand dieser Fragen geprüft und die Motive für möglicherweise auftretende sprachliche Sondererscheinungen abgewogen werden. Eine umfassende Behandlung der Sprache des Paradise Lost ist jedoch nicht beabsichtigt. Das Manuskript wurde im April 1962 abgeschlossen; wichtigere nach diesem Zeitpunkt erschienene Werke sind nicht mehr berücksichtigt, aber im Literaturverzeichnis mit * gekennzeichnet aufgeführt. An dieser Stelle möchte ich Herrn Professor Wolfgang Clemen für das Interesse, mit dem er die Arbeit begleitet und gefördert hat, herzlich danken. Den Kollegen des Englischen Seminars München danke ich für manche Hilfeleistung während ihres Entstehens. Mein Dank gilt ferner Herrn Professor Hermann Kunisch, der die Arbeit freundlicherweise in die Reihe "Quellen und Forschungen" aufgenommen hat.

8

Renaissance", SP, 34 (1937); ferner in "Milton and the Renaissance Commentaries on 'Genesis', MP. 37 (1939) und "Renaissance Commentaries on 'Genesis' and So56 (1941). me Elements of the Theology of 'Paradise Lost'", PMLA, Die Zahl der Untersuchungen über die literarischen Quellen und Vorbilder des Paradise Lost ist sehr g r o ß ; aber sie sind meist einseitig, wie z.B. G . C . T a y l o r , Milton's Use of Du Bartas (Cambridge Mass., 1934). Dagegen liefert K u r t h einen wertvollen Beitrag zur Stellung des Paradise Lost in der einheimischen literarischen Tradition des biblischen Epos, der darauf verzichtet, Miltons Abhängigkeit v o n bestimmten Vorbildern nachzuweisen.

ERSTER TEIL

Paradise Lost als dichterisches Werk

Über "The Verse" und das erste "Argument" Für Miltons eigene Auffassung von Paradise Lost ist nichts als die Dichtung selbst überliefert. Seine Anschauungen über Dichtung müssen wir uns mühsam aus überall in seinen Schriften und dichterischen Werken verstreuten Bemerkungen zusammensuchen1. So etwas wie eine Poetik Miltons oder auch nur eine Erläuterung zu Paradise Lost gibt es nicht. Die theologischen Schriften geben naturgemäß keine Auskunft über das Werk als Dichtung und können darum nicht beigezogen werden. In Paradise Lost selbst verrät sich freilich wiederholt sowohl mittelbar wie ausdrücklich Miltons Auffassung von seinem Epos; an zwei unscheinbaren Stellen äußert sich Milton so weit, daß wir ihnen einige wichtige Züge und Absichten des Paradise Lost entnehmen können. Es sind "The Verse" und das erste "Argument", die beide im Zusammenhang mit Paradise Lost konzipiert und vermutlich unmittelbar nach dessen Vollendung entstanden sind2. Eine kurze Betrachtung von "The Verse" und des ersten "Argument" einer Untersuchung von Paradise Lost vorauszuschicken, mag auch deshalb gerechtfertigt sein, weil beide Stücke bisher noch nicht, oder nur sehr gelegentlich, für die Klärung der Fragen über Absicht und Ausführung des Paradise Lost herangezogen worden sind3. Die große Synthese — christliche Verkündigung in antiker Epengestalt — läßt sich daraus als Miltons Ziel entnehmen; aber es zeichnet sich auch schon seine Absicht darin ab, ein universales Werk von ungeheurer Weite in Raum und Zeit zu schaffen. 1. " T H E V E R S E "

Milton hat 1668 den noch beim Verleger verbliebenen Exemplaren der ersten Auflage des Paradise Lost eine Verteidigung des Blankverses und eine Gesamtinhaltsangabe des zunächst noch in zehn Bücher aufgeteilten Werkes beigefügt, um dem Wunsch verschiedener Leser 1

2

3

I. Langdon, Milton''s Theory of Poetry and Fine Art (New Häven, 1924). Auch B. Rajan, "'Simple, Sensuous and Passionate'", RES, 21 (1945). A . H. Gilbert, On the Composition of 'Paradise Lost' (Chapel Hill, 1947), S. 3 2 will sie freilich im Sinne seiner These v o n der Entstehung des Paradise Lost möglichst schon in zeitliche Nähe zu dem 4. Dramenentwurf des Cambridge Manuscript (1640—42) setzen. Gilbert, Composition, S. 27 ff. widmet den "Arguments" ein kurzes Kapitel.

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Paradise Lost als dichterisches Werk

nachzukommen, wie der Verleger bemerkt. Selbst wenn dieser Grund nur ein V o r w a n d ist, lassen doch die Tatsache, daß die ersten Exemplare ohne Bemerkungen hinausgingen, wie auch die Schärfe des Tons auf einen äußeren Anlaß, möglicherweise auf eine herausfordernde Kritik an dem Vers des Paradise Lost schließen 4 . Eine knappe Interpretation v o n "The Verse" wird zeigen, daß diese Notiz mehr enthält als eine Rechtfertigung des Blankverses in Paradise Lost. Zweierlei geht deutlich daraus h e r v o r : Miltons Bekenntnis zu den großen epischen V o r bildern der Antike und seine grundsätzliche Forderung de: dichterischen Freiheit in der Wahl der Darstellungsmittel. Die Rechtfertigung des Blankverses baut sich in drei langen, aber durchsichtig gegliederten Perioden auf. Sie beginnt mit der lapidaren Feststellung: "The measure is E n g l i s h H e r o i c Verse without Rime" und schließt mit einer Überbietung aller zugunsten des Blankverses v o r gebrachten Argumente, indem seine Verwendung in Paradise Lost bahnbrechend und beispielhaft genannt w i r d : "it rather is to be esteem'd an example set, the first in E n g l i s h , of ancient liberty recover'd to Heroic Poem . . ," 5 . Die Begründung führt Milton folgendermaßen aus: Reim ist, zumal in längeren Dichtungen, weder notwendig noch angebracht; nur mittelmäßige Dichtung bedient sich seiner als Putz. V o n dieser will sich Milton dadurch absetzen, daß er die Angemessenheit zum Richtmaß der dichterischen Gestaltung macht. Frei wählt der Dichter die seinen 4

6

E. M. W. Tillyard, The Miltonic Setting (Cambridge, 1947), S. 164f. und 204 meint, Milton sei durch Cowleys heroisches Reimpaar beunruhigt gewesen, in dem er die modische neo-klassizistische Form erkannt und für das orthodoxe Epos als zukunftsträchtig erachtet habe. Sein "The Verse" sei geschrieben als Rechtfertigung gegenüber dem Vers der Davideis und seiner wachsenden Beliebtheit. — Möglicherweise denkt aber Milton auch an Dryden, der 1668 zum "poeta laureatus" ernannt wurde und im Unterschied zu Milton in der Öffentlichkeit an hervorragender Stelle stand. Dryden hatte 1665 in seinem Essay of Dramatic Poesie (publ. 1668) das heroische Reimpaar verteidigt. Darauf, daß Dryden gemeint sein könnte, weist auch Marvells Begleitgedicht zu Paradise Lost (1674), worin er sich unmißverständlich und aggressiv gegen Drydens Reimdichtung wendet: Well mightst thou (sc. Milton) scorn thy Readers to allure With tinkling Rhime, of thy own sense secure; While the Town-Bayes (sc. Dryden) writes all the while and spells, And like a Pack-horse tires without his Bells. (45—48) Die Bezeichnung "town-bayes" war eine damals leicht verständliche Anspielung auf Dryden, da ihn Buckingham zwei Jahre zuvor unter diesem Namen im Rehearsal (1671, gedruckt 1672) verspottet hatte. Auf Dryden zielt wahrscheinlich auch der Hieb in Miltons Bemerkungen über die Tragödie, die er 1673 dem Samson Agonistes vorausschickt. Die drei großen griechischen Tragiker seien, heißt es da, "the best rule to all who endeavour to write Tragedy". — Doch ist ein konkreter Anlaß für Miltons Rechtfertigung vom Jahre 1668 nicht bekannt. Sämtliche Hervorhebungen in den zitierten Texten stammen von der Vf.

Über "The Verse" und das erste "Argument"

11

künstlerischen Absichten gemäße Form. Die Angemessenheit (decorum) hat Milton schon 1644 in der Schrift Of Education "the grand masterpiece to observe" genannt6. Diese Stelle ist insofern instruktiv, als Milton dort ausdrücklich betont, daß es ihm bei der_Frage nach der Dichtung nicht um Prosodie, sondern um die wahre Gesetzlichkeit der epischen, dramatischen und lyrischen Gattungen geht. Ist diese Gesetzlichkeit, d. h. das "decorum", erst einmal erkannt, so ist es leicht, den geringen Wert der neueren Poesie, aber auch die selbst in der Gegenwart noch vorhandene Möglichkeit für große und erhabene Dichtung zu erkennen, meint Milton. Das gilt auch für seine Bemerkungen zum Blankvers: der Reim wäre Miltons Dichtung nur dann angemessen, wenn er für das Epos "necessary Adjunct or true Ornament" wäre. Das Gegenargument, die Verwendung des Reims durch führende neuere Dichter7, wird sofort entkräftet: überall hat sich der Reim zum Schaden der Dichtung als Hemmnis und Zwang erwiesen. Milton stützt seine Wahl des Blankverses ferner durch den Hinweis auf seine Verwendung in italienischer8 und spanischer Dichtung und in der elisabethanischen Tragödie. Die dritte Begründung, und damit setzt ein ganz neues Argument ein, ist aber die Frage der echten musikalischen Wirkung der Verse. Diese Wirkung beruht auf dem Rhythmus, nicht auf dem Reimklang. Von der musikalischen Wirkung der Dichtung her wird die Überlegenheit der Reimlosigkeit behauptet. Das Grundelement seiner Versgestaltung ist für Milton, nachdem er den Reim entlassen hat, der Rhythmus. Zuerst spricht er von dem auf ein Zeilenganzes bezogenen und dieses konstituierenden Rhythmus (apt Numbers, fit quantity of Syllables), d. h. Prosodie im strengen Sinn9. Als zweites 6

7

8 9

St. M., S. 729/2. Die herangezogenen Prosastellen werden stets nach dieser Ausgabe zitiert. Davenants Gondibert erschien 1651, Cowleys Davideis 1656, Butlers Hudibras 1663, Drydens Annus Mirabilis (dessen Gattung freilich nicht ganz unter die von Milton genannte fällt) 1667. Alle diese Werke waren buchhändlerisch weit erfolgreicher als Paradise Lost. Vgl. F. T. Prince, The Italian Element in Milton's Verse (Oxford, 1954), S. 131 ff. Die Deutung von "apt Numbers, fit quantity of Syllables" schwankt; vgl. Paradise Lost, BookI, ed. H. C. Beeching (Oxford, 1887), S. 49f.; Verity, S. LXVIIf.; in neuerer Zeit W. B. Hunter jr., "The Sources of Milton's Prosody", PQ, 28 (1949), S. 144; G. A. Kellogg, "Bridges' 'Milton's Prosody' and Renaissance Metrical Theory", PMLA, 68 (1953), S. 276; vgl. auch S. E. Sprott, Milton's Art of Prosody, (Oxford, 1953), S. 33 und 39 ff. F. T. Prince hat die Verskunst Miltons aus der Diskussion über starre metrische Formen herausgenommen und auf zwei sehr einfache Grundregeln reduziert: Zehnsilbler mit obligaten Hebungen auf der 10. sowie auf der 4. oder 6. Silbe, The Italian Element, S. 143. Auf die Kritik von M. Whiteley in "Verse and its Feet", RES, NS 9 (1958), S. 268—78 hin hat Prince seine Auffassung von Miltons Vers zwar nicht widerrufen, aber modifiziert; vgl. ebenda S. 278f. Zur Fortführung der prinzipiellen Frage durch

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Paradise Lost als dichterisches Werk

nennt er den über mehrere Verse sich hinziehenden und sie zu einer rhythmischen Einheit verbindenden Sinnzusammenhang (the sense variously drawn out from one Verse into another). Das bedeutet eine Absage an die geschlossene Form des heroischen Reimpaares; an seine Stelle tritt als bestimmendes Merkmal des epischen Stils die über eine Einzel- oder Doppelzeile hinausgeführte, dem Gedankenverlauf angemessene, größere kompositorische Einheit. Soweit das gedankliche Gerüst von Miltons Argumentation. Sein rhetorischer Trumpf ist jedoch die dreimalige Berufung auf die Antike. Reimlosigkeit, heißt es zu Beginn des ersten Satzes, fordert den Wettstreit mit Homer und Vergil heraus, deren Vorbild Miltons Wahl legitimiert. Denn, so schließt der zweite Satz, die Alten haben das Reimgeklingel weislich gemieden; damit werden seine italienischen und spanischen Gewährsmänner noch überboten. Schließlich aber weist der kunstvolle, doppelt antithetische Schlußsatz auf Miltons stolze Absicht deutlich hin: Reimlosigkeit ist "so little . . . to be taken for a d e f e c t , though it may seem so perhaps to vulgar Readers, that it rather is to be esteem'd an example set, the first in English, of a n c i e n t l i b e r t y recover'd to Heroic Poem from the troublesom and modern b o n d a g e of Rimeing". Mit der vorbildhaften Wiedergewinnung der alten Freiheit des großen Epos gegenüber der leidigen Fessel des Reims in neuerer Dichtung stellt sich Milton als echter Erbe in die Reihe der immer noch als Maßstab gültigen epischen Dichter der Antike hin; gleichzeitig entledigt er sich einer dem Epos nicht gemäßen Einengung. Wie überall, verbindet er auch mit der Frage der Versform den Begriff der Freiheit, und an diesen heftet er die höchsten Ansprüche sich selbst und seinem Werk gegenüber. Darum ist er aber auch zu keiner Rücksicht auf Leserschaft und herrschenden Geschmack bereit. So dient die Abhandlung über den Vers zur Feststellung von Miltons Standort: Sein Blick ist auf Homer und Vergil gerichtet, er versteht Paradise Lost als große Dichtung und verspricht sich von dem in den Versen liegenden, vom Sinn getragenen Rhythmus eine erhabene Wirkung. 2. DAS "ARGUMENT" ZU BUCH I

Von 1668 an erscheint, wie schon erwähnt, in den Restexemplaren der ersten Auflage unter der Überschrift "The Argument" eine InM. Whiteley, E. Schanzer, J. Buxton vgl. RES, NS 11 (1960), S. 191/2 und 305. Vgl. auch G. S. Koehler, "Milton on 'Number', 'Quantity' and Rime", SP 55 (1958). Für die prosodische Terminologie der Renaissance, der die Miltonsche durchaus folgt, vgl. C. Ing, Elizabethan Lyrics-. A Study in the Development of English Metres and their Relation to Poetic Effect (London, 1951), Kap. III.

Über "The Verse" und das erste "Argument"

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haltsübersicht zu Paradise Lost in geschlossener Form. In der zweiten Auflage (1674) teilt Milton das VII. und das X. Buch, so daß die Dichtung nunmehr die klassische Bücherzahl des großen Epos hat, und verteilt die Inhaltsangabe auf die zwölf Bücher. Durch die Zwölfzahl der Bücher reiht sich Paradise Lost in die klassische Epentradition ein, was immer Miltons Gründe gewesen sein mögen, in der ersten Auflage darauf zu verzichten10. Für das Gesamtverständnis des Paradise Lost ist vor allem die Inhaltsübersicht zu Buch I ergiebig. Es ist das einzige "argument", in dem Milton über seine stoffliche Zusammenfassung hinaus Bemerkungen zur Anlage der Dichtung sowie einige sachliche Erläuterungen gibt. In den Originalausgaben und in den kritischen Ausgaben des Paradise Lost sind die sachlich kommentierenden Stellen, ebenso wie die Hinweise auf die Exposition, mit Ausnahme der auf Satan bezüglichen, durch Verwendung einer anderen Drucktype hervorgehoben : Sie sind, im Unterschied zum übrigen, kursiv gedruckten Text des "Argument", in Antiqua gesetzt11. Die Inhaltsangabe ist als im Hinblick auf die vollendete Dichtung verfaßt anzusehen; die darin enthaltenen Bemerkungen sind demnach kein Programm, wie es z. B. Spensers berühmter Brief über die Faerie Queene ist, sondern eine Rekapitulation, ein Rückblick, der einiges über die Ausgangsstellung des Paradise Lost aussagen will. Sie kommt, da der zeitliche Abstand von Paradise Lost nur gering ist, aus dem gleichen Impuls wie dieses. Bei der bekannten Sorgfalt, mit der Milton die Drucklegung seiner Dichtung leitete, berechtigt uns auch die Hervorhebung der Stellen durch den Druck, sie als absichtlich eingefügte Erläuterungen zu verstehen. Sie sind Stützen zum Verständnis des Paradise Lost, die uns um so wichtiger sind, als uns keine anderen Äußerungen Miltons zu seinem Epos, weder während der Entstehung noch nach der Beendigung desselben, erhalten sind. a ) MILTONS BEMERKUNGEN ÜBER DEN AUFTAKT DES EPOS

1. "This first Book proposes first in brief the whole Subject, . . ." 2. "Then touches the prime cause of his f a l l , ..." 3. „Which action past over, the Poem hasts into the midst of things, presenting . . . " 10

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Vgl. den einleuchtenden Erklärungsversuch von A. Barker, "Structural Pattern in 'Paradise Lost'", PQ, 28 (1949). J. Whaler, Counterpoint and Symbol (Copenhagen, 1956), S. 158 ff. Whalers Vermutungen sind in keiner Weise überzeugend. Vgl. Faksimile-Ausgabe, ed. Fletcher, III, S. 77 sowie die auf S. 5, Anm. 6 genannten Ausgaben. Die Eigennamen sind in den Inhaltsangaben nicht konsequent in der einen oder der anderen Type gedruckt.

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Paradise Lost als dichterisches Werk

Mit den drei angeführten Punkten weist Milton ausdrücklich auf den ordnungsgemäßen Auftakt seines Epos hin, wie er seit der Ilias im klassischen Epos üblich ist. Da der Zusammenhang dem Kenner der Tradition sofort beim Lesen der Dichtung ins Auge fällt, ist es bemerkenswert, daß Milton selbst darauf aufmerksam macht. Es ist ihm offensichtlich ein Anliegen, wie auch aus "The Verse" hervorgeht, daß seine Absicht, sich mit Paradise Lost in die Nachfolge Homers und Vergils zu stellen, klar erkannt und gewürdigt würde. Die Themagebung (1), die Frage nach dem die Handlung auslösenden Moment (2) und der Erzähleinsatz, der medias in res führt (3), gehören seit Homer zum Eingang des Epos und machen im Laufe der Zeiten die verschiedensten Abwandlungen durch. Aber auch der Musenanruf ist episches Gemeingut seit Homer, und so schiebt sich zwischen die Nennung des Themas (Z. 1—5) und die Frage nach der Ursache des Geschehens (Z. 27 ff.) auch in Paradise Lost die feierliche Anrufung himmlischen Beistandes zum Gelingen des Werkes (Z. 6—26). Warum hat Milton sie nicht ebenfalls in der Inhaltsübersicht aufgeführt, da die Invokation immerhin einen breiteren Raum als die erwähnten Punkte einnimmt? Wir können darauf hinweisen, daß Milton die Invokationen der späteren Bücher (II, VII, IX) ebenfalls aus den Inhaltsangaben wegläßt. Vielleicht gibt aber gerade diese Tatsache zu denken. Die Invokationen können zwar Entscheidendes zu unserem Verständnis der Dichtung beitragen und unterstützen ihren Bau wirksam 12 , aber sie gehören nicht zum Stoff und daher auch nicht in die Stoffübersicht. b)

SACHLICHE

ERLÄUTERUNGEN

1. .. the Serpent or rather Satan in the Serpent" 2. ". . . Hell, describ'd here, not in the Center (for Heaven and Earth may be suppos'd as yet not made, certainly not yet accurst) . . . " 3. "for that Angels were long before this visible Creation, was the opinion of many ancient Fathers." Zu 1. Der erste Punkt stimmt sprachlich nicht genau mit den beiden anderen Erklärungen überein, auch ist er kursiv gedruckt13. Er ist also äußerlich nicht als Kommentar gekennzeichnet. So ist auch die Auskunft, die wir ihm entnehmen können, anderer Art als die aus den beiden anderen Punkten gewonnenen Einsichten. Sie betrifft eher ein dichterisches Motiv als die Klarstellung von Miltons Verhältnis zur Tradition der Bibel und der Kirche. Welchen Wink enthält nun das "or rather"? Was Milton in der Dichtung zu berichten hinauszögert, 12 13

E. M. W. Tillyard, Milton (London, 1930), S. 245ff. Vgl. S. 13, Anm. 11.

Uber "The Verse" und das erste "Argument"

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teilt er hier eindeutig mit. Satan, der gestürzte Engel, nicht aber die zu seiner Verhüllung mißbrauchte Kreatur, verführt den Menschen. Die Dichtung spricht zunächst nur von "Th' infernal Serpent; he it was, whose guile . . ." (Z. 34) und von "Rebel Angels" (Z. 38), und erst nach der Beschreibung des mit dem Sturz in die Hölle Bestraften, ja erst nachdem sein nächster Genosse, Beelzebub, schon mit Namen angeführt worden ist, nennt sie ihn "Th' Arch-Enemy, / A n d thence in Heav'n call'd Satan" (Z. 81/2). Die Inhaltsangabe greift dieser Erwartung voraus und kennzeichnet das dichterische Verfahren der Spannung als solches, d. h. sie wird zum Kommentar. Sie zielt ferner darauf, Satans Person als Versucher hinzustellen und gibt damit dem Dichter die Möglichkeit, seine Verhüllung in Gestalt der Schlange als poetisches Motiv auszuwerten 14 . Während in Genesis 3,1 ff. nur von der Verführung durch die Schlange die Rede ist, heißt es in der Offenbarung 20, 2 1 5 und ähnlich schon 12,9 "the dragon, that old serpent, which is the Devil and Satan" 16 . Daß Milton mit seiner Notiz in der Tradition der Genesis-Ausleger steht, ist für uns weniger bedeutsam, als daß er sich damit dichterische Bewegungsfreiheit verschafft. Schließlich muß dem Dichter auch daran gelegen sein, wenn er sich überhaupt 14

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Vgl. besonders die Versuchungsszene (IX, 494 ff.) und das Hineinschlüpfen Satans in die Schlange (IX, 182ff.),aber auch die Verurteilung Satans "in mysterious terms" (X, 173ff.) und Satans Bericht darüber (X, 494ff.). Den Namen des gefallenen Engels erfährt Adam erst im V. Buch: "Satan, so call him now" (658); VII, 131/2heißt es: "Lucifer .../ (So call him . . .". Den Zusammenhang der Schlange mit Satan begreift Adam plötzlich (X, 1032ff.). Bibelzitate folgen im Text und in der Zählung der Kapitel und Verse der Authorized Version; daher werden auch die englischen Abkürzungen (nachCruden) gebraucht. Die Schreibung der Zitate ist durchgehend modernisiert. Benutzt wurde The Authorized Version of the English Bible, ed. W. A. Wright (Cambridge, 1909). Die GenevaBible (1560 u. ö.), deren Benützung für eine Untersuchung über Milton mindestens ebenso berechtigt erscheint, wurde nicht zugrunde gelegt, weil sie schwerer zugänglich ist als die AV. Doch wurden sämtliche herangezogenen Stellen in der Geneva Bible (Ausgabe 1599) verglichen. Ihr Wortlaut weicht von dem der A V nirgends so weit ab, daß er als Kriterium für Miltons Sprachgebung berücksichtigt werden muß. Eine gewisse Beachtung verdienen freilich die Kommentare am Rand der Geneva Bible. Ihr Einfluß auf Miltons Auslegung einiger alttestamentlicher Stellen ist untersucht worden von G. W. Whiting, "Before the Flood: 'Paradise Lost' and the Geneva Bible", N ScQ, 194 (19. 2. 1949). Schon E. N. S. Thompson, Essays on Milton (New Häven, 1914), S. 115 £. macht darauf aufmerksam, daß Milton für die Darstellung von Satans Fall auf andere Stellen der Bibel als die Genesis angewiesen war. A. Williams, "The Motivation of Satan's Rebellion in 'Paradise Lost'", SP, 42 (1945); Williams erweitert diesen Punkt und nennt die seit Thompson darüber erschienene Literatur, besd. A. H. Gilbert, "The Theological Basis of Satan's Rebellion . . . in 'Paradise Lost'", MP, 40 (1942). Der Genesiskommentar Calvins erklärt (wie auch Luther) die Schlange als Werkzeug Satans.

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

zu einer Kommentierung seiner Dichtung entschließt, zu erläutern, warum die Darstellung des Sündenfalls, die der Titel Paradise Lost eigentlich erwarten läßt, durch eine so umfangreiche Vorgeschichte hinausgeschoben wird. Die "prime cause" des Sündenfalls knüpft er aber an eine Figur, die selber eine Geschichte hat: Aufruhr und Verbannung eines mächtigen Anführers. Der Satan des Paradise Lost ist von vorneherein als eine großangelegte Gestalt aufzufassen, einerlei welche Wandlungen dieses Bild durchmacht; in diesem Sinne wünscht Milton hier seine Leser zu unterrichten17. Zu 2. Milton will ferner hervorheben, daß die Hölle nicht im Mittelpunkt der Erde, sondern an einem Ort äußerster Dunkelheit in der Tiefe des Chaos zu denken ist. I, 47 spricht er von "bottomless perdition", und Z. 73/4 noch genauer von der ungeheueren Himmelsfeme dieses Ortes18. Um theologischen Angriffen zu entgehen, drückt sich Milton vorsichtig aus: "may be suppos'd as yet not made"; andererseits hängt von dieser Annahme die Anlage der ganzen epischen Erzählung ab, wie Milton sie konzipiert hat. Die Folge des Sturzes der Engel ist die Erschaffung der Welt, durch die Gott auf eine schlimme Tat mit einem Neubeginn antwortet. Die Verfluchung Satans und seiner Schar ist erst die Folge seines Verführungswerkes und bildet den Gegensatz zu dem Erlösungswerk Gottes. Milton setzt diese Chronologie, weil sie seinem dichterischen Plan am besten dient, und von ihr her rechtfertigt er auch die Lage der Hölle außerhalb der erschaffenen Welt. Selbst wenn Himmel und Erde bereits erschaffen wären, als Luzifer stürzt, ist diese doch noch nicht verflucht, ehe er dort die Menschen ins Verderben gestürzt hat; die Erde kann also gar nicht der Ort der Hölle sein. In dem gleichen Sinn ist Miltons Verlagerung des Narrenparadieses (Limbus) weit außerhalb des Universums zu verstehen. Der Aufenthaltsort der törichten und heuchlerischen Menschen hat keinen Platz in der Harmonie des Kosmos19. Aber Milton gewinnt mit dieser Erklärung noch mehr. Er lenkt den Sinn des Lesers auf die Ungeheuerlichkeit und Grenzenlosigkeit des Weltalls, in dem sein Epos spielen wird. Der Schauplatz des Geschehens im Paradise Lost erstreckt sich weit über das erschaffene Universum hinaus. Und nicht nur in räumlicher, auch in zeitlicher Hinsicht erreicht er damit eine Weitung ins Unendliche, die ihm der Erhabenheit 17 18

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V g l . dagegen C. S. Lewis, S. 92ff. Vgl. P. E. Dustoor, "Legends of Lucifer in Early English and in Milton", Aug, 54 (1930), S. 260, wonach die mittelalterliche Vorstellung die Hölle meist ins Erdinnere verlegt. Nach Rajan, Paradise Lost, S. 144, A n m . 4 2 ist Miltons K o s m o graphie f ü r seine Zeit ausgesprochen ungewöhnlich. Vgl. III, 444—97.

Uber "The Verse" und das erste "Argument"

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seines Gegenstandes angemessen erscheint. "In the beginning G o d created the heaven and the earth", so beginnt die Genesis. Milton geht mit seiner Darstellung noch v o r diesen Anfang zurück. In der Verherrlichung Gottes stellt seine Geschichte mit den Menschen nur einen Teil dar, denn sie ist erst die Folge der Auseinandersetzung der göttlichen Welt mit der des Empörers. Mehr als fünf der zwölf Bücher des Paradise Lost (I, II, III, V zur Hälfte, VI, VII) haben die vormenschliche Welt zum Gegenstand. Schon aus diesem Gewichtsverhältnis wird deutlich, daß Milton zwar seine Dichtung um den Verlust des Paradieses herum angelegt hat, daß aber "this great Argument" die Wege Gottes in einem noch sehr viel weiteren Sinn auffaßt und auslegt. Ich verstehe daher Paradise Lostl, 26 "And justifie the wayes of G o d to men" dahin, daß "to men" auf " j u s t i f i e " , nicht aber auf " w a y e s of G o d " zu beziehen ist. Diese Auffassung stützt sich nicht nur auf die Parallelstellen in Miltons Dichtung, sondern v o r allem darauf, daß der umfassendere Begriff "the wayes of G o d " der Konzeption der Dichtung mehr entspricht. Jedenfalls ist darin die Geschichte Gottes mit den Menschen mitenthalten, so daß diese auch bei dieser Auffassung sehr wohl einen wichtigen Teil des Themas und der Darstellung ausmachen kann 2 0 . 20

Dieser Punkt ist bisher nur von zwei Miltonforschern, Diekhof! und Waldock, berührt worden, während im allgemeinen dort, wo über das Thema des Paradise Lost unter Heranziehung dieser Stelle gehandelt wird, gemeint wird "And justifie the wayes-of-God-to-men". Das geht vermutlich auf die Neigung zurück, die Zeile in ihrer rhythmischen Geschlossenheit zu zitieren. Schon Newton schreibt: "'the wayes of God to men' are justified in the many argumentative discourses throughout the poem, and particularly in the conferences between God the Father and the Son". Verity gibt nur die biblischen Vergleichsstellen an "the Lord is righteous in all his ways", Ps 145,17 und "just and true are thy ways, thou King of saints", Rev 15, 3, deren Wortlaut unserer Auffassung näher kommt. — J . S. Diekhoff, Milton's 'Paradise Lost'-. A Commentary on the Argument (New York, 1946), S. 115 hält beide Interpretationen für möglich. Auch A. J. Waldock, ''Paradise Lost' and its Critics (Cambridge, 1947), S. 136, Anm. 1, der auf die Frage näher eingeht, gibt keine Antwort; er weist lediglich darauf hin, daß sowohl Grierson, Milton and Wordsworth als auch A. Sewell, A Study in Milton's Christian Doctrine (London, 1939) " w a y e s - o f - G o d - t o - m e n " lesen, und zieht die zwei verwandten Stellen aus dem Paradise Lost und dem Samson Agonistes heran. Nor less think wee in Heav'n of thee on Earth Then of our fellow servant, and i n q u i r e Gladly into the wayes of God w i t h Man {Paradise Lost VIII, 224—26) Just are the ways of God, And j u s t i f i a b l e to Men (Samson Agonistes 293/4) In der ersten der zwei Stellen erklärt sich Raphael bereit, mit Adam ein Gespräch aufzunehmen, so daß nur "inquire-with-man" verstanden werden kann. Die Eindeutigkeit der zwei zitierten Stellen erkennt auch Waldock an. — Eine dem M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

Zu 3. Im dritten Punkt stützt Milton seine Auffassung von der Priorität der Erschaffung der Engel auf das Zeugnis der Kirchenväter. Sie ist für die Komposition des Paradise Lost von der gleichen Wichtigkeit wie die ins Chaos verlagerte Hölle. In diesem Fall beruft sich Milton ausdrücklich auf die theologische Tradition. An die Kunde von der neugeschaffenen Welt knüpft Satan seine Pläne einer Rache und erneuten Empörung gegen Gott. Damit hat Milton den ersten festen Punkt für den Handlungsaufbau des Paradise Lost gewonnen: Das Geschehen des Epos, die Versuchung des Menschen, wird kausal festgelegt als die Rache Satans an Gott. Von der neuerschaffenen Welt als Anlaß zu Satans Plan, den Menschen zu verführen, ist wiederholt die Rede 21 . Der ersten Stelle zufolge hat Satan von dem Gerücht der Schöpfung noch im Himmel gehört. Mit dem "long before this visible Creation" betont Milton wieder die schon oben festgestellte Ausweitung der Zeitvorstellung für seine Dichtung. Hinter der Rechtfertigung seiner Kosmologie und Chronologie durch die Meinung der Kirchenväter verbirgt sich aber noch eine weitere Absicht Miltons. Wenn er für den Gegenstand seiner Dichtung den Anspruch auf absolute Wahrheit erheben will, muß er darauf bedacht sein, die nicht durch die Bibel verbürgten Grundvoraussetzungen in Übereinstimmung mit der Tradition erscheinen zu lassen22. Mittelbar tritt uns hier also bereits zum ersten Male der Anspruch auf den Offenbarungscharakter des Paradise Lost entgegen. Für eine Rechtfertigung des absoluten Wahrheitsanspruches seiner Dichtung ist freilich in den nüchternen Zwischenbemerkungen des "Argument" nicht der Ort, doch greift die Dichtung selbst die Frage wiederholt auf, besonders in den Invokationen; hier genügt Milton der erste Fingerzeig. In einer kurzen Zusammenfassung sollen Miltons Notizen zum Vers und das erste "Argument" gemeinsam betrachtet werden: Der Gipfel "wayes-of-God-to-men" entsprechende Konstruktion läßt sich im Paradise Lost nicht auffinden (in der scheinbar ähnlich konstruierten Stelle III, 54/5 "that I may see and tell/Of things invisible to mortal sight" ist „mortal sight" v o n dem Adjektiv "invisible" abhängig). Der Ausdruck ist auch nicht biblisch. Der Erwägung, ob Milton, w e n n die Stelle so zu verstehen ist, wie wir sie lesen, nicht "justifie t o m c n the wayes of G o d " geschrieben hätte, ist entgegenzuhalten, daß damit der Zeilenrhythmus eine Unterbrechung hinter "men" erfahren hätte und daß nirgends im Paradise Lost das W o r t " G o d " am Ende eines Absatzes steht. A u c h R. H. G r ü n , Das Menschenbild John Miltons in 'Paradise Lost' (Heidelberg, 1956), S. 27 entscheidet sich eindeutig f ü r "the wayes-of-God". 21 22

I, 651 ff.; II, 3 4 5 f f . ; 8 3 0 f f . ; X , 481 ff. McColley, "'Paradise L o s t ' " , weist eine solche nach; vgl. aber Rajan, 'Paradise Lost', S. 33 und 43, sowie S. 145, A n m . 10, in der Rajan den Ausführungen McColleys entgegenhält, daß Miltons Zeitgenossen nicht Miltons Ansicht waren.

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Übet "The Verse" und das erste "Argument"

der rhetorischen Beweisführung in den Bemerkungen über den Blankvers ist die Berufung auf die Antike. Die Interpretation ergibt ferner, daß Milton mit seiner Versgestalt zugleich den Anspruch des Dichters auf die seinem Gegenstand dienliche Ausdrucksweise (Prosodie und Stil) rechtfertigt. Der gleiche Wetteifer mit der Antike und der gleiche Anspruch auf die Wahrung der dichterischen Freiheit finden sich auch in der Inhaltsangabe des ersten Buches wieder. Warum macht der Dichter dort auf den als solchen erkennbaren hochtraditionellen Eingang des Epos besonders aufmerksam? Milton erklärt an dieser Stelle ausdrücklich Homer und Vergil zu den Vorbildern seiner Dichtung; damit ist der Maßstab für sein Werk gewonnen. Warum wird die Zeit der Erschaffung der Engel und der Welt erörtert ? Kosmographie und Chronologie sind für die Anlage des Epos und für seine Komposition wichtige Voraussetzungen; sie ermöglichen aber außerdem die räumliche und zeitliche Ausweitung, die dem Dichter für die Darstellung der Wege Gottes notwendig erscheint. Indem er sich für die kosmologischen und chronologischen Einzelheiten der kirchlichen Autorität versichert, läßt er seine Absicht erkennen, grundsätzlich mit deren Anschauungen oder doch mit dem, was er darin für wahr erkannt hat, übereinzustimmen und dem Wahrheitsgehalt seiner Dichtung Anerkennung zu erwirken. Wie die Bemerkungen über den Vers sollen auch die hervorgehobenen Punkte der ersten Inhaltsangabe den Leser auf den klassischen Charakter des Paradise Lost und auf die Souveränität des Dichters hinweisen, nur mit dem Unterschied, daß Milton sich für die formale Gestaltung auf die Antike berufen kann, daß er aber der freien Erfindung im Stofflichen durch den Wahrheitsgehalt seines Gegenstandes Grenzen gesetzt weiß. In diesem doppelten Anspruch lassen sich die Schwierigkeiten erkennen, in die der Dichter gerät, wenn er den höchsten christlichen Gegenstand in die Gestalt eines klassischen Epos fassen will 23 . Hier liegt andererseits der Grund zu Miltons stolzer Behauptung, er habe "Things unattempted yet in Prose or Rhime" unternommen24. 23

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D. Bush, "Vergil and Milton", Classical Journal, 47 (1952) weist insbesondere auf die Verwandtschaft des Paradise Lost mit der Aeneis hin. A . R. Benham, ' " T h i n g s Unattempted Y e t ' " , MLQ, 1 4 (1953).

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Hauptthema und Handlungsthema Aus der Voruntersuchung über "The Verse" und "The Argument" haben sich bereits Anhaltspunkte dafür ergeben, was Milton unter dem Gegenstand seiner Dichtung versteht. Die folgende Auseinandersetzung mit der Frage nach der Thematik des Paradise Lost baut daher auf dem ersten Kapitel auf. Sie benützt die dort bereits vorgenommene Interpretation der "wayes of God", um die These von Hauptthema und Handlungsthema aufzustellen. Die Unterscheidung von Hauptthema und Handlungsthema soll dazu dienen, das Verhältnis zwischen dem letzten Ziel einer Rechtfertigung Gottes und den epischen Ereignissen, d. h. der Satans- und Adamshandlung, zueinander zu klären und auf die Bedeutung dieses Bezugs für das Verständnis des Paradise Lost hinzuweisen1. Wir nennen Hauptthema, was man auch als den Grundgedanken, als die Idee oder das abstrakte Thema des Paradise Lost bezeichnen könnte, und bestimmen es inhaltlich als die Macht und Herrlichkeit Gottes. Das Wirken Gottes ist das große, überall durchscheinende Anliegen der Dichtung, dem alle anderen Themen des Paradise Lost untergeordnet sind und dem keines, auch nicht das Problem der Geschöpf lichkeit und Willensfreiheit des Menschen, widerspricht. Es handelt sich selbst bei der Satansgeschichte nicht um ein echtes Gegenthema, sondern darum, daß das gleiche Thema aus einer anderen Perspektive gesehen ist. Unsere Auffassung von der Thematik des Paradise Lost ist aus einer Reihe von Beobachtungen gewonnen. Sie wird durch die zwei wichtigsten Invokationen (zu Buch I und VII) sowie durch eine Fülle von Einzelzügen der Dichtung gestützt. Unter diesen ragen einige an Bedeutung hervor, die sich in verschiedenen Abwandlungen wiederholen, wie später noch zu zeigen sein wird. Das entscheidende Argument dafür ist aber die Komposition des Paradise Lost, die ganz auf das Hauptthema ausgerichtet ist. Auch die dominierende Rolle der Him1

Diekhoff, Milton's 'Paradise Lost' isoliert die Frage nach der rationalen Beweisführung für die W e g e Gottes; daher tritt in seiner Untersuchung der Dichtungscharakter des Paradise Lost gegenüber seinen didaktisch-theologischen Tendenzen weitgehend zurück. Es kann sich für uns jedoch nur darum handeln, Miltons A r g u mentation immer in Verbindung mit seinen dichterischen Absichten und Mitteln zu sehen.

Hauptthema und Handlungsthema

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melsszenen und die Bedeutung der Schlußbücher hängen mit diesem zusammen. Ohne die Schlußbücher wäre das Hauptthema so wenig wie das Handlungsthema abgeschlossen. Die so gefundene Thematik ist insofern für unsere ganze Untersuchung folgenreich, weil sie auf die Rolle der beiden Schlußbücher neues Licht wirft, wie die Interpretation derselben im einzelnen nachweisen kann. An zwei hervorragenden Stellen verrät Milton selbst seine Auffassung von der Thematik des Paradise Lorf. Es sind die Exordien zu Buch I und IX 2 . Er spricht darin von "the highth of this great Argument" (I, 24) und bezeichnet es im Vergleich mit den weltlichen Epen als ein "higher Argument" (IX, 42). Während er in Exordium zu IX mit einer genauen Umreißung seines Themas zurückhält und es mehr ex negativo bestimmt, legt er an dem von der Tradition dafür festgelegten Ort, am Anfang des I. Buches, die Hauptpunkte seines Gegenstandes sehr nachdrücklich fest. Er gibt uns in dem ersten Exordium, das ja nicht nur für das erste Buch, sondern für die ganze Dichtung gilt, zu verstehen, daß seine Dichtung auf zwei Ebenen spielt, besser gesagt, daß durch die Geschichte vom Sündenfall und der Erlösung hindurch die göttliche Weltordnung sichtbar wird. Kurz, wir stoßen hier auf die Kernstelle zu der Frage nach dem Hauptthema und dem Handlungsthema. Nachdem Milton im ersten Exordium den Ungehorsam (Mans First Disobedience), das daraus folgende Leid aller Menschen (all our woe) und — in einem Nebensatz — die Erlösung aller (tili one greater Man/Restore us) als den Gegenstand seiner Dichtung bezeichnet hat3, sagt er anschließend, daß die Wege Gottes sein großes Thema seien: "assert Eternal Providence" und "justifie the wayes of God" 4 . Die 2

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Die Bücher werden im folgenden stets nur durch römische Ziffern bezeichnet (daher z. B. I/II = 1. und 2. Buch). Eine arabische Zahl hinter Schrägstrich meint die Buchhälfte (z. B.III /1 = 1. Hälfte des 3. Buches), während sie hinter K o m m a die Zeilenzahl angibt. In der Inhaltsangabe zu I spricht Milton nur v o n "Mans disobedience, and the loss thereupon of Paradise" als dem "whole Subject", erwähnt also den Gedanken an die Erlösung nicht; ebensowenig findet das Hauptthema der "wayes of G o d " , mit dem dieser Gedanke aufs engste zusammenhängt, darin Erwähnung. " A n d " als die Verbindung zwischen "assert" und "justifie" ist explikativ zu verstehen und bedeutet soviel wie "und zwar, nämlich". Im folgenden w i r d daher stets nur v o n den W e g e n Gottes, und nicht v o n der Vorsehung gesprochen. Diekhoff, Milton's 'Paradise Lost', S. 1 1 5 nennt die Konjunktion "purposive", d. h. "assert . . . and thereby justify". Diekhoff hat schon in einer Vorstudie zu seinem Buch darauf aufmerksam gemacht, daß die Invokation v o n I eine doppelte Absicht verfolgt (to tell a story . . . and to present an argument), doch bezieht er "story" nur auf die Adamsgeschichte und nicht auch auf Satan; vgl. derselbe, "The Function of the Prologues in 'Paradise Lost'", PMLA, 57 ( 1 9 4 2 ) .

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

Invokation von I legt es also nahe, "Stoff" und "Thema" in dieser Weise zu unterscheiden. Milton ruft zuerst, und zwar im Zusammenhang mit dem "Stoff" (Handlungsthema), die himmlische Muse herbei. L. B. Campbell hat nachgewiesen, daß die christliche Muse, Urania, seit Du Bartas für die religiöse Dichtung steht6. Hier erfährt sie, nur ganz allgemein als "Heav'nly Muse" bezeichnet, durch den Bezug auf Moses6 und auf die Inspiration der Genesis eine eigenwillige, die Konvention durchbrechende Prägung. Sie erscheint als das literarische Symbol neben dem weiter unten angerufenen rein religiösen Symbol des Heiligen Geistes, mit dem sie dem Sinn nach identisch ist. Nicht darin geht Milton gegenüber der epischen Tradition eigene Wege, daß in der ersten Invokation die Nennung eines Helden unterbleibt 7 ; neu ist jedoch die gestufte Zweiteilung derselben: "Of Mans First Disobedience/ Sing Heav'nly Muse" und "And Chiefly Thou O Spirit, . . . / Instruct me." Eine ähnliche Trennung, wenn auch nur zur Hervorhebung, nicht mehr zur Steigerung gebraucht, nimmt Milton imExordium zu VII vor. Bei dem ebenfalls gewichtigen Auftakt zu der zweiten Hälfte seines Gedichts scheidet er bei der Anrufung Uranias zwischen ihrem Namen und ihrem Wesen (The meaning, not the Name I call), um jede Möglichkeit auszuschließen, daß es sich bei dem Musenanruf um eine leere Formel handeln könne. So ist auch in der ersten Invokation die Anrufung des Heiligen Geistes eine Wiederholung des Anrufes an die himmlische Muse, aber auf einer höheren, für das eigentliche Vorhaben allein genügenden und gültigen Stufe. Die Anrufung des Heiligen Geistes ist nun bezeichnenderweise mit der ersten Nennung des Hauptthemas, wie der Musenanruf mit der des Handlungsthemas, verbunden. Denn nun erbittet der Dichter als das Wesentliche vom Heiligen Geist selber Erleuchtung und Beistand für die Darlegung der Wege Gottes (Hauptthema). Die Muse, die schon Moses inspiriert hat, soll dem 5

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L. B. Campbell, "The Christian Muse", HLB, 8 (1935); kaum verändert abgedruckt in Divine Poetry and Drama in Sixteen/b Century England (Cambridge, 1959), I, Kap. I X . Für die bedeutsame W a h l der Mosesgestalt als Verkörperung von Miltons Ideal des Dichterpropheten vgl. J . H. Hanford, " 'That Shepherd W h o First Taught the Chosen Seed': A Note o n Milton's Mosaic Inspiration", UTQ, 8 (1939), besd. S. 4 1 3 ff. So J . D. Spaeth, "Epic Conventions in 'Paradise Lost'", in Eli^abethan Studies and Other Essays in Honor of G. F. Reynolds, (Boulder, 1945), S. 208. D e r A u f t a k t "Of Mans First Disobedience" läßt sich durchaus in dem Sinn verstehen wie "Der Zorn des Achill" oder "Die Leiden des Odysseus". Die Abstraktheit und A l l gemeinheit des Themas, die Spaeth darin erkennt, sehen w i r vielmehr in dem " A r g u m e n t " v o n der Rechtfertigung Gottes. Auf die Originalität des Eingangs von Paradise Lost in T o n und Absicht weist Spaeth mit Recht hin.

Hauptthema und Handlungsthema

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Dichter die Geschichte vom Sündenfall singen. Daß auch diese Geschichte schon ein höherer Gegenstand ist (higher Argument), betont Milton im Exordium zu IX, wo er seine Dichtung gegenüber der weltlichen als "more Heroic" verteidigt. Aber der Heilige Geist allein vermag ihn zur Deutung derselben zu befähigen, so daß er nicht nur zum Erzähler des Sündenfalls, sondern als solcher zum Künder von Gottes Größe wird. Das rechte Verständnis der Geschichte vom Fall der Engel und der Menschen hängt für Milton von der Einsicht in die Pläne und Wege Gottes ab, und so muß er auf immer neue Weise ihre Erhellung fördern; diese Absicht macht den eigentümlichen Charakter des Paradise Lost aus. Die Zweiteiligkeit der Invokation wird gestützt durch die syntaktische Geschlossenheit jedes der beiden Teile, und die gedankliche Steigerung drückt sich in dem "And c h i e f l y Thou O Spirit" aus, womit der zweite Satz beginnt. Selbst wenn die doppelte Invokation letztlich den gleichen Beistand meint, wählt Milton dennoch zwei Erscheinungsweisen desselben und überbietet die konventionelle Anrufung der himmlischen Muse durch die unmittelbare Anrufung des Heiligen Geistes, der den irdischen Dichter so erleuchten möge, daß seine Dichtung zu einer Rechtfertigung Gottes werden kann. Gott vor den Menschen rechtfertigen, heißt aber, in dem großen Gegenstand von Sündenfall und Erlösung die ewige Vorsehung erkennen. Dem IX. Buch, das die Krise und Entscheidung in der Adamshandlung enthält, schickt Milton eine argumentierende Invokation voraus. Es ist, als sehe der Dichter sich genötigt, an dem Punkt auf das Wesen des Epos zu sprechen zu kommen, wo er den eingangs genannten Gegenstand "Mans First Disobedience" endlich zur Darstellung bringt, wo er sich aber auch am deutlichsten von dem Epos der großen Überlieferung entfernt, indem er Adam scheitern läßt. Er stellt seine Dichtung dem weltlichen Epos als das eigentliche Heldengedicht gegenüber (sufficient of it seif to raise / That name). Milton spielt dabei geradezu die Adamsgegen die Satanshandlung aus, denn alles, was über das falsche Heldenepos gesagt wird, läßt sich auf Satan beziehen: verblendeter Zorn, äußerer Glanz, sinnloser Krieg. Hingegen kann die Tragik des Falles durch "Patience and Heroic Martyrdom" als eine "better Fortitude" aufgehoben werden. Das ergibt — immer auf dem Hintergrund des Hauptthemas — eine ganz neue Bewertung des höheren Menschentums. Milton meint das auf Gott bezogene, durch seine Liebe und seinen Gehorsam ihn verherrlichende Geschöpf, dem Gott seine letzte und unbegreiflichste Tat zuwenden will, die Befreiung aus dem Stand der gefallenen Menschheit und die Einbeziehung in eine neue Schöpfung am Ende der Zeiten. Damit wird Paradise Lost, ungeachtet der Er-

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

niedrigung und Verzweiflung Adams und ungeachtet der Handlungen Satans zu einem großen Gedicht ad maiorem Dei gloriam8. Es ist Miltons Überzeugung, daß die Schöpfung zu Gottes Ruhm dient (VIII, 100/1); vornehmlich der Mensch ist dazu erschaffen, Gott zu verherrlichen (VII, 510—17). Das ist auch Adam bewußt, der sich vom ersten Augenblick an als Geschöpf Gottes fühlt und ausruft: "how may I know him, how adore" (VIII, 280). Zum echten Lob Gottes gehört aber auch die Erkenntnis seiner Größe und der eigenen Einordnung in seinen Herrschaftsbereich. Darum ist es Milton daran gelegen, mit seiner ganzen Dichtung dieser Erkenntnis zu dienen. Selbst Satan sagt in seiner scheinheiligen Verstellung (III, 671—80), daß das Wissen um Gottes Werke und Taten ein Ansporn zum Lob Gottes sei, und schließt mit den Worten "wise are all his wayes". Bezwingung Satans, Schöpfung, Geschichte, Erlösung, das sind die großen Manifestationen Gottes. Seine Macht ist grundsätzlich frei und außerhalb der Zeit. Sie äußert sich im Schöpfungs- und Erlösungswillen. Satan und Adam, oder Engel und Menschen, sind frei erschaffen und haben grundsätzlich die Möglichkeit, sich für oder gegen Gott zu entscheiden, d. h. eins mit ihm zu bleiben oder, nach dem Fall, die Einheit mit ihm wieder zu suchen. Die Geschichte des Menschen ist nur eine Seite der dichterischen Verwirklichung des Hauptthemas; die andere, ihr entgegengesetzte, ist die Geschichte Satans. Zum Feind Adams kann Satan nur werden, weil Gott allen seinen Geschöpfen die Freiheit des Willens läßt9. Selbst die Loslösung von Gott, der Sündenfall, ist im Paradise Lost primär von Gott her gesehen und wird auch von Gott durch die Mittlerschaft Christi wieder aufgehoben. Sie ist das von Gott zugelassene Ereignis, das auf dem Wege über die Menschheitsgeschichte die zweite Schöpfung auslöst. Diese ist als Endzeit ganz im apokalyptischen Sinn konzipiert, und ihre Verheißung durchzieht nicht nur die Geschichte der Menschen von Anbeginn, sondern die ganze Komposition des Paradise Lost. In der ersten Invokation, in der Er8

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Eine Andeutung dieses Gedankens habe ich nur bei J . H. Summers, "'Grateful Vicissitude' in 'Paradise Lost'", PML.A, 69 (1954) gefunden. Z u m theologischen Begriff der Lobpreisung Gottes vgl. C. Westermann, Das Loben Gottes in den Psalmen (Göttingen, 1954), S. 14. Westermann unterscheidet berichtende und beschreibende Lobpsalmen. Die ersten preisen ein einmaliges, bestimmtes Eingreifen Gottes, die anderen verherrlichen G o t t in der Fülle seines Seins und Handelns. Beide Formen des Lobpreises, der Dank f ü r die Tat und die A n b e t u n g des göttlichen Wesens finden sich im Paradise Lost, ob w i r nun an die Überwindung Satans und an Gottes Handelns in der Menschengeschichte, oder aber an das W u n d e r der vollkommenen Schöpfung denken. McColley, "'Paradise Lost'", S. 233 sieht ebenfalls den Hauptkampf in der Auseinandersetzung Christus-Satan, nicht Satan-Adam.

Hauptthema und Handlungsthema

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klärung Gottes über seine Wege und Ziele mit den Menschen im Himmelsrat (III/l), in oft wiederholten Hinweisen, die sich gegen Ende der Dichtung mehren, und schließlich in den beiden Visionen von der Endzeit, die in XII für Adam enthüllt werden, finden wir bestätigt, daß die Verheißung die alles krönende Tat Gottes ist. Bürge der Verheißung ist Christus, und mit seinem Erlösungswerk greift er unmittelbar in die Geschichte ein. Es geschieht in zwei Phasen: der Menschwerdung und der Wiederkunft. Hat Satan die Willensfreiheit des Menschen vor die Frage des Gehorsams gestellt, so fordert Christus vom Menschen eine zweite Entscheidung: die Gnade anzunehmen oder nicht. Insofern der Mensch durch freie Wahl sein Verhältnis zu Gott und damit sein Geschick selbst bestimmen kann, so ließe sich einwenden, ist aber doch der Mensch als das Thema des Paradise Lost aufzufassen ? Aber da die Willensfreiheit eine Gabe Gottes ist, da Gott um die Geschichte des Menschen vorausweiß (nicht aber sie vorbestimmt), da er nicht nur seine Gerechtigkeit, sondern seine Gnade wirksam werden läßt, um seine Wege über menschliches Wollen und Verstehen hinaus zum Ziele zu führen, ist eben letztlich doch die Größe Gottes das Hauptthema. So sind die Schilderungen der Himmelsschlacht wie der Schöpfung bewußt daraufhin angelegt, Gott zu verherrlichen. Diese Absicht wird ausdrücklich und mehrfach in V, VI und VII enthüllt. Ja, die Himmelsschlacht, so oft als eine mißliche Episode verurteilt, wird vom Dichter immer wieder dadurch gerechtfertigt, daß in ihr der Ruhm des von Gott erhöhten Sohnes offenkundig wird (V, 735; VI, 701)10. Auch die Schöpfung ist sehr deutlich als eine Tat des Sohnes zu Gottes Ruhm gekennzeichnet (VII, 181—91; VIII, 11/12; 100/01). Doch wird Milton dieser Ansicht auch dichterisch gerecht, da die Darstellung in den Büchern VI und VII besonders gewaltig, reich und ungemein bewegt, d. h. in jeder Weise künstlerisch ausgezeichnet ist. Eine sinnfällige und zugleich dramatische Lösung für die Lobpreisung Gottes findet Milton auch dadurch, daß er der Gottheit zwei Gestalten verleiht. Gottvater beschließt die uranfängliche Erhöhung des Sohnes und überträgt ihm sowohl die Schöpfung als auch die Entscheidung über Engel und Menschen. Der Sohn wiederum betrachtet sich nur als den liebenden und gehorsamen Erfüller der Wünsche Gottes, in dessen Dienst er seine Taten vollbringt. So ist schließlich auch die verheißene Rettung des Menschen, insofern als sie die vollkommene Freiwilligkeit des Sühneopfers voraussetzt, ein Lobpreis Gottes. Gewiß baut Milton mit 10

Spaeth, S. 204ff. führt verschiedene Gründe an, weshalb nach seiner Meinung die Himmelsschlacht hinter den Schlachtszenen Homers und Vergils zurückbleibt. A. S. P. Woodhouse, "Pattem in 'Paradise Lost'", UTQ, 22 (1952/53) beschränkt die Funktion der Himmelsschlacht auf die Spiegelung des Sündenfalls.

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der Darstellung Gottes in zwei Personen auf einer theologischen Lehre auf, aber, wie es auch mit den anderen dogmatischen Gehalten im Paradise Lost geschieht, er weiß sie für seine dichterische Konzeption fruchtbar zu machen. In dem Gespräch zwischen Gottvater und Gottessohn überhöht der Gedanke, daß die Taten jeder der beiden Personen zur höheren Ehre des anderen geschehen, die Vorstellung von der Glorie Gottes (thou alwayes seekst / To glorifie thy Son, I alwayes thee, / As is most just; VI, 124—26). Im Ganzen der Dichtung bleibt das Hauptthema zwar im Hintergrund. Dennoch ist es greifbarer als eine Grundidee, ein abstraktes Thema es wäre, weil es nicht nur mittelbar, d. h. durch das Handlungsthema, sondern in den Himmelsszenen und im Schöpfungsbericht ganz unmittelbar in Erscheinung tritt; vor allem aber bestimmt es den Gesamtaufbau der Dichtung, wie wir im folgenden Kapitel kurz zu zeigen versuchen. Mit der Gegebenheit des Hauptthemas hängen aber auch verschiedene Partien des Paradise Lost zusammen, die, wenn sie nicht im Sinne eines das Hauptthema stützenden und erläuternden Kommentars verstanden werden, uns befremden müssen. Kosmologische, historische, geographische und naturwissenschaftliche Einzelstellen haben in immer anderem Zusammenhang die Größe von Gottes Schöpfung zum Gegenstand. Jede Form von Betrachtung und Belehrung im Paradise Lost hat in der Erkenntnis und Anerkennung von Gottes Wirklichkeit ihren Grund und ihre Bedeutung. Eine angemessene dichterische Gestalt erhält das Gotteslob in den zahlreichen Gebeten und Hymnen, die auf Paradise Lost verteilt sind. Fragen wir uns zunächst, wo das H a u p t t h e m a im Verlauf des Paradise Lost greifbar wird. In I und II erscheint es nur indirekt in der Auflehnung Satans gegen Gottes Beschluß, d. h. gegen die Erhöhung des Sohnes. Satan erscheint anfänglich von bestechender Großartigkeit, Gott aber als der ungerechte Tyrann. Aber der Leser wird über die Irrigkeit der teuflischen Auffassung von Gott und über die Vergeblichkeit aller teuflischen Anstrengungen durch Erläuterungen des Dichters immer wieder verständigt. Auch die Selbstcharakteristik der Teufel, vor allem aber die zwei großen Allegorien (Höllendarstellung und "Sin-Death"-Allegorie) dienen dieser Absicht. Nicht zuletzt legt Milton die Trugwelt Satans durch die Sprachgebung der Anfangsbücher bloß. Die Himmelsszene in III/l bringt eine erste direkte Behandlung des Hauptthemas: die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit und Gnade wird erhoben und von Gott selbst beantwortet. Die Geschichte von Sündenfall und Erlösung ist in dieser Szene schon vorweggenommen als eine in der Vorsehung Gottes enthaltene und zu einer neuen Glückseligkeit führende; eine Hymne der Engel zum Preis des göttlichen

Hauptthema und Handlungsthema

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Weltentwurfs beschließt die Szene. — In III/2 wird die Herrlichkeit der Schöpfung enthüllt, wie sie sich dem zur Erde eilenden Satan darbietet, noch ehe in IV die üppige Schönheit des Paradieses ein Zeugnis von der vollkommenen göttlichen Schöpfermacht ablegt und der Mensch als das vollkommenste Geschöpf das Lob Gottes anstimmt (IV, 641—46). — Die Rettung des Menschen und die Verurteilung Satans sind schon am Ende von IV symbolisch angedeutet in dem Bild von der göttlichen Waage. — Buch V bringt Raphaels Bericht von der Erhöhung des Sohnes und den Lobpreis der Engel. — Während der epischen Konvention zufolge V—VII für die Handlung als Episode zu gelten haben, rücken sie durch den Sieg Gottes über Satan (VI) und den Schöpfungsbericht (VII) das Hauptthema entschieden in den Vordergrund. Die Tatsache, daß die Erzählung dem Engel in den Mund gelegt ist, sichert ihr — auf dichterische Weise — den Wahrheitsgehalt und enthebt Milton gleichzeitig der Schwierigkeit einer allzu direkten Darstellung der göttlichen Welt, die er hier ein einziges Mal in epischer Handlung zeigt. Wir werden im folgenden Kapitel darlegen, daß die hohe Bedeutung dieser Partie ihr die zentrale Stellung innerhalb der Dichtung verschafft hat, und daß die übrigen Bücher in einer fast genauen Entsprechung auf sie hin orientiert und angelegt sind. Rund die Hälfte des Paradise Lost, so wurde oben schon gesagt, ist dem Wirken Gottes vor der Erschaffung der Menschen gewidmet. Ebenso läßt sich sagen, daß fast die Hälfte des Paradise Lost, wenn auch in anderer Verteilung als die eben genannte, einem Himmelsboten in den Mund gelegt wird (V/2 bis VII, XI und XII), d. h. das dort Berichtete wird im Auftrag Gottes und kraft seiner Inspiration verkündet. — Auch VIII dient in erster Linie dem Hauptthema. Die Unerforschlichkeit der göttlichen Schöpfung und die Notwendigkeit des rechten Verständnisses von menschlicher Willensfreiheit und göttlichem Gebot sind Gegenstand der Unterweisung Adams in dem Buch, das dem Sündenfall unmittelbar vorausgeht. — Einzig in IX zieht sich Gott gänzlich zurück, um der Wahl des Menschen volle Freiheit zu lassen und nach dem Fall seine Verlassenheit und Verzweiflung um so eindringlicher zur Wirkung zu bringen. — Die Urteilssprechung Gottes über Satan und Adam ist das einzige Mal, daß er, in der Gestalt des Sohnes, zu den Menschen des Paradise Lost selbst tritt (X). Es ist genau der Augenblick, wo seine Gnade — wenigstens scheint es Adam so — hinter seiner strengen Gerechtigkeit zurücktritt, und das verzweifelte Ringen Adams geht um ein notwendig gewordenes neues Verständnis der Verfügungen Gottes. Daß Adam im Gebet zu Gott zurückfindet, geht auf Gottes Beschluß und auf das Bewirken des Sohnes zurück. Auf der anderen Seite erweist sich der Sieg Gottes in der ironischen Allegorie der Verwandlung von Satans

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

Macht in völlige Ohnmacht. — In XI und XII spricht Gott zum zweiten Mal durch einen Boten, der seinen Heilsplan auslegt und seine Forderungen an den Menschen nennt. Während für den Leser der Plan Gottes schon in III/l aufgedeckt und in mehreren Himmelsszenen in Erinnerung gebracht wird 11 , lernt ihn Adam erst in XI und XII begreifen. Darin liegt die eigentümliche, ja die einzig mögliche Spannung, die der Dichter seinem Gegenstand abnötigen konnte: daß er den Lesenden zum Wissenden macht, den Handlungsträger hingegen zum Erkennenden. In XI und XII gelangt das Hauptthema in doppelter Weise zur Darstellung: einmal, indem es in der geschichtlichen Entfaltung aufgezeigt und gedeutet wird, zum anderen dadurch, daß es von Adam erfahren und angenommen wird. Das Ineinandergreifen von Haupt- und Handlungsthema, die Durchdringung des letzteren durch das erste, ist die kompositorische Aufgabe, die sich Milton gestellt hat. Vorwiegend im Handlungsthema, d. h. aber in der Satans- und in der Adamsgeschichte, stellt sich das Hauptthema als episches Geschehen dar. Wie wir sahen, wird es nicht ausschließlich an den epischen Vorgängen und Handlungen verwirklicht; andererseits muß jeder Versuch, diese ohne ihre stete Bezogenheit auf das Hauptthema zu verstehen, fehlgehen. Daß nicht Satan die Hauptfigur des Paradise Lost sein kann, ist in den letzten Jahren wiederholt und überzeugend dargelegt worden, und wir brauchen darauf nicht einzugehen12. Aber auch der Mensch ist nicht der Hauptgegenstand der Dichtung. Die anfängliche Vollkommenheit der menschlichen Natur dient nicht dem Geschöpf, sondern dem Schöpfer zum Lob, so wie die Rettung des Menschen nicht sein eigenes Verdienst, sondern Gottes Angebot ist. Nirgends im Paradise Lost wird der Mensch verherrlicht, nirgends ist er in irgend einem Sinn autonom. Die Würde des Menschen bestimmt sich aus seinem Verhältnis zu Gott, nicht anders. Aus dem Urteil, das Milton im Exordium zu IX über die weltlichen Epen fällt, geht hervor, daß ein selbstherrliches Heldentum das Geschöpf nur von Gott weg, d. h. aber nur in sein eigenes Unheil führen kann. Ebenso wie das Wissen um seine vorzügliche Stellung in der Schöpfung gehört zum Selbstverständnis des Menschen das Bewußtsein seiner Pflicht, Gott in Liebe und Gehorsam anzubeten. So greift Milton im Paradise Lost zu dem erhabensten und würdevollsten Bild für den Menschen in dem Augenblick, wo er sich am tiefsten vor Gott demütigt. 11

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Barker, "Structural Pattern", S. 25 weist auf das Hervortreten der "prophetic note" am Schluß v o n Buch III, IV, V I , VIII, X hin. Auf die vielumstrittene Frage nach der Stellung Satans im Paradise Lost soll in dieser Arbeit nicht eingegangen w e r d e n ; f ü r die reiche Literatur darüber vgl. u. a. R. Stamm, Englische Literatur (Bern, 1957), S. 1 8 3 ff.

Hauptthema und Handlungsthema

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Es ist der großartige Vergleich des von Reue erfüllten Adam mit Deukalion (XI, 9—14). Satan sowie Adam stehen im Bereich der göttlichen Allmacht, obwohl beide grundsätzlich frei sind. An ihrem Handeln weist der Dichter die göttliche Vorsehung auf. Nicht, daß dieses vorbestimmt sei, will er damit sagen, sondern, daß ihr Tun dem höheren Ruhm Gottes dient, ganz gleich wie sie sich entscheiden. Ihre Handlungen stören die anfängliche Ordnung Gottes und setzen das Erlösungshandeln Gottes in Bewegung. So führen die Empörung und der Sturz Satans zur Schöpfung der Welt und des Menschen; auf Satans Gegenhandlung, die Versuchung des Menschen, greift Gott mit der Warnung Adams ein. Der vorläufige Sieg Satans und der Sündenfall lösen wiederum eine Gegenhandlung Gottes aus: die Rettung des Menschen und die Überwindung Satans. Ein Problem muß sich freilich dem Dichter, der die Wege Gottes rechtfertigen will, stellen: die Frage nach dem Ursprung des Bösen. Aber anstatt rückwärts zu schauen und sich auf der Ebene der Argumentation zu bewegen, ist Miltons Interesse von Anfang an ganz auf das Heilswerk als das Ziel jener Wege und auf das Wie ihrer Manifestierung gerichtet. Als ein Beispiel dafür, wie sehr Milton die Frage auf emotionale, nicht rationale Weise behandelt, mag die Darstellung der Wirkung gelten, die der Bericht von Satans Aufstand auf Adam und Eva ausübt (VII, 50—60). Die Entstehung von Haß und Zwietracht im Himmel ist ihnen schlechthin unvorstellbar und erweckt unruhige Zweifel in Adam. Nur die folgenschwere Rückwirkung des Bösen auf seinen Urheber stellt Adams inneres Gleichgewicht wieder her. Milton drängt in der kleinen Szene die Gedanken über die Ursache des Bösen in die entgegengesetzte Richtung, indem er den Blick auf seine Folgen lenkt, und verlegt das Nachfragen darüber in Adams Seele, ohne selbst eine Antwort zu geben. Wie das Böse in die Welt gekommen ist, bleibt ein für die menschliche Vernunft nicht auflösbares Problem, über das der Dichter nur eine dichterische Aussage macht13. Sie konzentriert sich an einer Stelle in einem hintergründigen allegorischen Bild: die Sünde entsteigt 13

Vgl. A. H. Gilbert, "The Problem of Evil in 'Paradise Lost'", JEGP, 22 (1923), besd. S. 177 und 188f.; Gilbert führt aus, daß auch V und VI den Ursprung des Bösen nicht erklären, daß aber für Milton die im Kampf mit der Sünde erprobte Gesinnung genüge, um deren Existenz zu rechtfertigen. W. S. Worden, "Milton's Approach to the Story of the Fall", ELH, 15 (1948), S. 295ff. sieht in der Allegorie von Sünde und Tod die dichterische Lösung einer Darstellung des Sündenfalls. M. Bell, "The Fallacy of the Fall in 'Paradise Lost'", PMLA, 68 (1953) geht davon aus, daß Miltons Interesse auf die Ergebnisse, nicht die Voraussetzungen des Falls gerichtet ist; freilich geht der Aufsatz dann sehr eigene Wege (Leugnung der vollkommenen Geschöpflichkeit und damit eines eigentlichen Sündenfalls).

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dem Haupt Satans, als er noch im Himmel weilt, wie Athena dem Haupt des Zeus entstiegen ist (II, 749—59). So faßt Milton seine Gedanken über den Ursprung des Bösen in einer von Gott geschaffenen Welt geheimnisvoll, aber in einer geformten Vorstellung zusammen. Er verzichtet im Paradise Lost darauf, hinter den Willen Gottes zurückzutragen14. Es gehört im Gegenteil zu den Hauptargumenten des Paradise Lost, daß Gottes Handeln darauf zielt, das Böse in Gutes umzuwandeln. Diese Absicht Gottes ist an drei Stufen seines Handelns abzulesen. Die erste ist die Bezwingung Satans, die zweite die Erschaffung der Welt; die Zusage der Erlösung ist die letzte und höchste Stufe. In den zentralen Büchern des Paradise Lost, VI und VII, werden die beiden ersten Phasen sinnfällig geschildert, während die letzte Tat Gottes in XII schrittweise durch Verheißungen enthüllt wird15. Bei einem Überblick über die Durchführung des H a n d l u n g s t h e m a s fällt uns folgendes auf: während zu Anfang des Paradise Lost Satan im Vordergrund steht, um die erste Bewegung in der Adamshandlung auszulösen (IV), verschwindet er danach bis zur Verführung Evas (IX); dann tritt er ganz zurück, ja in IX und XII erscheint nicht einmal mehr sein Name. Der letzte Bericht über ihn ist die groteske Allegorie seiner Metamorphose (X). Das ist kennzeichnend für seine Rolle im "great Argument" des Paradise Lost. Die Satanshandlung setzt an ihrem Höhepunkt ein, aber da sie stets einzig am Hauptthema gemessen wird, bleibt das Interesse nicht auf sie gerichtet, sondern verlagert sich auf dieAdamsgeschichte als die positive Spiegelung des Hauptthemas. Die Adamshandlung ist ursächlich mit der Satanshandlung verknüpft; sie hat in ihr zunächst ein warnendes Vorbild, verläuft dann scheinbar mit ihr parallel (Sündenfall) und nimmt zuletzt durch eine entscheidende Wendung einen entgegengesetzten Verlauf: Satan wird gerichtet, der Mensch erhält die Verheißung der Erlösung. Der Mensch wird am Anfang nur mittelbar, erst als Ziel des teuflischen, dann des göttlichen Handelns genannt. In IV läßt ihn Milton in seiner vollkommenen Würde und Schönheit auftreten. Für die Adamshandlung wirkt die Episode von der Geschichte 11

15

V g l . auch P. F. Fisher, "Milton's Theodicy", JHI, 1 7 (1956); Fisher diskutiert in seinem klugen und gründlichen Aufsatz das Wesen des Bösen, wie es sich in Miltons Gesamtwerk darstellt. Die Unvereinbarkeit v o n Miltons ethischem Dualismus mit seinem metaphysischen Monismus wird nach Fisher erst in der späten Dichtung ( Paradise Lost, Paradise Regained, Samson Agonistes) überwunden, indem das Problem auf die Glaubensebene gerückt und durch das Medium der Dichtung ausgesagt wird. Die wichtigsten Formulierungen f ü r die Verwandlung des Bösen in Gutes sind: I, 1 6 2 f f . ; 2 1 1 ff.; II, 385/6; III, 2 9 8 f f . ; VII, 1 8 6 f f . ; 615/6; XII, 4 6 9 f f . ; 565/6; in der Umkehrung f ü r Satan gültig: I, 164/5; IV, 48/9; I X , 122/3. Der Gedanke der Stufung geht aus V I I , 6 0 4 — 0 7 und XII, 4 7 1 — 7 3 hervor.

Hauptthema und Handlungsthema

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Gottes mit den Engeln (V, VI) und von der Schöpfung (VII) retardierend: Raphaels Mitteilung ist als Belehrung an Adam gerichtet, dieser selbst ist aber passiv. Doch für die Verknüpfung der Adamshandlung mit dem Hauptthema ist die Episode von entscheidender Bedeutung, weil sie Adams Einsicht in Gottes Allmacht bereichert und damit seine Bewunderung und Ehrfurcht steigert. VIII bildet mit V/1 zusammen den Rahmen der Episode und ergänzt Adams Erkenntnis über sein Verhältnis zu Gott. Schon in IV und erst recht in IX, wo die beiden Handlungen aufeinanderprallen und zur Krise geführt werden, steht der Mensch, und nicht Satan, im Mittelpunkt des Interesses. Er bleibt es ebenso in X, obwohl dort zugleich die Satanshandlung abgeschlossen wird. Das Hauptthema hat dabei insgeheim die Führung und spricht über den Menschen und über Satan das Urteil. Das heißt, im X. Buch werden Adams- und Satanshandlung erneut auf das Thema des göttlichen Wirkens hin orientiert und in ihrer Abhängigkeit von ihm bestätigt. XI und XII machen Adam nochmals zum Zuschauer und Hörer; doch wird sein Anteil an dem Verlauf der Unterweisung, im Unterschied zu der echten Episode V—VII, als entscheidend dargestellt, so daß er stets gegenwärtig ist. In steigendem Maße wird er von dem Wirken Gottes ergriffen, d. h. aber für unsere Ausführungen: immer mehr nähern sich Handlungsthema und Hauptthema. Am Ende der Dichtung beginnt die menschliche Geschichte Adams und Evas. Sie kennen sie bereits als die Wege Gottes und sind durch dieses Wissen für ihren schweren Weg gestärkt. Damit ist die vollkommene Zusammenführung von Hauptthema und Handlungsthema vollzogen und das Anliegen des Dichters, um dessentwillen er den göttlichen Beistand von Anbeginn herbeigefleht hat, erfüllt: That to the highth of this great Argument I may assett Eternal Providence, And justifie the wayes of God to men. (I, 24—26)

Das Eigentümliche der Verschmelzung beider Themen in XI und XII liegt darin, daß sie sich auf zwei verschiedenen Ebenen vollzieht. Die Wege Gottes erscheinen einerseits auf die menschliche Ebene projiziert, d. h. sie werden am Verlauf der Menschengeschichte aufgewiesen und bejaht. Andererseits bleibt dabei der Blick immer zugleich auf das Verständnis Adams gerichtet, an dem die Geschichte vorüberzieht; auf diese Weise führt Milton die Geschichte vom Sündenfall so zu Ende, daß Adam durch ihre Erkenntnis getröstet und gestärkt wird, d. h. so, daß auch Gottes Handeln an Adam bejaht werden kann.

Komposition VORBEMERKUNG

Die im vorangehenden Kapitel vorgetragene Auffassung von Hauptthema und Handlungsthema ist aus einer Reihe von Beobachtungen gewonnen worden. Sie wird, wie wir sahen, durch die wichtigsten Exordien (I, VII, IX) und durch zahlreiche Einzelzüge des Paradise Lost gestützt. Unter diesen nehmen die im folgenden Kapitel behandelten strukturierenden, d. h. wiederholt gebrauchten epischen Darstellungsformen einen wichtigen Platz ein; weitere Stützen für die Vorrangstellung des Hauptthemas sind die Himmelsszenen, die darum ebenfalls dort behandelt werden. Aber vor allem anderen legt der Aufbau der Dichtung die These von Haupt- und Handlungsthema nahe. In der Tat kann sie sich erst dann behaupten, wenn sich zeigen läßt, daß die so verstandene Thematik sich bestimmend auf den Bau des Paradise Lost auswirkt. Daher ist jetzt die Komposition zu betrachten. Wie im vorigen Kapitel bietet sich auch hier wieder eine Verbindung zu der Interpretation der zwei Schlußbücher an, denn ihr Stellenwert im Ganzen der Dichtung erfährt nun auch von der Komposition her eine neue Beleuchtung. Die folgende Untersuchung der Komposition von Paradise Lost baut zwar auf den Ergebnissen des vorangegangenen Kapitels auf, nimmt aber ihren Ausgang von formalen Gesichtspunkten. Wir ziehen zu diesem Zweck die Bücher als greifbare Einheiten heran und legen dabei die endgültige Bücherzahl der Ausgabe von 1673 zugrunde. Mit einem ganz geringen Eingriff hat Milton darin nicht nur die klassische Zwölfzahl der Bücher erreicht, sondern auch eine Umbetonung des Gehaltes durchgeführt, so daß, wie Barker überzeugend gezeigt hat1, auf den Gedanken der Erlösung ein stärkeres Gewicht fällt. Immerhin macht Miltons Umgliederung es nötig, zu überprüfen, ob die formale Einheit der Bücher als Grundlage für die Untersuchung der Komposition dienen kann. Die Bücher des Paradise Lost sind, im Unterschied zu denen der Aeneis, von sehr unterschiedlicher Länge. Die Durchschnittslänge von 1

Barker, "Structural Pattern", S. 25 f.; M.Wickert, "Miltons Entwürfe zu einem Drama vom Sündenfall", Ang, 73 (1955) stellt fest, daß schon in den Dramenentwürfen die Akzentverlagerung auftaucht, deren Auswirkung Barker für Paradise Lost aufgedeckt hat.

Komposition

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rund 880 Zeilen wird meist erheblich über- oder unterschritten2. Auch der Grad ihrer äußeren und inneren Einheitlichkeit ist verschieden. Immerhin kennzeichnen ein bald mehr, bald weniger betonter Auftakt und ein Schlußakzent fast ausnahmslos die rein äußerliche Geschlossenheit eines Buches 3 . Ebenso läßt sich im allgemeinen eine bald stärker, bald weniger stark hervortretende Zäsur ungefähr in der Buchmitte feststellen. Sie fehlt nur in IX, wo mit Hilfe einer Dreiteilung der Sündenfall genau in die Mitte des Buches gerückt wird. In dem ursprünglich letzten Buch war die Mitte stark verschoben, worauf die ungleiche Länge von XI und XII zurückzuführen ist. Buch X ist aus inneren, mit seiner Funktion zusammenhängenden Gründen in kleinere Partien aufgeteilt. Aufschlußreich ist die Behandlung dieser Gliederungsakzente bei der Neuaufteilung der zehn in zwölf Bücher. Die Zweigliedrigkeit der beiden 1667 noch ungeteilten Bücher hat ihre Teilung erleichtert; aber bei den neu entstandenen Büchern findet sich in der Mitte kein Einschnitt. Die Zweiteilung ist also zwar ursprünglich angelegt, wird aber bei der Neueinteilung nicht auch in den neuen Bucheinheiten durch einen Eingriff nachträglich hergestellt. Anders liegt die Frage des Auftaktes. Nachdem Milton die bereits vorhandenen Zäsuren zur Teilung ausgenützt hat, markiert er die neuen Buchanfänge (VIII, XII) durch Hinzufügung einiger Eingangszeilen. Das Prinzip der durch Auftakt bezeichneten Abgrenzung der Bücher ist offensichtlich wichtig genug, um auch an diesen Stellen durchgeführt zu werden. Der Wortlaut der neuentstandenen Schlüsse (VII, XI) bleibt dagegen unangetastet. In der Verteilung des Nachdrucks auf einzelne Auftakte läßt sich eine gewisse Ordnung beobachten. Der betonte Einsatz liegt fast immer auf den ungeraden Büchern. Dabei sind nur IV und V vertauscht, vermutlich, weil das Pathos, mit dem das erste Auftreten der Menschen und die erste Schilderung des Paradieses vorgetragen wird, auch eine Hervorhebung durch einen betonten Auftakt verlangt. XI weist hingegen nur scheinbar einen schwachen Auftakt auf. Es ist vielmehr ein Auftakt ganz eigenen Charakters, den man "continued allegory" nennen kann. Diese Besonderheit hängt mit der Dämpfung des Tones zusammen, die nach dem Schluß von X angestrebt wird. Im Ganzen gewinnen wir durchaus den Ein2

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Buch VII = 640, XII = 649,111 = 742 Zeüen; dagegen II = 1055, X = 1104, IX = 1189 Zeilen. In der Aeneis wild die Durchschnittslänge der Bücher nur einmal um rund 120 Zeilen unter- und einmal um rund 120 Zeilen überschritten. Auftaktstark: I, III, VII (Invokation); IV, IX (Apostrophe); auftaktschwach: II, V, XI (Bild oder Vergleich), VIII, X, XII (Zeitangabe); ohne Auftakt: VI. Eine entsprechende Aufstellung der Bücherschlüsse verlangt eine feinere Differenzierung, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Auffallend ist, daß mit Ausnahme von I und II sowie IX die Bücher am Schluß jeweils in einer für sie charakteristischen Prägung sehr deutlich auf das Hauptthema bezogen sind. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Paradise Lost als dichterisches Werk

druck, daß Milton auf eine äußere Geschlossenheit der Bücher hingearbeitet hat. Es ist nicht zu erwarten, daß sich die Frage nach dem dichterischen Aufbau rein formal bewältigen läßt. Das hieße, in der Dichtung einen Schematismus vermuten, der ihrem Wesen fremd sein muß. Aber um eines genaueren Verständnisses willen mögen Versuche solcher Art erlaubt sein. Da sich der Aufbau eines Epos primär auf das dichterische Gesamtanliegen bezieht, ist es fraglich, ob wir seine Einheit von der "Handlung" (plot) her erschließen können. Aus dem vorangegangenen Kapitel geht hervor, daß Handlung, Personen, Gegebenheiten von Ort und Zeit im Paradise Lost nur sekundäre Bedeutung haben können, daß Miltons Absicht vielmehr darauf geht, ein Werk zum höheren Ruhme Gottes zu schaffen. Verkündiger, Interpret Gottes will Milton sein. Die Wahl seines Stoffes, der bei aller Vielfalt hohe Ton der Dichtung und die Führung der Kompositionslinien haben in dieser selbstgewählten Aufgabe ihren Ursprung. Die erste Invokation hat uns darüber belehrt, daß Milton den Sündenfall und die Erlösung besingen will, daß ihm aber der in diesem Gegenstand sich offenbarende tiefere Sinn, die Wege Gottes, noch wichtiger ist. Daher tritt auch neben den Bericht oder die Verkündigung eine Reihe anderer Formen der Aussage, etwa die Betrachtung, die Mahnung oder das Exempel. Auf diese häufig in der Form von Exkursen auftretenden Partien soll hier noch nicht eingegangen werden. Aber Milton wird der Tatsache, daß ihm nicht die Erzählung das Primäre ist, auch kompositorisch gerecht. ZEIT UND RAUM ALS STRUKTURMITTEL

Es ist nicht die Aufgabe eines Epos, die Ereignisse in ihrem zeitlichen Ablauf zu berichten, sondern den Stoff so zu ordnen, daß die Grundidee oder das Hauptanliegen dabei ins rechte Licht gesetzt wird. Daher baut sich jedes Epos nach seinen eigenen Gesetzen auf, und ein Verständnis des Aufbaus bringt uns dem Verständnis der Dichtung näher. Milton hat sich Vergil zum formalen Vorbild genommen 4 , aber er betont immer wieder, daß sein Gegenstand alle bisherigen epischen Stoffe, auch den Vergilischen, überrage; wir können deshalb damit rechnen, daß Milton sich der besonderen Forderungen bewußt war, die sich von daher für seine Komposition ergaben. Ein auf der zeitlich-logischen Abfolge aufbauender Versuch, das Paradise Lost zu gliedern, führt denn auch zu dem erwarteten, aber trotzdem aufschlußreichen Ergebnis: V/2—VII (Satans Empörung, Him4

So urteilen auch Spaeth, S. 201 f. und Woodhouse, S. 117 ff.

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Komposition

melsschlacht, Satans Sturz, Schöpfung) bilden chronologisch den Anfang der epischen Erzählung. An diese Vorgeschichte würden sich, bei einer Erzählung in der zeitlichen Reihenfolge, I—V/1 und VIII—XII als zwei schwerfällige Blöcke anschließen, der eine überwiegend der Satans-, der andere der Adamsgeschichte gewidmet. Was aber bei diesem Schema völlig verloren geht, ist nicht nur die dramatische Spannung, die bei dem von Milton gewählten Aufbau schon im rein Erzählerischen liegt, noch die Feinheit der inneren und äußeren Verknüpfungen und Übergänge zwischen den beiden Strängen des Handlungsthemas, sondern auch ihre Ausrichtung auf Gott, ihre Motivierung durch den göttlichen Beschluß. Dieser wird in III/l zum ersten Mal ausgesprochen, am Schluß von IV aufgegriffen, dann aber in dem breiten Mittelteil (V/2—VII) dichterisch durchkomponiert und in den beiden Schlußbüchern dem Verständnis Adams zugänglich gemacht. Von dem göttlichen Beschluß her strömt das Leben in den doppelten Handlungsverlauf. Ebensowenig wie aus dem zeitlichen Ablauf der Geschehnisse ergibt sich aus der Betrachtung der Schauplätze ein Zugang zur Komposition, wenn wir nur den Raum des vordergründigen epischen Geschehens dabei im Auge haben. In I—III steigen wir von der Hölle durch das Chaos zum Himmel auf, und von dort hinab zum Paradies. Von IV an wird das Paradies als Schauplatz kaum mehr verlassen. Das ergibt ein sehr unausgewogenes Verhältnis von einem kurzen, räumlich bewegten und einem langen, überwiegend ortsgebundenen Erzählteil. Wie äußerlich die Auffassung vom Paradies als dem konstanten Schauplatz ist, lehrt uns die große Episode, die von V/2—VII die ungeheuren Vorgänge im Himmel so anschaulich vorträgt, daß die Vorstellung des Paradieses durch sie ganz verdrängt wird. Wenn Milton im Exordium zu VII erklärt, daß er von nun an mit seiner Darstellung auf der Erde bleiben werde, obwohl sie erst mit VIII wieder als Handlungsort erscheint, zeigt sich auch darin, daß die äußeren Schauplatzveränderungen keine strukturellen Mittel sind. Mit mehr Recht läßt sich von einem harmonischen Verhältnis zwischen dem unendlichen und dem inneren Raum sprechen, hinter denen der konkrete Raum überall zurücktritt. Gegenüber dem unermeßlichen Raum der ersten Bücher wird am Schluß des Werkes der innere Raum des Menschen entdeckt, und das Paradies spielt als Örtlichkeit kaum mehr eine Rolle 6 . 6

Die letzten Bemerkungen berühren sich nur zum Teil mit den Ausführungen von E. Mertner, "Die Bedeutung der kosmischen Konzeption in Miltons Dichtung", Aug, 69 (1950), die in Miltons Raumkonzeption den Spiegel einer Wende im menschlichen Denken sehen. 3*

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

Die Tatsache, daß weder der Zeitablauf noch der Raum als Ort der Handlung für den Aufbau ins Gewicht fallen, bestärkt uns in der Auffassung, daß die kompositorischen Mittel nicht in erster Linie für das Handlungsthema, sondern für das Hauptthema Geltung haben. DIE ZWEITEILUNG DES

Paradise Lost

Der Umfang der ersten sechs Bücher beträgt nur rund 300 Zeilen mehr als der der folgenden sechs Bücher. Das ist, an einer Gesamtlänge von über 10000 Versen gemessen, kein sehr erheblicher Unterschied. So ließe sich tatsächlich von der Länge der Teile her eine Zweiteilung des Paradise Lost rechtfertigen. Aber das ausgewogene Längenverhältnis wäre doch ein dürftiger Grund, wenn dieses nicht gleichzeitig der Ausdruck eines inneren Gleichgewichtes wäre. Milton gibt uns jedoch selber die Berechtigung, Paradise Lost in zwei große Partien aufzuteilen, da er dem VII. Buch als dem einzigen neben dem ersten Buch eine echte Invokation, einen Musenanruf, vorangehen läßt. Darin folgt er wieder der Aeneis, nur daß dort die charakteristischen Unterschiede zwischen den zwei Hauptteilen offen zutage liegen. Die Invokation zu Beginn von VII ist in der Aeneis wie im Paradise Lost eine starke architektonische Stütze und ist als solche von beiden Dichtem kenntlich gemacht6. Milton schafft durch die Invokation nicht nur den stärksten Einschnitt in der gesamten Dichtung, er betont darin noch dazu ausdrücklich, daß er sich jetzt der zweiten Hälfte seines Werkes zuwende, da er sagt: "Half yet remaines unsung". Wir haben soeben festgestellt, daß nicht der tatsächliche Schauplatz gemeint ist, wenn Milton darauf hinweist, daß er nun von der Erde singen will (narrower bound ... j Standing onEarth). Der Sinn ist, daß der Dichter jetzt die Geschichte Gottes mit den Menschen berichten will. Genauso wenig bezieht sich das "Half yet remaines unsung" auf die Bücherzahl oder auf die Länge der noch folgenden Partie7. Daß diese mit der inneren Motivierung der Zweiteilung übereinstimmen, ist vielmehr ein Anzeichen für die Ausgewogenheit der Gesamtkonzeption. Die Formulierung "Half yet remaines unsung" ist um so aufschlußreicher, als Milton an eben dieser Stelle den Beginn des zweiten Hauptteiles schon in der Ausgabe von 1667 ansetzte, in der sich die Bücherzahl durch diese Gliederung noch 6

7

V g l . Paradise Lost I, 27/8: "Say first . . . say first what cause . . ." und VII, 4 0 : "Say Goddess, what ensu'd . . ." mit Aeneis I, 8 : "Musa mihi causas memora . . ." und VII, 4 1 : "Tu vatem tu, diva, mone . . .". Das "Half yet remaines" mit Newton nur auf die Episode, die durch die Invokation in zwei Teile geteilt wird, zu beziehen, verbietet das Vorbild Vergils, dem folgend Milton mit der Invokation zu V I I die große Zäsur der Dichtung deutlich macht.

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sehr ungleich verteilte (I—VI und VII—X). Das gibt uns ein wichtiges Argument dafür in die Hand, daß das Bauprinzip nicht in einem Zahlenverhältnis, sondern allein im Gegenstand selbst zu suchen ist. VII bringt eine Wende in der Darstellung des "great Argument", d. h. in der Enthüllung und Rechtfertigung der Wege Gottes: Erst mit der Schöpfung, mit der Erschaffung des Ebenbildes Gottes und der Verleihung der Willensfreiheit an den Menschen wird Geschichte möglich. Geschichte ist Offenbarung Gottes — das ist eine Anschauung, die Milton mit seiner Zeit teilt und ohne die Paradise Lost nicht verständlich ist. Geschichte als Heilsgeschichte hängt aber mit dem Paradoxon des im Gehorsam freien Willens zusammen, und deshalb muß in VIII die Einsetzung des Menschen in seine Rechte und Pflichten erfolgen. Mit Adams freier Entscheidung beginnt dann die Menschheitsgeschichte, deren von Gott vorgesehenes Ziel die Erneuerung der Schöpfung am Ende der Zeiten ist. Der zweite Teil hebt aber nicht sofort mit der "Handlung" auf der Erde an, sondern beginnt mit einer einzigen großen Hymne auf die Offenbarung Gottes in der Schöpfung, dem Schöpfungsbericht des VII. Buches. Kein anderes Buch des Paradise Lost weist thematisch und künstlerisch eine so streng geschlossene Einheit auf wie dieses. Es ist das einzige Buch, das eine durchgehende Paraphrase eines Bibeltextes {Genesis 1,1—2,3) unternimmt und ausschließlich auf das Gotteslob abgestimmt ist. Eigentlich bildet das ganze Buch, und nicht nur die feierliche Invokation (1—39) den Auftakt zum zweiten Hauptteil. Wie III/l die gedankliche Rechtfertigung Gottes ist, so wird er in VII durch das sinnlich Wahrnehmbare gerechtfertigt. In immer neuem Echo des "God saw that it was good" steigt die Verherrlichung Gottes bis zu dem reich orchestrierten Lobgesang der Engel an. Mit solcher Emphase hebt der Dichter die Setzung einer guten Welt hervor, ehe er zur Darstellung des Sündenfalls kommt. Der zweite Hauptteil des Paradise Lost ist also gegen den ersten durch die Invokation und durch den Schöpfungsbericht klar abgegrenzt. Im ersten begegnen wir einer vorwiegend mythischen Welt, deren Raum das All und deren Zeit unmeßbar ist. Der Raum des zweiten Teils hingegen ist die Erde, und seine Zeit ist die Geschichte Gottes mit den Menschen, und zwar auf dem Fundament der Bibel. Dennoch ist das, was die Bücher der Mitte (VI und VII) 8 miteinander verbindet, stärker als die sie in der eben angedeuteten Weise trennende Zäsur. Sie sind die zusammengehörigen Teile einer einzigen Rede; beider Schauplatz 8

Genau gesagt beginnt dieEpisode schon V/2; vgl. aber dazu das auf S . 4 7 f . zu dem Verhältnis von fester und lockerer Form Gesagte.

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Paradise Lost als dichterisches W e r k

ist der Himmel, und ihr Gegenstand sind die beiden Taten Gottes, deren Krönung das Erlösungswerk ist. Diese Einheit der Mittelbücher ist sogar von entscheidender Bedeutung für die Thematik und den Aufbau des Paradise Lost. P A A R W E I S E GRUPPIERUNG DER BÜCHER

Für die Aeneis hat man neben der zutageliegenden Zweiteilung auch eine paarweise Zuordnung der Bücher als durchgehendes Kompositionsprinzip feststellen wollen, wogegen freilich der Einwand erhoben wurde, ob damit der "eigentliche Inhalt" und die vom Dichter angestrebte Ausgewogenheit zu ihrem Recht kommen9. Ein Versuch, Paradise Lost in sechs Gruppen von je zwei Büchern aufzugliedern, steht und fällt mit der Frage, ob wir auf diese Weise den Gehalt der Dichtung und seine Gestaltung besser erkennen10. Es fällt uns, wenn wir die Frage untersuchen, auf, daß sich die Randbücher, I/II sowie XI/XII tatsächlich nicht nur nach Schauplatz und Fortgang der Handlung paarweise zusammenfügen, sondern daß diese Paare zusammen eine höhere gedankliche Einheit bilden, auf die wir noch zu sprechen kommen. Deutlich ist die äußere und innere Zusammengehörigkeit von IX und X. Ein verbindendes Moment ist die leidenschaftlich bewegte Darstellungsweise, die diese Bücher auszeichnet, und in der das volle Gewicht der Problemstellung zum Ausdruck kommt: die Frage der Entscheidung des Menschen für oder gegen Gott, aber auch die ihrer Folgen, wird von immer neuen Seiten beleuchtet. Wir dürfen aus der Zusammengehörigkeit der beiden Bücher eine wichtige Folgerung ziehen: dem Ungehorsam Adams werden sofort die richterliche Macht und die Gnadenhandlung Gottes gegenübergestellt, denn der Sündenfall löst nicht nur die Strafe, sondern auch die göttliche Gnade aus. Indem uns die strukturelle Einheit von IX und X auf diese doppelte Auswirkung der Sünde aufmerksam macht, trägt sie dem Hauptthema des Paradise Lost Rechnung. — Ein weiteres Bücherpaar läßt sich allenfalls noch in V/VI erkennen, aber freilich mit der Einschränkung, daß sich strenggenommen nur V/2 mit VI zur Episode zusammenschließt, während V/1 die handlungsmäßige Fortführung von IV ist. —- Noch weniger lassen sich III und IV als eine einigermaßen geschlossene Einheit auffassen. Das hängt einmal mit der Sonderstellung der Himmelsszene in III/l zusammen, aber auch damit, daß IV sehr einheitlich ist 9 10

K . Büchner, P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer (Stuttgart, 1958), S. 4 1 7 ff. Auf die Frage, wie sich diese Gliederung in der ersten, auf zehn Bücher beschränkten Ausgabe v o n Paradise host auswirkt, soll hier nicht eingegangen w e r d e n ; s. S. 32, A n m . 1.

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und in sich ruht. Die beiden Bücher bilden zwar zusammen die Ergänzung der in I/II begonnenen Exposition, doch so, daß die Teile ziemlich selbständig aufeinander folgen und auch die Darstellungsmittel stark variieren. So bleiben uns außer der Geschlossenheit von IX/X nur die Einheiten I/II und XI/XII, jene Pfeilerstützen am Anfang und Ende der Dichtung. Als durchgehendes Prinzip läßt sich die paarweise Gruppierung der Bücher offenbar nicht sinnerhellend auf Paradise Lost anwenden. Eine Andeutung dafür könnten wir höchstens der oben erwähnten Tatsache entnehmen, daß die ungeraden Bücher den geraden gegenüber den stärker akzentuierten Auftakt haben, so daß letztere sich dem jeweils vorangehenden Buch enger anschließen. Wir werden aber aufzeigen, daß selbst für die auffallendsten Paare I/II und XI/XII die paarweise Zusammengehörigkeit weniger wichtig ist als das Entsprechungsverhältnis, in dem die beiden Paare zueinander stehen. Dieses Verhältnis hängt jedoch nicht mit dem epischen Geschehen zusammen, sondern mit der besonderen Art, wie dadurch das Hauptthema beleuchtet wird. Stellen wir die Frage etwas anders —• nicht nach der einheitlichen Geschlossenheit der Bücherpaare, sondern nach dem am Ende eines solchen erreichten und enthüllten Stand des dichterischen Ganzen —, so modifiziert sich die obige negative Aussage. Von dieser Fragestellung her erscheint auch die Verteilung der starken Auftakte auf die ungeraden Bücher sinnvoll. Wir können feststellen, daß mit dem Schluß von II nicht allein Satans Entschlossenheit zum Gegenschlag großartig und bedrohlich gezeichnet, sondern auch seine Scheinfreiheit bereits angedeutet und die Herrschaft Gottes evident ist. Bis zum Schluß von IV ist, mit Evas Traum und Satans Flucht, der erste große Erfolg Satans, sehr viel deutlicher aber auch schon die größere Macht Gottes aufgezeigt. Am Schluß von VI ist Gottes Allmacht durch die Niederlage Satans eindeutig und eindringlich manifestiert und auch Adam verständlich gemacht. Soweit der erste Teil des Paradise Lost. Bis zum Schluß von VIII sind der Schöpfungsakt Gottes und das Selbstverständnis Adams vollzogen. Am Ende von X ist Adam und mit ihm die ganze Schöpfung gefallen, aber Satan selbst ist bereits entmachtet, und der Mensch auf dem Wege zu einem neuen Selbstverständnis. Gottes Gerechtigkeit hat sich an Satan erwiesen, während er seine Gnade Adam zuzuwenden beginnt. Das Ende von XII ist die Umkehrung der bis Buch II gewonnenen Situation: Satan ist gestürzt, der Mensch gerettet und auf die Verheißung verwiesen. Dieses durchaus feststellbare Fortschreiten von Bücherpaar zu Bücherpaar ist offensichtlich nicht für die handlungsmäßigen Vorgänge allein, sondern vor allem für den Gang der Rechtfertigung Gottes entscheidend, denn es

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hat sich gezeigt, daß immer am Schluß eines solchen Paares ein neuer Aspekt von Gottes Größe und Handeln enthüllt wird. Eben dieses Fortschreiten kann uns auch schon auf das besondere Verhältnis der zwei ersten zu den beiden letzten Büchern hinweisen. Wir finden nämlich, daß sie in allen Einzelheiten und erst recht in ihrer Funktion auf eine äußerste Kontrastierung hin angelegt sind, in der sich die Bewegung auf einen Zielpunkt hin widerspiegelt. DIE DREITEILUNG DES

Paradist

Lost

Während Satan immer stärker in den Hintergrund gedrängt wird, tritt der Mensch im Aufbau des Paradise Lost immer deutlicher hervor. Das Absinken von Satans Größe ist als Tendenz sehr deutlich vorhanden, wenn auch nicht gradlinig dargestellt. Satan erscheint in verschiedenartiger Sicht, immer in Bewegung, bald mehr in äußerem Glanz, bald mehr in seiner inneren Verworfenheit gezeichnet; allem Schein von Größe zum Trotz, ist er schon in der Himmelsschlacht nicht der Antagonist; aber erst durch seine Metamorphose in X wird er ganz erniedrigt und aus dem Blickfeld der Dichtung entlassen. Dagegen wird Adam als Gestalt erst langsam deutlich und interessant in dem Maße, wie sein innerer Weg vom Ungehorsam zur Umkehr führt. Wodurch werden nun diese zwei auseinanderstrebenden Bewegungen zusammengehalten ? Wo liegt der Grund für die Vernichtung der Eigenmächtigkeit des Geschöpfes in Satan einerseits und für ihre Prüfung und Begrenzung in Adam andererseits? Die Himmelsszene III/l gibt uns die generelle, dogmatische Anwort auf diese Frage, aber sie reicht nicht hin, um Paradise Lost auch als Kunstwerk auszuweisen. Dazu bedarf es zugleich der künstlerischen Verwirklichung. Die dichterische Antwort liegt im Mittelstück des Paradise Lost (V/2—VIII). Dort wird das Hauptthema, die Macht und Herrlichkeit Gottes, behandelt, von dem her betrachtet Adams Weg zugleich Kontrast und Korrektur zu Satans Weg ist. Für das "great Argument" des Paradise Lost ist der Mittelteil zugleich auch das Hauptstück. Dem entspricht auch seine Leistung für den Aufbau der Dichtung. Der Mittelteil umklammert durch seine zentrale Stellung und seine Funktion die zwei Hälften des Paradise Lost, die wir etwas vergröbernd die Satans- und die Adamspartie nennen können. Er erweist sich aber auch als der Oberbau für die oben versuchte Zweiteilung des Paradise Lost sowie für die paarweise Gruppierung der Bücher, wenn wir, anstatt nach dem logischen Zusammenhang, nach der übergeordneten thematischen und künstlerischen Einheit urteilen. Der Mittelteil weist sowohl nach dem Anfang des Paradise Lost zurück, indem V/2—VI die Vorgeschichte zu I—IV bildet, wie auch

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voraus auf das Kommende, insofern VII/VIII als hinreichende Vorbereitung Adams auf die Versuchung aufzufassen sind. Denn erst wenn wir von V/2—VI, deren Bericht die Begründung und die Endgültigkeit von Satans Fall zu erkennen gibt, zurückblicken, erscheinen I—IV im richtigen Licht. VII/VIII schauen dagegen in die andere Richtung, zur Krisis hin, weil erst sie die Vollkommenheit der Schöpfung und die Stellung des Menschen in ihr klarlegen. Auf der vollkommenen Schöpfung und der Selbstverantwortlichkeit des Menschen baut dann Milton seine Rechtfertigung Gottes angesichts des Sündenfalls auf. Macht sich aber mit der Feststellung, daß die beiden Hälften des Mittelstückes verschieden ausgerichtet sind, nicht der Einschnitt in der Mitte der Dichtung, zwischen VI und VII, erneut geltend ? Wir haben freilich bisher nur die inhaltliche Seite berücksichtigt und haben die künstlerische Darstellung außer acht gelassen. Diese ist es aber, die der Starre einer rein inhaltlichen Aufgliederung entgegenwirkt. Denn wir sehen, daß der ganze Mittelteil aus dem fortlaufenden epischen Bericht herausgenommen ist und als Episode seine Eigenständigkeit und Geschlossenheit erhält. Gerade der Gefahr eines Auseinanderfallens des Paradise Lost in zwei Hälften ist damit begegnet. VI und VII, zu denen V/2 und VIII den Auftakt und den Ausklang bilden, gehören ihrer inhaltlichen und stilistischen Verschiedenheit zum Trotz unter dem höheren Gesichtspunkt der Thematik gerade als die zentralen Bücher eng zusammen. Himmelsschlacht und Schöpfungsakt verkünden Gottes Ruhm in zwei großen, unmittelbaren Vergegenwärtigungen seines Tuns. Sie sind, was die direkte Darstellung und Lobpreisung seines Handelns angeht, der dichterische Höhepunkt seiner Rechtfertigung, wogegen in den beiden Schlußbüchern das Argument im Spiegel der Menschheitsgeschichte bis in seine letzten Konsequenzen durchgeführt wird. Wir haben uns mit den vorausgegangenen Bemerkungen einem Gliederungsschema genähert, in dem Barker mit Recht eine starke und sinnvolle, die Zweiteilung überspielende Ordnung erkannt hat; es ist die Gliederung in Drittel11. Eine Dreiteilung ergibt auch die Analyse der Aeneis, des formalen Vorbildes von Paradise Lost. Nach den jeweils im Mittelpunkt stehenden Kräften und Schauplätzen sind I—IV als die Welt Satans (Hölle), V—VIII als der Bereich Gottes (Himmel) und IX—XII als Adams Welt (Erde) aufgefaßt worden. Dennoch befriedigt diese Aufteilung nicht ganz. Wir sollten bedenken, daß inmitten des ersten Drittels, in III/l, das Wichtigste über Gott und seinen Entwurf ausgesagt wird, und daß auch die erste bedeutsame Einführung des Menschen schon in dieser Büchergruppe geschieht (IV). So ist das erste 11

Barker, "Structural Pattern", S. 18.

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Drittel nach seiner Leistung für die Gesamtdichtung treffender mit Exposition zu bezeichnen. Dazu stimmt, daß bis zum Ende des IV. Buches alle Schauplätze, alle Handlungsträger, sowie das zur Krise führende Problem bekannt sind und das übergeordnete Hauptthema seine prinzipielle Klärung erfahren hat. Ebensowenig können wir das letzte Drittel einfach als die Welt Adams bezeichnen. In X spielen zwei größere und wichtige Himmelsszenen, sowie die allegorische Höllenszene von Satans Ohnmacht eine ins Gewicht fallende Rolle. Auch umfaßt der Schlußteil weit mehr als nur die Adamswelt, dadurch daß diese sich zur Menschheitsgeschichte erweitert. Das Hauptthema durchbricht und beherrscht, so stellen wir fest, die Ordnungen des ersten und des letzten Drittels; im Mittelteil behauptet es sich ganz ausschließlich. Befriedigend ist die Dreiteilung des Paradise Lost erst, wenn man in dem Mittelstück den übergeordneten Teil und, von der Mitte als dem eigentlichen Herrschaftsbereich Gottes ausgehend, die beiden anderen Teile — Satans Abfall und Verdammung und Adams Abfall und Erlösung — in ihrer Abhängigkeit vom Hauptthema versteht. Damit beginnt die eigentümliche Bauform des Paradise Lost sichtbar zu werden: wir finden ein stark erhöhtes Mittelstück, von dem die vorangegangenen wie die nachfolgenden Teile innerlich und handlungsmäßig abhängen 12 . Von hier ausgehend gelangen wir zu einer weiteren Einsicht: Das innere Gesetz von der Ausstrahlung der Mitte auf die anderen Teile wird bestätigt durch ein weitgehend durchgeführtes Entsprechungsverhältnis der übrigen Bücher zu ihr und zueinander. Die Dreiteilung Vergils ist im Paradise Lost zwar erhalten, aber sie hat durch die Aufhöhung des Mittelteils eine wesentliche Umbetonung erfahren. Das Mittelstück der Aeneis ist den beiden anderen Stücken gleichwertig und nicht durch jene der Mitte des Paradise Last eigene Monumentalität und Bedeutungsschwere ausgezeichnet. Im Gefolge dieser Umbetonung ist zu den schon in der Aeneis vorhandenen sich überlagernden Gliederungsformen im Paradise Lost ein Spannungsverhältnis eigener Art hinzugetreten. Es ist die Spannung der vom Rand zur Mitte hin einander entsprechenden und diese pfeilerartig stützenden Bücher. DIE STRUKTURELLEN ENTSPRECHUNGEN IM

Paradise Lost

Wir haben VI/VII, in denen die Taten Gottes unmittelbar zur Anschauung kommen, als das eigentliche Zentrum des Paradise Lost erkannt, wie sie auch äußerlich die Stellung in der Mitte der Dichtung 12

Auf ganz anderem Weg gelangt I. G. MacCaffrey, ' Paradise Lost' as "Myth" (Cambridge Mass., 1959), S. 56 zu der Auffassung, daß der Mittelteil des Paradise Lost erhöht ist; sie spricht von dem Bau der Dichtung als einem "great inverted V".

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einnehmen. Unterstrichen wird die wichtige Rolle von VI/VII durch ihre künstlerische Gestaltung. Milton hat die Darstellung der beiden Bücher, die der gleichen Absicht des "berichtenden Gotteslobs" dienen13, mit größter Sorgfalt ausgearbeitet und miteinander kontrastiert. Der dramatisch-heroische Stil der Engelschlacht erhält seine besondere Bedeutung durch die unverkennbar beabsichtigte Überbietung der Heldenschlachten in den klassischen Epen14. Gegenstand, Tonlage und Erzählweise von VII sind diesem Stil genau entgegengesetzt. Der schlichte Genesisbericht erfährt eine dichterische Ausschmückung und eine Ausweitung ins Epische, die belebt werden durch den Ton der Freude und des Lobpreises. Miltons Idee einer christlichen Dichtung in klassischer Gestalt läßt sich in ihrer doppelten Zielsetzung gerade hier in der Mitte der Dichtung wiederfinden, wo Antike und Bibel so greifbar als Vorbilder nebeneinander stehen. Das Kernstück VI/VII wird eingerahmt von zwei Büchern, deren Aufgabe es ist, seinen Gehalt belehrend auszudeuten. V/2 ist insofern die Vorbereitung auf VI/VII, als darin die Absicht deutlich wird, den Leser ebenso wie Adam an dem positiven Vorbild der Abdielgestalt über die Bindung des Geschöpfes an seinen Schöpfer und über den rechten Gebrauch der Willensfreiheit zu orientieren. Auch VIII steht in einem dienenden Verhältnis zu VI/VII. Denn der Sinn des Gespräches über Astronomie ist doch, den Menschen in seine Grenzen zu verweisen und über den rechten Gebrauch der Erkenntnis und des Wissens zu belehren. V/2 und VIII enthalten nicht allein eine ausdrückliche Mahnung an Adam, sondern sind gleichzeitig als die Argumentationsstützen der konkret schildernden Mittelbücher diesen untergeordnet und auf sie hin bezogen. V/2 sowie VIII führen von der Ebene des Lehrgespräches, dem Exemplum in dem ersten und der diskursiven Unterweisung im anderen, steil hinauf zu dem Zentrum, der sinnfälligen Manifestation des göttlichen Handelns. Auch für die beiden Nachbarbücher des Mittelbaus, IV und IX, stellen wir ohne Schwierigkeit gewisse formale und inhaltliche Entsprechungen fest. Sie beginnen beide mit einem Exordium, das zwar keinen Musenanruf (wie I und VII) und kein Gebet (wie III) enthält, aber doch einen stark betonten Auftakt bedeutet, der sie mit den Exordien von I, III und VII zusammen vor den sechs auftaktschwächeren Büchern heraushebt. Ihre inhaltliche Verwandtschaft liegt darin, daß 13 14

Vgl. S. 24, Anm. 8. Daß Milton die epischen Konventionen benutzt, um seine tiefsten Überzeugungen auszudrücken, und sie zum Fundament seiner Dichtung macht, weist Spaeth, S. 209 f. u. a. an der Himmelsschlacht nach.

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in beiden Büchern eine Versuchung dargestellt wird. Gewiß erfahren die gleichen formalen und inhaltlichen Erscheinungen eine Reihe von Abwandlungen. So unterscheidet sich, dem ganzen Ton und der Aufgabe der Bücher entsprechend, der emotionale Auftakt des IV. von dem reflektierend-argumentierenden Exordium des I X . Buches. IV stellt die Idylle der reinen Geschöpflichkeit dar und ist als Ganzes, was durch die Gebete Adams und Evas bestärkt wird, eine Hymne auf Gott den Schöpfer. Hingegen liegt dem I X . Buch der Ton, ja sogar der Bau der Tragödie zugrunde, womit das Buch im Ganzen der Dichtung eine Sonderstellung einnimmt. Weiterhin ist die erste Versuchung in IV in einen Traum eingekleidet und nur eine symbolische Vorwegnahme, die andere in I X ist dagegen das alles entscheidende Ereignis der Dichtung. Strukturell spiegelt sich in den beiden Büchern das Verhältnis von Protasis und Epitasis wider. Im Abbild der vollkommenen Zuständlichkeit des IV. Buches wird das Hauptthema ungebrochen greifbar; die Dramatik von I X gibt ein entstelltes Bild von ihm, doch ohne es ungültig zu machen. Von der Mitte der Dichtung her gehen IV und I X gegenläufig aus, indem IV das in der vollkommenen Schöpfung ruhende reine Glück und gegenbildlich I X die Tragik der gestörten Schöpfung zeigt. Es kann sich überhaupt, wenn hier von einer Symmetrie der dichterischen Anlage gesprochen wird, nie um eine statische Ordnung handeln16. Das epische Erzählen ist nicht nur einem strengen Kompositionsgefüge unterworfen, sondern ist stets zugleich auf ein Ende ausgerichtet und bewegt sich in der Zeit. Das gilt für Paradise Lost in tieferer Bedeutung, insofern das zugrundeliegende christliche Denken ja keine zyklische, sondern eine teleologische, eschatologische Zeitvorstellung voraussetzt. Dem klaren und sinntragenden Ordnungsgefüge wirkt die Bewegungstendenz insgeheim entgegen, doch ohne es aufzuheben. Sie verleiht ihm vielmehr erst Leben. Es genügt auch nicht, nur den rein formalen oder den rein inhaltlichen Bezug zwischen den Büchern festzustellen, sondern wir müssen ihre Rolle für die Intention der Dichtung und ihre Stellung im Aufbau vergleichen. Danach beurteilt bedeutet die Schilderung des Paradieses die Verherrlichung Gottes in der ungefallenen Schöpfung, und I X ist der Verrat des Menschen an eben dieser Ordnung Gottes. Die gleichen Einschränkungen gelten auch für unsere Behauptung, daß III und X sowie die Randbücher in einem EntsprechungsVerhältnis 15

M. M. Mahood, Poetry and Humantsm (London, 1950), S. 188ff. und S. 318, Anm. 15, sieht die Symmetrie nicht nur im Detail sowie im Gesamtplan des Paradise Lost, sondern auch im gesamten dichterischen Schaffen Miltons — "symmetry of work with work" — als ein durchgehendes Prinzip an; vgl. auch MacCaffrey, S. 56.

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zueinander stehen. Im Mittelpunkt von III und von X steht die Klärung des Verhältnisses von göttlicher Gerechtigkeit und Gnade, von dem eine Rechtfertigung Gottes abhängt. Es wird in III im Dialog zwischen Gottvater und Gottessohn diskutiert und festgelegt, in X als eine menschliche Erfahrung erlitten und begriffen: Die Dynamik dieser 2entralen Auseinandersetzung ist in X von der göttlichen auf die menschliche Ebene verlegt worden und tritt in Adams großem Monolog zutage. Der großen Himmelsszene in III stehen kleinere in X gegenüber. Während Gott in der ersten seinen Plan im Ganzen entwirft, setzt er in den entsprechenden Szenen in X seine neue Ordnung für die gefallene Menschheit fest. Für das Handlungsthema beobachten wir, daß der in III geschilderten Fahrt Satans zur Erde in X die Fahrt von Sünde und Tod dorthin gegenübersteht. Die Form der Darbietung ist dabei abgewandelt; an die Stelle eines großartigen mythischen Bildes ist nun eine drastische Allegorie getreten. Wie für das Zuordnungsverhältnis von IV und IX stellen wir auch hier wieder fest, daß sich in den Entsprechungen immer auch das Fortschreiten der dichterischen Rechtfertigung Gottes auf ihre letzte Stufe hin spiegelt. So zeigt uns etwa die Tatsache, daß Adam in III noch ganz in der Ferne bleibt, während wir in X in sein Innerstes schauen, neben der deutlichen Entsprechung zugleich den Weg auf, den die Dichtung inzwischen zurückgelegt hat. Am auffälligsten und beziehungsreichsten zeigt sich das Verhältnis der Randbücher zueinander. I/II und XI/XII sind die äußersten Stützen des zentral angelegten Baus von Miltons Dichtung. Die sehr betonte strukturelle Entsprechung wird auf dem Boden einer geradezu polaren Kontrastierung verwirklicht. Auch die an den anderen Büchern beobachteten Entsprechungen weisen ja eine gewisse Progression und eine merkliche Gegensätzlichkeit auf, aber in dem Verhältnis der Randbücher zueinander treten diese Züge noch in verstärktem Maße hervor. Wenn wir zunächst vom Gegenstand ausgehen, so finden wir in I/II Satan in imponierender Größe als Handlungsträger, den Menschen dagegen nur als sein fernes Objekt. Paradise Lost setzt mit dem dynamischen, die Handlung auslösenden Augenblick ein. Die Geschehnisse vollziehen sich im räumlichen und im übertragenen Sinn in äußerster Gottferne. Dem stellen sich XI/XII gegenüber, wo Satan bereits als machtlos entrückt, der Mensch aber ganz als Objekt Gottes verstanden ist, nicht allein in der Gestalt Adams, sondern in der ganzen Menschheit. In I/II dominiert der unendliche Raum, hingegen zielen XI/XII auf die Zeit ohne Ende. Enthalten die Anfangsbücher den Ansatz zu dem von Satan gewirkten Unheil des Menschen, so enthalten die Schlußbücher den Ansatz zu Gottes Verwirklichung des menschlichen Heils. Statt um die Gottferne Adams geht es um das Gottesverständnis des Menschen.

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Gerade die im Exordium zu IX geforderte Umkehrung des Heldenbegriffes, die ein wichtiges Argument in der Rechtfertigung Gottes ist, tritt in der extremen Verschiedenheit der Bücherpaare I/II und XI/XII zutage: hier der Rebell, dort der Gläubige. I/II sind die Spiegelbilder von Gottes Zorn, dem die ewige Qual der Teufel entspringt. In XI/XII offenbart sich immer deutlicher Gottes Gnade, durch deren Verheißung das vergängliche Leid der Menschen in ewige Seligkeit verwandelt wird. Die Sinnlichkeit und Dramatik der ersten Bücher, die sich auf dem Hintergrund des Mythos entfaltet, verhält sich zu der Didaktik und dem unsinnlichen Charakter der ganz biblisch orientierten Schlußbücher wie Spannung zu Lösung, Pathos zu Stille, Expansion zu Kontraktion. An die Stelle der glanzvollen, aber verkehrten Turbulenz tritt die äußere und innere Schau, und so trägt auch die Darstellung ganz andere Züge. Denken wir z. B. nur an die drängende Fülle von ungemein lebendigen und kühnen epischen Bildern am Anfang, die gerade in den zwei ersten Büchern so stark auffällt, im Gegensatz zu der Armut an Gleichnissen und Vergleichen in den Schlußbüchern16. Kein Wunder, daß der allgemeinen Bewunderung von I/II eine ebenso allgemeine Ablehnung von XI/XII entspricht. Wir können diese Einstellung aber korrigieren, wenn wir in der äußersten Gegensätzlichkeit der Bücherpaare eine höhere Absicht Miltons erkennen, die er mit allen Mitteln, selbst mit dem Verzicht auf ästhetische Wirksamkeit in XI/XII, verwirklichen will. Er hat der Auflehnung gegen Gottes Willen, der Negation des Hauptthemas, durch die stilistischen Mittel der Darstellung eine große, verführerische Anziehungskraft verliehen. Aber für das Positive, die Bejahung der Wege Gottes, begibt er sich bewußt eines solchen Aufwandes. Die Darstellung ist also nur die Spiegelung des Paradoxons der christlichen Existenz. Der Schlüssel zum rechten Verständnis der Anfangs- und der Schlußbücher liegt in ihrer Bezogenheit auf Gott als das Zentrum, die sich in so völlig entgegengesetzter Weise in ihnen manifestiert. Das erste 16

J. Blondel, Milton Poète de la Bible dans le 'Paradis Perdu', Archives des lettres modernes 21/22 (1959) kommt im VI. Kapitel (Poésie de l'Enfer) unserer Kontrastierung von I/II und XI/XII sehr nahe; bei Stamm, Englische Literatur, S. 187 findet sich die treffende Bemerkung: "So wird das Verhalten der mit Gott Zerfallenen am Anfang und am Ende der Dichtung zum Thema Miltons : Satans Verhalten steht in einem wirksamen Kontrast zu demjenigen Adams." Wir möchten hierzu lediglich ergänzen, daß genau an dieser Spannung die Wege Gottes offenbar werden, so daß sich zeigt, wie eben diese dem Anfang und dem Schluß des Paradise Lost ihre wahre Bedeutung geben. Doch trifft Stamm das Wesentliche, wenn er der äußeren Dynamik Satans die innere Dynamik von Adams Weg entgegenstellt, und diese als einen Kommentar zu jener versteht, "der ironische Lichter wirft auf Satans heroisches Rebellentum und auch auf den Titel des ganzen Gedichts".

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Gleichnis des ersten Buches und das einzige des letzten mögen zeichenhaft für diese Umkehr stehen: in dem einen wird Satan den gewaltigsten Riesen der griechischen Mythen und dem gefährlichen Leviathan verglichen; das andere zeigt die Engel und den scheidenden Adam in dem Bild vom Abendnebel und dem heimwärtsziehenden Landmann17. So läßt sich für alle Bücher des Paradise Lost eine Korrespondenz der Funktionen beobachten, die einerseits stets auf das Mittelstück bezogen, andererseits von der Bewegung auf die Schlußbücher zu bestimmt ist. Die Verquickung des Prinzips der Symmetrie mit dem Prinzip der progressiven Entfaltung des Hauptthemas bestärkt uns in unserem Vorhaben, die besondere Eigenart und Leistung von Buch XI und XII genau zu untersuchen. SCHLUSSBEMERKUNG

Eine kurze Schlußbemerkung zur Komposition des Paradise Lost sei hier angeschlossen. Immer wieder macht sich, wie wir sehen, dem Ordnungsprinzip gegenüber Miltons Wille geltend, es nicht starr zu handhaben. Daher die ungleiche Länge der Bücher, die gelegentliche Aufhebung der Grenzen zwischen den Büchern; daher auch hin und wieder der Verzicht auf die Zweigliedrigkeit eines Buches. Hierher gehört auch etwa die auffallende Abweichung von Vergil in der Verankerung der Episode: Raphaels Bericht setzt schon mitten in Buch V ein und wird über die folgende Buchgrenze hinweggeführt18. Andererseits wird die Episode geteilt durch den starken Auftakt von VII und eine kurze Vergegenwärtigung der Gesprächssituation. Wenn wir bedenken, daß die strukturell so wichtige und betonte Stelle, die Mitte der Dichtung, inmitten von Raphaels Rede steht, daß sie aber weder die Geschlossenheit der Episode sprengt, noch von ihr völlig überspielt wird, so wird daran deutlich, wie sich hier die ordnende und die auflockernde Tendenz des Dichters begegnen. Ein solches Überspielen der einmal gewählten Form kennt Vergil nicht; bei Milton wird es aber zum Ausdruck einer Dynamik, die seinem Wesen zutiefst entspricht, und mit deren Hilfe er die strenge Form seiner besonderen Aufgabe gefügig macht. Es fällt nämlich auf, daß das Doppelprinzip der festen und der lockeren Form sich nicht nur in der Struktur, sondern auch im Sprachlichen zeigt. Zum Beispiel ist ein Vergleich häufig nicht dort zu Ende, wo der Dichter der Form nach auf die Erzählebene zurückkehrt. Ein Bild wird oft erweitert, verdoppelt, 17 18

Vgl. I, 197—208. und XII, 629—32. Der Bericht des Aeneas deckt sich dagegen genau mit dem II. und III. Buch der Aeneis.

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fast gesprengt, um dann doch als Gan2es einen Gesamteindruck zu hinterlassen, während es kaum merklich wieder in den epischen Bericht übergeführt wird 1 9 . Bei Aufzählungen oder längeren Erzähleinheiten wird ein neuer Ansatz oder eine Pause gerade nicht am Zeilenende, sondern in der Zeilenmitte gemacht, so daß die Verklammerung ebenso spürbar wird wie die Aufgliederung, und der Zusammenhang trotz der Zäsur gewahrt bleibt. Geringere Einschnitte, die den Zusammenhang nicht gefährden, stehen dagegen am Zeilenende. Wir finden das Wechselverhältnis v o n klar gekennzeichneter Gliederung und A u f hebung der durch sie gezogenen Grenzen durchgehend im Paradise Lost20. Zugrunde liegt immer eine doppelte Tendenz, die sich freilich nicht allein aus Miltons Natur, sondern aus dem Anliegen seiner Dichtung erklärt. Er will ein Höchstmaß v o n Wahrheit mit einem Höchstmaß an Schönheit verbinden 2 1 . Er will und muß sowohl möglichst explizit und eindeutig als auch vage-entgrenzend darstellen. Daher sucht er nach Deutlichkeit, Gegenständlichkeit, Straffheit auf der einen, und nach Suggestion, Anreicherung, Bewegung auf der anderen Seite. Für die Struktur bedeutet die Wechselbeziehung v o n fester und freier Form, daß sich innerhalb eines straff angelegten Planes ein organisches Ganzes entfalten kann. 19 20

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Vgl. z. B. I, 551 ff. ; 710ff.; XI, 381 ff. Vgl. den fließenden Übergang bei wichtigen Einschnitten, etwa innerhalb XII, 358 und 369 mit den auf das Zeilenende fallenden geringeren Einschnitten zwischen XII, 363/4 und 366/7, sowie die Ausführungen zur Engelshymne III, 372—415 auf S. 53. Zum Problem der Wahrheitsdarstellung in dichterischer Gestalt vgl. W. J. Grace, "Orthodoxy and Aesthetic Method in 'Paradise Lost' and the 'Divine Comedy' CL, 1 (1949); ferner Blondel, Milton Poète de la Bible, Kap. IV, V, VI.

Wiederholt gebrauchte epische Darstellungsformen VORBEMERKUNG

Milton macht das Hauptthema des Paradise Lost nicht nur mit Hilfe der Komposition durchsichtig, sondern benützt eine Reihe von epischen Konventionen in dem gleichen Sinne. Wenn sie hier im Überblick zusammengefaßt und kurz auf ihre Funktion hin geprüft werden, so wird damit nicht der Auffassung gehuldigt, als ließe sich aus den technischen Mitteln auf statistischem Wege der Sinn einer Dichtung erschließen. Aber da Milton nicht auf die Geschehnisse selbst, sondern auf ihre Deutung den größten Wert legt, so ist zu erwarten, daß seine Intention auch den wiederkehrenden Formeinheiten zugrunde liegt, d. h. daß sie strukturierenden Charakter haben. Milton ist sich bewußt, daß seine Absicht, am Sündenfall die Größe Gottes aufzuweisen, einen sehr umfassenden Gesamtentwurf verlangt, und daß er bei der Darbietung auf Schwierigkeiten stoßen muß. Er benötigt eine weit über den eigentlichen Sündenfall hinausgehende Fülle des Stoffes, die mit sicherer Hand zusammengehalten werden muß, und der Leser braucht eine gewisse Führung, um das Vordergrundsgeschehen immer auf dem Hintergrund von Gottes Plänen sehen zu können. Raphael weiß, daß zu Adams Bestem die Enthüllung der anderen, himmlischen Welt erlaubt ist, daß es dafür aber nur ein vergleichsweises und stets erläuterndes Sprechen gibt1. Der Bote Gottes greift selbst immer wieder zu verdeutlichenden Mitteln wie Vergleichen oder Kommentaren. So wie Raphael sich sichert, um von seinem Zuhörer verstanden zu werden, tut es auch Milton. Er hat in dieser Absicht eine Anzahl von epischen Darstellungsmitteln eingesetzt, die das Hauptanliegen oder Hauptthema von Zeit zu Zeit mittelbar oder unmittelbar unterstreichen. Sie sind nach Form, Inhalt und Bedeutung verschieden, aber sie entspringen alle dem gleichen Bedürfnis und zielen jedes in einer anderen Weise auf dasselbe hin: den Sinngehalt des Paradise Lost zu verdeutlichen. Einmal sind es erläuternde Exkurse, ein anderes Mal Winke und Andeutungen. Gelegentlich bedient sich Milton aber auch größerer dichterischer Formen, vor allem in den Hymnen und Gebeten, in Invokationen und Vorblicken. Wo immer kürzere oder längere Partien dieser Art auftreten, unterbrechen sie den epischen Bericht, bringen 1

V, 563—76 M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Abwechslung oder Kontrast, sammeln zur Besinnung, schaffen Spannung. Es gehört zur Gattung des Epos und ist durch die Tradition bestätigt, daß die Erzählung nicht nur nach bestimmten Formgesetzen aufgebaut und gegliedert, sondern auch gelegentlich unterbrochen wird. Doch helfen die eingeschobenen Unterbrechungen dank ihres Hinweis-Charakters, die innere Einheit herzustellen und zu festigen. Vergil kennt neben den Invokationen noch Träume, Orakel, Prodigien, Omina und Vorblicke, aber kaum Monologe und überhaupt keine Exkurse. Freilich kann Milton diese Formen nicht einfach übernehmen, ohne sie umzuwandeln, noch reichen sie für sein so anders geartetes Vorhaben aus. Weder Spaeth noch Woodhouse gehen auf die hier betrachteten epischen Darstellungsmittel ein. Spaeth beschränkt seine Untersuchung über Miltons Umgestaltung der epischen Konventionen auf die epischen Episoden und die Invokationen, während Woodhouse sein Interesse auf die Rolle von "action, character and setting and even . . . concepts and an argument" als thematischen Stützen richtet2. Ansätze zu einer solchen Untersuchung finden sich am ehesten bei R. Heinze und bei K. Büchner, der, über Heinze hinausgehend, auch nach der Funktion der epischem Mittel fragt 3 . Orakel, Prodigien und Omina haben im Paradise Lost kaum einen Platz; wo sie vorkommen, ist ihr traditioneller Charakter erhalten, so daß sie ornamental, aber nicht strukturell wirken. Auch die Träume rücken für Milton gegenüber Vergil in den Hintergrund, weil Gott seine Mitteilungen dem Wachenden macht und der Traum als Mittel der Kommunikation zwischen Gott und Mensch somit durch die direkte Offenbarung überboten wird. Milton hat eine theologisch und naturwissenschaftlich fundierte Auffassung von Träumen: Sie sind der Tummelplatz der Phantasie, die im Wachen von der Vernunft gezügelt wird, wie Adam selbst weiß 4. Eva ist es daher, die zweimal von Träumen heimgesucht wird 6 . Ihr erster Traum von der Versuchung zeigt dann auch die Entwertung des Traums im Paradise Lost. Er ist ein böses Gaukelspiel Satans und bleibt, wenn sein wahres Wesen erkannt wird, ohne Wirkung auf die reine Natur Evas. Zwar kann gelegentlich auch der Traum dem Menschen Gottes Willen kundtun, wie XII, 611 betont wird, aber die Grundanschauung bleibt trotzdem gewahrt: Adam als 2 3 4 5

Spaeth, S. 202; Woodhouse, S. 109. R. Heinze, Virgils epische Technik (Leipzig,31915), S. 239ff., Kap. II, 1 und 2; Büchner, Vergil, S. 318, 320, 337, 343 u. ö. V, 95 ff. IV, 801 ff. und V, 30ff.; XII, 595, 611ff.; vgl. auch W. B. Hunter jr., "Prophetic Dreams and Visions in 'Paradise Lost'", MLQ, 9 (1948).

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dem Träger der vollkommeneren Vernunft werden Visionen zuteil — ob in Bildern oder Rede fällt hier nicht ins Gewicht —, während Eva als dem schwächeren Gefäß die Zukunft der Menschheit in sanften Träumen gezeigt wird. Zu den epischen Konventionen zählen auch die Exordien; da aber ihre besondere Funktion im Paradise Lost bereits von Tillyard und Spaeth untersucht ist, werden sie hier nicht behandelt6. Wenn wir auch die epischen Gleichnisse aus unserer Betrachtung ausscheiden, so hat das einen anderen Grund. Es läßt sich nicht bestreiten, daß sie in ihrem jeweiligen Zusammenhang die Aufgabe haben, den Symbolgehalt des Geschehens zu verdeutlichen, aber für das Ganze der Dichtung haben sie nicht eigentlich eine strukturelle Bedeutung7. MONOLOGE, GEBETE UND HYMNEN

Monologe, Gebete und Hymnen lassen sich zwar nicht einfach als "Unterbrechungen" ansprechen, aber es sind doch epische Motive, die die Handlung retardieren und den Leser verweilen lassen. Die Verknüpfung von Haupt- und Handlungsthema ist hier besonders einleuchtend, weil sie einerseits durchaus in den Gang der Ereignisse eingefügt sind, andererseits aber stets durch dessen Ausdeutung und Vertiefung den Blick auf seinen Hintergrund lenken. Ihr Thema ist die lebendige Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer. Wir finden in Miltons Epos eine ganze Anzahl wichtiger Monologe, die eine dem Paradise Lost eigene Form der Auseinandersetzung der Geschöpfe mit Gott sind8. Alle kreisen um den Gedanken des Abfalls von Gott, indem sie das Ungeheuerliche des Ungehorsams aufzeigen, wie es ein Wesen beunruhigt, quält, reizt, treibt, überwältigt. Diese Monologe treten in dramatisch höchst gespannten Augenblicken auf, leuchten ins Innere einer Gestalt und geben ihr vermehrte Lebendigkeit. Sie versinnbildlichen aber auch, daß das Aufbegehren gegen Gott die Strafe schon in sich trägt und einen inneren Aufruhr auslöst, der die Unseligkeit des Bösen anzeigt. « Miltan, S. 245ff.; 7

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"Epic Conventions", S. 202ff. Eine einleuchtende Behandlung der epischen Gleichnisse findet sich bei Wright, Milton's 'Paradise Lost', Kap. IV: "The Function of the Epic Simile". Monologe Satans: IV, 32—113, 358—92, 505—35; IX, 99—178, 473—93 Monologe Evas: IX, 745—79, 795—833; (unmittelbar vor und nach ihrer Sünde) Monologe Adams: IX, 896—916; X, 720—862 (desgl.). Abdiels kurzer Monolog VI, 114—26 nimmt eine andere, hier nicht zu behandelnde Stellung ein, die der Ermunterung des Helden vor der Schlacht bei Homer vergleichbar ist. 4*

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Die Gebete haben wieder eine andere Funktion®. Sie wenden die Blicke des Lesers dorthin, wo alle Dinge ihren Ursprung haben. Im Unterschied zu den Monologen tragen sie nichts zur Handlung bei. Es ist ein Innehalten zum Lob des Schöpfers, oder, wie das Reuegebet Adams, eine Neuorientierung zu Gott hin. Im Monolog hat sich das Geschöpf von Gott gelöst, im Lobpreis und Bittgebet ist es ganz auf Gott bezogen. Wo wir Gebete finden, werden wir immer auf das große Thema von Gott in der Herrlichkeit seiner Manifestationen und nach oben, nicht nach innen geführt. Auch die großen Invokationen zu I und III sind, ihrer Haltung und Tonlage nach, eigentlich Gebete. Nur sind sie als Gebete des Dichters weitgehend aus dem epischen Zusammenhang gelöst und haben eine spezifische strukturelle Bedeutung. Vor allem die Anrufung des Lichts zu Beginn von III hat GebetsCharakter, weil Milton im Licht eine Erscheinungsform der Kraft Gottes anspricht, und weil er neben der Herbeirufung noch eine Lobpreisung und die persönliche Bitte um Tröstung vorträgt. Ähnlich wie die Gebete des Dichters sind auch die Hymnen der Engel aus dem Handlungsgeschehen'herausgenommen10. Sie ertönen in den großen Augenblicken, wo sich die Majestät Gottes unmittelbar offenbart. Deshalb krönt ein Hymnus die erste Himmelsszene in III, und auch der Entschluß zur Erschaffung der Welt sowie ihre Vollendung werden durch Lobgesänge gefeiert. Daß auch die Szene, in der Gott den Engeln die Strafe der Menschen feierlich verkündet, in einer Hymne gipfelt, wirft von diesen Zusammenhängen her ein Licht auf die Bedeutung seines Beschlusses. APOSTROPHEN

Obwohl Apostrophen im Paradise Lost nicht auffallend häufig sind, lohnt es sich, einen Blick auf sie zu werfen11. Eine Sonderstellung 9

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Gebete: IV, 724—35; V, 153—208; X , 1086ff. (nicht wörtlich angeführt); zur Funktion des Morgengebets V, 153 ff. vgl. Summers, "Grateful Vicissitude", S. 251 ff. Hymnen der Engel: III, 372—415 (Abschluß der Himmelsszene); VII, 182—91 (vor der Schöpfung); VII, 565—73 (Einzug in den Himmel nach der Schöpfung); VII, 602—32 (Sabbathymne); X , 643—48 (nach der Verkündung des Urteils). Apostrophen im engeren Sinn des Wortes: 1. IV, 313—18: "dishonest shame / Of natures works . . ." 2. IV, 750—62: "Haile wedded Love, mysterious Law . . ." 3. IV, 773—75: "Sleep on, / Biest pair . . ." 4. IX, 404—11: "O much deceav'd, much failing, hapless Eve . . ." 5. XI, 754—58: "How didst thou grieve then, Adam, . . ." Der Ausruf des Dichters VIII, 57/8: "O when meet now . . ." berührt sich eng mit den Apostrophen, ohne aber formal zu ihnen zu gehören. Ausrufe und rhe-

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unter den Apostrophen nehmen die Anrufungen innerhalb der Engelshymne der großen Himmelsszene ein 12 . Sie werden daher hier vorweg behandelt. Der Lobgesang verläuft in vier Ansätzen, die abwechselnd Gottvater und den Sohn apostrophieren (372, 383, 401, 412). Die ganze Stelle ist, das ist das Merkwürdige, nicht eindeutig als eine direkte Aussage des Dichters zu verstehen, noch als reiner Lobgesang der Engel. Eine Trennung zwischen Dichterwort und Engelsgesang ist zwar offensichtlich angelegt, wird aber nicht durchgeführt 13 . Der Dichter versetzt sich unter die Schar der lobsingenden Engel, sein Hymnus ist zugleich der ihre. Damit verliert aber die Anrufung die Eigenständigkeit, die doch die Voraussetzung einer echten dichterischen Apostrophe ist. Uns ist aber die Stelle in einer anderen Beziehung aufschlußreich. Wenn wir von den genannten großen Invokationen absehen, die durch ihre Gebetshaltung Anruf-Charakter besitzen, findet sich eine Anrufung der Gottheit — anders als es vielleicht in dieser Dichtung zu erwarten wäre — überhaupt nur an dieser einzigen Stelle, w o sie in die Hymne der Engel eingehüllt ist. Neben den eben kurz genannten Anrufungen finden wir im Paradise Lost nur noch fünf weitere Apostrophen, von denen sich drei auf das IV. Buch und die beiden anderen auf das IX. und XI. verteilen. Sie treten an Stellen starker innerer Bewegtheit auf und beziehen sich alle

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torische Fragen des Dichters können hier unberücksichtigt bleiben. Sie sind, obwohl auch sie der Emphase dienen, keine eigentlichen Apostrophen. Ausrufe finden sich z. B.: IV, 1; V, 445/6; IX, 1114/5. Rhetorische Fragen z. B.: II, 553; VIII, 57/8; XI, 494/5. Zu Formeln gewordene Anreden des Lesers sind einfaches "loe" (oder "lo") und "behold", deren Entsprechungen schon bei Vergil keine anredende Bedeutung mehr haben. "loe" insgesamt dreimal: III 486; X, 1050; XI, 729; "behold" eindeutig zum Leser gerichtet insgesamt viermal: I, 777; II, 959; X, 326; XI, 581. III, 372—415. Nachdem der Dichter zunächst berichtet: "Thee Father first they sung" (372) und entsprechend weiter unten sagt: „Thee next they sang" (383), werden seine Aussagen im Verlauf der Stelle mit dem Lied der Engel identifiziert. Die folgenden zwei Anrufungen können ebensogut ein Teil des himmlischen Gesangs wieMiltons eigene Worte sein (401, 412). Auch im Schlußwort schart sich der Dichter zu dem Chor der Engel: er will von nun an unermüdlich das Lob des Sohnes zu seiner Harfe singen (412—15). Aber gerade die Nennung des Instruments ist ein deutlicher Rückgriff auf Z. 365, wo die Engel ihre Harfen stimmen. Auch die Überleitungsverse zur folgenden zweiten Hälfte des Buches legen es nahe, in der voraufgegangenen Stelle nicht nur einen hymnischen Anruf der Gottheit durch den Dichter zu sehen, denn sie nehmen auf das Gesagte in einer Form Bezug, die es zugleich als das Loblied der Engel erscheinen läßt. "Thus they in Heav'n, above the starry Sphear, / Thir happie hours in joy and hymning spent" (416/7). — Die gleiche darstellerische Freiheit, das Hinübergleiten von einer Aussageweise in eine andere, läßt sich im Paradise Lott wiederholt beobachten.

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auf den Sündenfall. Sie verhelfen dem emotionalen Unterton zum Durchbruch, doch ohne den gedanklichen Bau des Paradise Lost zu stützen. Ihr Bezug zum Hauptthema ist nur mittelbar, aber die Dichtung braucht auch Höhepunkte, die eine rein menschliche Anteilnahme des Lesers wecken. Die verdeckte Spannung, die sich durch IV hindurchzieht, — der Mensch steht darin, ohne es zu wissen, zwischen Gott und Satan — wird durch die gerade in diesem Buch sich häufenden Apostrophen besonders deutlich. Kaum ist das Menschenpaar aufgetreten, so bedrängt den Dichter der vorahnende Schmerz um die schon bald verlorene Menschheit. Die beiden ersten Anrufe sind an "shame" und "wedded Love" gerichtet, während die späteren drei sich an Adam oder Eva richten. Beide haben einen leicht belehrenden Einschlag, der sich sowohl im Ton als auch in der Form äußert. Ihre Tendenz zur Reflexion und ihr größerer Umfang rücken sie in die Nähe der moralischen Exkurse. Aber es stellt sich merkwürdig schnell heraus, daß diese Art der Apostrophe Milton nicht genügt, wenn er die Trauer um den Verlust der ursprünglichen Unschuld ausdrücken und im Leser hervorrufen will. So schließt sich fast unmittelbar an die zweite Apostrophe der ergreifende Anruf an: "Sleep on, / Biest pair. . .", und damit ist die direkte Anrufung Adams und Evas endgültig gefunden. Diese und die beiden noch folgenden Apostrophen richten sich unmittelbar an Adam und Eva und haben ihre innere Lage zum Gegenstand. Der tragische Unterton ist nicht zu überhören. Während die zwei ersteren (3 und 4) proleptisch sind, steht die letzte schon im Schatten des Sündenfalls. Jene sind kurze, bange, von Gefühl und Bedeutung geladene Zurufe, in denen bereits auf das Geschick der in Adam und Eva mitgefährdeten Menschheit vorausgewiesen wird. Diese dagegen bezeichnet den tiefsten Punkt von Adams Verzweiflung über den gänzlichen Verlust der Menschheit. An seiner Erschütterung, die die Antwort einer verzweifelten Kreatur auf ihr Leiden ist, soll der Leser innerlich teilnehmen. Alle drei Apostrophen finden sich unmittelbar vor einer Krisis der Adamsgeschichte: vor der Traumversuchung Evas in IV, vor ihrer Versuchung durch Satan in IX, und in XI genau vor dem Wendepunkt, wo an die Stelle des Untergangs der Menschen die Stiftung des neuen Bundes mit Noah tritt. Daraus erhellt ihre Aufgabe, die emotionale Wirkung der Krisen zu vertiefen. EXKURSE

Der Verlauf der epischen Handlung wird aber im Paradise Lost hin und wieder auch durch wirkliche Exkurse merklich unterbrochen. Grundsätzlich kann die Verdeutlichung des Sinngehalts an bestimmten

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Stellen auf zwei Weisen geschehen. Entweder emotional und suggestiv, indem die Vorstellungskraft, die Innenwelt des Lesers angesprochen wird. Hierzu rechnen wir die Gebete, Hymnen und Apostrophen, deren Wirkung zugleich von der dichterischen Qualität ihrer Darbietung abhängt. Oder es geschieht direkt durch Erläuterung und Belehrung in der Form von Exkursen, d. h. in erster Linie den Verstand befriedigend. Da sie sich aber an den Verstand wenden, spielt bei ihnen die dichterische Gestaltung keine so große Rolle wie bei der ersten Gruppe. Dafür ist IV, 660—78 ein gutes Beispiel; dort wird Eva von Adam über die Ordnung des Kosmos belehrt. Zwar bedeutet die Rede gegenüber dem gerade vorausgegangenen Loblied Evas auf die Natur eine Herabstimmung vom lyrischen Ton auf eine mehr rhetorische Sprechweise ; aber der Stil ist so stark auf den großen Gegenstand abgestimmt, und der Aufbau zeigt so deutliche Anzeichen einer künstlerischen Gestaltung — die Rede schreitet von der einfachen Belehrung zum rühmenden Bericht fort —, daß diese dichterischen Mittel uns hindern, in dem Passus einen Exkurs zu sehen14. Gemeinsam ist der emotionalen und der rationalen Verdeutlichung, daß sie nicht Ornament und Zusatz sind, sondern in der Dichtung integriert ihre Aufgabe erfüllen. Mit Exkursen bezeichnen wir hier kürzere Abschweifungen, die kommentierenden Charakter haben. Ihre Zahl ist nicht sehr groß, aber sie fallen durch ihren didaktischen Ton sofort auf und sind ein gerade für Paradise host charakteristisches Darstellungsmittel. Oft werden sie mit "for" eingeleitet (z. B. II, 482), oder sie haben die Form einer Sentenz (z. B. I, 690: Let non admire . . .). Die im Paradise Lost zahlreichen erläuternden Zwischenbemerkungen, d. h. Parenthesen bis zu zwei Zeilen Länge, werden nicht darunter gezählt; sie finden sich am häufigsten in den Reden der Engel und hängen mit Miltons Bemühen um poetische Wahrscheinlichkeit zusammen — denn Adam kann Himmlisches nicht ohne Vergleiche oder Erklärungen begreifen (z. B. V, 628/9; VII, 296). Aber nur wo zugleich eine deutliche Hinwendung zum Leser zu erkennen ist, können wir eine erläuternde Partie als Exkurs herausgreifen, und nur, wo sie auf Grund eines gewissen Umfangs wirklich hervortritt, ihr auch die Eigenschaft eines bewußten Darstellungsmittels zuschreiben. Der Umstand, daß die Exkurse die epische Darstellung für einen Augenblick zum Stehen bringen, führt zu der Frage nach ihrem Woher und Wozu. Thematisch heben sich drei Gruppen heraus: Exkurse, die 14

Dagegen ist beispielsweise V, 100—21 ein Stück nüchterner Belehrung. Doch rechnen wir auch diese und eine Reihe ähnlicher Stellen nicht unter die Exkurse, weil sie ausschließlich der Information eines Redepartners dienen, also keine formale Selbständigkeit haben.

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die übernatürliche, die natürliche und die moralische Welt kommentieren. Die letzten sind weitaus die häufigsten. a) Die Exkurse, die die übernatürliche Welt betreffen16, sind mit zwei Ausnahmen alle an Adam gerichtet. Sie haben die Aufgabe, Miltons Auffassung von der Materie in Erinnerung zu bringen, die den Gedanken einer stufenweisen Durchgeistigung des Alls enthält. Die Bemerkungen über die Natur der Engel deuten freilich dieses Geheimnis eher an, als daß sie es erklären. Aber darauf kommt es Milton auch nicht an. Vielmehr klingt an diesen Stellen der Grundgedanke von der Reinheit der Materie und von der ursprünglichen Vollkommenheit der Schöpfung an, der für die Rechtfertigung Gottes von großer Bedeutung ist. So stützt diese Art von Exkursen Miltons Argument, daß die Unvollkommenheit des Menschen nur auf den Sündenfall, nicht aber auf die Grenzen der Geschöpf lichkeit zurückgeht. b) Drei der insgesamt vier naturwissenschaftlichen Kommentare16 weisen auf die Schwierigkeit hin, daß in der Bibel das ptolemäische Weltsystem Geltung hat, während sich in Miltons Zeit das kopernikanische bereits durchgesetzt hatte. Jedesmal betont Milton, daß er in der Dichtung auf eine klare Stellungnahme dazu keinen Wert legt, wie ja auch Raphael Adam diese Frage als vorwitzig verweist (VIII, 119 ff). Für sein theologisches wie für sein dichterisches Gebäude wählt Milton das ptolemäische System, aber er läßt durchblicken, daß er der neuen wissenschaftlichen Erkenntnis zustimmt, obwohl er seine Welt im Paradise Lost im Sinn der biblischen Kosmologie aufbaut. Ein vierter naturwissenschaftlicher Exkurs macht auf die Korrespondenz zwischen Sonne und Erde aufmerksam (III, 595 ff), denn zur Vollkommenheit der Schöpfung gehört eine durchgehende Korrespondenz der Teile. c) Die moralischen Exkurse17. Schon in den eben angeführten Arten von Exkursen wird auf die Bedeutung, die einer vollendeten göttlichen Ordnung zukommt, hingewiesen. Dennoch stehen die Hinweise auf die metaphysische und physische Ordnung hinter der Bedeutung der ethischen zurück, auf die wir in den moralischen Exkursen aufmerksam gemacht werden. Diese verteilen sich in aufschlußreicher Weise. In der ersten Hälfte des Paradise Lost sind es direkte Aussagen des Dichters, denn, wie schon gesagt wurde, es lassen sich aus Raphaels 15

16 17

Exkurse zum Verständnis überirdischer Wesen: 1,423—31; V,414—30,434—43; VI, 344—53; VIII, 622—,29; (die kursiv gedruckten Stellen finden sich in Reden). Naturwissenschaftliche Exkurse: III, 579—87, 591—612; IV, 592—97; X, 668—87Moralische Exkurse: I, 690—99; II, 482—85; III, 682—89; IV, 201—04, 765—70; VI, 381—85; VII, 126—30; IX, 267—69, 1140^2, 1182—86; X, 898—908; XI, 360—66, 515—25, 634—37, 689—99, 804/5, 836—38; XII, 82—96, 220—22.

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Reden kaum Exkurse herauslösen, die in erster Linie für den Leser gemeint sind. Im zweiten Teil des Paradise Lost erscheinen sie im IX. Buch wieder; sie sind dort alle Adam in den Mund gelegt und beziehen sich auf die Krise zwischen Eva und ihm. In den Schlußbüchern häufen sich die Sentenzen, aber sie treten nur innerhalb von Michaels Lehrreden auf. Vor allem soweit die moralischen Exkurse in Reden vorkommen, sind sie vorwiegend situationsgebunden. Zugleich haben sie aber immer auch, je aus einem bestimmten Blickwinkel, das Gesamtanliegen des Paradise host im Auge. Das Gefüge menschlicher Ordnung macht für Milton einen wichtigen Teil der göttlichen Weltordnung aus, der gerade in den Schlußbüchern in den Vordergrund rückt. Themen wie Heuchelei, Prahlerei, Sinnenlust usw. kehren darin wieder. Der Hintergrund ist stets der Sündenfall, der alle Schwächen und Verkehrtheiten in die Welt gebracht hat. Trotzdem geht die Hauptabsicht der moralischen Exkurse nicht auf die Erklärung der menschlichen Unvollkommenheiten, sondern auf den Ansporn zu ihrer Überwindung, denn diese Überwindung ist eine Seite des neuen Gehorsams, den der gefallene Mensch Gott entgegenbringen soll; die andere ist der Glaube. Einige der moralischen Exkurse, besonders Adams Erklärungen über die von Gott eingesetzte Rangordnung von Mann und Frau, sind wiederholt herausgegriffen worden, um Miltons Stellung zur Frau zu beleuchten18. Daß diese Art der Auswertung ihnen nicht volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, zeigt sich, wenn wir sie im Textzusammenhang betrachten oder neben die anderen Exkurse stellen, die dieses besondere Thema nicht berühren und von denen sie sich nicht durch irgendwelche ihnen allein eigenen Züge unterscheiden. Der Affekt spielt bei allen moralischen Exkursen eine Rolle, und zwar sowohl aus dem jeweiligen Stand der Geschehnisse heraus, wie auch im Blick auf den Sündenfall. Das Mosaik, das sich aus den einzelnen moralischen Exkursen zusammensetzen läßt, ergibt durchaus ein Bild von Miltons sittlicher Weltordnung, dem jedes Teil sich einfügt. Bei den moralischen Exkursen wird es besonders deutlich, daß nicht allein die augenblickliche Situation — wenn auch sie in erster Linie —, sondern das in ihr sich verhüllt und unvollständig andeutende Allgemeine festgehalten wird. Ein Ding, ein Vorgang, eine Frage erscheinen im Blickfeld der Erzählung sozusagen flächenhaft, und sollen doch in ihrer Körperlichkeit wirken; was nur momentan auftaucht, soll doch etwas von seiner eigentlichen Natur kundtun. Das einzelne weist von sich aus 18

Zu Miltons Stellung zur Frau vgl. P. Turner, "Woman and the Fall of Man", English Studies, 29 (1948) und A. Chew, "Joseph Hall and John Milton", ELH, 17 (1950).

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schon immer auf verborgene Bezüge, aber erst die Exkurse stellen diese Bezüge her und lassen das Generelle im Singulären aufleuchten. Die erläuternden Exkurse haben in der Dichtung ihre Aufgabe auch da, wo sie, für heutige Vorstellungen in stärkerem Maße als für Miltons Zeit, entbehrlich scheinen. Da viele von ihnen nicht vom Dichter selber geäußert werden, können wir wenigstens auf seine Absicht schließen, sie nicht zu sehr zu verselbständigen; dazu ist auch ihre Zahl aufs ganze gesehen zu klein. ECHOSTELLEN

Den lehrhaften Exkursen stehen die Echostellen nahe. Gemeint sind kurze, echohafte Wiederholungen, in denen bestimmte, für das Ganze der Dichtung wichtige Gedanken immer wieder aufgefangen und genannt werden, etwa die Willensfreiheit, das Verdienst des Sohnes, die Verwandlung des Bösen in Gutes, Sinn und Maß des Wissens, u. a.19. Auch sie haben kommentierenden Charakter und didaktische Tendenz, aber die Kürze der Hinweise läßt sie nicht als Eigengebilde in Erscheinung treten, so daß sie wohl eine thematische, aber keine ästhetische und strukturelle Funktion haben. HINWEISE AUF DIE ENDZEIT

Thematische Funktion haben vor allem auch die häufigen Hinweise auf das Ende der Zeiten 20 . Sie gehören nicht eigentlich unter die Echostellen, weil sie nicht bloß Mitteilungscharakter haben, sondern echte Prophetien sind. Das geht nicht allein aus ihrem Inhalt hervor; ihre erhöhte Bedeutung und ihren prophetischen Ton erhalten sie dadurch, daß sich Milton an diesen Stellen nur der biblischen Sprache bedient. Auch sind sie stets Gott, dem Sohn oder dem Erzengel Michael 19

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Nicht gemeint sind hier die typischen epischen Wiederholungen, die einer rhetorischen Absicht dienen; Milton verwendet sie selten (nur III, 190 und 191; X, 1086ff. und 1098ff.; XI, 97/8 und 261/2). Ebensowenig zählen hierher kunstvolle Wortwiederholungen oder -Variationen und ähnliche stilistische Mittel. Beispiele für Echostellen zur Willensfreiheit: III, 97—9; Y, 233—37, 525—28; 548/9; VIII, 635—37; X, 9, 43—47; s. auch S. 80 zum Verdienst des Sohnes: III, 308—12, 318/9; V, 603—11; VI, 43, 676—78, 701—09; X, 60/1; XI, 35/6 zur Verwandlung des Bösen in Gutes s. S. 30, Anm 15 zu Maß und Sinn des Wissens: V, 568—74; VII, 126—30, 639/40; VIII, 120— 22, 159—78; XII, 557—60. (1) III, 323—41; (2) VI, 731—33; (3) VII, 157—61; (4) X, 185—90; (5) X, 632-^10; und echohaft 645—48; (6) XI, 40—44; (7) XI, 61—66; (8) XI, 75/6; (9) XI, 900/1; (10) XII, 310—14; (11) XII, 369—71; (12) XII, 429—35; (13) XII, 458—65; (14) XII, 539—51.

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in den Mund gelegt, d. h. sie gelten als verbindliche Aussagen 21 . Eingeleitet durch ein "tili" oder ein "then" (bzw. "when"), stellen sie durch ihre Ausrichtung auf die Erfüllung der Zeiten jedesmal den Höhepunkt einer Rede dar, die in irgendeiner Form eine Rechtfertigung Gottes enthält. Da sie aber die menschlichen Vorstellungen übersteigen, bewegen sie sich frei von logischen oder konkreten Verknüpfungen auf der Ebene der reinen Schau. Keines dieser Charakteristika trifft auf die Echostellen in gleichem Ausmaß zu. Wir können aber die Vorausdeutungen auf das Ende der Zeiten auch nicht einfach den Vorblicken zuordnen, wenn auch ihre Darbietung gelegentlich eine gewisse formale Abrundung erreicht, da wir unter den Vorblicken mehr als die Wiederholung eines zentralen Gedankens verstehen, nämlich größere und feste kompositorische Einheiten, während derer der Gang der Geschehnisse unterbrochen ist. Nachdem Gott in der ersten Himmelsszene den Plan der letztlichen Rettung des Menschen und der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung ein erstes Mal in einem großen visionären Bild geoffenbart hat, wird der Gedanke immer wieder in Erinnerung gebracht und je nach dem textlichen Zusammenhang leicht variiert, bis sich die eschatologischen Stellen gegen Ende der Dichtung sehr dicht zusammendrängen und in den beiden letzten in XII wieder die visionäre Kraft und Bedeutung des ersten Bildes erreichen. Die größere Häufigkeit der Stellen von Buch X an macht den prophetischen Unterton am Ende des Paradise Lost deutlich wahrnehmbar. Die Bedeutung der Hinweise auf die Endzeit liegt einmal darin, daß sie die vielen, z. T. rationalen Argumente, die wir in den Exkursen finden, überhöhen. Auch bereiten sie auf den zuversichtlichen Ausgang der Dichtung vor, so daß dieser um so weniger übersehen werden sollte, wie es noch oft geschieht. Wir werden durch diese Stellen aber auch immer wieder daran erinnert, daß die Wiederherstellung des Menschen die Vorbedingung für die Neueinsetzung der durch Adams Sündenfall gestörten Ordnung des ganzen göttlichen Herrschaftsbereichs ist. Daher kehrt der Grundgedanke einer Erneuerung von Himmel und 21

Von (8) abgesehen, schiebt der Dichter nur einmal eine Stelle ein, an der er selbst auf die Endzeit vorausblickt (4): Im Anschluß an den Urteilsspruch über Satan, ehe der Sohn den Spruch über die Menschen fällt, bricht des Dichters Ergriffenheit in einem visionären Bild durch. Die Energie, mit der Milton, unbekümmert um logische Verknüpfungen, eine Fülle gewaltiger Vorstellungen auslöst, indem er sich auf den Wortlaut der Bibel verläßt (Luke 10, 18; Eph 2, 2; Col2, 15; Eph 4, 8; Rom 16, 20) gibt dem Einschub die Wirkung einer jähen Bedeutungsintensivierung. Die dramatische Situation der Gerichtsszene wird ins Visionäre gesteigert und der Leser auf die erst später sich zeigende volle Bedeutung des Satansspruches hingewiesen, der zunächst keinem der Betroffenen verständlich ist, daß nämlich die Verfluchung Satans die Erlösung des Menschen enthält.

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Paradise Lost als dichterisches Werk

Erde als des Wohnsitzes der Gerechten auffallend oft wieder (wörtlich in 3, 5, 7, 9, 10, 14). Die Reinigung der Welt, Weltbrand, Jüngstes Gericht sind die Bilder, unter denen er veranschaulicht wird (in 1, 9, 10, 13, 14). Schließlich leisten die eschatologischen Stellen noch etwas anderes: da die Verheißung der Endzeit ihrem Wesen nach "Gesicht" ist, stellt sie den dichterisch sublimierten Ausdruck für die letzte, nur dem Glauben zugängliche Rechtfertigung Gottes dar. In den Visionen, zu denen sich die Prophezeiungen gelegentlich erweitern und steigern, kommen theologisches Argument und dichterische Darstellung zum Einklang 22 . VORBLICKE ZUR ROLLE DER VORBLICKE

Eines der wichtigsten epischen Darstellungsmittel, die Milton zur Vergegenwärtigung des Hauptthemas verwendet, ist das der Vorblicke. In der Aeneis gibt es vier bedeutende Stellen, die den Sinn der Handlung verständlich machen, indem sie die Zukunft enthüllen23. Ähnlich wie in der Aeneis wird in den Vorblicken des Paradise Lost ein Grundzug der Dichtung erkennbar. Es ist nämlich im Paradise Lost alles vorgegeben, und alle Ereignisse "Which had no less prov'd certain unforeknown" (III, 119), sind bereits in Gottes Plan enthalten. Darum gibt es etwas wie Spannung aus Unkenntnis kommender Geschehnisse für den Leser des Paradise Lost nicht. Das hindert nicht, daß Milton seinen Stoff zu einer dichterischen Komposition frei gruppiert oder daß er neue Episoden erfindet, wie die Allegorie von Sünde und Tod (II, 648—870) oder Evas Traum (V, 28—93). Da der Stoff bekannt ist, kann sich die erhöhte Aufmerksamkeit ganz auf das Wie richten. Sie kann beobachten, wo im Verlauf der Dichtung die Ereignisse eingeordnet sind, wie sie gedanklich vorbereitet und begründet, wie sie künstlerisch entfaltet werden, und wie der Dichter ihren Lehrgehalt ausschöpft. Da der von Milton vorausgesetzte Leser die Bibel kennt, kann er nur gepackt werden von der Uberzeugungskraft, mit der der Dichter den biblischen Stoff sichtet, bald mehr, bald weniger hervorhebt, in Bildern veranschaulicht und auslegt. An der neuen Bedeutung, die er seinem Gegenstand gibt, lassen sich die Schöpferkraft des Dichters ermessen und seine geistige Konzeption ablesen. 22

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Vgl. Fisher, besd. S. 5 1 — 5 3 ; Fisher geht dem Gedanken der Rechtfertigung Gottes im ganzen Werk Miltons nach und kommt am Schluß zu einem dem unseren ähnlichen Verständnis seiner Darstellung im Paradise Lost. Aeneis I, 257—96 (Rede Juppiters im Götterhimmel); VI, 756—853 (Prophezeiung des Anchises); VIII, 628—731 (Schild des Aeneas); XII, 793—842 (Gespräch im Götterhimmel).

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Durch die Vorblicke wird das Gefüge des göttlichen Waltens in seiner ganzen Weite und Unabänderlichkeit immer wieder neu betont. Sie gehören in den Bereich des Hauptthemas, das ja stets in Gefahr ist, zu verifizierter Theologie abzusinken, das der Dichter andererseits nie ganz aus dem Blick lassen darf, weil das Handlungsthema etwas Episodisches bekäme, wenn es nicht immer erneut in seiner Transparenz, in seiner Abhängigkeit vom Hauptthema gesehen würde. Darin liegt die Aufgabe der Vorausblicke; sie halten uns vor Augen, daß wir den Sinn der epischen Handlung nur recht verstehen, wenn wir sie in bezug auf ein Höchstes sehen, das sich ungeachtet aller Freiheit, die dem Handelnden gegeben ist, vollendet. Die Freiheit stellt den Handelnden vor die Versuchung, vor die Möglichkeit, sie durch falsche Wahl zu verlieren. Jedes Handeln geschieht "auf daß erfüllet werde" und ist doch grundsätzlich frei. Mit welcher Nachdrücklichkeit Milton auf der Paradoxie der gebundenen Freiheit besteht, ist an den Vorblicken abzulesen. Vergleichbar ist ihr der Fatumgedanke Vergils in der Aeneis2i; und doch ist der Unterschied aufschlußreicher als die Ähnlichkeit. Damit römische Geschichte werden und in Augustus ihre Krönung finden kann, d. h. damit sich der Wille der Götter auf der Erde erfüllt, wird Aeneas ausgesandt und muß er so viele Leiden und Kämpfe auf sich nehmen. Bei Milton ist der Blick auf die Erfüllung des göttlichen Willens in dem ganzen, zeitlosen und räumlich unbegrenzten Bereich seiner Macht gerichtet, von dem her gesehen der Mensch seine Würde und seine transzendierende Bedeutung erhält. Das Ziel ist in entscheidendem Unterschied zur Aeneis ein jenseitiges, kein diesseitiges Friedensreich. Darum nimmt Milton auch den Lauf der Ereignisse in den Vorblicken nicht nur bis zu seinem eigenen geschichtlichen Zeitpunkt vorweg, über den Vergil in der Aeneis nie hinausgeht, sondern entwirft ihn bis an das Ende aller Zeiten. Die teleologische Konzeption des Paradise Lost, die dieser Besonderheit zugrunde liegt, wird uns bei der Interpretation der Schlußbücher noch beschäftigen. DER BEGRIFF DES VORBLICKS

Vorblicke sind stets als kompositorische Einheiten erkennbare, wenn auch sehr verschieden umfangreiche Partien, in denen der Handlungsverlauf zugunsten des Hauptthemas vorübergehend zurücktritt. Zwar sind sie kunstvoll mit dem Handlungsablauf verknüpft, aber sie ragen über ihn hinaus, weil sie die fernste Zukunft vorausschauen lassen. Nicht jede Art der Vorausdeutung ist ein Vorblick in diesem Sinne. So wird z. B. Evas Traum (IV, 799—809; V, 28—93), der für den Leser 24

Vgl. Büchner, S. 321 f.

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ganz unverkennbar eine Vorwegnahme ist, da er in ihm Zug um Zug die spätere Versuchungsszene gespiegelt findet, hier nicht zu den Vorblicken gezählt. Die Vorausdeutung dieses Traums findet nämlich schon innerhalb der epischen Handlung ihre Erfüllung, während es zu den Eigentümlichkeiten der Vorblicke gehört, daß sie zeitlich weit über den Rahmen der Dichtung hinausdeuten. An einer anderen Stelle des Paradise Lost verdichtet sich die Vorwegnahme zu einem symbolischen Zeichen. Es ist das Bild von der Waage Gottes (IV, 1010—15). Mit diesem Bild greift Milton auf die Vergilischen Omina zurück und erfindet einen der Wägeszene im XII. Buch der Aetteis ebenbürtigen Augenblick. Aber trotz seiner starken Einprägsamkeit gehört dieses Bild nur bedingt zu den Vorblicken, da es nicht, wie alle anderen, szenisch entfaltet wird. Wir haben in Paradise Lost vier Vorblicke: die Höllendarstellung in Buch II, die große Himmelsszene und den Limbus-Passus in Buch III, die Verwandlung der Teufel in Buch X 26 . Auch die Schlußbücher enthüllen ferne Zukunft und gehören in gewissem Sinn zu den Vorblicken. Aber sie sind so stark in die Handlung einverleibt, daß sich ihre Funktion nicht mit der des Vorblicks deckt. ÜBERSICHT ÜBER DIE VORBLICKE

Die Höllendarstellung enthüllt zum ersten Mal den Hintergrund, auf den das vordergründige Geschehen zu beziehen ist, und richtet den Blick in ferne Zeiten. Die Hölle in II meint die Verdammnis schlechthin, weshalb auch Satans kühnes Unternehmen von dort aus von Vergeblichkeit gezeichnet erscheint und an Schrecken verliert. Die Verurteilung Satans und der Seinen ist in diesem ersten Vorblick unumstößlich ausgesprochen, noch ehe die Dichtung die Frage nach dem Schicksal der gefallenen Menschen aufwirft. Weil nun die Hölle so allgemein und umfassend beschworen wird, ist sie aber zugleich auch als eine Hölle der sündigen Menschen zu verstehen. Daraus ergibt sich für den Leser eine beunruhigende Spannung, da er sich fragt, ob denn durch den Sündenfall alle Menschen verdammt sind. Die Höllendarstellung hat also zugleich die Aufgabe, die Erwartung des Lesers anzuspannen. Der Vorblick auf die Hölle macht Gottes Absichten in ihrer letzten Auswirkung für die Übertreter seiner Ordnung deutlich. Den25

Höllendarstellung: II, 570—628 Himmelsszene: III, 56—415 Limbus-Passus: III, 440—497 Metamorphose der Teufel: X, 504—84.

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noch ist die strafende Gerechtigkeit nur ein Aspekt seiner Macht und bedarf der Ergänzung. Dies geschieht in der großen Himmelsszene. Die Himmelsszene III/l ist in einem viel umfassenderen Sinn ein Vorblick; sie ist der eigentliche Angelpunkt der Dichtung. Ihre Bedeutung läßt sich mit der Juppiterszene im I. Buch d&tAeneis vergleichen, wo ebenfalls die Grundlagen zum Gesamtverständnis der Dichtung geschaffen werden. Nicht die Festlegung aller kommenden Ereignisse, sondern vielmehr ihre Sinndeutung ist der Gegenstand der Himmelsszene des Paradise Lost. Alles Geschehen hat seine Stelle im Heilsplan und erhält seinen Sinn erst durch seinen Bezug auf diesen. Nun erklärt sich auch, warum diese für das Verständnis des Paradise Lost grundlegende Szene nicht, wie bei Vergil, an den Anfang, sondern in die Mitte der Exposition gerückt ist. Die ihr vorausliegenden Vorgänge sind ebensowenig vorherbestimmt wie die kommenden, sondern wie diese von Gott zugelassen. Aber gedeutet und gewertet werden sie erst vom Ganzen der göttlichen Pläne her. Der Gedanke der Zulassung, der durch diese kompositorische Ordnung hervorgehoben wird, verdrängt den reinen Prädestinationsgedanken. Der Kontrast der Himmelsszene zur Höllendarstellung ist sehr deutlich, und doch haben beide Szenen bei aller Verschiedenheit der Perspektive, des Inhalts und der Bedeutung die gleiche Funktion: sie verständigen den Leser über die Wege Gottes. Ein dritter Vorblick ist der Limbus-Passus26. Er unterscheidet sich im Gegenstand wie in der Durchführung von den beiden eben genannten Vorblicken. Hier deutet die Vorwegnahme zum erstenmal auf Satans Erfolg, nicht auf seine Niederlage. Der Ton ist satirisch, und der ganze Aufbau drängt auf Zuspitzung. Diese Unterschiede erklären sich durch die ganz andere Ausgangssituation des Limbus-Passus. Während der Vorausblick auf die Verzweiflung der Teufel mitten in die Situation von Satans grandiosem Vorstoß einbricht, wird das triumphale Gegenbild zur Höllendarstellung in dem Augenblick errichtet, wo Satan die schwersten Hindernisse schon überwunden hat. Unterdessen ist er der Menschenwelt noch näher gekommen, und die bange Frage nach dem Ziel seines Flugs, der Vernichtung des Menschen, drängt sich vor. Nach den Erklärungen der Himmelsszene weiß der Leser, daß Satan die Menschen versuchen darf, aber auch, daß nur ihre falsche Entscheidung ihm zum Erfolg verhilft. So wird der Leser, kaum ist Gottes Plan in III/l vor ihm entfaltet, aufs neue beunruhigt, dadurch daß Satans Werk im Limbus-Passus als gelungen vorweggenommen wird. Die Gegenwirkung dieser Stelle zur Himmelsszene ist beabsichtigt; 26

Vgl. den Aufsatz der Vf., "Der Limbus-Passus in Miltons 'Paradise Lost'", Ang, 79 (1962).

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zum erstenmal tut der Leser einen Blick auf die verderbte, dem Wahn der Hybris verfallene Menschheit, die im Narrenparadies einen angemessenen Aufenthaltsort zugewiesen bekommt. Die Metamorphose der Teufel übersteigt noch die Groteske des Limbus-Passus; sie ist inhaltlich eine Variation des in der Höllendarstellung durchgeführten Themas, aber das Pathos, mit dem dort das Los der Teufel noch gezeichnet wurde, ist einer grausamen Ironie gewichen. Auf die an Anspielungen und Assoziationen besonders reiche und kunstvolle sprachliche Ausgestaltung der Szene sei hier nicht eingegangen, wo vor allem ihre Funktion aufgezeigt werden soll. In X ist die Allegorie von Sünde und Tod mit dem Bau der höllischen Brücke wieder aufgenommen worden. Unmittelbar an das Zwischenstück von der Geschäftigkeit der zwei Höllenwesen schließt sich Satans triumphierende Rückkehr zur Hölle an, auf die dann die Verwandlungsszene folgt. Wie in der Höllendarstellung wird auch hier die Wirkung des göttlichen Urteilsspruches über die Teufel dargestellt. Die Tendenz ist in beiden Szenen die gleiche, wenn sie auch in den sachlichen Einzelheiten keineswegs übereinstimmen. Die Erniedrigung Satans und seines Gefolges hat hier ihren tiefsten Punkt erreicht27. Ihr erlogener Triumph wird in eine künftig immer wieder neu sich vollziehende Niederlage umgewandelt, indem ihre Gestalt, die bisher noch immer Spuren ihres göttlichen Ursprungs trug (X, 450—52), aufgelöst wird. Die Verwandlungsszene stellt sich als eine parodistische Glosse zu dem gegen Satan ergangenen Urteilsspruch (X, 175—81) heraus. Die Verwandlung der Teufel in Schlangen ist die buchstäbliche Erfüllung des ersten Spruches: "Upon thy Belly groveling thou shalt goe" (X, 177; vgl. 513/4: down he feil / A monstrous Serpent on his Belly prone). Der zweite Teil der Szene verwirklicht den zweiten Satz des Fluches: "And dust shalt eat all the days of thy Life" (X, 178; vgl. 565/6: instead of Fruit (they) / Chewd bitter Ashes). Auf diese Weise erfüllen sich die Verfluchungen Satans mit grotesker Wörtlichkeit in der Allegorie. Dagegen wird die symbolische Bedeutung der dritten Prophezeiung über Satan: "Her (the woman's) Seed shall bruise thy head, thou bruise his heel" (X, 181), die das Heil der Menschen mitbetrifft, in der Szene nicht allegorisiert, sondern erst im Laufe von XII allmählich aufgedeckt. Mit visionärer Kraft hat Milton in der Allegorie von der Metamorphose der Teufel in dichterischer Freiheit die Besiegung der bösen Macht vorweggenommen, die er, streng den Anschauungen und der Sprache der Bibel folgend, am Schluß des XII. Buches noch zweimal 27

Zu Miltons Absicht, mit Satan das heroische Ideal der epischen Konvention zu diskreditieren, vgl. J. M. Steadman, "Satan's Metamorphoses and the Heroic Convention of the Ignoble Disguise" MLR, 52 (1957).

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feierlich verkündigen läßt. Durch die Einkleidung des göttlichen Sieges über das Böse in eine Allegorie auf der einen, und in die eschatologische Verheißung auf der anderen Seite umgeht Milton es, diesen Sieg direkt zu beschreiben, und läßt den Vorstellungen des Lesers um so größeren Spielraum. Auch eine zeitliche Eingrenzung vermeidet er, indem er überall, wo er von den Strafen der Hölle spricht, diese als schon eingetreten darstellt und sie zugleich in die Zukunft projiziert. Überhaupt bestehen zwischen den Vorblicken und dem Schluß des Paradise Lost Verknüpfungen verschiedener Art. So bildet die in XII ausgesprochene Rettung des Menschen das positive Gegenbild zur Verurteilung Satans in der Höllendarstellung und der Verwandlungsszene; andererseits ist die zunehmende Selbstüberwindung Adams in XII die Umkehrung der im Limbus-Passus gegeißelten Selbstüberheblichkeit. Das Verhältnis der Himmelsszene III/l zu den Schlußbüchern ist dagegen nicht durch Gegensätzlichkeit gekennzeichnet. Vielmehr sind diese die Erfüllung des dort enthüllten Planes Gottes mit seiner Schöpfung. Damit hängt es auch zusammen, daß die apokalyptische Vision der ersten Himmelsszene in XII noch zweimal wiederholt wird. DIE HIMMELSSZENEN DAS

PROBLEM

Auch mit den Himmelsszenen greift Milton auf die epische Tradition zurück, um sie ganz in dem gleichen Sinn wie die schon genannten Konventionen einer äußeren und inneren Umwandlung zu unterwerfen. Wir verstehen unter den Himmelsszenen des Paradise Lost alle mehr oder weniger szenisch bewegten Partien, in denen Gott selber spricht28. Da das Sinngefüge des Paradise Lost auf dem Hauptthema aufbaut, ist es einleuchtend, daß die Szenen, in denen sich Gott unmittelbar offenbart, ein besonderes Gewicht erhalten und der Dichter ihnen seine volle Aufmerksamkeit zuwendet. Mit den Himmelsszenen strebt Milton eine 28

(1) III, 56—415: Aufriß des Gesamtgeschehens (2) V, 219—256: Entsendung Raphaels (3) V, 577—627: Erhöhung des Sohnes (4) V, 711—742: Dialog vor der Himmelsschlacht (5) VI, 25—60: Anerkennung Abdiels (6) VI, 669—749: Entsendung des Sohnes zur Schlacht (7) VII, 135—191: Entsendung des Sohnes zur Erschaffung der Welt (8) X, 17—89: Entsendung des Sohnes zur Urteilssprechung im Paradies (9) X, 613—651: Verfluchung von Sünde und Tod (10) XI, 14—133: Beschluß der Vertreibung und Tröstung Adams Zur direkten Darstellung Gottes im Paradise Lost vgl. Grace, S. 180f. und Ph. MacKenzie, "Milton's Visual Imagination. An Answer to T. S. Eliot", UTQ, 16 (1946). M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Überbietung der Götterszenen Homers und Vergils an. Besonders im Vergleich mit Vergil fällt uns auf, daß die Himmelsszenen des Paradise Lost viel mehr beschreibende und dramatische Elemente enthalten; auf der anderen Seite sind sie aber auch in erhöhtem Maße gedanklich belastet. Nicht nur übertreffen sie außerdem die Götterszenen der Aeneis erheblich an Zahl und Länge, die meisten haben auch ausgesprochen szenischen Charakter. Dagegen wird bei Vergil nur einmal eine Götterhandlung erzählt (VIII, 369—453), sonst beschränkt sich die Darstellung auf Wechselreden oder kurze Aufträge, ohne jede Ausmalung einer Situation oder Örtlichkeit im Götterhimmel29. Die Auffassung der Himmelsszenen ist bei Vergil und Milton die gleiche, da beide Dichter in ihnen das epische Geschehen überblicken und deuten, ihm aber auch wichtige Impulse durch sie geben. Damit hängt zusammen, daß beide Dichter ihre erste und bedeutungsvollste Himmelsszene als eine "Abbreviatur des Gesamtgeschehens" und einen Vorblick anlegen 30 . Nur geht Milton noch einen Schritt weiter, denn die beharrliche Wiederkehr von eschatologischen Stellen in den Himmelsszenen deutet darauf, daß die Wege Gottes immer auf ein transzendentes Ziel gerichtet sind 31 . Überhaupt ist ein Umstand für die Frage der Himmelsszenen des Paradise Lost sehr folgenreich: damit sein Hauptthema auch eine direkte Darstellung erfährt, läßt Milton in völliger Abwendung von Vergil die große Episode (VI/VII) im Himmel spielen. In der Episode sind die Szenen vor Gottes Thron nur Momente eines durchgehenden Geschehnisablaufes und stellen sich daher nicht mit der gleichen Deutlichkeit wie die in der epischen Erzählung eingebauten als eigenständige Gebilde dar. Auf der anderen Seite wirkt sich ihre Funktion, das Handlungsgeschehen zu verdichten und in der Auslegung durch Gott selbst zu spiegeln, auf diese Weise auch für das Episodengeschehen aus. So wird es möglich, daß zwei Himmelsszenen, die ganz in die vorgegebene Szenerie und Handlung der Episode eingefügt sind, einen stark erläuternden, aber keinen dramatischen Charakter haben 32 . Milton muß mit dem Bemühen um eine direkte Darstellung Gottes auf große Schwierigkeiten stoßen. Daß es dabei um ein großes Anliegen des Dichters 29 30 31 32

Selbst der Götterrat, Aeneis X, 1—117, der der letzten Himmelsszene vergleichbar ist, ist nicht dramatisch gestaltet. So bezeichnet Büchner, S. 321 das erste Göttergespräch, Aeneis I, 223—96. Ein Vergleich mit der Aufstellung der eschatologischen Stellen zeigt, daß sich 8 von den 12 Stellen auf die Himmelsszenen verteilen. In dem leicht ironischen Gespräch zwischen Gott und dem Sohn vor der Himmelsschlacht (4) soll lediglich gezeigt werden, daß es einen Kampf gegen Gott gar nicht geben kann, daß aber der folgende zum Ruhm des Sohnes zugelassen wird. In (5) ertönt die Stimme Gottes aus goldenen Wolken, um in Abdiel ein Vorbild des Gehorsams zu proklamieren.

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und um seine höchste Anstrengung geht, ersehen wir aus dem der ersten Himmelsszene vorangestellten Exordium: "Hail holy light, ofspring of Heav'n first-born . . .". Gerade in diesem Gebet läßt der Dichter etwas ganz Persönliches aufklingen, nicht, um seine Person in den Vordergrund zu schieben, sondern um sich hinaufzustimmen zu dem unerhörten Unterfangen, von Gottes Gedanken in solcher Direktheit zu sprechen. Es handelt sich für ihn ja nicht, wie für Homer und Vergil, darum, eine symbolisch-mythologische Welt zu erfassen, sondern an die Geheimnisse einer Religion zu rühren, die die Unsichtbarkeit und Unvorstellbarkeit ihres Gottes zu den Kernsätzen ihres Glaubens zählt. Die Kritik hat darum auch fast ausnahmslos an der Darstellung Gottes Anstoß genommen. Vergessen wir aber nicht, daß das scholastische Denken, demzufolge der dreifachen Abstufung des menschlichen Geistes (sensibilitas, ratio, intellectus) eine dreigestufte Erkenntnis entspricht, im 17. Jahrhundert noch ein lebendiger Besitz der Theologie war. Es liegt nahe, in den verschiedenen Darstellungsebenen des Paradise Lost eine Fortwirkung der scholastischen Hierarchie der Erkenntnismöglichkeiten (cognitio, meditatio, contemplatio) zu sehen. Mit der Dramatik des Handlungsthemas und der sinnlichen Fülle vieler Schilderungen des Paradise Lost spricht Milton die Vorstellungswelt an, um ihr die erste Stufe der Wahrnehmung zu vermitteln. In den betrachtenden und auslegenden Partien wendet sich der Dichter an die ratio und führt sie zu der zweiten Erkenntnisstufe, der höheren Einsicht. Die höchste Stufe der Erkenntnis, die contemplatio, der die Geheimnisse und die Herrlichkeit Gottes unmittelbar zugänglich sind, erstrebt Milton mit den Himmelsszenen. Aber weil für den Protestanten Milton doch neben die Schau das Wort als eine noch wichtigere Offenbarung tritt, begibt er sich, sowie er die Anschauung Gottes in den Himmelsszenen evoziert hat, auf die Ebene der expliziten Darlegung. Für Augenblicke überläßt er sich der reinen Schau, um dann in Reden, Kundgaben, Dialogen die Gedanken auszutragen. Aber das Explizite der Reden — und das ist für die Dichtung das Entscheidende — wird durch die dichterische Gestaltung aufgefangen, dem Ganzen eingeordnet und mit Leben erfüllt. Aus der ersten Himmelsszene ergibt sich die Orientierung der ganzen Dichtung von Gott her und auf Gott zu. Deshalb ist es wichtig, festzuhalten, daß gerade diese Partie, von der so viel abhängt, alle Elemente einer echten Szene aufweist 33 . Wir finden Szenerie, bewegte Vorgänge, innere Spannung, vor allem aber ein Gespräch, das in der dramatischen 39

Eine feinsinnige Rechtfertigung von III/l gibt I. Samuel, "The Dialogue in Heaven: A Reconsideration of 'Paradise Lost' III, 1—417", PMLA, 72 (1957). 5*

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Entfaltung eines Gedankens von seinem Ausgangspunkt zu einer neuen Situation hinführt. Was in dieser Szene in Bewegung gesetzt wird, und zwar, wie wir später erfahren, schon auf dem doppelten Hintergrund des Sieges über Satan und der Schöpfungstat, ist die Geschichte Gottes mit den Menschen. Gott soll, das ist die strukturelle Aufgabe von III/l, zuerst aus sich selbst heraus, dann erst aus seiner Schöpfung (IV, VII) und aus der Geschichte seiner Geschöpfe (IX—XII) gerechtfertigt werden. Offenbarung Gottes im Wort und in der Anschauung, in der Schöpfung und in der Geschichte gehören für Milton zusammen. DIE

DARBIETUNG

Wie nun bieten sich die Himmelsszenen dar? Die Vorstellung der beiden göttlichen Gestalten wird evoziert, sogar ihr Ausdruck in Gebärde und Bewegung angedeutet. Besonders in (1), (6) und (10) ist der Sohn unserer Vorstellung zugänglich gemacht als die sichtbar und tätig gewordene Macht und Güte Gottes. Während die Unnahbarkeit Gottes überall gewahrt bleibt, ist der Sohn sein Abglanz und seine Selbstdarstellung, und darum in höherem Maße als Gott, wenn auch nicht so deutlich wie die Engel, gestalthaft. Im allgemeinen ist die Darstellung innerer und äußerer Bewegung auf die Engel beschränkt: sie werden wirklich sichtbar gemacht, sie eilen herbei, verstummen in Ratlosigkeit oder Trauer, tanzen, lobsingen, führen Gottes Aufträge aus. Szenische Bewegung erreicht Milton vor allem dadurch, daß er diejenigenVorgänge, die zu dem Zentrum der Szene führen oder sich daran anschließen, veranschaulicht. Ein Beispiel — keines der großen Bilder, die wir in den Himmelsszenen finden — ist etwa der Auftakt zu (8). Die Wächterengel ziehen nach dem Sündenfall eilends zum Himmel, um Rechenschaft abzulegen; sie schweigen betrübt. Andere Engel betrüben sich mit ihnen, als sich die schlimme Nachricht am Himmelstor ausbreitet. Im Nu drängen sich Scharen von Neugierigen herbei. So gelangt der Zug zum Heiligtum Gottes, der aus einer verhüllenden Wolke unter Donnerklängen feierlich zu sprechen beginnt: "Assembl'd Angels, and ye Powers return'd . . .". Eine rein visuelle Vergegenwärtigung ist mit der Anschauung von Gottes Herrlichkeit nie gemeint. Das Gewicht liegt nicht auf der Veranschaulichung einer die Sinne übersteigenden Erfahrung. Vielmehr wird die menschliche Sehkraft durch die Fülle des göttlichen Lichts überwältigt. Licht ist die Eigenschaft Gottes, in der er unserer Vorstellung zugleich nahegebracht und entrückt wird. Das Licht überflutet das nicht mehr Anschaubare, hebt die Konturen alles vielleicht noch gegenständlich Vorgestellten auf und verleiht ihm Majestät und Un-

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endlichkeit 34 . Das Licht gebietet gleichzeitig dem vorwitzigen Sehen Einhalt und weist es auf sein Unvermögen hin. Die Anschauung muß sich vor der göttlichen Lichtfülle in anbetende Bewunderung verwandeln, d. h. in eben jene Haltung, die sich Gott gegenüber gebührt. Ein anderes Moment der Vergegenwärtigung der Himmelsszenen sind die Klänge. Da ist von der Trompete (5, 10) oder vom Donner (8) die Rede, um die gewaltige Bedeutung des Augenblicks zu betonen. Eine Reihe von Himmelsszenen gipfelt in einem Lobgesang der Engel (1, 7, 9). In den Hymnen wird das begrenzende Wort von der entgrenzenden Musik aufgefangen, getragen und überhöht. In besonderem Maße gilt das für (1). Die Uberführung der Sprache in Musik bedeutet etwas Ähnliches wie die Aufhebung des Sehens in der Anbetung, denn ebenso wie die blendende Fülle des Lichts bewirkt auch die übersinnliche Macht der Musik eine Entrückung Gottes. Auch im Musizieren drückt sich das angemessene Verhalten des Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer aus, nämlich die Verherrlichung Gottes. Die 'visio beatifica' ist der Gegenstand, die Hymnik dagegen der Ausdruck der Seligkeit, die die Engel genießen 35 . Die Himmelsszenen sind stets mit der vorgänglichen Schicht verknüpft und lösen ein entscheidendes neues Geschehen aus 36 . Die grundsätzliche Bedeutung der ersten großen Himmelsszene wird dadurch bestätigt, daß ihr Thema in den anderen Himmelsszenen in einzelne Aspekte zerlegt erscheint. So greift (2) das Thema der Gerechtigkeit Gottes und der Willensfreiheit auf; in (3) manifestiert sich der Wille Gottes durch die Erhöhung des Sohnes; dessen Herrschaftsanspruch, Macht und Schöpfungskraft wird in drei weiteren Szenen von Gott selbst erklärt (5, 6, 7). Das Problem der Bestrafung des gefallenen Menschen macht eine erneute Rechtfertigung Gottes nötig, die in (9) und (10) zur Darstellung kommt und in (10) so geklärt wird, daß das Thema der göttlichen Gerechtigkeit von dem der erlösenden Gnade und Liebe übertönt wird. Wir können also an den Himmelsszenen eine Entfaltung des 34

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Vgl. z. B. V,598/9: "...a flaming Mount, whose top /Brightness had made invisible..."; VI, 719—21: ". . . and on his Son with Rayes direct / Shon full, he all his Father full exprest / Ineffably into his face receiv'd . . ."; X, 63ff. u. a. Stellen. Vgl. auch MacKenzie, S. 25ff. Auch außerhalb der Himmelsszenen wird das Singen von Hymnen immer wieder als eine selbstverständliche Betätigung der Engel erwähnt, vgl. V, 655—57; VI, 886; VII, 253ff. und 274/5. Der Begriff der'visio beatifica' fällt in 1 , 6 8 4 ; III, 61/2; V, 613. Die erste Himmelsszene ist die einzige, durch die keine Handlung ausgelöst wird. Vielmehr enthält sie alles Kommende im Entwurf Gottes. Die Warnung Adams geht auf (2), die Empörung Satans auf (3) zurück usw.

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Hauptthemas ablesen. Die Zusammenschau aller Einzelmomente ist dann die vom Dichter beabsichtigte Rechtfertigung der Wege Gottes. Es schien uns für das Verständnis des Hauptthemas nützlich, auf die Himmelsszenen etwas näher einzugehen, weil sie in manchem unseren Versuch, diese Frage auf dem Weg über die Komposition zu lösen, ergänzen. Vor allem läßt sich an der Verteilung der Himmelsszenen auf die Dichtung eine dynamische Gliederung ablesen, die zu der Statik der Struktur in einem Spannungsverhältnis steht. Nicht nur formale, sondern ebenso sehr thematische Gegebenheiten weisen auf die einheitliche und eindeutige Konzeption der Dichtung. Wir verdanken ferner der Betrachtung der Himmelsszenen die Einsicht, daß Milton an den thematisch grundlegenden Momenten mit einer hohen und bewußten Kunst der Darstellung arbeitet. SCHLUSSBEMERKUNG

Wir haben auf eine eingehende Analyse der einzelnen wiederholt gebrauchten epischen Darstellungsformen verzichtet, weil es zunächst einmal wichtig schien, zu fragen, ob solche in Miltons Epos überhaupt eine Rolle spielen, und dann ihre gemeinsamen Züge sowie ihre Stellung im Paradise Lost festzustellen. Wir sind hauptsächlich auf die bisher wenig beachteten Formeinheiten eingegangen, einerlei ob Milton mit ihnen alte Formen unverändert oder umgeprägt verwendet, oder ob er sich neue schafft. Dabei zeigt sich, daß die Auswahl und die Rolle dieser epischen Mittel, wie zu erwarten, vom Hauptthema des Paradise Lost abhängen und auch auf dieses wiederum Licht werfen. Bald auf emotionaler, bald auf rationaler Ebene ausgeführt, zeigen sie alle die Tendenz, das Hauptthema anklingen zu lassen und sein Verständnis zu fördern. Selbst die wenig ansprechenden Kommentare im Paradise Lost, die wir Exkurse genannt haben, erlangen mit dieser Funktion eine gewisse Berechtigung und Bedeutung. Wiederum ist der satirische Ton der drei auffallenden allegorischen Vorblicke aus ihrer Gegenbildlichkeit zum Hauptthema heraus zu verstehen, während die Leistung des vierten, der ersten Himmelsszene, in der Konzentration auf die unmittelbare Verdeutlichung desselben liegt. Besonders die in der A.eneis bedeutungsvoll, aber doch mit großer Sparsamkeit eingesetzten Vorblicke und Himmelsszenen, deren Funktionen sich bei beiden Dichtern berühren, wandelt Milton für seine Absichten um, und sein Gedicht zu Gottes Ehren gewinnt durch sie an Abwechslung, Dynamik, Pathos, aber auch an Eindeutigkeit.

ZWEITER TEIL

Inteípretation des XI. und XII. Buches

Einleitung zu Buch XI und XII DIE AUFGABE DER SCHLUSSBÜCHER Wir haben in dem Kapitel über die Komposition des Paradtse Lost schon darauf hingewiesen, daß X I und X I I v o m Bau der Dichtung her nicht nur gerechtfertigt, sondern integrierende Teile mit ausgesprochener struktureller Aufgabe sind. Ehe wir 2u ihrer Interpretation übergehen, fragen wir, ob und in welcher Weise sie als Fortführung der unmittelbar vorausgegangenen Bücher I X und X erforderlich sind. Buch X ist ein äußerst unruhiges Buch, das in häufig wechselnden, kurzen Szenen auf allen Ebenen einen gewissen, aber eben doch nur vorläufigen Abschluß schafft. Gehen wir zunächst v o n der Handlungsführung aus. A m Schluß v o n Buch X ist Satan gerichtet, aber sein Schicksal ist nur in einer mythologischen Allegorie umschrieben. Seine Gewalt über die Menschen ist auf Sünde und T o d übergegangen. V o n einer Fortführung der Satanshandlung kann darum nicht die Rede sein, nachdem seine eigentliche Geschichte abgelaufen ist. A b e r das Urteil, das in seiner Metamorphose veranschaulicht worden ist, wird in X I I erneut und endgültig in zwei apokalyptischen Visionen bestätigt. Nach der satirischen Allegorie v o n seiner Verwandlung kommt Satan nicht mehr als die Gestalt vor, die wir aus dem ersten Teil des Paradtse Lost kennen. K a u m daß sein Name noch einmal fällt; wenn es geschieht, so wird damit nicht mehr seine Gestalt evoziert 1 . Er erscheint nicht mehr als das Geschöpf aus Miltons dichterischer Phantasie — großartige mythologische Gestalt oder grotesk-allegorisches Wesen — sondern als die Verkörperung des Bösen, ganz wie sie aus den biblischen Vorstellungen bekannt ist. Stets ist nur der v o m Erlöser überwundene Widergeist gemeint, und Milton gebraucht an diesen Stellen überall die Sprache der Bibel, besonders der prophetischen Bücher. Er erreicht damit, daß Satan immer noch in einem großen Geschehen, aber nicht mehr in einer großen Rolle gesehen wird. Seine Unterwerfung im letzten Kampf und Gericht ist ganz aus der Sicht Gottes dargestellt. Darum erscheint sie in doppelter Entrückung als eine Vision der Endzeit innerhalb der A d a m 1

Die betreffenden Stellen sind: XI, 248; XII, 391, 394, 430, 492, 547, und, in der Umschreibung "The Serpent, Prince of aire", XII, 454.

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Interpretation des X I . und XII. Buches

gewährten Zukunftsschau, und darum wählt Milton für sie die Sprache der Bibel und verleiht dadurch seiner Aussage erhöhte Autorität. Selbst wenn wir für die Satansgeschichte keine Fortsetzung mehr erwarten, nachdem er seine Macht auf Erden an seine Geschöpfe Sünde und Tod abgegeben hat, so steht doch für Adam noch alles aus. Gottes Vorgehen gegen Mensch und Schöpfung nach dem Fall wird in Buch X in zwei Himmelsszenen gerechtfertigt. Aber es geschieht ohne Rücksicht darauf, ob der Mensch im gefallenen Stand zu einer neuen Erkenntnis Gottes gelangen kann, die doch die Voraussetzung zu seiner Erlösung ist. Adam hat am Ende von X den ersten Schritt von der Verzweiflung zur Reue getan und hofft auf Erhörung seines Gebets. Aber es fehlt nicht nur die Antwort auf sein Gebet. Viel auffallender ist, daß die Vertreibung aus dem Paradies noch gar nicht gegenüber Adam ausgesprochen und vollzogen ist. Ohne sie ist aber eine Dichtung vom Verlust des Paradieses nicht am Ziel. In der Genesis ist die Trennung der Ausweisung von der Urteilsszene zwar angedeutet (Gen 3, 22 schiebt sich als ein Gedanke Gottes zwischen beide Teile), sie ist aber nicht relevant2. Milton gelingt durch die Verteilung des Stoffes auf Buch X und XI eine dichterisch erhöhte Wirkung. Buch X schließt mit einer zweifachen, sogar gegensätzlichen Erwartung im Bereich der Adamshandlung: Die gnädige Erhörung seines Gebets und die gerechte Vertreibung stehen noch aus. Milton hat im Verlauf von X die Teilnahme des Lesers so zu lenken verstanden, daß sie sich der inneren Not Adams zuwendet. Wird sein demütiges Gebet angenommen werden ? Wie wird den eben erst mit Zuversicht Erfüllten die Ausweisung aus dem Paradies treffen ? Wird Adam der plötzlich, wenn auch erst unvollkommen erahnten Verheißung gewiß werden ? Ganz offensichtlich ist Gott noch nicht am Ende seiner Wege mit Adam, und daher sind auch für den Leser seine Wege noch nicht völlig gerechtfertigt. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Fortführung des Handlungsthemas über Buch X hinaus. Die Absicht der Schlußbücher ist demgemäß die Belehrung und Tröstung Adams. XI ist das Buch seiner Läuterung und zeigt ihm die Vorbedingungen für die rechte Erkenntnis und den rechten Glauben. XII ist das Buch der Verheißung, weil die ganze Geschichte der Menschheit und ihre Auslegung in einem geheimen Zusammenhang 2

Die Ausweisung erfolgt in der Genesis durch G o t t , wie auch die Verurteilung. W e n n sie hier durch Michael geschieht, hat das theologisch gesehen die Gleichsetzung Michaels mit dem Sohn zur Voraussetzung, die aber bei vielen Kommentatoren des 17. Jahrhunderts üblich w a r ; vgl. Rajan, 'Paradise Lost', S. 146. Da Buch X I I die Erlösertat des Sohnes zum Gegenstand hat, ergibt sich mit innerer Notwendigkeit, daß die Ausweisung nicht durch ihn geschehen kann. In der Himmelsszene X I , 99 ff. w i r d Michael mit der Vertreibung aus dem Paradies beauftragt.

Aufgabe der Schlußbücher

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mit dem Ereignis steht, das ihr die entscheidende Wendung gibt, dem Erlösungswerk. Handelt XI vorwiegend von Gottes Gerechtigkeit und Adams Schuld, so enthüllt XII immer deutlicher Gottes Gnade und nimmt nur noch wenig Bezug auf Adams Sünde. In XII geht es für Adam nicht mehr, wie in XI, um die Erkenntnis menschlicher Tugenden und Verfehlungen, sondern um die Erkenntnis von Gottes Heilsplan. Mit der Feststellung, daß der Schluß von X eine Fortführung des Handlungsthemas notwendig macht, treten wir der Auffassung entgegen, daß XI und XII für die Handlung unergiebig oder gar überflüssig seien. Sie sind als Erlebnisse Adams zu betrachten. Buch IX und X haben sein Leid bis zum Äußersten geführt, und die Wendung zum Gebet hat ihn wiederhergestellt. Am Ende der Unterweisung in XII wird er von Gottes Gnade so überwältigt wie am Schluß des XI. Buches von der göttlichen Gerechtigkeit — und ist der sehend gewordene Vater der Menschen, der im Einverständnis mit seinem Geschick leben wird. Adam gesteht, daß er nun begreife, wie er allein an Gottes Gnade hänge, und ist bereit, den Erlöser auch als den seinen anzuerkennen (XII, 572/3). Das ist die Erkenntnis, auf die Gottes Wille gezielt hat, als er von der Möglichkeit der Rettung des Menschen sprach (III, 173—202). Die menschliche Schwachheit muß sich ganz auf die Hilfe Gottes angewiesen wissen, und wenn auch das Leben die Erprobung aller der Tugenden verlangt, in denen Adam unterwiesen wird, so bleibt doch der Glaube, der neue Gehorsam, die erste Forderung Gottes an den Menschen. Aus dem bisher Gesagten folgt, daß wir schon am Ausgangspunkt der beiden Schlußbücher darauf verwiesen werden, sie im Hinblick auf Adam zu verstehen, nicht aber als mehr oder weniger entbehrlichen lehrhaften Nachtrag zu einer schon abgeschlossenen Geschichte. Die Handlung wird tatsächlich in ihnen zu Ende geführt und in das Hauptthema aufgenommen. Aber Milton bedarf zweier Lösungen für Paradise Lost: einer für den Gegenstand der Dichtung auf der Ebene der Handlung, und einer zweiten für den Gesamtplan Gottes und seine Rechtfertigung, d. h. für das Hauptthema. Mit dem Ausklang der Geschichte von Adam und Eva allein kann das Epos offenbar nicht enden, nachdem es im Aufriß die Wege Gottes auch gegenüber Satan und im Gefüge seiner ganzen Schöpfung enthält. Nicht nur die Folgen des Sündenfalls und die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung innerhalb der menschlichen Welt durch Gerechtigkeit und Gnade müssen zur Darstellung kommen; auch der Bestand der göttlichen Herrschaft als solcher muß als ein bis in alle Zeiten triumphierender erkennbar werden. Damit sind wir bei der Frage nach dem Beitrag, den die Schlußbücher für das Hauptthema leisten.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Es ist nicht anzunehmen, daß dem Hauptthema in den Schlußbüchern noch etwas Neues hinzugefügt werde. Der in III/l gegebene Aufriß ist dafür zu umfassend und der Mittelteil mit der großen Dramatisierung von Gottes Tun in Kampf und Schöpfung zu gewaltig, um die Erwartung zu erregen, daß etwas anderes als ein neuer Aspekt des gleichen Wirkens aufgezeigt werden könnte, zumal sich das Hauptthema seiner Natur nach nicht als ein Geschehen entfaltet. Insofern ist eine Weiterführung strenggenommen überhaupt nur für das Handlungsthema möglich. Dennoch setzt Milton in den Schlußbüchern mit einer ganz neuen Seite des Hauptthemas ein, indem er Gottes Wege in der Geschichte bis zum Zeitpunkt der Erlösung aufdeckt 3 . Geschichte ist für Milton wie für seine Zeitgenossen Offenbarung Gottes. Darum ist mit dem Blick auf die Geschichte ein neuer Aspekt von Gottes Allmacht gewonnen. Die Manifestationen Gottes steigern sich von der Himmelsschlacht über die Schöpfung bis zur Erlösung hin, die Adam eine wunderbarere Schöpfung als die erste nennt 4 . Es ist immer wieder und besonders von Tillyard und Lewis betont worden, daß Milton zuletzt nicht mehr Herr über seinen Gegenstand sei und daß Paradise Lost einen pessimistischen Ausgang habe. Selbst Rajan rettet den Schluß nur soweit, daß er ihn eine gewaltige Anstrengung nennt. Es ist freilich ein großes Wagnis, Gott in der Geschichte zu verherrlichen, wo menschliche Unzulänglichkeit und menschliche Verderbtheit immer neues Leid heraufführen. Aber Sündhaftigkeit und Not des Menschen sind nur die eine Seite der Menschengeschichte. Die andere darin wirksame Kraft ist der Wille Gottes, den Menschen seinem Heil zuzuführen. Das Handeln Gottes in der Geschichte äußert sich bald als Hilfe, bald als Strafe, als Huld oder als Zorn. Aber es ist dabei stets auf ein fernes Ziel hin ausgerichtet, auf die endgültige Besiegung des Widergeistes und die Aufrichtung des ewigen Reiches. Darum sind in XII die Vorblicke auf das Jüngste Gericht und auf ein zeitloses, seliges Leben besonders eindringlich. Ein Ton der Resignation oder ein Gefühl der Ausweglosigkeit, worauf allein sich die Auffassung eines pessimistischen Schlusses stützen könnte, herrscht nicht vor. Geschichte wird gezeigt als die stets sich wiederholende Möglichkeit des je einzelnen Menschen, Gott anzunehmen und im Vertrauen auf ihn (d. h. in Gehorsam und Glauben) seine Sündhaftigkeit mit den ihm verbliebenen 3

4

Mahood, S. 186f. sieht gerade in der neuen Dimension des Geschichtlichen den entscheidenden Beitrag von X I und XII zur Symmetrie der ganzen Dichtung. VII, 604—07: ". . . greater now in thy return / Then from the Giant Angels; thee that day / Thy Thunders magnifi'd; but to create / Is greater then created to destroy."; XII, 471—73: ". . . more wonderful / Then that by which creation first brought forth / Light out of darkness!"

Aufgabe der Schlußbücher

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Kräften des Geistes und Willens zu überwinden. Trauer um das unwiederbringlich verscherzte Gut der vollkommenen Geschöpf lichkeit klingt natürlich durch, und nur weil Michael seine Darlegung so konzentriert zusammenfaßt und so nachdrücklich auf Adams Verständnis ausrichtet, wird sie hinter einer gewissen Sachlichkeit der Berichtform zurückgedrängt. Wenn wir uns bemühen, der Frage nach dem pessimistischen Gehalt und Unterton von XI und XII nachzugehen, so dürfen wir nicht übersehen, daß die Schau über die menschliche Geschichte um Adams willen erfolgt. Dann sehen wir, was sie für ihn bedeutet: Selbstbesinnung und Tröstung. Alle Unvollkommenheit an Mensch und Schöpfung fällt zwar auf Adam zurück, und daß überhaupt noch Gutes geschehen und Hoffnung bleiben kann, ist das Werk Gottes. Die Übel in der Welt sollen zunächst in Adam das Bewußtsein seiner Schuld wecken (XI); aber das Gute in der Welt, das Walten Gottes in der Geschichte, geht aus dem Bericht Michaels (XII) mit immer zunehmender Eindringlichkeit hervor, so daß Adam das Paradies getröstet verlassen kann. Da werden Henoch und Noah (XI), erst recht aber Abraham und Moses (XII) als die großen einzelnen Vorbilder aus dem menschlichen Treiben herausgestellt und als Erwählte Gottes gezeichnet. Immer wieder findet die Menschheit auch zu Gott zurück und erfährt seinen Segen. Vor allem aber bricht mitten in der Geschichte das Heil schon herein mit der Geburt und dem Opfer des Sohnes. Es bringt keine Umwälzung in den äußeren Verlauf der Geschichte, aber es ist die entscheidende Zusage der Rettung, die das Paradoxon ertragen hilft, daß im Menschenleben der Böse gedeiht und der Gerechte leidet. Die Grundvorstellung, daß Gott schließlich alles Böse in Gutes verwandelt, die schon in Buch I ausgesprochen und selbst Satan bewußt ist, dringt in XII überall mächtig durch und wird zuletzt auch von Adam dankbar erkannt 6 . Hinter dem Niederdrückenden des Menschenlebens wird die mächtig sich ausstreckende Hand Gottes sichtbar: das ist der Gegenstand von XI und erst recht von XII. Ob und in welcher Weise Milton dieser Aufgabe gerecht wird, bleibt im folgenden zu untersuchen. Die Interpretation der Schlußbücher soll klären, ob, selbst nachdem der Hintergrund, auf den das Geschehen projiziert ist, keine pessimistische Auffassung des Gegenstandes zuläßt, nicht doch ein pessimistischer Unterton den Dichter Lügen straft. Es wird sich dabei zeigen, daß hier das Hauptthema ganz wesentlich auf das Handlungsthema angewiesen ist, weil auf dessen Boden der Gedanke von Adams Einverständnis und von seiner Dankbarkeit gegenüber den Wegen Gottes vorherrscht. Das heißt aber, daß der Gegenstand 5

Vgl. S. 30, Anm. 15.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

deshalb nicht pessimistisch zu verstehen ist, weil er in Gott aufgehoben ist, und der Ton darum nicht, weil Adam durch die Wege Gottes in der Geschichte zwar erschüttert, aber auch erbaut und getröstet wird. Was das Handlungsthema für das Hauptthema leistet, ist von entscheidender Bedeutung. Es ist im Grunde nichts anderes, als daß die dichterische Form der Darbietung ein Teil der Aussage selbst ist. Indem nämlich die Geschichte als eine Erfahrung Adams dargeboten wird, ist sie bereits vom Dichter eindeutig ausgelegt. Da sie in Adam aber das Gegenteil von Resignation oder Auflehnung auslöst, kann sie für Paradise Lost nicht in pessimistischem Sinn konzipiert und intendiert sein. Ob Milton hinter seiner eigenen Intention zurückbleibt, ist eine Frage der künstlerischen Gestaltung, um deren Beurteilung eine sorgfältige und einfühlende kritische Untersuchung bemüht sein muß, wenn auch in der Einsicht, daß es dafür keine absoluten Maßstäbe gibt. Über dem Gehalt und der Darbietung der Visionen in XI und der z. T. sehr langen Reden Michaels in XII sollte darum eine ergänzende Frage nicht versäumt werden: Wie spielen sich Vision und Lehrrede ab ? Wodurch sind sie äußerlich in einen Rahmen gefaßt und untereinander verbunden ? Dabei werden wir auf die ihnen zugrundeliegende Gesprächssituation verwiesen. Es ist nicht so, als seien XI und XII nur die Bücher der Visionen und der Berichte Michaels, denn diese sind, wie schon hervorgehoben wurde, in der vorgänglichen Situation fest verankert. Milton ist geradezu darauf angewiesen, das Anliegen der Schlußbücher im Menschlichen zu spiegeln, damit es an Tiefe und Wärme gewinnt. Die fortgesetzt aufrechterhaltene Vorstellung von Adams Anteilnahme an den Vorgängen in Vision und Bericht hat aber nicht nur emotionalen Wert, obwohl sein Schwanken, sein Versagen, Fragen, Begreifen der Erlebniswilligkeit des Lesers natürlich vorarbeitet. Da sich Adam erneut und oft verzweifelt mit dem ihm Dargebotenen auseinandersetzt und Michael zu Erläuterungen nötigt, erhält der Gegenstand eine gedankliche Festigkeit, ohne in die Gefahr eines Schematismus zu geraten; er wird am Verständnis Adams entwickelt, bald schneller, bald langsamer voranschreitend. Vision und Belehrung sind, was sie sind, nur durch ihren Bezug auf Adam. DIE VORBEREITUNG DER SCHLUSSBÜCHER

1. Vorbereitung der Darstellungsweise (Die psychologische Sicht) Auf doppelte Weise werden XI und XII vorbereitet: einmal vom Hauptthema her, das noch die Antwort auf die Frage nach der Erlösung

Vorbereitung der Schlußbücher: Darstellungsweise

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erwarten läßt, und zweitens vom Handlungsthema her, das Adam bis zur Einsicht in den Sinn der göttlichen Pläne führen muß. Aus dem Ineinander dieser beiden Linien, die wir die theologische und die dichterische nennen können, entfalten sich die zwei Schlußbücher. Daher scheint es angebracht, diese Linien bis zu dem Einsatz des XI. Buches erst einmal getrennt zu behandeln, da die erste Betrachtungsweise die Materie, die zweite aber die Darstellung betrifft. W a s die Schlußbücher enthalten, ist von der ersten, w i e sie es durchführen, ist von der zweiten bestimmt. Die Geschichte der Welt in Gottes Gesamtplan und das Einsichtigwerden Adams werden nicht getrennt vorwärts getrieben und zum Ziel gebracht, sondern bedingen und fördern sich gegenseitig. Wir untersuchen zunächst die Voraussetzung, auf der die neue Darstellung beruht. Es wird sich zeigen, daß die innere Situation des gefallenen Adam eben diese Voraussetzung ist, und daß sich der Gesprächscharakter der Schlußbücher, die eigentliche Dramatik ihres Verlaufs, und alle sprachlichen Mittel daraus herleiten. Ist dann erst einmal das Woher und das Wie der Darstellung für XI und XII erfaßt, so wird sich im Rückblick auf das über ihre Bedeutung für den Aufbau der Dichtung Gesagte ergeben, daß sie gerade kraft ihrer Behandlung des Gegenstandes geeignet sind, dem Hauptthema, dem großen dichterischen Anliegen Miltons, zum Sieg zu verhelfen. In IX und X hat Milton ein neues Feld entdeckt, die psychologische Ebene. Jetzt, wo die Versuchung tatsächlich an die Menschen herantreten soll, werden feine Schattierungen ihres Inneren offenbar; das wird besonders deutlich, wenn wir, was hier nicht ausgeführt werden kann, die Vorausdeutung auf die Versuchung in Buch IV und V/1 zum Vergleich heranziehen, wo der Mensch noch nicht menschlich gesehen ist. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß Milton in IV und V/1 die reine Kreatur in ihrem ungestörten Verhältnis zu Gott und zu sich selbst zeigt, während eine Beleuchtung ihres Inneren erst im Augenblick der Krise wichtig wird. Es soll freilich mit den Ausführungen über die psychologische Sicht nicht der Auffassung das Wort geredet werden, die in Adam und Eva schon vor dem Fall bedenkliche Zeichen ihrer Schwächen erkennt, oder gar der, die im Sündenfall nur die letzte Phase einer sich von Anbeginn zeigenden Unvollkommenheit sieht 6 . Milton macht es klar genug, daß in der Geschöpf lichkeit der Menschen nicht schon die Anlage zur Sünde enthalten ist, sondern daß diese einem Willensakt entspringt7. Wir haben in den mit knappen Strichen ge* Vgl. dagegen Bell, passim, besonders S. 867 f.; E.M.W. Tillyard, Studies in Milton (London, 1951), S. 8—52; E. L. Marilla, The Central Problem of 'Paradise Lost' (Upsala, 1953). 7 V, 209: "So pray'd they innocent".

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Interpretation des XI. und XII. Buches

zeichneten Zügen Adams und Evas, die zum Fall führen, kein theologisches, sondern ein dichterisches Motiv zu sehen. Es ist eine Frage der Darstellung, nicht der theologischen Anschauung, daß Milton das Innere der Menschen zu beleuchten beginnt, ehe sie den verhängnisvollen Schritt tun. Dogmatisch hat er sein Vorgehen gesichert durch die unermüdlich wiederholte Lehre von der Willensfreiheit, über die weder der Leser noch Adam selbst im Zweifel gelassen werden 8 . Aber Milton muß, wenn er episch erzählt, den Sündenfall in einen Ablauf von "Erlebnissen" der ersten Menschen einbauen, d. h. ihn dichterisch motivieren. Es ist gar nicht zu umgehen, daß er dafür gewisse Erzählglieder erfindet, die auf den Sündenfall vorbereiten. So bedient er sich der Vorausdeutung durch Evas Traum in IV und der Auseinandersetzung zwischen Adam und Eva über die getrennte Verrichtung ihrer Arbeit in IX nicht, um den Sündenfall theologisch zu erklären, sondern nur, um auf einen Höhepunkt seiner Erzählung hinzuführen. Während Milton Evas Traum als Motiv völlig fallen läßt und mit keinem Wort mehr darauf zurückkommt, läßt er Adam und Eva selber später die Trennung als den ersten Schritt zu ihrem Verderben verstehen (IX, 113-4—39; X, 873—82). Im Zusammenhang der Dichtung ist die Szene eine Vorwegnahme des Sündenfalls. In dem Augenblick, als Eva sich, um ihre Arbeit besser verrichten zu können, von Adam unabhängig machen will, beginnt sich die psychologische Differenzierung abzuzeichnen (IX, 201—403). Daraus ergibt sich für den Leser die Notwendigkeit, in erhöhtem Maße auch auf die Untertöne der Sprache, auf das verhüllte Sprechen zu achten. Da die psychologische Sicht von nun an für die Darstellung des Handlungsthemas bestimmend bleibt, soll an ihr wie an einem Modell Miltons Verfahren aufgedeckt werden. Evas Lösung von Adam ist eine erste Stufe der Versuchung, und daß sie ein Heraustreten aus der Ordnung Gottes symbolisiert, legt uns außer Adams und Evas eigenen Worten VII, 60/1: "and . . . now / Led on, yet sinless, with desire to know . . ." IX, 291/2: "immortal Eve, / For such thou art, from sin and blame entire" IX, 344—46: ". . . his creating hand / N o t h i n g i m p e r f e c t or d e f i c i e n t left / Of all that he Created, much less Man". 8

III, 93—128: die grundsätzliche Erklärung Gottes darüber V, 233—37: nachdrückliche Wiederholung derselben bei der Entsendung Raphaels zur Warnung Adams V, 525—28: Raphael erläutert Adam das Verhältnis von Willensfreiheit und Gehorsam V, 548/9: Adam ist sich seiner Freiheit bewußt (nor knew I not, / To be both will and deed created free) VIII, 635—37: Raphaels Warnung vor dem Mißbrauch der Willensfreiheit X, 43—47: Gott rechtfertigt sich vor den Engeln.

Vorbereitung der Schlußbücher: Darstellungsweise

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auch der Schluß des X. Buches nahe. Denn der erste Schritt zu einer Versöhnung mit Gott ist die Aussöhnung Adams mit Eva9. Die Szene (IX, 192—411) verläuft in einer aufsteigenden Linie von dem gemeinsamen, aber hier schon, im Unterschied zu den Gebeten in Buch IV und V 10 , nicht mehr wörtlich angeführten Morgengebet bis zu der großen Apostrophe "O much deceav'd much failing, hapless Eve" und ist zwischen zwei unheildrohenden Monologen Satans eingespannt. Auf Evas Vorschlag der Arbeitsteilung entgegnet Adam mit "milden" Worten, die noch ganz den stark stilisierten Charakter seiner früheren Reden zeigen: Wir finden feierlich gehobene Anrede, Lob ihres Eifersund schrittweise, mit Sentenzen untermischte Darlegung der Gegengründe, jeweils mit "Yet" (235), "For" (242), "But" (251) am Anfang einer Zeile anhebend, und abschließend einen drei Zeilen langen Spruch (267—69). Vor der Lehrhaftigkeit treten die Anzeichen einer ernsten Besorgtheit ganz zurück. Eva entgegnet gefaßt und liebenswürdig, und nur die gegenüber den bisherigen Anreden fast überbetonte und kühle Feierlichkeit des Anfangs ihrer Rede: "Ofspring of Heav'n and Earth, and all Earths Lord . . . " (273) verrät im Zusammenspiel mit dem Vergleich "As one who loves, and some unkindness meets" (271), ihre Verstimmung. Ihre Rede schwankt zwischen schlicht menschlicher Äußerung in alltäglicher Formulierung (But t h a t . . . I expected not to hear, 279—81) und stark rhetorischer Argumentation (His violence thou fearst not, 282; His fraud is then thy fear, which plain infers/ Thy equal fear that my firm Faith and Love/ Can by his fraud be shak'n . . . 285—87). Weibliche Überredungskunst enthüllt sich in der durch das Wortspiel zugespitzten Schlußfrage, deren verkürzter und verschränkter Satzbau heftige Erregung spiegelt: Thoughts, which how found they harbour in thy brest, Adam, missthought of her to thee so dear? (IX, 288/9)

Adam sucht Eva mit "healing words" (290) zu beruhigen, zugleich aber sich zu verteidigen (Not diffidentofthee, 293; misdeem not then, 301) und sie eindringlicher umzustimmen, ohne sie zu kränken (I from the influence of thy looks receave/ Access in every Vertue . . . Why shouldst not thou like sense within thee feel . . . , 309—17). Aber Eva hört daraus nur das mangelnde Vertrauen in ihre Standhaftigkeit; obwohl sie ihre Rede mit "sweet austeer composure" (272) vorbringt, ist sie voll innerer Auflehnung. Nach Adams erhabener und beschwörender Anrede "Daughter of God and Man, immortal Eve,/For such thou art" (291/2) fällt es besonders ins Gewicht, daß Eva in ihrer Antwort gar 9

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X, 923ff.; 958ff.; Tillyard, Studies in Milton, S. 42 will der Aussöhnung sogar höhere Bedeutung als der Reue zusprechen. IV, 720—35; V, 144—210. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Interpretation des XI. und XII. Buches

keine Anrede gebraucht. Beredt müht sie sich, mit Scheinargumenten und gehäuften Fragen, sogar mit einem versteckten Vorwurf gegen die Unvollkommenheit der Schöpfung, zum Ziel zu kommen, bis Adam leidenschaftlich einfällt: " O Woman, best are all things as the will/ Of God ordaind them . . . " (343/4). Adams nächste Rede gliedert sich in drei Stücke: eine Verteidigung der vollkommenen Schöpfung (343—56), eine Erklärung seiner eigenen Motive für seine Weigerung (357—69) und seine verhängnisvolle Resignation (370—75). Der zunächst rein lehrhafte Ton seiner Rede weicht rasch der schon in der Anrede vernehmbar gewordenen Erregung; der weitgespannte Satz erhält durch Wortwiederholung und Chiasmus ein unruhiges Tempo (347—49) und verhärtet sich zu dem lakonischen Satz, der Adams besserer Einsicht Ausdruck gibt: "Against his will he (Man) can receave no härme" (350). Die zweite Bewegung des ersten Stückes, die Darlegung der Willensfreiheit, ist in rein didaktischer Form ganz ohne Pathos gehalten; ein Erzengel würde nicht anders davon sprechen. Aber eingeordnet zwischen zwei innerlich erregte Partien, erweist auch sie sich bei näherem Zusehen trotz ihrer unpathetischen Sprache als eine so unheimlich zutreffende Voraussage der auf die Menschen zukommenden Situation, daß sie, nicht für Adams Bewußtsein, aber für den Leser, mit erschütternder Deutlichkeit von der Sache her ihr Pathos erhält. Adams Worte "Least by some faire appeering good surpris'd/ She (=reason) dictate false, and missinforme the Will/To do what God expressly hath forbid" (354—56) kommen dem Wie des Verhängnisses so nahe, daß sie für den wissenden Leser eine echte tragische Situation anzeigen. Der Leser, nicht aber Eva, empfindet, daß nicht Mißtrauen, sondern Liebe und Einsicht Adam nötigen, ihr zu widerraten (357f.); der Leser versteht, warum Adams Gedanken jetzt gerade um das Motiv des Trugs und der Wachsamkeit kreisen, warum er inständiger bittet und warnt. In diesem zweiten Teil seiner Rede, der der eigentlichen Überredung dient, wird nicht nur das Tempo immer mehr beschleunigt, auch die direkten Aufforderungen an Eva "Seek not temptation then . . . " (364) "approve/ First thy obedience" (367/8) spiegeln Adams Sorge. Das einzige Mal, daß er Eva direkt zum Handeln aufgefordert hat, "leave not the faithful side That gave thee being . . . " (265/6) wirkt dagegen weit weniger beschwöre/nd. Im letzten Teil der Rede verhüllt sich Adams Bedenken in Worte, die Eva als eine Erlaubnis auslegt, weil sie den Ton, in dem sie geäußert werden, geflissentlich überhört. Gedanke und Sprache decken sich nicht, weil der innere Zwiespalt in Adam so stark ist, daß er es Eva überläßt, zwischen dem Ton und dem Sinn seiner Rede zu wählen:

Vorbereitung der Schlußbücher: Darstellungsweise

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But if thou think, trial unsought may finde Us both securer then thus warnd thou seemst, (securer = besser gewappnet) G o ; for thy stay, not free, absents thee more; G o in thy native innocence, relie On what thou hast of vertue, summon all, For G o d towards thee hath done his part, do thine. So spake the Patriarch of Mankinde, but Eve Persisted, yet submiss, though last, repli'd. (IX, 370—77)

Zweimal stoßen wir auf ein stark betontes " g o " am Anfang der Zeile, das erste ist abrupt, hart, isoliert, wird aber sogleich durch ein nachfolgendes "for . . . " begründet; das zweite klingt im Zusammenhang mit dem erweiternden Nachsatz wehmütig weich. Ebenfalls markiert stehen die drei anderen Imperative am Zeilenende (relie, summon all, do thine), und der letzte Warnruf wird wieder mit "for" begründet, so als könnten logische Gründe in dieser Situation noch wirken. Indem beide Menschen irren, Eva in ihrem Anspruch, Adam in seiner Nachgiebigkeit, erhebt sich bereits die Frage der Schuld. Erkenntnis und Handeln klaffen auseinander, der Wille wird nicht von der Vernunft beherrscht. Die ganze krasse Widersprüchlichkeit drückt sich in der Zeile aus: "Eve/ Persisted, yet submiss, though last, repli'd" (376/7). Lautlich ahmt das Zischen der s- und st-Laute die Disharmonie nach. Der Sinn ergibt, daß das "submiss" einerseits zu "persisted", andererseits zu "though last" gezogen und von beiden als ein Schein entlarvt wird. So findet die seelische Gespanntheit in der Sprache ihren Niederschlag. In diesem Augenblick wird das Prinzip der Willensfreiheit in einer Entscheidung aktualisiert, und zwar kennzeichnenderweise in einem tragischen Versagen. Es entfaltet sich eine so dramatisch bewegte Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen, daß es auf der Hand liegt, die psychologische Erhellung Adams und Evas durch den Dichter im Zusammenhang mit ihrem Schuldigwerden zu sehen. Es ist nicht so, als seien sie bisher ohne persönliche Züge gewesen. Aber sie glichen eher Urbildern des Männlichen und des Weiblichen, und ihre unmittelbare Nähe zu Gott hatte sie bisher allem nur Menschlichen entrückt. Jetzt tauchen individuelle Züge, eigene Interessen, Versteckspiel, Verhalten in einer Entscheidung als ganz neue, sehr menschliche Momente auf. Die Vielschichtigkeit des menschlichen Inneren und Spannungen zwischen den Menschen sind neue, erst jetzt mögliche Dimensionen11. Sie werden vom Dichter entdeckt, aber sogleich wieder verhüllt. In den ergreifenden Vergleichen für 11

In den Zeilen 370 ff. wieder einmal einen Niederschlag von Miltons Verhältnis zu den Frauen bzw. zu seiner ersten Frau zu sehen, heißt das einzig wichtige Anliegen darin überhören; es ist die innere Not Adams, der Eva halten will und doch, wenn auch irrtümlich, glaubt, ihr die Entscheidung überlassen zu müssen. 6*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Eva (IX, 386—396) findet er ein dichterisches Gewand, um die gleiche Situation noch einmal in mythologischer Entrückung zu zeigen. Es bleibt also bei einer bloßen Andeutung der psychologischen Sicht, denn mit den mythologischen Bildern und mit der anschließenden klagenden Apostrophe greift Milton auf Darstellungsmittel zurück, die uns aus dem IV. Buch bekannt sind, die aber auch dort nicht den Blick ins Innere auftun, da sie rein vordeutenden Charakter haben12. So wie an der behandelten Stelle die psychologische Differenzierung aufgezeigt werden konnte, die von nun an auf der Handlungsebene mitbestimmend bleibt, läßt sie sich auch in den Monologen feststellen. Denn schon in IX tritt neben dem Dialog der Monolog als wichtigstes Ausdrucksmittel hervor. Mehr noch als jener ist der Monolog geeignet, innere Vorgänge sichtbar zu machen, seelische Schwankungen und Spannungen aufzudecken13. Wenn wir also hier Adam und Eva zum erstenmal in Selbstgespräche versunken finden, so darf uns allein schon dieser Umstand zu denken geben. Wo das Innen und das Außen gespalten sind, wo das Wort des Gesprächs nicht mehr zuverlässig den Sinn der Gedanken wiedergibt, aber auch da, wo das Innere zu bewegt und vielgestaltig ist, als daß es sich im epischen Bericht erfassen ließe, wählt der Dichter die Form des Selbstgesprächs. Denn im Selbstgespräch zeigt sich der Sprechende wie er ist, ohne Verhüllung und Verzerrung. Wie sollte also der Monolog dort am Platze sein, wo die Fähigkeit zur Verstellung, das Bedürfnis nach Verhüllung noch gar nicht vorhanden ist, und wo es noch keine innere Uneinigkeit mit sich selbst gibt? Die Gedanken der Menschen vor dem Fall sind auf Gott gerichtet; sie sind Gebete. Auch ihre Fragen und Erkenntnisse haben Gott und seine Schöpfung zum Gegenstand; in den Monologen sucht der Mensch dagegen Klarheit über sich selbst, kommt seine Gespaltenheit zum Ausdruck. Die Verwendung des Monologs in IX ist darum so bedeutsam, weil Milton damit seine Absicht, die Entscheidungen ins Innere zu verlegen, unmißverständlich zu erkennen gibt. Da der Sündenfall ein innerer Akt ist, kann der Mensch auch nur auf einem inneren Weg zu Gott zurückfinden. Das ist der Grund, warum Milton die psychologische Sicht in IX einführt und die folgenden Bücher auf ihrer Grundlage aufbaut. Die Monologe Adams und Evas sollen hier nicht im einzelnen untersucht, sondern nur als Merkmale einer bestimmten Darstellungstendenz herangezogen werden. Sie sind zu verstehen als der bewußte Verzicht des Dichters, selber zu berichten, um in seltenen Augenblicken einer 13 13

IV, 268—85, 714—19; s. auch S. 52ff. Monologe Evas: IX, 745—79, 795—833 Monologe Adams: IX, 896—916; X, 720—862.

Vorbereitung der Schlußbücher: Thematik

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dramatischen Krise eine noch glaubhaftere Darstellungsweise anzuwenden, die freilich ebenfalls seiner Regie untersteht. Er wählt dieses Mittel an den Stellen, wo das Subjektive sich als solches selbst zur Darstellung bringen soll. Subjektivität gibt es aber vor dem Sündenfall noch nicht, wie es ursprünglich im Paradies auch keine Dramatik, sondern nur epische Idylle gibt. Dramatik tritt mit der Verlegung des Interesses auf die menschliche Ebene auf, vorher nicht. Auf die Sicht ins Innere des einzelnen und auf die Schaffung von dramatisch bewegten Augenblicken arbeitet Milton aber gerade auch in XI und XII hin. Die Teilnahme an Adams Lage und Verhalten ist es, was den Leser in XI und XII von Station zu Station führt. Geschichte und Lehre sind der Gegenstand der Bücher, aber in Auswahl, Anordnung, Umfang und Deutung hängen sie ab von dem, was Adam braucht. Denn in den Schlußbüchern haben wir weder eine mehr oder weniger vollständige Chronik vor uns, noch eine abgeschlossene Darlegung des Dogmas oder der Morallehre. Da Adams Anschauungen zurechtgewiesen, seine Zweifel behoben und sein Verständnis entwickelt werden sollen, ist es berechtigt, sich vor der Behandlung der zwei Schlußbücher auf Adams äußere und innere Situation zu besinnen. 2. Vorbereitung der Thematik (Adams Verhältnis zu Gerechtigkeit und Gnade) Wir ziehen in erster Linie Adams Reden vom zweiten Teil des X. Buches heran 14 . Wir werden beobachten, daß seine Auffassung von Gerechtigkeit und Gnade, allgemeiner gesagt, sein Verständnis der Wege Gottes, mannigfachen Irrtümern ausgesetzt ist und sich in verschiedenen Stimmungen entlädt, daß sich aber doch auch langsam seine Wiederherstellung anzuzeigen beginnt. Mit einiger Vorsicht läßt sich daher von einer stufenweisen Erkenntnis der Gnade sprechen, die Adam am Ende von X nicht zu dem letzten, aber zu dem entscheidenden Schritt, zum reumütigen Gebet, führt 15 . Dabei sind Adams Worte gelegentlich merkwürdig hintergründig und transparent; ihre Tragweite ist nicht ihm selbst, wohl aber dem Leser verständlich. Adams volles Verständnis ist aber notwendig, damit der Akt der wissentlichen Übertretung durch einen Akt der Erkenntnis überwunden wird, denn nur unter dieser Voraussetzung kann die Erlösung wirksam werden. 14

15

Die wichtigsten Reden sind in unserem Zusammenhang: X, 720—862 (Adams Monolog); 947—65; 1013—96; nicht herangezogen wurde demnach X , 867—908. Uber den bis zum Beginn der Visionen erreichten Stand der Einsicht Adams vgl. S. 102 f.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Durch die Darstellung von Adams zunehmender Erkenntnis in XI und XII, die sich hier vorbereitet, wird das Hauptthema zugleich mit dem Handlungsthema gefördert und seiner Lösung entgegengeführt. Es geht bei der folgenden Untersuchung nicht um eine fortlaufende Interpretation von X/2. So kann z. B. auch nicht auf die echte Dramatik der Szene eingegangen werden, obwohl Evas Anteil an den Schwankungen und der allmählichen Klärung von Adams Verhältnis zu Gott die Lebendigkeit der Darstellung wirksam unterstützt. Es soll vielmehr nur an e i n e m thematisch wichtigen Faden die Vorbereitung des XI. und XII. Buches aufgezeigt werden. Daher bleibt z. B. das Thema des Todes, aus dem sich die innere Notwendigkeit der Schlußbücher ebenso gut ableiten ließe, im Hintergrund. Es ist unvermeidlich, daß sich die Ausführungen mit denen über die psychologische Sicht berühren, nur daß sie mehr den gedanklichen, jene mehr den Darstellungsfragen nachgehen. Strenggenommen ist beides natürlich nicht trennbar. Woher, seit wann und wie weit kennt Adam den Begriff der Gnade, der ihm in XI und XII in Ergänzung des Begriffs der Gerechtigkeit so lebendig gemacht werden soll, daß er ihn innerlich ergreifen und sich von ihm ergreifen lassen kann ? Ehe wir Adam dort aufsuchen, wo er die Wirkung der Gnade zum erstenmal an sich selber verspürt, wenden wir uns seiner Auseinandersetzung mit der göttlichen Gerechtigkeit zu. Sein großes Selbstgespräch (X, 720—862) ist als ein Wechsel zwischen wilder Klage und bitterem Ringen mit der unerklärlichen Gerechtigkeit Gottes komponiert. Die erste Schlußfolgerung, zu der Adam gelangt "Thy punishment then justly is at his Will./ Be it so, for I submit, his doom is fair" (768/9), ist aber nur eine vorläufige Antwort, denn das folgende rastlose Umkreisen der Frage nach dem Tod ist nichts als ein weiterer Versuch, mit Gott zu rechten — ein Versuch, der zwar zu dem Geständnis führt "Him after all Disputes/ Forc't I absolve" (828/9), der ihn aber nicht zur Ruhe kommen läßt. Vielmehr verflucht er, auf den Boden hingestreckt, laut klagend sein Los, das einzig dem Los Satans vergleichbar sei. Am Ende des Monologs, unmittelbar vor der abschließenden lyrischen Klage, steht der leidenschaftlich erfragte und nur verzweifelt anerkannte Begriff der "Justice Divine" noch einmal mächtig und drohend da: Zeilenanfang (857) und Zeilenabschluß (858) geben ihm eine dominierende Stellung, so daß das Problem des ganzen Selbstgesprächs zuletzt ungelöst und Adam in der Auflehnung bleibt. Erst Evas ergreifend schlichte Bitte "Forsake me not thus, Adam" (914) gibt seinen Gedanken eine positive Wendung, und er nimmt ihr Wort der Versöhnung auf: "But rise, let us no more contend, nor blame/ Each other . . ." (958/9). Aber Reue hat ihn noch nicht

Vorbereitung der Schlußbücher: Thematik

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ergriffen. Durch Evas frevelhaftes Gedankenspiel mit dem freiwilligen Verzicht auf Nachkommenschaft und mit dem Tod durch eigene Hand wird Adams Besinnung endlich geweckt. Ihr Irrtum löst seine höhere Einsicht aus (1010-12). Er erinnert sich und Eva an den Spruch Gottes über die Schlange: "thy Seed shall bruise/ The Serpents head" (1031/2), um sie von der Sinnlosigkeit und Vermessenheit einer eigenmächtigen Vorwegnahme des Todes zu überzeugen, denn die Hoffnung auf die Bestrafung ihres Feindes hängt ja von ihrem Weiterleben ab. Wenn seine plötzliche Vermutung richtig ist, daß nicht die Schlange, sondern Satan der Verführer ist, erhält diese Hoffnung eine Ausweitung unerhörten Maßes: Die Zusage des Lebens stellt zugleich die Vernichtung des Bösen in Aussicht. Ganz dicht streift Adam hier an den Vorhang, der vor das Geheimnis dieser Zusage gezogen ist, aber er hebt ihn nicht. Aber auch wenn sie nur unzureichend begriffen ist, dient ihm die Verheißung immerhin als Argument gegenüber Eva. Daß Adam so nahe an das Geheimnis seiner Rettung rührt und doch nicht die volle Bedeutung seiner eigenen Worte erkennen kann, schafft einen dramatischen Augenblick, der unsere Erwartung anspannt. Es ist noch kein Wissen um das volle Glück der Gnade; der Gedanke fällt zu Boden, ohne zu zünden. Dennoch: gerade in diesem Augenblick gibt Adam die Auflehnung gegen die Strafe Gottes auf und verwirft Evas Trachten als Versündigung gegen Gott. Man muß sich den ganzen Passus 1041—96 vergegenwärtigen, um die Einsicht, die sich in Adams Verurteilung jeder Art von Widerstand als "Rancor and pride, impatience and despite./ Reluctance against God and his just yoke" (1044/5) anzeigt, recht zu ermessen. In diesem Augenblick erst erinnert er sich an die Milde, mit der der Herr sein Urteil ausgesprochen habe, "with what mild/ And gracious temper he both heard and judg'd/ Without wrauth or reviüng" (1046—48), eben das Urteil, das beide so verstört und so aufsässig gemacht hat. Jetzt erkennt er auch in dem Strafwort selbst eine Weisung, nach der sich doch ein sinnvolles Leben führen lasse. Das Leben, das er noch vor kurzem verflucht hat, erscheint ihm jetzt erträglich, und der Gedanke an das Mitleid, mit dem der Herr sie beide bekleidet hat, bestärkt ihn in dem Entschluß zu beten. Freilich will er zunächst nur um Schutz gegen die unwirtlich gewordene Witterung bitten, d. h. um das Nächstliegende. Den Nachsatz "And what may eise be remedie or eure/ To evils which our own misdeeds have wrought,/ Hee will instruet us praying" (1079—81) könnten wir in tieferer Bedeutung verstehen, wenn nicht gerade seine Farblosigkeit und Beziehungslosigkeit so kennzeichnend dafür wären, daß Adam eben noch nicht alle Not wirklich begriffen hat. Sie liegt ja vor allem in einer inneren Hinfälligkeit, für die er erst recht Gottes Beistand erflehen müßte. Ebenso verborgen bleibt ihm noch, daß der Spruch gegen die

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Schlange für den Menschen die entscheidende Verheißung der Erlösung enthält. Seine Sorge gilt den Unbilden des täglichen Lebens; den Tod kann er nur als ein endgültiges Ende, als eine Rückkehr zur Erde verstehen (1084/5). D. h., er begreift im Grunde nur die strafende Gerechtigkeit und ist bereit, sich ihr zu unterwerfen. Seine Vorstellungen von göttlicher Gnade reichen nur so weit, als er sie äußerlich wahrnehmen konnte: Gottes im Strafen gnädiges Antlitz, das milde Urteil und die Bekleidung ihrer Nacktheit. Er erwartet sich daher von der Gnade nicht mehr, als was dazu nötig ist "to pass commodiously this life, sustain'd/ By him with many comforts" (1083/4), ohne zu wissen, daß Gott vor allem "inward consolations" (XII, 495) bereit hält. Daß schon damals der Herr in seinem Mitleid mehr tat, und zugleich mit der äußeren auch ihre innere Nacktheit bekleidete, das kann Adam nicht bewußt werden 16 . Diese nicht sichtbare Tat und die verborgene Verheißung sind aber das eigentliche Geschenk Gottes, das weit über seine Gerechtigkeit hinausreicht, und in dem erst die zureichende Rechtfertigung seiner Wege zu finden ist. Da Adam das Geheimnis der vollen Gnade Gottes jetzt noch nicht erkennen kann, ist es die Aufgabe der Schlußbücher, sie ihm schrittweise zu enthüllen. Adam hat also die Gnade Gottes erfahren, ehe er sie ermessen kann. Aber in dem Augenblick, in dem er davon überhaupt sprechen kann (1046—48), hat er wenigstens die Anerkennung von Gottes Gerechtigkeit vollzogen. Der Weg zu seiner Erkenntnis der Gnade ist gebahnt. Als Adam bereit ist, sich reuig vor Gott zu demütigen, und Eva auffordert, mit ihm Gott anzurufen, ist ihm verborgen, daß auch diese Regung, wie in XI, 2—5 gesagt wird, eine Gabe Gottes ist. Er versucht, seine Erfahrung der Gnade in überschwenglichen Worten zu umschreiben. Wir wollen diese Worte im Zusammenhang kurz beleuchten. Undoubtedly he will relent and tum From his displeasure; in whosc look serene, When angry most he seem'd and most severe, What eise but f a v o r , g r a c e , and m e r c i e shon? (X, 1093-96)

Dies ist der Schluß von Adams Rede. Die Sprache der letzten Zeile ist von solcher Eindringlichkeit, so kräftig im Ton und zugleich so beschwingt im Rhythmus, daß sie einem Aufbruch gleichkommt. Nach den 16

Der Aussage über die Bekleidung des inneren wie des äußeren Menschen fällt eine besondere Bedeutung zu. Hier taucht zum erstenmal die Trennung von Außen und Innen im Wortgebrauch auf, die für den Stand des gefallenen Menschen kennzeichnend ist (X, 220ff; vgl. auch X, 714ff., 812). Ansätze dazu finden sich schon in der Auseinandersetzung zwischen Adam und Eva wegen ihres Tagewerks, IX, 205 ff. Tatsächlich vorhanden, wenn auch noch nicht ausdrücklich formuliert, ist sie bereits im Erlebnis der Scham, das unmittelbar auf den Fall folgt (IX, 1054ff.).

Vorbereitung der Schlußbücher: Thematik

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gedämpften Worten der Einsicht (Of sorrow unfeign'd, and humiliation meek, 1092), die die Voraussetzung solcher Hoffnung ist, scheint die letzte Zeile von der Gnade, die sie zu erfassen sucht, innerlich belebt. Der Widerstand gegen Gott ist aufgegeben. Die starken Schläge, die auf den Hauptworten der Zeile "sorrow" und "humiliation" liegen, zeigen seinen Zusammenbruch an; das dank der Mehrsilbigkeit der Worte verlangsamte Tempo bewirkt ein Innehalten vor dem zuversichtlichen "Undoubtedly". Aber könnte nicht die Form der Frage, in der die neue Zuversicht erscheint, die Vorstellung erwecken, als sei sich Adam ihrer Kühnheit wohl bewußt ? Halten wir dagegen ,wie aufrichtig seine Zerknirschung ist (prostrate fall/Before him reverent. ., confess/Humbly our faults . . . tears . . , sighs . . , hearts contrite . . , 1087—92). Einer solchen Reue kann keine nur halb zuversichtliche Hoffnung entspringen. Die neue Hoffnung, daß Gott, der, als er über die Sünder zürnte und streng schien, nur lauter Gnade ausstrahlte, sich von einem reuigen Herzen nicht abwenden werde, gründete selbst schon im Vertrauen auf Gott und bedeutet eine wirkliche Wendung zum Glauben. Nun erscheinen auch Adams Umschreibungen für Gottes Tun (favor, grace, mercie) nicht als tastende Versuche, den rechten Begriff für seine Erfahrung zu finden, sondern als der gesteigerte Ausdruck der aus der Reue aufkeimenden Gewißheit. Auch die überall hier herausgearbeiteten sprachlichen Kontraste legen es uns nahe, in der Umschreibung und in der Frageform nur den emphatischen Ausdruck für Adams innige Zuversicht, nicht aber für seine geheimen Zweifel zu sehen. Die Hinwendung zum Gebet bedeutet ja gerade, daß sich Adam auf die Gnade Gottes zu verlassen bereit ist, obwohl er sie in ihrem Wesen noch nicht voll zu erkennen vermag. Das Gebet ist die erste Tat seines neuerwachten Vertrauens in Gott; sie schafft überhaupt erst die unerläßliche Vorbedingung für seine Rettung. Die gedankliche Bewältigung des Wesens der Gnade, ohne die Miltons "great Argument" nicht am Ziele wäre, gelingt Adam erst am Schluß des Gespräches mit Michael in XII.

Interpretation des XI. Buches Der Aufbau von Buch XI und sein Zusammenhang mit Buch XII Nachdem die Situation, die mit dem Schluß von X erreicht worden ist, bereits umrissen wurde, soll nun der Aufbau von XI kur2 überblickt werden. Eine Aufgliederung der Bücher des Paradise Lost ist im einzelnen noch nicht vorgenommen worden, und doch ergibt sich schon aus dem Versuch einer solchen eine Reihe von Fragen, deren Berücksichtigung Hinweise für die Einzelinterpretation enthält. Eine fortlaufende Interpretation muß sich angesichts der durchschnittlichen Länge eines Buches von etwa 880 Zeilen zu solchen Zäsuren entschließen. Wenn sie Zeile für Zeile oder Satz für Satz fortschreitet, ohne zwischendurch das Ergebnis zusammenzufassen, wird sie an Übersichtlichkeit verlieren und zu Wiederholungen genötigt sein. Bei einem Drama ist die Einteilung in Akte und Szenen vorgegeben. Die Erläuterung eines Epos muß sich eine entsprechende Aufteilung erst schaffen, damit am Schluß eines gedanklichen Zusammenhangs die Einzelbetrachtungen abgerundet und die daraus gewonnenen Einsichten überblickt werden können. Wir sind uns bewußt, daß die Aufgliederung bereits eine Auslegung enthält und von dem Bemühen ausgehen muß, dem inneren Rhythmus eines Buches zu folgen. Für XI liegt, wie für die Mehrzahl der Bücher, eine Zweiteilung auf der Hand. Von 901 Versen entfallen 422 auf die Vorgeschichte und Vorbereitung der Visionen; diese selbst machen die zweite Hälfte des Buches aus. Der erste Teil besteht aus drei geschickt miteinander verbundenen Szenen und einem kurzen Überleitungsteil: 1. 1 —133: Vorspiel im Himmel (Fürsprache des Sohnes und Entsendung Michaels) 2. 133—250: Vorspiel im Paradies (Wirkung des Gebets und Michaels Ankunft) 3. 251—376: Verkündung der Austreibung und Tröstung 4. 376—422: Der Berg der Visionen

Buch XI: Vorspiel im Himmel

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Der zweite Teil gliedert sich in drei Hauptstücke: 1. 423—555: Erste und zweite Vision (Brudermord und Haus des Todes; Thema: Sünde und Tod) 2. 556—711 ¡Dritte und vierte Vision (Friedenszeit und Krieg; Thema: Verbreitung der Sünde) 3. 712—901: Fünfte und sechste Vision (Sintflut; Thema: Strafgericht und Rettung). Buch XI und XII bilden eine Einheit von so vollkommener Geschlossenheit wie nur noch ein zweites Bücherpaar, I und II. Die Visionen in XI gehören eng zusammen mit dem Lehrgespräch Michaels in XII. Da die Verstoßung aus dem Paradies im Einleitungsteil von XI beschlossen und ausgesprochen, aber erst ganz am Schluß von XII vollzogen wird, schieben sich Visionen und Reden scheinbar als eine retardierende Partie dazwischen. In Wirklichkeit erregt das Hinauszögern der Urteilsvollstreckung aber keine echte Spannung; auch dient es nicht eigentlich dazu,' der Ausweisung größere Nachdrücklichkeit zu verleihen. Vielmehr ist die Verstoßung gar nicht möglich, d. h. sie wäre nicht sinnvoll und gerecht, wenn Adam sie nicht begreifen und bejahen könnte, und so würde die Rechtfertigung Gottes am Schluß der Dichtung zusammenbrechen. Die Visionen und Gespräche sind darum ein unentbehrlicher Bestandteil in der Durchführung sowohl des Haupt- wie des Handlungsthemas, worin beide weiter entwickelt und miteinander verschmolzen werden. Diese große Synthese ist das Ziel der Dichtung. Notwendigerweise ist der einleitende Teil von XI (Ankündigung der Verstoßung) breiter als der Ausklang von XII (Vollzug der Verstoßung), weil er die Verbindung zum Vorigen herstellen muß. Es ist aber auch nicht so, als bildeten diese beiden Teile nur den Rahmen zu einem mächtigen und ziemlich selbständigen Hauptstück, denn die Adamshandlung bleibt auch in dessen Verlauf dauernd gegenwärtig. Nur dadurch, daß sie darin die Entfaltung des Hauptthemas antreibt, sie reflektierend und emotional vertieft und menschlich verständlich macht, wird dieses auch dichterisch lebendig. A. DIE VORGÄNGE BIS ZUM BEGINN DER VISIONEN (XI, 1—422)

1. Vorspiel im Himmel (XI, 1—133) D E R BESCHLUSS GOTTES

Buch XI wird mit einem bedeutungsschweren Prolog im Himmel eröffnet. Neben III/l ist es die längste und dramatisch bewegteste Himmelsszene des Paradise Lost. Genau wie Vergil vor dem Entscheidungs-

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Interpretation des XI. und XII. Buches

kämpf noch einmal eine Götterszene bringt 1 , so verlangt auch der Schluß des Paradise Lost nach einem erhabenen und den Gang vorausdeutenden Auftakt. Zur Verkündung der Strafe über den Menschen ruft Gott die Engelscharen feierlich herbei, um sie zu Zeugen seines Beschlusses zu machen und Michael mit seiner Ausführung zu betrauen 2 . Die Szene ist von einer eigentümlichen Spannung belebt: Der Sohn als Fürsprecher bewirkt die gnädige Annahme des menschlichen Gebets, aber dem gegenüber steht die ganze Strenge von Gottes strafendem Willen. Nicht als stünden sich Gnade und Gerechtigkeit antithetisch gegenüber, denn weder will der Sohn Gottes Beschlüsse umstoßen (40/1), noch will Gott den Menschen seine Liebe entziehen (61—66). Die Tatsache, daß der Sohn das Gespräch beginnt, während in allen anderen Himmelsszenen der Impuls von Gott ausgeht, ist uns nur das Anzeichen einer Umbetonung auf die versöhnende Gnade hin, angesichts dessen die strengen Worte Gottes gegen die Übertreter seiner Ordnung und die Bloßstellung ihrer Schwächen befremden könnte. Die Verkündung der Austreibung ist die einzige Rede Gottes, in der kein Unterton des Mitleids und Erbarmens anklingt. Der Nachdruck, der auf seiner Erklärung liegt, wird dadurch erhöht, daß dieselben Worte to remove him I decree, And send him from the Garden forth to Till The Ground whence he was taken, fitter soile. (XI, 96—98)

von Michael vor Adam wiederholt werden; wir wissen, wie sparsam Milton von der echten epischen Wiederholung Gebrauch macht 3 . Dem Beschluß wird nichts von seiner Absolutheit genommen, so daß sich Gottes Majestät in überwältigender, aber ganz nüchterner Größe zeigt. Der Grund liegt darin, daß Gottes Walten sich stets auf das Ganze seiner Herrschaft richtet, in welchem der Mensch nur einen Teil ausmacht. Erst wenn dieser Teil wiederhergestellt ist, ist eine neue, vollkommene Ordnung möglich und das Ziel von Gottes Wegen erreicht. Aber eben diese Wiederherstellung hat Gott von Anbeginn beschlossen, wie III/l zeigt. Auch der Aufbau der vorliegenden Szene gibt uns zu verstehen, daß die Gnade schon in der Gerechtigkeit angelegt ist. Die Fürbitte am Anfang (37—44) und der Auftrag an Michael, die Menschen zu trösten, am Schluß der Szene (108—117) bilden für ihren Sinngehalt eine wirksame Stütze. Der Mensch entgeht zwar nicht seiner Strafe, aber auch diese führt ihn seinem Heil näher. Die Tröstung Adams durch die 1 2

3

Aeneis, X, 1—117; zur Funktion der Szene vgl. Büchner, S. 388f. Mit gleicher Feierlichkeit werden die Engel herbeigerufen, als Gott die Erhöhung des Sohnes verkündet (V, 577 ff.). Vgl. S. 58, Anm. 19.

Buch X I : Vorspiel im Himmel

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Verheißung meint nicht die Aufhebung der Trübsale des menschlichen Lebens, sondern eine mitten in diesem aufgerichtete Hoffnung. Nichts von der Schuld und den Leiden der Menschen wird gemildert, und dennoch begleitet Gott ihre Geschichte mit immer neuen Zeichen seiner Gnade. Die letzte Himmelsszene baut sich aus der scharfen Kontrastierung der vollen Härte der Strafe mit der Aussicht auf Erlösung auf und bereitet auf diese Weise die Gegensätzlichkeiten des noch folgenden Schlußteiles vor. Die vorhin genannte Spannung der Szene erweist sich als das eigentliche Paradoxon des christlichen Lebens, das auf die Erlösung angewiesen ist. Das bricht auch in dieser Szene an drei Stellen durch, die auf das Ende der Zeiten hindeuten 4 . Nur das Angebot des Sohnes macht die Rettung möglich, aber Gott fordert, daß der Mensch nach seinen Kräften dabei mitwirkt. Sein Glaube und geduldiges Ertragen des mühevollen Lebens sind dafür nötig. Diese Forderungen klingen hier schon an, aber erst in den Gesprächen Michaels mit Adam bilden sie einen thematischen Schwerpunkt: If patiently thy bidding they obey, Dismiss them not disconsolate; reveale To Adam what shall come in future dayes. (XI, 112—14) DIE BEDEUTUNG DES GEBETS

Die freiwillige Erniedrigung vor Gott im Gebet hat Adam eine neue Würde gegeben. Das Pathos der Schlußzeilen von X und das erhabene Bild von Deukalion am Tempel der Themis, mit dem er zu Beginn von XI verglichen wird, geben dieser Tatsache dichterischen Ausdruck. Aber der Dichter hat noch weitere Mittel, um uns auf die Bedeutung dieses Augenblicks aufmerksam zu machen. Das erste ist die durch den Beginn eines neuen Buches erzielte Aufhebung einer genauen Zeitvorstellung. So ausgesprochen eng sich die erste Zeile von XI (Thus they in lowliest plight repentant stood/ Praying) textlich an den Schluß von X anschließt, so bildet doch ein Buchabschluß immer ganz natürlicherweise eine Zäsur, die vom Dichter beabsichtigt ist, und die er durch die künstlerische Gestaltung von Schluß und Beginn der Bücher unterstützt. Ferner findet ein Wechsel des Schauplatzes statt: der Leser wird mit den aufsteigenden Gebeten vor den Thron Gottes geführt und vernimmt dort ihre Annahme. Um den folgenreichen Augenblick der Umkehr im reuigen Gebet hervorzuheben, macht Milton das Gebet mehrmals zum Gegenstand eines Gespräches. Adam äußert verschiedentlich, daß er sich der Bedeutung des Gebetes bewußt ist (X, 1060—96; XI, 141—61, 307—14). Das 4

XI, 40—44 ; 6 1 — 6 6 ; 115/6; s. S. 58.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

demütige Gebet wird erhört und schenkt dem Menschen Frieden; aber der Mensch kann Gottes Beschlüsse nicht durch hartnäckiges Bitten umstoßen. Der Sinn des Gebets ist Anbetung, nicht Forderung. Auch der Sohn erläutert das Wesen des Gebets in einer überaus feierlichen Rede (XI, 22—44). Er macht sich zum Fürsprecher des aufrichtigen Flehens und bittet — was in Gottes Plan bereits enthalten war —, daß in der Gerechtigkeit die Gnade wirksam werde. Die Gedanken und Metaphern der Rede sind der Bibel, vor allem dem Neuen Testament, entnommen8. Die von der Bibel vorgeprägte Sprache gibt ihr aber, wie allen Stellen, an denen Milton sie verwendet, erhöhten Nachdruck und unterstreicht ihre Bedeutung. Doch wird das Gebet nicht nur erörtert und gedeutet, es wird auch dichterisch dargestellt, und auch diese dichterische Veranschaulichung der Gebete lebt von der Sprache der Bibel 6a ; sie ist also nicht nur kunstvoll, sondern bedeutsam. Noch auffälliger als das wiederholte Sprechen über das Gebet ist nämlich seine Umsetzung in Gegenständlichkeit und Bewegung. Die geflügelten Seufzer steigen empor, nachdem die Gnade selbst sie aus dem Menschenherzen befreit hat; sie dringen durch das Himmelstor, werden in Weihrauch gehüllt und vom Sohn vor Gottes Thron gebracht (1—21). Die Schilderung der aufsteigenden Gebete wird durch den kühnen Deukalion-Vergleich (9—14) unterbrochen, in dem die Gebetshaltung — wie die Adams — der Wiederherstellung der Menschheit dient. Auch in der Rede des Sohns wird die Vorstellung vom Gebet intensiviert durch den subtilen Vergleich der Gebete mit den Früchten des Paradieses (26—30). So wird das Gebet, das schon im Urzustand der Ausdruck von Adams ungestörtem Verhältnis zu Gott war, zu Beginn der Schlußbücher noch einmal besonders stark herausgehoben, weil es ihm nun, im Stand der Sünde, den Weg zur Rettung bereitet. ZUSAMMENFASSUNG

Von zwei Seiten her — von Gottes Beschluß und von Adams Haltung — wird die Himmelsszene des XI. Buches zur Exposition des Schlusses von Paradise Lost. Wie III/l das Fundament der ganzen Dichtung ist, so hat die letzte Himmelsszene grundlegende Bedeutung für die Schlußbücher. Sie ist nicht nur ihr Ausgangspunkt, sondern sie orientiert uns über ihren Sinn. Das Epos entläßt Adam und Eva "though sorrowing, yet in peace" (XI, 117), wenn sich ihnen die Wege Gottes 5

5a

Rom 8, 26; 1 Johl, 1—2; Rtv 8, 3—4; 9,13. EZeM 11, 19; Rom 8, 26; Ps 141, 2; Ren 5, 8; 8, 4.

Besonders

Buch X I : Vorspiel im Paradies

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in der menschlichen Geschichte aufgetan haben, und Gott ist gerechtfertigt, wenn der Ausblick auf die Endzeit die Menschen zu ihrem eigenen schweren Weg stärkt. 2. Vorspiel im Paradies (XI, 133—250) D A S GESPRÄCH ADAMS UND EVAS

Die Strenge, besser gesagt die Objektivität Gottes in der letzten großen Himmelsszene und der Glanz, mit dem der Erzengel zur Erde herabfährt, werden von einer Szene ganz entgegengesetzter Stimmung abgelöst. Adam und Eva haben ihren inneren Frieden wiedergefunden und suchen zu einem neuen Selbstverständnis durchzudringen. Während ihres zuversichtlichen Gesprächs naht aber das Unglück der Vertreibung schon heran, das sie gänzlich unvorbereitet treffen wird. Nur der Leser erhält einen Wink, daß in der neuerwachten Freude auch Furcht eingeschlossen ist (139). Die Szene bewegt sich auf zwei Höhepunkte zu, die Schlußworte von Adams erster Rede und das Zeichen am Himmel. Adam ist überwältigt von der Erkenntnis, daß menschliche Bitten bei Gott Gehör finden. So lebhaft ist seine innere Bewegung, daß er glaubt, Gott gesehen zu haben, wie er sich ihm mild und gnädig zuwandte (151/2). In der neugewonnenen Ruhe des Gemütes erkennt er das zweite, verborgene Zeichen der Erhörung. Nun wird seine Hoffnung zur Gewißheit: er ist erhört und gestärkt, er wird leben. Der Ton seiner Worte ist hochgestimmt, und erhält eine besondere Feierlichkeit durch die enge Anlehnung an die Bibel 6 . Die Stelle hat ein merkwürdiges Doppelgesicht. Wieder ist Adam der Wahrheit näher als er ahnen kann. Die Zuversicht, die er nur auf ein irdisches Leben bezieht, ist von Gott als die Uberwindung des Todes durch Christus gemeint. So werden wir hier erneut darauf hingewiesen, daß Adams Verständnis der Gnade noch unvollkommen ist. Trotzdem ist der ganze Schluß seiner Rede voll Freude. In diesem Augenblick der Zuversicht erinnert er sich des Versprechens vom Weibessamen wieder und begrüßt Eva jubelnd mit den Worten: "Haile to thee/ Eve rightly call'd, Mother of all Mankind" und überbietet diesen Zuruf durch den hier fast vermessen klingenden Zusatz: "Mother of all things living, since by thee/Man is to live, and all things live forMan" (158—61). • Gen 3 , 1 5 und 20; 1 Sam 15, 32; es darf uns nicht befremden, daß hier die Worte ganz anders, in trotziger Todesverachtung gemeint sind. Milton verwendet biblische Stellen meist in ganz freier Umprägung des Wortlauts oder des Sinnzusammenhangs.

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Interpretation des X I . und X I I . Buches

Auch Evas anfänglich bescheidene und von Reue erfüllte Hinnahme dieses Glücks endet mit der vollen Zustimmung 2u ihrem Geschick und nimmt dabei ebenfalls eine unerwartete Wendung: alle verhängten Mühsale wiegen ihr nichts, wenn sie im Paradies bleiben kann. Damit hat Milton eine tragische Situation geschaffen, die er nun mit aller Schärfe herausarbeitet. Im gleichen Augenblick erscheint ein Zeichen am Himmel, das, wie Adam richtig deutet, ein neues Eingreifen Gottes ankündet und ihm ihre Bedrohtheit durch Strafen wieder in Erinnerung bringt. Dieses Himmelszeichen, in Inhalt und Stilisierung ein klassischantikes Omen, ist der zweite Höhepunkt der Szene (184—190). Es nimmt den Umschlag der Stimmung vorweg, den Michaels Botschaft hervorruft. Die Szene enthüllt die Menschlichkeit Adams und Evas in einer neuen Sicht. Selbst wenn ihre Demut vollkommen ist, ist ihre Einsicht nach dem Sündenfall begrenzt: Adam versteht die Verheißung des Weibessamens ganz diesseitig und wird erst später gerade an der Wiederkehr des gleichen Spruches allmählich seine wirkliche und volle Bedeutung erkennen. Evas Bescheidung ist an das Bleiben im Paradies geknüpft, aber eben dies wird ihr jetzt genommen und erst zuletzt in einem neuen Sinn wiedergegeben. D I E ROLLE DER VERGLEICHE UND OMINA

Das alles ist bei großer Sparsamkeit der Ausdrucksmittel sehr prägnant und doch auch als seelische Bewegung dargestellt. Adams Vorrang vor Eva behauptet sich in seiner geistigen Auseinandersetzung mit seiner Lage, während Eva mit dem Gefühl darauf antwortet und schon der Verwirklichung ihrer neuen täglichen Aufgaben zugewandt ist. Dies Verhältnis zwischen Adam und Eva entspricht Miltons Auffassung von der Rangordnung in Gottes Schöpfung; sie ist schon in IV deutlich und bleibt es bis zum Schluß der Dichtung 7 . Aber diese theologisch fundierte Differenzierung wird erst nach dem Sündenfall zu einer psychologischen Differenzierung ausgenützt und verhilft den Adam-EvaSzenen in IX, X und XI zu einer echten, d. h. von innen her angelegten Dramatik. Sie erfassen eine augenblickliche Situation, die Stimmungen und die Gestik Adams und Evas werden in ihren Reden und in den begleitenden Winken des Dichters offenbar. Solange die Aufmerksamkeit ganz den seelischen Vorgängen zugewandt ist, tritt die Szenerie weitgehend zurück. Wo sie überhaupt in nennenswerter Weise herangezogen wird, hat sie weniger die Aufgabe, den räumlichen Hinter7

Diese Auffassung erlaubt uns, im Verlauf dieser Arbeit so oft nur von Adam und nicht zugleich auch von E v a zu sprechen.

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Buch XI: Vorspiel im Paradies

grund für ein äußeres oder inneres Geschehen als vielmehr bedeutsame Assoziationen zu schaffen8. Eine völlige Versenkung in seelische Bewegungen wird aber ebensowenig angestrebt. Die Darstellung der reinen Vorgänglichkeit wird durchsetzt mit Bildern, die ihr durch ihre Statik entgegenwirken und sie durch ihre Erhabenheit in größere Bedeutungszusammenhänge stellen. Milton kann für seine Absichten keine in reiner Gegenwärtigkeit sich erschöpfenden Szenen gebrauchen, und je stärker eine solche von ihr durchdrungen ist, um so sicherer hebt er sie mit Hilfe von Bild, Vergleich und ähnlichen Mitteln wieder auf. Darin liegt die Bedeutung der Vergleiche und Omina in der vorliegenden Szene und des Länderkatalogs in der folgenden. Es wird sich zeigen, daß gerade die allerletzte und aufs äußerste zusammengedrängte Szene, in der Adam und Eva das Paradies Hand in Hand verlassen, sich aus der bloßen Gegenwärtigkeit herausbewegt und sie übersteigt. Der Schluß des Paradise Lost ist ganz der Situation verbunden und angemessen, und dennoch ganz absolut und symbolisch. Die letzte Stufe der Überführung der Gegenwart in die Zeitlosigkeit ist dort erreicht, wo diese in der schlichten und direkten Vorgangsschilderung schon enthalten ist. Ein Ansatz zur Aufhebung der Gegenwärtigkeit findet sich schon in der Adam-Eva-Szene am Ende von X, wo jene auffällige epische Wiederholung gebraucht wird (X, 1086—92, 1098—1104). Eine epische Wiederholung ist ein unrealistisches Element und trägt durchaus dazu bei, einer Szene den reinen Gegenwartscharakter zu nehmen. Vielleicht kann man sogar Adams Sentenz am Schluß von IX (1182—86) in diesem Sinn verstehen, denn auch sie überhöht die erzählte Situation, indem sie das darin enthaltene allgemein Gültige zum Vorschein bringt. Wenn auch die Mittel in beiden Fällen ganz verschieden sind, ist doch die Tendenz die gleiche: Die Lage soll aus ihrer Zuständüchkeit befreit und ins 8

Hinweise auf die Örtlichkeit sind in den drei Büchern überhaupt selten. Vgl. IX, 192/3, 848/9,1037—41; X, 845—51; einzig die beiden letzten Stellen sind nennenswert. Ferner XI, 203—07; 222/3, 377ff.; auffällig ist XI, 203ff. darum, weil nur die Bedeutung des Bergs der Visionen, nicht die Örtlichkeit hervorgehoben wird. Die Untersuchung der drei wichtigeren Stellen ergibt, daß sie das momentane Geschehen auf einen größeren Zusammenhang beziehen sollen. Die in IX, 1037 ff. kurz evozierte Laube erweckt die Erinnerung an die ausführliche Schilderung der Laube in IV, 689 ff., die ganz gegenständlich, aber zugleich symbolisch für die reine eheliche Liebe erfaßt ist. Durch den flüchtigen Hinweis auf die örtlichkeit wird in IX die Gegensätzlichkeit der jetzigen zu der ursprünglichen Situation verdeutlicht. In X, 846 erfahren wir, wie unwirtlich das Paradies geworden ist und werden mehr auf die Ursache, den Sündenfall, als auf die vorhandene örtlichkeit verwiesen. In XI, 203ff. werden der Berg der Visionen durch den Vergleich mit dem Berg der Versuchung Christi und der Blick von dort durch eine Schau über die Reiche der Welt auf zukünftiges Geschehen bezogen. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Generelle gehoben werden. Auch die Tatsache des akzentuierten Buchschlusses, dem die genannten Mittel wohl in erster Linie dienen, trägt dazu bei, der Situation den Charakter des nur Momentanen zu nehmen. Die vorliegende Szene in XI geht auf diesem Weg einen Schritt weiter. Das Omen von den gejagten Vögeln und Hirschen ist als Antiklimax zu Evas Wunsch in die Handlung hineinkomponiert, um die tragische Ironie der Situation aufzudecken. Aber dazu bedürfte es nicht unbedingt eines Omens, wenn damit nicht gleichzeitig eine Bedeutungsvertiefung erzielt würde. Und nun wird gar noch ein zweites Zeichen am Himmel sichtbar (203—7), das Adams Aufmerksamkeit erregt; es erinnert an die Anzeichen, die die Gesichte der alttestamentlichen Propheten häufig begleiten: Ein übermächtiger Glanz, der sich vom Himmel der Erde nähert, überwältigt den Betrachter. Äußerlich hat das Zeichen wie das Omen die Aufgabe, zum zweiten Teil der Szene überzuleiten, denn es ist nichts anderes damit angezeigt als die Erscheinung des herabfahrenden Michael. Warum wird aber diese erst als ein Wunderzeichen am Himmel, ganz in dem Sinn, den es im antiken Epos hat, verstanden? Warum fährt der Dichter in der Beschreibung des Engels fort, mit Hilfe von alttestamentlichen Vergleichen an das Wunderbare zu rühren (213—20)? Warum wird die Beschreibung seiner Gewänder noch einmal aufgenommen und wieder mit Hilfe von Vergleichen überhöht (240—48) ? An all diesen Stellen setzt sich die große Herrlichkeit göttlicher Zeichen und Botschaften gegenüber der Gegenwartshandlung durch. Obwohl diese immer wieder sehr lebendig dargestellt wird, werden wir doch nie für länger in ihr festgehalten. Es geht ein dauernder Wechsel zwischen vordergründiger und hintergründiger Darstellung vor sich. Um ein kleines Beispiel zu geben: Die Bezeichnung von Michaels Schwert als "Satans dire dread" (248) ist ein Zeichen für die hintergründige Schicht, und wenn es gleich anschließend heißt "and in his hand the Spear", so wird deutlich, mit welcher Mühelosigkeit Milton die Verbindung zur Handlungsebene wieder herstellt. 3. Verkündung der Austreibung und Tröstung (XI, 251—376) MICHAELS

SPRUCH

Adam ist durch die Erscheinung auf den großen Ernst des Boten Gottes vorbereitet (226) und empfängt ihn ehrfürchtig. Betrachten wir kurz, wie bisher die Reden zwischen Adam und Eva vom Dichter vorbereitet worden sind: 140: (Adam) to Eye his w e l c o m e words renewd 162: To whom thus Eve with sad demeanour meek 192: (Adam) not unmov'd to Eve thus spake

Buch X I : Verkündung der Austreibung

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Jedesmal werden wir auf die Tonlage der Rede eingestimmt. Das ändert sich schon, als Adam das Nahen des Engels deuten will: "(Adam) . . . to Eve, / While the great Visitant approachd, thus spake," (224/5). Der Sinn nicht nur Adams und Evas, sondern auch des Lesers ist ganz auf die Majestät der Erscheinung gerichtet, die Regungen des menschlichen Herzens werden nicht mehr angezeigt. Die Ohnmacht des Menschen vor dem Göttlichen wird damit offenkundig. Die beiden Zeilen, die Michaels Rede einleiten, verkünden in ihrer gedrängten, auf Attribute verzichtenden Sprache und in ihrer Formstrenge die vollends veränderte Situation: Adam bowd low, hee Kingly from his State Inclin'd not, but his Coming thus dedar'd. (249/50)

Wir dürfen nicht übersehen, daß Milton den Erzengel vor der Verstoßung eine Tröstung aussprechen läßt (257/8), obwohl der sachliche, kühle Redeton darüber hinwegtäuschen mag. Auch setzt die Aussicht, daß Gott vielleicht einst den Tod ganz aufheben wird, ein Leben der Reue und der guten Taten voraus, zu dem Adam zunächst ermahnt wird. Das Eigentümliche ist, daß die Zusage zwar ausgesprochen ist, aber so versteckt, daß sie kaum zur Wirkung kommen kann. Für Adam und Eva ist sie völlig weggelöscht durch den folgenden Spruch von der Verbannung. Das Verfahren, Adam etwas vernehmen zu lassen, ohne daß er es wirklich aufnehmen kann, treffen wir schon bei der Verkündung des Urteils über Satan an, und es wird im Schlußteil des Paradise Lost wiederholt angewendet. Es gibt dem Leser die Möglichkeit, Schlüsse auf Adams inneren Zustand zu ziehen und sein fortschreitendes Verständnis bis zu dem Augenblick seiner Erkenntnis zu verfolgen. Deshalb wird zunächst nur der Leser auf die Gnadenabsichten Gottes deutlich hingewiesen. Am kunstvollsten hat Milton dieses Verfahren für den Gedanken des aus dem Weibessamen hervorgehenden Erlösers angewandt9. Die epische Wiederholung (to remove thee I am come . . ., 260—62), mit der Michaels Rede schließt, ist ein Echo, das nicht etwa auf die Worte zurückgeht, mit denen Gott Michael seinen Auftrag erteilt hat; sie nimmt vielmehr den Schluß von Gottes feierlicher Proklamation vor den Engelscharen wieder auf (96—98). Den tröstenden Schluß, den Gott seiner Entsendungsrede gegeben hat, enthält Michael den Menschen zunächst vor. Seine Worte wirken darum strenger als der Auftrag selbst ausgeklungen ist. Die vorliegende Szene soll den Gedanken an die göttliche Milde erst dann entwickeln, wenn Adams Gehorsam gegen die volle Härte der Weisung erprobt ist. Sie legt also den gleichen Weg zurück wie Gottes eigene Reden in der vorausgegangenen Himmelsszene. 9

Vgl. S. 193ff.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

DIE WIRKUNG DES SPRUCHES

Durch seine unbewegliche Strenge bewirkt Michael in Adam und Eva eine Erschütterung bis ins Innerste. Adam hat zwar geahnt, daß der Bote wohl eine große und vielleicht schwere Entscheidung für sie bringen werde (226—28). Aber vor dem in Sache und Ton gleich pathoslosen Spruch bricht er so vollkommen zusammen, als habe er nicht bereits Schlimmeres befürchtet. Das ist aber nur ein Teil der psychologischen Kunst, die Milton in dieser Szene entfaltet. Während Adam verstummt, bricht Eva in laute Klagen aus, somit ihr Versteck verratend. Wieviel schlicht Menschliches liegt darin, und wie kommt es in Evas Klagerede vollends zum Durchbruch! Und doch wird die emotionale Ebene im nächsten Augenblick schon wieder verlassen, denn sowie sich Adam wieder gesammelt hat, rückt die gedankliche Auseinandersetzung an die Stelle des reinen Gefühls. So erfahren wir die Wirkung der Rede auf zwei Ebenen: zuerst auf der des Gemüts (Eva), dann in Adams Versuch einer Besinnung. Entsprechend stufen sich die zwei tröstenden Reden Michaels: milder und schlichter Zuspruch gegenüber Eva, aber in Adam die höhere Erkenntnis ansprechend. Eva hängt an den menschlichen Erinnerungen, an der Pflege ihrer Blumen, an ihrem Brautbett, und sie fürchtet sich vor der rauhen Welt draußen. Von ihrer elegischen Klage hebt sich Adams Reflexion ab. Was ihm das Paradies teuer gemacht hat, ist nicht das tägliche Tun und nicht das persönliche Glück, sondern die Nähe zu Gott. Seine Rede ist sorgfältig aufgebaut: Anrede und Dank an Michael in gemessenen Worten (296—-300); Echo seiner Betroffenheit über die Verbannung in steigender Leidenschaftlichkeit (300—07); Stauung der Bewegung in dem Bewußtsein, daß jedes Aufbegehren vergeblich ist, bis zu der Einsicht: "Therefore to his great bidding I submit". Sie erinnert an die früheren, noch recht erzwungenen Worte "I submit, his doom is fair" (X, 769) und "Him after all Disputes/Forc't I absolve" (X, 828/9). Und doch fällt Adam nicht völlig zurück in den Stand vor seiner Reue und Erhörung. Der Tonfall der Worte ist ruhiger, das "submit" steht am Zeilenende wie eine kräftige Unterschrift. Auch der vorausgegangene Redeinhalt und die schmerzliche Bescheidenheit, mit der er vorgetragen wird, zeigen, daß Adam das große Geheiß Gottes zwar nicht bejahen, aber nach der Erfahrung der gnädigen Erhörung hinnehmen kann (307—14). Aus den schlichten Worten, deren jedes zögernd und gewichtig hervorkommt, spricht eine große Trauer, und das Unbefriedigende, das in jeder Resignation liegt, verlangt noch nach Klärung. Die Gehorsamsbereitschaft muß sich in eine freiwillige und

Buch X I : V e r k ü n d u n g der Austreibung

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völlige Hinwendung zu Gott verwandeln. Adam ist noch immer in einer Haltung befangen, aus der ihn Michael befreien muß. Von Zeile 315 an bleibt der Ton von Adams Rede, trotz seiner Unruhe und Trauer, gedämpft (315—33). Was Adam betrübt und besorgt macht, ist die Verstoßung aus Gottes Gegenwart und der Verlust jener Stätten der Begegnung mit Gott, die er den Söhnen als Stätten der Anbetung überliefern wollte. Aber kein Aufbegehren, keine Klage wird laut. Die Frage "In yonder nether World where shall I seek/His bright appearances" (328/29) ist nicht etwa eine rhetorische Frage, sondern entspringt einer wirklichen Not, die am Schluß der Rede durch eine erste positive Wendung des Gedankens der Unterwerfung unter Gott gelöst wird: "I now/Gladly behold though but his utmost skirts/Of glory, and farr off his steps adore"(331—33). Gottes Allgegenwart kann Adam sich nicht vorstellen, und doch liegt gerade in ihr die Tröstung, die ihm Michael verspricht. Die Frage der Verbindung zu Gott ist so wichtig, daß sie zum eigentlichen Ausgangspunkt für die Visionen gemacht wird: Gott offenbart sich den Menschen überall und zu allen Zeiten; das wird Adam durch sie erfahren. MICHAELS ABSCHLIESSENDE REDE UND ADAMS ANTWORT

Michaels Rede ist ein Eingehen auf Adams Besorgnis, aber sie faßt außerdem alle Empfindungen und Gedanken der ganzen Szene zuzusammen. Nachdrücklicher als Eva wird Adam von Michael auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht, und auch der Hinweis auf das eigene Verschulden ist betonter (vgl. 287 mit 347). Eva wurde auf Adams Beistand verwiesen (290/1), aber daAdamsNot größer, d.h. geistiger Natur ist, wird er mit Gottes Gegenwart getröstet "still compassing thee round / With goodness and paternal Love" (352/3). So ist alles, was Michael zu Eva gesagt hat, hier noch einmal ausführlicher aufgegriffen und gedanklich begründet. Die Rede schaut aber nicht nur zurück, sondern ihr Aufbau macht uns auch auf die Hauptpunkte aufmerksam, die bis zum Schluß der Dichtung noch ausgeführt werden: der erste ist die Darlegung von Gottes Macht und Gnade, der zweite die Einsicht Adams in die eigene Schuld, in Gottes Wege und in die ihm daraus erwachsende Tröstung. Die doppelte Absicht der Visionen und Unterweisungen, Gottes Wirken aufzuzeigen und Adams Selbstverständnis herzustellen, ist damit angegeben. Auch zu dem Thema der Visionen und Gespräche sagt Michael schon hier das Wichtigste: er nennt die Geschichte ein stetes Ringen von Gottes Gnade mit der Sündhaftigkeit der Welt. Sowohl die letzte Absicht wie der Inhalt der Rede ist also von der Rechtfertigung der Wege Gottes

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Interpretation des XI. und XII. Buches

bestimmt. Aber es fällt auf, daß Michael mit einer Verheißung der Erlösung an dieser Stelle zurückhält, obwohl er sie kurz zuvor flüchtig angedeutet hat (257/8). Darum klingt auch aus Adams Antwort die Ergebung deutlicher heraus als die Hoffnung. Michael beginnt mit einer Rechtfertigung Gottes, der den Menschen mit großer Macht auf Erden ausgestattet hat (335—40) und folgert daraus, daß Adam nur durch eigene Schuld einen Teil davon, nämlich sein "Capital Seate" mit dem Paradies verliert (340—48). Mit "Yet" einsetzend geschieht die Zusage der Allgegenwart Gottes (349—54), zu deren Bestätigung Adam der Blick in die Zukunft erlaubt wird (355—60); daraus wird er lernen, sein Leben vor Gott recht zu führen (360—66). Visionen und Belehrung werden also auch von der Handlung her doppelt motiviert, indem sie Adams Frage nach der Gegenwart Gottes beantworten und zu Evas Besorgnis, wie ein Leben außerhalb des Paradieses möglich sei, Stellung nehmen. Adams Schlußworte in XII (553—573) zeigen eine auffallende Übereinstimmung mit den hier von Michael vorgetragenen Gedanken, weniger dem Wortlaut als dem Sinn nach. Der inzwischen zurückgelegte Weg ist daran abzulesen, daß ihr Inhalt inzwischen Adams geistiger Besitz geworden ist. Er sieht nun in seiner Sünde einen Verstoß gegen das Gebot der Mäßigung (moderation) und ist bereit, die Leiden seines Lebens geduldig zu ertragen (patience); das ist also genau, was Michael verlangt hat. In einem entscheidenden Punkt gehen seine Worte sogar noch über Michaels Einleitungsrede hinaus, denn die Verheißung der Erlösung durch den Messias ist am Schluß des Gesprächs der allein tragende Grund, auf dem Adam seine Erkenntnis und seine Bescheidung aufbaut. Darum sind wir berechtigt, die Thematik der dazwischenliegenden Teile von diesem Anfangs- und Endpunkt her zu verstehen und zu interpretieren. Wir werden dabei auf die gleiche Ausrichtung und innere Zusammengehörigkeit der Teile stoßen und in der Gegensätzlichkeit und Abwechslung das künstlerische Prinzip ihrer Anordnung erkennen. Adams letzte Beteuerung seiner Unterwerfung ist mit der Hinwendung zu den Aufgaben des Lebens verknüpft (arming to overcom/By suffering, 374/5) und erfährt dadurch gegenüber allen früheren eine ganz entscheidende Erweiterung. Die Gnade ist in Adam schon wirksam und gibt ihm die Kraft, nicht nur sich aufs neue in Gottes Machtbereich einzuordnen, sondern auch den Sinn des Lebens in der Bewährung zu erkennen. Damit ist der Boden bereitet, und der Erzengel kann seinen Auftrag erfüllen: "So send them forth, though sorrowing, yet in peace" (XI, 117). Michaels Unterweisung ist die Auslegung der Entscheidungen Gottes. Der Mensch muß seiner Schwäche überführt

Buch X I : Berg der Visionen

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und der Strafe ausgeliefert werden, aber er muß darin auch die Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit und Liebe, seiner Macht und seiner Weisheit begreifen lernen. Es scheint nach seinen letzten Worten, als habe Adam das alles schon jetzt begriffen; aber seit er aus dem Stand der Vollkommenheit gefallen ist, muß zum Wissen auch die Erfahrung hinzutreten, damit es sich in eine wirkliche und bleibende Gewißheit umwandelt. 4. Der Berg der Visionen {XI, 376—422) D I E BEDEUTUNG DES BERGES

Mit "Ascend / This Hill" (366/7) gibt Michael den Auftakt zu der großen Szenenfolge von Visionen und Geschichtsbildern, aus der er Adam am Ende mit fast gleichen Worten wieder entläßt: "Let us descend now" (XII, 588). Aber ihr Anfang wird noch kunstvoll hinausgeschoben, nicht so sehr durch die Besteigung des Berges, sondern durch zwei Assoziationen: einen Vergleich und einen Katalog, denen die kleine Szene derZurüstung Adams folgt; alle drei Elemente haben den Sinn, der Schau Adams die Bedeutungsschwere eines übernatürlichen Ereignisses zu verleihen und sie zu entrücken10. Bereits in den knappen Worten, die von der Besteigung berichten, "So both ascend/In the Visions of God" (376/7), liegt ein Hinweis darauf, daß Milton bei den Visionen Adams an die Gesichte der alttestamentlichen Propheten denkt, denn "in the Visions of God" ist eine wörtliche Übernahme aus Ezechiel11. Auch Adams Visionen sind von Gott inspirierte, d. h. authentische Offenbarungen (XI, 115)12. 10

11

12

Prince, "On the L a s t T w o Books of 'Paradise Lost'", S . 4 4 , macht darauf aufmerksam, daß Miltons Vorliebe f ü r weitblickende Höhen seinem Sinn f ü r das Erhabene entspricht und f ü h r t u. a. Lydias 1 6 1 ff. und Paradise Regained III, 2 5 1 ff. an. E%ek 8, 3 : "and brought me in the visions of G o d to Jerusalem . . ."; ebenso E^ek 40, 2 ; das bedeutet (Kautzsch, I, S. 831), daß die Entrückung des Propheten bereits ein visionärer V o r g a n g ist; somit ist Miltons Zitat wörtlich verstanden unangemessen f ü r die vorliegende Situation, dennoch leistet es f ü r das Gegenwartsgeschehen das Gleiche w i e die oben behandelten Vergleiche und Omina. Freilich geben die Propheten als O r t ihrer Gotteserscheinungen, w e n n sie ihn überhaupt nennen, gelegentlich auch einen Fluß an; z. B. Dan 8, 2 ; 1 0 , 4 ; E%ek 1, 1. In Ezek 40, 2 bildet die Entrückung des Propheten auf einen Berg schon einen Teil der Erscheinung Gottes, ebenso in der aus Hesekiel übernommenen Stelle der Offenbarung (Rev 2 1 , 10). D i e Unterweisung eines Gescheiterten durch eine Schau v o m Berge herab erinnert an Faerie Queene I, Canto X , 53ff., w o der Einsiedler Contemplation den Red Cross K n i g h t auf Mercy's Bitten v o n einem hohen Berg das neue Jerusalem sehen läßt, u m ihn innerlich zu stärken. Spenser zieht w i e Milton f ü r seinen Berg Vergleiche heran, w e n n auch in dekorativer, nicht sinnvertiefender Absicht (er vergleicht ihn mit dem Sinai, dem ö l b e r g und dem Berg der Musen).

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Der Vergleich mit dem Berg der Versuchung Christi ist ein noch auffallenderes Mittel, um die vorgängliche Handlung zu überhöhen. Christus wird "our second Adam" (383) genannt, wodurch die Beziehung besonders eng geknüpft und mit der ihr vom Neuen Testament verliehenen Bedeutung erfüllt wird: "For as in Adam all die, even so in Christ shall all be made alive" 13 . Auch Christus hat alle Reiche der Welt von der Höhe erblickt14. Offensichtlich ist aber die Absicht der Schau beide Male sehr verschieden, und die Assoziation verläuft bei Milton in einer anderen Richtung. Sie meint die ungeheure Weite des Blicks. Daher geht aus dem Vergleich sofort eine neue Gedankenverbindung hervor, die in dem Länderkatalog zur Darstellung kommt. Die Aufzählung der mächtigen Reiche von China, Rußland, Persien, Afrika und Europa bis nach Amerika ist von imposanter Fülle, klangvoll und ausladend wie der große geographische Katalog im Paradise Regained, und wohl einer ähnlichen Absicht entsprungen16. Der Leser soll, an einem bedeutenden Punkt der Erzählung angekommen, durch das Ferne und Fremde überwältigt werden, um die Größe des Augenblicks darin stellvertretend zu erfahren. Und doch soll er an dieser Stelle, wie sich am Schluß zeigen wird, auf etwas noch Bedeutenderes vorbereitet werden. ZUM WORTSINN VON ZEILE 3 8 5 / 6

His Eye m i g h t t h e r e c o m m a n d wherever stood City of oJd or modern Fame

Die Form des Prädikats "might command" löst eine erste Frage aus. Nachdem Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts kann sie indikativischen oder konjunktivischen Charakter haben: "er konnte sehen" oder "er könnte sehen"16. Wir werden also im Unklaren darüber gelassen, ob Adam alle diese Reiche hätte sehen können oder ob er sie wirklich sah. Selbst wenn wir "might" konjunktivisch auffassen, so stellen wir doch fest, daß im Verlauf des Länderkatalogs die Wendung zur positiven Aussage eindeutig vollzogen wird, denn "nor could his eye not ken" (396) und "in Spirit perhaps he also saw" (406) sind jedenfalls indikativisch zu verstehen. Wir werden daher auch am Anfang eine indikativische Form annehmen dürfen, wenn wir nicht — von der Untersuchung der zweiten Frage 13 14 15

16

I Cor 15, 22; ähnlich 15, 45 und 47. Luke 4, 5ff.; vgl. Paradise Regained III, 251 ff. Ein Vergleich mit Paradise Regained III, 269 ff. bestätigt den charakteristischen und gewollten Unterschied zwischen den beiden Epen: hier ist die Weite noch grandioser, während in Paradise Regained die größere Prägnanz im Einzelnen auffällt. OED, unter "may" (7, II, 2—36).

Buch X I : Berg der Visionen

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her — dahin gelangen, Zeile 411 (but to nobler sights . . .) damit in Verbindung zu bringen und etwa zu lesen: Adam könnte dies alles sehen, aber Michael bereitete ihn zu Gesichten höherer Art vor. Die zweite Frage erhebt sich vom Subjekt aus: "His Eye". Ist von dem zwei Zeilen zuvor "our second Adam" genannten Christus die Rede oder müssen wir 15 Zeilen vorher anknüpfen und die Beziehung zu Adam herstellen ? Das letztere wäre ein sehr lockerer Anschluß, der über mehrere vollständige Sätze mit neuen Subjekten hinwegführte. Aber diese Technik finden wir im Paradise Lost immer wieder angewandt 17 , so daß wir zu dieser Lösung durchaus berechtigt sind. Wenn wir dagegen "His Eye" auf Christus beziehen, so wäre die Komparation mit dem Berg der Versuchung durch Zeile 384nicht abgeschlossen und wie eine Parenthese zwischen Adams Aufstieg zum Berg und die Aufzählung der Reiche eingebaut, sondern der ganze durch Zeile 385 einsetzende Katalog wäre von dem Vergleich abhängig. Der Leser würde aus der gegebenen Situation Adams in eine fernliegende, die der Versuchung Christi, versetzt. Aber der Katalog drängt dem Bewußtsein des Lesers nicht eine neue, ohnehin kaum vergleichbare Situation auf, sondern ruft durch seine Fülle, Pracht und Großartigkeit vielmehr die Vorstellung von der Weite und Bedeutsamkeit des Blickes hervor, auf die auch der vorangegangene Vergleich schon gezielt hat. Wie auch die Verknüpfung von "His Eye" der Intention nach sein mag, so wie sie sich darbietet, erlaubt sie beide Auffassungen. Wir werden daher zu fragen haben, welche von ihnen den Sinn besser stützt. Sehen wir auf den Punkt, wo der epische Bericht wieder aufgenommen wird. Auch hier erhalten wir keine klare Antwort: "but to n o b l e r sights /Michael from Adams eyes the Filme remov'd" (411/2). Hat Adam den Blick auf die Welt tun können, solange sein Auge noch verschleiert war ? Ist die Reinigung seiner Augen durch Michaels Beistand zwar für die Schau der Reiche entbehrlich gewesen, nun aber für eine Vision höherer Art notwendig? Oder soll Adams höhere Schau der vorangegangenen Schau Christi gegenübergestellt werden? Oder aber greift der Dichter etwa auf das "might" (385) zurück und stellt der nur möglichen die nun folgende tatsächliche Schau entgegen? Der Text läßt die verschiedenen Möglichkeiten zu. 17

Vgl. etwa Paradise Lostl, 549: "Anon t h e y move" geht auf "the universal Host" (541) zurück (über vier neue Subjekte hinweg, die allerdings als Synekdoche für "Host" verstanden werden können). Das "They" von Z. 549 wird nach zehn Zeilen wieder aufgenommen (Thus they... Mov'd, 559—61 ; aber dazwischen regieren "flutes" und "recorders" als Subjekte (551—59); vgl. aber auch II, 570, 597, 604, w o die Zuordnung der Subjekte zueinander (Another part . . . all the damn'd . . . they . . .) Schwierigkeiten macht; in III, 606, 611, 613 bezieht sich "here" erst auf die Sonne, dann auf die Erde, dann wieder auf die Sonne.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Auch von der Kompositionstechnik her lassen sich keine bestimmten Anhaltspunkte gewinnen. Bleibt des Dichters Blick während des ganzen Katalogs von Adam weg und Christus zugewendet, so lassen sich auch für eine so lange Digression Beispiele im Paradise Lost finden, etwa die Höllendarstellung oder der Limbus-Passus. Der innere Bezug ist immer gewahrt, auch wenn der Handlungsträger für eine längere Strecke der Darstellung zurücktritt. In seiner Eigenschaft als bedeutungsvertiefender Exkurs wird der Passus von der Frage der logischen Anknüpfung nicht berührt. Aber die Wiederaufnahme der Erzählform läßt uns etwas viel Wichtigeres erkennen. Der Dichter hat mit der ganzen Stelle eine mächtige Anschwellung und Steigerung beabsichtigt, die sich auch ohne logisch klare Verknüpfung als Vorbereitung für Adams Visionen erklärt, da sie den Bedeutungszusammenhang erweitert und zugleich, den Leser hinhält. Die Unklarheit hat hier nicht, wie in der Höllendarstellung des II. Buchs, in der Konfusion selbst ihren Sinn; aber sie wird irrelevant vor der Tatasche, daß sich die beabsichtigte Wirkung trotzdem einstellt. Das gilt für Miltons lockere Verknüpfungen fast ausnahmslos. Der ganze Aufwand an exotischen, machtvollen und klingenden Namen führt hier auf eine Umkehrung hin. Er wird mit einer kurzen Handbewegung abgetan und von dem Folgenden weit überboten, da Adams bevorstehende Visionen "nobler sights" sind. Daß wir nicht recht entscheiden können, ob die Aufzählung vergleichsweise eingeführt oder unmittelbar auf Adam bezogen ist, ändert nichts an der Leistung des Passus für den Ablauf der Darstellung. D I E ZURÜSTUNG A D A M S

Die Häufung der Evokationen in dem Katalog bedeutet zunächst eine Stauung und Verlangsamung der Erzählung. Die Erwartung des Lesers auf das Kommende wird erhöht. Nach einem solchen Auftakt kann die Sache selbst nicht mehr abfallen. Andererseits weist die Entschiedenheit, mit der die Schau über die Reiche der Welt entwertet wird, dem Katalog die Funktion der Kontrastierung zu. Im Gegensatz zu diesem weiten Blick auf die Länder der Erde enthüllt die Schau der Menschengeschichte das wahre Gesicht der Welt, ist innere Schau, ist Belehrung über die Wege Gottes. In allem, in der Retardierung und Feierlichkeit, in der Kontrastwirkung, wie schon in der Hindeutung auf die Propheten und Christus und in der Verlegung der Szene auf den höchsten Gipfel des Paradieses, ist Miltons Absicht erkennbar, den Visionen den Charakter des Einmaligen, der göttlichen Prophetie zu geben. Es kommen also eine Fülle von kompositorischen Faktoren zusammen, um dem Beginn von Adams Visionen Eindrücklichkeit zu verleihen.

Buch X I : Thematik und Gesprächssituation

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Nachdem der Leser auf die Visionen eingestimmt ist, erfährt er, welcher Vorbereitungen Adam bedarf, um sie erkennen und ertragen zu können. Die Trübung seiner Augen, die der Genuß der verbotenen Frucht ihm ironischerweise gebracht hat, wird von Michael mit natürlichen (414) und wunderbaren (416) Mitteln entfernt; aber ihre Wirkung ist so stark, daß Adam ohnmächtig zu Boden sinkt; sanft richtet ihn der Engel wieder auf. Die deutlich erkennbare Anspielung auf die Propheten, aber auch auf Helden Homers und Vergils, die einer göttlichen Erscheinung gewürdigt werden, zielt wiederum auf die Hervorhebung des überwirklichen Charakters der Visionen18. Aber die kleine Szene enthält auch noch einen anderen Wink. Adams "menschliche" Schwäche legt es uns nahe, daß wir seine Visionen nicht nur als eine göttliche Prophetie, sondern zugleich auch als seine Erlebnisse verstehen sollen. Auch in Michaels Verhältnis zu Adam zeigen sich neue Züge der Teilnahme und des freundlichen Beistands (421/2), so daß wir auch auf das dialogische Verhältnis der beiden Partner hingewiesen werden, das zur Lebendigkeit der folgenden Darstellungen so viel beiträgt. B. DIE VISIONEN (XI, 423—901)

Die Thematik und die Gesprächssituation in Buch XI Den Visionen von XI liegt die Absicht zugrunde, Adam zu läutern. Wir haben eine An2ahl von Exempeln vor uns, deren Abfolge sich zwar an die Geschichten des Alten Testaments hält, in der jedoch keine geschichtliche Entwicklungslinie angestrebt wird. Die sie einrahmenden Gespräche weisen jeweils auf die in ihnen liegenden Kerngedanken und kristallisieren auf diese Weise den Lehrgehalt heraus, oder doch einen immer neuen Aspekt der Adam zuteil werdenden Unterweisung. So wird er zur Einsicht in seine eigene, aller menschlichen Sünde vorausgehende Schuld gebracht und für den Empfang der Verheißung vorbereitet. Das Thema aller drei Gruppen von Visionen ist die wachsende Sündhaftigkeit des Menschen. Sie steigt an, bis Gott darauf mit der großen Katastrophe der Sintflut anwortet. Es ist gesagt worden, daß sich die Visionen von den Sünden des Leibes zu denen der Seele fortbewegen19. Daß etwa ein Fortschreiten von der Darstellung einzelner Figuren zu der ganzer Ge18

19

In der Antike (Ilias V, 127f.; Aeneis, II, 604ff.) wird dem Helden ein Schleier von den Augen genommen; daher Tasso, Gerusahmme Liberata XVIII, 92 f.; die Aufrichtung des von seinem Gesicht überwältigten Propheten findet sich u. a. bei Dan 10, 10 und E^ek 2, 1—2. G.C. Taylor, "Did Milton read Robert Crofts''A Paradice within Us or theHappie Mind' ?" PQ, 28 (1949).

Interpretation des XI. und XII. Buches

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meinschaften stattfindet, läßt sich nur behaupten, wenn wir auf beide Schlußbücher als ein Ganzes schauen 20 . Aber im Rahmen der Visionen von X I drängt sich weder eine zunehmende Spiritualisierung noch die Frage nach Stamm und Völkern auf. In der Darstellung herrscht das Prinzip der Abwechslung und Gegensätzlichkeit, verbunden mit der Tendenz einer von Vision zu Vision fortschreitenden Erweiterung der Szenen. Die Visionen wären aber nicht fähig, das Anliegen des X I . Buches vorzutragen. Zu dem Anschaulichen der Visionen müssen ihre Aufnahme durch Adam als ein emotionales, und Michaels Erläuterungen als didaktisches Moment hinzutreten, damit ihre Tragweite verständlich wird. Daher findet sich ein steter Wechsel zwischen Schau, Reaktion und Kommentar überall konsequent, wenn auch in leichten Abwandlungen, durchgeführt. Rein äußerlich weist das Verhältnis des Umfangs von Visionen und Reden auf das Gewicht hin, das dem Gespräch zufällt. Die Visionen machen nur ein gutes Drittel von X I / 2 aus 21 . Der Impuls zu allen Reden Michaels geht stets von Adams Fragen, Irrtümern, Erschütterungen oder auch Einsichten aus, nie aber von den Visionen. Auch Adams Verhalten wird nicht etwa allein von den Visionen 22 , sondern auch von Michaels Worten ausgelöst 23 . Bis auf die erste werden Michaels Erläuterungsreden mit äußerst knappen Formeln eingeleitet, während vor Adams Äußerungen zum Geschauten jedesmal eine überleitende Zwischenbemerkung eingeschoben wird, die in erster Linie die Wirkung der Vision auf ihn charakterisiert. An diesen Stellen kommt der Dichter stets auf die epische Situation zurück. Innerhalb eines Redewechsels werden freilich auch Adams Worte nur formelhaft eingeleitet. Denn neben der Tendenz zur Lebendigkeit verfolgt Milton stets ein zweites Ziel, die möglichst große Sparsamkeit und Straffung der Darstellung. Damit erfüllt er gleichzeitig eine epische Gepflogenheit, zu direkten Reden nur mit kurzen und wenig variierten Worten überzuleiten. 1. Erste und ^weite Vision ( X I ,

423—555)

(Brudermord — Haus des Todes und Alterstod) DAS THEMA

Im Mittelpunkt der zwei ersten eng zusammengehörigen Visionen steht die Frage nach dem Tode. D a sie in I X und X eine so entscheidende 20 21

22 23

Vgl. Thompson, "For 'Paradise Lost' X I and X I I " , S. 380. Von insgesamt 479 Zeilen (423—901) entfallen etwa gleich viele auf die Visionen und auf Michaels Reden (je etwa 180 Zeilen), knapp 90 auf Adams Worte; die übrigen rund 30 Zeilen dienen den Situationsschilderungen und Übergängen. XI, 450ff., 495ff., 595ff., 674ff., 754ff, 868ff. XI, 461 ff, 526ff., 547ff., 628ff.

Buch X I : Erste und zweite Vision

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Rolle gespielt und zu so großer Verwirrung geführt hat, muß Adam darüber belehrt werden. Wir sind in der ersten Gruppe von Visionen dem versöhnlichen Schluß des XII. Buches noch sehr fern und noch ganz dem Fall, seinen unmittelbaren Folgen und deren Erklärung zugewandt. Zu den angekündeten "nobler sights" (411) stehen die ersten Visionen in einem besonders krassen Widerspruch, der nach Klärung oder Aufhebung verlangt. Die Verknüpfung mit Adam ist in dieser Gruppe, besonders in der Kainsszene, stärker als in späteren Visionen. Durch "Th' effects which thy original crime hath wrought" (424) wird auf den kausalen, durch "These two are Brethren, Adam, and to come / Out of thy loyns" (454/5) auf den genealogischen Zusammenhang mit ihm hingewiesen. Die besondere Art der Beziehung zu Adam liegt aber darin, daß nicht allein ein Exempel der Sünde, sondern das erste Bild des ihm unvorstellbaren Todes gegeben wird. In IX und X hat Adam den Tod in der Form der körperlichen und geistigen Hinfälligkeit an sich selbst erfahren; jetzt muß er ihn an seinem Sohn in einer dritten Form, dem leiblichen Tod, kennenlernen24. Seine erschreckte Frage "But have I now seen Death?" (462) führt zu einer Verlagerung des Akzentes von der Sünde Kains zu dem gewaltsamen Tod Abels und leitet damit zu den zwei folgenden Variationen des Todesthemas über. Das 'pageant' von den Krankheiten sowie die Schilderung der Altersmühsale erweitern das Thema insofern, als das leibliche Leiden und Sterben darin als eine Strafe hingestellt wird, die in dem ersten Fall durch neue Verschuldung verdient, im anderen einfach die Folge der mit dem Sündenfall eingetretenen Gebrechlichkeit ist. Vor der ungeahnten Macht des Todes schon im Leben droht Adam zu verzagen; da faßt Michael die in den drei ersten Visionen enthaltene Lehre abschließend zusammen: N o r l o v e thy Life, n o r hate; but what thou livst L i v e well, h o w long o r short permit t o Heav'n. (XI, 553/4)

Damit ist die Frage nach dem Tode eine Frage nach dem rechten Leben geworden, die die weiteren Visionen von XI bestimmt. A U F B A U UND DARSTELLUNGSWEISE DER KAINSSZENE His eyes he op'nd, and beheld a field, Part arable and tilth, whereon w e r e Sheaves N e w reapt, the other part sheep-walks and foulds; 24

Die vier A r t e n des Todes, die Milton in De Doctrina Christiana (Buch I, K a p 12) unterscheidet, sind: 1. die Hinfälligkeit des Leibes (Schuld- und Schamgefühl, Schwächung und Verunreinigung des Leibes), 2. die Hinfälligkeit des Geistes (Verdunklung der V e r n u n f t und des Willens), 3. der leibliche Tod, 4. die ewige V e r d a m m n i s ; St. M . , S. 999/2ff.

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Interpretation des XI. und XII. Buches Ith' midst an Altar as the Land-mark stood Rustic, of grassie sord; thither anon A sweatie Reaper from his Tillage brought First Fruits, the green Eare, and the yellow Sheaf, Uncull'd, as came to hand; a Shepherd next More meek came with the Firstlings of his Flock Choicest and best; then sacrificing, laid The Inwards and thir Fat, with Incense strew'd, On the cleft Wood, and all due Rites perform'd. His Offring soon propitious Fire from Heav'n Consum'd with nimble glance, and grateful steame; The others not, for his was not sincere; Whereat hee inlie rag'd, and as they talk'd, Smote him into the Midriff with a stone That beat out life; he fell, and deadly pale Groand out his Soul with gushing bloud effus'd. (XI, 429—47)

Das Aufbauschema ist in seinen Grund2ügen für alle, auch die vielgestaltigen Visionen, das gleiche, wenn es auch im einzelnen variiert wird. Darum sei es für die erste kurz skizziert. Auf einige Einleitungszeilen Michaels (423—28) folgt die eigentliche Szene (429—47) als eine Art lebendes Bild. Anschließend wird die Wirkung auf Adam an Hand seiner Ausrufe und Fragen gezeigt (448—52) und das Ganze durch Michaels Erläuterung abgeschlossen (453—60). Die Kainsgeschichte der Genesis (Gen 4, 3—16) wird bei Milton in einen landschaftlichen Rahmen gesetzt (41/2 Zeilen), in dem sich ein szenischer Vorgang abspielt; die beiden verschiedenen Brüder kommen herbei und bringen ihre Opfer dar (101/2 Zeilen). Der eigentlich dramatische Augenblick, auf den beides hinführt, wird in drei Zeilen gezwängt, die nichts als die bare Tatsache des Totschlags enthalten und gerade dadurch von einer packenden Dramatik sind. Die Konzentration der Kainsgeschichte ganz auf das Visuelle bringt — zusammen mit der Ökonomie der Szene, die auf einen einzigen in einer dramatischen Handlung gipfelnden Vorgang zwischen nur zwei Personen begrenzt ist •— eine großartige Straffung und Geschlossenheit zustande, die unter allen Visionen einzigartig ist. Die meisten Visionen gliedern sich in mehrere Szenenfolgen und beanspruchen deshalb mehr dramatis personae, einen längeren zeitlichen Ablauf und gelegentlich einen Ortswechsel. Dank des straffen Aufbaus bricht das Ungeheuerliche der ersten menschlichen Untat auf Adam jäh und übermächtig herein. Ein Vergleich mit der biblischen Vorlage zeigt uns, worauf es Milton bei der Kainsvision ankommt. Er rafft den aus mehreren Erzählstücken sich zusammensetzenden Bericht zu einer einzigen stummen Szene zusammen. Er verzichtet darauf, Gottes Warnung (Gen 4, 6/7) und sein Gespräch mit Kain wiederzugeben, obwohl er damit didaktisch und

Buch XI : Erste und zweite Vision

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visuell eine große Wirkung erreichen könnte. Aber auch in anderen Visionen läßt er die Reden Gottes, auf die das Alte Testament immer wieder großen Wert legt, fortfallen. Dieser Verzicht ist besonders auffallend etwa in der 5. Vision (Noah) und später im Geschichtsbericht über Abraham und Moses, wo die ausführlichere Darstellung eher eine Möglichkeit dafür bietet als die Kainsszene. Nirgends läßt Milton in den Schlußbüchern Gott direkt mit den Menschen reden. Obwohl Gott lenkend und handelnd stets gegenwärtig ist, wird er nicht als Sprechender eingeführt. Aber auch die Menschen läßt Milton nicht sprechen, weder in den Visionen noch in Michaels Bericht. Überall drängt Milton auf Kürze. In der Brudermordszene gilt ihm die dramatische Zuspitzung auf die böse Tat alles. Deshalb läßt er keine vorbereitende oder Nebenhandlung zu. Noch bemerkenswerter ist es, daß Milton den Zorn Kains in der Genesis überaus anschaulich dargestellt vorfand: "and Cain was very wroth, and his countenance feil" (Gen 4, 5). Die Mimik Kains hätte sich für das 'pageant' gut geeignet, aber auch hier läßt Milton das Detail der Genesis beiseite und bleibt auf die Tat und, wie sich zeigen wird, ihr Verständnis konzentriert. Zwar legt er den Vorgang der Opferhandlung verhältnismäßig breit an, aber es geschieht in der Absicht, das sorglich bereitete und wohlgefällige Opfer Abels von den wahllos zusammengerafften Opfergaben Kains deutlich zu unterscheiden, damit Gottes Wegwendung von Kain verständlich wird. Die Darstellung des Totschlags vollzieht sich dann mit großer Schnelle und Dramatik. Die innere Motivierung und die äußere Gelegenheit werden eben nur angedeutet (444), der Totschlag mit genauer Wiedergabe aller Einzelheiten, aber ohne jede ausmalende Zutat, dargestellt; Abels Zusammenbrechen wird mit einem bloßen "he feil" (446) wiedergegeben. Erst der beschreibende Schluß lädt breiter aus, um das Bild abzurunden. Die Darstellung der von Adam geschauten Vision verlangt die Umsetzung einer dramatischen Szene in ein chronologisches Erzählen. Milton hat der Geschlossenheit des rein bildlichen Eindrucks, wie wir sahen, Opfer gebracht. Er hat aber ein Übergreifen der epischen Erzählhaltung in das Schaubild nicht vermieden, denn er hält die Szene nicht frei von Kommentaren, die er selbst hineinspricht. Es überrascht uns nicht, daß später in Michaels Geschichtsberichten die Deutung immer schon mitenthalten ist; da aber dieser Zug der meist ethischen Kommentierung auch in fast allen Visionen wiederkehrt, soll er hier bei seinem ersten und auffallendsten Auftreten behandelt werden28. 25

Für die Kommentare innerhalb anderer Visionen in XI vgl. etwa 489: der Wärter der personifizierten Krankheiten im Haus des Todes wird "despair" genannt;

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Sehen wir den Text an: In "all due Rites perform'd" (440) ist das "due" nicht darstellbar; die Bemerkung "for his (sacrifice) was not s i n c e r e " (443) ist ein unmißverständlicher Wink von außerhalb des szenischen Vorgangs; auch das "hee i n l i e rag'd" (444) ist nicht mimisch oder szenisch umgesetzt26. Selbst "gratef ul steame" (442) enthält strenggenommen einen Kommentar. Wie gut Adam diese Winke versteht, zeigt sich darin, daß er von Abel sagt "who w e l l had sacrific'd" (451). Diese Stellen verstoßen merklich gegen den Charakter eines szenischen Bildes, aber sie weisen alle darauf hin, daß Milton auf die innere Motivierung Wert legt. Innerhalb eines Bildes, das Adam schaut, informiert der Dichter den Leser durch Beobachtungen noch über das von Adam Wahrgenommene hinaus. Die Wirkung ist nicht die einer Sprengung der bildlichen Geschlossenheit, sondern die einer völligen Einschmelzung der dramatischen in die epische Darstellung unter Wahrung des Rechtes des Dichters, das Verständnis des Lesers direkt anzusprechen und die inneren Bezüge durch unauffällige Erläuterungen aufzuzeigen. D A S HAUS DES TODES

Als Adam die Kainsszene vorüberziehen sieht, erschüttert ihn nicht die Untat Kains, sondern der ungerechte Tod des Frommen (450 ff.). Seine zweite Sorge ist, daß es überhaupt keinen anderen als den gewaltsamen Tod geben könnte (462/3). Die eigentliche Lehre des Exempels, den Mord als eine aus dem Sündenfall hervorgegangene Sünde hinzustellen (424—28), wird dadurch zunächst zurückgedrängt, und statt dessen wird das Thema des Todes an zwei weiteren Beispielen behandelt. Freilich bleibt in beiden auch die gedankliche Verbindung zum Sündenfall erhalten, so daß Adam am Schluß doch zur Erkenntnis von Gottes Gerechtigkeit kommt. Auf Adams Frage: "But have I now seen Death ?" (462) zählt Michael eine Reihe von unnatürlichen Todesarten auf (471—77);

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die Hochzeitsszene enthält einen Exkurs (566ff.); 577/8 macht eine generelle Aussage, während die Söhne Seths auf der Wanderung gezeigt werden: "all thir study bent / T o w o r s h i p G o d a r i g h t . . ."; in 591 fällt die attributive Ergänzung als ein nicht visuelles Element auf: "Hymen, then f i r s t . . . invok't". Die sehr lebhafte Kriegsszene hat diese Züge nicht, wenn wir nicht "cruel" (652) als nur mittelbar anschaulich betrachten. Die Sintflutvisionen zeigen eine so weitgehende Episierung der Darstellung, daß Milton sogar Vergleiche innerhalb der Visionen bringt: 724/5,743,843,846; nicht visuell ist dort auch das " p a c i f i c signe" (860), und " B e t o k ' n i n g p e a c e from G o d " (867); auch diese Winke versteht Adam (879 ff.). A n der gleichen Stelle könnte vom Rhythmus her ebensogut der biblische Text wörtlich stehen: "his countenance feil"; statt dessen greift der Dichter selber ein, um zu interpretieren.

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Buch I X : Erste und zweite Vision

die let2te, die auf Unmäßigkeit im Essen und Trinken zurückgeht, malt er durch die Schilderung des "Lazar-house" grimmig aus. Immediately a place Before his eyes appeard, sad, noysom, dark, A Lazar-house it seemd, wherein were laid Numbers of all diseas'd, all maladies Of gastly Spasm, or racking torture, qualmes Of heart-sick Agonie, all feavorous kinds, Convulsions, Epilepsies, fierce Catarrhs, Intestin Stone and Ulcer, Colic pangs, Daemoniac Phrenzie, moaping Melancholie A n d Moon struck madness, pining Atrophie, Marasmus, and wide wasting Pestilence, Dropsies, and Asthma's, and Joint-racking Rheums. Dire was the tossing, deep the groans, despair Tended the sick busiest f r o m Couch to Couch; A n d over them triumphant Death his Dart Shook, but delaid to strike, though oft invok't With vows, as thir chief good, and final hope. (XI, 477—93)

Milton beginnt damit, einen lärmenden dunklen Ort, der ganz im Gegensatz zu dem offenen Feld der Kainsszene steht, zu schildern; aber nun folgt keine Handlung, wie in der ersten Vision, sondern ein an Spensers Fairie Queene erinnernder allegorischer Aufzug von eigenartiger Prägung. Nicht etwa Kranke und Leidende, sondern personifizierte Krankheiten und Leiden werden in schrecklicher, langer Reihe aufgezählt. Schon im ersten Satz wendet er sich mit auffallender Entschiedenheit von dem Ansatz zu einer konkreten Schilderung (all diseas'd) ab und der Abstraktion zu (all maladies), denn als solche nimmt sich die Liste von Krankheiten aus 87 . Aber die Wirkung ist gar nicht die einer Liste von Abstrakta. Es werden vielmehr wirklich die Sinne angesprochen; schon der Klang der meist gelehrten Namen der gräßlichen Krankheiten hat für den Leser etwas Unheimliches und Abstoßendes, während Adam, aufs Schauen angewiesen, nur das widerliche Gedränge und die Mißgestaltigkeit der Wesen erkennen kann. Sie werden in dem dunklen Haus von dem geschäftigen Pfleger Verzweiflung gewartet, sie stöhnen, rufen den Tod jammernd herbei, der sie bedroht, ohne sie zu erlösen. Wir sehen, die umfangreiche Aufzählung wird übertönt, und der allegorisierte Vorgang wird wieder führend. Milton macht von zwei Mitteln Gebrauch, um eine möglichst intensive Wirkung auf möglichst engem Raum zu erzielen: von der häufenden Aufzählung und von der Allegorie. Aber in der Tradition der lehrhaftallegorischen Dichtung des Mittelalters und der Renaissance gehören 27

So R. M. Adams, Ikon: John Milton and the Modern Critics (Ithaca, 1955), S. 185. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Interpretation des XI. und XII. Buches

beide zusammen. Aufzüge von personifizierten Abstrakta der verschiedensten Art sind darin durchaus üblich. Für den besonderen Inhalt von Miltons Aufzählung sei nur an Thomas Sackvilles "Induction" im Mirror for Magistrates und an das III. Buch der Fairie Queene erinnert, wo die Übel der Welt in allegorischer Gestalt auftreten28. Du Bartas, dem Milton hier am unmittelbarsten nahesteht, dehnt ihren Aufzug über viele Zeilen aus und verfehlt eben dadurch die Wirkung, die Miltons Kürze erreicht, zumal er die Übel nicht in Verbindung mit Adam bringt, sondern sie einfach nach der Vertreibung auftreten läßt29. Milton selbst hat einen maskenähnlichen Aufzug "of all the evils of this life and world" in seinem vierten Dramenentwurf vorgesehen30. Diesem besonderen Thema der allegorischen Aufzählung liegen mittelalterliche Traktate über das Leid und Elend der Welt zugrunde, wo sich die Übel des Menschenlebens in langer Reihe nacheinander aufgeführt finden. Besonders beliebt und einflußreich war die Schrift Innozenz' III. De Miseria Conditionis Humanaezl. Aber sowohl in Maskenspielen wie in der lehrhaften epischen Literatur sind die reinen Aufzählungen längst allegorisiert worden, ehe sie Milton für seine Dichtung benützt. Für Milton wie auch für seine Zeitgenossen erweckte daher die "Liste" der Krankheiten eine weit lebendigere Vorstellung als für heutige Leser, da sie sich ihm durchaus dem allegorischen Rahmen des Pesthauses einfügte. Wir können natürlich nicht mit Sicherheit wissen, in welcher Absicht Milton in der zweiten Auflage des Paradise Lost die Zahl der dreizehn Krankheiten noch um sechs vermehrt hat (485—87). Aber gewiß hat er die gehäufte Aufzählung nicht als eine Sprengung seines allegorischen Bildes empfunden. In der Vorstellungswelt seiner Zeit wird mit dieser Erweiterung keine Kluft zwischen Aufzählung und Szene aufgerissen, da man an allegorische Personifikationen gewöhnt war. Indem er mit noch stärkerem Nachdruck auf das Elend des Menschenlebens zeigt, füllt er zugleich sein Pesthaus bis zum Bersten mit Gestalten, deren 28

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"Induction", Z. 218; Faerie Queene II, XII, IS. Verity gibt zu Z. 469—93 noch Faerie Queene II, VII, 21—25 an. J. Sylvesters Übersetzung von Du Bartas' La Sepmaine ou Creation du Monde (1578) enthält stellenweise beträchtliche Erweiterungen; vgl. Du Bartas his Divine Weekes and Workes (The Furies: The Third Part of the First Day of the Second Week,); vgl. Memorial Edition (London, 1621), S. 98ff. Die 156 Zeilen lange Aufzählung speziell der Krankheiten macht nur einen Teil davon aus. Vgl. J. H. Hanford, A Milton Handbook (New York, 1946), S. 185. Vgl. E. E. Kellett, Reconsiderations (Cambridge, 1928), S. 126. Andererseits glaubt Kellett im Pesthaus eine Erinnerung Miltons an das Stöhnen und Jammern der Bewohner des äußeren Inferno in der Divina Commedia zu erkennen; ebenda S. 137; doch ist diese Vermutung nur inhaltlich, nicht aber formal begründet. Todd weist noch auf verschiedene andere Beispiele solcher Aufzählungen hin.

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Buch X I : Erste und zweite Vision

Gehalt an Vorstellung und Bedeutung dem Leser jedenfalls verständlich war. Stellen wir die zwei ersten Visionen nebeneinander, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen: auf der Grundlage der biblischen Erzählung baut Milton in der ersten eine dramatische Szene auf, die er sehr konkret realisiert; hingegen geht die zweite auf eine Tradition moralisch-didaktischer Literatur des Mittelalters und der elisabethanischen Zeit zurück und erscheint in die Form der Allegorie gehüllt als ein 'pageant', das zwar nicht bewegungs-, aber handlungslos ist. Aber in der Kürze, dem Tempo, der Drastik halten beide einander die Waage. So ist auch die Wirkung auf Adam beide Male schockartig. Obwohl die erste Vision darauf ausgeht, die Folge von Adams "original crime" (424) zu illustrieren und die zweite zeigen will, "What miserie th'inabstinence of Eve / Shall bring on men" (476/7) 32, überhört Adam auch das zweite Mal die Frage der Schuld, weil er von neuen Sorgen gequält ist. Der Sinn des Lebens ist ihm fraglich geworden (502—07), und er nimmt Anstoß daran, daß das Ebenbild Gottes so durch Zerstörung entstellt werden soll (507—14). Aber diese Frage weist Michael mit großer Autorität zurück und rechtfertigt Gott (515—25). Als Adam seine vorwurfsvolle Frage zurücknimmt (526), stellt ihn Michael auf eine harte Probe. Er malt ihm nun aus, welcher Tod ihn am Ende eines maßvollen Lebens erwartet. Das ist aber ein so jammervolles Bild des hilflosen Greisenalters, daß Adam sich resigniert einem baldigen Tod übergeben möchte (547-—52). DER ALTERSTOD

Mit der Schilderung der Last des Alters wird die Reihe der Visionen unterbrochen, weil das Problem des Todes noch nicht genügend geklärt ist. Aber wenn sie auch der Form nach keine Vision ist, so hat sie doch einen stark bildhaften Charakter. Sie hat ihre Funktion im Zusammenhang mit den zwei Visionen und bedeutet thematisch eine Steigerung noch über sie hinaus, weil sie besagt, daß nach dem Sündenfall auch einem maßvollen und Gott wohlgefälligen Leben leidvoller Verfall droht. Daß die Urschuld in dieser Weise weiterwirkt, trifft Adam trotz Michaels Eingangsworten (424—28) mit unerwarteter Härte. 32

Die merkwürdige zweimalige Hervorhebung von Evas Schuld an der Unmäßigkeit im Essen und Trinken (476 u. 519) ist nicht als eine Entlastung Adams aufzufassen. Das macht Michael sehr deutlich (634—36), als Adam, vielleicht durch diese Bemerkungen irregeführt, die Schuld für die unheilvollen Folgen der Wollust auf Eva wälzen will (632/3). Immerhin läßt sich aus diesen Stellen entnehmen, daß Michael Evas Vergehen in ungezügelter Begehrlichkeit sieht; doch ist dies nicht als Miltons eigenes W o r t zu der heiklen Frage nach dem Motiv ihrer Übertretung anzusehen. 8*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Die Darstellung der Altershinfälligkeit mag uns Miltons eigene Erfahrungen ins Gedächtnis rufen, aber das hat mit ihrer Rolle im Paradise Lost nichts zu tun und erklärt sie uns nicht. Dennoch hat man gern auch aus dieser Stelle autobiographische Züge herausgelesen33. Aber der ganze Duktus und die Emphase sind mit dem Kontext innerlich so eng verbunden, daß die Stelle besser von daher erfaßt wird. Sie ist ihrer didaktischen Aufgabe entsprechend so allgemeingültig gehalten, daß sie einem Topos gleicht. In der Tat erinnert sie an ähnliche Stellen, z. B. bei Shakespeare34, aber nicht nur bei ihm. Ebensogut wie für die zweite Vision läßt sich eine literarische Tradition auch für die Altersdarstellung nachweisen. Wieder finden wir eine verwandte Stelle in Sackvilles "Induction" 36 , und wieder führen die Fäden zurück bis zu einer Schrift Innozenz' III. De Contemptu MundiM. Das Thema der "mutability" spielt in der Mirror- Literatur eine große Rolle 37 , aber auch noch in Burtons Anatomy of Melancholj wird in ähnlicher Weise die Klage über die Gebrechlichkeit des Lebens, insbesondere des Alters, erhoben 38 . Es kommt uns hier nicht auf einen Quellennachweis für unsere Stelle an, sondern darauf, sie mit einer literarischen Tradition in Verbindung zu bringen, um Miltons didaktische Absicht zu erkennen, anstatt autobiographische Züge zu einem Kriterium für sie zu machen. Michael knüpft ausdrücklich an die Lehre von der Mäßigkeit an 39 , die in der zweiten Vision enthalten ist. Nirgends im Verlauf der Visionen entfernt sich Milton so vollkommen vom klassischen40 und biblischen Boden wie in den zwei Amplifikationen des Todesthemas. Sie atmen den Geist christlich-allegorischer Dichtung, die bis in die Renaissance reicht, und stellen darum eine besondere Variation der Visionen in inhaltlicher und formaler Hinsicht dar. Beide stehen in der heimischen Tradition, vor allem der Mirror-Literatur und der Spensers, und gehören eng zusammen. 33 34 35 36

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Vgl. z. B. Verity. As You Like Ii, II, 7, 149ff.; Hamlet, II, 2, 196ff. "Induction", Z. 295ff. Vgl. D. C. Allen, "The Degeneration of Man and Renaissance Pessimism", SP, 35 (1938); dort wird eine Stelle dieser Art in Gascoignes Glass of Government als eine Ubersetzung aus Innozenz' Schrift nachgewiesen. Vgl. etwa auch The Mirror of the Periods of Man's Life, ed. F. J. Furnivall, EETS, OE 24 (1869), S. 73, Z. 481 ff. R. Burton, The Anatomy of Melancholy, ed. H. Jackson (Everyman, 1932) I, S. 210. "The rule of not too much" (531) ist die goldene Regel in Crofts' "health-book", das eine Anweisung zum glücklichen Leben enthält und andererseits Zuspruch durch geisdichen Rat erteilt; s. S. 107, Anm. 19. Todd zieht für die Personifikation der Übel Aeneis VI, 273 ff. heran, aber die äußere und die innere Situation sowie die poetische Absicht sind dort ganz anders gelagert.

Buch X I : Erste und zweite Vision

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D E R SZENISCHE CHARAKTER DES ERSTEN TEILS DER VISIONEN

Durch den Aufbau des ersten Teils der Visionen in drei Sätzen wird das Thema des Todes gesondert und auf eine eigene Weise behandelt. Bei großer Verschiedenheit der Darbietung, die sich vom ersten bis zum dritten Bild immer mehr dem epischen Bericht angleicht, sind sie durch das gemeinsame Thema verbunden, neben dem die Frage nach der Sünde durch die zunehmend didaktische Ausrichtung des Gespräches immer mehr zur Geltung kommt. Die Gnade Gottes bleibt hier noch vollkommen unerwähnt; zwar erklärt Michael, daß Kains Tat bestraft und Abels Glauben belohnt werden wird (457—60); aber damit weist er nur auf die göttliche Gerechtigkeit. Der Gedanke der Belohnung der Gerechten tritt am Ende des mittleren Teils der Visionen wieder auf (Henoch), aber er wird doch erst am Schluß des dritten Teils voll beleuchtet und mit der Verheißung verknüpft, in der auch schon die Gnade erkennbar wird. Diese in XI nur leicht angedeutete ansteigende Linie wird erst in XII in den Vordergrund gerückt. Die kompositorische Geschlossenheit der ersten Gruppe von Visionen kommt aber noch in einem anderen Sinn zur Wirkung. Nach der ersten sowie nach der zweiten Vision findet ein echtes Wechselgespräch statt, in dem jeder Partner zwei- bzw. dreimal das Wort ergreift. Adam ist hier immerzu beteiligt und angesprochen. Die Gestalt Adams, die Schwankungen seiner Empfindungen und Einsichten sind hier überall mit besonderer Sorgfalt und Feinheit gezeichnet, sei es in seinen Reden oder in den Bemerkungen des Dichters. So der kurze Ruf des Erschreckens "O Teacher, some great mischief hath befall'n / To that meek man . . ." (450/1) oder die Darstellung seiner Erschütterung nach dem Anblick des Hauses des Todes (495—99), ja noch sein Stillschweigen, nachdem Michael den Schlußstrich gezogen hat (555). Einmal regt Adam selbst eine Fortführung des Gespräches an (527), weil er durch eine ihn selbst betreffende Frage noch beunruhigt ist. So kommt es, daß Michael in seiner letzten Rede zu den zwei Visionen noch einExempel hinzufügt (Alterstod), das ganz unmittelbar und eindringlich an Adam persönlich gerichtet ist: "if t h o u wellobserve/Theruleof nottoo much . . ./Inwhat thou eatst and drinkst... / So maist thou live ... / But then t h o u must outlive / T h y youth . . . " (530ff.). Auch in der Sentenz am Schluß des ganzen ersten Teils ist die Hinwendung zu Adam deutlich: "Nor love thy Life, nor hate; but what thou livst/Live well" (553/4), während z. B. die auf die dritte Vision folgende Spruchweisheit ganz allgemein formuliert ist (From Mans effeminate slackness it begins, / . . . who should better hold his place / By wisdome . . . (634—36). Ein einfaches,

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Interpretation des X I . und XII. Buches

durchgehend gebrauchtes Mittel, die Beziehung zu Adam herzustellen, sind außerdem kleine Zwischensätze wie "as thou sawst"41. All diese Momente wirken so zusammen, daß die erste Gruppe der Visionen eine wirkliche kleine Gesprächsszene bildet. Das Hin und Her der Reden ist bewegter als bei allen späteren Visionen, auch gelangt die Gedankenführung zuletzt zu Klärung und Abschluß. In der zweiten Auflage des Paradise Lost gibt Milton der letzten Redepartie Adams durch einen geringfügigen Einschub eine neue, für den Gesprächsverlauf aufschlußreiche Wendung. Adam hat sein Leben eine Bürde genannt, die er nun schleppen müsse "tili my appointed day/ Of rendring up" (550/1); die Erweiterung lautet: "and patiently attend/ My dissolution" (551/2). Was ist hier geschehen? Nicht nur endet Adams Rede weniger abrupt, sie endet vor allem nicht mehr im Ton völliger Resignation. Mit "patiently" zeigt sich in Adam die Bereitschaft zu der Haltung an, auf die alle Unterweisung Michaels hinzielt42. Erst wenn Adam auf dieser Stufe angelangt ist, kann Michael das Gespräch kurz und endgültig mit einem Spruch abschließen, ohne in Adam ungelöste Fragen zu ersticken. Jetzt erst, in der erweiterten Fassung, ist die Szene befriedigend abgerundet. Daß die Gesprächssituation sich so stark durchsetzt, ist auch daran zu erkennen, daß das dritte Beispiel (Alterstod) zwar noch ein ganz anschauliches, aber kein geschautes Bild mehr ist; es ist ganz in die Rede Michaels aufgenommen. Selbst die Einleitungsworte zu den beiden Visionen sind noch von eigener Prägung und nicht stereotyp, wie es die folgenden aus einer anderen poetischen Absicht heraus sind43. Nur in 41

42

43

X I , 4 7 1 und ähnlich schon 466 (nach der 1. Vision); so auch noch 607 (nach der 3. Vision); 684, 700, 707 (nach der 4. Vision); 787, 8 1 9 (nach der 5. Vision). Noch zweimal kommt eine solche W e n d u n g in X I I v o r (XII, 6, 342). Der Begriff "patience" (oder "patient") kommt im Paradise Lost achtmal vor. Zweimal (II, 569, V I , 464) in verkehrter Auffassung bei den Teufeln angewendet, spielt er ganz besonders in X I eine Rolle (112, 287, 361, 551). Er spannt sich v o n der Invokation des IX. Buches (IX, 32) bis zu Michaels Schlußwort (XII, 583) wie ein Bogen über die letzten vier Bücher. A l s Oberbegriff bezieht er sich auf die eine Seite der Forderungen Gottes an die Menschen, ihr rechtes Verhältnis zum Leben, wogegen sich im Begriff "faith" das menschliche Verhältnis zu G o t t niederschlägt. Vgl. 4 2 3 — 2 9 oder 4 7 2 — 7 8 mit 555/6, 637/8 oder 711/2, 839/40; z. B. v o r dem Haus des Todes: Intemperance . . . . . ., which o n the Earth shal bring Diseases dire, of which a monstrous crew Before thee shall appear; that thou mayst k n o w W h a t miserie th' inabstinence of E v e Shall bring o n men. Immediately a place Before his eyes appeard, sad, noysom, dark (472—78)

Buch X I : Dritte und vierte Vision

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dieser Gruppe wird auch von einer inneren Bewegung Michaels gesprochen, dessen Reden sonst nie anders als nur mit den kürzesten Formeln eingeführt werden (To whom thus Michael, 466; answerd Michael, 515 u. ä.). Nach dem Brudermord heißt es aber: "T'whom Michael thus, hee also m o v ' d , repli'd" (453)44. Wir sind damit noch in der Nähe der freundlichen Geste, mit der der Engel Adam von seiner Betäubung aufgeholfen hat (421/2). Milton hat sich durch die Ausgestaltung der ersten Gruppe von Visionen als einer Gesprächsszene die Voraussetzungen für die weiteren Teile des Lehrgesprächs geschaffen. Es entspricht seiner dichterischen Ökonomie45, daß er am Anfang das Gespräch wirklich in einer Situation verankert und den Leser so darauf einstimmt, daß diese nur noch gelegentlich an bestimmten Höhepunkten wieder deutlicher in sein Bewußtsein gebracht zu werden braucht. Es ist zugleich der Unerfahrenheit Adams gemäß, daß anfänglich die Bilder selbst wesentlich kürzer sind als die späteren, und daß die Reden schneller wechseln. Auf der Grundlage dieses Anfangs kann Milton den Zusammenhang mit der Handlungsebene ungefährdet lockern und die Aufgliederung im ganzen großzügiger anlegen. Wo er auf die Gesprächssituation zurückgreift, kann er es mit immer neuen Mitteln tun und dadurch Abwechslung schaffen. 2. Dritte und vierte Vision (XI, 556—711) (Friedenszeit und Krieg) D A S THEMA DES MITTELTEILS DER VISIONEN

Nach der Gewalttat (Kain) und der Völlerei (Haus der Todes) wird in den nächsten beiden Visionen die Sünde in der Gestalt der Zügellosigkeit sinnlicher Leidenschaft und der Ruhm- und Machtgier vorgeführt. Die Visionsbilder sind ausführlicher als die ersten beiden und bilden mit v o r der Friedensszene: A n d now prepare thee for another sight. He lookd and saw a spacious Plaine (555/6) V o r der Kriegsszene: But n o w prepare thee for another Scene. He lookd and saw wide Territoris spred 44

45

(637/8)

Nur Michaels Schlußrede in X I I wird ihrer Stellung entsprechend etwas ausführlicher, aber wieder formelhaft und in der A r t einer epischen Wiederholung der W o r t e v o r Adams Schlußrede eingeleitet (vgl. XII, 552 mit 574). Zu Miltons poetischer Ökonomie vgl. z. B., wie er die großartige Darstellung Satans in I und II, die letztlich der Steigerung der Ironie dient, weil ja Satans Macht schon gerichtet ist, dazu benützt, die ganze Dichtung auf ein großes episches Maß auszurichten und auf den hohen Ton des "heroic poem" einzustimmen; oder wie er mit III/l die theologische Basis für das gesamte Werk schafft.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

ihren etwa gleich langen Gesprächspartien den breiten Mittelteil der Visionen. Die zwei Szenen sind als starke Kontraste zueinander komponiert und schließen sich nicht ganz so eng zu einer Einheit zusammen wie die erste Gruppe. Aber auch sie stehen unter einem gemeinsamen Thema: die Ausbreitung der Sündhaftigkeit unter den Menschen. Die Verderbtheit wird an zwei Extremen (Wollust und Ruhmsucht) aufgezeigt, um das Ausmaß zu kennzeichnen, in dem sie bereits um sich gegriffen hat. Zwei neue Motive treten jetzt auf, die ebenfalls auf die Vermehrung der Sünden in der wachsenden menschlichen Gemeinschaft hindeuten: den falschen Schein (Hochzeitsdarstellung) und das Mißverhältnis zwischen Tugend und Lohn in der Welt (Henoch) muß Adam kennenlernen. Daß etwas nicht so ist, wie es erscheint, und daß die Wahrheit verkannt wird, gehört zu den Folgen des mit Adams Sündenfall eingetretenen Verfalls der Menschen. Damit wird das geheime Thema der mittleren Visionen noch deutlicher: die Verkehrtheit der Welt. Ausschweifung und Ruhmgier sind zwar die in beiden Szenen sinnfällig gemachten Sünden; aber so wie die Szenen komponiert sind, soll dahinter, wie sich jedesmal am Schluß herausstellt, eine noch tiefere Schicht der zugrundeliegenden Verderbtheit aufgezeigt werden, eben die radikale Verkehrung der göttlichen Ordnung. Wie im ersten Teil der Visionen sind zwei gegensätzliche Laster miteinander kontrastiert, ja der Mittelteil spiegelt auch inhaltlich das gleiche Verhältnis noch einmal wieder, da wiederum Schwelgerei und Gewalttat anschaulich gemacht werden. Doch schreiten die 3. und 4. Vision über die ersten geschlossenen Bilder hinaus, denn in dem Maße wie sich die Sünden vermehren, treten auch ihre Komplexität und die Verkettung der einen mit der anderen zutage. Darum wird nun auch nicht mehr auf die Ursünde Adams und Evas verwiesen; wo die genealogischen Verbindungen noch gezogen werden, dienen sie der Absicht, zu zeigen, woher die Vermehrung und Ausbreitung der Sünden unter den Menschen kommt 46 . Zugleich wird immer deutlicher, daß jeder neuen Art der Sünde der Abfall von Gott voraufgeht. Darauf hat freilich schon die Brudermordszene insofern hingewiesen, als sie in Kains Gottlosigkeit den Grund zu seinem Neid und seiner Tat enthüllt hat (443/4). Hat sich das Geschlecht der Menschen erst einmal von Gott entfernt, so ist diese Tatsache hinreichend, um ein allgemeines Entgleiten aus Gottes Ordnung zu erklären. 46

Bei den Kainiten (608/9; Gen 4, 20—22), den Töchtern der Menschen ( 6 1 3 ; Gen 6,1/2) und den Riesen (683; Gen 6 , 4 ) ; die Bezeichnung Henochs als "the sev'nth f r o m three" (700) geht auf Jude 1 4 zurück. Die genealogischen Verhältnisse werden auch in XII, w o sie innerhalb der geschichtlichen Darstellung eher zu erwarten wären, nie in den Vordergrund gerückt.

Buch XI : Dritte und vierte Vision

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Die Verkehrtheit der Welt wird in Inkongruenzen sichtbar: die gottesfürchtigen Männer äugeln mit den aufgeputzten Frauen (585ff.); ein Kriegsrat entzweit sich trotz der großen Bedrängnis (663/4); der Mahner zum Guten wird mit Feindseligkeit verfolgt (668/9). Und was in den szenischen Bildern nicht offenbar wird, erklärt Michael: die friedlichen Zelte sind die "Hütten der Gottlosen" 47 , denn die tüchtigen Künstler und Handwerker sind selbstherrlich geworden und haben sich von Gott abgekehrt (609—12); die Schönheit ihrer buhlerischen Töchter ist äußerlich (614—20), die körperliche Stärke der Riesen kein Anzeichen von echter Größe, sondern von Entartung (686—88). So wird in den Visionen und ergänzend in den Reden Michaels ein Bild von der verderbten Welt entworfen, die äußerlich nicht ohne Glanz und Kraft, aber innerlich sündig ist. In der 3. Vision stellt sich die Sünde nur verdeckt dar, in der 4. dagegen tritt sie mit greller Deutlichkeit hervor. Demgemäß ist auch die Aufgabe von Michaels Kommentar jedesmal eine andere. Weder die Kainsszene noch das Haus des Todes bedurften einer inhaltlichen Erläuterung. Das wird mit den zwei neuen Visionen anders. Der schöne Schein der dritten und das Wunder der Entrückung Henochs, mit dem Gott in der vierten eingreift, sind für Adam nicht aus sich heraus verständlich. Nach der 3. Vision hat Michael den idyllischen Frieden und die fröhliche Ausgelassenheit der Szene zu entlarven und die Wahrheit aufzudecken. Darum weist er als erstes auf die Wertordnung Gottes hin, indem er Adam zwischen "all her (nature's) ends" (602), die ihm in der Hochzeit erfüllt schienen und dem "nobler end" (605), zu dem der Mensch erschaffen ist, zu unterscheiden lehrt. Der Hauptteil der Rede legt nun Zug um Zug den trügerischen Schein bloß (607—626) und schließt mit einer, freilich in einem Wortspiel versteckten Andeutung einer Strafe für alle Verkehrtheit (626/7). Wir haben also in Michaels Rede, eingespannt zwischen eine kurze didaktische Einleitung und den vorausdeutenden kurzen Schluß, einen durchgehenden Kommentar zu den Vorgängen in der 3. Vision. Die Kriegsszene zeigt das Böse unverhüllt, darum beschränkt sich Michaels anschließende Rede auf zwei Dinge: die Auslegung der Ursache von soviel Unheil und die Deutung des göttlichen Wunders. Im ersten Teil seiner Rede weist er die Verderbtheit der Welt am Beispiel der falschen Ruhmsucht der Menschen nach. Es ist im Verlauf des Gespräches die erste längere ausgesprochen lehrhafte Stelle: 47

So übersetzt Luther die Stelle des Psalters, aus dem Milton den Ausdruck hierher übernommen hat: Ps 84 10: "the tents of wickedness" ebenso hier Z. 607/8.

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Interpretation des XI. und XII. Buches For in those dayes Might onely shall be admir'd, And Valour and Heroic Vertu call'd; To overcome in Battel, and subdue Nations, and bring home spoils with infinite Man-slaughter, shall be held the highest pitch Of human Glorie, and for Glorie done Of triumph, to be styl'd great Conquerours, Patrons of Mankind, Gods, and Sons of Gods, Destroyers rightlier call'd and Plagues of men. Thus Fame shall be achiev'd, renown on Earth, And what most merits fame in silence hid. (XI, 689—99)

Aber Michaels Worte sind so sehr aus der Situation heraus gesprochen, daß man die Stelle nicht vorschnell isolieren sollte, denn man muß vor allem auch den Ton mithören, in dem der Erzengel mit Adam redet. Die leidenschaftlich bewegten Kriegsszenen haben in Michael ein ethisches Pathos wachgerufen, das seiner didaktischen Auslegung eine große innere Kraft und Lebendigkeit gibt. In mächtigen Bewegungen, schweren Worten und heftigen Antithesen wird das Doppelthema vom rechten und falschen Ruhm durchkomponiert, nachdem es in den ersten zwei Zeilen (689/90) klar und einfach formuliert worden ist. Die zwei Schlußzeilen (698/9) ziehen die Summe, wieder in der klassischen Kürze der beiden Anfangszeilen. Wer auf den Bau und Ton von Miltons lehrhaften Partien achten gelernt hat, wird dahinter immer wieder die Ergriffenheit und das Feuer erkennen, die auch die Mahnreden der Propheten kennzeichnen. Der zweite Teil von Michaels Rede (700—10) hat die Entrückung Henochs zu erklären. Die Henoch-Episode hat eine doppelte Bedeutung. Es gibt auch in der verderbten Welt immer noch einzelne Gerechte, und das ist die eine zuversichtlich stimmende Tatsache, mit der diese Vision über die bisherigen hinausgelangt. Die zweite ist, daß Gott die Guten nicht verläßt, sondern wunderbar errettet; bei Noah wird an seine Rettung sogar die Rettung der Menschheit geknüpft. Ebenso wie bereits im Totschlag Kains die Umkehrung der göttlichen Ordnung durch die Menschen offenkundig geworden ist, wird auch an jener Stelle schon darauf hingedeutet, daß Gott sich die Wiedereinsetzung seiner Ordnung vorbehält und Abel belohnen wird (457—59). Doch ist das dort mehr skizziert als ausgeführt. Es folgt dann eine ganze Reihe von Visionen, in denen sich ein Wirken Gottes nicht kundtut. Aber am Schluß des Mittelteils greift Gott selber ein, um den von der Menge verfolgten Gerechten zu retten. Ganz greifbar stellt Gott gegenüber den Menschen, die auch den Gedanken von Wert und Unwert verkehrt haben, seine Ordnung wieder her. Über den hier erreichten Punkt führt dann der Schluß des dritten Teils der Visionen hinaus, da zu der Rettung Noahs noch die Schließung

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eines neuen Bundes mit den Menschen tritt. So schreitet das Thema der Rechtfertigung Gottes von Vision zu Vision fort, von einer ersten Andeutung über die Henoch-Episode bis zur Erneuerung der Welt nach der Sintflut. Tatsächlich wird in den Erläuterungen zur Henoch-Episode auch schon ein später in Verbindung mit dem Erscheinen Christi vorkommender Begriff erstmals eingeführt: "Salvation" (708) 48 , und auch der Gedanke, daß Henoch "Exempt from Death" ist (709), hat vorausdeutenden Charakter. Dazu kommt die prächtige, an den Aufstieg der Seligen im Limbus-Passus erinnernde Schilderung der Entrückung Henochs in ihrer ganzen Erhabenheit: "Rapt in a balmie Cloud with winged Steeds" (706). Das ist gegenüber den ersten düsteren Bildern etwas ganz Neues, auch noch eine Steigerung gegenüber der kargen Andeutung des Vorgangs selbst in der Vision (670/1). Aber es ist doch nur ein Vorblick, denn mit dem Begriff des göttlichen Lohns stellt sich sofort auch der der Strafe ein (709/10), an den die zwei abschließenden Visionen anknüpfen. So nehmen die 3. und 4. Vision thematisch wirklich eine Mittelstellung zwischen Anfang und Ende der Visionsfolge ein. CHARAKTERISIERUNG DER 3 . UND 4 . VISION

Da das Gesamtthema der Visionen, wie wir sahen, in den mittleren Visionen nicht allein variiert, sondern zugleich vorangetrieben wird, greift Milton jetzt auch zu Darstellungsmitteln, die dieser Tatsache angemessen sind. Michael bereitet Adam auf Absicht oder Inhalt der mittleren Visionen nicht vor, was damit zusammenhängt, daß sie beide auf einen Effekt hin angelegt sind. Das Bestechende der ganzen 3. Vision soll ebensowenig wie das Unerklärliche am Schluß der 4. durch eine Vorwegnahme um seine Wirkung gebracht werden. Wir haben es jetzt mit komplexen Visionen zu tun. Die bewegten und mehrteiligen Bilder verlangen nach einer gewissen Ordnung. Die aus verschiedenen Schaubildern zu einer bildhaften und gedanklichen Einheit verbundene Vision ist der Beitrag, den der Mittelteil für ihre Auf48

Für die Geschichte Henochs v g l . Gm 5, 2 4 ; v o n daher Hebr 1 1 , 5 ; vgl. auch Sirach 49, 16. "Salvation" w i r d im Paradise Lost nur noch X I I , 4 4 1 , 4 4 8 gebraucht. — " T o judge them with his Saints" (705) geht auf Jude 1 4 zurück; "saints" (zwölfmal im Paradise Lost) gebraucht Milton fast nur f ü r die Engel, w i e hier; die drei Ausnahmen meinen mit "saints" die Heiligen des A l t e n Bundes (III, 4 6 1 ; I V , 7 6 2 ; X I I , 200), und einmal heißt es "Saint Peter" (III, 484). Für die christliche Zeit meidet Milton sonst die Bezeichnung durchgehend im Paradise Lost und Paradise Rtgained; in Samson Agonistes, 1 2 8 8 w i r d es wie im Paradise Lost III, 461 gebraucht; in den kleineren Gedichten steht es f ü r selige Verstorbene, z. B. Sonett 23, 1 (Methought I saw my late espoused Saint).

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Interpretation des XI. und XII. Buches

bauformen liefert. In beiden Visionen werden je vier Einzelszenen mit Geschick so gruppiert, daß anfangs an die Stelle eines zeitlichen Nacheinanders der Eindruck eines zeitlichen Nebeneinanders tritt. Die Gliederung in verschiedene Bilder ergibt sich nicht aus dem Zeitablauf, sondern aus dem von Schauplatz zu Schauplatz wandernden Blick Adams und des Engels, und es entsteht auf diese Weise die Vorstellung einer räumlichen Weite. Aus den einzelnen Vorgängen kristallisiert sich zuletzt eine Handlungsszene heraus. Beide Visionen führen auf einen dramatischen Höhepunkt zu, in dem sich das Gesamtbild vollendet und seinen Sinn in dichtester Form anschaubar macht. Die dritte Vision führt zunächst die Örtlichkeit vor und entwirft darin ein Zustandsbild. Die Ebene mit den Zelten stellt die Menschheit auf einer schon entwickelten, aber noch einfachen Stufe dar: Hirten, Musiker und Schmiede werden in ihrem Tun beobachtet (556—73). Zu diesen stoßen von den Berghöhen die gelehrten frommen Männer (573—81), und alsbald kommen aus den Zelten schöne Frauen tanzend und singend heraus (581/84). So entwickeln sich aus dem Zustandsbild Vorgänge, die aber noch keinen Handlungscharakter haben. Das Auftreten neuer Gestalten wird zwar mit "after these" (573) und "they.../ Long had not walkt', when . . . " (580/1) angegeben, aber der Zeitablauf wird erst relevant, wenn sich in der vierten Teilszene die Vorgänge zur Handlung verdichten (Zeitangabe durch "And now ... then ...", 588/9). The Men though grave, ey'd them, and let thir eyes Rove without rein, till in the amorous Net Fast caught, they lik'd, and each his liking chose; And now of love they treat till th' Eevning Star Loves Harbinger appeerd; then all in heat They light the Nuptial Torch, and bid invoke Hymen, then first to marriage Rites invok't; With Feast and Musick all the Tents resound. (XI, 585—92)

Die fremden Männer lassen sich mit den Töchtern der Menschen ein, und aus dem leichten Liebesspiel des Abends wird eine festliche Hochzeitsnacht. In dem gleichen Augenblick springt die Darstellung vom Imperfekt auf das Präsens über (588). In den vorangehenden, kurzen Visionen hat Milton von diesem Mittel, eine gesteigerte Vergegenwärtigung zu erreichen, noch keinen Gebrauch gemacht. Doch findet es sich in der 4.Vision an genau entsprechender Stelle wieder, nämlich beim Auftreten Henochs. Freilich ist es dort ein Ubergang vom Präsens zum Imperfekt, also umgekehrt wie hier, so daß wir nur in der Tatsache eines Tempuswechsels als solchem, aber nicht in dem Gebrauch des Präsens ein Charakteristikum der Höhepunkte in den mittleren Visionen festhalten können. Für die 6. Vision liegt die Frage des Tempusge-

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brauchs ganz ähnlich, wogegen die längste von allen, die 5. Vision, ganz im Imperfekt steht. He lookd and saw wide Territorie spred Before him, Towns, and rural works between, Cities of Men with lofty Gates and Towrs, Concours in Arms, fierce Faces threatning Warr, Giants of mightie Bone, and bould emprise; Part wield thir Arms, part courb the foaming Steed, Single or in Array of Battel rang'd Both Horse and Foot, nor idely mustring stood; One way a Band select from forage drives A herd of Beeves. (XI, 638—47)

Auch in der 4. Vision baut Milton ein typenhaftes Bild des allgemeinen Verfalls unter einem besonderen Aspekt aus einer Reihe von Einzelbildern auf. Sie sind diesmal voll bewegtesten Geschehens, aber wieder nicht durch eine zeitliche Abfolge untereinander verbunden. Die Teile sind klar gegeneinander abgegrenzt, so daß sich der Aufbau leicht an den Übergangswendungen ablesen läßt: 'One way a Band . . . " (646), "Others to a Citie strong . . (655), "In other p a r t . . . " (660). Auf den ersten Blick ist die gesamte Situation zu überschauen: Städte mit Tor und Turm zeigen eine höhere Kulturstufe an; aber auf diese kommt es nicht an. Beherrschend ist der Zustand der Unruhe, den der drohende Krieg hervorruft. Schnell ziehen die einzelnen Schaubilder vorüber: nach dem Getümmel der Waffenübungen (641—45) die unter den Herden Beute machenden Trupps (646—55), die belagerte Stadt (655—59). Ein bei allem Schrecklichen großartiges, buntes Gesamtbild schließt sich aus den Teilen zusammen. Wie in der 3. Vision entfaltet sich die einzige Szene, die einen Zeitverlauf kennt und zugleich den Höhepunkt enthält, erst im vierten Teil. Ein Kriegsrat wird zusammengerufen, Greise und Krieger strömen herbei, entzweien sich, und als sich ein weiser Mann erhebt, wollen sie über ihn herfallen; da entführt ihn eine Wolke ihren Zugriffen. Die Entrückung des Gottesstreiters in der Wolke ist nur ein ganz kurz belichteter Augenblick; aber darin liegt das große und entscheidende Gegengewicht gegen das überall tobende Kriegstreiben. Die Unbetontheit, ja Unscheinbarkeit der Aussage, die in auffälligem Gegensatz zu den vorangegangenen lebhaften Schilderungen steht, unterstreicht das Überraschende, Unbegreifliche des Ereignisses besonders wirksam. Adam erkennt wohl die rettende Hand Gottes, aber die Bedeutung des Wunders muß ihm Michael auslegen.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Z U R DARSTELLUNGSWEISE DER 3 . V I S I O N : D I E IRONIE

Wenn die Idylle von den Hirten, Musikanten, Handwerkern und weisen Männern an uns vorüberzieht, scheint das Glück der friedlichen Zeit vollkommen. Aber langsam steigt im Leser ein Verdacht auf, wenn die Frauen "richly gay/ In Gems and wanton dress" (582/3) geschildert und ihre Lieder "Soft amorous Ditties" (584) genannt werden 49 . Die Hinweise werden unmißverständlich, als es heißt "The men, thoügh grave, ey'd them, and let thir eyes/Rove without rein" (585/6) und später "then all in heat/They light the Nuptial Torch" (589/90), so daß der Leser schließlich sehr wohl den Unterton der Ironie in den Worten heraushört, mit denen anschließend die Wirkung auf Adam beschrieben wird: Such happy interview and fair event Of love & youth not lost, Songs, Garlands, Flours, A n d charming Symphonies attach'd the heart Of Adam, soon enclin'd to admit delight, The bent of Nature. (XI, 593—97).

Wort und Sinn klaffen auseinander. Es ist eben k e i n Glück, k e i n e wohlgefällige Begebenheit, und in diesem Zusammenhang drängt sich die Bedeutung von "charming" als "verführerisch", "bezaubernd" auf, den dieser Begriff gelegentlich in Paradise Lost hat 60 . Die Hochzeit ist für den Leser als das sichtbare Symbol der Zügellosigkeit und des falschen Scheins erkennbar, wogegen sie Adam als der Gipfel menschlichen Glücks erscheinen muß. Die Hinhaltung erst des Lesers und dann noch immer Adams ist ein wirksames Spannungsmittel, das zu der Ironie hinzutritt. Der wahre Sachverhalt teilt sich dem Leser in schrittweiser Enthüllung durch sprachliche Mittel mit, aber es bleibt noch die Erwartung, wann sich der Schleier vor Adams Augen lüftet. Das ironische Mißverhältnis von Aussage und Bedeutung steigert sich in dem Ausruf des vom schönen Schein geblendeten Adam (True opener of mine eyes, prime Angel blest, 598)51 und in seiner Annahme, daß diese letzte Schau besser und hoffnungsvoller sei als die vorigen. Die Ironie eignet sich 49

50

61

Der Ausdruck "amorous ditties" findet sich noch einmal, ebenfalls in pejorativer Bedeutung, im Paradise Lost, dort, w o die syrischen Mädchen um Thamuz klagen (I, 449). D o r t treffen wir auch auf die Begriffe "heat", "wanton", "passion", die wir an unserer Stelle ebenfalls finden ("passion" freilich nur dem Sinn nach). Die spezielle Form "charming" hat zwar überall positive Bedeutung (III, 3 6 8 ; V , 6 2 6 ; VIII, 2), aber "charm" (Subst. oder Verb) wird häufig im Sinn v o n trügerischem Zauber gebraucht, z. B. II, 5 6 6 ; XI, 1 3 2 ; besonders v o n weiblichem Reiz ausgesagt: VIII, 5 3 3 ; I X , 999. Vgl. XII, 2 7 1 : "Enlightner of my darkness . . ."; der Situation entsprechend ist an dieser Stelle der Ton echt. Adam hat den Abrahamssegen begriffen und kommt zur Einsicht in seine eigene Schuld.

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besonders gut zur Darstellung des falschen Scheins, weil sie mit dem Doppelsinn der Dinge und Worte spielt. Wo sie zuerst auftritt (593—95), ist sie überhaupt nur erkennbar, weil der Leser unter der Beschreibung der Frauen und der hochzeitlichen Festlichkeiten hellhörig geworden ist. Für Adam, der ganz dem Zauber des Bildes hingegeben ist, kommt die Belehrung wie ein schwerer Gegenschlag. Weil Adam sich hat blenden lassen, ist Michaels Zurechtweisung besonders leidenschaftlich. Seine Heftigkeit findet ihren sprachlichen Niederschlag in Worthäufungen, sowohl im positiven Sinn: "Holie and pure, conformitie divine" (606) wie besonders im negativen: "so blithe, so smooth, so gay" (615), "to sing, to dance,/ To dress, and troule the Tongue, and roule the Eye" (619/20). Die Rede gipfelt in einem doppelten Wortspiel voll ironischer Vorausdeutung : and (they) n o w swim in joy, (Erelong to swim at large) and laugh; for which The world erelong a world of tears must weepe.

(XI, 625—27).

Für unseren Geschmack ist das Wortspiel im Mund des Erzengels eine gewisse Zumutung, aber es ist begreiflich aus der Absicht Miltons: Michaels Eifer, Adam aus seiner Täuschung zu reißen, soll dadurch betont werden, daß die Ironie der ganzen Stelle auf ein Äußerstes getrieben wird. DER EXKURS IN DER 3 . VISION ( 5 6 6 — 7 0 )

Das Zustandsbild am Anfang der 3. Vision zeigt die Beschäftigungen der Hirten, Musiker und Schmiede. Bei den Hirten hält sich Miltons Darstellung gar nicht auf. Um einige Zelte weidet Vieh, mehr wird nicht gesagt. Aus anderen dringt Musik, und die Kunst des Spieles spiegelt sich in den schönen Versen : his volant touch Instinct through all proportions low and high Fled and pursu'd transverse the resonant fugue.

(XI, 561—63)

Zuerst ist der Rhythmus getragen, dann gerät er durch Taktumstellung (Fled and pursu'd) und Elision (resonant) in Bewegung. Der Klang der Vokale und der Konsonanten ist abwechslungsreich, in der letzten Zeile fallen "pursu'd" und "fugue" auf. Keine einzige Pause hält die fließende Bewegung auf. So ist dieses Stück gegenüber dem ersten nicht nur wesentlich länger (sechs Zeilen gegenüber anderthalb), sondern bedeutsamer, gewichtiger. Am längsten wird beim Schmied verweilt (zehn Zeilen). Es ist ein immer wiederkehrender Zug im Paradise Lost, daß in einer Reihe einem kurzen Glied ein längeres und diesem ein noch längeres Glied folgt. Hier geschieht es aber in einer besonders

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Interpretation des XI. und XII. Buches

auffallenden Weise. Es ist gar nicht nur vom Schmied die Rede, sondern die Herkunft der Metalle aus den Bergen oder Flüssen wird eingehend erörtert. Die viereinhalb Zeilen sind durch eine Klammer ausdrücklich als ein Exkurs gekennzeichnet. Das Merkwürdige ist, daß Milton ihn inmitten einer von Adam geschauten Vision einfügt; doch haben wir bereits darauf hingewiesen, daß die Visionen gelegentlich epische Elemente enthalten. Könnte man bei der Hervorhebung des musikalischen Spiels noch auf eine Vorliebe Miltons schließen, die sich in der kunstvollen Nachbildung der Musik durch die Wortkunst zweifellos zeigt, so erklärt sich der Exkurs nicht so einfach aus Miltons speziellem Interesse für Metallgewinnung. Angesichts der zahlreichen anderen Stellen, die das gleiche Phänomen der Anschwellung zeigen, wird man wohl kaum aus der Steigerung Hirte-Musikant-Schmied auf persönliche Neigungen und Interessen Miltons schließen dürfen. Es handelt sich vielmehr um ein stilistisches Merkmal, das sich im Paradise Lost sehr häufig findet. Die Visionen selbst sind ein Beispiel für das Prinzip der Ausweitung, da sie von kleinen zu immer größeren Formen fortschreiten. Auch in den großen Exordien zu I, III, VII, IX verfährt Milton in dieser Weise, und innerhalb der größeren epischen Gleichnisse läßt sich die gleiche Tendenz beobachten62. Darum vermag uns auch Todds Notiz, daß der Exkurs mit einer Stelle bei Lukrez53 verwandt sei, sein Auftreten hier nicht zu erklären. ZUR DARSTELLUNGSWEISE DER 4 . VISION: VERGLEICH MIT DEM SCHILD DES ACHILLLEUS

In dem Gegenbild des Krieges, das der 3. Vision äußerlich so unähnlich und innerlich so verwandt ist, fehlen die Elemente der Ironie und der Spannung, weil der Gegenstand keinen Anlaß dafür bietet. Aber von einem anderen Blickpunkt aus können wir an ihr die Darstellungsweise betrachten, die zugleich auch für weitere Visionen aufschlußreich ist. Milton hat in VI eine Schlachtschilderung gegeben, in der er alle furchtbare Großartigkeit des Kampfes in übermenschliche Verhältnisse übertragen hat: die Himmelsschlacht. Gegen diese nimmt sich die Darstellung des Krieges in der 4. Vision, die streng im menschlichen Bereich bleibt, wie ein Kleinbild im Verhältnis zu einem Monumentalgemälde 52

63

Allein in Buch I finden sich folgende Beispiele der Ausweitung: I, 197ff., 364ff., 551fr., 5 % f f . , 740ff., 780ff. D. R. Roberts, "The Music of Milton", PQ, 26 (1947), S. 337, spricht von "continuity of movement" und vergleicht das Verfahren mit der zeitgenössischen Musik. De Rerum Natura, V , 1239 ff.

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Buch XI: Dritte und vierte Vision

aus. Aber die Vergleichung liegt gar nicht in Miltons Sinn, und die zwei Szenen sind durch ihre jeweilige Stellung im Epos, ihre verschiedene Einkleidung in Episode und Vision, vor allem aber durch die letztliche Unvergleichlichkeit von Himmlischem und Irdischem, getrennt. Die Visionen haben im ganzen in der Darstellungsweise eher eine formale Verwandtschaft mit Miltons epischen Vergleichen. So läßt sich etwa die Brudermord-Vision als ein einfaches Gleichnis, die Kriegsvision als eine Gleichnisreihe auffassen. Dabei zeigt sich sogar in der Intention von Gleichnis und Vision eine weitgehende Ähnlichkeit: In beiden vollzieht Milton die Ausweitung eines Augenblicks ins Zeitlose, eines Zustands ins Universelle. Beiden sind die scharfen Einzelbeobachtungen und die Komprimierung von immer wieder so oder doch ähnlich verlaufenden Geschehnissen in einem einzigen prägnanten und festumgrenzten Bild gemeinsam. Für beide hat Milton bei Homer vielfache Anregung gefunden 64 . Viele seiner Gleichnisse tragen homerische Züge, und die berühmte Schilderung von Achills Schild im 18. Gesang der Ilias hat auf einige der Visionen eingewirkt. Besonders die Darstellung der friedlichen und der Kriegszeit verraten Miltons Bewunderung für die Beschreibung von Achills Schild. Newton hat in seiner Ausgabe des Paradise Lost alle Vergleichsstellen herbeigezogen, aber dazu nur ganz allgemein gesagt, daß Miltons Nachbildungen Homer ebenbürtig oder überlegen seien. Tillyard hat einen Vergleich durchgeführt und gezeigt, daß Milton nicht allein für seine Darstellungsweise in den Visionen, sondern auch für seine Absichten, die Bühne des Paradise Lost zu einem umfassenden Schauspiel des Menschenlebens zu erweitern, in Homers Schilderung sein Vorbild fand 85 . Wir können Vergils Schilderung vom Schild des Aeneas 86 zunächst außer Betracht lassen, da Milton sich in der Anlage der Visionsszenen viel weiter davon entfernt als von Homer. Vergil will damit auf bestimmte Krisenzeiten im Verlauf einer bestimmten Geschichte vorausdeuten, gibt historische Ereignisse und historische Namen — kurz, seine Darstellung ist spezifisch, die von Milton und Homer aber allgemein. Hinsichtlich der Bedeutung der Schildbeschreibung Vergils und der Visionen, die beide eine Zukunftsschau geben, zeigt sich freilich eine größere Nähe Miltons zu Vergil. Die Tatsache, daß er die Visionen in 61

66

Der Untersuchung von R. Hampe, Die Gleichnisse Homers und die Bildkunst seiner Zeit (Tübingen, 1952) verdanken die obigen Bemerkungen zu Miltons Bildern wichtige Anregungen. Ilias XVHI, 478—607. Vgl. auch E. M. W. Tillyard, "Milton and the Classics",

Essays by Diverse Hands, NS 26 (London, 1953).

56

Aeneis VIII, 625—728; vgl. W. Schadewaldt, "Der Schild des Achilleus", Von

Homers Welt und Werk (Stuttgart, 21951), S. 352 ff. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

9

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Interpretation des XI. und XII. Buches

die Handlung selbst einbaut und ihnen darin eine bestimmte Funktion gibt, unterscheidet Milton dagegen von beiden antiken Epikern. Wenn Homer den ersten Teil seiner Beschreibung in das Bild einer friedlichen Stadt (Hochzeit und Gerichtsstreit) und in das einer kämpfenden Stadt gliedert, so will et auf die zwei Zustände als Grundgegebenheiten des Menschenlebens hinweisen. Das ist offenbar auch die Anregung, die Milton daraus für seine 3. und 4. Vision entnommen hat. Aber Homer wendet sich nach dem ersten Doppelbild ganz den friedlichen menschlichen Tätigkeiten zu: dem Pflüger, dem Schnitter, der Weinlese und dem Hirtenleben. Im festlichen Tanz feiern die Menschen schließlich ihre ganz ursprüngliche Daseinsfreude. Von Opfern ist nicht die Rede; dennoch ist die Götterwelt gegenwärtig. Die Götter ziehen neben den Menschen in die Schlacht. Es ist eine noch ungeteilte Welt, die vom Firmament überspannt und vom Okeanos symbolisch umschlossen wird. Das ganze All ist in ein Kunstwerk, in den von Hephaist geschmiedeten Schild, eingegangen; es ruht in sich. Homers Freude an der Fülle des menschlichen Daseins liegt über seiner Schildbeschreibung. Er breitet seine Darstellung in mehreren kleinen Erzählungen aus. Überall herrschen Geschäftigkeit und gewohntes Geschehen, überall ist der Mensch die Mitte des Bildes: so treten die Weiber vor die Türen, um die vorbeiziehenden Bräute bewundernd zu betrachten; ein Mann steht am Ende der Furchen und reicht den Pflügern jedesmal einen Trunk. Milton kehrt die Vorzeichen um. Hat noch die Schlacht um die Stadt bei Homer etwas Menschliches, das nicht tadelnswert erscheint, so deckt Milton schon in seiner Friedensszene das Böse auf. Miltons Visionen stehen unter dem Zeichen des Sündenfalls und müssen darum bei manchen Übereinstimmungen mit Homer anders geartet sein. Sie legen nicht, wie Homers Schild, einfach vom Dasein Zeugnis ab, sondern sie decken seine Hintergründe auf. Homer stellt die Welt schlechthin dar. Milton will Anschauungsbilder für eine bestimmte Sicht der Welt geben. Sie sind zur Ausdeutung bestimmt, die dann auch durch den Erzengel erfolgt, während für die Rolle eines Michael bei Homer kein Raum ist. So stellen Miltons sechs Visionen auch nicht, wie der Schild des Achill, ein geschlossenes dichterisches Gebilde dar, sondern sind in einzelne unter sich sehr verschiedene Stücke aufgeteilt und in die Handlung eingewoben. Dazu kommt, daß sie ja biblisches Stoff- und Gedankengut mit hineinnehmen, wodurch sich auch ihre Universalität von der des Achilles-Schildes unterscheidet; es ist die Universalität eines christlichen Menschen- und Geschichtsbildes. Die Visionen weiten zwar, wie Achills Schild bei Homer, Raum und Zeit, aber sie tun etwas noch Entscheidenderes : sie illustrieren einen Gedanken, und sie illustrieren ihn für Adam,

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Buch XI : Dritte und vierte Vision

dessen Läuterung und Tröstung durch sie bewirkt werden soll. Schon dadurch, daß die Visionsbilder des Paradise Lost eine chronologische Abfolge haben, rücken sie Vergils Schilddarstellung näher als Homers, aber das eigentlich Verbindende zwischen ihnen und dem Schild des Aeneas ist die von beiden Dichtern intendierte Bedeutsamkeit für den Sinngehalt des Epos. Trotz aller Einschränkungen läßt sich aber das Einzelbild Homers undMiltons vergleichen. Ganz dicht ist Homer am lebendigen Leben mit seiner Schilderung der Hochzeit (XVIII,490—96): der Jubel der tanzenden Jünglinge, die Stille, mit der die Bräute beim Fackelschein durch die Stadt ziehen, die beobachtenden und billigenden Blicke der Weiber. Wie dagegen Milton die Kleidung der aus den Zelten tretenden "Töchter der Menschen" nicht nur genau, sondern bedeutungsvoll schildert mit "richly gay/ In Gems and wanton dress" (582/3), wie die Glut ihrer Liebe getadelt, das Fest ironisch als ein "fair event" (593) bezeichnet wird, ist bereits ausgeführt worden 67 . Homers Bild ist unmittelbarer und vollständiger; Miltons Bild ist auf ein Ziel hin komponiert. Darum ist es schneller im Verlauf und, ohne an Genauigkeit zu verlieren, knapper. Aber vor allem: es enthält ein Werturteil. Oder vergleichen wir den Überfall auf die Herden bei Homer und bei Milton. Objektiv und gelassen ist die Erzählung von der sorgfältigen Vorbereitung des Hinterhalts bei Homer: die Wahl des Ortes, die aufgestellten Wächter, die schönen Herden, aber auch der Überfall selbst und der Tod der Hirten werden berichtet; "und erschlug die begleitenden Hirten", heißt es einfach (XVIII, 520—29). Auch Miltons Darstellung der schönen Herden verrät noch die Freude an den kräftigen Geschöpfen und den fetten Weiden; lebhaft wird ausgemalt, wie die Hirten, halbtot, fliehen und um Hilfe rufen. Das ist alles, wie schon in der Hochzeitsschilderung, drastischer als bei Homer; aber damit wird nur um so sinnfälliger das Urteil vorbereitet, das mit gleicher Leidenschaftlichkeit zum Ausdruck kommt. Grausam heißt der Kampf, und die Schilderung des von Leichen und Waffen überhäuften, blutgetränkten Feldes ist affektvoll, sentimental, moralisch wertend. Auch das Riesenhafte (gigantic deeds, 659) hat bei Milton fast immer einen abwertenden Sinn 58 . Nicht durch den Grad von Konzentration oder Anschaulichkeit, und nicht durch eine geringere dichterische Stärke unterscheiden sich Miltons Bilder von denen Homers, sondern in der inneren Einstellung des Dichters zum Dargestellten. Sie ist abhängig von der Absicht der Schlußbücher, die schlimmen Wege der Menschengeschichte zu zeigen. Aus diesem Grund ist das Dargestellte mit Affekt geschaut und gewertet. Aber hinter der menschlichen Unvollkommenheit hält Milton 57

Vgl. S. 126f.

68

Vgl. B. I, 576; III, 464ff.; VII, 605; XI, 642, 688. 9*

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Interpretation des X I . und X I I . Buches

den Ausblick auf die Erlösung bereit; das zeigt die Entrückung Henochs, in der die 4. Vision gipfelt. Der Schild des Achill, ein Werk aus der Hand eines Gottes und voll natürlicher Schönheit und Würde, spiegelt dagegen einfach die Freude des Dichters am vollkommen Erschaffenen, dessen Ordnung bejaht wird. Wir müssen aber unsere vergleichenden Beobachtungen noch einmal eingrenzen; denn von den sechs großen Visionen sind es überhaupt nur zwei, die zu einem Vergleich mit Homer einladen. Für die Kainsszene ist der Anhaltspunkt zu unerheblich, als daß er die fruchtbare Durchführung eines Vergleiches erlaubte 59 . Die Visionen des Paradise Lost reichen von der biblischen Szene (1) und der mittelalterlichen Allegorie (2) bis zum homerischen Bild (3 und 4) und verbinden in den Bildern von der Sintflut (5 und 6) die Darstellung der Bibel mit den Metamorphosen des Ovid. Das Einheit schaffende Prinzip ist die überall wirksame Kraft der dichterischen Umprägung und der gedanklichen Zusammenordnung unter die Aufgabe, Adam zu erschüttern und zu belehren. Während in der Schildbeschreibung Homers die gesamte Weltansicht der Ilias sichtbar wird 80 , sind die Visionen des Paradise Lost nur Bauteile eines Ganzen, die an einer bestimmten Stelle ihre Aufgabe erfüllen. Aber weder in einer einzelnen Vision noch in ihrer Gesamtheit tritt die Weltordnung des Paradise Lost, d. h. die göttliche Ordnung, unmittelbar hervor. ZUSAMMENFASSENDE BETRACHTUNG DER MITTLEREN VISIONEN

Was hat Milton für die Thematik der Schlußbücher und für ihre Gestaltung bis zum Ende der 3. und 4. Vision erreicht ? Die Visionen des Mittelteils schauen auf der einen Seite zurück, indem sie die Form des mit der Kainsszene geschaffenen 'pageant' benützen, freilich um es zu einem Szenengefüge weiterzuentwickeln. Doch wird dieses Gefüge genau wie die einfache Szene einem dramatischen Höhepunkt zugeführt: Milton führt eine sehr klare Gliederung der mehrteiligen Visionsbilder durch und arbeitet in beiden auf eine Überraschung hin, die für den Leser umso wirksamer ist, als die biblische Vorlage jetzt viel freier umspielt wird 81 . Die trockenen Angaben der Genesis sind so stark angereichert und in lebende Bilder umgesetzt, daß sie darin kaum mehr erkennbar sind, zumal es an wörtlichen Übernahmen und deutlichen Anspielungen fehlt 82 . 59 60 61

62

Vgl. dagegen Tillyard, "Milton and the Classics", S. 67. Schadewaldt, S. 368. Die betreffenden Stellen in der Reihenfolge ihres Vorkommens im Mittelteil sind: Gen 4,20—22; 6 , 1 — 4 ; 5 , 2 2 — 2 4 . Selbst in Michaels Kommentaren kommen nur zweimal wörtliche Wendungen aus der Genesis vor: zu "the Tents / Of wickedness" (607/8) sowie "the Sons of G o d "

Buch XI : Dritte und vierte Vision

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Andererseits schaut der Mittelteil aber auch voraus auf den Schlußteil der Visionen, weil er die dort herrschende räumliche und zeitliche Weite schon vorwegnimmt, wenn er auch noch nicht Anlaß hat, die Naturgewalten ins Geschehen mit hineinzuziehen. Auch das Prinzip der Gegengewichtigkeit der zwei Szenen wird im Schlußteil wieder aufgenommen und neu variiert, d. h. die Kompositionstechnik weist ebenfalls voraus. Die besondere Spielart der ironischen und der mit Homer vergleichbaren Darbietung ist gegenüber dem ersten Teil neu und läßt erkennen, mit welcher Sorgfalt Milton auf die Belebung seines Gegenstandes durch Abwechslung bedacht ist. Beide Visionen sind Kleingemälde des menschlichen Treibens in der Welt der Sünde; in der Anlage sind sie trotz der Gegensätzlichkeit der Handlungen und der Stimmung eng miteinander verwandt. Die formale Seite des zweiten Visionsteils hängt aufs engste mit der Durchführung des Hauptgedankens zusammen. Die Mehrschichtigkeit der Szenenbilder ist bedingt durch die Vielzahl und Verbreitung der Sünden ; durch die starke Antithetik der zwei Visionen soll zugleich auf das Problem der unter dem schönen Schein verdeckten Bosheit hingewiesen werden, und die zunehmende moralische Kommentierung innerhalb der Visionen erfolgt aus dem Wunsch des Dichters, sein großes Thema stets gegenwärtig zu halten. Beide Visionsbilder sind gegeneinander ausgewogen, so daß die formale Geschlossenheit des Mittelteils größer ist als die des ersten Teils, dessen Einheit in der gemeinsamen Thematik und in der Ausgestaltung einer Gesprächsszene liegt, während die Darbietung der Visionen dort recht verschieden ist ("pageant", Allegorie und als drittes das moralische Exemplum vom Alterstod). Die Düsternis des ersten Teils wird hier in zweifacher Weise aufgelockert: zuerst in der Friedensszene, wo wenigstens der Schein des Glücks vorübergehend eine unerwartete Aufhellung bedeutet, aber auch in der Kriegsvision, die doch dank ihrer Nähe zu Homer einen Abglanz des Heroentums erkennen läßt. Dennoch ist das Entscheidende, daß beide Bilder sofort wieder entwertet und als Illustrationen der allgemeinen Bosheit der Menschen hingestellt werden. Wir haben gesehen, daß im ersten Visionsteil das Thema des Todes im Mittelpunkt stand; jetzt wird das Thema der wachsenden Sündhaftigkeit durchkomponiert. In jenem Teil wurde das Thema zu dem tragischen Gedanken zugespitzt, daß Gott auch den Rechtschaffenen nicht von Hinfälligkeit und Tod befreit. Auch im Mittelteil ist eine entsprechende thematische Zuspit(622) vgl. Gen 6,4; zu "to walk with God" (707) vgl. Gen 5,22: "and Henoch walked with God". Von "Giants" wird schon in der 4. Vision gesprochen (642), in Michaels Rede nochmals Z. 688.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

zung vorgesehen: Gott greift in das sündige Treiben ein, um den Gerechten zu retten. Darin erweist sich nun der Fortschritt in der gedanklichen Entwicklung, denn das Wirken Gottes ist hier nicht mehr auf die gerechte Ahndung der Sünde beschränkt, sondern enthält die Möglichkeit einer gnädigen Hilfe. Diese noch kaum enthüllte Wahrheit wird im Schlußteil der Visionen noch stärker durchdringen. D I E GESPRÄCHSSITUATION IM MITTELTEIL DER VISIONEN

In dem Maße wie die Visionen länger und komplizierter werden, sind auch die einzelnen Zwischenreden umfangreicher, aber immer noch zum Partner hin gerichtet. Nach der 3. Vision (Frieden) ist noch einmal ein zweifacher Wechsel der Rede notwendig. Erst muß Adam aus seiner Täuschung über die Hochzeitsfestlichkeiten gerissen werden. Als er darüber reflektierend in einen unschönen, selbstgerechten Trotz verfällt (But still I see the tenor of Mans woe/ Holds on the same, from Woman to begin, XI, 632/3), entgegnet Michael mit ungewohnter Schroffheit, so daß Adams Verstummen seine Beschämung verrät. Das Eigentümliche an dieser Phase des Gesprächs ist, daß Adam in keiner seiner beiden Reden eine Frage stellt. Er ist in einer Selbsttäuschung befangen, von der ihn nicht nur Michaels strenger Verweis, sondern ebenso unausweichlich die nächste Vision (Krieg) heilt. Die Kargheit der szenischen Ausführung trägt also zur Charakterisierung von Adams innerer Verfassung bei: er ist verstockt. Nach der 4. Vision (Krieg) läßt sich nun der Zug zur Einsparung der szenischen Mittel erkennen. Die Zwischenbemerkung ist auf anderthalb Zeilen reduziert; aber inhaltlich gewinnt sie im Gegensatz dazu an Intensität: sie berichtet von einer starken Bewegung und von Tränen Adams (674). Die nun folgende längere Rede Michaels wird durch eine klare Gliederung und durch rhetorische Mittel wirksam gemacht, auch enthält sie dreimal eine Hinwendung zu Adam von der oben genannten Art 63 . Und dennoch rücken in dieser Wechselrede die gedanklichen Verbindungen gegenüber den szenischen Mitteln in den Vordergrund. 63

XI, 683—87: Erläuterung der äußeren Zusammenhänge 688—99: Diskurs über Ruhm und Macht in der Welt 7 0 0 — 1 0 : Henoch, das Gegenbild zur allgemeinen Entartung. Für die rhetorischen Mittel vgl. z. B. die ansteigende Linie von "to be styl'd great Conquerours, / Patrons of Mankind, Gods, and Sons of Gods" und die Umkehrung: "Destroyers rightlier call'd and Plagues of men" (XI, 695—97); ferner die Wortwiederholungen und -Variationen "Glorie" (694) und "therefore hated, therefore so beset" (702). Zu den an Adam gerichteten Zwischenbemerkungen s. S. 1 1 7 f.

Buch X I : Fünfte und sechste Vision

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Nun hat aber Adams letzte Rede gezeigt, daß er Michaels Gedankenführung jetzt gewachsen ist. Er hat, auf die Errettung Henochs als auf ein neues Moment aufmerksam geworden, ihr sogleich die richtige Bedeutung zugemessen (681/2). Die Gesprächsführung kann danach vorübergehend einen ruhigeren Verlauf nehmen, ohne die Wirkung der Gesprächssituation zu beeinträchtigen. Das heißt mit anderen Worten, daß die Beteiligung Adams am Fortgang der Enthüllung und Belehrung trotz der nur sparsam angedeuteten Gesprächssituation auch hier als ein Mittel zur Belebung der Darstellung ausgenützt wird. 3. Fünfte und sechste Vision (XI, 712—901) (Sintflut) VERHÄLTNIS DES SCHLUSSTEILS ZU DEN VORANGEGANGENEN VISIONSTEILEN THEMATISCHER VERGLEICH

Die Ankündigung einer Strafe (709—11) und die Schilderung der auf den Krieg folgenden sittenlosen Zeiten (713—18) leiten äußerlich zudem neuen Teil der Visionen über. Die Zukunftsvisionen des Mittelteils haben zu einem Punkt geführt, wo das Ausmaß und die Verbreitung der Sündhaftigkeit nicht mehr zu überbieten sind. Deshalb wendet sich Milton nach einem sehr summarischen Bericht über die Übelstände der auf den Krieg folgenden Zeit einem neuen großen und entgegengesetzten Doppelthema zu: der Vorbildlichkeit Noahs und dem Strafgericht Gottes über die Menschen. Er schließt sich in der 5. und 6. Vision wieder enger und auf längere Strecken dem biblischen Bericht an als in den letzten Visionen, aber erst die Ausweitungen, mit denen er die Bilder und ihre Kommentierung durch Michael bereichert, lassen erkennen, welche Absicht er mit ihnen verfolgt: Das Wirken Noahs wird viel ausführlicher als im Alten Testament geschildert, damit in ihm ein vorbildliches Heldentum sichtbar wird. Die andere beträchtliche Erweiterung betrifft die Darstellung der Sintflut. Indem Milton das elementare Geschehen der Flut mächtig ins Dichterische steigert, verdeutlicht er die ungeheure Größe von Gottes Strafe. Sie wirft noch einmal ein Licht auf die Schwere der menschlichen Verschuldung und bildet den Hintergrund, vor dem sich die später enthüllte Gnade umso strahlender abhebt. Thematisch bedeutet der Schlußteil der Visionen eine Gegenbewegung zu den früheren Visionen. In dem Augenblick, wo die Menschheit am tiefsten gefallen ist, tritt in dem einzigen Gerechten das erste positive Menschenbild, das mit Abel und Henoch nur angedeutet war, durch lebhafte Schilderung deutlich hervor:

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Interpretation des XI. und XII. Buches A t length a Reverend Sire among them came, And of thir doings great dislike declar'd, And testifi'd against thir wayes; hee oft Frequented thir Assemblies, whereso met, Triumphs or Festivals, and to them preachd Conversion and Repentance, as to Souls In prison under Judgements imminent: But all in vain: which when he saw, he ceas'd Contending, and remov'd his Tents farr off; Then from the Mountain hewing Timber tall, Began to build a Vessel of huge bulk. (XI, 719—29)

Das andere Gegenthema ist die furchtbare Bestrafung der ganzen sündigen Menschen; in Umkehrung der vorigen Visionen bildet in der 5. und 6. Vision nicht mehr das schlimme Treiben der Menschen, sondern das Handeln Gottes den Mittelpunkt. Darum steht am Ende der Katastrophe die in die Zukunft weisende Rettung Noahs. Hier im Schlußteil kommt das Hauptthema des Paradise Lost wieder zur unmittelbaren Geltung. Der strafende und rettende Wille Gottes bestimmt das Geschick der Menschen. VERGLEICH DES AUFBAUS

Der Schlußteil der Visionen ist umfangreicher als die zwei anderen Teile (133: 156: 190 Zeilen), obwohl er viel ausschließlicher auf einen einzigen Gegenstand konzentriert ist. Die bildlichen und noch mehr die gedanklichen Partien sind stark ausgeweitet. Der Aufbau ist wieder zweiteilig. Eine erste Einheit wird gebildet aus der 5. Vision, die die Vorgeschichte und Geschichte der Sintflut enthält (712—53), aus der Klage Adams (754—86) und den eingehenden Erläuterungen Michaels (787 — 839). Eine zweite, kürzere Einheit setzt sich aus drei genau entsprechenden Teilen zusammen: aus der 6. und letzten Vision, die das Ende der Flut und Noahs Errettung darbietet (840—67), dem Ausbruch von Adams Freude (867—83) und einer abschließenden Rede Michaels (884—901). Das Prinzip der Zuordnung zweier gegensätzlicher Visionen, das im Mittelteil eingeführt worden ist, behält Milton also auch hier bei. Neu ist nur, daß die beiden sich entsprechenden Visionen zwei Phasen der gleichen Geschichte darstellen. Dadurch, daß die Geschichte der Sintflut in zwei gegenläufigen Visionen berichtet wird, schließen sich diese inhaltlich zu einer Doppelvision zusammen. Auf der anderen Seite trennt Milton sie besonders drastisch und benützt diese neue Abwandlung der Zuordnung dazu, eine äußerste Spannung zu erzeugen. Die 5. Vision endet mit dem Untergang der bösen Menschheit und stürzt Adam in tiefste Verzweiflung, aus der ihn Michael aber nicht sofort

Buch X I : Fünfte und sechste Vision

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durch die folgende Vision von der sinkenden Flut befreit. Er schiebt diese im Gegenteil durch eine lange Rede hinaus, so daß die Rettung Noahs eine umso stärkere Wirkung erhält. Die Längenverhältnisse der einzelnen Partien sind aufschlußreich. Zum ersten und einzigen Mal ist Michaels Zwischenrede länger als die vorangehende Darstellung des Visionenbildes. Diese Erscheinung ist ganz aus den gedanklichen und formalen Absichten des Schlußteils zu erklären 64 . Innerhalb von Michaels Erläuterungen zur ersten Flutvision zeigt sich, daß er mit besonderer Ausführlichkeit auf die Vorgeschichte der Flut, auf die verderbte Zeit, eingeht, die in der Vision nur 6 Zeilen, in der Rede hingegen 21 Zeilen einnimmt und durch die abschließende Sentenz einen betont didaktischen Charakter erhält: "So all shall turn degenerate, all deprav'd, / Justice and Temperance, Truth and Faith forgot" (806/7); in der Noahgeschichte verweilt die Rede hingegen einzig bei Noahs Auftreten als Mahner, verweist aber für den Bau der Arche und den Einzug der Tiere und Menschen auf die geschaute Vision. Der Ausbruch der Flut, der in der Vision in 16 Zeilen mit großartiger Gewalt geschildert ist, wird in der Rede nur kurz wiederholt (5 Zeilen), weil Michael es vor allem darauf absieht, die emotionale und didaktische Wirkung dieses Strafgerichts auf Adam durch eine große Coda, die von der Wegschwemmung des Paradieses berichtet, zu steigern (97 2 Zeilen). Entsprechendes beobachten wir auch für das Verhältnis der 6. Vision zu Michaels Rede. Im Bild ist das Sinken der Flut eingehend und lebendig ausgemalt (23 Zeilen), die Erhörung von Noahs Gebet ist deutlich, aber sehr knapp dargestellt (5 Zeilen). Auf das Schauspiel der zurückweichenden Flut geht Michael überhaupt nicht ein, weitet aber dafür den Schluß der Vision stark aus (17 Zeilen), um in 12 Zeilen Gottes Versöhnung eindringlich zu verdeutlichen, nachdem er in 5 Zeilen den göttlichen Zorn nochmals kurz gerechtfertigt hat. Was besagen diese Feststellungen für unsere Untersuchung? Im Ganzen ist in Michaels Reden gegenüber den früheren eine stärkere Wendung ins Didaktische zu erkennen. Es könnte scheinen, als müsse die Belehrung diesmal die anschaulichen Partien erdrücken, zumal sie auch in diesen schon deutlich angelegt ist. Aber es zeigt sich nur, wie wenig mit 64

Die erste Gruppe der Visionen läßt sich nicht zu einem Vergleich heranziehen, da sie, wie gezeigt wurde, einen viel stärker szenischen Charakter hat; 3. Vision = 37 Zeilen, Kommentar = 25 Zeilen 4. Vision = 36 Zeilen, Kommentar = 28 Zeilen 5. Vision = 41 Zeilen, Kommentar = 52 Zeilen 6. Vision = 28 Zeilen, Kommentar = 1 8 Zeilen

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Interpretation des X I . und X I I . Buches

den äußeren Proportionen allein für die Einsicht in die Struktur gewonnen ist. Die Unterweisung nimmt an Breite und Nachdrücklichkeit 2u, aber andererseits ist auch die Bildlichkeit in eine neue Dimension vorgedrungen und hält ein Gegengewicht zu jener bereit. Die Darstellungen der Flut und ihres Sinkens sind durch ihre inhaltliche Bedeutsamkeit und ihre dichterische Wirkungskraft so hervorgehoben, daß sie einen Ausgleich für die vermehrte Didaktik schaffen. Vor allem aber übertrifft der Schlußteil die früheren Teile auch an seelischer Spannweite. Adams Erlebnis der untergehenden Menschheit ist so leidenschaftlich gesteigert, daß Milton zwischen den zwei Visionen eine kleine Szene einschiebt, gegen die sich die große Rede Michaels mit besonders eindrucksvoller Monumentalität aufrichtet. Auf die Tiefe der Verzweiflung folgt schließlich eine erste freudige und dankbare Regung Adams. Wir erkennen also in diesen Zügen die Steigerung bereits angewandter Darstellungselemente ins Gegensätzliche. Der Verlagerung des Gewichtes aufs Lehrhafte begegnet Milton durch eine erhöhte Dynamik der Bilder sowie der Zwischenszene. Auch der Aufbau des Schlußteils ist abgewandelt. Es fällt nämlich auf, daß die in der ersten Einheit (Noah und Sintflut) so stark angeschwollenen Maße in der zweiten (Rückgang der Flut) wieder abnehmen. Der erste und der zweite Teil verhalten sich zueinander wie eine ansteigende zu einer fallenden Linie. Darin entspricht die Form dem Gehalt, dem Kommen und Zurückgehen der Flut. Das Verhältnis ist aber auch eine Spiegelung des Themas: die Strafe Gottes ist ein unfaßbar gewaltiges Ereignis, während seine Versöhnung sich in der Stille vollzieht, die eine Beruhigung und Sammlung auch der Darstellung herbeiführt. Auf eine ungeheuer starke Anspannung folgt eine ausgleichende Befriedung. So sind die beiden Einheiten in ihrer Anlage aufeinander abgestimmt, und wie wir sie auch betrachten — strukturell, thematisch, intentional — immer sind sie der wohlausgeglichene Ausdruck der zugrunde liegenden Anschauung von Gottes Handeln mit den Menschen. In der Harmonie dieses Gefüges von Gegensätzen und Entsprechungen zeigt sich Miltons architektonischer Sinn, seine Souveränität, Bauformen und Gedankenformen in Übereinstimmung zu bringen. VERGLEICH

DER

DARSTELLUNGSWEISE

Da die neuen Züge der Darstellungsweise in den letzten beiden Visionen noch eingehend behandelt und dabei auch mit den bisherigen verglichen werden, genügen hier einige grundsätzliche Hinweise. In den komplexen Visionen haben sich homerische Einzelbilder zu einem übergeordneten Ganzen gefügt; jetzt wird hingegen eine fortlaufende

Buch X I : Fünfte und sechste Vision

139

Geschichte erzählt, und wir beobachten, daß sich die beiden Visionen in eine Vorgeschichte, ein Hauptereignis und ein Nachspiel aufteilen lassen. Das Hauptereignis selbst, die Sintflut, ist ein Geschehen, das alle Vorstellung übersteigt. Es wird in einzelne Phasen gegliedert und, in Einzelphänomene auseinandergelegt, faßbar gemacht, während sich bisher umgekehrt ein Gesamtbild aus Einzelaspekten ergeben hat. Hat sich ferner die Kommentierung in den früheren Visionen als ein kaum merklicher Zug und nicht als Störung des Visionsbildes herausgestellt, so findet jetzt deutlich eine wirkliche Episierung der Visionen statt; denn die stark geraffte Schilderung der sittenlosen Zustände und die ausladende große Beschreibung der Flut sind keine Schaubilder mehr. Die erste ist zu abstrakt, die zweite zu gewaltig, um noch als Visionsbild zu wirken. Für die kurze Zwischenszene verwendet Milton, wie wir zeigen werden, sprachliche Mittel, die auf eine starke Intensivierung drängen, um der Dramatik des Augenblicks gerecht zu werden. In Michaels Reden tritt ebenfalls ein neues Moment auf, der gehäufte und darum auffallende Gebrauch des Futurs 66 . POETISCHE UND KOMMENTIERENDE EPISIERUNG IN DER 5 . VISION

Zum erstenmal entwirft Milton am Anfang einer Vision nicht mehr den szenischen Raum. Der Hinweis: "He look'd, & saw the face of things quite chang'd" (712) muß genügen, um anzudeuten, daß noch der gleiche Schauplatz zu denken ist. Mit "The brazen Throat of Warr had ceast to roar" (713) wird die Tatsache, daß dem Krieg der Frieden gefolgt ist, ebenfalls nur metaphorisch umschrieben, aber nicht sichtbar gemacht. Die Vorgänge selbst werden so summarisch aufgezählt, daß sie als solche in der Vorstellung des Lesers gar nicht realisierbar sind, sondern daß nur die nackten Begriffe zur Wirkung kommen, um das Unwesen der Entartung im Frieden zu charakterisieren. Wie die Verbildlichung für Adam zu denken ist, darauf nimmt die Darstellung keine Rücksicht. Der schlagwortartige Schluß "thence from Cups to civil Broiles" (718) ist ein Triumph der Verkürzung, auf die Milton hier zielt. Die Deutlichkeit ist unübertrefflich, aber die Veranschaulichung als Vision ist ganz aufgegeben. Um so anschaulicher wird das Auftreten Noahs geschildert. Wie er immer wieder bei den lauten Festlichkeiten zur Umkehr mahnt, wie er sich, als er die Vergeblichkeit seines Kampfes einsieht, zurückzieht und ein großes Schiff zu bauen beginnt: da wird das Auge voll befriedigt. 65

V g l . S. 1 5 1 ff.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Dennoch stellen wir auch für die Darstellung der Noahgeschichte fest, daß sie rein epischen Charakter hat. "At l e n g t h a Reverend Sire among them came" (719) und "hee oft / Frequented thir Assemblies" (721/2) verweisen auf ein ausgedehntes zeitliches Nacheinander; der Bau der Arche wird in seinem Fortschreiten verfolgt. Es wird ja hier auch, im Unterschied zur 3. und 4. Vision, kein generelles Bild aus verschiedenen Teilen aufgebaut, sondern wirklich die Geschichte eines einzelnen Mannes in ihrem Zeitablauf erzählt. Da aber bisher, wenigstens für Adam, der Wegzug Noahs und der Bau der Arche ganz als dessen eigenes Werk erscheinen müssen und von einem Geheiß Gottes nichts sichtbar geworden ist, erhellt der Dichter, als die Tiere in die Arche einziehen, den Hintergrund der Geschichte, und zwar herausgehoben durch eine rhetorische Formel, die sich öfters im Epos findet: "when loe a wonder stränge!" (733). Er läßt sogar Gott selber auftreten: "and God made fast the dore" (737)66. Doch ist gerade dieses letzte Moment ganz aus der Nachzeichnung der Genesiserzählung zu erklären, wo es heißt: "and the Lord shut him in" (Gen 7, 16). Das Erscheinen und Handeln Gottes wird auch nicht in seiner Wirkung auf Adam verfolgt, denn in seiner Klage übersieht Adam Gottes Mitwirken völlig, da er nicht an eine Errettung der wenigen Menschen in der Arche glauben kann. Das wäre kaum denkbar, wenn er diesen Augenblick greifbar vor Augen gehabt hätte. Mit neuem Erzähleinsatz, der durch die epische Wendung "Meanwhile" (738) angezeigt wird, wendet sich der Dichter der Schilderung der alles menschliche Leben vernichtenden Sintflut zu. Es sind Zeilen von hinreißender Kraft und Großartigkeit, nicht weil Milton dafür große Vorbilder in der Genesis und in Ovids Metamorphosen fand 67 , sondern weil hier seine hohe Gabe, großbewegtes Geschehen darzustellen, zur Geltung kommen konnte. Indes bleibt auch hier der Gedanke an eine Schau Adams im Hintergrund. Der dunkle Südwind, der die Wolken zusammentreibt, erscheint zu einer mythologischen Gestalt personifiziert, was bei Ovid viel deutlicher durchgeführt, aber auch im Zusammenhang selbstverständlicher ist. Auch die von den Bergen aufsteigenden Dünste erinnern an die Darstellung der Metamorphosen. Nicht nur inhaltlich folgen diese Einzel66 67

Vgl. S. 52, Anm. 11. Ein ins einzelne gehender Vergleich, wie er hier nicht ausgeführt werden kann, ist besonders aufschlußreich, wenn man die verschiedenen Grade der Umprägung und ihre Tendenzen bei Milton verfolgt und auch die von ihm nicht übernommenen Stellen berücksichtigt; D. P. Harding, Milton and the Renaissance Ovid (Urbana, 1946), S. 80 ff. gibt dafür Anhaltspunkte.

Buch XI : Fünfte und sechste Vision

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heiten Ovid, sondern der Erzähler nimmt in ihnen auch die gleiche Haltung ein. Beide Stellen sind ganz im Sinne der Ovidischen Bilder episch konzipiert 68 . Betrachten wir die zweite Stelle näher: "the Hills to their supplie / Vapour, and Exhalation dusk and moist, / Sent up amain" (740—42). Der Kommentar (to their supplie) und die Verwendung der Synonyma (vapour and exhalation) sind in ihrer Wirkung beide auf einen Leser, nicht aber auf einen Zuschauer angewiesen. Das Geschehen wird vor dem Ausbruch des Unwetters kunstvoll gestaut, indem der Dichter einen Vergleich einschiebt (and now the thick'nd Skie/Like a d a r k C e e l i n g s t o o d , 742/3). Der Rhythmus unterstützt die Bewegungshemmung, da hinter "stood" eine starke Pause entsteht. Gleich darauf wird das Losbrechen der Elemente in seiner Gewalt im rein Sprachlichen verwirklicht: "down rush'd the Rain / Impetuous" (743/4). Milton nimmt, was selten geschieht, eine Taktumstellung auf den 4. Fuß vor (743); er benützt Alliteration (rush'd, rain) und ein Enjambement, das der näheren Bestimmung (Impetuous) noch mehr Kraft verleiht. Die folgenden anderthalb Zeilen geben das Unablässige des Regens durch ebenmäßige Betonung und anhaltendes Enjambement wieder. So wird das Schaubild durch sprachliche Mittel ganz in epische Dichtung umgesetzt. Nicht nur wird es der Erzählung einverleibt, es verliert seinen Charakter eines für Adams Augen greifbaren Bildes. Das unvergleichliche Sprachbild: "Sea cover'd Sea, / Sea without shoar" (749/50) ist nur ein weiteres Beispiel für die Direktheit eines rein epischen Erzählens, das dem Leser Genüge tut. Da auch hier eine Wendung Ovids nachklingt 69 , liegt die Vermutung nahe, daß die Episierung sich unter dem Einfluß der dichterisch höchst wirksamen epischen "Vorlage" vollzogen hat. Die Aussage, daß die Arche in Sicherheit dahintreibt (secure, 746), steht sogar im Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild, denn das Schiff ist von den mächtigen Wogen bedroht (Rode t i l t i n g o're theWaves, 747) und wird nicht mehr wie beim Bau mit "a Vessel of huge bulk" (729), sondern mit "small bottom" (753) bezeichnet. Die Stelle "and them with all thir pomp / Deep under water rould" (748/9) stellt den Untergang der Menschenwelt in den Zusammenhang mit der Vergeltung und erinnert den Leser (so wie oben das Wort "secure") daran, wo eigentlich die Bedeutung des Geschehens liegt. Er soll nicht vergessen, daß die Katastrophe als Strafgericht Gottes zu verstehenist. Das ist insofern wichtig, als sich in diesen Zügen wieder die schon in den 68 69

Ovid, Metamorphoseon Libri XV, I, 264—69 und 270/1. Metam. I, 292: "Omnia pontus erant; deerant quoque litora ponto".

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Interpretation des XI. und XII. Buches

früheren Visionen aufgetretene Nebenerscheinung der Kommentierung erkennen läßt, die fast immer eine belehrende Richtung einschlägt, wogegen die oben behandelte Episierung eine spezifisch erzählerische Art der poetischen Ausschmückung ist. Beide Tendenzen finden sich vereint in der letzten Aussage über die steigende Flut; dort verschafft sich sowohl die ethische Emphase wie die Kraft des dichterischen Gesichts gesteigerten Ausdruck: "And in thir Palaces / Where l u x u r i e late reign'd, Sea-monsters whelp'd / And stabl'd" (750—52). Es ist kaum denkbar, und jedenfalls nicht von Bedeutung, daß Milton auch hier an Ovids Schilderung zurückdenkt70, so sehr trägt die Stelle seinen persönlichen Stempel. D I E POETISCHE EPISIERUNG IN DER 6 . V I S I O N

Daß Milton den Ausbruch der Sintflut zu einem echten Höhepunkt ausgestaltet, liegt gewiß daran, daß die dichterische Aufgabe ihm besonders entspricht. Da aber an dieser Stelle eine Steigerung vom Sinn her vollkommen gerechtfertigt ist, wird mit der erhöhten Darstellung zugleich auch die gedankliche Durchführung gefördert. Auch die Vision vom Sinken der Flut ist dem Gegenstand im engeren sowie dem thematischen Zusammenhang im weiteren Sinn völlig angemessen. Die Tatsachen sind wie die der 5. Vision der Genesis entnommen und mit der gleichen Sicherheit wie dort auf die dem Auge faßbaren Einzelzüge beschränkt. Wie dort wendet sich die Darstellung selbst jedoch mehr an einen Leser als an einen Zuschauer. Ovid ist in einem entfernteren und schwächeren Grad Anreger für die Ausschmückung als in der ersten Flutvision. Die Dramatik und die Mythologie der Metamorphosen konnte Milton hier, wo er mit der Darstellung auf eine Beschwichtigung hinarbeitet, nicht brauchen. Darum führt auch der naheliegende Vergleich mit dem grandiosen Schauspiel der sich verteilenden Wasser am dritten Schöpfungstag im Paradise Lost (VII, 285—306), das Milton Anlaß zu der ersten Digression im Schöpfungsbericht gegeben hat, auf Unterschiede und nicht auf Übereinstimmungen. Dort eine schnelle, frohe, kräftige Bewegung des Wassers, wobei Rhythmus und Lautmalerei jede Variation des Fließens und Sichergießens, der Zusammenballung oder Glättung im Sprachlichen spiegeln. In der 6. Vision kommt dagegen die Schilderung außerordentlich langsam in Gang. Breit malt Milton die Ursachen des Abebbens aus: He lookd, and saw the Ark hull on the floud, Which now abated, for the Clouds were fled, Drivn by a keen North-winde, that blowing drie 70

Met am. I, 299/300.

Buch XI : Fünfte und sechste Vision

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Wrinkl'd the face of Deluge, as decai'd; And the cleer Sun on his wide watrie Glass Gaz'd hot, and of the fresh Wave largely drew, As after thirst, which made thir flowing shrink From standing lake to tripping ebbe, that stole With soft foot towards the deep, who now had stopt His Sluces, as the Heav'n his windows shut. (XI, 840—49)

Der Nordwind vertreibt die Wolken, die Sonne zieht die Wasser der Erde an; es ist eine betonte Entsprechung zum Anfang der ersten Flutvision, nur ist das Verhältnis zu Ovid stark gelockert 71 . Zwei kurze Vergleiche, die den Fortgang hemmen (as decai'd, 843; As after thirst 846), lebhaft schillernde Attribute (keen North-winde, cleer Sun, f r e s h Wave, 842ff.) und eine poetische Umschreibung (his [sc. of Deluge] watrie Glass, 844) bereichem die verweilende Vorstellung durch Assoziationen. Für diese Züge finden sich weder in der Genesis noch bei Ovid Anhaltspunkte. Dennoch bilden sie wichtige epische Elemente der Darstellung. Erst mit der siebten Zeile wird das allmähliche Zurückgehen der Wasser als Bewegung dargestellt, in stark gedrängter, aber rein erzählender Sprache (846—49). In dem Augenblick, wo die Arche auf einem Berg stehen bleibt und der biblische Bericht wieder aufgenommen wird, geht die Darstellung ins Präsens über (850), das bis zum Schluß der Vision beibehalten wird. Wir haben schon bei der 3. und 4. Vision beobachtet, daß ein Tempuswechsel beim Übergang zum letzten Stück dieses heraushebt und belebt. Von hier aus erscheinen die ersten zehn Zeilen der 6. Vision wie ein dem großen Naturvorgang gewidmetes Vorspiel (Imperfekt), dem dann der eigentliche Höhepunkt, die Rettung Noahs, folgt (Präsens), mit der nun endlich Adams angstvolle Frage nach dem Fortbestehen der Menschheit beantwortet wird. Doch fügt Milton zwischen den langgedehnten Bericht von der Beruhigung der Natur und die Idylle von Noahs Landung und Danksagung zwei Zeilen ein, die das einzige stark bewegte Bild dieser Vision enthalten: "With clamor thence the rapid Currents drive / Towards the retreating Sea thir furious tyde" (853/4). In ihrer dynamischen Sprachkraft klingt ein letztes Mal die Größe der Naturgewalten wie in einem Echo nach. Durch "clamor", "rapid", "furious" werden wir an die Vehemenz der steigenden Gewässer erinnert, während doch ihr Verebben als ein langsamer und ruhiger Prozeß vorgestellt wird. Die zwei lebhaften Zeilen bilden einen Kontrast zu dieser Vorstellung, aber auch zu dem versöhnlichen Schluß der Vision. In der Sintflutvision hat sich Milton eine Gelegenheit geboten, das Wirken elementarer Kräfte, das er bisher nur im kosmischen Raum auf71

Metam. I, 328 f.

Interpretation des XI. und XII. Buches

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gezeigt hat (Buch II, III, VII) einmal auch auf die Erde zu verlegen. Die eben genannten zwei Zeilen (853/4) greifen das Motiv nochmals auf, als schon die beschwichtigenden Gegenkräfte das Feld behaupten. Mit ihnen nimmt Milton im Paradise Lost Abschied von der Darstellung großartiger Szenerien und mächtiger Naturvorgänge jeder Art. Im XII. Buch bleibt die Szenerie aus der Handlungs- und auch aus der Erzählschicht ganz ausgeschlossen. Von dem Aufeinanderprallen großer Mächte kommt nur in den Endzeitvisionen etwas zum Ausdruck. Aber eben dies geschieht in der für das Schlußbuch charakteristischen Form eines Symbols für ein der Zeit und dem Raum entrücktes Geschehen höherer Wirklichkeit. D I E ZWISCHENSZENE

(754—86)

UND DIE GESPRÄCHSSITUATION IM LETZTEN TEIL DER VISIONEN

In der 5. Vision hat Milton zwei Momente in den Vordergrund gerückt: die Erscheinung Noahs als des Gerechten und die Ungeheuerlichkeit der Naturkatastrophe, in der Gott das allgemeine Strafgericht vollzieht. Über diesem doppelten Anliegen hat er vorübergehend die Situation Adams und den formalen Rahmen einer Vision vernachlässigt. Mit der anschließenden Zwischenszene, die sich am Tiefpunkt der Visionen abspielt, setzt sich aber die Adamshandlung, die schon im Mittelteil der Visionen etwas zurückgetreten war und von der Flutvision vollends verdrängt wurde, mit erneuter Energie durch: How didst thou grieve then, Adam, to behold The end of all thy Ofspring, end so sad, Depopulation; thee another Floud, Of tears and sorrow a Floud thee also drown'd, And sunk thee as thy Sons; till gently reard By th' Angel, on thy feet thou stoodst at last, Though comfortless, as when a Father mourns His Children, all in view destroyd at once; And scarce to th' Angel utterdst thus thy plaint.

(XI, 754—62)

Die Erschütterung Adams wird dramatischer dargestellt als in allen früheren oder späteren Zwischenszenen. Die Szene wird von einer umfangreichen Apostrophe, die den Situationsbericht enthält (754—62) und der großen Klagerede Adams (763—86) gebildet; beide Teile sind gegenüber den früheren Uberleitungen und den Zwischenreden Adams heblich erweitert. Genau wie die Apostrophen in Buch IV und IX soll auch diese die menschliche Teilnahme wecken 72 . Aber der Anruf ist viel weniger sym72

Vgl. S. 53 f.

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Buch X I : Fünfte und sechste Vision

bolhaltig als die beiden ersten; er deutet nicht über die Situation hinaus, sondern meint wirklich nur den seit dem Sündenfall geschwächten, irrenden und dem Leiden preisgegebenen Menschen Adam. Seine völlige Trostlosigkeit spiegeln zwei in der Apostrophe eingeschlossene Vergleiche. Der erste (756—58) mag nicht unser Geschmack sein, aber zu der ökonomischen und gleichzeitig emphatischen Darstellung dieses Tiefpunktes trägt er bei. Der fließende Rhythmus, die Wortwiederholung "thee . . . Floud . . . Floud thee" überspielen durch ihre künstlerische Wirkung das, was sonst als eine fatale Wortspielerei stören könnte. Auch verweilt der Dichter nicht bei diesem Vergleich; er eilt gleich zu einem zweiten, der nun nicht mehr ein äußerliches, sondern ein inneres Bild von Adams Jammer gibt: "as when a Father mourns / His Children, all in view destroyd at once" (760/1). Die Assoziation zwischen den zwei Vergleichen geht von "as thy Sons" über den rein erzählenden, zwei Zeilen langen Zwischenteil hinweg zu "as when a Father mourns". Aber im zweiten Vergleich sind die rhetorischen Züge des ersten abgelegt, und an ihre Stelle tritt eine große Schlichtheit der Sprache. Der schlechthin menschliche Schmerz eines seiner Kinder beraubten Vaters verdeutlicht erst die Tiefe von Adams Not. Der Vergleich überbietet den ersten an innerer Wahrheit und an ergreifender Wirkung. So viele Mittel bietet der Dichter auf, um die Tiefe der Adam überwältigenden Empfindungen vorstellbar zu machen. Die szenischen Vorgänge selbst sind fast unscheinbar. Adam ist von Verzweiflung ergriffen zu Boden gesunken, und der Engel richtet ihn sanft auf. Diese schlichte kleine Geste sagt aber deshalb so viel aus, weil dergleichen im Verlauf der Schlußbücher nur noch einmal, und zwar zu Beginn der Visionen, zu finden ist (XI, 421—22). Immer noch gebrochen und untröstlich, hat Adam zwar wieder soviel Kraft, um stehen zu können, aber er vermag kaum die Worte zu seiner Klage hervorzubringen. Schließlich bricht sein Jammer in heftigen, ja maßlosen Worten hervor: Er beklagt sein Los, unabwendbare Zukunft im voraus sehen und erleben zu müssen. Vergessen ist seine Einsicht in die eigene Schuld, vergessen auch seine Ergebung in den göttlichen Willen (372/3), vergessen auch seine Erkenntnis, daß friedliche Zeiten verderbt sein können (3. Vision). Dem ersten Gefühlsausbruch folgt eine Reflexion über den Unsegen des Vorauswissens der Zukunft; in seiner Verblendung verkennt er hier völlig den Sinn der Enthüllungen, die ihm Gott durch Michael zuteil werden läßt. Unmutig wendet er sich von dem Gedanken ab und verfällt in bittere Resignation (but that care now is past, 776). Nach dem, was er geschaut hat, gibt er nun auch die wenigen in der Arche treibenden Menschen und mit ihnen den einzigen Gerechten kleingläubig verloren. Damit zerrinnt seine Hoffnung auf eine Besserung M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

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Interpretation des XI. und XII. Buches

der Welt nach dem schlimmen Krieg vollends. In seiner Not klammert er sich an Michael mit der Bitte, ihm seine Fragen zu lösen. Ganz ohne Hoffnung und ohne Vertrauen in Gott möchte er dennoch, in einer sehr menschlichen Regung, wissen, ob dies wirklich das Ende der Menschheit sei. Die an diese dramatische Szene anschließende Rede Michaels scheint zunächst dem Prinzip der Wechselrede nicht zu entsprechen. Aber da Adams bittere Klagen unberechtigt sind, müssen sie zurückgewiesen und die verborgenen Zusammenhänge gedeutet werden. Die Länge der Rede ist aber nicht nur gedanklich, sondern auch formal gerechtfertigt, denn die breit angelegten Ausführungen bilden gleichzeitig ein wirksames Gegengewicht gegen die heftige Dramatik des voraufgegangenen Augenblicks. Die entscheidende Erklärung für die auffallende Länge ist aber, daß Milton sie als ein dramatisierendes Mittel anwendet: Die lange Unterbrechung des Wechselgespräches hat darum eine so hohe dramatische Wirkung, weil Michael den Blick Adams unmittelbar vor der Wendung zum Guten auf die dunklen Seiten des Gottesgerichtes hinlenkt, ihm aber die daran geknüpfte Verheißung vorenthält und deren Bericht hinauszögert. Wir können darum sagen, daß das Prinzip der Wechselrede auch am Schluß von XI nicht verlassen wird. Es zeigt sich vielmehr hier ein Phänomen, das wir schon verschiedentlich im Paradise Lost beobachtet haben, die Ausweitung des letzten Gliedes einer Kette. Die Darstellung der Flut ist die vorletzte und längste Vision in XI, und ihrem erweiterten Umfang entsprechend werden auch die Redepartien umfangreicher, ja diese erhalten noch die besondere Funktion, Spannung zu erzeugen. Das Gespräch wird demnach am Ende des Buches in der typischen Form einer Erweiterung gegen Schluß hin gerade als eine für das ganze Buch geltende Grundlage kenntlich gemacht und ausgenützt. M I C H A E L S REDEN UND DIE THEMATIK DES SCHLUSSTEILS DER VISIONEN

Man hat der großen Rede Michaels vorgeworfen, daß sie eine bloße Wiederholung der ersten Flutvision sei73. In Wirklichkeit gibt gerade Adams Reaktion Anlaß, bestimmte Teile des Visionsbildes ausdrücklich zu erläutern und zu ergänzen. Notwendig geworden ist die Rede durch die jäh hervorbrechende Verzweiflung Adams über den Fluch des Vorauswissens, über das wahre Gesicht eines scheinbar glücklichen Friedens und über den vermeintlichen Untergang der Menschheit. Deutlich lehnt sich die Rede im Aufbau an die Vision an. Michael beginnt mit einem Kommentar zu den Ausschweifungen der auf den 73

Gilbert, Compositum, S. 34 ff.

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Buch X I : Fünfte und sechste Vision

Krieg folgenden Zeit (787—807), stellt dann die Bedeutung der Noahgeschichte heraus (808—24) und eilt nach einem nur vier Zeilen langen Rückblick auf die Sintflut zu einer Betrachtung ihrer Folgen für das Paradies (829—38). Aus zwei Gründen geht Michael auf die Sittenlosigkeit der Zeiten ausführlich ein. Erstens ist Adam daran irre geworden, daß mit dem Frieden nicht das Glück bei den Menschen eingezogen ist, und zweitens muß er von der Gerechtigkeit des Strafgerichts überzeugt werden. Michael legt auch die Verderbnis nicht so ausschließlich als zügellose Begehrlichkeit aus, wie sie in der 5. Vision dargestellt ist. Die Liste der Laster ist viel größer: Gewalttat, Ruhmsucht und Reichtum führen Wollust, Stolz und Zwist in ihrem Gefolge. Damit gibt aber Michael nicht nur eine Schilderung von der Ausbreitung der Sündhaftigkeit unter den Menschen. Seine Absicht ist dabei, überall den Gründen der Ubelstände nachzugehen, um Adam begreiflich zu machen, daß die Abkehr von Gott die Wurzel aller Sünden ist. Das ausschweifende Leben der Sieger geht letztlich auf ihren gottlosen Ubermut zurück; die Unterworfenen haben wegen ihrer Unfrömmigkeit zu Recht ihre Freiheit und damit auch alle Tugend verloren. Milton ist nicht, wie meist angenommen wird, in erster Linie daran interessiert, die politischen und sozialen Verhältnisse solcher oder ähnlicher Zeiten zu geißeln; mit ihrer Hilfe illustriert er vielmehr nur, daß die Sünde alle Menschen jeden Standes und jeder Lebenslage erfaßt hat. Worauf es ihm ankommt, geht aus der Schlußformel hervor: So all shall tum degenerate, all deprav'd, Justice and Temperance, Truth and Faith forgot.

(XI, 806/7)

Ausmaß und Grad der Bosheit sind allein auf die Gottlosigkeit der Menschen zurückzuführen: auch diese lehrhafte Stelle sollte also zuerst im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit der gegebenen Situation beurteilt werden, denn dieser macht es deutlich, daß Miltons politisches Ethos sich aus seinem religiösen Ethos herleitet. Damit ist Adams Frage nach dem faulen Frieden beantwortet. Seiner zweiten kleingläubigen Frage nach dem Schicksal der Menschen weicht Michael noch aus. Weil Adam sich nicht an der Gestalt des Gottesstreiters aufgerichtet hat, wird Noah ihm jetzt mit großem Nachdruck als Vorbild hingestellt. Noahs Protest gegen seine Mitwelt wird nun stärker betont (808—16), und sogar der Inhalts einer Mahnreden wird mitgeteilt (812—16). Insbesondere weist Michael auf Noahs innere Festigkeit und Unerschrockenheit hin (809—12) 74 . Das Bild des einzigen 74

Dies steht ganz im Gegensatz zu Flavius Josephus, dem Milton in X I und XII gelegentlich folgt; dort wird Noahs Wegzug mit seiner Furcht vor den Verfolgern 10»

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Interpretation des X I . und XII. Buches

Gerechten hebt sich wie ein neues menschliches Idealbild gegen die Sündhaftigkeit der Welt ab. Daß Gott um seinetwillen einen Neuanfang mit den Menschen wagt, bleibt noch verhüllt; einfach das Exemplum des Noah soll hier wirken. Nach all den schlimmen Bildern des XI. Buches ist die Erscheinung Noahs ein Trost. Sie bedeutet, daß auch der gefallene Mensch ein gerechtes Leben führen und Würde haben kann. In der Gestalt und Rolle des im Widerstreit gegen die abtrünnige Welt für Gott zeugenden und leidenden Menschen sind "Patience and Heroic Martyrdom" dargestellt, in denen Milton die Überwindung eines weltlichen Heldentums sieht (IX, 32)76. Auf höherer Ebene ist das echte Heldentum in Abdiel verherrlicht erschienen. Henoch ist schon ein erstes Beispiel unter den Menschen gewesen. Aber weder er noch eine andere Einzelgestalt der Schlußbücher, gut oder böse, tritt mit der gleichen Lebendigkeit und Eindringlichkeit vor Adam wie Noah. Die großen Vorbilder in XII, Abraham und Moses, wirken innerhalb der Geschichtserzählung weniger plastisch; sie sind auch nicht mehr exemplarisch gesehen, sondern bereits als Präfigurationen Christi. Als Adam ganz zuletzt die Summe seiner Erkenntnisse zieht, fühlen wir uns noch einmal an Henoch und Noah erinnert: "suffering for Truths sake / Is fortitude to highest victorie" (XII, 569/70), nur daß nun der Gedanke an die Erlösung diesem Leiden des Frommen (faithful) 78 einen hier noch unvorstellbaren, vertieften Sinn gibt. Dennoch, solange Adam das Vorbild vor dem Hintergrund des allgemeinen Untergangs sieht, steht dessen Tröstlichkeit hinter der Strenge seiner Verpflichtung zurück. Adam weiß noch nichts von der Belohnung und Rettung Noahs. Auf seine besorgte Frage nach dem Schicksal des Menschengeschlechtes ist Michael nur in Andeutungen eingegangen, etwa daß die Arche auf Gottes Geheiß gebaut worden sei, um Noah und die Seinen zu retten (818—21), oder daß Noah "Select for life" in der Arche geborgen sei (823). Ehe die Vision von der sinkenden Flut ihm die vorenthaltene Antwort auf seine zweite Frage erteilt, soll Adam die Rettung Noahs nur nebenher und überschattet von den Greueln der Bösen und von den Schrecken der Sintflut vernehmen. begründet; vgl. Jüdische Altertümer, übs. H. Clementz (Halle, 1899), Buch I, 3, 1. Milton bewirkt aber mit der Betonung der Unangefochtenheit Noahs in diesem Augenblick den Kontrast zu dem verzagenden Adam. 75

76

Zu Miltons Begriff des echten Heldentums vgl. Mahood, S. 207 ff. und F. Kermode, "Milton's Hero", RES, N S 4 (1953). "faithful" wird in X I nicht gebraucht; Henoch und Noah heißen "just". Doch werden Abdiel (in V , VI) und in X I I Abraham und die Jünger Christi "faithful" genannt.

Buch XI : Fünfte und sechste Vision

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Im dritten Teil seiner Rede führt Michael die Bedeutung der Sintflut an einem Beispiel aus, das für Adam besonders eindrucksvoll ist, weil es mit seinem Erfahrungsbereich verknüpft ist. Es ist die Erzählung von der Wegschwemmung des Paradieses: then shall this Mount Of Paradise by might of Waves be moovd Out of his place, pushd by the horned floud, With all his verdure spoil'd, and Trees adrift Down the great River to the op'ning Gulf, And there take root an Iland salt and bare, The haunt of Seales and Ores, and Sea-mews clang. To teach thee that God attributes to place No sanctitie, if none be thither brought By Men who there frequent, or therein dwell. (XI, 829—38)

Der Gedanke, daß das Paradies mit der Flut verschwunden sei, ist alt; aber mit charakteristischer Prägnanz formt Milton diese Überlieferung hier für seinen Zweck aus. Das Paradies wird von mächtigen Wogen den Euphrat hinabgeschwemmt und bildet fortan eine öde, von riesigen Seetieren heimgesuchte Insel. An diese für Adam tief schmerzliche Vorstellung schließt Michael eine trockene Belehrung an (836—38)77. So ganz enthält er Adam die Tröstung vor und überläßt ihn seinen Zweifeln. Erst nachdem Adam selbst erkannt hat, daß Gott die Rettung der Menschen an die Gestalt des einzig Gerechten knüpft (874—78), kann sich Michaels letzte Rede von der Belehrung weg und der Verkündung zuwenden. Die beiden letzten Visionen haben die früheren an Umfang und an thematischer Bedeutung übertroffen und dafür neue Darstellungsmittel verwendet. Auch in Michaels letzter Rede stoßen wir auf neue Züge. Zum ersten Mal wird Adams Verständnis nicht zurechtgewiesen, sondern anerkannt: "Dextrously thou aim'st" (884). Denn im Vergleich zu dem bei der Entrückung Henochs gezeigten Verständnis hat Adam nun in der Tat einen Schritt voran getan. Er vermag Zusammenhang und Sinn der Erneuerung des Bundes um eines Gerechten willen zu erkennen (874—78); selbst für das Zeichen des Bogens in den Wolken findet er eine verständige Ausdeutung (879—83). Das ist die Wirkung der Katharsis, die sich im Verlauf von XI in ihm vollzogen hat. In der Zustimmung Michaels zu den Worten Adams am Schluß der Visionen läßt Milton die veränderte innere Situation deutlich werden. Er schafft damit auf einer Vorstufe eine Entsprechung zu dem am Ende der Unterweisung erreichten Verhältnis der beiden Gesprächspartner. Es ist also ein durchaus neuer Zug, wenn Michael Adam in " Tillyard, The Miltonic Setting, S. 57 hat den moralischen Nachsatz kritisiert, anstatt in ihm eine bewußte Klimax zu sehen.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

seiner Erkenntnis bestätigt, daß Noah Gott zur Versöhnung gestimmt hat. Aber Michael vertieft den Gedanken sofort: "Such grace shall one just Man find in his sight, / That he relents" (890/1). Wir horchen auf, denn plötzlich stellt sich hier ein Begriff wieder ein, dessen Fehlen die ganze Unterweisung in XI so düster und schwer gemacht hat: die Gnade. Wir erinnern uns des Wortes zu Beginn des Gespräches: "good with bad / Expect to hear, Supernal Grace contending / With sinfulness of Men (358—60). Das bedeutet, daß von jetzt an zum Thema der Gerechtigkeit das der Gnade hinzutreten und vor Adam enthüllt werden soll. Nachdem er in der vorigen Rede das Bild des Gerechten gezeichnet hat, spricht Michael nun allein von Gott und seinem neuen Bund mit den Menschen. Zwei weitere neue Züge in Michaels Rede liegen auf sprachlicher Ebene: die sprachliche Nähe zur biblischen Vorlage und die bedeutsame Verwendung des Futurs. Beide sind wenigstens kurz zu betrachten. Die Rede verdankt ihre Feierlichkeit der ganz biblischen Sprache, die hier plötzlich in jeder einzelnen Zeile nachklingt oder variiert wird78. Das Pathos der Rede steigt langsam an, und mit großer Kunst hat Milton den schönen Schlußspruch des jahwistischen Flutberichts ans Ende gerückt: Day and Night, Seed time and Harvest, Heat and hoary Frost Shall hold thir course, till fire purge all things new, Both Heav'n and Earth, wherein the just shall dwell.

(XI, 898—901)

Gen 8, 22 heißt es: "While the earth remaineth, seedtime and harvest, and cold and heat, and summer and winter, and day and night, shall not cease"; es ist die einzige Stelle, die schon in der Genesis in Versen geschrieben ist. Auch dort wird die Dauer der natürlichen Ordnungen doppelt zugesagt. Während in der Genesis aber die Wirkung der poetischen Fassung über der nachfolgenden umständlichen Darstellung der Priesterhandschrift verlorengeht (Gen 9, 11—17), benützt Milton sie für einen ersten Höhepunkt am Schluß des XI. Buches. Aber auch hier schließt Michaels Rede noch nicht. Mit dem Schlußwort (900/1) erweitert Michael das Versprechen Gottes für die geschichtliche Zeit noch um einen ersten Vorblick auf das Ende der Zeiten. Miltons Überbietung der Zusage, die Noah in der Genesis gemacht wird, ist ein Wink, der auf die Wiederherstellung der vollkommenen Ordnung Gottes vorausdeutet. Das dem zweiten Petrusbrief entnommene Bild vom 78

Für X I , 886—89 vgl. Gen 6, 6 f f . ; f ü r 890—98 vgl. Gen 9, 8 f f . ; für 898—900 vgl. Gen8, 2 2 ; für900/01 v g l . 2 Pet 3 , 6 f . — Zur Frage der jahwistischen und priesterschriftlichen Überlieferung der Genesis vgl. G . v o n Rad, Das erste Buch Mose, (Göttingen, 4 1956) S. 16ff., und speziell für die Sintflutdarstellung S. 94ff.

Buch X I : Fünfte und sechste Vision

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Weltbrand (2 Pet 3, 6), das hier in besonders angemessener Weise einen Gegensatz zur großen Flut bildet, begegnet uns auch an anderen Stellen des Paradise host79, und ist stets mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht verbunden. Doch muß Adams Verständnis für das Ziel der Geschichte Gottes mit den Menschen erst entwickelt werden. Deshalb geht Michael hier über Andeutungen noch nicht hinaus. DAS EMPHATISCHE FUTUR IN MICHAELS REDEN 8 0

Die Anlage der Schlußbücher erlaubt dem Dichter eine im Epos im allgemeinen nicht häufig mögliche Auflockerung des Zeitengebrauchs, da er sich bald in der vorgänglichen Schicht, bald in den Zukunftsdarstellungen bewegt und beide auf mannigfache Weise verknüpft. Ein freies Hinüberspielen von einem Tempus in ein anderes gehört zu den sprachlichen Mitteln, durch die Milton die Schlußbücher wirksam belebt. Dort wo die Verknüpfung der beiden Ebenen innerhalb des epischen Berichts (d. h. in Zwischenszenen oder durch Verba des Redens) geschieht, bleibt der Erzählerstandpunkt gewahrt und das Imperfekt wird gebraucht81. Aber da die Zwischenbemerkungen zurücktreten und die Gesprächssituation weitgehend in die Reden hineingenommen ist, wird ihre Verknüpfung mit den Visionen auch häufig innerhalb der Reden hergestellt, wo der Dichter nicht an den Erzählerstandpunkt gebunden ist. Er kann die Tempora darin frei variieren, gelegentlich um einer klanglichen oder rhythmischen Wirkung willen, aber auch, um eine gedankliche Hervorhebung zu erzielen. Wir können freilich nicht ohne weiteres aus dem Gebrauch der Tempora Schlüsse für stilistische Absichten Miltons ziehen. Wenn wir etwa Michaels Reden ansehen, so zeigt sich, daß die Tempora manchmal lebhaft wechseln, auch ohne daß wir auf ein anderes Phänomen als das Bedürfnis nach Abwechslung schließen können82. Trotzdem ist die Tatsache wert, festgehalten zu werden, zumal sie im XII. Buch, das zum großen Teil aus Michaels Reden besteht, an Bedeutung gewinnt. Wir dürfen auch nicht übersehen, daß wenigstens in X I die Nebensätze der Reden anfänglich je nach der Art ihrer Aussage überwiegend im Imperfekt oder im Präsens stehen83. Dadurch ist an den Stellen, deren Haupt79 80

81

82 83

III, 333ff.; XII, 547—549. Zu Form und Funktion des Futurs in Miltons Zeit vgl. C. B. Bradley, "'Shall' and 'Will' —• An Historical Study", Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 42 (1911), besonders S. 18 (The Modal Future). Ausnahmen in X I und X I I sind nur XI, 376 und XII, 5 (späterer Einschub), ferner XII, 606 (in genauer Entsprechung zu XI, 376). Das gleiche gilt für den Tempusgebrauch innerhalb der Visionen, s. S. 124f., 143. Hingegen wechseln in X I I auch in den Nebensätzen Imperfekt (Z. 81, 102, 103 u.ö.). Präsens (Z. 14,38,48 u.ö.) und Futur (Z. 24, 77,126,149,151,152,228 u.ö.)

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Interpretation des XI. und XII. Buches

sätze im Futur stehen, dies noch untermischt mit anderen Tempora, und die damit erzielte Wirkung der Belebtheit deckt sich nicht mit der intendierten Projektion der Aussage in die Zukunft. Auch tritt das Futur gelegentlich deshalb wenig in Erscheinung, weil es durch verkürzende Konstruktionen oder durch ein über mehrere Infinitive hin bestimmendes "shall" verdeckt ist. Der überwiegend lehrhaften und kommentierenden Ausrichtung von Michaels Reden entspricht auch ein didaktischer Ton. Nur in seltenen Augenblicken einer Gefühlssteigerung gebraucht Milton dafür das Futur. Es fällt auf, daß es dort erstmals stärker hervortritt, wo von dem falschen Ruhm wertend gehandelt wird (689 ff.). Gleichzeitig dient das Futur aber auch dazu, immer wieder daran zu erinnern, daß die Visionen Vorwegnahmen künftiger Geschehnisse sind (z. B. 458, 608, 613). Eine Trennung in ein "ethisches" und ein "temporales" Futur läßt sich jedoch nicht immer durchführen. So viel können wir aber sagen, daß das Futur, besonders dort, wo es gehäuft auftritt, einer Emphase dient. Es läßt sich außerdem beobachten, daß es nach einem ersten Impuls (471 ff.) zurückgeht und sich erst im Mittelteil der Visionen stärker durchzusetzen beginnt. Seine Wirkung in der Rede nach der 3. Vision (608 ff.) ist dadurch etwas geschwächt, daß es auch in Hauptsätzen mit anderen Tempora stark durchmischt ist. In der nächstfolgenden Stelle (689 ff.) wird es am Schluß durch eine andere emphatische Zeitenbildung ersetzt (did . . . receave, 707; vgl. damit Z. 885: doth. . . remit; beides stark akzentuiert). Aber in der großen Rede nach der 5. Vision (787 ff.) herrscht das Futur ausnahmslos und wird auch weniger durch imperfektivische oder andere kurze Nebensätze unterbrochen. Es ist nicht zu leugnen, daß das gehäufte Futur der Rede Michaels nach der 5. Vision, die schon ihrer Länge ein großes Gewicht verdankt, einen erhöhten Nachdruck verleiht. Sie ist in jedem ihrer drei Teile Adam zugewandt und die Strenge, mit der ihm der Ursprung aller Verderbnis eingeprägt, der Ernst, mit dem ihm das Vorbild aufgerichtet und die Folgen der Flut für das Paradies eingeschärft werden, erfahren durch das unermüdlich gebrauchte Futur eine Steigerung. Der sehr getragene, gedehnte Ton der Rede wird zugleich Michaels Absicht gerecht, Adam hinzuhalten. In der letzten und kürzeren Rede wechseln die Tempora wieder freier, entsprechend der schon beobachteten Entspannung gegen Schluß. Aber wenn auch im ganzen mit anderen Tempora gemischt, findet sich das Futur doch an den betonten Stellen und insbesondere in den Schlußzeilen wieder ein.

Buch X I : Fünfte und sechste Vision

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So bekommen wir an einem Einzelphänomen wie dem Tempusgebrauch etwas von der Sprachkraft Miltons zu spüren. Der prophetische Ton wird gegen Schluß des XI. Buches gerade auch durch die bevorzugte Verwendung des Futurs gestützt. Auch wenn wir nicht annehmen können, daß dahinter in jedem Fall ein Akt des Bewußtseins steht, ist seine Wirkung doch wahrzunehmen. ZUSAMMENFASSENDE BETRACHTUNG ZUM SCHLUSSTEIL DER VISIONEN

Die Grundform der mehrteiligen Vision des Mittelteils bleibt im Schlußteil der Visionen erhalten, aber sie wird nun dazu verwendet, die Phasen einer einzigen fortlaufenden Geschichte zu vergegenwärtigen. Daraus folgt eine mehr episch-erzählende Gestaltung der Visionen. Die Sündhaftigkeit ist schon in der 3. und 4. Vision veranschaulicht worden, und so genügen jetzt summarische, weitgehend begriffliche Angaben über die Vorgeschichte zur Sintflut. Diese Raffung trägt dazu bei, die zwei Hauptmomente des Schlußteils merklich herauszuheben: das Strafgericht Gottes und die Geschichte Noahs. Das Gewicht, das diesen beiden Themen zukommt, macht uns auch die auffallende Länge von Michaels großer Rede zwischen der 5. und 6. Vision verständlich, da sie die Aufgabe hat, diese in Adams Vorstellung zu klären und zu festigen. Während im Mittelteil die Menschheit scheinbar ganz ihrem schlimmen Treiben überlassen worden und Gottes Handeln erst im letzten Augenblick plötzlich sichtbar geworden ist, bildet es im Schlußteil den eigentlichen Gegenstand der Visionen. Der göttlichen Machtvollkommenheit entspricht die Großartigkeit der Flutdarstellung; in ihr drückt Milton die Strenge der göttlichen Gerechtigkeit durch die Gewalt des Naturschauspiels aus. Aber der Wille Gottes, aus Bösem stets Gutes zu schaffen, wendet auch diese Katastrophe zum Heil für die Menschen. Denn wie schon die Henochgeschichte angedeutet hat, sind die Menschen nicht alle verderbt; die freie und mutige Entscheidung des einzelnen für Gott wird nun zur Grundlage seines neuen Bundes mit ihnen. Die Lebendigkeit und Überzeugungskraft des Mannes Noah ist ein wesentliches Element nicht nur der dichterischen Gestaltung, sondern auch der Argumentation Miltons im Schlußteil. Die Verantwortlichkeit des einzelnen und Gottes unmittelbares Verhältnis zu ihm ist einer der Hauptpunkte in Miltons großer Rechtfertigung Gottes. In dieser noch halb mythischen und doch schon ganz im menschlichen Lebenskampf stehenden Erscheinung hat Milton noch einmal ausgeführt, was auf der Ebene der himmlischen Wesen in Abdiel verwirklicht ist. Daß in der gefallenen Menschheit eine solche Vorbildlichkeit überhaupt noch möglich ist, bedeutet eine erste Ermutigung und Tröstung Adams.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Aber die Szenenfolge des Schlußteils verläuft so, daß Adam diese Möglichkeit noch gar nicht erkennt. Das Moment der Spannung und des jähen Umschlags zeigt sich zwar schon im Zusammenhang mit der 3. Vision (der trügerische Schein), aber erst hier bildet Milton es zu einem Träger der Komposition aus. Genau an dem Punkt, wo Adam ein Weiterleben der Menschheit für unmöglich hält, verweilt die Darstellung hartnäckig. In einer dramatischen kleinen Szene wird Adams innere Not und Schwäche gezeigt, und alles Gewicht wird mit einem Mal auf die Handlungsebene verlegt. Die Enthüllung von Gottes gnädigen Absichten wird jedoch dem Kleingläubigen so lange vorenthalten, bis er über die Gerechtigkeit des Gerichtes und über die Rolle Noahs als vorbildlicher Gottes Streiter belehrt ist. Selbst das Absinken der Gewässer in der 6. Vision vollzieht sich mit großer Langsamkeit, und das Wunder der Errettung Noahs wird erst ganz zuletzt offenbar. Die bewußt hinausgezögerte Entspannung ist aber gleichzeitig dazu angetan, das Ausklingen der zwei letzten Visionen in einem friedvollen Schlußbild zur Wirkung zu bringen. Der in Buch XI zurückgelegte Weg läßt sich an einem Vergleich der einleitenden Himmelsszene mit der Schlußsituation ermessen. Gott gewährt die Tröstung Adams (XI, 108—17), aber erst nach einer höchst bewegten Folge von Bildern und Gesprächen wird sie ihm zuteil. Die große Vielfalt der Visionsbilder und die immer neue Abwandlung ihrer Darbietung droht sogar das Buch auseinanderfallen zu lassen. Aber diesem Eindruck wirken zwei Dinge entgegen. Einmal bleibt die Adamshandlung dauernd gegenwärtig; die Kontinuität auf der Handlungsebene ist also gegeben. Wichtiger ist aber die trotz aller Vielfalt der Darbietung ebenso konstante Gegenwärtigkeit des Hauptthemas. Der Bogen spannt sich von der Himmelsszene am Anfang des Buches zu der Prophetie der letzten Zeilen. In jener wird das Hauptthema so verankert, daß es den tragenden Grund für die folgenden Partien bilden kann. Gott ist es, der Michael zu seinem Tun ermächtigt und erleuchtet. Wenn auch in dem Ringen zwischen Gnade und Sündhaftigkeit Gottes Wirken nicht immer unmittelbar sichtbar wird, so triumphiert es doch zuletzt in der Sintflut und der Bewahrung Noahs.

RÜCKBLICK AUF BUCH XI

Da die Schlußbücher, wie wir festgestellt haben, als eine Einheit angelegt sind, können wir am Ende von Buch XI nur Vinter gewissen Einschränkungen die Ergebnisse unserer Interpretation zusammentragen. Wir heben darum vor allem diejenigen Punkte hervor, auf denen

Buch XI: Rückblick

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Buch XII weiter aufbaut 84 . Eine der wesentlichen Voraussetzungen für die gestraffte und zielgerichtete Darstellung in XII ist die Errichtung von Gesprächsszenen in XI, auf deren Grundlage später auch lange Redepartien lebendig wirken können. Ein zweites wichtiges Moment ist die Vorausdeutung auf Gottes Gnadenwillen, die in XI langsam einsetzt und in einem ersten vorläufigen Höhepunkt gipfelt. Zwei Bewegungen können wir in XI verfolgen, im ersten Teil eine fallende, die von der absoluten Welt der Himmelsszene zu der überleitenden Paradiesesszene führt, wo die gefallene Natur des Menschen in ihrer Verfangenheit gezeigt wird, und die steigende des zweiten Teils, die mitten in der Welt der fortwirkenden Sünde die Möglichkeit einer Rettung zu enthüllen beginnt. In dem Maße, in dem die Sünde überhandnimmt, wird im Widerstand zu ihr die Gestalt des Gerechten herausgearbeitet. Die Aufrichtung eines in der gottlosen Menschheit immer noch möglichen idealen Vorbildes, dem zuliebe Gott sich mit ihr versöhnt, ist ein entscheidender Beitrag zur Rechtfertigung Gottes und der erste Schritt zu einer Tröstung Adams. In der Rettung des Gerechten kommt gegen Ende von XI das Thema der Gnade, die aus dem Bösen Gutes schafft, zum Durchbruch; von hier nimmt die aufsteigende Bewegung des XII. Buches ihren Ausgang. Schließlich hat XI einige Mittel zur Belebung der Darstellung ausgebildet, die in XII weiterwirken. Wir sehen, daß überall in XI das Prinzip der Abwechslung im Spiele ist, das sich manchmal nur in feinen Schattierungen, häufiger aber in betonten Kontrastierungen äußert. Einige Beispiele seien genannt: Adam hat kaum zu neuer Zuversicht hingefunden, da sinkt er unter Gottes Bannspruch erneut zusammen; die Darstellungen von Tod und Lebensfreude folgen hart aufeinander; im Tiefpunkt des Untergangs ist schon die Erneuerung des Menschengeschlechts beschlossen. Auch in der Darbietung der Visionen gibt es große Unterschiede: knappste dramatische Handlung, Szenenreihung, episch breite Schaubilder. Die Lebendigkeit und Buntheit der Visionsbilder schafft ein unentbehrliches Gegengewicht zu der Lehrhaftigkeit des Buches, und Adams Auseinandersetzung mit beiden Elementen gibt ihnen ein vertieftes inneres Leben. Nachdem Milton zunächst wie am Modell das Visionsbild in reiner Form eingeführt hat, setzt sich in zunehmendem Maße seine Episierung durch, die in manchen Zügen auf die Erzählung des XII. Buches vorausweist. Auch die Wendung vom überwiegend didaktischen zum prophetischen Ton bereitet sich, 84

S. 78ff. haben wir gezeigt, daß die Verlegung des Geschehens ins Innere schon in XI und X begonnen hat; daher brauchen wir auf diese den beiden Schlußbüchern gemeinsame Grundlage hier nicht mehr einzugehen.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

wie wir an dem Pathos der letzten Reden Michaels zeigen konnten, bereits in XI vor. Freilich begegnen wir auch Zügen, die in XII nicht mehr oder nur schwächer in Erscheinung treten. Wie in keinem anderen Teil der Dichtung wird hier die Fülle der äußeren und inneren Welt des Menschen geschildert und gedeutet. Dafür werden die verschiedensten Motive — allegorische, biblische, klassische — verwendet. Das vorwiegend additive Verfahren, die Reihung von typischen menschlichen Situationen in den Visionen dient dazu, die Vielfalt der Verirrungen aufzuzeigen. Der Gedanke an eine geschichtliche Kontinuität darf dabei aus zwei Gründen zurücktreten: sie ist für die mythische Zeit der Menschheit nicht erforderlich, und ihr Wegfall entspricht der Absicht Michaels, Adam durch Exempla zur Selbstbesinnung zu bringen und auf die Heilsgeschichte vorzubereiten.

Interpretation des XII. Buches Zur Beurteilung des XII. Buches Buch XII hat unter den neueren Milton-Kritikern von allen Büchern des Paradise Lost am meisten Ablehnung gefunden, wobei bald mehr der Gehalt, bald mehr die Darstellung getadelt wurde 1 . Lassen wir für einen Augenblick die in diesem Zusammenhang meist heraufbeschworene Vorstellung des gealterten, enttäuschten und verbitterten Puritaners Milton hinter uns und vergegenwärtigen wir uns ein anderes Bild. Dem Dichter, der Gottes Größe in der Himmelsschlacht dramatisch verherrlicht und dann die Schöpfung als eine noch größere Tat Gottes gefeiert hat, muß die Aufgabe, Gott als den Retter der gefallenen Menschheit aufzuzeigen, ebenso großartig, so bedeutend und verlockend erschienen sein wie die, die er sich in Buch VI und VII gestellt hat. Denn der Schluß des Paradise Lost preist Gott durch die Heilsgeschichte und das Erlösungswerk. Milton läßt Adam sagen, die Erlösung sei ein noch wunderbareres Werk als die Schöpfung; in dieser habe Gott Licht aus dem Dunkel, in seinem Heilsplan aber aus Bösem Gutes geschaffen (XII, 469—73). Milton sieht die drei Akte Gottes, die Vernichtung Satans, die Erschaffung der Welt und die Erlösung der Menschen, in einer Stufung. Wie der zweite Akt den ersten überbietet, weil er nicht zerstört, sondern erschafft (VII, 606/7), so ist die Erlösung die noch höhere Stufe, weil sie nicht dem materiellen, sondern dem geistigen Licht zum Siege verhilft2. Aber in der Darstellung ist nun nicht etwa der eine Akt ein eindrucksvolleres und gewaltigeres Schauspiel als der voraufgehende. Die Stufenfolge ist vielmehr genau entgegengesetzt. Der erste Akt erscheint als die gewaltigste Handlung, der letzte verläuft am stillsten und geheimnisvollsten. Die Himmelsschlacht entwickelt die stärkste Dynamik und eine Steigerung ins Heroische; sie atmet homerische Luft. Der Schöp1

2

So von Grierson, Milton and Wordsworth, S. 120f. ; Tillyard, Milton, S. 291; Lewis, S. 125; Rajan, 'Paradise Lost', S. 78ff. und S. 158 (dort Literaturnachweise). Positiv urteilt dagegen C. A. Moore, "The Conclusion of 'Paradise Lost' ", PMLA, 36 (1921). Vgl. S. 30 und 76.

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Inteipretation des XI. und XII. Buches

fungsbericht erweitert die Verse der Genesis, um in epischer Breite ein Bild des geschöpf liehen Daseins in all seiner Schönheit zu entwerfen. Gott triumphiert das eine Mal als Sieger, das andere Mal als Schöpfer. Die dritte Tat Gottes, die Erlösung, ist ein neuer Sieg, aber auch eine neue Schöpfung. Indem das Böse überwunden ist, wird der neue Mensch geschaffen. Aber wo wird sie sichtbar, wie ist sie darstellbar, wenn sie sich dort im Verborgenen abspielt und zugleich immer noch aussteht ? Denn die Erlösung ist ein Geheimnis, in dessen Verheißung der Dichter selbst auch steht. Hier liegt für ihn die Schwierigkeit, aber auch der Reiz der Aufgabe, die Rechtfertigung der Wege Gottes in den Schlußbüchern zu vollenden. Der Gegenstand, an dem Milton sie in dem ausführlichen ersten Teil des XII. Buches darstellt, ist die Geschichte des auserwählten jüdischen Volkes von Abraham bis zum Kommen Christi. Er folgt dabei der schon in frühester christlicher Zeit üblichen Auffassung, daß das Alte Testament auf die Erlösung vorausweist. Für den zweiten Teil greift er auf die Schriften des Neuen Testaments zurück, um das Erscheinen und die Wiederkunft Christi zu verkünden. Neben den Geschichtsbericht und die Lehre tritt als drittes Element die Prophetie, die, besonders in den zwei eschatologischen Vorblicken, das Endziel Gottes enthüllt. Das heißt aber nichts anderes, als daß Milton sich für die Darstellung in XII überall auf die Offenbarung Gottes in der Schrift beruft und dem Schlußbuch durch seinen Wahrheitsanspruch ein ungeheures Gewicht verleiht. So muß am Schluß der Dichtung auf der einen Seite das Hauptthema zu Ende geführt werden. Aber auch die Komposition des Schlusses stellt besondere Forderungen an einen Dichter, der sich in die große epische Tradition stellt. Der Schluß muß in seiner Anlage und im Ton ein Epos als ein geschlossenes Ganzes erweisen, damit der Leser durch den Rückblick ebenso wie durch den Ausblick befriedigt wird. Kein anderer epischer Dichter hat am Schluß seiner Dichtung etwas Ähnliches unternommen wie Milton, der es wagt, in eine neue Dimension vorzudringen und den Höhepunkt, auf den die Dichtung ausgerichtet ist, in die Prophetie zu verlegen. Kein anderer hat für seinen Schlußgesang eine ganz neue Tonlage gewählt. Nur Milton stimmt seinen Schluß auf Besinnung und innerste Befriedung ab. Er erreicht auf diese Weise einen völligen Einklang zwischen der Unterweisung und Tröstung Adams und seiner Austreibung aus dem Paradies. Ehe Adam das Paradies verläßt, hat ihm Michael das zukünftige neue Paradies am Ende der Zeiten verheißen und ihn das Paradies in seinem eigenen Inneren zu erkennen gelehrt. So entläßt Milton den Leser mit einer unvergleichlichen Szene, die zudem die Deutung seiner ganzen Dichtung enthält. Die rund sechzig Zeilen der Schlußszene sind vielleicht die größte dichterische Leistung des Paradise

Buch XII: Beurteilung und Verhältnis zu XI

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Lost. Selbst die unfreundlichsten Kritiker des Schlußbuches haben sie immer bewundert. Die beiden Miltonforscher, die den zwei Schlußbüchern in einer Einzelstudie nachgegegangen sind, E.N.S. Thompson und F. T. Prince, sowie neuerlich B. A. Wright in Milton's 'Paradise Lost', sind denn auch von der Frage nach der dichterischen Aufgabe und Leistung ausgegangen und haben von dem persönlichen Schicksal des Dichters abgesehen. Auch die folgende Interpretation des XII. Buches fragt nicht danach, sondern nach der dichterischen Absicht und Verwirklichung und stellt ein Werturteil zunächst zurück 3 . Das Verhältnis des XII. %um XI. Buch Da Buch XII ursprünglich eine Einheit mit XI gebildet hat und seine Verbundenheit mit ihm noch jetzt spürbar ist, erstaunt es nicht, daß die Bücher im Aufbau aufeinander angewiesen sind und die strukturelle Geschlossenheit des einzelnen Buchs dadurch etwas beeinträchtigt wird. So hängt die kurze Schlußszene des XII. Buches von XI/1 ab und bildet mit diesem den Rahmen für XI/2 und den Hauptteil von XII. Die Rettung Noahs am Schluß von XI führt auf einen ersten Höhepunkt zu, dessen vorwegnehmende Bedeutung in XII immer deutlicher wird. Obwohl XII auf XI aufbaut und mit ihm zusammengehört, hat es seinen eigenen Charakter. Der Übergang von Visionsbildern zur fortlaufenden Rede ist nur das äußere Kennzeichen für eine innere Umstellung. Die Belehrung durch Exempla wird abgelöst von einer anders gerichteten Unterweisung. Geschichtsbericht, dogmatische Belehrung und Verheißung treten an ihre Stelle. Zwar sind die geschichtlichen Zusammenhänge auch in XI vorhanden, ebenso wie sich auch durchaus lehrhafte und sogar prophetische Züge darin finden. Aber XI enthält keine Verkündigung. Die Belehrung in XI ist in überwiegendem Maße allgemein ethischen, nicht dogmatischen Inhalts, und für die Prophetie bleibt es bei den Andeutungen der Schlußworte. Wir haben beobachtet, daß die Gnade Gottes in der Vorstellungswelt von XI/2 noch kein lebendiger Begriff ist und nur in vereinzelten Momenten als eine Tatsache in Erscheinung tritt. Das eigentliche Anliegen von XII ist dagegen die Verheißung. Darum wird nun das ganze Gewicht auf den heilsgeschichtlichen und dogmatischen Gegenstand verlagert. Daß die Darbietung von Visionen zu Lehrreden überwechselt, ist eine von daher bedingte Notwendigkeit. Hoffnung und Glauben durch die Enthüllung von Gottes Gnade in Adam zu wecken 3

Ebenso verfährt Madsen, "The Idea of Nature in Milton's Poetry", passim.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

und zu stärken, ist das Ziel des Schlußbuches. Buch XI, das den Gedanken der Sünde Adams und der Gerechtigkeit Gottes herausgearbeitet hat, stellt sich somit als seine Vorstufe heraus. Aufgliederung

von Buch XII

A 1—104: Die Nimrod-Episode B 105—371: Der Geschichtsbericht von Abraham bis Christi Geburt C 372—587: Die Botschaft von der Erlösung D 588—649: Die Schlußszene Bei der Aufgliederung von XII stoßen wir auf eine Schwierigkeit. Die einzelnen Reden Michaels, die ja die Hauptbestandteile des Buches ausmachen, geben keinen befriedigenden Ausgangspunkt dafür ab 4 . Wenn wir dem Aufbau die Abfolge von Michaels Reden zugrunde legen, entstehen nicht nur äußerlich allzu ungleiche Partien; es würden vor allem die inneren Zusammenhänge verloren gehen. Der gedankliche und inhaltliche Aufbau überschneidet sich mit den Reden Michaels. Die erste merkwürdige Tatsache ist, daß sich die Episode von Nimrod und vom Turmbau zu Babel, deren thematische Einheit leicht zu erkennen ist, über Michaels erste Rede und Adams Einwurf bis in die zweite Rede Michaels hinzieht: d. h., sie greift über den Redewechsel zwischen Michael und Adam hinweg und ist erst abgeschlossen, wenn Adam zur rechten Einsicht darüber gebracht worden ist. Die Abrundung der Nimrod-Episode steht der Darstellungstechnik der Visionen nahe, mit denen auch ihr Gegenstand noch verwandt ist. Ferner stellen wir fest: Mit Zeile 269 ist Michaels große, zweite Rede zwar am Ende, aber der Gedanke des heilsgeschichtlichen Charakters der Geschichte von Abraham und Moses ist nicht geklärt, ehe Michael zu Beginn seiner dritten Rede die Beziehung zwischen Gesetz und Erlösung für Adam dargelegt hat (285—314). Erst nach 45 Zeilen setzt Michael seinen in Zeile 269 unterbrochenen Bericht wieder fort und führt ihn im zweiten, größeren Teil dieser Rede bis zur Geburt des Messias (371), die nun allerdings einen tiefen Einschnitt, ja den eigentlichen Wendepunkt bedeutet. 4

Überblick über die Reden Michaels in XII: 1. 1—62: Überleitung und Nimrod-Geschichte 2. 79—269: Erläuterung zur Nimrod-Geschichte; Geschichtsbericht von Abraham bis Moses 3. 285—371: Erläuterung der Gesetze; Geschichtsbericht bis zu Christi Geburt 4. 386—465: Bericht und Deutung des Erlösungswerks I (Erlöser-Rede) 5. 485—551: Bericht und Deutung des Erlösungswerks II (Heilig-Geist-Rede) 6. 574—605: Schlußbetrachtung.

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Buch XII: Aufgliederung

Bis hierher überschneiden sich also die Redeeinheiten mit dem gedanklichen Aufbau. Der Grund ist aufschlußreich: es geht Milton darum, daß Adams Erkenntnis an den Mitteilungen Michaels wächst. Während Michaels Bericht von der Flut bis zu Christi Geburt die eine fortlaufende Linie darstellt, verfolgt eine andere Linie den inneren Weg Adams. Die Knotenpunkte, die sich aus den Überschneidungen beider Linien immer wieder ergeben, sind jeweils die Wechselgespräche. An diesen Gesprächen läßt sich der innere Aufbau des Buches mit großer Eindrücklichkeit ablesen, aber nicht allein an der Reihenfolge von Michaels Reden 5 . Diese Einteilung bedarf jedoch einer Einschränkung: gegen Schluß, besonders für das 4. und 5. Gespräch, fallen die Zäsuren in Michaels Reden in Wirklichkeit kaum mehr ins Gewicht. Immerhin ist es für die Rolle, die den Gesprächen in XII zukommt, bedeutsam, daß sie sich als sinnvolle Einheiten und ausgewogene Bauteile erweisen. Wir haben die Aufgliederung auf der vorigen Seite nach den klar erkennbaren Hauptgegenständen des XII. Buches vorgenommen und haben damit den Formeinheiten des Wechselgesprächs bereits Rechnung getragen. Wenn wir das "argument" des Buches dazu heranziehen, so zeigt sich, soweit sich aus seinem Text eine Einteilung entnehmen läßt, daß sie mit der unseren übereinstimmt: "The Angel Michael continues from the Flood to relate what shall succeed (A); then, in the mention of Abraham, comes by degrees to explain, who that Seed of the Woman shall be, which was promised to Adam and Eve in the Fall (B); his Incarnation, Death, Resurrection and Ascention; the state of the Church till his second Coming (C) . . ."

Die zweite Hälfte des "argument" wendet sich ganz den Einzelheiten der Schlußszene zu (D). 5

Uberblick über die Gesprächseinheiten in XII: 1. (A) 1—104: Nimrod — Adams Entrüstung — Verweis Michaels 2. (B) 105—314: Von Abraham bis Moses — Adams Frage nach den Gesetzen — Michaels Deutung der Gesetze 3. 315—410: Von Moses bis Christus — Adams Mißverständnis — Michaels Erklärung des Erlösungswerks 4. (C) 411—497: Der Erlöserbericht — Adams Frage nach den Gläubigen — Antwort Michaels 5. 497—587: Der Bericht über den Heiligen Geist — Adams Erkenntnis — Michaels Bestätigung 6. (D) 588 ff: Ausklang (Schlußszene) S. auch S. 232ff

M o r i t z - S i c b e c k , Paradise Lost

il

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Interpretation des XI. und XII. Buches A. DIE NIMROD-EPISODE (XII, 1—104)

STELLUNG UND AUFBAU DER NIMROD-EPISODE

Dem "argument" zu XII verdanken wir auch eine Stütze für unsere Auffassung, daß die Nimrod-Episode eine Sonderstellung in XII einnimmt. "Michael continues from the Flood to relate what shall succed; t h e n in the mention of A b r a h a m , comes by degrees to explain, who that Seed of the Woman shall be".

Das heißt doch sehr deutlich, daß die Nimrod-Geschichte außerhalb der Heilsgeschichte steht. Sie gehört auch theologisch gesehen noch der Vorgeschichte an 6 . Aber für unsere Betrachtung ist wichtiger, daß sie sich in ihrem Aufbau, ihrer Darbietung wie vor allem in ihrer Absicht von den Formen, Darbietungsweisen und Tendenzen der Visionen kaum unterscheidet. Das Bild (Glückliche Zeiten — Nimrod — Turmbau) ist hier nicht sehr viel merklicher in Rede umgesetzt als in den Visionen, wo wir bereits eine zunehmende Episierung feststellen konnten. Der Anfang von Michaels Rede wirft einen Blick zurück auf die letzte Vision (6/7) und bereitet Adam darauf vor, daß von nun an nicht mehr Bilder, sondern Berichte die Zukunft enthüllen werden (8—12). Den Bericht von der guten Zeit (13—24) löst die Schilderung Nimrods und seiner Taten ab (24—37), die in dem frevelhaften Unternehmen des Turmbaus einen Höhepunkt erreichen (38—47). Da setzt die Gegenhandlung Gottes ein, die den Übermut der Menschen mit der Sprachverwirrung bestraft (48—62). Adam ergreift das Wort, entrüstet über Nimrods Vermessenheit, die sich gegen Menschen und Gott richtet (63—78). Die Folge ist, daß ihn Michael mit Entschiedenheit an den Ursprung der Hybris, den Sündenfall, erinnern muß (79—104). In diesen rund 100 Versen entwickelt der Dichter eine Gesprächsszene von der Lebhaftigkeit und Geschlossenheit, die wir aus dem XI. Buch kennen. Die Struktur der Gesprächsszene ist die aller vorangegangenen, speziell derer, in denen die Rede nur einmal gewechselt wurde. Sogar die zusammenfassenden Überleitungszeilen, die in XI wiederholt vorkommen, treffen wir hier wieder an (61/2). Auch die Art und Weise, wie sich vor Adam erst ein Zustandsbild auftut, aus dem dann eine Einzelfigur heraustritt, und wie es von daher zu Vorgängen und schließlich zu einer echten Handlung kommt, in der die Episode gipfelt — das sind Züge, die wir in allen Visionen in jeweils verschiedener Abwandlung vorgefunden haben. So ist z. B. das erste Flutbild von einem Gesamtbild der Sittenverderbnis zur Schilderung von Noahs Wirken und von 6

G. von Rad, S. 127.

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Buch XII: Nimrod-Episode

da zur Konzentration auf die dramatische Gegenhandlung fortgeschritten. Aber ein Vergleich des Aufbaus läßt sich auch mit den anderen mehrteiligen Visionen durchführen. Daß auch die Unterschiede in der Darbietung geringer sind, als die Umstellung von Visionen auf Reden erwarten läßt, soll nun an einigen Beispielen gezeigt werden. V E R G L E I C H DER D A R S T E L L U N G S W E I S E VON V I S I O N UND B E R I C H T

Den einen Umstand, daß das Futur einen feierlichen, getragenen Ton mit sich bringt, der den Charakter der Prophetie unterstreicht, haben wir an Michaels Rede nach der 1. Flutvision als ein Kennzeichen des Berichts gegenüber der Vision erkannt. Das Futur dominiert naturgemäß in allen Reden Michaels in X I I und weicht nur hin und wieder einem auflockernden Präsens. Imperfekte erscheinen mit ganz geringen Ausnahmen nur noch in den Nebensätzen. Der Nimrod-Bericht setzt mit dem Futur ein, geht aber in Zeile 42, wo sich die Handlung konkretisiert (Turmbau), zum Präsens über und erreicht dadurch eine erhöhte Lebendigkeit. Zum Schluß findet sich sogar zweimal ein Imperfekt im Hauptsatz (great laughter was in Heav'n, 59; thus was the building left, 61). Der Wechsel der Tempora mag kein gewichtiges Argument sein, aber er zeigt doch, wie sich hier der gleiche Gebrauch der Zeiten, der in den Visionen üblich ist, mit der im Bericht sich durchsetzenden lebhaften Bildvorstellung in die Rede einschleicht. Eine Parallele dazu findet sich in Michaels späteren Reden nicht mehr. Dazu kommt noch ein zweites Vergleichsmoment. Es ist die Vorstellung von einem längeren Zeitabschnitt, die in der Rede leichter erregt werden kann, aber auch in den Visionen gelegentlich schon impliziert worden ist. Die Darstellung der Gott wohlgefälligen Zeit (XII, 13—24) erinnert an das Bild von den Hirten, Musikanten und Handwerkern (3. Vision). Auch dort werden länger andauernde allgemeine Zustände, nicht einmalige Situationen, vergegenwärtigt. Aber sie werden in der 3. Vision aus dem Raum und aus der Schau entwickelt, ohne Hinweis auf eine zeitliche Erstreckung, während sie jetzt mühelos in einen kontinuierlichen Ablauf eingeordnet werden können. Reine Zuständlichkeit kann von einem 'pageant' ebenso gut wie von der Rede erfaßt werden. Grundsätzlich wirkt ihre Darstellung in den Visionen nicht anschaulicher als in der Rede. In auffallender Weise unterscheidet sich z. B. die Vision der Sittenverderbnis vor der Flut (5. Vision, X I , IIA—18) von der einen wie von der anderen der eben genannten Darstellungsweisen. Der starken Verkürzung wegen entfällt in diesem Teil der Vision jede Vorstellung eines räumlichen Rahmens, zugleich aber auch die der Zeit, und die Zustände werden nur 11*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

durch begriffliche Bezeichnungen erfaßt. Halten wir XII, 18—24 daneben, so zeigt sich, daß die Wirkung des in der Rede evozierten Bildes dem der Vision an Sinnfälligkeit nicht nachzustehen braucht. Es fällt uns sogar auf, um wieviel lebendiger die Schilderung der patriarchalischen Zeiten ist als die der sittenlosen. Diese arbeitet mit Substantiven (jollitie, game, luxurie, riot, usw., XI, 714ff.), jene zählt Tätigkeiten auf, d. h. sie stützt sich auf Verben (labouring, reaping, sacrificing, XII, 18 ff.). Diese wiederholt, hämmert ein, verkleidet ein moralisches Werturteil, dessen Emphase noch durch die paarweise Zuordnung der Begriffe erhöht wird. Dagegen entwirft die zum Vergleich herangezogene Stelle in XII ein Bild von Sitten und Gebräuchen, in denen menschliche Gebärden sprechen, Tätigkeiten entfaltet werden und eine füllige Gegenständlichkeit beschworen wird. Der Grund für dieses Verhältnis ist aufschlußreich. In der ersten Stelle ist aus der äußersten Verknappung und Drastik Miltons Unwille über die Zustände, in der zweiten sein Wohlgefallen an der ersten noachitischen Zeit aus der klassischen Ausgewogenheit und Bildkräftigkeit abzulesen. Die Darstellung der sittenlosen Zeit ist ganz vom Gedanken her konzipiert, die der gesegneten Zeit von der Anschauung — d. h. umgekehrt als wir nach ihrem Vorkommen in Vision und Rede erwarten. Die stets wertende Haltung des Dichters und die daraus sich ergebende Funktion der Einzelheiten bestimmt ihren Darstellungscharakter viel entscheidender als ihr Auftreten in Vision oder Rede. Vergleichen wir nun auch noch die Personeneinführung in Vision und Bericht, und stellen wir Noahs Auftreten dem Nimrods gegenüber, so werden die bisherigen Beobachtungen noch ergänzt, und das Ergebnis bestätigt sich. Noahs Tun wird lebhaft und mit Hilfe vieler Verben erzählt (declar'd, testifi'd, frequented, preachd, usw., XI, 720 ff.) und der Bau der Arche in der gleichen Weise dargestellt (hewing, began to build, Smeard round with Pitch, usw., 728ff.). Nimrod hingegen wird charakterisiert, und in der Charakterisierung wird ein Urteil über ihn gefällt. Die Ausführlichkeit der Nimrodstelle dient der Erläuterung, nicht der Anschaulichkeit. Wir finden zahlreiche Adjektive, die alle unanschaulich und wertend sind (proud, ambitious, not content; Dominion undeserv'd, hostile snare, Empire tyrannous, XII, 25 ff). Auch das ist durchaus prägnant, und zwar auf eine Weise, die der Rede eher angemessen scheint als dem geschauten Bild. Die Noahstelle aus der Vision kennt dagegen nur ein einziges wertendes Attribut: Die Bezeichnung Noahs mit "a Reverend Sire" (XI, 719). Dennoch liegt hierin nicht der charakteristische Unterschied zwischen Rede und Vision. Wir sind bei dem Vergleich der Zustandsbilder auf die Umkehrung der zu erwartenden Verhältnisse ge-

Buch X I I : Nimrod-Episode

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stoßen: die Schilderung der Rede wirkt lebendiger als die der Vision. Andererseits haben wir eine ethische Kommentierung wie bei Nimrod bereits in den ersten Visionen festgestellt. Die Darstellungsweise hängt in der Tat, wie sich immer wieder zeigt, mit dem Thema zusammen. Sowohl bei der Charakteristik Nimrods wie bei der Vision der verderbten Zeit ist Miltons innere Einstellung für die Art der Darstellung entscheidend. Die Enthüllung des Bösen treibt Milton sowohl in der Vision wie in der Rede zu Konzentration und Schärfe, die sich hier in den abstrakten Substantiven, dort in den wertenden Adjektiven niederschlagen. Von einer typischen Darstellungsweise in Vision und Rede können wir daher auch in diesem Falle nicht sprechen. So erfährt Noah als der vorbildliche Streiter Gottes von der Sache her, nicht aber um das 'pageant' zu beleben, eine eindringliche Behandlung. In der reichen Beschreibung der noachitischen Zeit wird deutlich, wie ernst Milton die Erneuerung des göttlichen Bundes als einen zweiten Anfang Gottes mit den Menschen genommen hat. Stark kommentierenden Charakter hat auch die Schilderung von Nimrods Wanderung; sie wird ausdrücklich als Eroberungszug gekennzeichnet (38—40) und der Turmbau mit der Ruhmsucht motiviert (45). In der Ortsbeschreibung ist die Anschaulichkeit einer Vertiefung der Bedeutung gewichen: der erzhaltige Schlund in der Ebene sei, heißt es, der Eingang der Hölle (42). Das Eingreifen Gottes ins menschliche Treiben ist erstmals in der Henochgeschichte und dann in stark erweiterter Form in der Sintflut gezeigt worden. Auch die Nimrodgeschichte führt eine Strafe Gottes herbei, die nun ein letztes Mal in einem sinnfälligen Bild vorgeführt wird. Sie bietet ein Exemplum der Sünde in einer Einzelgestalt und eine exemplarische Strafe Gottes; das verbindet sie mit den letzten Visionen. Zwar berichtet Michael auch im folgenden immer wieder von dem Wechsel zwischen Heil und Strafe, wie ihn die jüdische Geschichte kennt, aber mit durchaus veränderter Akzentuierung. Der Ton liegt von nun an auf der Hilfe Gottes; auch die Strafen schlagen fortan den Menschen stets zum Segen aus7. Das verweist uns auf die thematische Ausrichtung des Geschichtsberichts, von dem sich die Nimrod-Episode auch in dieser Hinsicht unterscheidet. BEDEUTUNG UNDDARSTELLUNGSWEISE DER SPRACHVERWIRRUNG ( 5 2 — 6 2 ) (God) in derision sets Upon thir Tongues a various Spirit to rase Quite out thir Native Language, and instead 7

So führen z. B. schlimme Zeiten zur Erwählung Abrahams (109—13) und zur Einsetzung von Richtern und Königen (315—20).

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Interpretation des X I . und X I I . Buches T o sow a jangling noise of words unknown: Forthwith a hideous gabble rises loud Among the Builders; each to other calls Not understood, till hoarse, and all in rage, As mockt they storm; great laughter was in Heav'n And looking down, to see the hubbub strange And hear the din; thus was the building left Ridiculous, and the work Confusion nam'd. ( X I I , 52—62)

Bei der Darstellung der Sprachverwirrung, in der wir ein letztes 'pageant' erkennen, zeigt sich allerdings ein Zug, den die Visionen nicht enthalten: die Bestrafung wird doppelt erzählt. Der Bericht über die Tatsache (52—55) geht der Veranschaulichung des Vollzugs durch ein dramatisches Geschehen (56—61) voraus. Diese Form der vorwegnehmenden Darstellung eines Ereignisses taucht in dem großen AbrahamMoses-Bericht Michaels wiederholt auf. Es handelt sich um ein rhetorisches Element in ihrem Aufbau, um eine Art Exposition 8 . Der Ansatz zu einer solchen Exposition ist also in der ersten Rede, wo die charakteristische Redeform von X I I noch gar nicht ausgeprägt ist, wie wir sehen, bereits vorhanden. Dennoch bildet sich die typische Erscheinungsform der Exposition hier noch nicht heraus. Der Vorbericht kommt nämlich hier an Umfang, wenn auch nicht an Wirkung, der bewegteren zweiten Darstellung gleich und stellt ein relativ selbständiges Teil dar, während er später nur einen kurzen ordnenden Überblick über das nächste Redestück gibt. Es ist wie ein Rückgriff auf die Form der Vision, wenn sich hier das Schaubild von der Sprachverwirrung neben den schon abgeschlossenenBericht drängt. Da sich aber zugleich die rhetorische Tendenz einer durch Exposition betonten Gliederung an dieser Stelle geltend macht, stehen wir tatsächlich an dem Übergang zwischen zwei Darstellungsweisen; die Nimrod-Episode hat an beiden teil. Das ist um so natürlicher, als der Einschnitt zwischen Vision und Rede ursprünglich nicht so stark empfunden werden konnte und sollte, weil er nicht mit der Zäsur zwischen zwei Büchern zusammenfiel. D I E THEMATIK DER NIMROD-EPISODE

Das Thema der Nimrod-Episode drängt sich schon in Michaels Geschichtsbericht auf (24—47), der es so stark auf die Charakterisierung und weniger auf die Erzählung absieht. Die Leitbegriffe wie "Dominion undeserv'd" (27), "Empire tyrannous" (32), "rebellion" (36 und 37), "tyrannize" (39) ebenso wie die GegenbegrifFe "fair equalitie, fraternal state"(26) und "Concord and law of Nature"(29) erwecken den Anschein, 8

Vgl. 2. B. bei der Erwählung Abrahams (111—13), bei der Rückführung aus Ägypten (169—72), bei der Gesetzgebung ( 2 2 3 — 2 6 ) ; ähnlich auch bei der Verfolgung durch Pharaoh (194—99), w o die Exposition freilich erweiterte Gestalt hat.

Buch XII: Nimrod-Episode

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als beabsichtigte Milton die Erörterung politischerVerhältnisse. Zwar setzt die spezifische Sünde Nimrods schon eine Gesellschaftsordnung voraus, aber auf den Aspekt des Staatslebens legt Milton gar keinen Wert. Die Essenz von Miltons Anschauungen über politische Freiheit ist in die Nimrod-Geschichte und besonders in Michaels Belehrung (82—101) eingegangen; doch kommt es Milton darauf an, das ethische Problem der Freiheit, nicht aber ihre Aktualisierung in der Geschichte oder gar in der Zeitgeschichte aufzuzeigen 9 . Es ist wie mit allen ethischen Fragen im Paradise Lost. Sie sind von Miltons tiefsten Überzeugungen getragen, und ihre Aussagekraft reicht immer über den jeweiligen Zusammenhang hinaus. Sonst wäre Paradise Lost keine so große Dichtung. Trotzdem sind sie, und zwar sehr stark, in dem gedanklichen Aufbau der Dichtung und in dem textlichen Zusammenhang integriert. Das bedeutet aber, daß sie, da sie vom Problem der Sünde Adams her betrachtet werden, immer als religiöse Fragen angegangen und verstanden werden. Darum müssen wir auf den Zusammenhang achten, in dem Michaels Belehrung über Freiheit und Tyrannis steht. Adam hat in der Nimrodgeschichte die Verkehrung der den Menschen von Gott gegebenen Ordnung richtig erkannt; nicht bedacht hat er den inneren Zusammenhang mit seiner eigenen Schuld. Er äußert sein ungeduldiges Mißfallen an dem Treiben des Tyrannen in überheblicher Entrüstung und läßt sich sogar zur Ironie hinreißen, die sich indem oft gerügten Wortspiel spiegelt und die ihm so übel ansteht (And famish him of Breath, if not of Bread, 78). Schon einmal hat ihm Michael seine Selbstgerechtigkeit verwiesen und ihn an seine Schuld gemahnt (XI, 634—36). Aber dann sind im Laufe von XI die Hinweise auf Adams anfängliche Sünde zurückgetreten. Warum wird sie ihm hier noch ein letztes Mal eingeschärft? 10 . Der Gedanke der Freiheit des Menschen ist im Paradise Lost die wichtigste rationale Stütze für die Rechtfertigung Gottes, und darum kommt Milton immer wieder auf ihn zu sprechen11. Das Gegenthema von der Verkennung und Verletzung der rechten Freiheit 9

10

11

Dies zeigt sich auch im Aufbau der Rede: Von den rein begrifflichen Formulierungen über den Ursprung der Unfreiheit (83—93) führt ein kürzeres Stück, das ihre allgemeine geschichtliche Auswirkung zeigt (94—101) zu einem Exempel, dem einzigen, das wir in Michaels Reden antreffen (Hams Schuld und Verfluchung, 101—04); d. h., es zeigen sich die Charakteristika einer Mahnrede, nicht die eines politischen Diskurses. Die beiden Male, wo sie in XII nochmals erwähnt wird (285/6; 390ff.) zielen nicht mehr auf eine Vermahnung Adams, sondern auf die Erläuterung des Erlösungswerkes. Vgl. dazu Tillyard, Milton, S. 266. III, 97—99 enthält die entscheidende Aussage Gottes über die Willensfreiheit des Menschen (wiederholt X, 43—47), deren sich auch Adam bewußt war ("nor knew I not/To beboth will and deed created free",

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Interpretation des XI. und XII. Buches

wird in der Adams- und der Satanshandlung veranschaulicht und auch kommentiert. Trotz des warnenden Beispiels von Satan hat Adam als erster gegen "true Libertie" (83) und "right Reason" (84) gehandelt und sie darum auch für seine Nachkommen verloren. Jede Art der Maßlosigkeit — Kains Gewalttat, die Schwäche der Sethsöhne, Ruhm- und Machtgier der Riesen und ihre Ausschweifungen, auch Nimrods frevelhafte Anmaßung — sind nur die Folge von Adams Mißbrauch der ihm anvertrauten Freiheit (86—90). "Tyrannie must be,/Though to the Tyrant thereby no excuse" (95/6)12 ist Michaels harte Folgerung daraus. Adams Besinnung auf den Verlust der Freiheit im Gefolge des Sündenfalls ist notwendig, ehe Michael ihm enthüllt, welche Wege Gott zur Wiederherstellung der menschlichen Freiheit und Erkenntnis vorgesehen hat. Deshalb, weil jetzt die Heilsgeschichte anfängt, wird Adam noch einmal so entschieden auf das Wesen des Sündenfalls und seiner Folgen verwiesen. Darum, nicht weil die Visionen jetzt von den Lehrreden abgelöst werden, weicht diese Belehrung Michaels von den zu den Visionen gegebenen ab und trägt überwiegend spekulativen Charakter. Mit einer derartigen Konsequenz wie an dieser Stelle wird in keiner anderen Rede der didaktische Weg eingeschlagen und zurückgelegt. Der letzte Rückblick auf den Sündenfall steigert die Lehrhaftigkeit ins Prinzipielle; von da an schaut die Dichtung voraus auf die Erlösung. ZUSAMMENFASSUNG

Die Schaffung einer Gesprächssituation, in welche die Nimrodgeschichte eingebaut wird, ihre Darstellungsweise und nicht zuletzt auch ihre Thematik sind die Kriterien für unsere Behauptung, daß der Anfang des XII. Buches weniger mit diesem als mit dem XI. Buch verwandt ist. Der Grund dafür liegt einmal in der ursprünglichen Zusammengehörigkeit der beiden Bücher, die einen gleitenden Übergang sinnvoll macht, zum anderen eben darin, daß erst mit der Abrahamsgeschichte das große Anliegen des Schlußbuches, die Heilsgeschichte, einsetzt, die nach einer anderen Darstellungsform verlangt.

12

V, 548/9), schon bevor Raphael ihn nachdrücklich darauf hinweist (V, 524—28). Selbst Satan weiß um seine ursprüngliche Freiheit (IV, 66 7); Abdiel definiert in der Auseinandersetzung mit Satan das Wesen der Freiheit als eine Bindung an Gott und streift dabei die Frage nach dem rechten und dem angemaßten Regiment (VI, 174—86). Die wichtigste Stelle für Gottes freien Willen, zu handeln oder nicht, ist VII, 170—73. Freiwillig bietet sich der Sohn zum Opfer (III, 227 ff.) und zum Fürsprecher der Menschen an (XI, 20ff,). Der Geist aller dieser Stellen ist in Michaels Rede eingegangen. Die Stelle erinnert an den Wehruf über den Verräter Christi. Mai 26, 24.

Buch XII: Abrahamsbericht

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B. DER GESCHICHTSBERICHT VON ABRAHAM BIS CHRISTI GEBURT (XI, 105—371)

ÜBERLEITUNG

1. Der Abrahamsbericbt (105—113)

(XII, 105—151)

Die Überleitung von der Nimrod- zur Abrahamsgeschichte enthält in ihrem Satz: "Thus will this latter, as the former World, / Still tend from bad to worse" (105/6) die Charakteristik der unvollkommenen Welt als dem Gegenbild zur Vollkommenheit der göttlichen Macht, die immer neu aus Bösem Gutes schafft. An dem Einsatzpunkt der Heilsgeschichte wird also das Gesamtthema der Unterweisungen noch einmal greifbar (supernal Grace contending/ With sinfulness of Men, XI, 359/60). Da sich Gott von den abtrünnigen Menschen abwendet, werden wir zugleich auch an Adams Ausgangsfrage erinnert, ob er mit der Vertreibung aus dem Paradies für alle Zeit aus der Gegenwart Gottes verbannt sei (XI, 328/9). Indem Gott jetzt wie in der Noahgeschichte wiederum auf dem Gehorsam des einzelnen aufbaut und Abrahams Nachkommen zu seinem Volk auserwählt, begrenzt er zwar sein Wirken in der Menschheit, aber nur solange, bis die Messiasbotschaft sich wieder an alle Menschen richtet. In der Abrahamsgeschichte wird nun das Fundament der kommenden Ereignisse gelegt, und darum ist die Wiederkehr der am Eingang der Unterweisung stehenden Gedanken an dieser Stelle durchaus berechtigt. ABRAHAM

(114—151)

Die Gliederung der Abrahamsgeschichte zeigt folgendes Bild: Einleitung: Klage über die Abgötterei (115—120) Berufung Abrahams und seine Wanderung nach Kanaan (120—134) Beschreibung des Heiligen Landes (135—146) Schluß: Ausblick auf die Erlösung (147—151) Aus der inhaltlichen Gliederung ist zu ersehen, daß die eigentliche Erzählung der Abrahamsgeschichte nur die knappe Hälfte des Berichtes ausmacht, und wir werden nach den Gründen dieser Gewichtsverteilung zu fragen haben. Zunächst fällt schon auf, daß die Abrahamsgeschichte keine Exposition hat, wie wir sie bei den übrigen Darstellungen der jüdischen Geschichte antreffen (Nimrod, Moses). An der Stelle einer Exposition findet sich ein leidenschaftlicher Ausbruch gegen Unglauben und Götzendienerei, dessen Bedeutung erst im Zusammenhang mit dem Folgenden recht klar wird: Abraham soll in schärfstem Gegensatz zu seiner Umwelt als der allein Gläubige und Gehorsame herausgestellt werden.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Auch die Plötzlichkeit seines unverzüglichen Aufbruchs hat den Sinn, Abrahams Glaubenskraft zu unterstreichen. Gleich zu Beginn des Erzählteils wird dreimal von seinem Glauben gesprochen: "hee straight obeys,/ Not knowing to what Land,yet firm believes" (126/7); "with whatFaith/ He leaves hisGods, his Friends and nativeSoile" (128/9); "trustingall his wealth/ With God, who call'd him . . . " (133/4). Das also ist die Absicht der Abrahamsgeschichte: die Bewährung im Glauben darzustellen. Darin folgt Milton der Tradition, die Abraham seit dem Neuen Testament als den Vater der Gläubigen rühmt 13 . Dem Gehorsam winkt die Verheißung eines fernen Landes (120—23), aber der andere Teil der Verheißung, Gottes Bund mit Abraham und seinem Samen, der in der Genesis eine so große Rolle spielt14, erscheint hier gar nicht als an ihn selbst gerichtet, sondern nur in einem Zusatz als eine Mitteilung an Adam (123—26). Die Verheißung des Völkersamens stellt sich später zwar als die weitaus wichtigere Zusage heraus, aber sie bestimmt nicht Abrahams Handeln, ja hier in der Erzählung wirkt sie fast wie ein Einschub. Bei der in XII notwendigen energischen Beschneidung aller biblischen Stoffe ist es besonders wichtig, zu beobachten, wo der Dichter verweilt, wie er akzentuiert. So wird der Glaube Abrahams beispielhaft an seiner Wanderung aufgezeigt, so daß Milton sogar auf die Geschichte von Isaaks Opferung verzichten kann. Obwohl das Isaaksopfer seit je als das große Beispiel für Abrahams Gottvertrauen und Gehorsam gilt, zieht Milton es vor, die Wanderung darzustellen, weil er damit das Thema der Landverheißung verbinden kann. Die Landnahme ist für die gesamte jüdische Geschichte von solcher Bedeutung, daß sie nicht übergangen werden kann. Milton opfert also der Konzentration des Berichtes die anschaulichere, aber für den geschichtlichen Verlauf weniger folgenreiche Episode. Auch andere Teile der Abrahamsgeschichte, etwa der Besuch der drei Engel, die Vernichtung Sodoms, selbst der Segen des Melchisedek bleiben unerwähnt. Die Erzählung berichtet, Abrahams Rolle in der Heilsgeschichte gemäß 16 , nicht so sehr von Ereignissen und Taten, als von Gehorsam und Verheißung. Diese bilden das Thema der Abrahamsgeschichte. Bei solcher Ökonomie muß die Breite überraschen, mit der die Grenzen und wichtigen Orte des verheißenen Landes beschrieben werden. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um einen geographischen Ein13 14 15

Rom 4, lff.; Heb 11, 8—19. Gen 12, 2—4; 17, 7; 18, 17—19. Im Alten Testament wird Abraham selten erwähnt; erst in der neutestamentlichen Deutung des Alten Testaments als einer Weissagung auf das Heil wird er zu einer wichtigen und immer wieder genannten Gestalt, z. B. Rom 4, Heb 11.

Buch X I I : Abrahamsbericht

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schub, sondern darum, das Thema der Verheißung herauszuarbeiten, nachdem der erste Teil (Wanderung) vom Gehorsam gehandelt hat. Daher scheint es wichtig, folgendes festzuhalten: Die Landverheißung erfüllt sich ja erst mit dem Einzug Josuas in Kanaan, von der rund 130 Zeilen später berichtet wird. Die Zusicherung der so lange sich hinausziehenden Erfüllung ist aber notwendig, damit ihr Verzug nicht als ein Versäumnis Gottes erscheint. Daher ist es die Aufgabe der Beschreibung Kanaans, die Erfüllung vorwegzunehmen. Sie muß Adam schon hier verständlich gemacht werden, und darum wird die Wirklichkeit des verheißenen Landes vor seinen Augen beschworen. Das geschieht in einer auch für den Leser eindrücklichen Weise, indem Milton zum erstenmal in Michaels Unterweisung Orte mit ihrem Namen bezeichnet, um mit ihrer Klangfülle reiche Vorstellungen zu erwecken, wie er es auch an anderen Stellen des Paradise Lost tut16. Auch von der Darstellungstechnik her erfüllt der Passus eine bestimmte Aufgabe. Durch ihn ist die Ortlichkeit der geschichtlichen Vorgänge umrissen und bedarf daher keiner weiteren Hinweise mehr. Milton benützt die Gelegenheit gleichzeitig, um Michael von seinem erhabenen Standort auf dem Berg der Visionen Umschau halten und Adams Blicke in die Weite führen zulassen. Es gelingtihmalso,die Rede in der Gesprächssituation zu verankern, was zur Belebung der sehr langen Rede beiträgt. Hinweise wie "yonder Sea" (142), "here" (144) oder gar die Aufforderung an Adam: "each place behold/ In prospect, as I point them" (142/3) verbinden die Darstellungstechnik der Abrahamsgeschichte mit der der Visionspartien in XI, während Milton im weiteren Verlauf des XII. Buches andere Mittel entwickelt, um die Gegenstände Adams Verständnis nahezurücken. Der knappe und plötzlich abbrechende Schluß der Abrahamsgeschichte enthält insgeheim das ganze Heilswerk: but his Sons Shall dwell to Senir, that long ridge of Hills. This ponder, that all Nations of the Earth Shall in his Seed be blessed; by that Seed Is meant thy great deliverer, w h o shall bruise The Serpents head; whereof to thee anon Plainlier shall be reveald. (XII, 1 4 5 — 5 1 )

Neben der Landverheißung ist bisher die Verheißung des Segens über die Nachkommen Abrahams stark im Hintergrund geblieben. Aber da 16

Besonders X I , 3 8 8 — 4 1 1 ; aber Häufungen v o n Eigennamen jeder A r t lassen sich im Paradise Lost in stattlicher Zahl nachweisen und unter dem Begriff des Katalogs zusammenfassen, der zum traditionellen Bestand des Epos gehört; z. B. I, 3 9 2 f f . ; III, 466 ff.; auch die epischen Vergleiche reichert Milton oft durch katalogartige Aufzählungen an, z . B . IV, 2 6 8 f f . ; I X , 386ff., 5 0 5 f f . ; X , 4 3 1 f f . , 524ff., 6 9 5 f f .

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Interpretation des X I . und X I I . Buches

sie, heilsgeschichtlich gesehen, den Bund Gottes mit Abraham krönt, ist es, als sei sie absichtlich bis zuletzt zurückgehalten worden, damit sie recht zur Wirkung kommen kann. Adam wird an dieser Stelle nicht nur weit eindringlicher angeregt über die Worte Michaels nachzudenken (147) als es die bisherigen Ermahnungen, rechte Einsicht zu üben ( X I , 475—77) oder sein irriges Urteil zu korrigieren ( X I I , 82) je getan haben; es wird ihm zugleich bedeutet, daß in der Verheißung ein Geheimnis liegt, das er noch nicht erfassen kann. Hier werden also die Fäden erstmals nicht nach rückwärts, sondern nach vorwärts gesponnen. Adam soll nicht mehr über seine Verschuldung nachdenken, sondern einem Verständnis der Erlösung entgegengeführt werden. Um ihm das Verständnis zu erleichtern, spricht Michael vom Völkersegen mit den gleichen Worten, mit denen er die Verheißung schon soeben gestreift hat 1 7 , und für seine Ausdeutung nimmt er die Zusage zu Hilfe, die Adam aus Gottes Spruch über Satan kennt ( X , 181); und dennoch bleiben die Zusammenhänge für Adam noch verhüllt. Die volle Erkenntnis übersteigt im Augenblick Adams Kräfte, und es wäre auch von der Anlage des Berichtes her gesehen verfrüht, jetzt das Geheimnis schon ganz zu lüften, anstatt mit allen Mitteln der Spannung auf diesen Augenblick hinzuwirken. Aber als vorbereitendes Moment hat diese Stelle ihre hohe Bedeutung. In verschiedener Hinsicht bildet, wie wir sehen, die Abrahamsgeschichte die Grundlage für den weiteren Bericht Michaels: sie dient mit allen ihren Teilen dem Anliegen, Gott als den in seiner Gnade Handelnden zu zeigen, der erwählt, fordert, verheißt. Wenn auch Abrahams exemplarischer Charakter noch an die Vorbildgestalten des X I . Buches erinnert, so gibt ihm doch sein Zusammenhang mit der Heilsgeschichte eine ganz andere Bedeutungstiefe. Hinter seiner Geschichte erhebt sich als Auftakt zur Heilsgeschichte das Thema von Glauben und Verheißung. Während sein gläubiger Gehorsam im Erzählteil enthalten ist, schlägt sich die Verheißung in dem Entwurf des Heiligen Landes und in der Vordeutung auf die Erlösung am Schluß nieder. Die Darstellungsweise bereitet den Boden für den folgenden Geschichtsbericht, vor allem durch die dramatische Verquickung von Bericht und Gespräch. Auch die Technik der Anknüpfung an Bekanntes und die Entwicklung einer Spannung in der Erzählung gehören zu den ausbaufähigen Elementen der Darstellung. Und noch ein weiterer Zug ist an der Abrahamsgeschichte bemerkenswert. Bewußt hat Milton in X I von einer einmaligen und individualisierenden Verkörperung der Typen und Situationen des menschlichen 17

125/6: "that in his Seed / All Nations shall be blest" 147/8: "that all Nations of the Earth / Shall in his Seed be blessed".

Buch XII: Abrahamsbericht

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Daseins abgesehen. Zwar hält er sich für das Faktische an die Genesis aber es fällt dabei kein einziger Name. Weder Orte noch Personen werden benannt. Nur der kundige Leser ist imstande, die generell erfaßten Gegenstände zu aktualisieren, indem er ihre Beziehung zu den speziellen alttestamentlichen Gegebenheiten herstellt. Wo mit Abraham die Heilsgeschichte anfängt, gibt Milton, freilich mit einer wohlüberlegten Zurückhaltung, auch Eigennamen an. Die Hauptgestalt der Geschichte wird eingangs nur als "one faithful man" (113) vorgestellt, ganz wie Henoch und Noah "just" hießen (XI, 703 und 818). Aber die Örtlichkeiten des verheißenen Landes werden, wie wir schon bemerkt haben, in stattlicher Zahl aufgeführt. Das Verfahren wird sogar ausdrücklich von Michael gerechtfertigt (140). Nach Abschluß der Geschichte erfährt Adam erstmals den Namen Abrahams: "This Patriarch blest,/ Whom faithful Abraham due time shall call" (151/2). Diese Nennung ist folgenreich. Denn obwohl die Abrahamsgeschichte an Umfang hinter der Sintflut- oder Mosesdarstellung zurücksteht, so kehrt doch im weiteren Verlauf kein Name so oft wieder wie der seine18. Er zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Heilsgeschichte, weil er mit der Botschaft vom Weibessamen aufs engste verbunden ist. Von der Abrahamsgeschichte an geht mit der Nennung der Namen stets eine bestimmte Akzentuierung parallel. Ob und wann die dem Leser vertrauten Gestalten des Alten Testaments beim Namen genannt werden, wirft ein Licht auf die Sinndeutung der Geschichte. So wird z. B. David (326, 347), nicht aber Salomo, namentlich erwähnt — nicht nur weil sich an David seit je die messianischen Hoffnungen geknüpft haben, sondern weil er selbst Christus in seiner Königsgestalt vorausabbildet. Die Nennung Josuas (310) erfolgt, nachdem auf ihn bereits angespielt worden ist (263—67), und sie hängt damit zusammen, daß er in einem besonderen Sinn als eine Präfiguration Christi galt, denn das Wort Josua ist das gleiche wie Jesus, was auch Milton ausdrücklich erwähnt; auch führt Josua, und nicht Moses, das Volk in das verheißene Land, wie Christus die Menschen in das Reich Gottes führt. Für Jakob wird, als seine Geschichte längst erzählt ist (153ff.), beim Einzug in Kanaan die Bezeichnung "Israel" mitgeteilt, weil sie von ihm auf das Volk über tragen worden ist (267—69)19. Daß also bei Abraham, Jakob und Josua erst ihre Geschichte und dann ihr Name berichtet wird, mag für den zuhörenden Adam seinen Nachteil haben, aber die Erwartung des in der 18 19

XII, 260, 268, 273, 328; nach dem Erscheinen des Messias 447, 449. Daß dabei auch Isaaks Name fällt (268), ist freilich ohne weitere Bedeutung. Hingegen wird die beiläufige Erwähnung Aarons darauf zurückzuführen sein, daß er in der Tradition der Kirche und schon im Neuen Testament (Heb 7) auf das Priesteramt Christi vorausdeutet.

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Interpretation des X I . und X I I . Buches

Bibel bewanderten Lesers wird jedenfalls durch dies Vorgehen angespannt. Fällt dann schließlich der Name, so findet sich der Leser zu seiner Befriedigung in seinem Wissen bestätigt und zugleich auf die Bedeutung des Namensträgers hingewiesen. Nur Moses wird sofort mit Namen eingeführt. Wir begegnen seinem Namen zwar noch mehrmals, aber im Unterschied zu Abrahams Namen nicht mehr nach dem Erscheinen des Messias. Für die Auslegung des Gesetzeswerkes ist der Name Moses entbehrlich, nachdem die geschichtliche Gestalt durch die Erwähnung des Namens profiliert worden ist. Auch die Nennung der Eigennamen, so können wir feststellen, wird durch die Abrahamsgeschichte konstituiert, so daß in den folgenden Berichten die wichtigsten Gestalten stets wie er in ihrer historischen und zugleich in ihrer überhistorischen, d. h. präfigurativen, Bedeutung hervortreten. 2. Der Mosesberuht (XII,

151—314)

ÜBERLEITUNG ( 1 5 1 — 1 6 8 )

Die Überleitung zur nächsten großen heilsgeschichtlichen Station geschieht mittels der Genealogie, rasch, ohne Emphase, ohne schmückende Epitheta oder eine Stellungnahme des Dichters zu den Ereignissen. Der durch die Kürze gebotenen Vereinfachung halber bleibt Jakob darin die Hauptfigur. Der Passus umfaßt Josephs Aufstieg in Ägypten, Jakobs Zug dorthin, seinen Tod und die wachsende Unterdrückung des jüdischen Volkes durch die Ägypter. Der Gefahr einer unanschaulichen Summierung wirkt Michaels Fingerzeig auf den Nil entgegen (See where it flows, disgorging at seaven mouthes/ Into the Sea, 158/9), und einige prägnante Details verleihen der Stelle eine gewisse Lebhaftigkeit: Jakob ist "with twelve Sons increast" (155), die Hungersnot wird erwähnt (161), und die Ungerechtigkeit des Pharao gipfelt in dem Befehl, die neugeborenen Knaben der Juden umzubringen (168). D I E GLIEDERUNG DES MOSESBERICHTS

Wie schon der Anfang der Nimrod-Episode (24) und später der Abrahamsgeschichte (106) wird die Hinwendung zu einem neuen bedeutsamen Gegenstand der Erzählung auch hier durch "tili" markiert (169); sogar die Endzeit wird noch auf die gleiche Weise eingeleitet (539). In der Tat heben sich die entscheidenden Phasen von Michaels Bericht durch diese unscheinbare, aber konsequent verwendete Formel voneinander ab, denn mit ihr wendet er sich jedesmal von den Geschichtsüberblicken den Hauptpunkten zu, um bei ihnen zu verweilen. An diesem geringfügigen Einzelzug mag uns deutlich werden, daß Mil-

Buch XII: Mosesbericht

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ton neben der Abrahams- nur der Mosesgeschichte einen wesentlichen Platz in der Heilsgeschichte zuweist, und daß er nicht etwa eine lückenlose Chronik des jüdischen Volkes anstrebt. Durch seine beharrliche Strukturierung gibt er dem Geschichtsbericht bei starker Verkürzung eine repräsentative Fülle und macht seine Zielrichtung erkennbar. Wir stellen zunächst den Aufbau des Mosesberichtes klar: 1. Stück: 169—172 Exposition 173—190 Die zehn Plagen 190—214 Auszug aus Ägypten 214—244 Wanderung durch die Wüste und Gesetzgebung auf dem Sinai 244—260 Bau der Stiftshütte 260—269 Blick auf die kriegerischen Ereignisse der Wanderung und Einzug in Kanaan 2. Stück: 270—284 Adams Zwischenfrage nach dem Sinn der Gesetze 285—314 Deutung der Gesetze im Hinblick auf das Gnadenwerk Der Bericht liegt in zwei relativ selbständigen Teilen vor, die noch dazu — oder gerade deshalb — durch einen Redewechsel voneinander getrennt werden. Im ersten Stück ist das erzählerische Element vorherrschend, im zweiten wird dagegen das Wesen der Gesetze erfragt und bestimmt. Demnach scheint es die Absicht des Mosesberichtes zu sein, nicht nur die Geschichte Moses' darzustellen, sondern neue Züge in der Geschichte Gottes mit den Menschen aufzudecken. Tatsächlich wird sich zeigen, daß auch schon der geschichtliche und nicht nur der dogmatische Teil einzig unter diesem Aspekt betrachtet wird. Im geschichtlichen Teil tritt die Wundermacht Gottes sichtbar in der Geschichte hervor, in dem auslegenden Teil wird sie als sein unsichtbares Wirken in der Zukunft verheißen. Die starke Zäsur zwischen beiden dient einerseits natürlich der Wiederbelebung der Gesprächssituation, aber andererseits auch der Akzentuierung von Miltons eigentlichen Absichten, denn der Einschnitt ist dazu angetan, das heilsgeschichtlich bedeutsamste Ereignis der Mosesgeschichte, die Gesetzgebung, losgelöst aus ihrem historischen Zusammenhang, in seiner überhistorischen Wirkung verständlich zu machen. Durch den neuen Redeeinsatz Michaels erhält die Auslegung des Gesetzwerkes als Vorstufe des Gnadenangebots einen kräftigen Impuls, und auch das Hinüberwechseln vom erzählenden Stil zur Exegese ist auf diese Weise motiviert.

176

Interpretation des X I . und XII. Buches ERSTES STÜCK DES MOSESBERICHTS

D I E EXPOSITION ( 1 6 9 — 1 7 2 )

Angesichts des Stoffreichtums und der Länge des Mosesberichtes ist es geraten, eine orientierende Zusammenfassung vorauszuschicken. Worauf legt Milton Wert ? Was wählt er aus den Büchern der Bibel aus ? Die Exposition nennt den Einzug ins Heilige Land, also die Einlösung des göttlichen Versprechens an Abraham als Ziel von Moses' Wirken. Auf diese Weise verknüpft der Erzähler die beiden Geschichten, ist aber genötigt, die Aussage später zu modifizieren, denn Josua ist es, dem die Vollendung des mosaischen Werks zufällt (307—14). Aber geht nun die Erzählung Michaels geradewegs auf dieses Ziel zu? Wie erklären sich dann die breiten Erzählungen von den zehn Plagen oder von dem Bau der Stiftshütte? Verfolgt Milton nicht ein höheres Ziel mit dieser an verschiedenartigen Episoden reichsten Partie seines Geschichtsberichtes ? Soll sich nicht in den Plagen des Pharao sowie in der umständlichen Schilderung des Auszugs der Juden die Wundermacht Gottes manifestieren, wie er seine Feinde vernichtet und seine Getreuen rettet ? Wird nicht sogar die Erlaubnis zur Errichtung der Stiftshütte als Zeichen seiner besonderen Huld aufgefaßt (244—58) ? Dient nicht auch die wiederholte Erwähnung der Wolke und der Feuersäule (202/3, 208, 256/7) und des Engels (201, 259) während der Wanderung Israels der Hervorhebung von Gottes rettender Treue zu den Menschen ? Selbst die Schlußstelle, die die Geschichte von Josuas Gebet auf Gibeon und seiner wunderbaren Erfüllung scheinbar unmotiviert einschiebt (263—67), wird von diesem Zusammenhang her verständlich: Bis zuletzt ist der Zug des Volkes in das verheißene Land ganz auf göttlichen Beistand angewiesen, der sich in Wundern kundtut. Erinnern wir uns, wie das Exemplum von Hams Schamlosigkeit den Exkurs über die wahre Freiheit und damit den moralisch-lehrhaften Teil des Zukunftsberichtes abgerundet hat (101—04), und vergleichen wir damit, wie nun eine wichtige Phase der Heilsgeschichte durch eine Manifestation Gottes, dessen Allmacht die Seinen durch ein letztes Wunder allen Feinden zum Trotz zum Ziele führt, ihren Abschluß findet, so zeigt sich darin das innere Fortschreiten von Michaels Darlegungen. Durch die starke Betonung der Wundermacht Gottes werden wir zwar immer noch auf die menschliche Schwachheit hingewiesen, aber wir werden vor allem auch schon auf das letzte und unbegreiflichste Wunder vorbereitet, auf die Erniedrigung und Erhöhung des Sohnes. Gott hat in der Noahgeschichte die elementaren Mächte der Natur den Menschen zuliebe gebändigt, und er vernichtet in der Mosesgeschichte die äußeren Feinde seiner Getreuen durch Wunder. Im Opfer des Sohnes wird sich

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Buch XII: Mosesbericht

die Gottheit selbst hingeben, um die Seele des Menschen zu retten: das ist das wunderbarste Geheimnis, das Gott bereithält und mit dem er die geistige Widermacht besiegen wird. Die in dieser Folge von Rettungstaten sich abzeichnende Steigerung ist der tiefere Grund, warum in einem zweiten Teil des Mosesberichtes das Wesen und die Grenzen der mosaischen Gesetze erörtert werden müssen. Es ist Milton daran gelegen, das mosaische sogleich auf das höhere Gesetz der Gnade und der Liebe hin auszulegen. Genau wie die wunderbare Rückführung des Volkes in das verheißene Land ist auch die Konstituierung eines Bundes mit den Menschen, dessen Ausdruck ja die zehn Gebote sind, eine Vorausabbildung der noch zu erwartenden größeren Ereignisses: die Heimführung der Erlösten in das Reich Gottes und die Überwindung der Gesetze durch das Gnadenangebot. In der Verherrlichung der göttlichen Macht liegt auch die verborgene Einheit, die die scheinbar auseinanderstrebenden Stücke des Mosesberichtes zusammenhält. DIE ZEHN PLAGEN UND DER AUSZUG AUS ÄGYPTEN ( 1 7 3 — 2 1 4 )

Die Sprachgebung des Berichts über die ägyptischen Plagen gibt unserer Auffassung recht, daß in der Mosesgeschichte die göttliche Allmacht wunderbar wirksam ist. Ein neunmal geradezu aufdringlich wiederholtes „must" drückt den unausweichlichen Willen Gottes aus, der hinter der Bestrafung des Pharao steht (175—90). Auch die Bibel gibt hier unermüdlich zu verstehen, daß Gott die Menschen seine Macht fühlen lassen und sie zur Anbetung nötigen will 20 . Es lohnt sich, hier einmal die biblische Vorlage zum Vergleich heranzuziehen. Milton folgt dem Exodusbericht in der Reihenfolge der Plagen, aber er zieht sie auf engstem Raum zusammen. Dafür sucht er überall eine auffällige Verstärkung des biblischen Ausdrucks. Besonders die Verben sind intensiviert, so daß die Stelle nicht zur bloßen Aufzählung wird, sondern das Ausmaß der Schrecken durch eine Dynamisierung der Vorgänge vermittelt. Für "a boil b r e a k i n g f o r t h with blains upon man. . ." (Ex9,10) steht "Botches and blaines must all his flesh i m b o s s " (180); für "And the Lord sent thunder and hail, and the fire ran a l o n g upon the ground" (Ex 9, 23) steht "Thunder mixt with Haile, / Haile mixt with fire must rend th'Egyptian Skie/And w h e e l on th'Earth, dev o u r i n g where it r o u l s " (181—83)21. Der Chiasmus des zweiten Bei20 21

Ex 7—13; besonders 7, 3; 9, 14; 10, If.; 13, 3 u. a. Weitere Beispiele: für "there came a grievous swarm of flies into the house of Pharaoh" (Ex 8, 24) steht "Frogs, Lice and Flies must all his Palace fill / With loath'd intrusion (177/8); für einfaches "murrain" (Ex 9,3) steht "Rot and Murren" (179). M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

12

178

Interpretation des X I . und XII. Buches

spiels zeigt auch die wirksame Verwendung rhetorischer Wiederholungen, die wir schon für das Wort "must" festgestellt haben, und die sich noch mehrmals angewandt finden22. Ein Rückblick auf die zehn Plagen leitet zur Darstellung des Auszugs über (190—94). Milton opfert der Ökonomie zwei wesentliche Bestandteile der biblischen Mosesdarstellung. Erstens die Reden Gottes mit Moses, durch die er ihn jedesmal zu den Wundern ermächtigt; an ihre Stelle ist der neunmalige Hammerschlag des "must" getreten. Zweitens verzichtet Milton auf den Kehrvers des Exodus, der nach jeder Plage von einer neuen Verstockung des Pharao spricht. Er ist zusammengefaßt in dem "and oft / Humbles his stubborn heart, but s t i l l as Ice / More hardn'd after thaw" (192—94)23. So gelingt Milton durchgehend eine ungeheure Raffung ohne Verlust an Genauigkeit. Dazu kömmt, wie gezeigt wurde, die gegenüber dem biblischen Text gesteigerte Sprache. In der vorliegenden Ubergangsstelle finden wir sogar Umschreibung und Vergleich in der gleichen Absicht verwandt. Die Plagen werden "ten wounds" (190) genannt, der Pharao heißt "This Riverdragon" (191)24, während die zuletzt zitierte Stelle ihn mit aufgetautem und wieder gefrorenem Eis vergleicht. Die Intensität der Aussage, die Milton hier erreicht, geht aber auf tiefer liegende Zusammenhänge zurück. Die Wirkung entsteht dadurch, daß sich hier eine Anzahl von Assoziationen einstellen, die alle den Pharao in die Nähe Satans und der Teufel rücken. Auch Satan wird zweimal im Paradise Lost "dragon" genannt 26 . Wir erinnern uns außerdem bei dem Vergleich mit dem aufgetauten Eis an die Situation Satans im Anfang des IV. Buches, wo er sein Inneres beim Anblick der Unschuld schmelzen fühlt (melt) und wo er wegen seiner erneuten Verhärtung vom Dichter sofort mit einem Tyrannen verglichen wird 26 . Genau mit diesem Wort hat Milton aber hier den Pharao eingeführt (the lawless Tyrant, 173). Die Preisgegebenheit an die Leidenschaften ist das Kennzeichen der gottlosen Geschöpfe, wie wir im Paradise Lost wiederholt und zuletzt in dem Exkurs über die Tyrannis XII, 83—101 erfahren haben. Wir wissen, daß die Teufel nur " s t u b b o r n patience" kennen27. Am sinnfälligsten ist aber der Bezug 22 23

24 26 26

27

183/4 (devour); 187/8 (darkness). Das W o r t "still" hat hier natürlich die im 17. J h d t noch weithin übliche Bedeutung v o n "immer wieder". Nach E?ek 29, 3. IV, 3 ; X , 529. IV, 389, 3 9 4 ; Ähnliches wiederholt sich in I X , 4 6 3 — 7 2 ; dort wird charakteristischerweise auch Satan v o m Anblick Evas entwaffnet (Stupidly good) und stürzt sich doch sogleich wieder leidenschaftlich auf sein böses Ziel. II, 5 6 9 ; aus Paradise Regained I, 226 geht noch deutlicher hervor, daß damit Gottlosigkeit gemeint ist.

179

Buch XII: Mosesbericht

zweier epischer Vergleiche aus dem I. Buch zu dem Durchzug durch das Rote Meer und zu der Heuschreckenplage. Die noch betäubt auf dem Feuermeer treibenden Teufelscharen sind für den Dichter der Anlaß, die Geschichte vom Untergang der Ägypter zu erzählen, um recht anschaulich zu machen, wie hoffnungslos verloren die Teufel sind. Wenig später werden dieselben Teufel mit den riesigen Heuschreckenschwärmen verglichen, die das Zerstörerische und die Unzahl von Satans Anhängern charakterisieren28. Solche bedeutsamen Verbindungen zu früheren Stellen geben dem Mosestext eine außerordentliche Dichte. Zwar läßt sich diese Technik überall im Paradise Lost beobachten, aber gerade in den Schlußbüchern wird auf diese Weise die zu Verkürzung und Abstraktion neigende Darstellung belebt. Der Bericht vom Auszug aus Ägypten fällt durch seine merkwürdige Anordnung und eigentümliche Sprachgebung auf. Er setzt mit einem expositionsartigen Überblick über die Geschichte ein, dessen Stil in Kontrastierung zu den mit Bedeutung angereicherten vorausgehenden Zeilen schlicht und sachlich gehalten ist. till in his rage Pursuing whom he late dismissd, the Sea Swallows him with his Host, but them lets pass As on drie land between two christal walls, Aw'd by the rod of Moses so to stand Divided, till his rescu'd gain thir shoar. (XII, 194—99)

Die reinen Tatsachen sind darin bis zum Ende schlicht erzählt. Nun holt aber Milton noch einmal aus, um die Geschichte ganz anders zu erzählen, als besinne er sich plötzlich, daß die geschichtlichen Ereignisse keine Eigenständigkeit haben und nur Ausdruck der in ihnen wirkenden Macht Gottes sind. Er weist mit einer entschiedenen Wendung auf den Wundercharakter der Geschehnisse hin: Such wondrous power God to his Saint will lend, Though present in his Angel, who shall goe Before them in a Cloud, and Pillar of Fire, By day a Cloud, by night a Pillar of Fire, To guide them in thir journey, and remove Behinde them, while th' obdurat King pursues: All night he will pursue, but his approach Darkness defends between till morning Watch; Then through the Firey Pillar and the Cloud God looking forth will trouble all his Host And craze thir Chariot wheels. (XII, 200—10) 28

I, 304—11 und 338—43. Den Zusammenhang beider Gleichnisse mit dem Mosesbericht in XII behandeln MacCaffrey, S. 124ff. und J. M. Steadman, "The Devil and Pharaoh's Chivalry", MLN, 75 (1960). 12*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

"Such wondrous power God to his Saint will lend" (200): An diesem Punkt wechselt auch plötzlich die Tonlage der Darstellung, und erst mit Zeile 210 setzt wieder ein einfacherer Stil ein. Gott also hat Moses die Wundermacht verliehen, daß vor seinem erhobenen Stabe das Meer zurückweicht (200); Gott selbst ist in seinem Engel anwesend (201, 209), er führt sein Volk (204) und bedrängt die Verfolger, indem er aus der Feuersäule herausschaut (208/9). Die veränderte Sehweise, Gott als den Handelnden darzustellen, wirkt sich auch auf den Schluß aus, wo im Unterschied zur ersten Stelle (198) betont wird, daß Moses seinen Stab auf Gottes Befehl erhebt, um das Meer zurückfluten zu lassen (210—12). In dem Hauptstück, das die Geschichte des Auszugs von der in ihr wirkenden göttlichen Kraft her erzählt, rückt Milton auch die Darstellung auf eine andere Ebene. Es setzt nicht etwa ein komplizierterer Satzbau ein; es liegt auch nicht allein an den kunstvollen Wiederholungen (202/3, 208, 205/6), noch an den unverhüllten Nennungen (200/1) oder an der sprachlichen Nähe zur Bibel, daß die Sprache gehobener klingt. Zu diesen Zügen kommt hinzu, daß wir nun nach längerer Pause auch wieder futurische Formen hören (200—09). Wir haben auf diese Erscheinung schon für den Schluß von X I hingewiesen 29 . Wo das Futur, wie hier, dominiert, verleiht es dem Vortrag einen feierlichen Klang und ein gemessenes Tempo. Das Futur wird von hier bis zum Schluß von Michaels Rede (269) für Aussagen über Gott oder für prophetische Inhalte verwendet 30 , aber, das muß einschränkend gesagt werden, nicht ausschließlich für diese31. Bis Zeile 269 läßt sich zwar keine strenge Gesetzmäßigkeit für den Gebrauch des Futurs finden. Gelegentlich mögen auch versrhythmische Gründe mitsprechen. Aber nachdem es einmal eingedrungen ist, zeigt sich der stete Wechsel mit dem Präsens als ein belebendes Element für den Rest des Berichtes 32 . Das letzte Stück des Auszugs (210—14) weist zwar noch emphatische Sprachmittel auf (spiegelbildliche Wiederholung: " . . . his potent Rod extends / Over the Sea; the Sea his Rod obeys", 211/2; Alliteration: Rod—ranks; Waves—overwhelm—Warr, 212—14), um dem Untergang der Ägypter, in denen wir durch die obigen Stellen (190—94) die Verkörperung des Bösen zu sehen gelernt haben, Pathos zu verleihen. Aber da die Darstellung hier zu der Perspektive der Exposition (194—99) 29 30 31 32

Vgl. S. 151 ff.; zuletzt am Schluß der Abrahamsgeschichte, XII, 146—52. XII, 228, 234, 242, 244, 257, 263. Vgl. z. B. XII, 206, 223/4, 269. Das Präsens tritt teils als historisches Präsens auf (211—15, 236—38 u. ö.), teils wird es für allgemeine Erläuterungen (221/2, 230, 236, 239, 241) und gelegentlich für Zustände (254, 258) gebraucht.

Buch X I I : Mosesbericht

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zurückgekehrt ist, die nicht auf das Tun Gottes, sondern auf das der Menschen gerichtet ist, macht sich doch eine Senkung der Sprachhöhe bemerkbar. WANDERUNG, GESETZGEBUNG, STIFTSHÜTTE UND EINZUG IN KANAAN

(214—269) Wir betrachten die auf den Auszug folgenden Episoden der Mosesgeschichte wegen ihrer überwiegend gemeinsamen Züge zusammen. Wesentlich kunstloser als die Darstellung der zehn Plagen und des Auszuges ist die des Aufenthaltes in der Wüste. Sie fällt jener gegenüber vor allem deshalb ab, weil Milton, anstatt die Geschehnisse in ihrer Transparenz zu schildern, sich zwischen zwei Ebenen hin und herbewegt: Erzählung und Kommentar verlaufen im Wechsel. Die Wanderung durch die Wüste wird kurz erzählt (214—16), danach äußerlich motiviert (216—19) und moralisch gerechtfertigt (219—22), d. h. Geschehen und Sinngehalt werden im Nacheinander aufgeführt, aber sie durchdringen sich hier nicht mehr. Auch in den Schilderungen des Aufenthalts in der Wüste sind die zwei Schichten nicht ganz verquickt. Sachlich berichtet wird die Bildung des Staatswesens (223—26) und die Einsetzung des Straf- und Zeremonialgesetzes (230—32). Aber über diese reinen Mitteilungen erheben sich zwei Stellen, die dem Bericht erst seine eigentliche Tiefe verleihen: Gott selbst steigt unter Donner und Trompetenstößen zum Berg Sinai herab, um seine Gesetze zu erlassen. Dieser Augenblick wird im Zusammenhang mit anderen großen Momenten des Paradise Lost gesehen und dadurch in seiner Bedeutsamkeit bekräftigt. Die gleiche Trompete ist nicht nur vor der Himmelsschlacht ertönt (VI, 59/60, 202/3), sondern als im Himmelsrat das Urteil über die von Gott abgefallenen Menschen verkündet werden soll, erschallt sie noch einmal (XI, 73—76). Dabei heißt es dort ausdrücklich, daß sie fortan nur noch zweimal, auf dem Berg Sinai und beim Jüngsten Gericht zu hören sein wird. Die andere Stelle, in der die Größe des Augenblicks auf dem Sinai zum Ausdruck kommt, spricht von der furchterregenden Macht der göttlichen Stimme, die einen Mittler zwischen Gott und den Menschen nötig macht (235—40). Aber es fällt an den beiden Stellen noch stärker als oben auf, daß sich die Erschütterung nicht in der Sprachgebung spiegelt, die vielmehr knapp und karg ist. Was die Stellen auszeichnet, ist etwas anderes als sprachliche Kunst: sie werden in ihrer vorausweisenden, prophetischen Bedeutung herausgestellt. Wie die Opfergesetze das Opfer des Sohnes zur Erlösung der Menschheit präfigurieren,

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Interpretation des XI. und XII. Buches (God) informing them, by types And shadowes, of that destind Seed to bruise The Serpent, by what meanes he shall achieve Mankinds deliverance (XII, (232—35)

[so ist Moses als Vermittler die Vorausabbildung des Größeren, des Messias 33 :] that to God is no access Without Mediator, whose high Office now Moses in figure beares, to introduce One greater, of whose day he shall foretell And all the Prophets in thir Age, the times Of great Messiah shall sing. (XII, 239—244)

Hiermit hat Milton noch einmal den prophetischen Klang vom Schluß der Abrahamsgeschichte wiedergefunden. Auf diese Weise wird die darstellerisch schwächere Partie doch zuletzt noch stilistisch aufgefangen und in den großen Zusammenhang der Heilsgeschichte gestellt. Wieder sind es Echoworte, die der zweiten Stelle eine erhöhte Bedeutung verleihen. Seit den ersten Zeilen des Paradise Lost wissen wir, daß Milton darin auch die Erlösung behandeln will 34 . Die gleichen Worte "one greater" (242) treffen uns darum mit besonderer Kraft. Als "Mediator" ist der Sohn von Gott selbst angesprochen worden (X, 60); "Messiah" haben ihn vor allem die Bücher V und VI genannt, wo er als der von Gott Erhöhte und als Sieger über Satan gefeiert wird. Erlöser — Mittler — Triumphator — das alles liegt in den knappen Worten der Stelle; nicht zufällig sind es genau die Aspekte, unter denen der Messias im folgenden gesehen wird. Der anschließende Bericht vom Bau der Stiftshütte und vom Einzug in Kanaan mündet hingegen nicht in eine Prophetie, was vielleicht zuerst überrascht, da mit ihm der Erzählteil des Mosesberichtes endet. Aber erst wenn auch die Auslegung der Gesetze am Ziel ist, begegnen wir wieder einer Vordeutung auf die Erlösung (310—14). Wir haben oben schon kurz die Funktion angedeutet, die der Schluß des Erzählteils hat. Da in allen vorangegangenen Teilen die Anwesenheit und die Wundermacht Gottes verherrlicht wird, wählt Milton zuletzt ein sichtbares Bild, in dem sich Gottes Bund mit den Menschen dokumentiert, eben den Bau der Stiftshütte. Gott selbst, der Wohlgefallen an dem Gehorsam der Menschen hat, gibt den Anstoß und die Vorschriften zur Errichtung seines Heiligtumes, in dem er unter ihnen wohnen will. Die Parallele zu der Wohnung, die sich der Messias in den Herzen der 33

34

Aus Raphaels Berichten kennt Adam bereits den Namen Messias, den der Sohn bei seiner Erhöhung erhält (V, 664 u. ö. in V und VI). In XII gebraucht ihn Milton nur unmittelbar vor der Ankunft Christi noch einmal (359). I, 4/5: "till one greater Man / Restore us, and regain the blissful Seat."

Buch XII: Mosesbericht

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Menschen machen wird, drängt sich auf, aber wir werden auch an den Gehorsam der ersten Noachiten und Abrahams erinnert. Die Stiftshütte manifestiert die enge Verbindung zwischen Gott und Menschen, und ihre Kostbarkeit ist als ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes zu verstehen. Den Eindruck von der Pracht und Bedeutung des Baus, auf die es Milton ankommen muß, erreicht er aber nicht durch rühmende oder schmückende Beiworte, sondern durch die nüchterne Genauigkeit der Angaben. Freilich ist diese in der Bibel noch viel weiter getrieben, aber die für Miltons Zwecke notwendige Konzentration ist auch künstlerisch nur ein Gewinn. Der ganze Schluß des Erzählteils ( 2 4 9 — 6 9 ) ist ein gutes Beispiel dafür, was Milton an Abwechslung, Verdichtung und Vertiefung seiner Darstellung erreichen kann. Denn kaum ist die sachlich schlichte Beschreibung der Stiftshütte vorüber, so leitet er mit leichter Hand zur Erzählung zurück, die eine Vorstellung von dem Weiterzug geben will. Die Länge und die Mühsal des Weges werden aber nicht berichtet, sondern sind nur zu erschließen aus der extrem verkürzten Summierung: "the rest / Were long to teil, how many Battels fought, / How many Kings destroyd, and Kingdoms won" (260—62). Gottes Hilfe wird dagegen ausladend breit in einer Episode veranschaulicht, die ein letztes sichtbares Wunderzeichen mitteilt: Auf Josuas Geheiß steht die Sonne einen Tag lang still, bis die Feinde besiegt sind: Or how the Sun shall in mid Heav'n stand still A day entite, and Nights due course adjourne, Mans voice commanding, Sun in Gibeon stand, And thou Moon in the vale of Aialon, Till Israel overcome. (XII, 263—267)

Die Bedeutung der Stelle liegt darin, daß sie rückblickend auch die vielen vorangegangenen Siege der Juden auf ihrem Zug durch die Wüste als Siege Gottes verstehen läßt. Hier wird die Sprache plötzlich zu dramatischer Bewegtheit gesteigert; Josuas Ausruf wird sogar in wörtlicher Rede und fast mit den Worten der Bibel wiedergegeben 35 . Unmittelbar darauf ist die Sprache freilich schon wieder auf den Ton reiner Mitteilung herabgestimmt ( 2 6 7 — 6 9 ) . Z U R DARSTELLUNG DER ZEILEN

214—269

Wir stoßen in der zuletzt behandelten Partie eigentlich zum ersten Mal auf einen Passus, dessen künstlerische Bewältigung nicht durchweg zu überzeugen vermag. Selbst die anschaulich erzählenden Teile der Geschichte gewinnen nur dadurch Leben und Bedeutung, daß ihre Rolle 35

Josh 10, 12 ff.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

in der Heilsgeschichte nachträglich beleuchtet wird. Merkwürdigerweise sind aber Stellen wie diese trotz ihrer Schwächen nie in die Diskussion über den künstlerischen Wert der Schlußbücher hineingezogen worden. Die Einwände gegenüber XI und XII, einerlei, ob sie sich gegen den Gehalt oder gegen die Darstellung richteten36, haben stets von dogmatisch und thematisch bedeutsamen Stellen ihren Ausgang genommen. Für solche ist aber die Angemessenheit der Darstellung nicht so schwer nachzuweisen, wenn man bei der Interpretation Miltons Absichten im Auge behält, und wenn man auch bei ihrer Beurteilung die zahlreichen Anspielungen auf bereits Dargestelltes und die Entsprechungen zu anderen Partien des Paradise Lost berücksichtigt, durch deren Verwendung die Bedeutung auch der scheinbar kargen Stellen vertieft wird. Es fragt sich, ob die gleichen Voraussetzungen und Rücksichten auch für unsere berichtende Stelle geltend gemacht werden können, und ob sich daraus die Eigenarten, die wir als unbefriedigend empfinden, wenigstens erklären lassen. Aus der Tatsache, daß Milton gewichtige und weniger gewichtige Partien miteinander abwechseln läßt, ist natürlich noch keine Rechtfertigung für eine weniger gelungene Darstellung zu gewinnen. Immerhin stellt sich in einer langen Dichtung eine gewisse Entspannung nach einem Höhepunkt einigermaßen natürlich ein. Nachdem die zehn Plagen und der Auszug mit der Eindrücklichkeit von 'pageants' vorbeigezogen sind, läßt nun die Spannung tatsächlich vorübergehend nach. Doch gibt es auch noch eine tiefere Begründung für diese Erscheinung. Milton rückt dem Ziel von Michaels Bericht jetzt so nahe, daß ihn die Gesetzgebung in ihrer heilgeschichtlichen Bedeutung, aber kaum mehr in ihrer historischen Wirklichkeit interessiert. Sie erfährt daher erst nachträglich in der Auslegung der Gesetze (285—314) eine gesonderte und stark akzentuierte Behandlung. Nachdem Milton von zwei Episoden der Mosesgeschichte eine anschauliche Vorstellung erweckt hat, läßt er die Szene der Gesetzgebung in der Tat zu kurz kommen. Allerdings hat er auch schon in den Darstellungen der Plagen und des Auszugs aus Ägypten im Interesse seines Hauptzieles manches kürzen oder streichen müssen. So fehlt z. B. jede Erwähnung der im Exodus so häufigen Rückfälle des Volkes in Murren und Götzendienst. Wenn wir also etwa im Bericht von der Wanderung durch die Wüste die Übergabe der Gesetzestafeln durch Gott vermissen 37 , so kommt die Sache selbst doch in den späteren Ausführungen zum Gesetzeswerk durchaus zu ihrem Recht (287 ff.). Milton stellt dort hinter den Gesetzen das Gnadenwerk so leidenschaftlich, so deutlich und in so absoluter Gültigkeit auf, daß wir uns sein 36 37

Vgl. S. 157, Anm. 1. Vgl. etwa Greenwoods dahin gehende Kritik (zit. bei Newton).

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mangelndes Interesse für die Darstellung der Szene auf dem Sinai erklären können. Von der Gesetzgebung Moses' an verlieren überhaupt der geschichtliche Ablauf und die geschichtliche Einzelheit an Relevanz. Zwischen Moses und Christi Erscheinen werden keine Zeitläufte mehr anschaulich vergegenwärtigt und keine Gestalten mehr plastisch herausgestellt. Dennoch hält Milton an der Kontinuität der Darstellung fest, da er sich im Unterschied zu dem teppichartigen Entwurf der Bilder des XI. Buches in XII für die zusammenhängende Erzählung entschieden hat. Aber die Auswahl des Dargestellten und die Akzentuierungen der Darstellung werden vom Ziel her bestimmt. Deshalb gewinnen die prophetischen Stellen immer mehr an Gewicht. In ihnen zeigt sich am offensten, daß die konkrete Anschaulichkeit durch die Bedeutsamkeit der Bezüge ersetzt wird. Aber auch die Anreicherung durch Assoziationen und Echoworte, wie z. B. bei der Darstellung des Trompetenstoßes und bei der Nennung des Messias, läuft auf eine Bedeutungssteigerung hinaus. Ebenso motivieren tiefere Bedeutungszusammenhänge die Schilderung der Stiftshütte, und die Aussage der Gibeonszene wird dadurch gesteigert, daß in Zeile 310 die präfigurative Bedeutung Josuas deutlich ausgesprochen wird und von dort auf unsere Stelle zurückwirkt. Die Intensivierung des Bedeutungsgehalts durch Verknüpfungen, Anspielungen und Vordeutungen ist also das Darstellungsmittel, das im Vergleich zu denen der Variation und der Straffung die größere Tragfähigkeit zeigt. Daß die Tonlage häufig wechselt und die Gegenstände einander rasch ablösen, bringt eine Beschleunigung des Tempos mit sich; daß der Stoff so stark zusammengedrängt wird, hemmt hingegen den lebendigen Fortgang des Berichtes eher und wirkt nüchtern. Das gesteigerte Tempo kann nun leicht zur Unruhe und die statische Nüchternheit zur Dürftigkeit der Darstellung führen. Dieser zweifachen Gefahr wirkt jedoch die Intensivierung der Bedeutung entgegen. Nicht überall gelingt es Milton, aus den gegenläufigen Tendenzen ein harmonisches Ganzes zu schaffen; aber immer wieder gelangt die Darstellung zu Höhepunkten — etwa in den prphetischen Stellen oder im Gibeon-Abschnitt — die ihre Kraft aus dem Zusammenströmen von Sinnbezügen erhalten. Wir müssen die zunehmende Bedeutungsvertiefung, die sich in XII vollzieht, wahrnehmen, um hinter einer gelegentlichen Sprödigkeit oder Unregelmäßigkeit der Sprache ihre Aussagekraft zu ermessen, denn wir können die Kriterien für die Angemessenheit des Stils nur aus dem dichterischen Impuls gewinnen, der auch die Auswahl und die Anordnung des Gegenstandes bestimmt, d. h. hier aus der Sinndeutung der Geschichte. Nicht die Fakten der Geschichte, sondern die darin sich offenbarenden Wege Gottes mit den Menschen sollen zur Darstellung kommen.

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Interpretation des X I . und XII. Buches

Dafür eignen sich die hier verwandten Mittel der Bedeutungsintensivierung in besonderem Maße. ZWEITES STÜCK DES MOSESBERICHTS A D A M S ZWISCHENFRAGE UND DIE DEUTUNG DES GESETZESWERKES

(270—314) Als Adam den Erzengel in seiner Rede unterbricht, hat er die Bedeutung des Abrahamssegens nur begrenzt erfaßt als eine Zusage, daß das Menschengeschlecht weiterbestehen werde; und doch genügt ihm diese Gewißheit. Durch sie bestärkt findet er die rechte Haltung gegenüber Gott und begreift die Zukunftsenthüllungen dankbar als eine unverdiente Gnade. Er glaubt jetzt endlich mit klaren Augen zu sehen; darin liegt eine Anspielung auf das trügerische Versprechen Satans, den Menschen die Augen zu öffnen, die aber im Hinblick auf die auch jetzt noch unvollkommene Erkenntnis Adams voll unbewußter Ironie ist38. Adam ist erst auf einer Vorstufe der rechten Einsicht angelangt, woraus sich auch seine Frage nach dem Sinn der Gesetze erklärt. Darum scheint es uns auch nicht möglich, anzunehmen, er spreche hier schon vom Messias, wenn er sagt: "but now I see / His day, in whom all Nations shall be blest" (276/7)39. Das vielfache Wortecho "in whom all Nations shall be blest" weist auch sonst immer nur auf Abraham 40 . Erst in seiner nächsten Rede verrät Michael, daß der Samen Abrahams und der Weibessamen die gleiche Person des Erlösers meinen (324—30), und auch dann verkennt Adam das Wesen der Erlösung noch immer (383—85). Ein feiner Hinweis auf das begrenzte Verständnis Adams ist auch, daß er " J u s t Abraham" sagt (273), ihm also das Attribut "just" gibt, das vor allem Henoch und Noah charakterisiert hat (XI, 681, 703, 818 u. ö.), während Michael von "f aithf u l " Abraham gesprochen hat (XII, 113, 152). Der eigentliche Inhalt des Be38

39

40

Hinweise auf das Problem der Erkenntnis als einer Frage des rechten Sehens sind seit dem IX. Buch häufig: I X , 705—09, 865/6; X I , 211/2; 4 1 1 — 2 0 . Vielleicht läßt sich das "see" (XII, 276) aber auch im wörtlichen Sinn verstehen, nachdem das W o r t im Abrahamsbericht wiederholt und mit Nachdruck v o n Michael so gebraucht worden ist (XII, 128, 135, 158). Newton sieht darin eine Anspielung auf den Messias und zitiert dazu John 8, 56: " Y o u r father Abraham rejoiced to see m y d a y " ; ebenso versteht Addison die Stelle. Allenfalls könnte eine nah benachbarte Stelle des Paradise Lost, die sich.auf den Messias bezieht (One greater, of w h o s e d a y he (Moses) shall foretell, XII, 242), diese Annahme stützen. Professor B. A . Wright hat mich brieflich in meiner Auffassung bestätigt, daß "his day" auf Abraham und nicht auf Christus zu beziehen sei. XII, 125/6, 147/8, 4 5 0 ; auch die Bibel gebraucht diese Wendung immer wieder für Abraham, z. B. Gen 12, 3 ; Acts 3, 2 5 ; Gal 3, 8.

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griffes "faithful" ist ihm noch nicht zugänglich, ehe er vom Messiasereignis aus auf die Menschengeschichte zu blicken gelernt hat (481,571) 41 . Während Adam meint, die Abrahamsverheißung verstanden zu haben, hat er den Gesetzen gegenüber seine Zweifel: wenn Gott, wie er selber erfahren und wie ihn die Geschichte bisher belehrt hat, sich von den Sündern abwendet, wie kann er unter Menschen wohnen, die so unvollkommen sind, daß sie der Gesetze bedürfen (280—84)? Es ist bemerkenswert, daß Adam überhaupt nicht auf die geschichtlichen Ereignisse des Abrahams- oder Mosesberichtes eingeht, sondern nur zu ihrem Sinngehalt Stellung nimmt. Daher ist zu erwarten, daß er Michaels Darlegungen über die Gesetze folgen kann. Michaels dritte Rede klärt in ihrem ersten Teil den Zusammenhang der mosaischen Gesetzgebung mit dem Erlösungswerk, während der zweite Teil direkt auf dieses zuführt 42 . Die Ausrichtung auf die Erlösung ist beiden Teilen gemeinsam und verhindert, daß die Rede zu sehr in einen didaktischen und einen historischen Teil auseinanderfällt. Michaels Antwort auf Adams Fragen greift hier ein letztes Mal auf die Ausgangssituation des Gesprächs zurück, auf die Frage der durch Adams Ungehorsam in die Welt eingedrungenen und darin weiterwirkenden Sünde (285/6). So wichtig dies in dem Augenblick ist, wo der Weg zur Überwindung der Sünde aufgezeigt wird, verweilt Michael doch nicht dabei, weil er den Gedanken der Gnade jetzt in den Vordergrund rücken und somit den Boden für die Erlösung bereiten will. Doubt not but that sin Will reign among them, as of thee begot; And therefore was Law given them to evince Thir natural pravitie, by stirring up Sin against Law to fight; that when they see Law can discover sin, but not remove, Save by those shadowie expiations weak, The bloud of Bulls and Goats, they may conclude Some bloud more precious must be paid for Man, Just for unjust, that in such righteousness To them by Faith imputed, they may finde Justification towards God, and peace Of Conscience, which the Law by Ceremonies Cannot appease, nor Man the moral part Perform, and not performing cannot live. 41

42

Dagegen spricht nicht, daß er es auf die Engel angewandt schon von Raphael vernommen hat (V, 896/7, VI, 204 u. ö.), auch nicht, daß er und Eva selbst das gleiche Wort in der Bedeutung von "treu" bereits verwendet haben (IX, 265, 983); zu "faithful" und "just" vgl. auch S. 148, Anm. 76. 1. Teil: Erklärung der Gesetzes (285—314) 2. Teil: a) Zusammenfassender Geschichtsbericht (315—58), b) Verkündung der Geburt des Messias (358—71)

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Interpretation des XI. und XII. Buches So Law appears imperfect, and but giv'n With purpose to resign them in füll time Up to a better Cov'nant, disciplin'd From shadowie Types to Truth, from Flesh to Spirit, From imposition of strict Laws, to free Acceptance of large Grace, from servil fear To filial, works of Law to works of Faith. (XII, 285—306)

Dieser Passus über die Auslegung der Gesetze ist von der Miltonliteratur stärker beachtet worden als die meisten anderen der von uns interpretierten Teile des XII. Buches. Newton hat sämtliche Bibelsteilen zusammengestellt, von denen der Passus lebt, und hat seine Kraft, Konzentration und Klarheit gerühmt 43 . Tillyard nennt die Gesetzesauslegung Miltons letztes Wort zur Freiheit des gefallenen Menschen, kritisiert aber, daß Milton die legalistische Seite der Erlösung überbetone, und stellt die emotionale Echtheit der Stelle in Frage 44 . Während Lewis sie wenigstens bei seinem heftigen Angriff auf die Schlußbücher, der besonders gegen die Abrahamsgeschichte, den Auszug aus Ägypten und die Passion gerichtet ist, unerwähnt läßt, bewundert Rajan die großartige Endgültigkeit, mit der Milton hier dem christlichen Glauben Ausdruck verliehen habe 45 . Die Zeilen gehören zweifellos mit den wichtigsten Himmelsszenen in Buch III, X, XI zu den großen dokumentarischen Stellen des Paradise Lost, in denen Milton sein Verständnis der christlichen Lehre unverhüllt darlegt. Wir wollen jedoch die theologischen Fragen zurückstellen und vor allem die Leistung der Aussage im Aufbau von XII betrachten. Wir haben auf ihr Verhältnis zu den vorhergehenden Mosesberichten schon hingewiesen 46 . Wir können jetzt präzisieren: Wie die reichen Anklänge an den Römer-, Galater- und Hebräerbrief zeigen, geht die Interpretation des Gesetzes ausschließlich vom Neuen Testament aus, so daß ihre Abtrennung von dem Erzählteil der alttestamentlichen Geschichte berechtigt ist. Indem sich Milton ganz auf den Boden des Neuen Testaments stellt, läßt er Michael zunächst auf Adams Einwand entgegnen: Zwar sind die Gesetze der Sünde wegen notwendig, aber sie sind von vornherein nur als eine vorläufige Einrichtung angelegt. Michael baut sein Argument in zwei mächtigen Sätzen auf, um erst von der Schwäche des Gesetzes und dann von seiner Aufhebung zu handeln. Beide Sätze gehen von einer einfachen Aussage aus (287ff., 300fF.) und 43

44 45 46

Todd und Verity haben noch einige Bibelstellen hinzugefügt; Verity legt darauf Wert, festzustellen, daß die Beziehung nur lose ist und Milton hier die Schrift selbständig interpretiert. Tillyard, Studies in Milton, S. 160. Lewis,S. 125; Rajan, S. 90. Vgl. S. 175.

Buch XII: Mosesbericht

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gipfeln beide in einer sublimierten Wendung, die die Summe des Arguments enthält. Daß das Zeremonialgesetz das Gewissen nicht beruhigen noch den Menschen vor Gott rechtfertigen kann, ist die neutestamentliche Umkehrung dessen, was Moses gelehrt hat47. Schon im Verlauf des ersten Satzes vollzieht sich die Wendung von der äußeren zur inneren Gesetzeserfüllung, denn es heißt, daß die Menschen selber Ungenügen am Gesetz empfinden, weil die Sühneopfer ihr Schuldgefühl nicht auslöschen können. Deshalb spricht Michael von "Conscience" und vom "moral part" des Gesetzes; deshalb meint "live" hier auch nicht das äußere Leben, sondern die Freiheit und den Frieden des Herzens. Wenn wir aufmerksam lesen, kann uns die große innere Bewegtheit dieser Worte nicht entgehen. Sehr schlichte Worte findet Milton für diesen Höhepunkt und setzt mit der gleichen vielsagenden Schlichtheit zum zweiten Teil seines Arguments an: "So Law appears imperfet" 48 . Je schwerwiegender die Unvollkommenheit des Gesetzes ist, um so viel herrlicher erscheint das, was Gott für die Menschen tun wird, wenn die Zeit für den "better Cov'nant" gekommen ist49. An dieser Stelle bricht die Verkündung der Überwindung des Gesetzes durch die Gnade in fünf dichtgedrängten Antithesen durch (303—06). Der neue, höhere Bund schafft dem Menschen innere Freiheit, setzt ihn in den Stand der Gnade und fordert statt der Gesetzerfüllung den Glauben. Mit unerhörter Zucht und Sparsamkeit der Sprache breitet Milton hier die Deutung des Erlöserwerkes vor: Er umschreibt das Angebot Gottes unter immer neuer Berufung auf die Paulusbriefe an die Römer und Galater und auf den Hebräerbrief50. Er schließt mit der neuen Wesensbestimmung des Menschen, die sich erfüllt in "works of Faith". Die bekanntesten Paulusworte sind in diese Zeilen eingegangen und verleihen ihnen ihre Monumentalität, aber auch den Ton der Freude über die große Befreiung. Die neugewonnene Freiheit ist für Paulus zwar keine Sicherheit vor der Möglichkeit der Sünde 51 , 47

48

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50

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Rom 10, 5: "For Moses describeth the righteousness which is of the law, That the man which doeth those things shall l i v e by them" (vgl. Lev 18, 5). Zur Grammatik der Zeilen 300/1: auf "Law" (Singular) folgt das Pronomen im Plural (them); vgl. VII, 519/20: "Man . . . and let them rule"; ähnlich X,815/6; XI, 845/6. H. Darbishire, Milton's 'Paradise Lost' (London, 1951), S. 16 wendet auf solche Fälle einen Begriff von Coleridge an und sagt: "Coleridge insisted upon a logic of passion in poetry which can override the logic of grammar. Milton's poetic language obeys this higher logic triumphantly." Der Ausdruck "better covenant" findet sich Heb 8, 6 (mit Randbemerkung der A.V-. "or testament" und einem Hinweis auf Heb 7, 22). In der von Milton hier gewählten Reihenfolge: Gal 3, 19; Rom 7, 11.; 3, 20; Heb 9, 13 f.; 10, 4 f.; Rom 4, 22—24; 5, 1; Hehl, 18 f.; 10, 1; Gal 3, 11 f. und 23; 4, 7; Rom 8, 15 und 13 (vgl. Newton). R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen, 4 1961), S. 333 f.

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Interpretation des X I . und XII. Buches

aber sie ist die Befreiung vom Zwang der Sünde, und das bringt in seine Briefe den kraftvollen Ton der Gewißheit, den wir hier wiederfinden. Von einer Müdigkeit oder Niedergeschlagenheit, die den Schlußbüchern so oft vorgeworfen werden, ist hier nichts zu verspüren. Milton hat den Block, auf dem er den letzten und Schwierigsten Teil seiner Dichtung aufbauen will, kräftig behauen und fest eingefügt. Auf der Gnade Gottes und dem Glauben des Menschen gründet sich das wiederhergestellte Leben vom Erscheinen des Messias an bis zu seiner Wiederkunft. Das ist der Gedanke, den Milton jetzt noch zu entwickeln und für Adam begreiflich zu machen hat. But Joshua w h o m the Gentiles Jesus call, His Name and Office bearing, w h o shall quell The adversarie Serpent, and bring back Through the worlds wilderness long wanderd man Safe to eternal Paradise of rest.

(XII, 3 1 0 — 1 4 )

Obwohl der Gedanke an die endgültige Erlösung, mit der Michael diesen ersten Teil seiner Rede beschließt, aus der Verkündung der neuen Freiheit auf Erden sinngemäß hervorgeht, ist die Aussage von einem anderen Tempo und Ton getragen. Wir finden nicht mehr die Gespanntheit und Prägnanz der Sprachgebung, die jene ausgezeichnet hat. Unter allen prophetischen Stellen ist diese am reichsten an Assoziationen und an emotionalem Gehalt. Die kurze Überleitung (307—10) bringt freilich durch die Namenserklärung Josuas für einen Augenblick ein rationales Element in die Darstellung, mit dessen Hilfe Michael für den Leser den Weissagungscharakter des Alten Testaments beleuchtet, ohne jedoch Adams Verständnis anzusprechen, der dem Namen Jesus sonst nirgends begegnet 62 . Aber die Verknüpfung mit der vorausgegangenen typologischen Charakterisierung des Moses (240/1) kann auch Adam vollziehen, und besonders die wiederkehrende Anspielung auf den Weibessamen wendet sich an ihn: "who shall quell/ The adversarie Serpent" (311/2). Nur dieses einzige Mal erscheint diese Verheißung statt im Wortlaut in dichterischer Umschreibung. Auch liegt der Ton diesmal nicht auf dem Kampf und Sieg des Erlösers, wie die schönen anschließenden Zeilen von der Erlösung des Menschen zeigen. Die Voraussage von der Wegschwemmung des Paradieses (XI, 829—38) war für Adam darum besonders erschütternd, weil er damit auf seine eigene Situation, den bevorstehenden Verlust des Paradieses, angesprochen worden war. Jetzt taucht der Begriff des Paradieses in einem neuen, bildlichen Sinn auf und wird mit der den Menschen auferlegten Wanderschaft durch das Dunkel der Welt 52

Milton erwähnt den Namen Jesus nur noch einmal im Paradise Lost, und zwar in jener merkwürdigen prophetischen Stelle X , 1 8 2 — 9 2 .

Buch XII: Geschichtsbericht bis Christi Geburt

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so kontrastiert, daß Adam die Wendung von der sichtbaren zur unsichtbaren Welt wenigstens ahnen kann; dem Leser entgeht jedenfalls dieser Wink nicht. Der langsame rhythmische Fluß der wohlklingenden Zeilen 63 lädt zum ruhigen Nachsinnen ein, und die Bilder von Leid und Tröstung bewirken eine innere Sammlung und Teilnahme, wie nur wenige Stellen des Paradise Lost sie auslösen. 3. Der Geschichtsbericht von Josua bis Christi Geburt (XII, 315—371) Nachdem die Gesetzesauslegung in einer Weissagung ausgeklungen ist, bringt Michael seinen letzten Geschichtsbericht (315—58), der mit der Verkündung von der Geburt des Messias schließt (358—71). Die Anknüpfung geschieht durch die Antithese "eternal Paradise" (314) und "thir earthly Canaan" (315). Weniger die äußerste Zusammenraffung der Ereignisse von Josua bis zur Zeit um Christi Geburt ist an der Darstellung bemerkenswert, sondern daß Milton überhaupt noch Interesse am historischen Bericht hat, denn der Sinngehalt der Geschichte ist ja inzwischen bereits deutlich gemacht und ihr Ziel durch Vorblicke sehr merklich in den Vorstellungsbereich gerückt worden. Warum also überhaupt ein Geschichtsbericht, wo doch die geschichtlichen Tatsachen also solche schon entwertet sind und Michael offensichtlich auf das Ende der Unterweisung drängt ? Was wird dabei genannt, und wie wird es beleuchtet ? Der äußere Verlauf entspricht dem, was Michael zu Anfang angekündigt hat: "good with bad/Expect to hear" (XI, 358/9); hier lautet es im Echo: "Part good, part bad, of bad the longer scrowle" (XII, 336). Das Auf und Ab der jüdischen Geschichte zeugt von dem Ringen der göttlichen Gnade mit der menschlichen Sündhaftigkeit, d. h. es ist typisch für Geschichte überhaupt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit rührt Milton mit erstaunlicher Prägnanz an die Hauptereignisse. Ein einziges Wort muß oft genügen; mit: Judges (320) — Kings (320) — All Prophecie (325) — wird die Welt des Alten Testaments evoziert. Aber an einigen wenigen Stellen kristallisieren sich Einzelheiten heraus: der Tempelbau, die babylonische Gefangenschaft als Strafe für Götzendienst, der Wiederaufbau des Tempels, seine Befleckung während des Machtstreites der Hohenpriester. Es ist also offensichtlich die Geschichte eines Volkes, in dessen Leben der Tempel, das Symbol der Gegenwart Gottes, den Mittelpunkt bildet. Auch darin ist die jüdische Geschichte ein Spiegel dessen, wie Milton Geschichte überhaupt versteht. Eine einzige Gestalt wird namentlich genannt: David. Ihm sind 10 von den insgesamt 44 Zeilen gewidmet. Er ist "both for pietie renownd/ 53

Vgl. die verlangsamenden w- und n-Laute von 313 und die kräftigen s-, t-, p-Laute von 314.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

And puissant deeds" (321/2), darum heftet sich an ihn ein göttliches Versprechen, daß sein Thron ewig dauern werde 64 . Aber damit das nicht im wörtlichen Sinn verstanden wird, erklärt Michael sofort, daß der verheißene Nachkomme kein irdisches, sondern das ewige Königreich aufrichten werde. An dieser Stelle laufen alle bisherigen Weissagungen zusammen. Die an Adam, an Abraham und an David ergangenen Verheissungen deuten alle auf den letzten der Könige, dessen Herrschaft kein Ende haben wird. Der prophetische Gehalt ist deshalb hier besonders dicht, was auch sprachlich durch das dreimal wiederholte "foretold" (327—29) gestützt wird. Zugleich erfährt er eine Bereicherung, indem hier erstmals auf die königliche Herkunft und das Herrscheramt des Messias hingewiesen wird. Dieser neue Aspekt des Erlösungsaktes hat ebenso auf das irdische Erscheinen des Messias wie auf seine göttliche Machtvollkommenheit hinzudeuten. Der Messias wird konkret in das Davidsgeschlecht eingereiht und seine Menschwerdung damit als ein geschichtliches Faktum ausgewiesen. Die Erwähnung Davids, der als Gestalt kaum hervortritt, ist vor allem wegen der königlichen Abstammung des Erlösers nötig: die Begriffe "Regal — Royal — King —Reign" ziehen sich wie eine Kette durch die Zeilen 322—-30. Es ist die Aufgabe des ganzen letzten Geschichtsberichtes, das Erlösungswerk in der Geschichte zu verankern. Nachdem geklärt ist, daß der Messias aus dem königlichen Haus hervorgehen wird, führen die Zeiten tiefsten Verfalls, als das Königtum verraten und der Tempel geschändet ist, dahin, daß er "Barr'd of his right" (360) geboren wird. Sobald freilich dieser Zeitpunkt gekommen und die Geburt des Erlösers in den äußeren Rahmen der geschichtlichen Zusammenhänge gestellt ist, beginnt die Transparenz des zeitlichen Geschehens deutlich zu werden (360—71)6S. Zwar ist der neugeborene König seiner irdischen Rechte beraubt, aber seine Geburt ist von auffallenden Manifestationen des Himmels begleitet: von einem wunderbaren Stern und von singenden Engelscharen. Die irdische Gestalt des Messias erscheint nicht in ihrer Niedrigkeit, es fällt kein Wort von Krippe und Armut; alles was von seiner Geburt erzählt wird, ist sub specie aeternitatis gesehen. Darum wechselt Milton rasch vom erzählenden Bericht (360—67) zur Erläuterung über (368—71). Wir kennen dieses Vorgehen aus dem Mosesbericht, und wir werden darauf als auf ein Kennzeichen der letzten großen Reden Michaels noch einzugehen haben. Sowie das Fak54 55

2 Sam 7, 16; Ps 89,3f.; Ps 89,29 erklärt den Wortlaut von Zeile 347 (vgl. Hughes). Milton läßt die Inkarnation als das einzige große Geheimnis des christlichen Glaubens gelten und mahnt zu äußerster Zurückhaltung bei ihrer Auslegung; vgl. De Doctrina Christiana, St. M., S. 1006/1.

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tische in Umrissen wiedergegeben ist (die Könige, Hirten und Engel an der Krippe, die nur mit "his place" bezeichnet wird), wendet sich Milton der Deutung zu: Das Geheimnis des Menschensohnes ist in den Worten "A Virgin is his Mother, but his Sire / The Power of the most High" (368/9) aufgedeckt. Daher erweist sich die nächste Aussage "he shall ascend/ The Throne hereditarie, and bound his Reign / With earths wide bounds, his glory with the Heav'ns" (369—71) schon nicht mehr als der irdischen Geschichte zugehörig, sondern vollzieht die Hinwendung zur Prophetie. Im Gekommensein allein Hegt das Werk nicht, es wird erst in der Zukunft vollendet66. Die Ausbreitung seiner Macht über die ganze Erde meint eine geistige Herrschaft, seine Herrlichkeit im Himmel bedeutet die Erlösung. So sublimiert sich die Darstellung von der Geburt des Messias von Stufe zu Stufe und ist ein gutes Beispiel dafür, mit welcher Meisterschaft Milton die vorgängliche und gegenständliche Ebene mit dem Hauptthema zu verbinden versteht, indem er die Aussage immer transzendenter werden läßt. VERHEISSUNG UND TYPOLOGIE IN MICHAELS REDEN

Nachdem wir in unserem Zusammenhang auf die erste Erlösungstatsache, die Geburt des Messias, gestoßen sind, fügen wir hier am besten einen Exkurs ein. Milton hat verschiedene Darstellungsmittel verwandt, um gegen Schluß des Paradise Lost den Hauptgedanken der Erlösung herauszuarbeiten. Das auffallendste und wichtigste ist neben den zwei Endzeitvisionen die Ankündigung des Messias. Sie geschieht in zwei Formen: in der typologischen Vorausdeutung und in der Erklärung des Geheimnisses vom Weibessamen (Gen 3,15). Alle diese Stellen zeichnen sich durch eine sprachliche Hervorhebung aus. Sie versuchen, das noch ausstehende Ereignis als ein schon im Geschichtsverlauf angelegtes und von Gott verheißenes von immer neuen Seiten zu erfassen. Dennoch wird das Geheimnis durch die vordeutenden Bezugnahmen nicht völlig gelüftet. Es zeigt sich als ein nur in Umschreibungen faßbares Moment, das der Menschengeschichte eine verborgene tiefere Bedeutung gibt, indem es in ihr auf so verschiedene Weise abgebildet ist. Anders gesagt, die Vorausdeutungen auf den Messias lassen erkennen, daß die Geschichte auf ein Ziel ausgerichtet ist, und daß es darauf ankommt, Adam an die Vorstellung dieses Zieles zu gewöhnen. a) Die Verheißung des Weibessamens Als Gott Michael den Auftrag gibt, die Menschengeschichte vor Adam zu enthüllen, fügt er hinzu: "intermix/ My Cov'nant in the Wo6,1

Zum Gebrauch des prophetischen Futurs an dieser Stelle vgl. besd. das auf S. 152 und 163 zum Tempusgebrauch Gesagte. M o r i t z - S i e b c c k , Paradise Lost

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mans seed renewd" (XI, 115/6), und die Inhaltsangabe zu XII sagt: "then, in the mention of Abraham, (Michael) comes by degrees to explain, who that Seed of the Woman shall be, which was promised Adam and Eve in the Fall" 87 . Gemeint ist das in dem Fluch über Satan enthaltene Wort: "Her Seed shall bruise thy head, thou bruise his heel" (X, 181). In der Vorbereitung Adams auf die Erlösung macht die fortschreitende Erhellung des Geheimnisses vom Weibessamen den wichtigsten Teil aus. Es ist für Michael am leichtesten, dabei an diese Verheissung anzuknüpfen, weil sie Adam schon beschäftigt hat, ehe der Engel zu ihm entsandt wird. Nachdem Adam den Spruch zunächst gar nicht beachtet hat, erinnert er sich seiner bereits in dem Augenblick, wo er die Versöhnung mit Gott sucht; er beginnt, darin die Zusicherung seines Weiterlebens (X, 1030—32), später auch die Garantie des kommenden Menschengeschlechts zu sehen (XI, 153—61); aber die volle Bedeutung ist ihm auch in diesem Moment noch verschlossen. Adams unvollkommenes Verständnis der Prophetie vom Weibessamen ist eines der Spannungsmittel, die Milton für die Schlußbücher verwendet. In dem Visionsteil von XI ist der Gedanke ganz zurückgedrängt, aber in XII kehrt er wie ein Leitmotiv mit zunehmender Deutlichkeit immer wieder 58 . Der Ausgangspunkt liegt in der Abrahamsgeschichte. Der Abraham versprochene Samen steht zwar zunächst einfach für die Segensfülle, die Gott seinem Auserwählten bereitet (XII, 125/6) 89 ; aber Michael erklärt sogleich mit großem Nachdruck, daß eben dieser Samen auch Adams Erlöser und der Vernichter Satans sei. Auf das darin verborgene Geheimnis will aber Michael nicht eingehen, denn er schließt unvermittelt: "whereof to thee anon/ Plainlier shall be reveald" (XII, 150/1). Adam bleibt stumm, und selbst als er nach langem Schweigen seine Freude über den Abrahamssegen äußert, sieht er darin nur den Völkersegen, der den Bestand der Menschheit sichert (XII, 270—79). Er erkennt trotz Michaels Worten nicht, daß damit auch der Eva verheißene Erlöser der Menschheit gemeint ist. Darum wiederholt 67

68

69

Gen 3, 15; diese Stelle galt in der theologischen Tradition als Protevangelium und stellte die Ausleger damit vor die Frage nach der Bedeutung des Neuen Testaments für die Auslegung des Alten Testaments; vgl. M. Metzger, Die Paradieseser%ählung (Bonn, 1959), S. 1. In der Auffassung, daß mit dem Weibessamen Christus gemeint sei, stimmt Milton merkwürdigerweise mit Luther überein, während Calvin darunter das gesamte Menschengeschlecht versteht; ebenda S. 4. Auf Gen 3 , 1 5 wird angespielt: XII, 149/50,233,311/2 (leicht variiert und unvollständig), 327, 379, 600, 623. Abrahams Samen wird genannt: XII, 125, 148, 260, 328, 446—49; er wird schon 148/9 und nochmals 327/8 mit dem Weibessamen identifiziert; s. S. 186.

195

Buch XII: Geschichtsbeticht bis Christi Geburt

Michael unmittelbar vor demErscheinen des Messias, daß derAbrahamssamen der gleiche ist wie der Weibessamen (327). Sooft auch die Hinweise auf die Bedeutung des Weibessamens wieder auftauchen, wir erfahren nichts von ihrer Wirkung auf Adam. Aber jedesmal, wenn Michael auf den Erlöser hinweist, macht er danach eine kleine Pause. Eine rhythmische Verlangsamung und eine Beruhigung des Tones machen sich an diesen Stellen bemerkbar. Das Gefühl des Innehaltens wird z. B. besonders deutlich erweckt, als von Josua die Rede ist, weil der nachfolgende Satz mit einem "Meanwhile" am Zeilenanfang beginnt (315), das auch an anderen Stellen des ParadiseLost stets einePause voraussetzt. Dies ist denn auch die letzte Pause vor dem Erlöserbericht. Von Adam selbst erfahren wir später, daß er oft versucht habe, das Rätsel des Weibessamens zu ergründen, daß es ihm aber erst durch die Verkündigung der Geburt des Messias begreiflich geworden sei (XII, 376—79). Nach dem Erlöserbericht klingen die Worte vom Weibessamen noch zweimal auf (600/1, 623). Jetzt dienen sie nicht mehr einer Spannung auf das Ereignis selbst oder auf den Augenblick hin, wo Adams Verständnis vollkommen ist, sondern sie bilden die thematische Abrundung des Grundgedankens von der Erlösung. Adam und Eva brechen auf zu ihrem neuen Leben, aber getröstet, denn "the Promis'd Seed shall all restore" (623), wie das letzte gesprochene Wort der Dichtung sagt. So hat sich der im Satansfluch verhüllte Segen der Menschen als Leitmotiv herausgestellt, das den Erlösungsgedanken im Wortecho ständig lebendig hält. b) Die typologische Vorausdeutung Die zweite, für den Leser leichter als für Adam verständliche Form des wiederholten Hinweises auf die Erlösung ist die typologische Vorausdeutung. "Typologie, . . . die Interpretation von Personen, Vorgängen oder Einrichtungen der Vergangenheit als weissagende Vorausabbildungen" 60 , spielt in der protestantischen, vor allem in der reformierten Kirche des 16. und 17. Jahrhunderts eine große Rolle 61 . Es ist bemerkenswert, wie wenig auffällig Milton von ihr Gebrauch macht. Wir 60 61

Bultmann, S. 119. L. Diestel, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche (Jena, 1869), S. 480ff.; vgl. auch O. Ritsehl, Dogpiengeschichte des Protestantismus, III: Die reformierte Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts in ihrer Entstehung und Entwicklung (Göttingen, 1926); L. Goppelt, Typos\ Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen (Gütersloh, 1939); ferner Die Religion in Geschichte und Gegenwart (Tübingen, 3 1957), (Artikel "Allegorie" II). Ein guter Überblick über die biblische Typologie in Miltons Dichtung findet sich bei H. Spevack-Husmann, *The Mighty Pan' (Münster, 1963). 13*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

haben bereits gesehen, daß er seiner Darstellung der alttestamentlichen Gestalten und besonders deutlich dem Verständnis des Gesetzes die typologische Anschauung zugrunde legt, aber nur an wenigen Stellen bedient er sich ihrer Terminologie: dort, wo er von der Unvollkommenheit der Gesetze, von Moses' Mittleramt und von Josua spricht 82 . Als Michael bei der Gesetzgebung auf dem Sinai zum erstenmal die Begriffe "types/ And shadowes" einführt (232/3), verbindet er sie sofort mit der Prophetie vom Weibessamen, so daß grundsätzlich auch Adam die Möglichkeit hat, sie, wenn sie wiederkehren, auf den Messias zu beziehen. Die Stelle erhält ihre Emphase also ebenso sehr durch die Assoziation zu Bekanntem wie durch ihren betont typologischen Charakter. Die Typologie spielt im Paradise Lost keine selbständige Rolle, sondern wird den dichterischen Absichten untergeordnet. So erhalten auch die Moses- und dieJosua-Stelle ihre Hervorhebung nicht eigentlich durch die Typologie, sondern durch sprachliche Mittel: in der einen wird in einer auf diesen Höhepunkt hin ansteigenden Satzperiode erstmalig der Messias genannt, in der anderen hebt Michael hervor, daß Josua auf den Überwinder der Schlange vordeute. Daraus erkennen wir, daß die spezifisch typologischen Stellen durch ihre Verbindung mit der Prophetie vom Weibessamen eine Stütze erfahren, damit auch sie dem Verständnis Adams zugänglich sind. Während der Leser in den stets neuen Vorausabbildungen das geheime Ziel längst erkannt hat, wird Adam erst langsam zur Einsicht in ihre tiefere Bedeutung gebracht. Zwischen der Führung des Lesers und der Adams besteht also ein gewisses SpannungsVerhältnis, und der Leser kann Adams wachsendes Verständnis umso freier und wachsamer erleben, als er selbst die Zusammenhänge schon kennt. C. DIE BOTSCHAFT VON DER ERLÖSUNG (XII, 372—587) VORBEMERKUNG

Milton legt den Darlegungen Michaels die Vorstellung von drei Erscheinungsformen des Erlösungswerkes zugrunde: die erste ist der Tod und die Auferstehung des Messias; darauf folgt die Ausgießung des Heiligen Geistes; die letzte Phase ist die Wiederkunft des Messias in der Endoffenbarung. Die beiden ersten werden in je einer Rede behandelt (386—450; 485—539), die dritte dagegen bildet in den beiden Reden den krönenden Abschluß (451—65; 539—51). Der Aufbau des letzten Teils der Unterweisung hängt also mit Miltons Auffassung von dem Ganzen des Erlösungswerkes zusammen. 62

Typologische Bedeutung der Gesetze: XII, 232/3, 291, 303; Moses als Typos: 240—42; weniger deutlich erscheint Josua als Typos: 310—14.

197

Buch XII: Zwischenszene

Im allgemeinen beurteilt die Miltonkritik die Rede über den Erlöser sehr ablehnend, hat sie aber noch keiner Einzeluntersuchung unterzogen. Tillyard findet sie kraftlos und von vorangehenden und nachfolgenden Stellen überschattet; auch Rajans Urteil geht in dieser Richtung 63 . Daiches meint, daß das Bild am Ende des XI. Buches uns der echten Tröstung der Dichtung viel näher bringe als die Erlöserrede, denn diese sei "not, as Milton reveals the story, the culmination, but only an incident in the long history" 64 . Wir schieben die Frage, ob der Dichter der Darstellung des Erlösungswerkes im Rahmen seiner Dichtung das rechte Gewand und Gewicht gegeben habe, auf und erörtern zuerst die Durchgestaltung des eben angegebenen dreiteiligen Aufbaus. Unsere Antwort wird davon abhängen, wie stark wir die Reden integriert finden; daher werden wir außer ihrem Ausgangspunkt auch ihre Wirkung auf Adam in Betracht zu ziehen haben. Wir werden aber auch die Gegenfrage zu stellen haben, ob nicht hinter der auffallenden Zurückhaltung und Kargheit der Reden ein Sinn zu finden ist, der ihnen dieses Gepräge gibt. 1. Die Zwischens^ene

und Adams

Frage

(372—385)

Nach dem Bericht von der Geburt des Messias hält Michael inne, weil er Adam in Tränen der Freude sieht. Adam ist vor Ergriffenheit kaum fähig zu sprechen. He ceas'd, discerning Adam with such joy Surcharg'd, as had like grief bin dew'd in tears, Without the vent of words, which these he breathd.

(XII, 372—74) 65

An dieser Stelle wird ein erstes Mal seit dem Anfang von XII die Gesprächssituation vom Dichter direkt, wenn auch nur für einen Augenblick, in Erinnerung gerufen. Anschließend an den Erlöserbericht geschieht es noch einmal (466—68). Das ist sowohl von der Handlungs- wie von der Gedankenführung her besonders sinnvoll. Die Unterweisung geht ihrem Ende entgegen, und die Handlungsebene wird durch dies Mittel allmählich wieder in die Vorstellung einbezogen, und zwar um so zwangloser, als die beiden Augenblicke dazu besonderen 63

64 65

Tillyard, Studies in Milton, S. 163f.; Rajan, S. 83. Eine gute Analyse von XII, 386—435 in Entgegnung auf Tillyard und Lewis, besonders zu den Z. 414 und 434, findet sich bei Madsen, S. 257 fT. D. Daiches, Milton (London, 1957), S. 210f. Die Konstruktion von Z. 374 ist dunkel; der einzige Hinweis darauf findet sich bei Masson, der feststellt: "a very peculiar construction." Könnte der Wendung "which these he breathd" vielleicht die Formulierung "the which he breath'd" zugrunde liegen, die hier mit"and these he breath'd" verschmolzen wärePHughes schlägt vor: "which (i. e. of which) he breath'd".

198

Interpretation des XI. und XII. Buches

Anlaß geben, da sie von höchster innerer Bewegung sind. Aber auch weil das, was Michael jetzt noch zu sagen hat, die Vorstellung und das begriffliche Denken übersteigt, ist ein Hinweis auf die Wirkung seiner Worte geboten. Daß sich dagegen vor Adams letzter Rede nur ein formelhafter Zwischensatz findet66, ist ein Zeichen der feinen Abtönungen, mit denen Milton auf die Dämpfung des Schlusses hinarbeitet. Nachdem Michaels zweite Rede über das Erlösungswerk Adam zureichende Erkenntnis und damit innere Ruhe geschenkt hat, verzichtet Milton in den Schlußworten Adams und Michaels auf jede Andeutung von Dramatik und sucht vielmehr nach einer bis zum äußersten gebändigten, geklärten und darum sachlich anmutenden Sprachgebung. Adam, beglückt, nun die geheimnisvolle Weissagung vom Weibessamen endlich verstanden zu haben, zieht dennoch einen irrigen Schluß daraus: er stellt sich einen physischen Kampf zwischen dem Messias und Satan vor und fragt nach dem Wo, dem Wann und dem Wie desselben. Sein vordergründiges Verständnis ist der Ausgangspunkt für Michaels Rede und erklärt ihren überwiegend diskursiven Charakter. 2. Michaels Rede über den Erlöser

(386—465)

VORBEMERKUNG

Noch weniger als im Geschichtsbericht will Milton hier Tatsachen erzählen. Er will vielmehr im Einleitungsteil von Michaels Rede aufdecken, worin die Erlösungstat besteht, um Adams Frage zu beantworten. Zweitens will er aufdecken, was die Erlösungstat bedeutet, weil sich darauf Adams neues Selbstverständnis gründen soll. Deshalb klärt der Hauptteil den Begriff des Glaubens, während die Enderwartung den Gegenstand des Schlußteils bildet. Es ist wichtig, Miltons doppelte Absicht festzuhalten, das Wesen und die Bedeutung der Heilstat zu enthüllen, denn daraus erklären sich die Eigenheiten der Rede. Es kommt Michael nicht darauf an, die irdische Gestalt des Messias lebendig darzustellen. Darum kann man auch nicht sagen, er sehe ihn in der Gestalt der Niedrigkeit. Das hat er in seinem Bericht von der Geburt des Erlösers schon vermieden, und wenn jetzt sein Tod "shameful and accurst" heißt (413), so ist das Wesentliche daran die mit diesem schmachvollen Tod vollzogene um so größere Tat des Gehorsams Christi. Selbst mit der Anführung seines Namens ist der Bericht äußerst zurückhaltend. Hat Michael an zwei früheren Stellen von "great Messiah" (244) und von "the true/ Anointed King Messiah" (358/9) gesprochen, so nennt er ihn jetzt 68

"He ended; and thus Adam last reply'd" (XII, 552); die Formel kehrt zudem vor Michaels Schlußrede ganz ähnlich wieder: "To whom thus also th'Angel last repli'd" (XII, 574).

Buch XII: Erlöser-Rede

199

überhaupt nur einmal, und zwar "the Son" (388), während der geschichtliche Name, Jesus, nicht gebraucht wird 67 . Durchgehend heißt es "he", nur an zwei Stellen wird auf sein Tun mit den Bezeichnungen "thy Saviour" (393) und "the redeemer" (445) hingewiesen. Das Heilsereignis, nicht die Person des Erlösers, muß für Adam begreiflich werden. So tritt auch der Aspekt seines Lebens und Werks gegenüber dem, was sein Kommen für die Menschheit bedeutet, ganz zurück. Wenn Tillyard an der starken Betonung der legalistischen Seite der Erlösung Anstoß nimmt 68 , so berücksichtigt er nicht, daß Auswahl und Betonung des Gegenstands immer auch von Adams Situation mitbestimmt sind: Die Erfüllung des Gebots durch den Erlöser steht gegen Adams Übertretung des Gebots; der Tod Christi hebt den durch Adams Fall über die Menschheit verhängten Tod auf. Diese Antithetik liegt dem langwierigen, belehrenden Einführungsteil zugrunde, weil er die Ansatzstelle für Adams Verständnis ist. Von diesem Gedanken aus kann Adam das Heilswerk als Ablösung der mosaischen Gesetze und die Forderungen des neuen Glaubens als Voraussetzung für die Erlösung erkennen. Da zunächst eine Richtigstellung notwendig ist, bestimmt Michael im ersten Teil das Wesen der Erlösung in Form eines rhetorischen Diskurses (386—410). Im Hauptteil der Rede folgen sich Bericht und Auslegung im raschen Wechsel (411—50): Kaum ist eine Tatsache des geschichtlichen Auftretens Christi genannt, so wird sie auch schon, und zwar im Hinblick auf Adams Verständnis, gedeutet. Wir haben das gleiche Verfahren schon beim Mosesbericht und bei dem Bericht von der Geburt beleuchtet. Michael schließt mit einer apokalyptischen Schau auf die Endzeit, da das Erlösungswerk erst durch die Wiederkunft Christi vollendet wird (451—65). D A S W E S E N DER ERLÖSUNG

(386—410)

Der einleitende Teil baut sich aus zwei Satzperioden auf (386—401, 402—10). Um Adams Vorstellungen von der Erlösungstat zu widerlegen, umschreibt Michael sie anfänglich durch eine Reihe von Negationen (Dream not of thir fight, 386; not therefore joynes the Son/ Manhood to God-head, 388/9; nor so is overcome/ Satan, 390/1; Not 67 68

88

Vgl. S. 190. Über die Bedeutung der messianischen Titel im Neuen Testament vgl. G. Bornkamm, Jesus von Na^areth (Stuttgart, 1956), S. 159ff. und 204ff. In seiner Dichtung spricht Milton nur ein einziges Mal von "Christ" ("On the new forcers of Conscience", Z. 6). Tillyard, Studiesin Milton, S. 160. C. A. Patrides, "Milton and the Protestant Theory of the Atonement", PMLA, 74 (1959) weist nach, daß Milton darin durchaus die Auffassungen seiner Zeit vertritt, und entkräftet damit den gegen die Stelle erhobenen Vorwurf einer rein persönlichen Stellungnahme des Dichters.

200

Interpretation des XI. und XII. Buches

by destroying Satan, b u t . . . 394; nor can this be/ But by . . . 395/6), aber nur, um allmählich, von 394 ab, auf ihre entscheidende Umkehrung hinzuführen. Es ist kein real zu denkender Kampf, sondern ein geistiger, und der Gegner ist nicht Satan, sondern die Sündhaftigkeit Adams und seiner Nachkommen. Und dennoch, das Bild von Satan, der trotz seines Sturzes vom Himmel Adam die Todeswunde versetzen konnte (390—• 92), ist in aller Anschaulichkeit evoziert und tut seine Wirkung, indem es an Adams Verständnis anknüpft und Michaels Rede einen kräftigen Auftakt gibt. Daß gegenständliche Vorstellungen nicht angemessen sind, wird daraus deutlich, daß nicht neue, eindrucksvollere Bilder zur Überbietung dieses ersten herangezogen werden. Sie werden vielmehr nüchtern auf ihren Kern, ihren geistigen Gehalt, reduziert: im Gehorsam gegen Gott und im stellvertretenden Tod liegt die Aufhebung von Adams Schuld. In formaler Strenge bewegt sich der antithesenreiche erste Satz auf die spruchartige Schlußzeile zu: " S o onely can high Justice rest appaid" (401). Immerzu ist Adam mit einer fast überscharfen Deutlichkeit angesprochen (to foil/ Thy enemie, 389/90; thy deaths wound, 392; his works/ In thee and in thy Seed, 394/5; thou didst want, 396; thy transgression, 399); zunächst für Adam, aber in ihm für alle Menschen geschieht das Opfer des Gehorsams (399/400). Den Gedanken eines Opfers aus Liebe rührt Michael nur ganz leicht an: "Both by obedience and by love, though love/ Alone fulfill the Law" (403/4)a9. Dennoch hat dieser zweite Satz gegenüber dem ersten eine neue Note. Die dort gebrauchten Begriffe Gesetz und Gehorsam werden durch die von Liebe und Glauben abgelöst; verdeutlichend wird jetzt das bisher erst allgemein formulierte "suffering death" (398) differenziert zu: "a reproachful life and cursed death" (406). Indem auf diese Weise der Bericht allmählich schon konkretere Aussagen über das Erdenleben des Messias macht, verrät sich gleichzeitig für den Augenblick eine gewisse Anteilnahme des Sprechenden, und damit steigert sich auch die Satzbewegung. Mit einem Mal werden die Enjambements beharrlicher von Zeile zu Zeile gezogen, und die großzügige Konstruktion nach "all who shall believe" (407 ff.) ist ein Beispiel für Miltons "logic of passion", die sich an erregten Stellen gerne einstellt70. 69

70

Dennoch ist der Zwischensatz "though l o v e / A l o n e fulfill the L a w " höchst bedeutsam für die Beurteilung von Miltons Auffassung vom Sühnopfer; die exponierte Stellung von "love / Alone" trägt zur Hervorhebung bei. Am Schluß des Gesprächs lernt Adam in Ergänzung zu diesem Gedanken, daß die Liebe die höchste der christlichen Tugenden ist (XII, 583—85). Vgl. dazu auch III, 134: "But Mercy first and last shall brightest shine". Zum Begriff der "logic of passion" s. S. 189, Anm. 48. An "believe" schließen sich nach Newtons Auffassung drei verschiedene Konstruktionen an, was Verity mit Recht als plump bezeichnet (1. believe in his redemption, 2. believe that this

Buch XII: Erlöser-Rede

201

Kaum merklich vollzieht sich gleichzeitig in diesem Satz das Hinüberwechseln des Blickes von Adam auf die ganze Menschheit. Wird der Opfertod noch ganz von Adams Schuld her beleuchtet, so strahlt seine erlösende Wirkung auf alle Gläubigen aus. Immer wenn von Schuld, Tod und Sühne gesprochen wird, richtet sich der Blick Michaels auf Adam allein (394/5, 404/5, 427/8) oder doch zuerst auf Adam und dann auf die Menschen ( 4 0 0 , 416/7, 4 2 4 ) . Wenn aber von der Auswirkung des Opfers, von der Erlösung, die Rede ist und Glauben gefordert wird, ist immer zuerst an die Menschheit gedacht und nur implicite an Adam (407/8, 418/9, 4 2 5 — 2 7 ) . Die Abrechnung mit der Schuld betrifft in erster Linie Adam, die Verheißung dagegen das ganze mit Adam gefallene Menschengeschlecht. Darin liegt gerade die Bedeutung des Erlösungswerkes, daß es grundsätzlich alle Menschen erreicht, daß aber nur diejenigen, die sich dazu im Glauben bekennen, gerettet werden. Michaels Rede hat daher die schwierige Aufgabe, den Begriff des Glaubens, der zwar keine Aufhebung, aber eine wesentliche Erweiterung des Gehorsams ist, so auszulegen, daß er Adam und seine Nachkommen in gleicher Weise betrifft. Am Ende der Einleitung ist klargestellt, daß der Messias die Gesetze abgelöst und dadurch die Menschheit gerettet hat. DIE TAT DES ERLÖSERS

(411—458)

Der Hauptteil der Rede baut sich aus vier Berichtstücken und drei Auslegungsstücken auf 71 . Die Wendung "For this" (411) resümiert die beiden vorangegangenen Sätze, die den gedanklichen Überbau geschaffen haben, und mit dem dritten Satz beginnt die "konkrete" Darstellung des Sühnewerkes Christi. Wir haben beobachtet, wie das Wort von der gehorsamen Erfüllung des Gesetzes um den Gedanken der Erfüllung aus Liebe erweitert, und wie ein Gefühl für Leid und Schmach des Sühnetodes erobedience . . . 3. believe his merits to save them). Auch Hughes faßt "his merits" als direktes Objekt zu "believe" auf. Die Erklärung von Pearce (zit. Newton), auf die Verity nicht hinweist, erscheint der Vf., die sie unabhängig von Pearce gefunden hat, zutreffender: "which ( = redemption and obedience) (are) his merits to save them." D. h. das dritte Glied wird von "believe" unabhängig gesehen und bildet als verkürzter Relativsatz eine Zusammenfassung der zwei vorhergegangenen. So wird unter den Gedanken von Opfer und Gehorsam ein kräftiger Schlußstrich gezogen, der in den lapidaren Abschlüssen anderer Teile dieser Rede (401, 450) eine Entsprechung hat. 71

411—14: Leiden und Tod; 415—19: Auslegung 419—23: Auferstehung; 424—35: Auslegung 436—46: Aussendung der Jünger; 446—50: Auslegung 451—58: Himmelfahrt; 458—65: Endzeitvision Von 411—35 erstreckt sich ein einziger Satz, während nachher die syntaktischen Einheiten kürzer und die Übergänge lockerer werden.

202

Interpretation des XI. und XII. Buches

weckt wurde. Darum überrascht uns an dem Bericht zweierlei: erstens ist er eine bloße Aufzählung, und zweitens enthält diese keine einzige Episode aus dem Leben Jesu. Keine Wanderschaft, keine Predigt, kein Wunder wird erwähnt; wir hören von keinem Gleichnis, nicht von Taufe und Abendmahl. Der Verzicht auf menschliche Züge und ebenso auf göttliche Lehren des Erlösers ist an dieser Stelle radikal. Das hat sowohl theologische wie kompositorische Gründe. Wenn einzig das Bild des im Leben Verfolgten und im Tod Erniedrigten ersteht, so bleibt alle Aufmerksamkeit auf die rettende Tat, das stellvertretende Leiden bis in den Tod, konzentriert. Es gibt hier kein Erzählen: lediglich eine Folge von sieben Perfektpartizipien rollt in vier Zeilen ab (hated, blasphem'd, seis'd, judg'd, condemn'd, naild, slaine; 411—14). Darin spiegelt sich die Absicht Miltons, eine nüchterne, möglichst knappe und präzise Aufzählung der Leiden Jesu bis zum Tod zu geben. Bewußt werden damit gleichzeitig alle Vorgänge ins Passivum abgerückt. Diese Darstellung entspringt einer bestimmten Anschauung Miltons, nach der "Heroic Martyrdom" (IX, 32) die eigentliche T a t des Erlösers ist. Sehr folgerichtig wird dann auch in dem anschließenden Auslegungsstück die Umkehrung des passivischen "naild to the Cross" (413) in der Form der biblischen Metapher vollzogen: "But to the Cross he n a i l e s thy Enemies" (415) 72 . Weiter unten wird der neugewonnene Begriff der Tat durch die emphatische Wiederholung "this God-like act" (427) und "this act" (429) nochmals unterstrichen. Nirgends ist diese Auffassung Miltons im Sprachlichen so greifbar wie hier, wo das schmachvolle Erleiden des Todes sich in ein im echten Sinn heldisches Tun umwandelt. Worauf es dem Dichter ferner ankommt, ist, die Umkehr des Denkens, die mit Christi Erscheinen notwendig geworden ist, herauszustellen. Er geht dabei schrittweise vor. Die Einleitung hat am Schluß zum ersten Mal und ganz allgemein davon gesprochen, daß nun der Glaube, nicht mehr der Gesetzesgehorsam, den Menschen retten werde (408—10); jetzt heißt es, die S ü n d e n seien denen vergeben, "who rightly trust/In this his satisfaction" (418/9), und weiter unten, daß die Annahme des Sühneopfers Christi im Glauben vom Tod erlöse (425—27). Erinnern wir uns hier der beiden scheußlichen Ausgeburten Satans, Sünde und Tod, und ihrer drastischen Personifizierung in der Allegorie des I. Buches, so ergibt der Vergleich mit der Darstellung ihrer Überwindung die Einsicht, daß in X I I zwar die Plastik der Darstellung aufgegeben, aber etwas Neues dafür gewonnen ist: die Verbindlichkeit der Aussage. Oder denken wir an Adams großen Monolog nach dem Urteil im Paradies, als er verzweifelt um ein Verständnis seiner Lage 72

Col 2.14.

203

Buch XII: Erlöser-Rede

ringt (X, 720—844). Wie leidenschaftlich erlebt er die Vorstellungen von Sünde und Tod! Daneben wirkt der ruhige Ton Michaels freilich nüchtern. Aber wenn wir den Verlust an Dramatik nur als eine Verarmung beklagen, folgen wir Milton nicht, der den Sturm der Leidenschaften tief unter die Erkenntnis stellt. Gegenbeispiele wie die beiden eben genannten machen es aber Milton gerade möglich, die Aussagen über das Heil im XII. Buch in so undramatischer Form zu bringen. Er hat hier die Sprache auf das Wesentliche und Verbindliche beschränkt, aber durch lebhafte Darstellungen früherer Teile des Paradise Lost sind sie angereichert und innerlich belebt. Wir werden das auch an den Schlußreden Adams und Michaels aufzeigen können. Wie der erste Berichtteil den Gehorsam, so stellt der zweite den Sieg Christi dar (419—23). Die Sprache ist immer noch verhalten: "so he dies, / But soon revives" (419/20), aber nicht mehr gestaut, sondern frei fließend und spiegelt in ihrer schlichten Schönheit etwas von dem Geheimnis und der Freudigkeit des Ereignisses wider: ere the third d a w n i n g l i g h t Returne, the Starres of Morn shall see him rise Out of his grave, fresh as the d a w n i n g l i g h t

(XII, 421—23)

Nicht zufällig dominiert in den Worten die Vorstellung von Licht, und die gleichlautenden Zeilenschlüsse "dawning light" werden wir nicht zu den Milton versehentlich unterlaufenen Reimen zählen dürfen73. Das anschließende Erläuterungsstück ist doppelt so lang wie jeweils einer der bisherigen Teile. Nachdem Michael den Glauben sehr eindringlich als die Voraussetzung der Erlösung betont hat, gibt er die dauernde Bezugnahme auf Adam als den Schuldigen endgültig auf mit den Worten: "this God-like act/Annuls thy doom, the death thou shouldst have dy'd" (427/8). Er wagt es, nochmals auf Adams Vorstellung von einem physischen Kampf zwischen dem Messias und Satan zurückzukommen, denn jetzt vermag Adam zu fassen, daß das Zertreten der Schlange nur ein Bild für die Tilgung der Sünde und des Todes im Menschen ist. Daß der Kampf mit Satan nur bildlich verstanden werden darf, geht eindeutig aus den folgenden Erläuterungen hervor: this act Shall bruise the head of Satan, crush his strength Defeating Sin and Death, his two maine armes, And fix farr deeper in his head thir stings 73

Weder J. S. Diekhof!, "Rhyme in 'Paradise Lost'", PMLA, 49 (1934) noch J. M. Purcell, "Rime in 'Paradise Lost'", MLN, 59 (1944) führen diesen Reim in ihren Aufzählungen an. Diekhof! hat als erster behauptet, daß die Reime im Paradise Lost beabsichtigt seien; Purcell bringt im wesentlichen nur eine Korrektur von Diekhoffs Aufstellungen der Reime.

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Interpretation des XI. und XII. Buches Then temporal death shall bruise the Victors heel, Or theirs whom he redeems, a death like sleep, A gentle wafting to immortal Life. (XII, 429—35)

Michael malt die Kampfmetapher sogar noch genauer und etwas spitzfindig aus, als werde Satans Haupt vom Stachel der Sünde und des Todes schlimmer getroffen als der Fuß des Siegers. Mit diesem übersteigerten Bild, aber freilich auch mit dem qualvollen Bild vom Sterben des Erlösers, kontrastiert er die neue Vorstellung vom menschlichen Sterben als einem "gentle wafting to immortal Life". Wie vollkommen ist die ruhige Schönheit dieses einfachen Wortes, in dem alles Bemühen um eine Klärung des geheimnisvollen Ereignisses ausmündet. Der Berichtteil über das Auftreten des Auferstandenen (436—46) hat überraschenderweise erzählenden Charakter, wenn er auch einen gedanklichen Einschub erhält (die Deutung der Taufe, 442—45). Das Wirken des Auferstandenen wird in der Lehre, die ja ebenso wie die Jünger in seinem Erdenleben unerwähnt geblieben ist, und in der Aussendung der Jünger zur Verbreitung des Evangeliums gesehen (439—42). Jetzt, nachdem mit der Auferstehung der Höhepunkt des Geschehens erreicht ist, fließt der Bericht freier dahin. Nun werden auch die Grenzen zwischen Bericht und Auslegung nicht mehr so klar gezogen, wie schon das Auftreten eines Exkurses innerhalb des Berichtstückes zeigt. Damit lockern sich überhaupt die Formen der Darstellung: So wird der Inhalt von Zeile 440 auf Zeile 446 wiederholt (All Nations they shall teach), weil daran die Auslegung des Missionsgebotes besser angeschlossen werden kann als an den Taufexkurs. Der geheime Sinn des Satansfluches ist bereits endgültig gedeutet worden (386—401; 429—34), und nun wird in der Auslegung des Missionsgebotes auch die Abrahamsverheißung in ähnlicher Weise vergeistigt: Hatte der Abrahamssegen die sichtbare Heilsgeschichte auf ein auserwähltes Volk eingeengt, so werden nun durch die Lehre von der Erlösung alle Völker erreicht, denn sie richtet sich nicht auf Abrahams leibliche Söhne, sondern auf die Söhne seines Glaubens 74 : "So in his seed all Nations shall be blest" (450). Dadurch, daß der nachfolgende Bericht über die Himmelfahrt (451— 58) "Then to the Heav'n of Heav'ns he shall ascend" weder temporal noch logisch an diese Auslegungsstelle, sondern nur locker an das letzte Berichtstück anknüpft, andererseits aber schon rein äußerlich durch Syntax und Versbau deutlich in den Zusammenhang mit der großen eschatologischen Vision gerückt ist, hat uns Milton einen Wink zu ihrem Verständnis gegeben. Die Himmelfahrt bildet nicht den Abschluß 74

Rom 4, 16; Gal 3, 7.

Buch XII: Erlöser-Rede

205

des Berichtes vom auferstandenen Erlöser, sondern ist ganz als das große Vorspiel zu seiner Erhöhung und Wiederkunft gesehen. Darauf hat uns schon die Himmelsszene III/l hingewiesen, wo der Sohn selbst die Himmelfahrt ganz ähnlich als seinen Triumph über Satan darstellt (III, 2 5 0 — 5 9 ) . Auf die gleiche Auffassung stoßen wir auch unvermutet im X. Buch, wo die Urteilsszene im Paradies zu jenem merkwürdigen Beiseitesprechen oder besser zu einer Vision des Dichters führt (X, 1 8 2 — 9 1 ) . In allen drei Stellen wird die Erlösung unter dem sinnfälligen Bild des Triumphs über Satan in den Lüften gefeiert. DIE ERSTE VISION DER ENDZEIT ( 4 5 8 — 4 6 5 )

Von der Symmetrie des Redeaufbaus aus gesehen sollte jetzt das Auslegungsstück zur Himmelfahrt kommen. Aber diese selbst ist schon in Michaels Darstellung zu einer Glorifikation geworden, die alle Raumund Zeitvorstellungen hinter sich läßt, da sie sofort nach der ersten Zeile in eine Prophetie übergeht. Wir haben auf die Auflockerung der Formen gegen Ende der Rede hingewiesen, die nun an diesem Punkt den besonderen Dienst erfüllt, die Grenzen zwischen der irdischen und der göttlichen Wirklichkeit zu verwischen: die Himmelfahrt selbst wird zur Manifestation der Herrlichkeit Gottes. Aber Michael sprengt die Vorstellung von der Regentschaft des Sohnes im Himmel sofort, um von seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten zu berichten und die Erlöser-Rede mit einem Blick auf ein vollkommeneres Paradies zu krönen: and thence shall come, When this worlds dissolution shall be ripe, With glory and power to judge both quick & dead To judge th' unfaithful dead, but to reward His faithful, and receave them into bliss, Whether in Heav'n or Earth, for then the Earth Shall all be Paradise, far happier place Then this of Eden, and far happier daies. (XII, 458—65)

Michael hat seine ganze Rede auf das Bild von der Endzeit hin gesteigert. Von der ersten rationalen Definition der Erlösung ausgehend (Einleitungsteil), hat er diese in erster Linie ausgelegt und nur sparsame Hinweise auf das zentrale Ereignis gegeben (Hauptteil), um schließlich im Schlußteil die eigentliche und letzte Erfüllung aus dem Bereich von Diskurs, Bericht und Exegese herauszuheben und ganz in die endzeitliche Schau zu verlegen. Die Ausführungen zur Himmelfahrt haben das Credo (And ascended into heaven, And sitteth on the right hand of the Father) in freier Weise umspielt; auch mit dem Anfang des Schlußteils (458/9) bleibt Milton immer noch in der textlichen Nähe zum Credo

206

Interpretation des XI. und XII. Buches

(And he shall come again with glory to judge both the quick and the dead).Nur die darauffolgende Wendung des Credo (Whose kingdom shall have no end) läßt er noch ausstehen bis zum Schluß der letzten Endzeitvision ( 5 4 9 — 5 1 ) . Dieser merkwürdige kleine Zug gibt uns zu verstehen, daß die vorliegende Stelle noch nicht Miltons letztes Wort zur Erfüllung des Erlösungswerks ist. Michael wendet den Blick schnell von der Verurteilung der Ungläubigen ab, um Adam das Glück der Seligen auszumalen. Die Zusage eines besseren Paradieses ist für Adam von besonderer Wirkung, da doch der Verlust des bisherigen Paradieses als dem Symbol seines unmittelbaren Verhältnisses zu Gott sein eigentliches Unglück ist. Michael rechnet darauf, daß seine Worte einen tiefen Eindruck auf Adam machen und hält danach inne ( 4 6 7 ) . Auch die Sprachgebung ist hier, im Vergleich zu dem letzten eschatologischen Vorblick, noch stark bewegt. Wir haben hier noch pathetische Sprache, wie schon das wiederholte Futur zeigt, aber auch die lebhafte Satzbewegung, Wortwiederholungen (judge, dead 4 6 0 / 1 ; Earth, 4 6 3 ; happier, 4 6 4 / 5 ) , während in der letzten Endzeitvision der Ton der ruhigen Zuversicht durchgehend herrscht, der hier erst in den zweieinhalb Schlußzeilen (463—65) gefunden wird. DIE WIRKUNG DER ERLÖSER-REDE AUF ADAM ( 4 6 6 — 4 8 4 )

Die Dichtung ist mit der Erlöser-Rede sehr nahe an ihr Ziel gerückt, da nun die Wege Gottes bis zur Erneuerung der Welt auch für Adam offenkundig sind. Milton hebt die Größe des Augenblicks darum auch deutlich hervor; er läßt eine Pause in Michaels Rede eintreten "As at the Worlds great period" ( 4 6 7 ) , bis Adam "Replete with joy and wonder" (468) zu sprechen beginnt. Wir haben beobachtet, daß die Erschütterung Adams über die Sintflutvision dem Leser durch eine Apostrophe besonders nahegebracht worden ist, und finden hier ein ähnliches, wenn auch weniger auffälliges Mittel angewandt, um diese Wirkung zu erreichen: Dichter und Leser werden durch die Wendung "our Sire" ( 4 6 7 ) , die gerade an betonten Stellen gelegentlich auftritt 75 , als Miterlebende einbegriffen. Mit besonderer Feierlichkeit wird Michael 75

Unsere Behauptung, daß Milton gerne bestimmte Vorstellungen eingangs festigt' um sich dann in größerer Freiheit darüber hinweg bewegen zu können, aber an markanten Stellen wieder auf sie zurückzukommen (s. S. 119), wird durch den hier vorliegenden Gebrauch von "our" bestärkt. Zu Beginn des Gesprächs wird Adam "our Sire" und "our Ancestor" genannt (XI, 460, 546), und erst an unserer Stelle taucht "our" wieder im Zusammenhang mit Adam auf. Es wird nochmals bedeutsam verwandt an den beiden letzten Stellen, an denen Adam und Eva anders als nur durch "they" bezeichnet werden (XII, 624: our Mother Eve; 638: our lingring Parents).

Buch XII: Erlöser-Rede

207

"th'Archangel Michael" genannt (466), wofür sich in XI und XII keine genaue Parallele finden läßt; die Nennung von Michaels Engelsrang ist aber stets mit einer Hervorhebung verbunden76. In den beiden Formulierungen, vor allem aber in ihrem Zusammentreffen, sehen wir eine Steigerung des Ausdrucks, in der, da sie beide ganz am Schluß noch einmal eng verbunden auftreten (637/8), wohl ein bewußtes Sprachmittel zu erkennen ist". Milton setzt es ein, um zwei Absichten zugleich nachzukommen: der Erweckung erhöhter Teilnahme beim Leser und der Rückerinnerung an die Grundsituation des Gespräches zwischen dem Boten Gottes und dem Stellvertreter des ganzen Menschengeschlechts. Wie die meisten Reden Adams besteht auch die auf die ErlöserRede folgende aus einem emotionalen ersten Teil (469—78) und einem zweiten, der eine noch ungelöste Frage enthält (479—84). Während aber alle übrigen Reden zu Michael hin gewandt sind und meist entweder mit einer Anrede an ihn oder mit einer Apostrophe beginnen, bleibt der erste Teil dieser Rede ganz nach innen gekehrt 78 . Der Ausruf "O goodness infinite, goodness immense" (469) ist kaum als eine Apostrophe aufzufassen; aber selbst wenn wir ihn so verstehen wollten, wäre doch der Unterschied zu der einzigen anderen Apostrophe aus Adams Mund in XII, die sich an Nimrod richtet (64), sehr kennzeichnend für das innere Sprechen an dieser Stelle. Auf jene nimmt Michael sofort Bezug (79), nicht aber auf diese. Der Ton der ganzen Rede ist bei aller Intensität der Äußerung ruhig, der Rhythmus verläuft langsam und stark akzentuierend; beides ist in der eben zitierten ersten Zeile vorgebildet: "O goodness infinite, goodness immense". Durch ihren parallelen Bau, den Gebrauch zwei- und dreisilbiger Wörter, durch emphatische Wiederholung und Taktumstellung auf dem vierten Fuß wirkt sie gemessen und nachdrücklich zugleich. Der Ausruf zeigt, daß der dem Leser längst vertraute Grundgedanke 76

77

78

Meist spricht Milton nur von "Michael", jedoch nachdrücklich von "Angel" bei der Fixierung der Ausgangssituation der Visionen (XI, 286, 421), ebenso, als Michael Adam besonders streng zurechtweist (XI, 635) und im Zusammenhang mit der Apostrophe anläßlich der Sintflutvision (XI, 759, 762). "Archangel" heißt er zweimal kurz nacheinander, w o die Darstellung einen Höhe- und Haltepunkt erreicht hat (XI, 884; XII, 2), ferner ein letztes Mal in der Schlußszene, wo Michaels Hoheit besonders betont werden soll (XII, 626). Zu dem emotional betonten "our lingring Parents" (XII, 638) bildet "the hastning Angel" einen wirksamen Kontrast. (XII, 637). Darin ist ihr am ehesten die verzweifelte Klage Adams über die Sintflut vergleichbar, die auch als Monolog beginnt (XI, 763 ff.) und sich erst langsam (etwa von XI, 779 an) Michael zuwendet. J. E. Parish, "Milton and God's Curse on the Serpent", JEGP, 58 (1959) bezeichnet XII, 469—73 als "the emotional climax" des Paradise host.

208

Interpretation des X I . und X I I . Buches

von Gottes Kraft, das Böse in Gutes zu verwandeln, die sich in der Erlösung gezeigt hat, jetzt auch Adams Eigentum geworden ist: Nicht nur läßt Gott aus dem Sündenfall das Heil hervorgehen (469—71), sondern diese Rettung der erschaffenen Welt ist ein noch größeres Werk als die ursprüngliche Schöpfung selbst (471—73). Adams Freude über die Erkenntnis von Gottes Machtvollkommenheit und Gnade überstrahlt für einen Augenblick sein Schuldgefühl und läßt ihn die Frage erwägen, ob seine Sünde, da Gott mit dem Erlösungswerk darauf antwortet, nicht eigentlich mehr Grund zur Freude als zur Reue gebe (473—78). Milton hat es bei der Darstellung des Sündenfalls vermieden, auf den heiklen Gedanken der 'felix culpa' einzugehen. Jetzt, gegenEnde der Dichtung, legt er ihn Adam in den Mund, freilich, wie wir meinen, ohne sich für ihn zu entscheiden. Ehe man die Stelle als eine absolute theologische Aussage des Dichters wertet, muß ihr Stellenwert in den zwei Schlußbüchern, mithin in der ganzen Dichtung, erfaßt werden 79 . Selbst dort, wo Milton im Paradise Lost als Sprecher in eigener Person hervortritt — etwa in den Exkursen und Prologen — tut er es im Hinblick auf das Ganze seiner Dichtung und auf ihr Verständnis, so daß wir die Stellen nicht einfach verabsolutieren dürfen. Aber hier läßt er ja Adam sprechen, und noch dazu in einer Situation der inneren Erregung über die erlangte Erkenntnis. Adams Stimmungen in X I und X I I sind ein Gewoge von Verzweiflung und Einsicht, Aufbegehren und dankbarer Freude. Keine seiner Reden enthält eine verbindliche, über die Situation hinausweisende Äußerung; das geht schon aus der Art, wie Michael sie auffängt und relativiert, hervor. So ist auch dieser Augenblick der Bewegtheit eine Phase in einer langen, freilich trotz aller Schwankungen aufs Ganze gesehen aufsteigenden Linie: er ist aber nicht ihr Höhepunkt 80 . Dieser ist vielmehr erst in Adams letzten

80

A . O . L o v e j o y , " M i l t o n and the Paradox of the Fortunate F a l l " , ELH, 4 (1937) gibt einen Überblick über die lange Tradition des Gedankens, weist aber auch darauf hin, daß sich schon ziemlich früh Bedenken gegen ihn bemerkbar machen. Diekhoff, Paradise Lost, S. 127 ff. setzt sich mit der A u f f a s s u n g (besonders Lovejoys), daß Milton hier die Idee der 'felix culpa' vertrete, auseinander und weist nach, daß weder der Text des Paradise Lost noch der der Doctrina Christiana diesen Schluß erlauben. Vielmehr habe Milton selbst der F r a g e ähnlich schwankend wie A d a m gegenübergestanden und daher sein " a r g u m e n t " nicht v o n ihrer L ö s u n g abhängig gemacht. W. H . Marshall, " 'Paradise L o s t ' : 'Felix Culpa' and the Problem of Structure", MLN, 76 (1961) faßt die bisherige Literatur zu dem Problem der felix culpa zusammen. Miltons äußert zurückhaltende Stellungnahme zu der F r a g e an der vorliegenden Stelle ist besonders auffallend bei einem Vergleich mit J . Sylvesters Ubersetzung Du Bartas bis Divine Weekes and Werkes (The Imposture: T h e Second Part of the First D a y of the Second Week), S. 93, der die F r a g e mit plumper Direktheit bejaht. Anders Rajan, S. 83.

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Buch XII: Erlöser-Rede

Worten erreicht (552—73); dort, wenn irgendwo, läßt sich von einer verbindlichen Aussage Adams sprechen. Aber noch hat Adam hier nicht die innere Ruhe gewonnen, noch hat er Fragen an Michael. Einen weiteren Hinweis dafür, daß der Gedanke der 'felix culpa' nicht absolut genommen werden sollte, gibt uns die sprachliche Gestalt: " f ü l l of doubt I stand / Whether I should repent me now of sin / . . . or rejoyce / Much more" (473—76). Wir finden nämlich gar keinen Aussagesatz vor, sondern eine Frage, die offen bleibt. Adam spricht mit sich selber in einer starken inneren Ergriffenheit, die ein rationales Abwägen zweier Möglichkeiten oder gar eine Entscheidung nicht aufkommen läßt. Dennoch läßt sich beobachten, daß die Bewegung der Rede in dem Augenblick lebhafter wird, wo Adam den Sündenfall im Licht der Gnade zu erblicken beginnt: or rejoyce Much more, that much more good thereof shall spring, To God more glory, more good will to Men From God, and over wrauth grace shall abound. (XII, 475—78)

Gleichzeitig stellen sich rhetorische Mittel ein, etwa die auf zwei Zeilen zusammengedrängte emphatische Wiederholung "Much more . . . much more, more . . . more", die exponierte Stellung von "To God . . . to Men / From God" am Zeilenanfang und -ende, schließlich auch das harte Aufeinanderprallen der zwei den entscheidenden Sinn tragenden, gegensätzlichen Worte "wrauth — grace", denen die Taktumstellung auf dem vierten Fuß vermehrte Stoßkraft verleiht 81 . Vor allem geschieht es hier zum ersten Mal, daß Adam in der Sprache der Bibel redet 82 . Das alles weist auf die Wichtigkeit der Stelle, berechtigt uns aber dennoch nicht, ihre Aussage absolut zu nehmen. Der Duktus der Rede zeigt, daß es Adam nicht um eine Minderung des Verhängnischarakters der Urschuld geht; daß selbst seine Sünde ad maiorem Dei gloriam dient, ist für ihn keine Endastung, nichts, worauf er pochen könnte. Adams Gedanken kreisen die ganze Zeit um Gott, von dem allein das Urteil über das Maß und die Folgen der Schuld abhängt. Kennzeichnend für die Blickrichtung ganz auf Gott hin ist die Abwandlung, die die hier deutlich anklingenden Worte des Römerbriefes erfahren. Paulus stellt Sünde und Gnade gegenüber: "But where sin abounded, grace did much more abound" (Rom 5, 20) und "Shall we continue in sin, that grace may abound ?" {Rom 6, 1). Milton setzt nun für die menschliche Sünde den Zorn Gottes: "and over wrauth grace 81

82

Taktumstellung auf dem 4. Fuß ist bei Milton selten; sie ist immer stark akzentuierend, z. B. VI, 866; XI, 41; XII, 469; zur letzten Stelle s. S. 207. Zur Taktumstellung im Paradise Lost vgl. Sprott, S. 101. Rom 5, 20; 6, 1; 2 Cor 4, 15; Luke 2, 14. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

14

210

Interpretation des XI. und XII. Buches

shall abound", d. h. er wechselt die Perspektive, aus der gesprochen wird. Weit davon entfernt, dem Gedanken der 'felix culpa' uneingeschränkte Gültigkeit zuzumessen, streift ihn Milton nur, um einen inneren Zustand Adams dichterisch in ein Lob Gottes zu verwandeln, nicht um Zweifel an der Folgenschwere des Sündenfalls anzudeuten. Der Aufstieg des ungefallenen Menschen zu Gott war ein Teil des ursprünglichen göttlichen Planes, um den Adam wohl wußte 83 . Jetzt ist Adam zu der Erkenntnis geführt worden, daß die Wiedereinsetzung dieses Endzieles trotz des Sündenfalls der eigentliche Gnadenakt aus Gottes Machtvollkommenheit ist. Dies, und nicht eine objektive theologische Aussage Miltons, ist aus Adams Worten zu lesen. In Adams Frage nach den Jüngern des Erlösers (479—84) spricht sich die Sorge aus, daß mit dem Kommen des Messias zwar die letztliche Erlösung in Aussicht gestellt, aber das Problem des Lebens in der sündigen Welt noch nicht geklärt ist. Hier setzt Michaels Rede über den Heiligen Geist ein.

3. Michaels Rede über den Heiligen Geist (485—551) VORBEMERKUNG

Die Reden über den Erlöser und über den Heiligen Geist unterscheiden sich von allen vorausgehenden Reden Michaels dadurch, daß sie auf das zentrale Ereignis von der Erlösung nicht mehr nur prophetisch vorausdeuten. Daher haben sie auch beide die Aufgabe, die Erlösung in ihrem doppelten Wesen als Erfüllung durch das Erscheinen Christi und als Verheißung seiner Wiederkunft verständlich zu machen. Dabei hat die erste Rede mehr — wenn auch nicht ausschließlich — das "Schon", die zweite mehr das "Noch-Nicht" zum Gegenstand; doch schließt bereits die erste, wie wir sahen, mit einem Ausblick auf die Endzeit, und andererseits ist die zweite nur möglich, indem sie auf dem "Schon" aufbaut. Wie der Erlöserbericht hat die Rede vom Heiligen Geist ein durchgehendes Thema. Sie schreitet wie dieser im Wechsel zwischen Bericht und Erläuterung fort und gipfelt ebenfalls in einer Endzeitvision; auch auf Grund der gemeinsamen Züge ihres Aufbaus gehören die Reden daher eng zusammen. Nachdem die erste den geistigen Gehalt der Erlösungstat geklärt hat, stellt die zweite den Heiligen Geist als eine weitere Manifestation der göttlichen Liebe dar, die den um ihres Glaubens willen Verfolgten zuteil wird. Der Glaube, den schon 83

Vgl. Raphaels Reden V, 493ff.; VII, 157ff.; VIII, 430, 589ff. Aus allen Stellen geht hervor, daß dieser Plan Adam bekannt sein dürfte.

211

Buch XII: Heilig-Geist-Rede

die Erlöser-Rede allgemein postuliert hat, wird nun mit zunehmender Deutlichkeit als die Entscheidung des einzelnen Menschen ausgelegt, als die ihn Gott bereits in III, 173—202 bezeichnet hat. Milton spricht in der Heilig-Geist-Rede nicht von der Einrichtung einer auf dem neuen Glauben gegründeten Kirche, weil das Gewissen des einzelnen für ihn die Stätte des Glaubens ist. Das bringt es mit sich, daß hier in erster Linie die Innenwelt des Menschen zur Sprache kommt, weshalb die Rede sich am besten verstehen läßt, wenn man sie auf ihre innere Haltung und nicht nur auf ihren Gegenstand untersucht. Die übliche Auffassung sieht in der Heilig-Geist-Rede eine Darstellung der Übel der nachchristlichen Welt oder gar einen einzigen Angriff auf die Hierarchie der katholischen Kirche. Freilich machen diese Punkte einen Teil ihres Inhalts aus, und die Heftigkeit und Deutlichkeit der Sprache gerade an dieser Stelle läßt sich nicht leugnen. So naheliegend es ist, die gegen die falschen Apostel erhobenen Vorwürfe auf das Papsttum zu beziehen, erscheint es doch eine Vereinfachung und Vergröberung von Miltons Absichten, der ja keine historischen Gegebenheiten, sondern die Grundsituation der Welt nach dem Erscheinen des Erlösers aufzeigen will 84 . Milton findet harte Worte für den Mißbrauch der geistlichen Gewalt, und nicht zufällig läßt sich gerade für diese Ausführungen (507—12) eine besonders große Zahl von Parallelen in seinen Streitschriften aufzeigen. Es sind Gedanken, die Milton oft durchdacht und der Welt in leidenschaftlicher Kampfansage entgegengehalten hat. Im Paradise Lost hat er vor allem im Limbus-Passus die Veruntreuung der geistigen und geistlichen Güter als schweres Vergehen des Menschen gegen Gott gegeißelt. Zwar bilden diese Gedanken dem äußeren Umfang nach ziemlich genau die Hälfte der Heilig-Geist-Rede, aber wenn wir untersuchen, wie sie sich in die letzten Unterweisungen Michaels einordnen, so stellen wir fest, daß sie von zwei stark betonten Partien kräftig umklammert sind. Diese lenken das Verständnis der Rede in eine bestimmte Richtung, indem sie beide den Menschen auf die Tatsache der göttlichen Gnade verweisen. Am Anfang steht der Passus von der Tröstung der Gläubigen breit und mächtig da, und am Schluß der Rede wird die Erlösung der Gerechten aus ihren Leiden am Ende der Zeiten noch einmal verheißen. Beiden Rahmenstücken gibt die 84

Begriffe wie "superstitions" und "traditions" (512), "titles" (516) u. a. lassen sich ebensogut allgemein auf eine Bevormundung des einzelnen Gläubigen beziehen wie auf die katholische Kirche; auch das auffallende Wort "infallible" (530) darf uns nicht irreführen: Milton sagt, daß v i e l e den Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben. Die spezielle Anwendung auf den Papst wird erst im 19. Jahrhundert sanktioniert, obwohl sich Beispiele dafür schon im 17. Jahrhundert finden; vgl. OED, unter "infallible", (1); "infallibility", (1). 14*

212

Interpretation des XI. und XII. Buches

Sprache der Bibel eine große Würde und Autorität und verlangt, daß sie im vollen Gewicht ihrer Aussage ernst genommen werden. Aus dem eben Gesagten geht der dreiteilige Aufbau der Rede schon hervor: Einleitungsteil: Wesen und Wirken des Heiligen Geistes (485—497) Hauptteil: Bericht:

Der Glaube und sein Mißbrauch in der Welt (497—539) Ausgießung des Heiligen Geistes, Wirken der Apostel und ihrer Nachfolger (497—524) Erläuterung: Wesen des Mißbrauchs geistlicher Gewalt (524—530) Bericht: Der Glaube in der Gemeinde (531—535) Erläuterung: Wesen der verderbten Welt (535—539)

Schlußteil:

Die zweite Vision der Endzeit (539—551)85

WESEN UND WIRKEN DES HEILIGEN GEISTES

(485—497)

Auf Adams besorgte Frage nach dem Schicksal der bedrängten Anhänger des Erlösers führt Michael den Heiligen Geist als ihren Tröster ein und erklärt sein Wesen, indem er sein Wirken im Inneren der Menschen umschreibt. Seine Deutung stützt sich auf die Worte des Neuen Testaments; es ist ein vielfältiges Echo aus den Evangelien und Apostelbriefen, und zwar diesmal in verhältnismäßig enger Anlehnung an deren Wortlaut 86 . Die Vertrautheit des Lesers mit dem Text der Schrift ruft Erinnerungen herauf, die ihn genauer hinhorchen lassen. An der Verbindlichkeit der Sprache kann jedenfalls der Leser, den Milton voraussetzt, nicht vorbeihören. Der Einleitungsteil stimmt den zuversichtlichen Grundton der Rede an, die sich auf der Zusage fortbewegt, daß der Mensch den Trost und die Stärkung Gottes im Inneren erfährt: "His Spirit w i t h i n them" (488), " s p i r i t u a l Armour" (491), " i n w a r d consolations" (495). Mit dieser Gabe ist die Forderung des rechten Glaubens verbunden (488/9). Die unvollkommene Erfüllung dieses Gebotes in der Welt löst die starke Dynamik des Hauptteils aus und gibt dem Bild vom Treiben der christlichen Welt seine düstere Färbung. Die Anti85

Rajan, S. 84 übt an der Rede heftige Kritik, die er jedoch S. 89 durch seine Hinweise auf die zeitgenössische Auffassung von der nachchristlichen Zeit modifiziert.

86

"And, behold, I send the promise of my Father upon you" {Luke 24, 49); "Howbeit when he, the Spirit of truth, is come, he will guide you into all truth" ( John 16, 13); "faith which worketh by love" (Gal 5, 6); "Put on the whole armour of God, that ye may be able to stand against the wiles of the de v i l . . . A b o v e all, taking the shield of faith, wherewith ye shall be able to quench all the fiery darts of the wicked" (Eph(>, 11 und 16); "I will not be afraid what man can do unto me" (Ps 5 6 , 1 1 ) .

Buch X I I : Heilig-Geist-Rede

213

thetik des Hauptteils, das Problem des rechten und des falschen Glaubens, ist somit im Einleitungsteil angelegt, freilich so, daß das innere Kräfteverhältnis zwischen Glauben und Unglauben bereits daraus abzulesen ist. D E R GLAUBE UND SEIN MISSBRAUCH IN DER W E L T ( 4 9 7 — 5 3 9 )

Wenn wir den Bericht über das Erdenleben des Messias zum Vergleich heranziehen, überrascht uns die Breite und Anschaulichkeit, mit der Michael im folgenden die Tätigkeit der Apostel schildert. Er erzählt von ihren Wundertaten, von den Bekehrungen durch Predigt und Taufe, auch von ihrer Aufzeichnung der Schriften und von ihrem Sterben. Das alles ist wie eine Illustration zu den tröstlichen Eingangszeilen und ist auf einen zuversichtlichen Ton und ein reges, freudiges Tun abgestimmt. Mit der Ausgießung des Heiligen Geistes und der Erzählung von den Aposteln bringt Michael die letzten der Bibel entnommenen und durch sie verbürgten Ereignisse (497—507). Aber wir müssen dazu auch noch den Bericht von den argen Nachfolgern der Apostel zählen (507—14), auf die ja in der Apostelgeschichte hingewiesen wird 87 . Dort warnt der Apostel die Gemeinden vor Irrlehrern und falschen Propheten, worauf sich Zeile 507 ausdrücklich bezieht. Die Schilderung des falsch verstandenen Apostolats führt uns also noch nicht über das in der Apostelgeschichte Implizierte hinaus. Diese nennt die falschen Propheten "grievous wolves", eine Metapher, die Milton hier und an anderen Stellen seiner Dichtung von ihr übernommen hat, um die verderbte Geistlichkeit anzuprangern 88 . Hier liegt nun der Ausgangspunkt für das, was Milton noch über die nachapostolische Zeit hinzufügen will. Nachdem das Treiben jener "greulichen Wölfe" lebhaft ausgemalt worden ist, wird das angeschlagene Thema von der Verfälschung des Glaubens und dem Mißbrauch geistlicher Macht ausgebaut (515—524). Das"Then" (515) ist eine gleichzeitig temporale und explikative Überleitung, die uns erlaubt, die anschließenden Zeilen weniger im Sinn einer zeitlichen Abfolge als in dem einer logischen Folge zu sehen. Ausgelöst wird die Assoziation durch die Vorstellung von den greulichen Wölfen. Dann nämlich, wenn die Nachfolger der Apostel ihren eigenen Vorteil suchen, 87

88

Acts 20, 29. D i e Behauptung dieser Zusammengehörigkeit wird durch die äußere Verbindung beider Teile bestätigt; sie sind nur durch ein Semikolon voneinander getrennt. Ein neuer Einsatz findet sich erst Z. 515, markiert durch einen Punkt am Zeilenschluß, dem eine rhythmisch und gedanklich abklingende Bewegung vorausgeht. Mat 7 , 1 5 warnt Jesus v o r den falschen Propheten und nennt sie "ravening wolves". Lycidas, 1 2 8 (grim W o o l f ) ; " T o the L o r d Generali Cromwell", 1 4 (hireling w o l v e s ) ; Paradise Lost I V , 183 w i r d Satan "prowling w o l f e " genannt.

214

Interpretation des XI. und XII. Buches

so ist der Gedanke, wird ihr Unrecht immer neues Unrecht erzeugen. Die Weiterführung des Themas geschieht, wie wir jetzt erkennen, in der uns bekannten, Milton eigentümlichen Ausweitung des letzten Gliedes einer Reihe. Tatsächlich ließen sich die Zeilen 424ff. ohne Schwierigkeit unmittelbar an Zeile 514 anschließen, aber Milton gibt zuerst seiner Erregung über die Veruntreuung der apostolischen Macht Ausdruck, ehe er ihr Wesen in der folgenden Erleuterung als ein urböses, gegen Gott gerichtetes Prinzip enthüllt. Die Ausweitung treibt das Argument vom Mißbrauch geistlicher Ämter dadurch voran, daß sie den inneren Zusammenhängen nachfragt. Als seine Wurzel wird das Streben der Geistlichen nach weltlicher Macht erkannt (515—17), in dessen Gefolge sie sich auch die Herrschaft über das Gott allein verantwortliche Gewissen der Gläubigen anmaßen (518—22). Der Grundgedanke, daß Gott seine Wahrheit dem einzelnen unmittelbar offenbart, wird in der Rede wiederholt ausgesprochen. Michael lehrt ausdrücklich das Apostolat a l l e r Gläubigen: "the Spirit/ Powrd first on his Apostles . . . then on all/ Baptiz'd" (497—500) und wiederholt es hier noch einmal: "The Spirit of God, promisd alike and giv'n/ To a l l Beleevers" (519/20). Das Unrecht der falschen Nachfolger der Apostel besteht darin, daß sie die Gleichheit aller Gläubigen vor Gott verletzen. Sie versündigen sich dadurch ebenso gegen Gott selbst wie gegen die Menschen, denen die Erlösung die Freiheit von äußerem Gesetzeszwang gebracht hat. Auf dem Hintergrund der Gesetzesauslegung (besonders XII, 300—06) erscheint die Ablehnung jeder geistlichen Obrigkeit nur folgerichtig, weil ja die Frage nach der rechten Nachfolge im Glauben ins Innere des Menschen verlegt worden ist. Wir werden mit der doppelten Anmaßung der falschen Apostel vor Gott und vor den Menschen an das Auftreten Nimrods und an die Diskussion über seine Sünde (XII, 24—101) erinnert. Die Invektiven gegen die Geistlichkeit sind außerdem auf höherer Ebene eine Wiederholung der großen Lehrrede über die Machtgier (XI, 689—99). In der Heilig-Geist-Rede ist die Sünde aber noch größer, weil zugleich ein Machtanspruch über das freie Gewissen erhoben wird, und so ist auch die gesteigerte Erregung der Darlegung gerechtfertigt. In der Ausweitung ist das Tun der falschen Apostel in seinen Motiven und seiner Auswirkung behandelt, aber zuletzt auch schon verurteilt worden: es widerspricht der göttlichen Satzung im Innern des Menschen. Der Erläuterung ist damit schon in gewissem Sinn vorgegriffen, und die Aufgabe des eigentlichen Erläuterungsteiles (524—30) verschiebt sich darum etwas. Anstatt ruhig zu klären, nehmen diese Zeilen das schon Gesagte in leidenschaftlich aufbegehrenden Fragen auf. Es ist der dramatische Höhepunkt der Rede, in dem sich alle Leitbegriffe

Buch XII: Heilig-Geist-Rede

215

(Spirit of Grace, Faith, Conscience) zusammendrängen. Aber die Antwort auf die rhetorischen Fragen ist eindeutig impliziert. Die Leitworte tragen nämlich ganz und gar neutestamentlichen Charakter, und die Fragen selbst sind schon im Neuen Testament gestellt und beantwortet worden, besonders von Paulus in den Briefen an die Römer und Korinther89. Das ist für das Verständnis der Rede aufschlußreich. Sie will nicht nur Anklage-, sondern im Sinn der Apostelbriefe auch Mahnrede sein. Wie Paulus will sie nicht nur die Ungerechten anprangern und vor ihnen warnen, sondern die Guten stärken und ermahnen: ihr seid frei geworden, ihr seid die lebendigen Tempel Gottes, euer Gewissen ist eure einzige Autorität. Der zweite, sehr kurze Bericht (531—35) enthält eine Erweiterung des bisher entworfenen Bildes: Unter den Gläubigen selbst, nicht nur bei den Häuptern der Kirche, verbreiten sich Mißstände, denn nur wenige erfüllen das Glaubensgebot und nehmen Verfolgungen auf sich. Die meisten verraten die Wahrheit und hängen einer veräußerlichten Form des Gottesdienstes an. Weil aber Milton die größere Schuld bei den verantwortlichen Hütern des Glaubens sucht, betont er die Verstöße in der Gemeinde nicht sehr stark. Immerhin will er das Bild des inneren Abfalls von Gott auch nach dieser Seite hin ergänzen. Die ebenfalls knappe Erläuterung (535—39) faßt das Wesen der nachchristlichen Zeit zusammen. In der Welt wird es auch nach dem Kommen des Erlösers den Guten schlecht und den Schlechten gut gehen; das ist das Paradoxon, das mit dem Auseinandertreten von Außen und Innen, von Wahrheit und Trug über das Menschenleben gekommen ist. So erheben sich die Schlußworte drohend und unerbittlich als ein harter Urteilsspruch über die Welt und ihren Lauf: "so shall the World goe on,/ To good malignant, to bad men benigne,/ Under her own waight groaning" (537—39). Aber wir müssen sie auf dem Hintergrund der den Menschen durch die Gnade schon zuteilgewordenen Erneuerung und der ihnen erst verheißenen Endzeit sehen. Der Tag des Jüngsten Gerichts wird die Paradoxie für immer aufheben und die ursprüngliche Ordnung Gottes wiederherstellen. DIE ZWEITE VISION DER ENDZEIT (539—551) tili the day Appeer of respiration to the just, And vengeance to the wicked, at return Of him so lately promiss'd to thy aid, The Womans seed, obscurely then foretold, 89

Vgl. besonders Rom 8, 31—35; / Cor 3, 16 und 17; ferner die großen Kapitel über das apostolische Amt: 1 Cor 4 und 9, und über das innere Gesetz: Rom 7und8.

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Interpretation des XI. und XII. Buches Now amplier known thy Saviour and thy Lord, Last in the Clouds from Heav'n to be reveald In glory of the Father, to dissolve Satan with his perverted World, then raise From the conflagrant mass, purg'd and refin'd, New Heav'ns, new Earth, Ages of endless date Founded in righteousness and peace and love, To bring forth fruits, Joy and eternal Bliss. (XII, 539—51)

Michael hat schon die Erlöser-Rede folgerichtig in einem Ausblick auf die Erhöhung und Wiederkunft des Messias gipfeln lassen. Da die Heilig-Geist-Rede die doppelte Aufgabe hat, das Leid der Welt, in der das Erlösungswerk begonnen hat, aber auch die für dieses Leid von Gott bereitgehaltene Tröstung zu behandeln, ergibt sich die Notwendigkeit, auch auf die letztliche Uberwindung des Leids und auf die endgültige Erfüllung der Tröstung vorauszuweisen. Die letzte Verheißung der Endzeit geht aus dem düsteren Bild der verderbten nachchristlichen Zeit hervor, in der der Gute leidet und der Böse triumphiert. Energisch setzt Michael daher das Jüngste Gericht an den Anfang der eschatologischen Prophezeiung, um zu zeigen, daß hinter der Welt, in der die Sünder mächtiger sind als die Gläubigen, immer Gott steht, der zuletzt Recht spricht. Durch die Wiederkunft des Erlösers, der Satan und seine Anhänger zunichte macht und aus dem Weltbrand die neue Welt erstehen läßt, wird dann die aufbauende Kraft der göttlichen Liebe offenbar. In der Verherrlichung der neuen Schöpfung ist das Hauptthema des Paradise Lost grundsätzlich zu Ende geführt und muß nur noch durch die Einbeziehung von Adams Situation endgültig und überzeugend mit dem Handlungsthema zusammengeführt werden. Das geschieht in den Schlußworten Adams und Michaels durch die Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse auf das menschliche Leben überhaupt und in der Schlußszene noch einmal auf der Handlungsebene, d. h. dort, wo sich die Wirkung der neuen Erkenntnis auf das Innere des Menschenpaares zu bewähren hat. Es erscheint uns daher nicht möglich, die zweite Endzeitvision als eine vom Sinn her entbehrliche Wiederholung der ersten anzusehen90. Wie in der vorangegangenen Rede das neuerstehende Paradies, so wird jetzt das Gericht am Ende der Zeiten in Adams Vorstellung verankert. Der Entwurf der erneuerten Welt ist nicht mehr so ausdrücklich auf Adam bezogen, er betrifft die ganze erlöste Menschheit. Es ist die einzige Prophetie der Endzeit, die wirklich nur von der Wiederkunft und nicht gleichzeitig auch von der Erhöhung des Sohnes spricht. Sie zeichnet sich durch größere Bestimmtheit und Ausführlichkeit vor der 90 Gilbert, Composition, S. 137f. beanstandet die letzte Endzeitvision als eine bloß dem Aufbau dienende Wiederholung.

Buch XII: Heilig-Geist-Rede

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vorigen aus, etwa wenn gesagt wird, daß die vor Gericht stehende Welt die von Satan verderbte ist, oder wenn der Weltbrand jetzt genauer als ein Zeichen der Reinigung der Welt bestimmt wird. In dieser letzten Endzeitvision laufen alle Fäden zusammen. Für die Beschreibung der vollkommenen Seligkeit nimmt Milton drei Hauptbegriffe des Neuen Testaments zu Hilfe: "righteousness and peace and love", und das letzte Wort ist "eternal Bliss". Der Ton ist ganz auf Beruhigung und Tröstung abgestimmt, es ertönt kein prophetisches Pathos mehr. Es ist wirklich der Schlußstrich unter Michaels Belehrung und Verheißung, und der Höhepunkt aller endzeitlichen Prophetien des Paradise Lost. Unsere Anschauung wird durch eine kurze Untersuchung der Sprachgebung der Stelle gestützt. Da die Sprache die am Schluß des Paradise Lost schon wiederholt festgestellten Züge der erhöhten Konzentration und der Anreicherung durch Assoziationen zeigt, können wir uns auf die Beobachtung des Rhythmus beschränken. Mit dem Spruch über die böse Welt beginnt die letzte große Satzperiode der Rede (537). Ihre Bewegung steigt bis zu der Schlußzeile an. Die mit "tili the day . . ." (539) einsetzende Zeilenfolge weist mit kaum merklichen Unterbrechungen (542—45) durchgehend Enjambement auf. D. h. über zwölf Zeilen hinweg wird die Rede mächtig über die Versgrenzen hinweggeführt 91 . Aber am Ende jeder Zeile treffen wir auf ein sinntragendes, vollklingendes Wort (Substantiv oder infinite Verbform), so daß Bedeutungsschwere und Klangkraft der Zeilenschlüsse sich dem Strömen der Rede entgegenstemmen. Dennoch bringt die Gegenwirkung die fließende Bewegung nicht zum Halten, die vielmehr durch den Widerstand anschwillt. Die genannten Zeilen, die kein so ausgesprochenes Enjambement erkennen lassen, heben sich auch inhaltlich dadurch hervor, daß die Rede hier verweilt, indem die Gestalt des Erlösers mit Adams Erkenntnissen eindringlich verbunden wird und als der Retter erscheint, der die neue Zeit heraufführt. Von hier an stellen sich nun auch rhythmische Akzentuierungen ein. In den ersten fünf Zeilen (539—44) ist der Rhythmus ruhig und ohne jede Variation der Taktfüllung verlaufen. Eine erste noch wenig spürbare Intensivierung sind in den Zeilen 545 und 547 die beiden Inversionen auf dem ersten Fuß, denen zwei weitere folgen (549, 550), Aber vor allem die Taktumstellung auf dem vierten Fuß in Zeile 548, in deren Gefolge zwei Inversionen auf dem dritten Fuß auftreten (549, 551), bringt eine dynamische Hervorhebung zustande. In der letzten Zeile: "To bring forth fruits, Joy and eternal Bliss" haben wir fünf verwirklichte Hebungen, zugleich zweimalige 91

Die Kommata am Schluß von Zeile 540 und 548 haben keine wirklich trennende und das Enjambement unterbindende Kraft, da ihre syntaktische Bedeutung gering ist.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Inversion und kräftige Zäsur, dazu die Klangwirkung von brmg — Bl/ss und die Alliteration von/orth — /ruits; eine solche Häufung von klanglichen und vor allem rhythmischen Hervorhebungen gibt Michaels prophetischen Worten eine Energie, die ihnen trotz des Verzichtes auf eine pathetische Sprache92 eine starke Wirkung sichert. Auffallend ist, daß die beiden eschatologischen Prophetien des XII. Buches in der ersten Himmelsszene bereits vorweggenommen sind. Auch die große Rede Gottes (III, 274—343) endet in einem großartigen Bild vom Jüngsten Gericht, vom Weltenbrand und der Herrlichkeit der neuerschaffenen Welt. Die Verwandtschaft geht bis ins einzelne, und besonders unterscheidet die Sprache der biblischen Apokalypse diese drei Visionen von allen anderen Ausblicken auf die Endzeit. Sie finden sich gerade in denjenigen Teilen der Dichtung, in denen das Hauptthema, erst vorgreifend, dann abschließend, am stärksten durchkomponiert ist. Obwohl jedoch die zwei Stellen in Buch XII in der ihnen innewohnenden Tendenz und in der Wahl der Bilder mit der Stelle des III. Buches verwandt sind, so erreichen sie deren Dynamik nicht. Aber es ist nicht notwendig, die Gründe dafür in einem Versagen von Miltons Kräften oder in einer zuletzt überhandnehmenden Resignation zu suchen. Ihr ruhigerer Ton hängt mit der Situation zusammen, aus der sie herauswachsen, und mit dem Eindruck, den sie auf Adam wie auf den Leser zu machen bestimmt sind. Die Sprachgebung der beiden letzten Bücher steht im Einklang mit ihrer Funktion, durch Klärung zur Erkenntnis zu führen. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN ZUR HEILIG-GEXST-REDE

1. Der "Pessimismus": Tillyards Einwände gegen die Rede vom Heiligen Geist richten sich nicht gegen ihre Kritik an der Geistlichkeit, sondern gegen ihren Pessimismus gerade an der Schlußstelle. Er sagt: "The comfort is nominal, the fundamental pessimism unmistakable" 93 . Diese Meinung kann nach dem Gesagten aber nur gelten, wenn wir die Stelle isolieren. Wir müssen ihren "Pessimismus" gegen die bereits ergangene Stärkung und Verheißung halten. Nur wenn wir diese nicht ernst zu nehmen vermögen, wenn wir sie als Vertröstung auf ein Jen92

93

So kommt z. B. im Schlußteil kein prophetisches Futur vor. Statt dessen finden wir vier von "him" (542) abhängige Perfektpartizipien (promiss'd, foretold, known, to be reveald, 542—45), während die einzigen aktiven Verben (von "reveald" abhängig) in der Infinitivform erscheinen (to dissolve; then raise, 546/7). Das gleiche Phänomen wiederholt sich noch einmal in den Schlußzeilen (548—51); wir finden wieder einige Perfektpartizipien (purg'd, refin'd, founded) und einen Infinitiv (to bring forth). Tillyard, Milton, S. 287 und ähnlich in Studies in Milton. S. 167.

Buch XII: Heilig-Geist-Rede

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seits und nicht als echten Trost verstehen, geht es an, einen fundamentalen Pessimismus gegen die Erlösung auszuspielen. Aber Milton hat sein Werk von der Rechtfertigung Gottes breit genug angelegt und fest genug gefügt, um uns vor diesem Eindruck zu bewahren. Zugespitzt gesagt: weil sich Milton überall, im Gesamtaufbau und in einer stets unveränderten Perspektive gegen ein Mißverständnis der Wege Gottes gesichert hat, konnte er seiner Bitterkeit über die Veruntreuung des geistlichen Gutes und über die sündige Welt so freien Lauf lassen. Die zwei Hauptfakten der menschlichen Geschichte, der Sündenfall und das Angebot der Erlösung, d. h. die Frage nach dem Woher aller Übel und nach dem Wie einer Befreiung von ihnen, sind längst evident und werden durch die Schlußbücher an keiner Stelle in Zweifel gezogen. 2. Die Leitworte: Auch die Leitworte der Rede sprechen dagegen, die Rede pessimistisch zu verstehen. "Spirit" — "Truth" — "Faith" und die ihnen zugeordneten Begriffe (wie "conscience", "spiritual", "within" und die Metapher "his living Temples") dominieren durchaus gegenüber den negativen Werten ("lucre", "ambitious", "superstition", "pretense"). Zu Beginn werden die positiven Leitworte einem Thema ähnlich angeschlagen (485—97), dann vom Gegenthema konfrontiert (507—14) und, nachdem die Gegensätzlichkeit in zahlreichen Variationen durchgeführt worden ist (515—27), nochmals in sprachlich eindrucksvoller Weise evoziert: "Faith" findet sich in dreifacher Wiederholung (527—29), und "Truth" erscheint in einer mächtigen Personifikation (535/6). Der Sprache, die auf eine Heraushebung der positiven Leitworte hinarbeitet, stellt sich freilich das Faktisch-Inhaltliche entgegen. Dort, wo "Faith" dreimal im Echo vorkommt, hat das Wort zwar alle Leuchtkraft und Nachdrücklichkeit; dennoch ist der Glaube stets dem Machtanspruch der falschen Nachfolger der Apostel ausgeliefert. Auch die von den Pfeilen der Schmähung getroffene, aus der Welt weichende Wahrheit ist ein großangelegtes Bild, das aber doch auf den Sieg der Verfolger deutet. Trotzdem ist es nicht schwer, Miltons Fingerzeigen zu folgen. Wenn erst einmal, so lehrt der Anfang der Rede, die Entscheidung über den Menschen in sein Inneres verlegt worden ist, verliert seine äußere Geschichte an Bedeutung. Der Gläubige wird schon in seinem zeitlichen Dasein von Gott gehalten und getröstet, und darüber hinaus ist ihm letztlich Erlösung verheißen. Milton hat die Akzente also von vornherein klar gesetzt. Es wäre unverständlich, wenn er in der letzten großen Rede Michaels plötzlich das faktische Geschehen zum Maßstab für das Glück des Menschen machen wollte. 3. Das Thema der Rede: Das durchgehende Thema der Rede ist die Frage nach dem rechten Glauben. Gott schickt den Seinen den Heiligen Geist als Tröster und Beistand. Er gibt ihnen aber auch ein neues Ge-

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Interpretation des X I . und XII. Buches

setz: "the Law of Faith/ Working through love" (488/9). Wer immer diese Gaben und Gebote verachtet, ist von Gott abgefallen. Die Menschen, die aufgrund ihres Amtes der Wahrheit am nächsten stehen müßten, erliegen der Versuchung zuerst und werden zu Verrätern des Wortes und zu Verfolgern der Gerechten. Die Angriffe gegen die Geistlichkeit entwickeln sich somit folgerichtig aus dem Grundthema der Heilig-Geist-Rede. Weil er vom Geist und vom Glauben spricht, weist Milton so beharrlich auf die Veruntreuung des apostolischen Amtes. Es ist nicht schwer, den Ton starker Erregtheit und Bitterkeit in den Vorwürfen festzustellen. Er ist aber bisher ausnahmslos persönlich gedeutet und Miltons antikirchlicher Haltung zugeschrieben worden. Es ist nie untersucht worden, ob er nicht ebensogut aus der Perspektive der Dichtung verständlich ist. Das Opfer des Todes Christi i s t gebracht, der Glaube i s t im Inneren des Menschen aufgerichtet, und dennoch neigt die Welt, neigen gerade die Hüter des Glaubens immer dazu, diese Güter zu veräußerlichen. Die Möglichkeit der Rettung des Menschen ist an seinen Glauben, an seinen neuen Gehorsam vor Gott geknüpft. Eben diese Lehre zieht Adam dann auch, wie noch zu zeigen sein wird, aus Michaels Rede. Das bedeutet aber, daß alles, was gemeinhin ausschließlich oder doch vorwiegend als Hieb gegen die Kirche aufgefaßt worden ist, ein ausgeführtes Exempel für das Entweder-Oder ist, in das Gott den Menschen mit dem Beginn des Heilsgeschehens gestellt hat. 4. "The State of the Church": Es bleibt noch eine weitere Frage zu klären. Aus der Betrachtung des Aufbaus und des Themas der HeiligGeist-Rede hat sich ergeben, daß sie nicht pessimistisch ist und daß sie sich nicht in einem Angriff auf die Kirche erschöpft. Es hat sich gezeigt, daß sie sich vielmehr auf die Auslegung der inneren Gnadenwirkung und auf Beispiele für den rechten und falschen Glauben richtet. Man könnte aber dieser Auffassung mit einem gewissen Recht die Inhaltsangabe zum XII. Buch entgegenhalten. Dort heißt es, Michael berichte zuerst von Inkarnation, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi, danach aber von "the State of the Church tili his second coming". Wenn Milton, für den die Kirche die Gemeinschaft aller Gläubigen, aber keine Institution ist, von einem Zeitraum zwischen dem Erscheinen und der Wiederkunft spricht, so ist "the State of the Church", d. h. der Zustand der von der Erlösung betroffenen Welt, dafür eine angemessene Bezeichnung. Gemeint ist nicht eine geschichtliche Entwicklung der Kirche. Fakten und Chronologie der Geschichte haben, wie wir gezeigt haben, schon mit der Verheißung des Messias ihren Eigenwert verloren. Was Milton als die Quintessenz menschlicher Geschichte bezeichnet hat (good with bad/ Expect to hear, supernal Grace contending/ With sinfulness of Men, XI, 358—60), wird sich

Buch XII: Schlußworte Adams und Michaels

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auch als der Zustand der Kirche herausstellen. Das ist die Summe, die in den Zeilen 537—39 gezogen wird. Ganz den vorchristlichen Zeiten der Visionen von XI entsprechend ist die Welt auch jetzt noch der Ort, wo "the better fortitude/ Of Patience and Heroic Martyrdom" (IX, 31/2) gegenüber einer Mehrheit von Bösen erprobt werden muß. Die Entscheidung für Gott, wie sie Abdiel, Henoch und Noah vorgelebt haben, muß sich auch jetzt als eine Entscheidung g e g e n die sündige Welt fortsetzen. 5. Die Wirkung der Rede: Um die Rede recht zu beurteilen, haben wir nächst ihrem Aufbau, ihrer Sprachgebung und ihrem Thema auch zu bedenken, wie ihre Wirkung auf Adam dargestellt wird; wir greifen der Interpretation seiner letzten Rede daher in diesem Punkt vor. Aus seiner letzten Antwort (553—73) geht hervor, daß er in dem Leiden der Gläubigen einen Sinn erkannt hat. Er zeigt keine Erschütterung, kein Mitleid, er erhebt kein Wort der Klage; er ist vielmehr getröstet und erkennt in allem die Gnade Gottes (Merciful over all his works, 565). Das heißt aber, daß er das Paradoxon der Welt, "to good malignant, to bad men benigne" (538) weder fürchtet noch ablehnt. Der Lohn der Gerechtigkeit und des Glaubens liegt schon in der Kraft (inward consolations, 495), mit deren Hilfe die Sünde (Satans assaults, 492) und das Leid (his fierie darts, 492) überwunden werden können (What Man can do against them, 493). Adam erkennt, daß die Leiden um des Glaubens willen die Gläubigen gerade zum endgültigen Sieg stärken (569/70). Er faßt Michaels Mitteilungen keineswegs als pessimistisch auf. 4. Die Schlußworte Adams und Michaels (552—587)»* He ended; and thus Adam last reply'd. How soon hath thy prediction, Seer blest, Measur'd this transient World, the Race of time, Till time stand fixt: beyond is all abyss, Eternitie, whose end no eye can reach. Greatly instructed I shall hence depart, Gready in peace of thought, and have my fill Of knowledge, what this vessel can containe; Beyond which was my folly to aspire. Henceforth I learne, that to obey is best, And love with feare the onely God, to walk A s in his presence, ever to observe His providence, and on him sole depend, Merciful over all his works, with good 94

Die letzte Rede Michaels umfaßt die Zeilen 574—605. Ihre Aufgliederung in die Schlußworte zum Gespräch mit Adam (574—87) und in einen zweiten, zur Handlungsszene überleitenden Teil wird auf S. 221 begründet; vgl. auch S. 239.

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Interpretation des XI. und XII. Buches Still overcoming evil, and by small Accomplishing great things, by things deemd weak Subverting worldly strong, and wordly wise By simply meek; that suffering for Truths sake Is fortitude to highest victorie, And to the faithful Death the Gate of Life; Taught this by his example whom I now Acknowledge my Redeemer ever blest. (XII, 552—73)

Adams Schlußworten muß eine hohe Bedeutung zukommen, wenn unsere Auffassung berechtigt ist, daß die Wirkung der Schlußbücher davon abhängt, wie stark Adam von Michaels Visionen und Reden ergriffen wird und ob er durch die Offenbarung der Wege Gottes zu einem neuen Selbstverständnis gelangt. Unserer Untersuchung derselben liegen drei Kriterien zugrunde: die Dichte und Formstrenge von Adams Rede, ihr gedanklicher und emotionaler Reichtum und der sie bestimmende Ton der getrosten Bescheidung. Das heißt aber, daß wir das dichterische Verfahren einer wohlbedachten Straffung, Vertiefung und Dämpfung der Aussage, die überall in den Schlußbüchern am Werke ist, auch und gerade hier an dieser entscheidenden Stelle antreffen. Eine so eindeutige und ausgewogene Gliederung wie in dieser Rede finden wir in keiner anderen wieder. Der straffe, übersichtliche Bau ist der Ausdruck der dichterischen Ökonomie, mit deren Hilfe Milton Aussagen von grundsätzlicher Bedeutung dem Verständnis durch möglichst große Klarheit zugänglich macht. Das formale Gerüst unserer Stelle ist die dafür unentbehrliche Stütze. Die 21 Zeilen der Rede setzen sich aus fünf nahezu gleichgroßen Einheiten zusammen: drei Vierzeiler werden am Schluß von zweimal viereinhalb Zeilen abgelöst. In dieser äußeren Struktur geht der gedankliche Aufbau vollkommen auf : Adam will nämlich den ganzen Gewinn der Unterweisung ordnend und abschließend zusammenfassen. Das Schema sieht so aus : 1. Einsicht in die Grenzen der menschlichen Erkenntnis a) Vorbereitung 553—556 b) Vollzug 557—560 2. Folgerung aus 1.: der neue Gehorsam 561—564 3. Tiefere Begründung von 2. : das Wesen Gottes und seiner Gnade 565—569 4. Wesensbestimmung des Menschen im Stand der Gnade : Glaube und Hoffnung 569—573 Aus der Strukturskizze lesen wir als erstes, daß die letzte Rede keine Ausrufe und Fragen mehr enthält, sondern Schritt für Schritt das neue Selbstverständnis in der Form von gedrängten objektiven Aussagen entwickelt. Dieses neue Selbstverständnis wird zuerst aus der Erkennt-

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nis der menschlichen Unvollkommenheit (1) gewonnen, dann aber auf die Erkenntnis göttlicher Vollkommenheit (3) gegründet. Der Gedankenbau ist also zweistufig: der neue Gehorsam (2) setzt die Umkehr des Menschen voraus, die neue Zuversicht (4) aber das göttliche Gnadenangebot. Der formstrenge Aufbau der Rede ermöglicht einen hohen Grad von Verdichtung, und es stellt sich heraus, daß sich in der Zweistufigkeit das Verhältnis des XI. Buches (Läuterung) zum XII. Buch (Verheißung) widerspiegelt. Die aufsteigende Bewegung, die sich durch die zwei Bücher zieht, kommt, so können wir sagen, in Adams Betrachtung zur Ruhe. Auch den Kerngedanken des Hauptthemas bringt sie ein letztesmal zum Ausdruck und summiert damit in der Tat das Anliegen der Dichtung. Das große Gotteslob (3), das die Basis für die zweite Stufe der Rede bildet, umspielt nämlich in freien Variationen den Gedanken von der umwandelnden Kraft der Gnade. Indem wir auf die beiden Verdichtungen hinweisen, sind wir aber schon auf die Frage nach dem inneren Reichtum der Rede gestoßen, die wir zusammen mit der Frage nach ihrem Ton am Text genauer verfolgen wollen. In Buch XII hat Adam den Engel bereits zweimal angeredet, beide Male in einer Form, die an Feierlichkeit alle Anreden in XI übertrifft96. Nach dem Mosesbericht heißt es: "O sent from Heav'n,/ Enlightner of my darkness . . . " (270/1), und nach dem Bericht von der Geburt des Messias: "O Prophet of glad tidings, finisher/ Of utmost hope!" (375/6). Nun, nachdem Adam die Vollendung des Erlösungswerks am Ende der Zeiten vernommen hat, beginnt er: "How soon hath thy prediction, Seer blest,/ Measur'd this transient World" (553/4). Wir sehen, die Anrede ist nicht mehr durch "O" hervorgehoben und unterscheidet sich auch darin von den zwei genannten, daß sie in die Rede eingeschoben ist. Auch weist sie nicht die emphatische Verdoppelung auf (Prophet — finisher), sondern ist auf zwei ganz kurze Worte (Seer blest), die nur durch ihre Stellung am Zeilenschluß einigen Nachdruck erhalten, beschränkt. Schon in der Anrede macht sich also hier der ruhigere Ton, d. h. der sprachliche Niederschlag des seit den beiden vorigen Anreden erreichten inneren Gleichgewichts bemerkbar. Selbst von der schon recht gedämpften Äußerung Adams nach dem Erlöserbericht hebt sich die ganz pathoslose, gemessene Haltung dieses letzten Redeeinsatzes ab. Dort wird die Apostrophe an die Güte Gottes in der ersten Zeile mit einer pathetischen Wiederholung betont (O goodness infinite, goodness immense, 469) und dann in weitem Bogen über vier Zeilen hinweggeführt. Jetzt, wo Mi95

Die Anreden in X I lauten: "OTeacher" (450); "True opener of mine eyes, prime Angel blest" (598); "O thou that future things canst represent/As present, Heav'nly instructer" (870/1).

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Interpretation des XI. und XII. Buches

chaels Ausblick alle Zeitläufte durchmessen hat, an deren Ende Gott die Schöpfung erneuert, wird Adams Anrede sofort in die Formulierung einer ersten lakonischen Erkenntnis übergeleitet: "beyond is all abyss,/ Eternitie, whose end no eye can reach". Während die eben angeführte Apostrophe (469) von einer monologisierenden Rede in großbewegten Rhythmen abgelöst wird (473—78), setzt sich in der vorliegenden Rede Adams der anschließende Vierzeiler (557—60) durch eine Sprechpause deutlich als eine selbständige Einheit ab. Mit den Worten "Greatly instructed I shall hence depart" (557) rührt Adam männlich gefaßt und ohne Leidenschaftlichkeit des Tons an die bevorstehende Trennung vom Paradies. Aber trotz ihres einfachen Duktus und ihres Verzichts auf nachdrückliche Sprechweise verrät Adams Rede eine innere Bewegung des Sprechenden und ist mehr als ein nüchterner Diskurs. Die Wiederholung des "Greatly" an der gleichen Stelle der folgenden Zeile dient einer Steigerung des ersten Gedankens, denn "peace of thought" (558) ist die Frucht und das Kennzeichen echter Erkenntnis. Andererseits entwickelt sich aus dem Begriff "instructed" nun seine nähere inhaltliche Bestimmung "myfill/Of knowledge, what this vessel can containe" (558/9). Denn in dieser Einsicht liegt die Bescheidung, daß das Maß der Erkenntnis nach der Geschöpflichkeit des Menschen bemessen und jeder Versuch, die Grenzen zu übersteigen, Torheit ist. Deutlich wird die Einsicht in Zusammenhang mit Adams Sünde gebracht: "Beyond which was my folly to aspire" (560). Die steigende und dann fallende Linie dieser Zeile entspricht der Gestimmtheit Adams zwischen Dankbarkeit und Reue. Der dritte Vierzeiler (561—64) ist in scheinbar karge und kühle Worte gefaßt. Aber in jedem der Begriffe hat sich so viel von Adams Erfahrung niedergeschlagen, daß sie nicht rhetorisch und auch nicht didaktisch klingen, sondern, von seiner Überzeugung getragen und erfüllt, wirkliches Leben haben. Das läßt sich im einzelnen nachweisen. Hören wir genauer hin, so vernehmen wir in dem "to obey is best" (561) die Aufhebung des Anfangswortes der Dichtung : "Of Mans First D i s o b e d i e n c e . . . Sing". Das Wort vom Gehorsam ist in Raphaels Warnrufen mehrfach vor Adam wiederholt 96 und seine Übertretung in den Visionen veranschaulicht worden; ja, das Wesen des Sündenfalls ist Adams Ungehorsam. Hingegen erinnert uns " l o v e w i t h f e a r e " (562) an den in Buch IV geschilderten Zustand der Unschuld, der in der Anbetung Gottes seinen reinsten Ausdruck fand. Mit "to walk/ As in his p r e s e n c e " (562/3) gibt sich Adam selber die Antwort auf seine Frage, ob er für immer aus Gottes Gegenwart verbannt sei (XI, 315—29). In dem "ever to observe/ His p r o v i d e n c e " (563/4) klingt ein Echo auf an die 96

V, 520—23; VI, 909—12; VIII, 633—35.

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Buch XII: Schlußworte Adams und Michaels

bedeutsame Stelle, wo Milton das Thema seiner Dichtung nennt: "assert Eternal Providence" (I, 25). Indem die göttliche Vorsehung für Adam verständlich geworden ist, ist sie es auch für den Leser geworden. Auch die Worte "on him sole d e p e n d " (564) sind, wie alles in diesen Zeilen, schlicht und fast tonlos gesagt; dennoch liegt darin die Rückbesinnung auf die Erfahrung der entscheidenden Umkehr, die Adam am Schluß von XI vollzogen hat. Die vier Zeilen sind durch die vielfachen Verbindungen zu früheren Stellen so außerordentlich geladen mit Bedeutung, daß die äußerste Einfachheit der Sprache ein wohltuender Ausgleich dazu ist. Die Stelle ist durch ihren Reichtum an Bezügen und Bedeutsamkeit geradezu ein Musterbeispiel für Miltons Kunst der sprachlichen Straffung und Intensivierung. Wie peinlich wäre hier eine pathetische Sprache, wie unzulänglich eine dichterische Umschreibung! Diese Ökonomie muß man sich klar machen, um das von Milton hier Beabsichtigte und Erreichte zu würdigen. Die in Adams Rede ausgesprochene Erkenntnis ist nicht nur eine Bescheidung, zu der sich Adam genötigt sieht, sondern er bekennt sich zu ihr: es ist am b e s t e n so, sagt er ausdrücklich, und es hieße Miltons Absicht verkennen, gerade durch die natürliche Einfachheit der Sprache die Befriedung der inneren Welt zum Ausdruck zu bringen, wenn wir die große Schlichtheit der Aussage als ein Zeichen der Resignation deuten wollten 97 . Wir nannten die Worte "and on him sole depend" (564) im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Aussagewert tonlos. Aber zusammen mit "the onely God" (562) haben sie die wichtige Aufgabe, das Thema der nachfolgenden Zeilengruppe (565—69) vorzubereiten, in der sich plötzlich das ganze Gewicht von Adams Aussage verschiebt. Er redet jetzt nicht mehr von sich selbst, sondern wendet sich der Wesensbestimmung Gottes zu. Mit einem Mal wird seine Sprache ganz biblisch 98 . In der voraufgehenden Rede hat Adam zum erstenmal in der Sprache der Bibel gesprochen (477/8), und zwar dort, wo er das Lob Gottes anstimmt. Wie gezeigt wurde, übernimmt der Dichter meist nur den Sinn und den Ton, nicht aber den Wortlaut der Schrift. Er fühlt sich nicht zu ängstlicher Worttreue verpflichtet, wenn er die Erinnerung des Lesers an die Bibel bei bestimmten bedeutungsvollen Stellen bemüht, um deren Gehalt und Nachdruck zu erhöhen. Auch die Schlußrede Adams macht hier in dieser freien Weise von der Bibel Gebrauch99. Nicht durch gewähltere 97

98 99

Die Stelle ist als Ganzes ein Echo der Worte Raphaels: "freely we serve. / Because we freely love" (V, 538/9) und bedeutet, daß Adam jetzt die Umwandlung des Gehorsams in Liebe vollzieht. Die biblischen Stellen sind: Ps 145, 9; Rom 12, 21; 1 Cor 1, 27. Das Pauluswort: "Be not overcome with evil, but overcome evil with good" (Rom 12,21), das an die Gemeinde gerichtet ist, wird hier kühn auf Gottes Tun übertraM o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

15

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Interpretation des X I . und X I I . Buches

Sprache, sondern durch ihr biblisches Gepräge heben sich die Zeilen gegenüber der Schlichtheit der vorangegangenen Verse hervor. Daß sie den gleichen Gedanken des göttlichen Erbarmens über die schwache Kreatur viermal umschreiben100 und durchgehend ein fast aufdringliches Enjambement aufweisen, trägt ebenfalls zu ihrer Akzentuierung bei: sie sollen dem Lob Gottes und seiner Gnade dienen. Da in den eben behandelten vier Zeilen das Wirken der Allmacht Gottes und nicht, wie in den übrigen Teilen der Rede, die Bestimmung des Menschen zur Sprache kommt, könnten sie wie ein gedanklicher Einschub wirken. Tatsächlich ließen sie sich aus dem Bau der mit Zeile 561 beginnenden Satzperiode leicht herauslösen, denn die durch sie unterbrochene oder doch stark erweiterte Konstruktion "Henceforth I learne, t h a t . . . " (561) wird erst in Zeile 569 wieder aufgenommen und zu Ende geführt. Aber dem Sinn nach ist die Doxologie unentbehrlich : sie ist einerseits der Höhepunkt, auf den die im Voraufgegangenen formulierte Einsicht hinführt, andererseits aber ist sie die Voraussetzung für Adams Schlußbetrachtung über die Situation des Menschen im Stand der Gnade (569—73). Sie ist also die eigentlich zentrale Stelle der Rede. Erst die Verheißung, daß die Gnade alle Unvollkommenheit umwandelt, hat Adam belehrt, daß auch Leid und Tod darin aufgehoben sind. Daher hat er zuletzt die Gewißheit, daß Glaube und Hoffnung den Menschen über die Dunkelheiten des Lebens und des Todes hinwegtragen (569—571) und kann sein Bekenntnis zum Erlöser aussprechen (572/3). Adam hat in diesem Augenblick keine Frage mehr an Michael, da er selber den Schluß aus der Unterweisung ziehen kann, den dieser dann als "the summe / Of wisdom" (575/6) bezeichnet. Jetzt hat er wirkliche Erkenntnis erreicht, Einsicht nicht nur in die Wege Gottes, sondern auch in den Sinn des Lebens. Mit ihr findet Adam jene Ausgeglichenheit, die Protest und Resignation, Verzweiflung und Jubel hinter sich gelassen und Vertrauen zu Gott gefaßt hat. Dieser inneren Lage Adams entsprechen die große Verhaltenheit der Aussage und die äußerste Dämpfung des Tons. Auf dieser letzten Stufe stellen sich auch die ganz gen: "with g o o d / Still overcoming e v i l . . ." (565/6). Man kann diese W o r t e nicht, wie es geschehen ist, auf die Menschen beziehen. W i r müßten dann auch die zwei folgenden Partizipien (accomplishing, subverting) auf die Menschen beziehen, was sich allenfalls f ü r das erste vertreten ließe, f ü r das zweite aber sinnwidrig ist. Außerdem ist es v o n dem Grundgedanken des Paradise Lost und v o n der inneren Situation Adams her in gleicher Weise unwahrscheinlich, daß Milton bei "with g o o d / Still overcoming evil" an die Menschen denkt, da er in dem Bewirken des Guten aus dem Bösen doch das Wesen der Gnade sieht. 1 0 0 Die vier Umschreibungen sind: Umkehrung des Bösen in Gutes, des Kleinen in Großes, der Schwäche in Stärke, der Weltklugheit in Demut. (Vgl. besonders 1 Cor 1, 27).

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Buch XII: Schlußworte Adams und Michaels

zentralen Begriffe der Dichtung noch einmal ein: "knowledge" (559), "obey" (561) und vor allem das von Milton ebenso sparsam wie bedeutsam gebrauchte Wort "providence" (564)101. Die hier zusammengedrängte Erkenntnis ist der äußerste Punkt, bis zu dem die Adamshandlung geführt wird, und an dem sie in dem Hauptthema der Verherrlichung Gottes ganz aufgeht. To whom thus also th'Angel last repli'd: This having learnt, thou hast attained the summe Of wisdom; hope no higher, though all the Starrs Thou knewst by name, and all th'ethereal Powers, A l l secrets of the deep, all Natures works, Or works of God in Heav'n, Air, Earth, or Sea, And all the riches of this World enjoydst, And all the rule, one Empire; onely add Deeds to thy knowledge answerable, add Faith, Add Vertue, Patience, Temperance, add Love, By name to come call'd Charitie, the soul Of all the rest: then wilt thou not be loath To leave this Paradise, but shalt possess A Paradise within thee, happier farr. (XII, 574—87)

Das erste Stück von Michaels Schlußrede ist ausdrücklich als die Antwort auf Adams Worte gekennzeichnet (To whom thus also th'Angel last repli'd, 574). Da das zweite Stück sich ebenso deutlich der äußeren Handlungssituation zuwendet (Let us descend now, 588), sind wir berechtigt, jedes der Stücke in dem Zusammenhang zu betrachten, zu dem es gehört. Wir sind auch bei der zweiten großen Rede Michaels (Moses-Abrahamsbericht) und in geringerem Maße bei der dritten (Auslegung der Gesetze und Geschichtsbericht nach Josua) dazu genötigt gewesen, sie aufzugliedern und ihre Teile verschiedenen Zusammenhängen zuzuordnen. Allein schon die Darstellungsweise macht uns darauf aufmerksam, daß Michaels Antwort zunächst noch ganz zu der Unterweisung gehört: wir finden einen klaren Aufbau, straffe Durchführung der Argumentation und einen lehrhaften Ton. Der Aufbau gliedert sich streng: 1. eine Behauptung (Adams Erkenntnis ist die höchste Erkenntnis überhaupt, 575/6); 2. die Modifikation der Behauptung durch Einschränkung und Erweiterung (Adam muß den Vorrang dieser Erkenntnis vor allem anderen 101

In I, 25 steht "providence" thematisch für das ganze Werk; in I, 162 wird es von Satan für den Willen Gottes, Böses in Gutes zu verwandeln, gebraucht; in II, 559 zeigt es im Mund der Teufel das Maß ihrer Verirrung an; in XII, 647 erscheint es, in struktureller Entsprechung zu I, 25, als thematisch zusammenfassendes Schlußwort; s. S. 245. 15*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Wissen anerkennen lernen, und seine Lebensführung muß im Einklang mit ihr stehen, 576—81 und 581—85); 3. die aus den Modifikationen sich ergebende Folgerung (der Gewinn ist innere Zufriedenheit, 585—87). Die Straffheit der Durchführung läßt sich an der Formelhaftigkeit des Ausgangspunktes erkennen: "the summe / Of wisdom" kennen wir als den theologischen Begriff der 'summa sapientia'; das erste Argument "hope no higher" ist anfangs breit angelegt, wird aber immer mehr konzentriert; das zweite zeigt eine konsequente Konzentration auf Begriffe, von denen nur der letzte eine Umschreibung erfährt. Die Schlußfolgerung enthält ein Schlüsselwort "A P a r a d i s e within thee, happier farr", das durch seine Anspielung auf drei frühere Stellen für Adam besonders lebendig ist 102 . Ganz im Hinblick auf die Adam unmittelbar bevorstehende Bewährung im Leben hat der Gedanke des schöneren Paradieses hier noch eine andere Bedeutung bekommen: es steht nicht nur aus am Ende der Zeiten, sondern es i s t in Adam, wenn er nur vor Gott wandelt. Das sprachliche Gerüst ist rein didaktisch (thou hast attained — hope no higher — onely add — then wilt thou . . .), aber durch rhetorische Mittel wird eine gewisse Emphase erreicht. Anfang und Schluß sind durch Schlüsselworte hervorgehoben, während die zwei Argumente in der Mitte von auffallenden Wortwiederholungen ("all": sechsmal; "add": viermal) 103 durchzogen sind. Diese letzte Belehrung ist geradezu ein Musterbeispiel für die Klarheit und Energie der Aussage in lehrhaften Partien des Paradise Lost. Michael nennt Adams Erkenntnis "the summe / Of wisdom" (575/6) und hebt sie vor den drei höchsten irdischen Gütern heraus. Wissen (hier als die Erkenntnis und Beherrschung der Natur verstanden), Reichtum und Macht, jene drei Werte, mit denen der Satan des Paradise Regained den Herrn in der Wüste versucht, reichen an die einzig wesentliche Erkenntnis von Gottes Macht und Gnade und von der Bestimmung des Menschen nicht heran. Aber diese Erkenntnis muß nach einer anderen Seite hin ergänzt werden: der Mensch muß sein ganzes Leben nach ihr ausrichten, sie seinem Tun und seiner Haltung zugrunde legen. Michaels Aufzählung der notwendigen Tugenden ist trocken; aber da jede einzelne von ihnen bereits, sei es durch ein negatives Beispiel, sei es in einer der vorbildlichen Gestalten der Schlußbücher, konkretisiert ist, bedarf Adam hier nur noch der zentralen Begriffe, um an sie erinnert zu 102

103

XI, 829—39 (Wegschwemmung des Paradieses); XII, 314 (Verheißung eines ewigen Paradieses); XII, 463—65 (das Paradies am Ende der Zeiten). W. Empson, The Structure of Complex Words (London, 1951), Kap. IV: "'All' in 'Paradise Lost'", S. 102 weist auf eine Stelle mit besonders dichter Streuung des Wortes (III, 341—43), aber nicht auf die vorliegende, hin.

Buch XII: Schlußworte Adams und Michaels

229

werden. Freilich, warum überhaupt noch einen Tugendkatalog, nachdem Adam die höchstmögliche Einsicht erreicht hat ?104 In seiner Rolle als Führer und Ratgeber hat Michael die Frage der Lebenspraxis noch nicht direkt behandelt. Aber jetzt, wo Adam die Wege Gottes freudig zu bejahen gelernt hat, ist auch der Augenblick der Austreibung aus dem Paradies gekommen: Adam wird den täglichen Aufgaben des irdischen Lebens gegenübergestellt und muß seinen neugewonnenen Glauben bewähren. Ein Hinweis auf das Problem ist nötig, aber ein Hinweis ist auch ausreichend, da mit der Erkenntnis Gottes ja der Grund gelegt ist, nicht nur für die Wesensbestimmung des Menschen, sondern auch schon für seine Aufgaben im Leben. Von der Forderung nach dem Handeln aus dem neuen Geist (Deeds to thy knowledge answerable, 582) und dem Gebot des Gottvertrauens (Faith, 582) führt die Aufzählung zu den Pflichten, die der Mensch sich selbst gegenüber hat (Vertue, Patience, Temperance, 583) und schließlich zu dem Begriff der Liebe, die aller rechten Pflichterfüllung zugrunde liegen muß (583/4). Tillyard hat an dieser Stelle die Erwähnung der aktiven Tatkraft vermißt und lediglich den Ausdruck stoischer Widerstandskraft darin gefunden 106 . Wir wollen aber bei der Interpretation auf den gedanklichen Zusammenhang und die epische Situation achten, die Inhalt und Ton der Stelle bestimmen. Das Fehlen der aktiven Tugenden hängt damit zusammen, daß hier kein umfassender Kodex der Lebensregeln, sondern vor allem die Korrektur an der g e i s t i g e n Sünde Adams gegeben werden soll, der ein neues g e i s t i g e s Verhältnis zu den Pflichten des Menschen entgegengesetzt werden muß. Es kann uns eigentlich nicht verwundern, daß das Fundament der Lebensführung ein ausgesprochen christlich-religiöses ist, in dem auch die männlichen Tugenden des Glaubensstreiters schon impliziert sind. Der Ton der Schlußbücher ist, wie wir wiederholt feststellen konnten, gedämpft und das Pathos nach innen verlegt. Der summarische Charakter der Aufzählung ist möglich, weil alle Begriffe schon vorgelebt sind und auch Adam, durch Anschauung belehrt, darum weiß; von der epischen Situation her ist Eile geboten, was der folgende Szenenbericht unterstreicht. Dies alles kommt zusammen, um der Stelle ihr eigenartiges Gepräge zu geben. BEMERKUNGEN ZU DEN ZEILEN 5 8 1 — 5 8 5

Mit der Funktion der Stelle ist aber noch nicht zugleich ihre Terminologie geklärt, und gerade sie stellt uns vor einige Schwierigkeiten. Zu104 106

Tugend-(und Laster-)kataloge finden sich auch im Neuen Testament, z. B. Eph 4, 2; 2 Pet 1, 5 und 7; vgl. Bultmann, S. 566. Tillyard, Milton, S. 290; T. hat seine Auffassung modifiziert in Studies in Milton, S. 51.

230

Interpretation des X I . und XII. Buches

nächst überrascht die Aufforderung Michaels, der Gotteserkenntnis "Faith" hinzuzufügen, nachdem der Begriff längst als ein wesentlicher Teil derselben erkannt und erläutert worden ist106. Wir haben es im allgemeinen vermieden, De Doctrina Christiana zu unserer Interpretation heranzuziehen, aber wo wir, wie hier, auf eine vorwiegend logische und nicht poetische Frage stoßen, sind wir dazu berechtigt. Wir können, da wir nur auf Parallelen, nicht auf Abhängigkeiten hinweisen, die Frage des zeitlichen Verhältnisses beider Werke dabei außer acht lassen107. Der ganze Tugendkatalog läßt sich leicht und in kaum veränderter Reihenfolge im II. Teil der Doctrina Christiana wiederfinden, aber das auszuführen ist nicht unsere Aufgabe. Da jedoch Michael an der vorliegenden Stelle von der christlichen Lebensführung, dem Thema des II. Teiles des Traktates, spricht, ist es erlaubt, die dortigen Begriffe für das Verständnis der hier gebrauchten zu Hilfe zu nehmen. Im III. Kapitel heißt es: "Of f a i t h , in its primary sense, and as the instrumental cause of justification, I have spoken above; I n o w speak of t r u s t in G o d , considered as an effect of love, and as part of internal worship, whereby w e w h o l l y repose on him." 1 0 8

Da Milton hier wie dort von der Lebensführung, nicht vom Erkenntnisgrund spricht, können wir "Faith" der Rede Michaels im Sinne von "trust" der Doctrina Christiana verstehen als die Verwirklichung des Glaubens (in its primary sense) durch das Gottvertrauen in den Situationen des Lebens (as an effect of love). Auch für "Love", den zweiten Hauptbegriff unseres Textes, der wie der erste sprachlich durch seine Stellung am Zeilenschluß betont ist, ziehen wir den Traktat heran. Im VIII. Kapitel des II. Teils erörtert Milton nicht mehr die Pflichten gegenüber Gott, sondern die gegen die Menschen: "In the first book I treated of l o v e generally, and in its wider sense as identified with holiness; I n o w proceed to define it more particularly, with reference to its object, as follows. L o v e is the general virtue, infused into believers by G o d the Father in Christ through the Spirit, and comprehending the w h o l e duty of l o v e which each individual owes to himself and his neighbor. It is nowhere more fully described than in the w h o l e thirteenth chapter of the first epistle to the Corinthians" 1 0 9 1 0 6 XII, 306, 427, 5 2 7 — 5 3 0 ; 563/4 (dem Sinne nach). 107 Y g j Sewell, besd. Kap. I und I V und v o r allem M. Kelley, This Great Argument: A Study of Milton's 'De Doctrina Christiana' as a Gloss upon 'Paradtie Lost' (Princeton, 1 9 4 1 ) ; v o r der Heranziehung der De Doctrina Christiana als K o m m e n t a r f ü r die spezifisch dichterische Aussage des Paradise Lost warnt Rajan mit Recht, 'Paradise Lost' and the Seventeenth Century Reader, S. 22. 1 0 8 St. M „ S. 1052/1. 1 0 9 St. M., S. 1063/1.

Buch X I I : Schlußworte Adams und Michaels

231

Adam hat soeben von der Liebe in der erstgenannten Form (in its wider sense) gesprochen (562); jetzt soll er von der alle Tugenden krönenden, den Menschen zugewandten Liebe erfahren110. Schließlich ist die Zusammenstellung von "Vertue, Patience, Temperance" (583) nicht sinnvoll, wenn wir unter "Vertue" die Tugend schlechthin verstehen. Das Wort "virtue" hat im Paradise Lost ein weites Bedeutungsfeld. Am leichtesten ist es in der Bedeutung eines Engelrangs (z. B. V, 601) sowie in der einer geheimen Wirkkraft der Natur (z. B. III, 586) abzugrenzen. Meist heißt es einfach Tugend schlechthin (z. B. II, 483). In der lateinischen Grundbedeutung von "virtus", Mannhaftigkeit, treffen wir es ironisch gebraucht in Michaels zornigen Worten über die Machtgier (For in those dayes Might onely shall be admir'd, / And Valour and Heroic Vertu call'd, XI, 689/90). Für "virtue" in diesem Sinn verwendet Milton an zwei anderen entscheidenden Stellen das Wort "fortitude"111. Der Prolog zu IX entwertet das weltliche Heldenideal; an seine Stelle tritt "the better f o r t i t u d e / Of Patience and Heroic Martyrdom" (IX, 31/2). Adam faßt in seiner letzten Rede die Belehrung Michaels zusammen in den Worten: "that suffering for Truths sake / Is fortitude to highest victorie" (XII, 569/70). So entspricht im allgemeinen der in der neuen Wertordnung geltenden Forderung der inneren Bewährung das Wort "fortitude". Es findet sich in der gleichen Bedeutung auch im X. Kapitel des II. Teils der Doctrina Christiana, wo es, wie meist in Miltons Dichtung, mit dem Begriff "patience" verbunden ist112. Darum verstehen wir auch in der uns vorliegenden Stelle unter dem Wort "Vertue" ein Synonym für "fortitude", d. h. aber für die christliche Tugend des getrosten Ertragens von Widrigkeiten und des Widerstands gegen das Böse. Dann liegen aber auch die drei Begriffe "Vertue, Patience, Temperance" auf einer Linie und meinen alle die christliche Selbstbewährung113. 110

111

112 113

Der in Zeile 584 eingeführte Begriff "Charitie" findet sich, im Urtext als "Charitas", auch in De Doctrina Christiana (II. Teil, XI. Kapitel; St. M., S. 1065/2 u. ö.), in Miltons Dichtung aber nur noch einmal, und zwar Paradise Lost III, 2 1 6 ; zugrunde liegt 1 Cor 13, 1 — 8 ; Hughes bemerkt treffend, daß Adam, um die neue "heroische Tugend" begreifen zu können, die Liebe als Erfüllung aller christlichen Tugenden erkannt haben muß. "fortitude" erscheint im Paradise Lost nur IX, 31 und XII, 570; ferner in Samson Agonistes 654, 1288 (auch hier im Zusammenhang mit "patience"). Im Sonett an Cromwell, Z. 3 ist es doppelsinnig: es kann Heldenkraft u n d die K r a f t zu christlicher Bewährung meinen. Für Manneskraft im positiven Sinn gebraucht Milton im Paradise Lost und anderswo in seiner Dichtung das W o r t "valour" (z. B. Paradise Lost IV, 297). St. M., S. 1065/2. St. M., S. 1064/1 ff.: "Of the first Class of special Virtues connected with the Duty of Man towards himself".

232

Interpretation des XI. und XII. Buches

Nachdem Michael die Quintessenz der aus dem Erlösungswerk sich herleitenden Lebenslehre so knapp zusammengefaßt hat, daß der Stil karg und der Gehalt abstrahiert erscheinen müßten, wenn seine Worte nicht durch die darin angesammelte Anschauung aus früheren Partien des Paradise Lost belebt wären, lockert er zum Schluß doch die strenge Form, indem er mit "AParadise within thee happier farr" (587) U3a direkt auf Adams Situation Bezug nimmt. Mit der Klimax, daß es die Möglichkeit einer inneren Zufriedenheit auch für den gefallenen und aus dem Paradies verstoßenen Adam gibt, ist das Ende der Unterweisung erreicht und der Ubergang zur vorgänglichen Handlung der Schlußszene vorbereitet. 5. Die Gesprächssituation und ihre Verwirklichung in Buch XII Bei dem Versuch einer sinnvollen Aufgliederung von XII sind wir auf die merkwürdige Tatsache gestoßen, daß wir dabei nicht einfach Michaels Reden zugrunde legen können, sondern daß sich echte und lebendige Einheiten stets um den Kern eines Wechselgespräches bilden, in denen sich die Stufen von Adams Erkenntnis spiegeln114. In solchen Gesprächseinheiten sehen wir das wichtigste Argument dafür, daß Milton Wert darauf legt, die Zukunftsbilder und Prophezeiungen auf Adam zu beziehen, ihren Gehalt nicht nur für sein Verständnis auszudeuten, sondern ihn durch ihre Wirkung auf Adam lebendiger und ergreifender zu machen 115 . Das Problem der Gesprächssituation liegt für die beiden Schlußbücher verschieden. In XI erscheinen natürlich die Visionen als die eigentlich wirkungsvollen Momente, so daß die Wechselbeziehung, in der sie zu der weiterhin ständig mitgeführten Adamshandlung stehen, bei einer Gesamtbeurteilung des Buches oft zu wenig herangezogen wird. Dabei ist es für XI noch relativ einfach, an Miltons Zwischenbemerkungen, so kurz sie sind, und an den Zwischenreden Adams und Michaels eine wirkliche, durch Exempla angeregte und belebte Gesprächsführung aufzuzeigen 116 . In XII sind die Zwischenbemerkungen des Dichters fast ganz weggefallen und die Reden der zwei Personen seltener und länger geworden. Doch geben sie noch immer einen Anhaltspunkt für die Beibehaltung der Gesprächssituation. Zunächst sieht es aus, als müßte die Länge von Michaels Reden in XII — die zweite ist fast 200 Zeilen lang — die Vorstellung von einer 113a 114 115

Vgl. S. 228. Vgl. S. 160 f. Vgl. S. 78 und 197 f.

116

Vgl. S. 117ff., 134f., 144ff.

Buch XII: Gesprächssituation

233

Gesprächssituation erdrücken und als werde nur noch ein komprimierter geschichtlicher Überblick und konzentrierte Belehrung geboten. Eine weitere, durchgehende Schwierigkeit liegt darin, daß, da Adam kein Gesprächspartner des Erzengels sein kann, die Rollen notwendigerweise zu ungleich verteilt sind. Wir wollen durch eine Koordinierung und Ergänzung der im Verlauf der Interpretation von XII zu der Frage der Gesprächsführung gemachten Beobachtungen zeigen, wie weit und mit welchen Mitteln es Milton gelungen ist, diesen Schwierigkeiten zu begegnen und dem Buch trotzdem ein inneres Leben nicht nur durch die Darlegung der Wege Gottes zu geben, sondern auch, indem er immer wieder die Brücken zu Adam als dem Erlebenden und Ergriffenen schlägt. Vor allem enthalten Michaels Berichte selbst reichliche und verschiedenartige Hinweise darauf. Diese Stützen der Gesprächssituation innerhalb der langen Reden werden wir zu untersuchen haben. Vergessen wir aber nicht, daß Milton mit den verschiedenen Mitteln, die Grundvorstellung einer Gesprächssituation lebendig zu halten, keinen Realismus anstrebt, den er vielmehr ganz bewußt ausschließt, als er Adams Unterweisung so nachdrücklich aus jeder gewöhnlichen menschlichen Situation heraus und auf die Höhe der Prophetie hebt (XI, 355—422). Wir haben gesehen, daß er in dieser Absicht den Berg der Visionen mit besonders reichen Darstellungsmitteln auszeichnet und die besondere Zurüstung Adams für die Zukunftsschau hervorhebt. Die für XI nachgewiesene Gesprächssituation wird im Verlauf von XII zwar nicht aufgegeben, aber sie wird viel indirekter durchgeführt. So wie der Gegenstand des Buches zunehmend geistige und sogar geheimnisvolle Natur annimmt, werden auch die Darstellungsmittel zu seiner Verwirklichung verfeinert. Die durch die Teilung des ursprünglich zehnten und letzten Buches in Buch XI und XII notwendig gewordenen Eingangsverse (XII, 1—5) bestätigen noch einmal, daß das Wechselgespräch in XI eine durchgehende und lebendige Erscheinung gewesen ist. Michael hält inne, er wartet, ob nicht Adam etwas sagen möchte. Er rechnet also mit Adams Beteiligung, und erst als dieser schweigt, fährt er fort. Der Einschub der fünf Zeilen gibt nicht nur dem Buch den erforderlichen Auftakt. Er ist besonders sinnvoll dadurch, daß er die Enthüllungen Michaels mit der vorgänglichen Schicht verbindet. Wir können feststellen, daß Redepausen Michaels oder ein Schweigen Adams in XII wiederholt einen Wink auf die Gesprächssituation geben. Der Hauptteil von XII, der die Unterweisung Adams enthält, ist länger als der die Visionen enthaltende zweite Teil von XI (605 : 479 Zeilen). Darum fällt es für die Frage nach dem Gesprächscharakter des XII. Buches ins Gewicht, daß Adam nur fünfmal gegenüber zehnmal in XI und Michael nur sechsmal gegenüber elfmal in XI das Wort er-

234

Interpretation des XI. und XII. Buches

greifen. Zwischenbemerkungen des Dichters finden sich nur noch zweimal: nach der Geburt des Messias und nach der Verheißung des Erlösungswerkes (372—74 und 466—68). Dafür wird aber eine so unscheinbare Bemerkung wie die nach der zweiten Endzeitvision: "He ended; and thus Adam last reply'd" (552) so tragfähig, daß in ihr die ganze Ruhe und Bedeutungsschwere dieses Augenblicks eingefangen ist. Im allgemeinen sind die Mitteilungen, denen die Zwischenbemerkungen in XI noch dienten, jetzt mit in die Reden hineingenommen und treten darum, dem gedämpften Ton des Buches entsprechend, nur mittelbar in Erscheinung. Die zurückhaltende Aussageweise und die feineren Abtönungen sind ein Kennzeichen des Schlußbuches, gleich unentbehrlich für seine Botschaft wie für den Ausklang der ganzen Dichtung. Zu Beginn des XII. Buches stellt Milton sofort (1—12) die Ausgangssituation für den weiteren Gang von Michaels Unterweisungen her; dank der gewissen Verwandtschaft der Nimrod-Episode mit den Visionen in XI taucht hier das Problem eines Übergewichts der Rede über das Gespräch überhaupt noch nicht auf. Aber danach setzt sich die Lehrrede durch, und an die Stelle von Einzelbildern tritt die Kontinuität eines geschichtlichen, auf ein zentrales Ereignis zudrängenden Ablaufs. Auf Grund ihrer Darbietung, aber auch auf Grund ihres Inhalts sind ja die geschichtlichen Episoden nicht alle kommentarbedürftig, und soweit sie vorausdeutender Natur sind, soll ihr voller Sinn sogar erst in der Erfüllung durch Christus verständlich werden. Nur Michaels großer Bericht von Abraham und Moses (79—269) macht, so scheint es wenigstens, jede Vorstellung von einem Wechselgespräch zunichte. Kein Zweifel, Milton braucht einen raschen Fortgang des Berichtes auf das Hauptereignis der Geschichte zu, und er erreicht das, indem er die Erzählung nicht unterbricht. Erst nachdem die Transparenz der Geschehnisse und der Personen von Abraham und Moses ganz deutlich geworden ist, auch für Adam, fällt dieser dem Erzengel ins Wort. Ist nun die Länge der Rede von ihrem Gegenstand her sinnvoll, so wird der Gesprächssituation von der Darstellung her Rechnung getragen. Zunächst haben wir die Antwort der ersten 26 Zeilen (79—104) als einen noch zum Vorhergehenden gehörigen Teil herauslösen können. Aber für eine echte Gesprächsführung sind auch die verbleibenden 165 Zeilen noch eine erhebliche Belastung. Durch die überall deutlich markierte Gliederung hat es Milton jedoch verstanden, den Block aufzubrechen und Adams Lage nicht aus dem Blick zu verlieren. Während Milton in der Tat durch die Länge der Geschichtsberichte die Gesprächssituation äußerlich gesehen unterschlägt, verwirklicht er sie neu auf einer anderen Ebene, indem er auf verschiedene Weise Adams

Buch XII: Gesprächssituation

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Teilnahme impliziert. Es ist das feinste der in dieser Absicht verwendeten Mittel der Darstellung. War in XI der Schluß eines Schaubildes jedesmal leicht zu erkennen und erlaubte Adam, das Wort zu ergreifen, so macht Milton in XII die Unterbrechungen der Unterweisung an gegebener Stelle von Michaels Ermessen117 und Adams Takt abhängig. So läßt er diesen den Erzengel erst in dem Augenblick unterbrechen, wo der Bericht mit dem Einzug in Kanaan einen gewissen Abschluß und Höhepunkt gefunden hat. Nur an dieser einzigen Stelle wagt Adam einzufallen, weil er von Freude und Zuversicht erfüllt, aber auch von neuen Fragen bedrängt ist (270—84). Dabei gesteht er, daß er sich während Michaels Rede immer wieder besorgt nach dem Geschick der Menschheit gefragt habe (274—76). An einer späteren Stelle erfahren wir von Adam, daß er oft vergeblich versucht habe, der Bedeutung des Weibessamens nachzudenken (376—79). Auf solche Weise bemüht sich Milton, den Eindruck zu stärken, daß während der langen Reden in Adam etwas vor sich geht, daß er die Vorausdeutungen zu verstehen sucht. Wir sollen also nicht aus Adams langem Schweigen darauf schließen, daß er nicht angesprochen und innerlich beteiligt wäre. Man kann nicht sagen, daß Milton die Gesprächssituation vernachlässigt habe; Adams nachträglich eingestandene Teilnahme an dem langen Bericht dient dazu, eine solche bei den weiteren Reden annehmen zu lassen, auch wo Milton nicht darauf hinweist. Zugleich bringt Milton die Tendenz zum Ausdruck, das eigentliche Geschehen gegen Schluß der Dichtung ins Innere zu verlegen, wenn er es mit so subtilen und unauffälligen Mitteln nachzeichnet. Die Wahrung der Gesprächssituation läßt sich demnach daran ablesen, daß Milton Michaels Reden auf den zuhörenden Adam abstimmt. Das führt uns auf einige besondere Mittel, die wir Gesprächsstützen nennen. Darunter fallen einmal die Gliederung und Variation der Darstellung, aber auch die Anreden, Sprechpausen, rhetorische Hervorhebungen und Stichworte. Allein schon der lebhafte Wechsel von verschiedenen Darstellungsweisen — neben breit angelegte Erzählungen treten stark geraffteÜberblicke über längere geschichtliche Perioden 118 — 117

118

Wie verschieden ist jedesmal das Motiv, wenn Michael seine Rede abbricht! Er hat Adam beobachtet, nachdem dieser die erste Andeutung von einer Erneuerung der Welt am Ende der Zeiten vernommen hat (Schluß von Buch XI); aber Adam hat dafür noch kein Ohr und bleibt stumm; darum fährt Michael nach kurzem Verweilen fort (XII, 1—5). XII, 372—74 sieht er Adam von Freudentränen überwältigt und läßt ihm Zeit, nach Worten zu suchen. Später, nach der ersten Endzeitvision, macht er eine der Erhabenheit des Gedankens gemäße Pause (XII, 466/7). In dem Abrahams- und Mosesbericht ist der Wechsel folgender: 105—09; 109—51; 151—68; 169—260; 260—69.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

bringt eine Auflockerung der Rede mit sich, zumal die Redeeinheiten klar voneinander abgesetzt sind. Für den Leser geschieht es durch Satzpunkte. Aber die Absätze sind auch für Adam deutlich wahrnehmbar, denn am Ende derselben entsteht jedesmal eine kleine Pause; danach erst setzt Michael mit seinem Bericht neu ein 119 . Während der Abrahamsgeschichte werden wir immer wieder daran erinnert, daß Michael und Adam von einem Berg herabschauen. Lebhaft versichert der Engel, daß er Abraham im fernen Land sehen könne: "I see him, but thou canst not" (128, ähnlich 135/6). Als er darauf die Grenzen des Abraham zugesprochenen Heiligen Landes beschreibt, führt er Adams Augen mit dem zeigenden Finger von Ort zu Ort (each place behold / In prospect, as I point them, 142/3) und ermuntert ihn, seine Augen auf das verheißene Land zu richten. Vorher schon hat er Adam, sich ereifernd, auch direkt angeredet, um ihn zur inneren Teilnahme aufzufordern: "Canst thou believe?" (116). Solche Anreden ziehen sich wie Merkzeichen durch die ganze Rede. Zu Beginn sind sie am häufigsten und emphatischsten, aber in anderer Form wird auch späterhin noch deutlich, daß Michael mit Adam wirklich spricht, und nicht monologisiert. Etwa wenn er Adam verständigt, daß er seinen Bericht verkürzen will: "The rest / Were long to teil" (260/1)120. Es wiederholt sich hier das schon in XI beobachtete Verfahren dichterischer Ökonomie. Milton festigt am Anfang die Vorstellung der Gesprächssituation möglichst sorgfältig als die selbstverständliche Grundlage der Unterweisung, um sie für ihren weiteren Verlauf voraussetzen zu können und nur gelegentlich und ohne Mühe darauf zurückzukommen. Ziemlich zu Anfang von XII wird die betonte Hinwendung zu Adam nämlich schon einem Höhepunkt entgegengeführt (147—51). Dieser Augenblick ist ein erster echter Haltepunkt in Michaels Rede: Das Geheimnis des Weibessamens wird nur eben gestreift, um sich langsam in Adam zu klären. Eine spürbare Pause tritt ein, ehe Michael Adams Aufmerksamkeit für die Weitererzählung beansprucht. Wir haben von den Zäsuren nach den Redeeinheiten gesprochen. An der eben angeführten Stelle vollzieht sich die Rückwendung zum Bericht besonders langsam, weil sie mit einem Überwechseln von der Zwiesprache zur Erzählung verbunden ist. Die inhaltlich bedeutsame Stelle soll also besonders eng auf Adam bezogen erscheinen. Die beiden weiteren gewichtigen Vorausdeutungen auf das Erscheinen des Messias sind in ähnlicher, obschon schwächerer Weise 119

120

So z. B. XII, 173: Wiederaufnahme des Berichts nach einem Vorblick; 190: Abschluß einer Digression; 223: Wiederaufnahme des Berichts nach einer Reflexion. Anreden in den Geschichtsberichten finden sich: XII, 116, 128, 142, 147—51, 169/ 70, 267/8, 285, 327, 342. In den Reden exegetischen Charakters dominiert die Anrede noch mehr, s. S. 200.

Buch XII: Gesprächssituation

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durch eine Hinwendung zu Adam und eine Sprechpause hervorgehoben (232—35, 241—44). Mit der klar erkennbaren Aufgliederung der Geschichtsberichte, die wir als einen Beitrag zur Verwirklichung der Gesprächs Situation auffassen, erfüllt Milton eines der wichtigsten Erfordernisse der Rhetorik. Auch rhetorische Stilmittel sind als Gesprächsstützen anzusprechen: Anreden, abwechslungsreiche Redeweise, emotionale Emphase, schmükkende Beschreibungen, alle sollen die Aufmerksamkeit des Lesers und des Hörers erwecken. Mit großer rhetorischer Kunst führt Michael z. B. bestimmte Teile der Mosesgeschichte aus: Die zehn Plagen werden Adam durch ein neunmaliges "must" eingeprägt (175—90); beim Auszug aus Ägypten bringt er ihm den Beistand Gottes sinnfällig vor Augen (200—14); schließlich wird die Stiftshütte genau und anschaulich geschildert (249—58). Gelegentlich knüpft Michael betont an Adams Vorstellungswelt an, um seine Darlegungen dort zu verankern. So erhält eine Wendung wie "thy great deliverer" (149) für Adam durch "thy" einen engen Bezug auf seine Situation und "deliverer" wird damit zum Stichwort, bei dem er aufhorcht, einerlei wie weit seine Erkenntnis in diesem Augenblick reichen mag, etwas später wird die gleiche Vorstellung dann abstrahiert zu "Mankinds deliverance" (235). Auch der Begriff des Weibessamens, der mehrfach wiederholt wird, ist ein wichtiges Stichwort, das eine Verbindung zwischen der Adamshandlung und Michaels Prophetien herstellt, indem sich daran Adams Mißverständnis schrittweise klärt. Vor allem aber, wenn Michael von einem " P a r a d i s e , far happier place / Then this of Eden" spricht (464/5), greift er bewußt zu einem Wort, das in Adam eine lebhafte innere Bewegung auslösen muß und zugleich auf den Ort ihres Gesprächs verweist. Das gilt auch für den letzten direkten Hinweis dieser Art: "but shalt possess / A Paradise withinthee, happier farr" (586/7). Die Stichworte erweisen sich, zumal sie häufig mit Redepausen verbunden sind, neben den direkten und den verdeckten Anreden als wirksame Stützen für die Vorstellung eines mit Adam geführten Gesprächs. Die Reden über die Bedeutung des Erlösungswerks (386—465, 485—551) verlangen der ganz anderen Natur ihres Gegenstandes entsprechend nach anderen Mitteln für die Vergegenwärtigung der Gesprächssituation. Milton läßt Michael nicht mehr so weit ausholen, noch so eilig zusammenfassen wie in den Geschichtsberichten. Vielmehr muß jeder einzelne Satz seiner Mitteilung sogleich erläutert werden, damit er recht verstanden werden kann. Darum wechseln in diesen exegetischen Reden Bericht und Auslegung dauernd hin und her. Gleichzeitig wird gerade am Anfang der Erlöser-Rede, wo der geistige Gehalt der Rede

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Interpretation des XI. und XII. Buches

so schwer zu fassen ist, Adam unablässig zum Hinhören genötigt, während in dem anschließenden, mehr berichtenden Teil diese stete Bezugnahme wegfallen kann. Die Heilig-Geist-Rede verwendet vor allem das Wortecho, um die nötige Eindringlichkeit zu erzielen. Zuletzt macht der Dichter Adam doch zum Gesprächspartner Michaels und läßt ihn daher selber den Ertrag des Gesprächs zusammenfassen. Die ausdrückliche Bestätigung dieses nunmehr endgültigen Verstehens hat Milton in die Worte Michaels gelegt: "thou hast attained the summe / Of wisdom" (575/6). Der seit Beginn des Gesprächs zurückgelegte Weg hat also auch zu einem neuen Verhältnis zwischen dem Erzengel und dem gefallenen Adam geführt, das uns die Wiederherstellung des Menschen versinnbildlicht. Die Gesprächssituation ist deshalb kurz herausgearbeitet worden, weil alles, was in den Schlußbüchern des Paradise Lost an dogmatischer und ethischer Belehrung geboten wird — die historische ist ja nur der Stoff, an dem Milton sie aufzeigt —, immer auf Adam bezogen zu denken ist, von ihm gehört, gesehen und verstanden werden soll. Daher setzt Milton eine ganze Anzahl von formalen und sprachlichen Mitteln ein, um beim Leser diese Vorstellung zu stützen. Da in den Schlußbüchern die entschiedene Hinwendung zum Hauptthema der Dichtung, der Darlegung der Wege Gottes in der Welt, geschieht, ist darin Gott der eigentlich Handelnde. Auf der Handlungsebene ist dagegen alle Bewegung ins Innere verlegt; Adams Erschütterungen und wachsende Einsicht sind die einzigen Vorgänge. Im Gespräch nun treffen Hauptthema und Handlungsthema zusammen; wenn daher Adam im Verlauf des Gesprächs die innere Ruhe erlangt und das Walten Gottes begriffen hat, so ist das Handlungsthema im Hauptthema aufgegangen. D. DIE SCHLUSS-SZENE (XII, 588—649) VORBEMERKUNG

Da die Schlußszene weniger kommentarbedürftig ist als die meisten anderen Teile der Schlußbücher, können wir unsere Interpretation auf einige Punkte beschränken, die die Frage beleuchten, ob und auf welche Weise das Ganze der Dichtung darin noch einmal sichtbar wird und einen angemessenen Abschluß erfährt. Die Szene ist kurz und läuft rasch und geradlinig ab. Sie ist von eiligen Bewegungen durchzogen (607/8, 636—40)121, und selbst die zwei Reden Michaels und Evas am Anfang regen diese Bewegungen eher an, als daß sie sie aufhalten (594, 614/5). Eine weitere Eigentümlichkeit der Szene ist, daß sich in ihrem engen Raum eine verborgene Spannung entwickelt, die ihr zusammen 121

Auch der epische Vergleich XII, 629—32 schildert Bewegung.

Buch X I I : Schlußszene

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mit dem eben festgestellten Tempo einen echt dramatischen Charakter gibt. Denn während die Wiedervereinigung Adams und Evas eine Stimmung des Friedens über die Szene breitet, zu der auch Michael beiträgt, der als der Bote der göttlichen Versöhnung die Rolle ihres Beschützers innehat, deuten die Engelwache und vor allem das Flammenschwert auf das Erhabene und Schreckliche des Augenblicks und erinnern an die Strenge des göttlichen Urteils. Erst in dem letzten Bild des aus dem Paradies scheidenden Menschenpaares ist die Dynamik überwunden, und die Spannungen der Gegensätze werden gelöst. Die Szenenvorgänge sind schnell zusammengefaßt: Adam steigt mit Michael vom Berg der Visionen herab und findet Eva bereit, ihm in die Welt zu folgen. Als die Engelwache sich zu dem Tor hin bewegt und das Flammenschwert unheimlich droht, führt Michael die beiden Menschen eilends in die Ebene hinunter, von wo sie einen Blick auf ihren verlorenen Sitz zurückwerfen, um dann langsam ihren Weg durch die vor ihnen liegende Weite zu nehmen. Die Wirkung dieser kurzen Szene hängt davon ab, wie weit es Milton gelingt, die dramatische Bewegtheit und den wiedergewonnenen Frieden im Inneren zuerst gegeneinander laufen zu lassen und sie dann in einer Harmonie des Ausklangs zusammenzuführen. D E R ÜBERGANG ZUR HANDLUNGSSZENE IN MICHAELS REDE

Alle Reden Michaels in XII zeigen das gleiche Bauprinzip: während der erste Teil das gerade um Adams willen behandelte Thema zum Abschluß bringt, ist der andere dem nächsten Gegenstand zugewandt und löst eine Gegenrede Adams aus. Auf diese Weise begegnet Milton der Gefahr des Monologisierens in den langen Reden und hält die Vorstellung eines Gespräches aufrecht. So ist die Tatsache, daß sich ein Einschnitt in Michaels letzter Rede findet, an sich nicht neu. Er wirkt aber deshalb ungewöhnlich stark, weil er mit einem merklichen Wechsel im Sprachton verbunden ist (587/8); auch folgt auf den zweiten Teil statt einer Antwort Adams eine Handlungsszene. Eben diese wird durch die veränderte Sprechweise eingeleitet. Michael hat seine Unterweisungen sentenzartig zusammengefaßt und damit angezeigt, daß er am Ende derselben angelangt ist (575—87). Die abschließende Aussage über das "Paradise within thee" (587) gehört, da sie eine notwendige Ergänzung zu dem früheren Versprechen eines neuen Paradieses am Ende der Zeiten (XII, 463—65) ist, durchaus noch in den Zusammenhang der Schlußgedanken des Lehrgesprächs. Aber gleichzeitig nimmt Michael mit den Worten "then wilt thou not be loath/To leave this Paradise" (585/6) zum erstenmal in dessen ganzem

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Verlauf auf Adams augenblickliche Lage Bezug, deren Darstellung Milton ebenfalls noch abrunden muß. Auch die Sprachgebung der zweieinhalb Schlußzeilen läßt erkennen, daß sich in ihnen eine Wendung ankündigt, ohne sich aber schon zu vollziehen. Die Sprache ist gegenüber den stark abstrakten und sehr komprimierten Formulierungen der Sentenz zwar gelockert und konkreter. Doch sind die rhetorischen Züge durchaus noch beibehalten: "To leave t h i s P a r a d i s e , but shalt possess/ A P a r a d ise within thee" ist als Kontrast komponiert, und der Gedanke der Tröstung Adams wird durch den Nachsatz "happier farr" wirkungsvoll betont, so daß der Spruch mit einer Klimax endet. Da entspannt sich mit einem Mal die Diktion vollkommen: Let us descend now therefore from this top Of Speculation; for the hour precise Exacts our parting hence; and see the Guards, By mee encampt on yonder Hill, expect Thir motion, at whose Front a flaming Sword, In signal of remove, waves fiercely round; We may no longer stay: go, waken Eve. (XII, 588—94)

Im Augenblick der Hinwendung zu der Gegenwartssituation nähert sich Michaels Sprechweise sogar der Umgangssprache und gewinnt eine große Natürlichkeit. Der Satz hat trotz des Latinismus "speculation" (=vision) durch den Tonfall des Satzanfangs und durch die zwei Adverbien (now therefore), die einen langsameren und lässigeren Satzverlauf bewirken, den Charakter der gesprochenen Sprache. Der Ton freundlicher Zugewandtheit zu Adam bleibt bis zum Schluß der Rede erhalten, wo das Thema der vor Adam liegenden Lebensführung noch einmal aufgenommen wird: That Both With With

ye may live, which will be many dayes, in one Faith unanimous though sad, cause for evils past, yet much more cheer'd meditation on the happie end. (XII, 602—05)

Das ist das Erstaunliche, daß Michael für die gleiche Sache, die er im Schlußstück der Unterweisung in höchster Konzentration und Abstraktion vorgebracht hat, nun einen ganz natürlichen und schlichten Ton findet. Aber gerade dieser wirkt darauf hin, daß in der Szene die spezifisch menschliche Situation Adams und Evas lebendig vergegenwärtigt wird. Wenn die einfache Sprache der Rede auch anfangs (588—94) noch untermischt ist mit gerafften syntaktischen Formen aus dem Lateinischen (z. B. the hour precise/ Exacts our parting hence;... expect/ Thir motion; . . . In signal of remove) und damit an die vorangegangene komprimierte Sprache erinnert, so mehren sich doch die Anzeichen eines freieren

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Buch XII: Schlußszene

Sprechens (z. B. "We may no longer stay: go, waken Eve", oder später der durch Einschübe gelockerte Satz 597—601). Auch inhaltlich vollzieht sich in Michaels Rede der Ubergang zur Handlungsszene. Mit der Aufforderung "go, waken Eve" wird nun auch Eva wieder eingeführt — von der seit geraumer Zeit nicht die Rede war, da das lange Gespräch mit Adam geführt und einzig auf dessen innere Wandlung ausgerichtet worden ist, — und die Personenzahl der Schlußszene wird auf diese Weise vorbereitend festgelegt. Der Handlungsort wird ebenfalls mit großer Sparsamkeit wieder in Erinnerung gebracht (588/9, 590/1); schließlich werden die Engelscharen mit dem Feuerschwert als mithandelnde Kräfte genannt (590—93). Adam erfährt jetzt, daß auch Eva mittlerweile durch Träume getröstet und an ihre Pflicht gemahnt worden ist (595—97). So bleiben Michaels Worte angemessenerweise bis zuletzt an Adam allein gerichtet, obwohl Eva bereits ausdrücklich in die von ihm gemachten Zusagen einbezogen wird. Wenn Adam aufgetragen wird, Eva später über Michaels Verheißungen zu verständigen, so erhält diese Situation ihre innere Wahrscheinlichkeit durch das Zurückgreifen auf ein Motiv im VIII. Buch. Dort hat Eva auf eine Teilnahme an dem Gespräch mit Raphael verzichtet, weil sie sich lieber durch Adam davon unterrichten lassen will (VIII, 48—57). Beidemale ist Evas Unterordnung unter Adam impliziert, aber ihre hohe Würde in eben dieser Stellung ist völlig gewahrt. Ein letzter Punkt der inhaltlichen Vorbereitung der Schlußszene sei noch genannt. Wir haben vorhin darauf hingewiesen, daß Michaels letzter Zuspruch an Adam (602—05) eine Wiederholung der streng formulierten Sentenz (575—87) auf einer gewandelten Sprachebene ist. Wir müssen aber diese Behauptung etwas modifizieren, denn es handelt sich genau besehen um eine Abwandlung jenes Spruches durch eine leichte Verschiebung des Blickpunktes. Michael spricht nun nicht mehr von den Pflichten des Menschen im Leben, sondern von den Kräften, aus denen Adam und Eva leben werden. An die Stelle von Forderungen ist die Tröstung getreten, und so hat Milton durch eine feine Verlagerung der Akzente die Erfüllung von Michaels Aufgabe: "Dismiss them not disconsolate" (XI, 113) in einem noch vollkommeneren Sinn an ihr Ziel geführt. Deshalb finden wir auch statt der an der obigen Stelle gehäuften Imperative (581—85) die einfache Aussage im abhängigen Folgesatz: "That ye may live, . . . / Both in one Faith unanimous though sad" (602/3)122. Thematisch kehrt in dem Schlußwort das Leitmotiv der Heilsgeschichte wieder: "The great deliverance 122

Die Zeilen 602—05 lassen sich auch als Wunschsatz auffassen. Wir entscheiden uns für einen Folgesatz, weil dabei die Objektivität der Aussage zutage tritt, die dem Inhalt des Satzes, d. h. dem stärkenden Zuspruch, angemessen ist. Der dem M o r i 12 - S i e b e c k , Paradise Lost

16

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Interpretation des XI. und XII. Buches

by her (Evas) Seed to come" (XII, 600) und das Leitwort der Heilig-Geist-Rede "Faith" taucht wieder auf (599, 603); aber noch wichtiger ist die Wiederaufnahme des von Adam so zurückhaltend geäußerten und schnell wieder entlassenen Gedankens, daß er aus dem großen Verschulden größeres Heil gewonnen hat (XII, 473—78). Jetzt hat der Gedanke den gedämpften, aber festen Klang, den ihm nur der Bote Gottes geben kann, während er im Munde des Menschen leicht vermessen wirkt. Dieser mit den unauffälligsten Mitteln angebrachten Richtigstellung hat Adams Beschäftigung mit der Frage der felix culpa noch bedurft, ehe das Gespräch vollends in die Schlußszene übergeleitet wird. ZUR DARSTELLUNGSWEISE DER SZENE

Es ist naheliegend, daß die Schlußszene in vielem die äußere Situation der Szene in XI wieder aufnimmt und fortsetzt, in der Michael die Austreibung aus dem Paradies verkündet hat (XI, 251—366). Aber die innere Situation ist vollkommen gewandelt, da die anfängliche Fassungslosigkeit Adams und Evas ihrem Verständnis des göttlichen Beschlusses gewichen ist. Wenn einerseits der Zusammenhang mit dem ersten Teil des XI. Buches, auch mit der Himmelsszene und mit dem Gespräch zwischen Adam und Eva vor dem Erscheinen Michaels, ganz natürlich gegeben und auch durch zahlreiche, z. T. wörtliche Anknüpfungen zu belegen ist 123 , so ist andererseits die innere Verbindung mit Buch IV aus mancherlei Anklängen so offenkundig, daß wir darin eine dichterische Absicht erkennen. Die Rede Evas in der Schlußszene (610—23) hat das gleiche Thema wie der Anfang ihrer allerersten Rede (IV, 440—48). Dort spricht sie ihr gottgegebenes Verhältnis zu Adam in freudiger Bewegung und in stark überhöhter Sprache aus; jetzt aber, nach den Erfahrungen des Ungehorsams und der Reue, spricht sie völlig schmucklos, in ganz kurzen Sätzen von überzeugender Einfachheit. Dagegen wirkt jene frühere Rede fast deklamatorisch; freilich müssen wir Miltons Absicht, den Menschen im Urständ durch eine betont feierliche Folgesatz vorausgehende Punkt (601) mag ein Irrtum der Originalausgabe sein; viele neuere Herausgeber (Grierson, Patterson, Hughes, Darbishire, Wright) behalten ihn bei, andere lösen ihn auf (Newton: Doppelpunkt; Verity: Strichpunkt). Ob der Punkt beabsichtigt ist oder nicht, er bringt jedenfalls die tatsächliche innere Selbständigkeit des Nebensatzes zur Geltung, an der auch die Emendationen festhalten. 123

Vgl. z. B. XI, 366, 371, 376 (ascend) mit XII, 588, 606/7 (descend); XI, 367/8 mit XII, 595 ff., 611 ff. (Evas Träume); XI, 2 5 2 — 5 5 mit XII, 602 (Dauer des Lebens); XI, 175ff. mit XII, 614ff. (Evas Bereitwilligkeit); XI, 163—69 mit XII, 621—23 (Evas Rolle); XI, 208—11 mit XII, 627/8 (Glanz der Engelscharen); XI, 282 mit XII, 648 (Wanderung).

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Buch XII: Schlußszene

Sprache auszuzeichnen, berücksichtigen, um das Pathos in IV richtig zu verstehen. Dann erst hebt sich der Sprachton ihrer letzten Rede als ein bewußtes Mittel der Charakterisierung heraus. Auch auf die Beschreibungen des Paradieses in Buch IV greift Milton für die wenigen, aber sehr konkreten Angaben in der Schlußszene zurück. Doch fehlt ihnen jene Fülle und Schönheit, durch die sich die ersten Schilderungen auszeichnen. Jetzt genügt es, die Orte ohne die Epitheta, die in IV so reichlich verwendet worden sind, sachlich und einfach zu benennen (the Hill, 606; the Bowre, 607; the ClifF, 639; the subjected Plaine, 640)124. So taucht auch der Begriff des "happie seat" (642), der seit der ersten Erwähnung des Paradieses wie ein Topos immer wiederkehrt125, hier noch ein letztes Mal auf. Schließlich erinnern wir uns bei den Wendungen "our Mother Eve" (624) und "Our lingring Parents" (638) der Einführung des Menschenpaares in IV, wo sich Miltons innere Anteilnahme in dem Epitheton "our" ebenfalls wiederholt äußert. Wenn wir nämlich die epischen Epitheta für Adam und Eva im Paradise Lost verfolgen, so zeigt sich, daß Milton mit ihnen immer eine besondere Bedeutung verbindet. Gerade in IV spricht Milton gerne von "our general Mother" (492), "our first Father" (495), "Our general Sire" (144) oder auch von "our general Ancestor" (659) und gebraucht meist für beide Gestalten kunstvoll überhöhende Umschreibungen. Aber nach dem Sündenfall nennt er sie nur noch "Adam" und "Eva". Erst als sie sich aus ihrer Schuld zu erheben beginnen, setzen langsam die Bezeichnungen mit "our" wieder ein, aber jetzt ohne die schmückenden Umschreibungen (our Sire, XI, 460; XII, 467; our Ancestor, XI, 546). Auch in der Schlußszene greift Milton den Gebrauch des Wortes "our" wieder auf und bekundet damit seine innere Beteiligung an der Lage Adams und Evas. Die tiefste Verbindung zu IV liegt jedoch in der symbolischen Geste des "hand in hand" (648). Sie gehört schon zu der Beschreibung des ersten Auftretens von Adam und Eva (IV, 321) und wird in IV noch zweimal erwähnt (689, 739). Das von Gott gesetzte Verhältnis der beiden Menschen zueinander wird zerstört, als sich Eva eigenmächtig von Adam trennt, und so heißt es an der betreffenden Stelle bedeutungsvoll: "Thus saying, from her Husbands hand her hand/ Soft she withdrew" (IX, 124

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Die beiden großen Beschreibungen des Paradieses finden sich IV, 131—59 und 172—287. Im einzelnen vergleiche man: IV, 254 mit XII, 606 (the Hill); IV, 690—708mit XII, 607 (the Bowre); IV, 541—46 mit XII, 638 (th'Eastern Gate); IV, 547/8 mit XII, 639 (the Cliff); IV, 144/5 mit XII, 640 (the subjected Plaine). Erstmals II, 347; ferner z. B. III, 632; IV, 247 (A happy rural seat); und 562 (this happie place). 16*

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Interpretation des XI. und XII. Buches

385/6)12®. In den Schlußzeilen der Dichtung wird die Kraft dieses Symbols noch einmal beschworen und zeigt die Wiederherstellung der anfänglichen und durch den Sündenfall verletzten Ordnung an, in der die beiden Menschen stehen. D I E MENSCHLICHE SITUATION

Wir sind mit dem Hinweis auf die symbolische Geste bereits auf die Frage nach der menschlichen Situation gestoßen. Der unmittelbar menschlichen Tonlage, auf die, wie wir sahen, Michaels Worte die Szene eingestimmt haben, entspricht eine Fülle von menschlichen Momenten und Regungen. Michael ist nicht mehr "solemn and sublime", wie Adam ihn bei seiner Ankunft bezeichnet hat (XI, 236). Er ist vielmehr so, wie diesem einst Raphael erschienen ist: "sociably mild" (XI, 234). Wir vergleichen, um dies nachzuweisen, die ZeilenXII, 589/90 "thehour precise/ Exacts our parting hence" mit der strengen Ankündigung der bevorstehenden Vertreibung "to remove thee I am come/, And send thee from the Garden forth to tili/ Theground whencethou wast tak'n, fitter soile" (XI, 260—62). Während Michael zu Anfang feierlich und kühl spricht, nennt er sich jetzt beim Abschied, und nur da, mit Adam zusammen und fährt dann ebenso fort: "We may no longer stay" (594). Oder ein anderes Beispiel: als das Flammenschwert eine unheimliche, zerstörerische Hitze auszustrahlen beginnt, ergreift Michael die beiden Menschen wortlos bei der Hand und führt sie eilig hinweg (633—37). Da ist aber seine Aufgabe zu Ende, und es heißt unvermittelt und ohne jedes Pathos, doch so, daß die Plötzlichkeit, mit der Adam und Eva sich selbst überlassen sind, erschütternd deutlich wird: "then disappeer'd" (640). Michael ist während der ganzen Szene nicht so sehr der Vollzieher des Urteils als der schützende Geist, der, als der äußerste Zeitpunkt gekommen ist, die Menschen nicht zu vertreiben, sondern sie aus der unerträglich gewordenen, sengenden Glut zu retten scheint. Der Augenblick, wo er ihnen entschwindet, ist der entscheidende Einschnitt in der Szene, weil nun der sichtbare Beistand Gottes durch die Zuversicht im Herzen der Menschen ersetzt wird. In Adam und Eva sind die menschlichen Züge besonders hervorgehoben. Wir sehen Adam dem Engel vorauseilen, um Eva aufzusuchen (607/8); als Michael dann dicht an die beiden herantritt, wagt es Adam nicht mehr, mit Eva zu sprechen (624—26). Menschlich ergreifend sind 126

Woodhouse, S. 127, legt besonderen Wert auf den Zusammenhang von IX, 385/6 und XII, 648: "the two gestures are symbolic and frame all that has gone between". A. Stein, 'Answerable Style': Essays on 'Paradise Lost' (Minneapolis, 1953), S. 131, gibt eine sehr feinsinnige Interpretation von IV, 319ff. und XII, 648 ff.

Buch X I I : Schlußszene

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auch Evas schlichte Worte (610—23); sie haben, wie wir festgestellt haben, nichts von der dichterischen Emphase ihrer ersten Rede in IV, auch nichts von der beschwörenden Innigkeit ihrer Bittrede in X "Forsake me not thus,Adam, . . . " (X,914—36). Jetzt spricht aus Evas Worten ihre ruhige Bereitschaft, Adam überall zu folgen; die kurzen, sehr einfachen Sätze verraten ein neues inneres Gleichgewicht und echte Demut127. Die Trauer der beiden Menschen äußert sich in Tränen, von denen Milton sagt: "Som natural tears they drop'd, but wip'd them soon" (645), und wir dürfen das Wort "natural" hier mit "menschlich" übersetzen, da es auch an anderen Stellen des Paradise Lost in diesem Sinn zu verstehen ist 128 . Entscheidend ist aber in dieser Situation, daß Adam und Eva die Regung der Trauer bezwingen im Blick auf die vor ihnen liegende Aufgabe (646) und auf die Führung durch Gottes Allmacht (647)129. Wir haben "Providence" als ein von Milton mit größter Sparsamkeit, aber in zentraler Bedeutung angewandtes Wort kennen gelernt130. "Providence" steht hier als das Schlüsselwort zum Verständnis der am Schluß der Dichtung erreichten Beschwichtigung, die Adam und Eva erfüllt, nachdem sie zu ihrem neuen, menschlichen Selbstverständnis gekommen sind. DIE GÖTTLICHE HOHEIT

Wir haben bisher nur verfolgt, wie die Szene auf menschliches Maß, auf Dämpfung und Einklang hinzielt. Dennoch läßt Milton sein Gedicht nicht etwa damit enden, daß er alles Geschehen in die menschliche Erlebniswelt verlegt. Dafür ist der Augenblick von zu großer Tragweite. Wir haben deshalb nun die andere Darstellungsebene zu betrachten, in der die Unerbittlichkeit des Spruches über die Menschen zum Ausdruck kommt. An drei Stellen drängt sich die Ehrfurcht und Schrecken gebietende Macht auf, die die eigentliche Gegenkraft zu den harmonischen Zügen der Schlußszene ist, und die schließlich die Verstoßung aus dem Paradies bewirkt: diese Macht wird sichtbar in der Engelwache und in dem Flammenschwert. Schon in Michaels Rede fällt das Wort über das Flammenschwert inhaltlich und sprachlich auf (592/3), und es wird an 127

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J. H. Summers, "The Voice of the Redeemer in 'Paradise L o s t ' P M L A , 70 (1955), S. 1089 möchte dagegen in Evas letzter Rede eine Revision von Adams Liebesrede v o r dem Sündenfall (IX, 921 — 59) sehen. "natural" kommt insgesamt viermal im Paradise host v o r ; in X , 740 ist es Teil einer naturwissenschaftlichen Metapher; in X , 765 und XII, 645 hat es den Sinn von kreatürlich; in XII, 288 wird dieser Sinn besonders deutlich mit dem Stand des Menschen nach dem Fall verbunden (Thir natural pravitie). Anders die Tränen des fassungslosen Adam über die schlimmen Visionen: XI, 495ff., 674ff., 756ff. Vgl. S. 227.

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Interpretation des X I . und XII. Buches

2wei weiteren Stellen mit immer neuen Merkzeichen seiner Furchtbarkeit hervorgehoben (632—36, 643/4). Milton hat das Motiv der Engelund Schwertwache sorgfältig angelegt: Beides ist von Gott verordnet 131 , aber bei der Ankunft der Engel im Paradies, die mit großer Pracht und Bedeutungsschwere geschildert wird (XI, 208—22), ist das Schwert nicht erwähnt, da die Austreibung noch nicht vollzogen wird und Michaels Strenge ausreicht, um Adam und Eva zu erschüttern. In der Schlußszene tritt die Engelschar nie ohne 'das geheimnisvolle Schwert an ihrer Spitze auf (590fF., 626ff., 643f.). Milton benützt das Schwert und die Engelwache, um auf diese Weise der Hoheit Gottes, deren Symbol und Instrument sie sind, einen zweifachen Aspekt zu geben, den der Erhabenheit und den des Furchtbaren. Sie lösen die Dynamik der Szene aus, freilich in verschiedener Weise. Für die Engelscharen verwendet Milton den letzten epischen Vergleich des Paradise Lost: geisterhaft gleitend und unaufhaltsam drängen sie auf Adam und Eva zu,wie die Flußnebel dem Landmann dicht folgen, wenn er am Abend heimkehrt (628—32). Während Milton die Engel derarthandelnd mit dem Vollzug des Geschehens verbindet, erweckt er gleichzeitig durch den Vergleich eine Vorstellung von ihrer Würde und S chönheit. Ihre Rolle als Wahrer der objektiven Ordnung und Mahner der Menschen läßt sich mit der des Chors in der griechischen Tragödie vergleichen, nur daß die Engel nicht die Anteilnahme am menschlichen Geschick bezeugen, die wir vom Chor erwarten. Am Schluß sind aber auch die Engelwächter den Menschen ganz entrückt und umschwärmen als unheimliche Erscheinungen das Tor des Paradieses (the Gate/With dreadful Faces throng'd and fierie Armes, 643/4)132. So nimmt zuletzt auch das 131

132

Zugrunde liegt Gen 3, 24. In X I , 1 1 8 — 2 5 läßt G o t t die Cherubim und das flammende Schwert zur Bewachung des Paradieses einsetzen, damit eindringende böse Geister (Teufel) die Menschen nicht noch einmal versuchen und ihnen mit den Früchten v o m Baum des Lebens falsche Hoffnung auf Unsterblichkeit machen. Engelwache und Flammenschwert werden also im Paradise Lost ursprünglich zur A b w e h r teuflischer Mächte, nicht aber der Menschen, eingesetzt. Professor H. Gollwitzer teilte mir mit, daß ihm v o n einem V o r k o m m e n dieser Auffassung v o n Gen 3, 2 4 in der theologischen Tradition nichts bekannt sei. In der Schlußszene läßt Milton die Vorstellung ganz fallen. Ein Hinweis darauf, daß sich Engelwache und Schwert gegen Satan richten, w ü r d e das ganze Spannungsverhältnis der Szene verlagern. S o wie diese ausgeführt ist, gilt die A b w e h r nur den Menschen und steht zu dem Beistand, den sie v o n Michael erfahren, im Gegensatz. W i r haben keine Berechtigung, die Vorstellungen v o n X I , 1 1 8 f f . einfach auf die Schlußszene zu übertragen; wenn w i r davon also absehen, bleibt das Interesse in dieser auf A d a m und Eva konzentriert, wodurch auch die geschlossene Komposition der Szene gewahrt wird. W . B. Hunter jr., " T w o Milton Notes", MLR, 4 4 (1949) glaubt in dem Quellennachweis eine Erklärung f ü r die Erscheinung und Funktion der "dreadful Faces" gefunden zu haben. Demnach wären sie nur Gesichte Adams ohne eigene Realität.

Buch X I I : Schlußszene

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Symbol, das für die Beschützung des Paradieses steht, schreckliche Gestalt an, wodurch der Gegensatz zu dem einsam und stfll dahinwandernden Menschenpaare besonders schroff hervortritt. Das Feuerschwert manifestiert die göttliche Hoheit in einer anderen Weise als die Engelwächter. Es erscheint von Anfang an als das unheimliche Zeichen des göttlichen Strafspruches und enthüllt immer deutlicher seinen bedrohlichen Charakter. Zunächst gewaltig zuckend (593), tödliche Glut ausströmend (633—36), wird es schließlich eine so riesige Erscheinung, daß sich seine Flammen über den ganzen östlichen Teil des Paradieses weithin wogend erstrecken (641—43.) Es ist aber nicht nur Symbol, sondern zugleich ein dramatisierendes Element, da es eine zerstörerische Macht hat und den Aufenthalt im Paradies unmöglich macht. In der Unerbittlichkeit, mit der das schreckenerregende Schwert der Rückkehr der Menschen ins Paradies wehrt, ja sogar—• Miltons Erfindung — ihre Verstoßung betreibt, liegt das Moment des Furchtbaren und Gewaltigen, das den harmonischen Tendenzen der Szene entgegengesetzt ist. Bei der Beschreibung des Schwertes, das in Sylvesters Ubersetzung von Du Bartas' La Sepmaine ou Creation du Monde "a body meerlyMetaphysicall"133 genannt wird, arbeitet Milton mit Begriffen und Vorstellungen, die uns im Paradise Lost sonst nur aus dem Bereich Satans bekannt sind134. Wir können uns diese merkwürdige Tatsache nur erklären, wenn wir die Parallelen ganz allgemein betrachten, da eine Anspielung auf teuflische Kräfte in diesem Zusammenhang verfehlt wäre. Aber die sengende Glut, die die milde Luft des Paradieses verdirbt, ist als eine Folgeerscheinung des Sündenfalls aufgefaßt und wird zum Symbol der von Adam verursachten Störung der Natur, die sich an ihm selbst rächt. Das Flammenschwert ist in diesem Augenblick auch für Milton "a body meerly Metaphysicall". Die Beziehung zwischen

133

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Auch Todd zieht einen Bibelkommentar zum Vergleich heran: Moses Bar-Cepha, De Paradiso Commentarius (1569). Du Bartas bis Divine Weekes and Workes (The Imposture: The Second Part of the First Day of the Second Week), S. 94 (Schlußzeilen).' Zu den Zeilen 634—36 bieten v o r allem die Schilderungen v o n Zuständen in der Hölle in I, II und X eine Parallele; zu "comet" (nur zweimal im Paradise Lost) vgl. II, 708 (Satan mit einem K o meten verglichen); übrigens vergleicht auch Sylvester das Schwert mit "a flaming comet"; vgl. G . W . Whiting, "Milton and Comets", ELH, 4 (1937) zu "torrid" (dreimal im Paradise Lost) vgl. I, 297; II, 904 "vapour" im Singular (siebenmal im Paradise Lost) hat überall den Sinn des Dunklen und Verhängnisvollen; vgl. II, 2 1 6 ; I X , 159, 635, 1 0 4 7 ; X , 694; XI, 7 4 1 ; nur im Plural (viermal im Paradise Lost) ist es, im Unterschied zum Singular, mit Ausnahme v o n IV, 557 wert-indifferent gebraucht; vgl. III, 4 4 5 ; V , 5, 420 zu "Libyan" (dreimal im Paradise Lost) vgl. I, 355; anders IV, 277 (Libyanjove) zu "parch" (dreimal im Paradise Lost) vgl. II, 594; X , 556.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

Hölle und Flammenschwert, die sich aus dem sprachlichen Befund zu ergeben scheint, liegt vor allem darin, daß von der Hölle wie von dem Schwert der Eindruck äußerster Schrecklichkeit ausgeht, während an eine Gleichsetzung von himmlischen und teuflischen Scharen nicht gedacht sein kann. Milton benützt die Parallele offenbar — da ihre Wirkung auf Adam und Eva, aber auch auf den Leser etwas Bestürzendes hat — um den Augenblick, in dem sich das Geschehen zuspitzt, durch eine Klimax in unerwarteter Weise hervorzuheben und an dieser Stelle auf die Bedrohtheit des gefallenen Menschen in einem Symbol hinzuweisen. Milton hat das Herannahen des entscheidenden Augenblicks stark dramatisiert, indem er die Vertreibung zuerst durch den epischen Vergleich und dann durch die drastische Schilderung der zerstörerischen Hitze noch einmal verzögert, aber vor allem, indem er ihn mit Hilfe der beiden gegensätzlichen Digressionen mit reichen Assoziationen erfüllt. Dennoch: äußerste Eile ist geboten, und auch die Sprachbewegung der folgenden Zeilen verläuft atemlos: whereat In either hand the hastning Angel caught Our lingring Parents, and to th' Eastern Gate Led them direct, and down the Cliff as fast To the subjected Plaine; then disappeer'd. (XII, 636—40)

Nachdem der dramatische Höhepunkt vorüber ist, strebt Milton im Epilog den harmonischen Ausklang an (641—49). DIE BEDEUTUNG DER VERSGESTALT FÜR DEN EPILOG They looking back, all th' Eastern side beheld Of Paradise, so late thir happie seat, Wav'd over by that flaming Brand, the Gate With dreadful Faces throng'd and fierie Armes: Som natural tears they drop'd, but wip'd them soon; The World was all before them, where to choose Thir place of rest, and Providence thir guide: They hand in hand with wandring steps and slow, Through Eden took thir solitarie way. (XII, 641—49)

Nicht nur die Schlichtheit, auch der Rhythmus der Sprache trägt zu der langsam sich vollziehenden Ausgeglichenheit des Schlusses von Paradise Lost bei und läßt uns erkennen, wie hier in besonders hohem Maße die Gedankenbewegung von der Versbewegung getragen wird. Deshalb stellen wir eine kurze formale Betrachtung an. Wir finden kurze und stets am Zeilenende klar gegeneinander abgegrenzte Sinneinheiten vor (641 —44; 645; 646/7; 648/9). Dabei stellt sich ein einfaches Verhältnis von 4 : 1 : 4 (d. h. 2+2) Zeilen heraus. Diese

Buch XII: Schlußszene

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Einheiten sind in sich gegliedert durch eine in den ersten Zeilen (641 und 642) an gleicher Stelle wiederholte, dann aber von Zeile zu Zeile verschobene Zäsur, die freilich zuletzt in dem fließenden Rhythmus der zwei Schlußzeilen untergeht. Die zuerst starre, dann leicht variierende Setzung der Zäsur und ihre Aufhebung in den beiden letzten Zeilen ist eines der Anzeichen der langsamen Klärung und Lösung, die sich in den inneren Vorgängen vollzieht. Die Behandlung des Enjambements deutet in die gleiche Richtung. Die Zeilen 641/2, 643/4, 646/7 haben Zeilensprung, der in allen Fällen der Zeileneinheit stark entgegenwirkt; aber über die Grenzen der oben angegebenen Zeilengruppen greift das Enjambement nicht hinaus. Zwischen den beiden vierzeiligen Blöcken steht eine einzelne, vom Enjambement nicht betroffene Zeile (645). Sie ist in jedem Sinn ein Wendepunkt. Rhythmisch gesehen ist sie eine in sich ausgewogene und streng geschlossene Einheit; inhaltlich stellt sie den Übergang vom Rückblick zum Vorwärtsschauen dar. Nach diesem Einschnitt kommt das Enjambement in den folgenden Zeilen aus syntaktischen Gründen nicht mehr so stark zur Wirkung, und bei den zwei letzten Zeilen fällt es dank ihrer Zäsurlosigkeit überhaupt nicht ins Gewicht. Der rhythmische Verlauf der ersten Gruppe von vier Zeilen unterscheidet sich also von dem der zweiten, in der die Zeilenbewegung eine immer stärkere Ausgeglichenheit erhält. In dem letzten Zeilenpaar schwingt die Bewegung weit ausholend und mit großer Langsamkeit aus. Der Epilog zeichnet sich außerdem dadurch aus, daß sich, von einer geringfügigen Ausnahme abgesehen, der Sprechrh ythmus und der Versrhythmus überall vollkommen decken. Nur zwei Zeilen haben betonten Auftakt (They looking back, 641; T h e y hand in hand, 648). Es zeigt sich dabei, daß der Rhythmus einzig beim Blick auf Adam und Eva innehält. In dieser Erscheinung, die leicht zur Monotonie führen kann, erkennen wir hier einen weiteren Beitrag zur Glättung des Sprachflusses, in dem Zäsurwechsel und Enjambement für hinreichende und zunehmend unauffällige Abwechslung sorgen. Die rhythmische Beruhigung der letzten Zeilen des Paradise Lost stimmt genau mit ihrem Inhalt überein; der Friede ist gefunden. ZUR BEURTEILUNG DER ZEILEN 6 4 6 — 6 4 9

Der Streit um die vier Schlußzeilen des Paradise Lost gehört der Vergangenheit an, aber ein Rückblick darauf kann unsere Sinne für das Verständnis derselben schärfen135. Addison hatte Bedenken gegen die letzten 135

Newton führt Addisons und Bentleys Besserungsvotschläge wörtlich an, ferner Pearces gründliche Widerlegung von Bentley, sowie eigene Bemerkungen zur Versgebung, zitiert aber nicht Pecks Vorschlag, die zwei Zeilenpaare umzustellen.

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Interpretation des XI. und XII. Buches

zwei Zeilen, weil sie ihm gegen das vorangehende Stück abzufallen und dem guten Ausgang zu widersprechen schienen. Aus ähnlichen Gründen wollte Peck die zwei letzten Zeilenpaare umstellen. Bentleys Einwände gehen weiter und richten sich auch gegen die Angemessenheit und Richtigkeit der Sprache. Die Selbstsicherheit, mit der Bentley eine Verbesserung des Textes von Zeile 648/9 vorschlägt, hat ihn dem Spott ausgesetzt. Wir brauchen seine schlechten und pedantischen Verse nicht als Folie für Miltons Zeilen heranzuziehen, doch belehren sie uns über eines: Bentley war genau wie Addison und Peck darüber beunruhigt, daß sich nach ihrer Meinung von den Schlußzeilen her ein Schatten über die ganze Dichtung lege. Der Kritik Bentleys ("it contradicts the poet's own scheme") verdanken wir die Entgegnung von Pearce, der sowohl dem Sinn wie den Feinheiten der Darstellung mit empfindlichen Organen nachgeht. Er entkräftet Bentleys stilistische Bedenken, doch wendet er sich besonders gegen seine Auffassung von der Wirkung der Schlußzeilen auf den Leser. Pearce findet die Stimmung des Schlusses genügend vorbereitet, da in den zwei Schlußbüchern die Freude stets mit Trauer vermischt sei. Newton trägt zu dem Gedanken des tragischen, — d. h. aber noch für das 18. Jahrhundert eines gegen das Wesen des Epos verstoßenden — Ausgangs 134 von Paradise Lost den Gedanken bei, daß der Charakter des Epos so wenig von einem guten Ende abhänge wie der der Tragödie von einem schlimmen. Uns scheinen diese Argumente bei aller Verschiedenheit aus der gleichen Wurzel zu kommen: aus der Verwechslung des gedämpften Tons mit dem Ton der Trauer. Wir haben in unserer Interpretation zu zeigen versucht, daß die Spannung zwischen Leid und Hoffnung in den Schlußbüchern tatsächlich angelegt ist, daß aber das Entscheidende der innere Friede ist, den Adam im Angesicht dieser Spannung gewonnen hat. In Adams ruhiger, klarer Erkenntnis seiner Lage und der Wege Gottes sieht Milton etwas ganz Positives, das sich freilich nicht in triumphierender Freude äußern kann. Ernst, aber nicht betrübt, nicht glückselig, aber in Frieden scheiden die Menschen aus dem Paradies. Obwohl es ihm auf die Erkenntnis der Wege Gottes ankommt, läßt Milton sein Gedicht nicht mit der Feststellung schließen: "and Providence thir guide", weil er eine Dichtung, nicht aber einen Traktat zu Ende führt. Die zwei Schlußzeilen sind unentbehrlich und unverrückbar, da sie diese letzte Aussage in ein dichterisches Bild einfangen, in dem die Dichtung

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Vgl. F. Peck, New Memoirs of the Life and Poetical Works of Mr. John Milton (1740); vgl. auch Moore, S. 2f. Dies war Drydens Urteil, vgl. "A Discourse concerning the Original and Progress of Satire" (1693), ed. W. P. Ker (Oxford, 1900), II, S. 29.

Buch XII: Schlußszene

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vollendet wird. Stilistische Untersuchungen haben uns überdies dazu geführt, in der zunehmenden Dämpfung des Tons und in der Beschwichtigung des Rhythmus die Spiegelung dieser Situation zu sehen.

Rückblick auf die Schlußszene In einer Schlußszene von rund 60 Zeilen bringt Milton sein gewaltiges Epos zum Abschluß. Das ist ein kühnes Unternehmen, nachdem er die Handlung, die auf den Schluß hinführte, durch einen "Einschub" von reichlich 1100 Zeilen unterbrochen hat. Es bedeutet, daß er die mit dem Lehrgespräch eröffnete innere Welt in ihrer Wirkung auf die vorgängliche Schicht, aber auch in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen der Dichtung in größter Kürze darstellen will. Das kann nur gelingen, wenn die konzentrierte Darstellung symbolische Form annimmt. Wir wollen dieser Frage mit Hilfe von zwei Vergleichen nachgehen. Blicken wir zunächst auf diejenige klassische Dichtung, mit der Milton wetteifert, und vergleichen wir den Schluß der Aeneis mit dem des Paradise Lost. F. T. Prince hat darauf aufmerksam gemacht, daß am Schluß beider Werke ein großes 'incipit' steht 137 . Auch das X I I . Buch der Aeneis kennt das "Spiel der Retardationen", die "tief mit den Aussagen in der symbolischen Form verknüpft sind" 138 . Aeneas entschließt sich, Turnus, der noch im letzten Augenblick um sein Leben fleht, zu töten, damit die objektive und die subjektive Schuld des Gegners beglichen und der Wille der Götter durch den Helden aus freien Stücken vollzogen wird. Der Tod des Turnus ist aber der Anfang von Roms Aufstieg: darum ist die Tat des Aeneas, ein reines Handlungsgeschehen, zugleich tief symbolisch. Mit Trauer vermengt wird die Hochzeit des Aeneas und der Lavinia gefeiert werden139, aber, was viel wichtiger ist, das Schicksal Roms nimmt von hier seinen Ausgang. Gegenüber Vergil setzt Milton einen noch viel umfassenderen Neubeginn an den Schluß seiner Dichtung, denn am Ende des Paradise Lost beginnt die Geschichte des Menschengeschlechts. Auch der Vorgang der Ausweisung und des Hinauswanderns an sich ist schon in viel stärkerem Maße symbolisch als der Tod des Turnus durch die Hand des Aeneas. Die neue Ausgangssituation Adams und Evas zeigt sich in ihrer ganzen Tragweite für die Menschheit in den folgenden Worten an: "Both in one Faith unanimous though sad,/ With cause 137 138 139

Prince, "On the Last Two Books of 'Paradise Lost"', S. 48 ff. Büchner, S. 398 f. Aeneis XII, 805: "luctu miscere hymenaeos".

252

Interpretation des XI. und XII. Buches

for evils past, yet much more cheer'd/ With meditation on the happie end" (XII, 603—05). Zurück- und vorblickend, 2ögernd und doch getrost, einmütig und von Gottes Allmacht geführt, tritt das erste Menschenpaar in diesem Augenblick seine irdische Wanderung an. Das Bild der Wanderung ist aber ein altes christliches Symbol für das menschliche Leben. Der Aufbruch Adams und Evas hat also stellvertretenden Charakter. Der Mensch ist am Ende des Paradise Lost in ein Dasein eingetreten, in dem die Spannung zwischen dem Bewußtsein seiner Schuld und Schwäche und dem Vertrauen auf seine innere Kraft und auf den göttlichen Heilswillen immer wirksam bleiben wird. Dennoch ist der Ausklang der Dichtung von der Themenführung her harmonisch, weil er auf der erlösenden Kraft des Glaubens aufbaut; daß er es auch in der Gestaltung ist, sollte die Interpretation der Schlußszene zeigen. Dantes Divina Commedia ist die große christliche Dichtung, die sich an Bedeutung mit Paradise Lost vergleichen läßt. Wenn wir den Schluß der Divina Commedia dem des Paradise Lost vergleichend gegenüberstellen, so wollen wir nicht die verschiedenen Auffassungen der Dichter von der christlichen Lehre herausstellen. Wichtiger scheint uns, was ihnen gemeinsam ist: daß beide eine christliche Grundhaltung in der Dichtung verwirklichen140. Dantes bis ins Kleinste streng architektonischer Bau, der Aufstieg von der Hölle durch das Purgatorium zum Himmel, ist der vollkommene Ausdruck seines Glaubens und gipfelt darum in dem großen Fürbittgebet des Heiligen Bernhard und in der mystischen 'visio beatifica' des Dichters. Diese ist der Höhepunkt des inneren und äußeren Gefüges der Divina Commedia. Im Unterschied zu Dante geht Milton in seiner Dichtung nicht von der menschlichen Erfahrung aus, sondern von den Wegen Gottes; diese dichterische Konzeption sahen wir in der Komposition des Paradise Lost gespiegelt, die wir auf Grund der dominierenden Stellung des Mittelteils (Himmelsschlacht und Schöpfung) als einen Kuppelbau bezeichnen können. Der Mensch, wie ihn Milton sieht, hat eine Aufgabe im Diesseits unter der Herrschaft Gottes; er hat die Zusage einer Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung Gottes. Aber sein Ziel ist nicht die mystische Vereinigung mit Gott. Dieser Grundtatsache der Dichtung muß also auch ihr Schluß entsprechen. Einen alles krönenden symbolischen Gipfelpunkt, wie es die 'visio beatifica' ist, können wir für Paradise Lost nicht erwarten. Die Prophetie von der Rettung des Menschen am Ende der Zeiten ist in Buch XII zweimal erklungen. Aber der Mensch hat bis dorthin einen Weg zurückzulegen: und so sehen wir Adam und Eva Hand in Hand und im Angesicht des erhabenen Boten Gottes mit der Trauer und der 140

Vgl. Kelle«, S. 129 ff. und Grace, S. 178 ff.

Buch XII: Schlußszene

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Hoffnung der zur Einsicht Gekommenen den Weg beginnen, der auch der Weg jedes einzelnen Menschen ist. Reine Anschaulichkeit und höchste Symbolik treffen in diesem Augenblick zusammen. Im Gegensatz zu Dante ist Milton hier, wie wir sahen, ganz konkret und zugleich ganz generell. Ins Anschauen der Geheimnisse Gottes versenkt, muß Dante bekennen, daß hier die Grenze der hohen Phantasie erreicht ist 141 . Die Vision ist vollendet, Dichter und Dichtung sind am Ziel. Anders verhält es sich im Paradise Lost. Was uns im Gedanken an den so häufig expliziten Charakter des Paradise Lost bei der Schlußstelle überrascht, ist, daß der Dichter nicht mehr als Ausleger und Verkünder das Wort ergreift, sondern hinter der einfachen, wenn auch bedeutungsvollen Erzählung völlig zurücktritt. Miltons Auffassung vom objektiven Wahrheitsgehalt seines Gegenstandes bringt es mit sich, daß für ihn der Zugang zur Symbolik viel schwerer ist als für Dante. Dennoch scheint uns am Schluß des Paradise Lost die Entrückung des Vorgangs ins Symbolische nicht nur erstrebt, sondern geglückt. Der Höhepunkt klassischer Vollkommenheit ist erreicht: das Allgemeine und das Einmalige sind in einem Punkt zusammengeschmolzen, und das erzählende Bild enthält in dichterischer Gestalt die gesamte Aussage des Paradise Lost-. "to justifie the wayes of God". 141

"Paradiso" X X X , 142: "All'alta fantasia qui mancö possa".

ZUSAMMENFASSUNG UND ERGEBNISSE Die im ersten Teil der Arbeit unternommene Voruntersuchung über Thematik und Komposition des Paradise Lost hat den beiden mittleren Büchern einen hohen Rang und eine bedeutende Rolle zugesprochen. Sie enthalten nämlich eine direkte Darstellung des Hauptthemas, d. h. der Rechtfertigung der Wege Gottes, unter den zwei Aspekten seines anfänglichen Tuns: Buch VI berichtet die erste Manifestation von Gottes Allmacht im Sieg über das Böse, während Buch VII die zweite Manifestation seiner Größe durch die Erschaffung einer vollkommenen Welt behandelt. Im Unterschied zu der Komposition der Aeneis weist die des Paradise host ein besonders monumentales und bedeutungsvolles Mittelstück auf. In VI und VII liegt nicht nur die äußere, sondern die innere Mitte der Dichtung. Dieser Tatsache entspricht ihr Beitrag für den Bau des Paradise Lost: auf das stark hervorgehobene Mittelstück sind alle übrigen Bücher bezogen, sie sind sogar in genauer Entsprechung auf die Mitte hin angelegt. Die beiden Teile des Paradise Lost, in denen das Handlungsthema, d. h. die Geschichte von Abfall und Verdammung Satans einerseits und von Abfall und Rettung Adams andererseits zur Darstellung kommt, hängen handlungsmäßig und innerlich von den dem Hauptthema gewidmeten mittleren Büchern ab. Der Scheinfreiheit Satans am Beginn steht am Schluß der Dichtung die Freiheit des Menschen in der Ordnung Gottes gegenüber. Mit der beherrschenden Stellung des Mittelstücks hängt es zusammen, daß die übrigen Bücher nicht allein zu ihm, sondern auch zueinander in einem durchgehenden Entsprechungsverhältnis stehen, das für die so auffallend kontrastierten Bücherpaare I /II und XI/XII sehr aufschlußreich ist. Jeder Leser des Paradise Lost bewundert und schätzt den großartigen Auftakt der ersten beiden Bücher, aber wenn er XI und XII damit vergleicht, ist er bestürzt über die Diskrepanz zwischen dem Anfang und dem Schluß der Dichtung. Dieser Diskrepanz liegt aber das Spannungsverhältnis der durchgehend und bis in Einzelheiten sich entsprechenden Bücher zugrunde. Es handelt sich bei dieser Zuordnung freilich nicht um eine starre Symmetrie, denn zur Korrespondenz tritt die Progression. Formale wie inhaltliche Elemente der einander entsprechenden Bücher werden mit dem Fortschreiten der Dichtung abgewandelt. Darin verschafft sich gegenüber der statischen eine dynamische Ordnung Ausdruck, die jene äußerste Polarität in dem Ver-

Zusammenfassung und Ergebnisse

255

hältnis von I/II zu XI/XII zur Folge hat. Das Wirken Gottes hat sich als das Hauptthema des Paradise Lost herausgestellt, und gerade derjenige Grundcharakter von Gottes Handeln, auf den Milton immer wieder leitmotivisch hinweist, gibt den Schlüssel für die Bewegungstendenz her, die sich dem Ordnungsgefüge gegenüber geltend macht. Es ist die Macht Gottes, aus Bösem Gutes zu schaffen. Dieser Grundgedanke ist aber nichts anderes als die aufbauende Gnade, die sich in den Wegen Gottes enthüllt und sie rechtfertigt, auch und gerade in der düsteren und leidvollen Menschheitsgeschichte, wie sie in XI und XII vor Adam aufgezeigt wird. Milton betont an zwei Stellen (VII, 604—07 und XII, 471—73), daß sich die Manifestationen Gottes von der Himmelsschlacht über die Schöpfung zur Erlösung hin steigern. Eben diese Dreistufigkeit des göttlichen Handelns liegt dem Fortgang des Paradise Lost zugrunde und gibt den Schlußbüchern ihre vorzügliche Stellung, denn ihr Gegenstand ist die dritte und größte Manifestation Gottes, die Wiederherstellung und Erlösung des Menschen. So paradox es zunächst erscheinen mag: in den Schlußbüchern erst wird das Werk Gottes vollendet und gekrönt. Deshalb spielen die eschatologischen Stellen dort eine so große Rolle, und deshalb ist es entscheidend, daß Adam zur Einsicht in die Wege Gottes und damit zur Umkehr und zum Frieden kommt. Was Milton, für den der in der weltlichen Epentradition gültige Begriff des Heldentums hinfällig geworden ist, in dem großen Exordium zu IX als das neue Heldenideal postuliert, "the better fortitude / Of Patience and Heroic Martyrdom", ergibt den Tenor der Schlußbücher. Es ist die Haltung des gefallenen Menschen gegenüber seiner Welt und seinem Gott, zu der Adam schließlich hingeführt wird. Seine Würde erhält der Mensch in Miltons Augen allein aus seiner Bindung an Gott. Für die Anfangsbücher gilt jedoch das Urteil, das Milton an der gleichen Stelle über die weltlichen Epen fällt: durch sein selbstherrliches Heldentum kann sich das Geschöpf nur von Gott entfernen und in sein eigenes Unheil verirren. Der Maßstab für diese Wertung Miltons ist die Ordnung, die Macht Gottes, die sowohl an Satan wie an Adam offenkundig wird. Genau diesem Gedanken trägt Milton aber kompositorisch Rechnung. So weist das Sinngefüge des Paradise Lost auf den Anspruch Miltons, in dieser Dichtung Gott zu verkünden und, wie er sagt, zu rechtfertigen. In der Doctrina Christiana nennt er die Verkündigung der Bibel "that divine revelation for the promotion of the glory of God and the salvation of mankind" 1 . Es ist das gleiche Anliegen, dem er im Paradise Lost dichterischen Ausdruck geben will. 1

St. M., S. 922/1.

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Zusammenfassung und Ergebnisse

Das zweite Argument der vorliegenden Arbeit wird auf der Ebene der sprachlichen Darstellung durchgeführt. Der Aufstieg zu immer höheren Stufen der Manifestationen Gottes wirkt sich auch auf die Gestaltung der Schlußbücher aus. XI/XII sind in Ton wie Inhalt nicht nur die Umkehrung der vielgerühmten Anfangsbücher, sie überbieten diese, da sie an die Stelle ihrer glanzvollen, aber verkehrten Turbulenz die äußere und die innere Schau setzen. Dieser grundlegende Gegensatz bestimmt auch ihre Darstellungsweise. Die Geladenheit und Üppigkeit der Darstellung ist am Schluß der Dichtung einer Sprache gewichen, die gelegentlich bis zum Äußersten konzentriert und abstrahiert ist. Ökonomie und Dämpfung stellen sich als bewußter Verzicht auf die wirksamen, aber hier nicht mehr angemessenen Mittel der ersten Bücher heraus. Ihre innere Lebendigkeit, Spannung und dichterische Überzeugungskraft gewinnen die Schlußbücher zu einem wesentlichen Teil aus der Gesprächssituation. Aber darin erschöpft sich der Beitrag der Sprachgebung für die Dichtung nicht. Gelegentlich gebraucht Milton ein wichtiges Wort nur ein einziges Mal, so daß es als Hapaxlegomenon sein Gewicht erhält; oder aber die auffallend häufige Verwendung eines tragenden Wortes läßt auf eine bewußte und auf das Ganze der Dichtung bemessene Wahl schließen. Wenn aber ein Wort zum erstenmal an einer bedeutsamen Stelle vorkommt, erhält es von dorther eine Strahlkraft, die sich erst dann voll auswirkt, wenn es an einer anderen wichtigen Stelle wieder erscheint. Hier entscheidet über die Bedeutsamkeit des Wortes nicht mehr die Häufigkeit seines Auftretens, sondern seine Kraft, Assoziationen heraufzuführen und Zusammenhänge herzustellen, d. h. aber seine Fähigkeit, die Struktur der Dichtung zu stützen. Was für das einzelne Wort gesagt ist, gilt auch für Wortgruppen und größere Sinneinheiten (patterns). Ihre Wiederkehr steigert nicht allein die Intensität der Aussage, sie läßt die Einheit des inneren Gefüges der Dichtung erkennen. Neben dem zugleich stilistischen und strukturellen Mittel der Wiederholung von Echo- oder Schlüsselworten2 wendet Milton aber auch das Prinzip der Abwechslung, der Gegensätzlichkeit oder der Symmetrie in Sprachgebung und Aufbau an. Geboten sind solche Mittel in jeder längeren Dichtung, im Paradise Lost aber in besonderem Maße, weil die Dichtung nicht auf einen Fortgang der Darstellung ausgerichtet ist, sondern darauf, diese ganz in den Dienst des Hauptthemas zu stellen, es zu umkreisen, zu verdeutlichen und ihm Leben zu verleihen. Der zunehmenden Tendenz zur Intensivierung und Konzentration der Sprache, die durch die Situation des ausklingenden Epos wie durch die wachsende 2

MacCaffrey spricht von "'key words' or images", S. 81.

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Schwierigkeit des Gegenstandes am Schluß des Paradise Lost bedingt ist, kommen die genannten Mittel der Sprachgebung außerordentlich zustatten. Milton erreicht eine unerhörte sprachliche Dichte, indem er die abstrakten Stellen der Schlußbücher, besonders des XII. Buches, durch die Assoziationen mit anschaulichen Partien des Paradise Lost innerlich belebt und vertieft, so daß sie trotz ihrer scheinbaren Kargheit nichts an Fülle und Dynamik einbüßen. Das System von verborgenen Zusammenhängen und Anspielungen läßt sich durch das ganze Paradise Lost verfolgen. In den Schlußbüchern werden sie jedoch alle zusammengeführt und wie Strahlen in einem Brennglas vereinigt. Die Sprachgebung des Paradise Lost stellt aber noch ein anderes, fundamentales Problem. Milton erhebt für seine Dichtung den Anspruch der absoluten Wahrheit und nimmt sich doch die künstlerische Freiheit, eben diese Wahrheit in dichterischer, d. h. in faßlicher und zugleich schöner Form vorzutragen. Diese Spannung zwischen Bindung und Freiheit zieht sich durch die gan2e Dichtung und schlägt sich natürlich auch in ihrer Sprache nieder. Von Gott kann der Mensch nur in Analogien reden, ja Gott selbst spricht in der Schrift zu den Menschen so, wie es ihrem Verständnis angemessen ist3. Nun sind aber auch die Berichte der Bibel vielschichtig, und ihre Aussagen sind bald verhüllend oder ausschmückend, bald eindeutig und unterweisend. Ähnlich bewegt sich Miltons Sprache zwischen der schöpferischen Freiheit, die beim analogen Reden zugelassen ist, und der Strenge, die von der Wahrheit der reinen Lehre gefordert wird. Bildhaftigkeit und Lehrljaftigkeit durchziehen sein Werk, so daß Vieldeutigkeit und Eindeutigkeit gleichberechtigt nebeneinander auftreten. Die Doctrina Christiana sieht die Haltung des Menschen Gott gegenüber unter zwei verschiedenen, aber notwendig zusammengehörigen Aspekten: "love, or the worship of God" und "faith, or the knowledge of God" 4 . Mit der hymnischen oder bildhaften Sprache führt Milton den Leser mehr auf die eine, mit der didaktischen mehr auf die andere Bestimmung hin. In diesem Punkt unterscheidet sich die Darstellungsweise der Schlußbücher in keiner Weise von der in den anderen Büchern des Paradise Lost. An besonders konzentrierten Stellen findet sich noch eine gesteigerte Form der Sprachgebung: wenn nämlich plötzlich die sprachliche Auto3

4

Vgl. dazu die aufschlußreiche Stelle der Doctrina Christiana: "For granting that both in the literal and figurative descriptions of God, he is exhibited not as he really is, but in such manner as may be within the scope of Our comprehension, yet we ought to entertain such a conception of him, as he, in condescending to accommodate himself to our capacities, has shown that he desires we should conceive." St. M., S. 923/2f. St. M., S. 922/1. M o r i t z - S i e b e c k , Paradise Lost

17

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Zusammenfassung und Ergebnisse

rität der Bibel selbst die Führung übernimmt. In Abschnitten erhöhter Bedeutung, insbesondere in XII, aber auch schon in III/l und VII, überläßt sich Milton der Sprachkraft der Bibel, und wenn er auch die Entlehnungen für seine Dichtung etwas umbildet, so mahnen sie doch den Leser an die grundsätzliche Verbindlichkeit des Wortes. Daß es ihm gelingt, die biblische Sprache mit der eigenen ohne Bruch oder Anstoß zusammenzufügen, zeichnet die Darstellung des Paradtse Lost in eigentümlicher Weise aus und rechtfertigt den auch hierin sich spiegelnden Anspruch Miltons, Verkünder der Wahrheit zu sein. Milton hat mit allen Mitteln eines strengen Aufbaus und einer nüchternen Sprachgebung gerade in der Deutung des Erlösungswerks auf möglichst große Klarheit und Eindringlichkeit hingearbeitet und durch die zahlreichen Zitate aus der Bibel in seinem Stil die Höhe des biblischen Sprachtons gewahrt, da die Erhabenheit des Gegenstandes ihm eine freie dichterische Ausgestaltung zu verbieten scheint. So hat die Anschaulichkeit der Verbindlichkeit der Sprache Platz gemacht. Die Skala der Darstellungsweisen ist in den Schlußbüchern noch immer groß und, wie in den anderen Büchern, den Absichten der Dichtung dienstbar gemacht. Sie erfährt darin sogar noch eine Bereicherung durch die Anlage von echten dramatischen Szenen und durch die feinen Abtönungen der Sprache vor allem in den Gesprächen. Oder denken wir an die bunte Vielfalt der Visionsbilder und an die Ausgewogenheit der darin erkennbaren Entsprechungen und Gegensätze in XI, an die sorgfältige Akzentuierung der langsam ihr Ziel enthüllenden Heilsgeschichte in XII. Auch sie zeugen in Anlage und Durchführung von dem schöpferischen Geist und der ordnenden Kraft Miltons. Vier Punkte sind es hauptsächlich, an denen sich die vorliegende Arbeit mit der Miltonliteratur auseinandersetzt, da sie auf Grund der vorgenommenen Interpretationen zu anderen Wertungen gekommen ist. Zwei in der Miltonforschung noch immer gelegentlich vorgebrachte Einwände gegen Paradtse Lost seien vorweggenommen: die Kritik an dem autobiographischen Gehalt gewisser Stellen und die Bedenken gegenüber Miltons Heterodoxie. Beide lassen sich zusammen betrachten, weil sie die Integrität des Dichters und der Dichtung in Frage stellen. Wenn wir aber die inneren Zusammenhänge sowie die Sprachgebung solcher Partien untersuchen, verlieren beide Einwände an Bedeutung. Für die an jenen Stellen auftretenden eigentümlichen Züge haben sich andere Gründe stets relevanter erwiesen als eine Motivierung durch die sich scheinbar hervordrängende eigenwillige Persönlichkeit Miltons und seine Theologie. Wichtiger ist die Frage nach der Funktion der Schlußbücher, die die Forschung ja bereits weithin positiv beantwortet hat. Aber es haben

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Zusammenfassung und Ergebnisse

sich neue Gesichtspunkte auf2eigen lassen, die diese noch zögernd gemachten Zugeständnisse stützen. Ganz allgemein muß durch die Aussagekraft und Bedeutungsschwere, die die hier vorgetragene Interpretation für die Schlußbücher festgestellt hat, der Beitrag v o n Buch X I und X I I für das Ganze beträchtlich steigen. A b e r auch aus der Untersuchung über die architektonische Gliederung des Paradise Lost geht die wichtige Funktion der Schlußbücher hervor, indem die Gegengewichtigkeit der Anfangs- und Schlußbücher und ihr Verhältnis zur Mitte der Dichtung aufgedeckt werden. Dabei handelt es sich um mehr als die Herstellung eines Gleichgewichtes durch die Schlußbücher, denn sie bedeuten gegenüber I/II eine Steigerung, weil sie die höchste und letzte Stufe der Rechtfertigung Gottes enthalten. D . h. der Auffassung v o m Paradise Lost als einem Kuppelbau wird entgegengewirkt durch die geheime Zielrichtung und Aufwärtsbewegung, die die Dichtung durchzieht. Die vor allem v o n Tillyard, aber auch von anderen Forschern vertretene Auffassung v o n dem tiefen Pessimismus der Schlußbücher hält einer näheren Prüfung nicht stand, wie sich schon aus dem eben Gesagten ersehen läßt. Weder die ganze Anlage der beiden Bücher auf die Erlösung hin, noch ihre Durchgestaltung oder ihr Sprachton berechtigen zu dieser Anschauung. Der Sieg über Satan (VI) und die Schöpfungstat (VII) wiederholen sich auf einer neuen Stufe als Überwindung des Bösen im Menschen durch seine Umkehr zu G o t t und als die letztliche Wiederherstellung des Menschen durch die Gnade. So führt der W e g , den A d a m in X I und X I I zurücklegt, zwar durch Tiefen und Dunkelheiten, aber er gipfelt nicht in Resignation, sondern im Lobpreis Gottes. Ebensowenig kann der Schlußteil des Paradise Lost als eine dichterisch mißglückte Leistung angesehen werden, wie die Interpretation deutlich zu machen versuchte. D i e K r a f t der Komposition bis ins Einzelne, die Straffung und gelegentliche Dramatik der Darstellung, die Intensität der Sprache und der den Absichten des Schlusses angemessene verhaltene Sprachton, aber auch die Fülle und Gewichtigkeit des gebändigten Stoffes sprechen gegen eine abwertende Beurteilung. Schließlich bedeuten X I und X I I eine unentbehrliche Ausdeutung und Ausweitung des Sinngehaltes des Paradise Lost. Indem sie die Wege Gottes in der Menschengeschichte und gleichzeitig die innere Wandlung Adams verfolgen, wird nun auch der Lebensbereich des Menschen in das Hauptthema einbezogen. " T u a res agitur" steht hinter jedem Wort der beiden Schlußbücher, die auf diese Weise eine starke emotionale Vertiefung erfahren. Was ihnen an äußerer Dynamik fehlt, 17«

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Zusammenfassung und Ergebnisse

wird durch diese innere Dramatik ersetzt. Die dichterische Rechtfertigung der Wege Gottes führt Milton einem zweifachen Höhepunkt zu: auf der Ebene der Prophetie in den zwei Endzeitvisionen, und im Bereich des Menschlichen in dem Schlußbild von Adam und Eva: They hand in hand with wandring steps and slow, Through Eden took thir solitarie way.

Anhang

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN Zeitschriften: Ang CL EETS ELH E&S HTR HLQ[B] JEGP JHI MLN MLQ MLR MP N&Q PMLA PQ RES SP UTQ

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Ferner: AV OED

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LITERATURVERZEICHNIS Wie die meisten Veröffentlichungen über Milton enthält auch diese nur eine ausgewählte Bibliographie der wichtigsten benützten allgemeinen und Milton-Literatur ; Bücher sind in alphabetischer Reihenfolge unter 1. aufgeführt. Unter 2. folgt ein ebenfalls alphabetisch geordnetes Verzeichnis von Aufsätzen und Einzeluntersuchungen in Zeitschriften, besonders zu Milton und zum Paradise Lost; weitere, nur gelegentlich herangezogene Spezialuntersuchungen werden nur in den Fußnoten angeführt.

1.

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INDEX Die Stichwörter beziehen sich stets auf den Sinn der betreffenden Textstellen, ohne in allen Fällen deren Wortlaut entnommen zu sein. Zur größeren Übersichtlichkeit sind sie unter einigen wichtigen Gesichtspunkten alphabetisch eingeordnet. Abraham, s. a. Thematisches, Verheißung, 77, 148, 169—74 Aeneis s. u. Vergil Aufbaufragen Aufbau des Gesamtwerks 14, 18, 20, 24, 26, 32—48, 70, 252, 254 Anfangsbücher 26, 35, 38 f., 45 ff. Mittlere Bücher 25, 27, 30, 37f., 40ff., 43f., 76 Schlußbücher 21, 28, 35, 38f., 45ff., 65, 74ff., 158, 168, 223 EntsprechungsVerhältnis der Bücher 27, 39f., 42—47, 76 3 , 254f. Progression 39f., 44f., 47 Aufbau der einzelnen Bücher Auftakt 33, 39, 43 f., 233 Geschlossenheit (formale Einheit) 32ff., 37, 47, 159 Gliederungsschema zu Buch X I 90 f. Gliederungsschema zu Buch X I I 160 f. Aufbau der Reden (Gliederungsschemata) 100, 146f., 167", 174f., 187 42 , 201, 212, 222f., 227f. Anreden 81 f., 200, 223 Expositionen 166, 169, 176, 179f. Leitworte der Reden 166, 214f., 219, 242 Aufbau der Visionen 110, 115, 123ff., 138f., 146, 153 Aufbau der Visionsfolgen 107f„ 117, 120, 133, 136—38 Dante 11431, 252f. Darstellungsprobleme Assoziationen (Anspielungen) s. u. Querverbindungen Auswahl und Akzentuierung des Stoffes, s. a. Verhältnis zur Bibel, 17, 27, 60, 85, 153, 169f., 175f., 178, 185, 191, 199, 202 Nennung von Eigennamen 73, 190f., 196, 198f. Autobiographische (persönliche) Züge, s. a. Lehrhafte Züge, Kommentierung, 57, 83 11 , 116, 157, 159, 188, 211, 220, 243, 258 Bedeutungsvertiefung s. u. Querverbindungen Bibel, Verhältnis zur . . ., s. a. Sprachkunst, Sprache der Bibel, 14f., 37, 43, 46, 60, 74, 103, 110f., 116, 130, 132, 135, 140, 142, 150f., 158, 170, 173, 177ff., 183ff., 188f., 19457, 202, 212f., 215, 246 131

270

Anhang

Darstellung Gottes 26ff., 41, 65ff., 68f. Dichterische Freiheit 10,15, 19, 48, 60, (AI., 80 Emotion des Dichters s. u. Autobiographische Züge sowie u. Hineinsprechen des Dichters Darstellung der . . . 53, 81, 100, 138, 200, 224, 245 Emotion und Didaktik 29, 44, 78, 108 Episierung (der 5. und 6. Vision) 139, 155 poetische 139—44 ethische 139—42 Formen der Darstellung, lockere und feste . . . 47f., 53, 106, 204, 226, 232 Gesprächssituation 78, 107/8, 117—19, 134—35, 144—46, 151, 155, 160, 168, 171 f., 175, 197, 207, 232—38, 240 szenische Gestaltung der . . . 117—119, 145f., 154f., 160, 162f., 175 Gesprächsstützen 233, 235 ff. Hineinsprechen des Dichters, s. a. Autobiographische Züge, 53, 67, 205, 208 Innere Vorgänge, s. a. Psychologische Differenzierung, 29, 35, 100, 211, 235, 238 Inspiration, s. a. Wahrheitsanspruch, 22, 27, 103, 258 Oekonomie, dichterische . . ., s. a. Auswahl und Akzentuierung des Stoffes; Querverbindungen, 108, 119, 134f., 155, 20675, 223, 225 •Pageant' 109, 111, 115, 132f., 163, 165f. Präfiguration s. u. Typologie Psychologische Differenzierung 78—85, 96, 15584 Querverbindungen 97, 178f., 182, 184f., 190, 196, 202f., 214, 217, 222, 224f., 228f., 232, 241 ff., 247, 256 f. Schauplatz, Rolle des . . . 16, 35f., 96f., 10312, 124, 170f. Spannung der epischen Darstellung 28, 35, 54, 60, 62, 91 ff., 126,136,154,172,194ff., 238 f. Typologie 148, 172ff., 177, 181 f., 185, 193, 195—96 Wahrheitsanspruch, s. a. Sprachkunst, Sprache der Bibel, 18f., 27, 48, 158, 257 De Doctrina Christiana 10924, 230ff., 255, 2573 Du Bartas 22, 114, 208", 247 Epos, s. a. Aufbaufragen, Aufbau des Gesamtwerks, sowie u. Homer, Vergil Konventionen, epische 49—70 Apostrophen 52—54, 84, 144f., 206f., 223f. Episoden 27, 30f., 35, 41, 50, 66 Exkurse s. u. Lehrhafte Züge Exordien 21 ff., 28, 32, 43f., 51, 67, 128, 208 Gebete 26f., 49, 51—52, 89, 92, 93—94 Gleichnisse s. u. Vergleiche, epische . . . Himmelsszenen, s.a. Thematisches, Himmelsszene III/l, 26, 28, 65—70, 91 ff., 188

Index

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Hymnen 26f., 49f., 51—52, 53, 69 Invokationen, s. a. Exordien, 14, 18, 20ff., 36, 49f., 52 Kataloge 103ff., 17116 Monologe 45, 51—52, 81, 84, 86, 202, 20778 Omina 50, 62, 96—98 Prologe s. u. Exordien Träume 50f., 60ff. Vergleiche, epische . . . 29, 46f., 51, 93f., 128f., 17116, 178f., 238121, 246 Vorblicke, s. a. Thematisches, Himmelsszene III/l, 49f., 59—65 Wiederholungen, epische . . . . 581», 92, 97, 99, 119" Tradition des Epos 10, 12ff., 19, 22f., 43, 50ft, 116, 128ft, 140ff„ 148, 158, 170, 17114, 250 Henoch 77, 117, 121 ft, 135, 148f., 165 Homer 12, 14, 19, 66f., 107, 128ff., 133 Innozenz III 114, 116 Lehrhafte Züge 46, 54, 58, 74, 82, 116, 137 f., 149, 152, 168, 224, 228 Echostellen 58 Exempla 34, 109, 112, 133, 148, 156, 159, 165, 176, 232 Exkurse 34, 49f., 54—58, 127f., 178, 208 Kommentierung 26, 34, 49, 58, l l l f . , 139, 192, 234 ethische l l l f . , 131, 133, 164f., 167 in den Visionen s. u. Darstellungsprobleme, Episierung Sentenzen 55, 57, 81, 117f., 137, 239ff. Tugendkatalog 229 ff. Verhältnis von Geschehen und Deutung 23, 34, 49, 158f., 170, 175, 177, 181, 187, 192f., 198f., 201, 204f., 210, 237 Verhältnis von Vision und Lehrrede 78, 101 f., 108, 121 f., 159, 162, 163—65, 171 Moses 22, 77, 148, 174ff. Noah 135 ft, 143f., 147f., 153f., 159, 164 Ovid 132, 140ff. Pessimismus der Dichtung 76ff., 118, 190, 218ff, 225f., 259 Resignation Adams 100, 145, 225f. Sackville, Thomas 114, 116 Spenser, Edmund 13, 10312, 113f. Sprachgebrauch in I, 26: 21 4 ; XI, 385f.: 104ft; XII, 277: 18639; XII, 407ft: 200™ Syntax 23, 81, 180, 18948, 197«5, 204, 225", 240, 241122 Tempusgebrauch 124f., 139, 143, 150ft, 163, 180, 206, 21892 Wortbedeutung: "charming" 126, "ditties" 1264», "faith" 11842, 230, "faithful" 148'8, 173,186f., "fortitude" s. u. "virtue", "infallible" 21184, "just" 148™, 173,186f.,

272

Anhang

"natural" 245, "our" 206, 243, "patience" 11842, 178, 231, "providence" 224, 227101, 245, "saints" 12348, "see" 18638, "virtue" 231, "vapour" 247™ Sprachkunst in IX, 370ff.: 83; X, 1093ff.: 88f.; XI, 705: 122«; XII, 173ff.: 177f.; XII, 537ff.: 217 f. Allegorie und Personifikation 26f., 29f., 45, 64f., 73, 113ff., 202 Anschaulichkeit 131, 163, 185, 200, 213, 253 Antithetik 189, 200 Aufzählungen 48, 114, 177, 202, 228f. Ausweitung der Glieder einer Kette 127 f., 146, 214 Bedeutungsintensivierung s. u. Darstellungsprobleme, Querverbindungen Chiasmus 82, 177, 180 Dramatische Sprache 183, 203 Echoworte s. u. Darstellungsprobleme, Querverbindungen Einfache Sprache 82, 125, 145, 179ff, 189, 203f., 217, 225ff., 239f., 242ff., 248 Formelhaftigkeit 108, 118f., 174, 198, 228 Ironie 27, 64, 6632, 126—28, 133,167 Metaphern s. u. Umschreibungen Nüchterne Sprache 77, 181, 185, 198, 200, 202 Pathos 82, 93, 150, 155f., 206 Prägnanz 174, 190f. Rhetorische Züge 55, 145, 209, 224, 228, 240 Sprache der Bibel 58f., 73f., 94f., 103, 132, 150, 177f., 180, 183, 202f., 209, 212, 217 f., 225f., 257 f. Sprachrhythmus 45, 191, 207, 248f. Sprachtempo 82, 89, 180, 185, 190, 195, 209, 248 Sprachton, s. a. Pathos, 153, 155, 195, 206f., 213, 217f., 220, 222f. Dämpfung des . . . in den Schlußbüchern 33, 158, 198, 222, 226, 234, 245, 250f., 256 Straffung 139, 163 f., 174f., 183, 222, 225 Symbolische Darstellung 27, 44, 62, 80, 97, 243f., 246ff., 251 ff. Umschreibungen 141, 143, 178, 190, 193, 199, 202ff., 213, 219, 226, 228 Vergleiche, s. a. Epos, Vergleiche, 84, 96—98, 103f., 141, 145, 178 Verhülltes Sprechen 80, 82, 99 Wortspiele 81, 121, 127, 145, 167 Wortwiederholungen 5819, 82, 145, 177f., 180, 192, 202, 206f., 209, 219, 228 Sylvester, Joshua, s. u. Du Bartas

Index

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Thematisches 20—31 Adamshandlung 20, 23f., 28ff., 39f., 45, 74ff., ab S. 90 passim Adams Verständnis 27, 31, 74f., 77ff., 85ff., 95, 99ff., 102f., 149ff., 172, 186f., 190, 194, 196, 198f., 203, 208f., 220f., 226, 229, 232 Apostolat s. u. Kirche das Böse 29f., 73 Überwindung des Bösen (Himmelsschlacht), s. a. Manifestationen Gottes, 25, 27 Verwandlung des Bösen in Gutes, s. a. Lehrhafte Züge, Echostellen, 30, 58, 77, 153, 155, 157, 169, 196, 207 f., 225f", Endzeit Hinweise auf die . . . 25, 58—60, 66, 93, 182, 185, 19052 Visionen der . . . 25, 60, 73, 144, 193, 199, 205/6, 215—18 Erkenntnis, s. a. Adams Verständnis, 23f., 26f., 58, 67, 74f., 224, 226 Erlösung, s. a. Manifestationen Gottes, 16, 21, 24ff., 30, 32, 74, 85, 102, 122f., 158, 182, 196—238 Eva 96', 101, 241 ff. 'felix culpa' 208ff., 242 Gerechtigkeit Gottes 25ff., 45, 75, 85—89, 92, 94, 116f., 150 Geschichte als Heilsgeschichte, s. a. Lehrhafte Züge, Geschehen und Deutung, 37, 74ff., 158ff„ 165, 179, 191, 220f. Gnade und Gerechtigkeit 25ff., 45f., 75, 85—89,92ff., 117,134,150,155,159f., 187,223,226 und Gesetz, s. a. Lehrhafte Züge, Geschehen und Deutung, 175, 177, 184,187, 199 Heilsgeschichte, s. a. Abraham sowie Geschichte als Heilsgeschichte, 156, 162, 168 Himmelsszene III/l 25f., 28, 30, 35, 37f., 40, 45, 59, 63, 65, 67ff, 76, 91 f., 11945, 188, 205, 211, 218 Kirche 211, 213f., 215, 220f. Lob Gottes s. u. Verherrlichung Gottes Manifestationen Gottes, Stufen der . . . 24, 30f., 76, 157f., 255 Menschenbild 28f., 46, 135f., 148 Aufgaben des Lebens 102, 210, 226, 228ff., 241 Erkenntnis 24, 74, 224, 228 Gehorsam 23, 28, 57, 100f., 170, 200ff., 220, 224 Glaube 57, 74ff., 159, 199ff., 210ff, 219f. Liebe 23, 200, 229 Vorbilder des Menschen s. u. Abraham, Henoch, Noah Wiederherstellung des Menschen 85f., 88f., 94 Ordnung Gottes 21, 29, 57, 92, 120ff., 210 Wiederherstellung der . . . 75, 93, 122, 150, 215, 244 Paradoxon des christlichen Lebens 46, 77, 93, 215, 221 Rechtfertigung Gottes 1720, 20, 23, 37, 39ff., 45f., 56, 60, 68, 70, 75, 88, 91, 95, 101 f., 123, 153, 155, 158, 167 M o i i t z - S i e b e c k , Paradise Lost 18

274

Anhang

Satanshandlung 18, 20, 23, 28ff., 39f., 73f. Schöpfung, s. a. Manifestationen Gottes, 18, 26 f., 30, 37, 55 Strafe 69, 87f., 92f., 103, 141, 165 Sündenfall 16, 21, 24, 26f., 31, 167, 229 Tod, 73f., 86, 108f., 112ff., 133, 226 Tröstung 74, 92, 99, 153ff., 158, 216f., 241 Verheißung, s. a. Endzeit, 24f., 58f., 74, 154, 158f., 172, 193, 201 Abrahamssegen 170ff., 186, 194 Messiasverheißung s. u. Prophetie vom Weibessamen Prophetie vom Weibessamen 87 f., 95 f., 99, 173, 186, 193—95, 196, 198 Verherrlichung Gottes 17, 24ff„ 28f., 34, 37, 44, 53, 69, 157f., 210, 223, 225, 255 Wege (Wirken) Gottes, s. a. Manifestationen Gottes, 17, 19ff., 23f., 26ff., 31, 66, 75ff., 92, 94, 219, 226 Willensfreiheit, s. a. Lehrhafte Züge, Echostellen, 20, 24f., 27, 29, 37, 58, 61, 69, 79f., 82f., 167 Wunder 121 f., 125, 154, 175ff., 179f. Tradition s. u. Epos, Tradition des . . . der Kirche, s. a. Darstellungsprobleme, dichterische Freiheit; Typologie, 14,18f., 26, 67, 170, 19457, 20879 Vergil 12, 14, 19, 32, 34, 36, 38, 41 f., 47, 50, 60ff., 66f., 91 f., 107, 116", 129ff., 251 Verstechnik Alliteration 141, 180, 218 Blankvers 9 ff. Elision 127 Enjambement 141, 200, 217, 226, 249 Reim lOff., 203 Taktumstellung auf dem 4. Fuß 127, 141, 207, 209, 217 Versrhythmus 11 f., 141, 145, 191, 217f., 249

Q U E L L E N U N D F O R S C H U N G E N ZUR SPRACH- U N D KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

Begründet von Bernhard ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge herausgegeben von Hermann Kunisch

E R N S T VON R E U S N E R

Satz, Gestalt, Schicksal Untersuchungen über die Struktur in der Dichtung Kleists Groß-Oktav. VI, 136 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 24,— Neue Folge 6 (130)

W E R N E R BRAUN

Studien zum Ruodlieb Ritterideal, Erzählstruktur und Darstellungsstil Groß-Oktav. VI, 117 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 24,— Neue Folge 7 (131)

RICHARD DAUNICHT

Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland Groß-Oktav. VI, 309 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 36,— Neue Folge 8 (132)

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N 30

Q U E L L E N U N D F O R S C H U N G E N ZUR SPRACH- U N D KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER Begründet v o n Bernhard ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge herausgegeben v o n Hermann Kunisch

WOLFGANG FRÜHWALD

Der St. Georgener Prediger Studien zur Wandlung des geistlichen Gehalts Groß-Oktav. VIII, 164 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 38 — Neue Folge 9 (133)

THOMAS F I N K E N S T A E D T

You und Thou Studien zur Anrede im Englischen Groß-Oktav. IX, 301 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 44,— Neue Folge 10 (134)

HELMUT BRACKERT

Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes Groß-Oktav. VI, 190 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 28,— Neue Folge 11 (135)

WALTER DE GRUYTER

& CO

• BERLIN

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