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German Pages [281] Year 2020
MONICA RÜTHERS
Unter dem Roten Stern geboren
Sowjetische Kinder im Bild
Monica Rüthers
UNTER DEM ROTEN STERN GEBOREN Sowjetische Kinder im Bild
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Dieses Werk wurde gefördert durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt am Historischen Kolleg in München. Das Historische Kolleg wird finanziert aus Mitteln des Freistaates Bayern. Die Mittel für das Forschungsstipendium haben je zur Hälfte der Freistaat Bayern und das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin zur Verfügung gestellt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Fedor S. Šurpin (1904–1972), Plakat Wachse heran, Recke ! Dich behütet die Sowjetische Armee !, 1948, Farblithographie, 80,5 × 58 cm, 50000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : Korrektorat : Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung : Guido Klütsch, Köln Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51455-6
Inhalt
Sowjetische Kinder im Bild – Zukunftsträger, Heilsbringer, Naturkinder : Eine Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Bilder von Kindern – Stil und Medium von Proletkul’t bis zum Sozrealismus. . . 33 2 Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . 52 3 Kinder im Zeichenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4 Kinder in der alltäglichen Bildproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5 Viele Völker, eine Kindheit : Die Kinder der Sowjetrepubliken im Bild . . . . . . . 165 6 Topoi, Tabus und Gegenerzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 7 Sozialistische Kindheit im Rückblick – Die Macht der Nostalgie.. . . . . . . . . 225 8 Kindheit als Ressource – Ein Fazit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Quellen- und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Abbildungsverzeichnis und -nachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
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Sowjetische Kinder im Bild – Zukunftsträger, Heilsbringer, Naturkinder : Eine Einleitung Die Kinder sind unsere Zukunft !
So lautete eine der bekanntesten Losungen der sowjetischen Propaganda. Die Revolutio närinnen und Revolutionäre schöpften ihre Überzeugungskraft aus dem Versprechen einer leuchtenden Zukunft, nicht nur für die unmittelbar beteiligten Bewohner der Gegenwart, sondern für die ganze Menschheit : Die Revolution sollte sich wie ein Lauffeuer ausbreiten, sämtliche Länder erfassen und einen Neuen Menschen schaffen, der in einer idealen, herrschaftsfreien Gesellschaft leben würde.1 Alle würden nach ihrem Vermögen mit ihrer Arbeit dazu beitragen und sich nach ihren Bedürfnissen an den Früchten der gemeinsamen Anstrengungen gütlich tun. Diese totale Ausrichtung auf die leuchtende Zukunft forderte den Menschen höchste Anstrengungen ab unter Verzicht auf deren Vergütung in der Gegenwart, und sie rechtfertigte vorübergehend Gewalt und Zwang. Dafür war der Wert der lichten Zukunft gänzlich den Kindern eingeschrieben : Die Erwachsenen erbauten heute das kommunistische Morgen, in dem die Kinder in paradiesischen Verhältnissen leben würden. Diese Kinder sollten die ganzen Sinngehalte, Gedanken und Mythen mitnehmen und weitertragen, alle Hoffnungen, Wünsche und Emotionen der sowjetischen Welt. In den Kindern konzentrierten sich der Lebenssinn und das Glück des gesamten sowjetischen Lebens. Das galt für die Zeit nach der Revolution, für die gewaltigen und gewalthaften Industrialisierungsanstrengungen der ersten Fünfjahrpläne ab 1929, aber auch für die Nachkriegszeit nach 1945 mit dem Wiederaufbau als Symbol des Neubeginns. Kinder standen im Mittelpunkt der kollektiven Träume von Frieden und Glück.2 Dabei schöpften die sowjetischen Kindheitsvorstellungen aus europäischen wie auch aus christlichen Traditionen.
Die Kindheit : Ein Produkt der Moderne
Die Kindheit, wie wir sie kennen, ist ein Produkt der europäischen Moderne, die auch den europäischen Teil des Russischen Reiches erfasste (Abb. Einl. 1 und 2). Sie entwickelte sich aus der Aufklärung und aus der emotionalen Aufwertung des Kindes in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, aus dem Gedanken der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern, aus der Projektion von utopischen Gesellschaftsentwürfen auf Kinder und aus den Möglichkeiten massenmedialer Kommunikation in modernen Gesellschaften. Die Figur des unschuldigen, schutzbedürftigen Kindes wurde in verschiedenen historischen Zusammenhängen erst geschaffen und dann in politischen Ausein7
Sowjetische Kinder im Bild
andersetzungen und gesellschaftlichen Konflikten instrumentalisiert. Kinder wurden zu Opfern und Richtern stilisiert und traten als Erlöser auf, erst in christlichen Zusammenhängen, dann in weltlichen : Der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) erblickte im Kind den Urzustand der menschlichen Natur. Er betrachtete diese Natur als gottgleichen Zustand, der keinen Widerspruch duldete.3 Die Vorstellung vom »kostbaren Kind« entwickelte sich parallel zum Aufstieg des bürgerlichen Familienideals. Das Ideal der bürgerlichen Familie schrieb dem einzelnen Kind ebenso wie den familiären Beziehungen und dem Gefühlsleben einen hohen Wert zu.4 Kinder waren nicht mehr in erster Linie ein wirtschaftlicher Faktor für die Familie, sondern sollten deren emotionales Zentrum sein. Um die Wende zum 20. Jahrhundert sollten sie nicht mehr arbeiten, sondern die Schule besuchen, sie sollten nicht mehr auf der Straße spielen und galten fortan als ebenso schutzbedürftig wie unschuldig.5 Romantische Vorstellungen einer idealen Kindheit verbreiteten sich über die Literatur und die Malerei. Darin spielten die Natur und Gefühle eine besondere Rolle. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelten sich diesen romantischen Vorstellungen vom natürlichen, kostbaren Kind entsprechende visuelle Klischees und Standards bei den Darstellungen von Kindern. Im 20. Jahrhundert wurde das Kind dann zu einer starken Bildformel in der politischen Arena, da man erkannt hatte, dass Kinderbilder eine intensive, emotional begründete Wirkmacht entfalteten. Die Bildelemente und Bildmuster der Kindheit waren kulturell mobil :6 Sie waren in der gesamten westlichen Welt und auch in den staatssozialistischen Gesellschaften dieselben.7 Was jeweils in bestimmten zeitlichen und örtlichen Kontexten als das Wesentliche des Abb. Einl. 1 : Valentin A. Serov (1865–1911), Kindes identifiziert und öffentlich geltend geÖl auf Leinwand, Mädchen mit Pfirsichen macht wird, ist Bestandteil – und nicht selten (Veročka), 1887 argumentatives Kernelement – gesellschaftliDas Porträt der zwölfjährigen Vera Mamontova, Tochter des Großindustriellen cher Entwürfe, und es ist diesen verpflichtet.8 Sava Mamontov, gilt als Schlüsselwerk Dabei war es vor allem die Jugend, die zur poder russischen Malerei des Realismus. litischen Ressource avancierte.9 Anfang des Es wurde zum ikonischen Bild eines romantischen, kostbaren wie behüteten 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Jugendund glücklichen Kindes. Das Motiv der organisationen gegründet wie etwa die interMädchen am Tisch vor sonnigen Fenstern nationale Bewegung der Boy Scouts und später wurde in der sowjetischen Malerei immer die Organisationen der Staatsjugenden in der wieder aufgegriffen. 8
Die Kindheit : Ein Produkt der Moderne
Abb. Einl 2 : Il’ja J. Repin (1844–1930), Öl auf Leinwand, Wolga-Treidler, 1870–1873 Repin zeigt in dem sozialkritischen Gemälde die Mühen des Alltags der Tagelöhner an der Wolga. Hoffnungsträger im Bild ist der Junge in der Mitte, der sich gegen das Schicksal förmlich aufbäumt und auch durch die Lichtführung als Vorbote einer besseren Zukunft dargestellt ist.
Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland. Die »Ästhetisierung von jugendlicher Kraft und Schönheit in monumentalen Skulpturen, Propagandaplakaten oder inszenierten Massenspektakeln«10 unterstützte die politische Mobilisierung. Vieles jedoch, was für die Jugend galt, galt auch für die Kindheit. Wie die Jugend so wurde auch die Kindheit »zur Chiffre für den Ausbruch aus den gesellschaftlichen und geistigen Krisen der Jahrhundertwende in eine bessere Zukunft erhoben«, befreite »von den Fesseln des Alten«, erneuerte die Gesellschaft und war »Hoffnungsträger für die Zukunft als Zeichen der Verjüngung und des Aufbruchs zur Überwindung eines morschen Systems«.11 Das Kind verkörperte die Vision von der »Neuschöpfung des Menschen«, ja der ganzen Gesellschaft und der Welt überhaupt. Auch im Kontext der aufstrebenden Nationalstaaten wurden Kinder zu Trägern gesellschaftlicher Hoffnungen und Utopien. Sie waren Objekte wohlfahrtsstaatlicher Ambitionen und gesellschaftlicher Reformbewegungen.12 Das führte zur Überhöhung, ja Sakralisierung der Kindheit. Die Kinder als Verkörperung der Zukunft wurden zum nationalen Gut, das um jeden Preis geschützt werden musste. Damit wurden Kinder zum mächtigen politischen Argument.13 War die Jugend kraftvoll, idealistisch und zupackend, so erschien das Kind im Bild öfter als Projektionsfläche denn als Akteur. Karen Dubinsky hat in einer Studie zu Kindern auf Plakaten des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass nichts so wirksam sei wie ein Klein9
Sowjetische Kinder im Bild
kind, um Erwachsene zum Handeln zu motivieren. Sie zeichnet nach, wie sich über das 20. Jahrhundert hinweg ein global poster child mit spezifischen Eigenschaften, allen voran Verletzlichkeit, entwickelte. Dieses generische Musterkind wurde überwiegend passiv und als Opfer von Armut, Hunger oder (drohender) Gewalt dargestellt. Auch wenn die Gefahr häufig diffus blieb, stellte sich jeweils ein Retter vor, sei es eine Partei, eine Revolution oder ein starker Nationalstaat.14 Das Sprechen »im Namen von Kindern« verschafft höchste moralische Autorität und Achtung. Bedürfnisse von Kindern rechtfertigen jede Agenda : Das Wohl des Kindes begründet alles, man muss weder argumentieren noch erklären noch ins Detail gehen. »Was immer man auch tut – sofern man es für Kinder tut, tut man das Richtige.«15 Der Blick auf das Kind ist immer auch der Blick auf die Gesellschaft, in der es lebt.16 Über das Kind lassen sich unterschiedliche Zielgruppen ansprechen. Als Symbol der gesellschaftlichen Zukunft stiftet es Konsens.17 Kinder sind emotionale Verstärker für alle Themen. Sie können als Figuren auftreten, die über das Verhalten ihrer Eltern urteilen und diese somit wirkungsvoll manipulieren. Soziale Probleme lassen sich wegen der Sentimentalisierung der Kindheit gut an »unschuldigen« und »verletzlichen« Kindern darstellen. Über Kinder vermittelte Botschaften appellieren an den Affekt. Sie dringen damit in private und emotionale Bereiche vor und machen aus politischen persönliche Anliegen.18 Das galt für die europäischen Länder und die Neue Welt ebenso wie für die Sowjetunion und die sozialistischen Länder Osteuropas. In der sowjetischen politischen Mythologie und in den sowjetischen Bildwelten spielten Kinder eine wichtige Rolle : Auch im Bild wurden sie eng mit der sowjetischen Nationwerdung verwoben, und es waren vor allem die Bilder, durch die Kinder als Schlüsselbotschaft wirkten.
Das sowjetische Kind als Chiffre und Prisma
Die Sowjetunion betrieb seit ihren Anfängen einen ausgeprägten Kindheitskult. Kinder galten als wertvolles öffentliches Gut.19 Damit wurde die Kindheit aus dem Zusammenhang der Familie gelöst und in den öffentlichen Raum der Gesellschaft gestellt. Das geschah ganz wesentlich auch in Bildern, denn in den 1920er und 1930er Jahren vollzog die Sowjetunion ihren eigenen visual turn, eine intensive Hinwendung zum Bild und zur medialen Propaganda. Kinder bevölkerten die Bildwelten der frühen Sowjetunion, die sich um eine neue Lebensweise (novyj byt) bemühte. Ihre Darstellung war häufig mit der von Frauen und Müttern verbunden, ging es doch auch um die Arbeitskraft »befreiter« Frauen, denen der Staat die Sorge für die Kinder abnehmen wollte. Kinder erschienen darüber hinaus in vielfältigen Formen als Chiffre : Auf Plakaten und Fotografien verkörperten sie einzeln oder als »Kinderschar« (detvora) den Beweis für die umfassende Fürsorge des Sowjetstaats. Sie standen für die Utopie einer leuchtenden Zukunft im Kommunismus und als Zeichen für die sowjetischen Bemühungen um Völ10
Das sowjetische Kind als Chiffre und Prisma
kerfreundschaft und Frieden. Sie hatten ihren Platz auf dem Arm der Herrscher und stellten in ethnisch gemischten Gruppen die Vielfalt der Völker der Sowjetunion dar. Auf Festen und an Paraden wurden Kinder von den vorwärts in die Zukunft marschierenden »Massen«, den Sportlerinnen oder »verdienten Sowjetbürgern« mitgetragen ; sie waren zentraler Bestandteil dieser stabilisierenden und legitimierenden Rituale, die bei allem Wandel wesentlich an der sowjetischen Sinnstiftung und Vergemeinschaftung mitwirkten.20 Durch die in Presse, Fotobüchern und Wochenschauen verbreiteten Bilder der umfassenden Versorgung aller sowjetischen Regionen mit Einrichtungen für Mütter und Kinder waren die Kinder an der imperialen Erschließung der Sowjetunion und an der kulturellen Mission des sowjetischen Projekts beteiligt. In diesen Zusammenhängen wurden in Bildern bestimmte Kindertypen geschaffen, die wiedererkennbar »sowjetisch« waren. Dabei suchten die Gestalter, die Fotografinnen, Maler und Illustratorinnen, teils neue Ausdrucksformen mit dem Instrumentarium der russischen Avantgarde, teils griffen sie auf vertraute Bildmuster zurück, auf christliche wie auf europäische und russische Traditionen der Kinderdarstellungen. Die folgenden Kapitel untersuchen die visuelle Konstruktion der sowjetischen Kinder in offiziellen und familiären Kontexten über sieben Jahrzehnte hinweg : ihre Gestalt, Haltung, ihr Alter, Geschlecht, ihren Habitus und die sozialen Beziehungen, in denen sie dargestellt sind, ihr Handeln und die medialen Prägungen ihres Auftretens. Zur Anwendung kommt ein erweiterter Bildbegriff, der alle Repräsentationsformen, Bildtechniken und Medien umfasst. Dabei geht es um die Frage, wie Topoi sowjetischer Kindheit geschaffen wurden, wie spezifisch sozialistische Bildcodierungen entstanden und welche Funktionen sie hatten.21 Teil dieser Fragestellung bilden Regime des Blicks, spezifische Kulturen des Sehens, der Wahrnehmung und sich wandelnde Ordnungen von Sichtbarkeit.22 Kinder und Kindheit im Bild : Zugänge der Visual Cultural History
In der Forschung gilt Kindheit mittlerweile als ein Lebensbereich, in den sich gesellschaftlicher Wandel und Umbrüche kontinuierlich einschreiben und der daher als Indikator des moralischen Zustands einer Gesellschaft, aber auch als eigenes Ideensystem betrachtet werden kann.23 Diese Feststellung lässt sich auf Bilder von Kindern übertragen. Weil sie so gerne betrachtet werden, eine emotionale Ebene ansprechen und für viele Bedeutungen offen sind, eignen sich Kinderdarstellungen ganz besonders für die Sondierung des kollektiven Imaginären vergangener Zeiten, der Träume und Hoffnungen, die sie transportieren sollten.24 Da Bilder und Bildmotive zwischen öffentlichen und familiären medialen Räumen zirkulierten, erlaubt die Betrachtung durch das Prisma der Kindheit einen historischen Einblick in die sozialistischen Lebenswelten, ihre sozialen Zusammenhänge und Praktiken. Bilder von Kindern lassen sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erforschen. Ein Zugang ist ihre zeitgenössische symbolische Bedeutung und politische Codierung 11
Sowjetische Kinder im Bild
als C hiffre : Die Kindheitsdarstellungen im öffentlichen Raum der sowjetischen Medien standen beispielsweise nach der Revolution für Zukunft und Aufbruch, im Tauwetter für Erneuerung und im Spätsozialismus für Frieden und eine bessere Welt. Andersherum gesehen war die sowjetische Kindheit ein von Bildern und Symbolen durchsetzter Raum, der sich anhand visueller Quellen untersuchen lässt.25 Die Auswahl von Bildmotiven und die soziale und kulturelle Kennzeichnung markierten die Dargestellten als »Kinder« und wiesen sie als bestimmten Altersgruppen zugehörig aus, sei es durch ihre Körperlichkeit und ihren Habitus, durch bestimmte Attribute wie Puppen, Teddybären und Pionierhalstücher oder durch ihre Einbindung in soziale Beziehungen etwa zu Müttern, Lehrerinnen oder Kriegsveteranen. Kleinkinder beispielsweise bildeten in sowjetischen Bildern eine eigene Kategorie. Nach der Revolution erschienen sie sogar für kurze Zeit als Akteure, die an Säuglingsdemos Forderungen in eigener Sache erhoben. In der sozialen Propaganda galten sie jedoch vor allem als schutzbedürftige Objekte der staatlichen Fürsorge. Kinder im Schulalter erschienen in der öffentlichen Kommunikation, auch in der Malerei, meistens als Pioniere oder Schülerinnen, also in einer ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rolle, gerahmt durch staatliche Institutionen und ihre Regelwerke. Im Moment des Übertritts von den Pionieren zur stärker politisch und elitär ausgerichteten sowjetischen Kaderschmiede, der Jugendorganisation Komsomol im Alter von 14 Jahren, endete die Kindheit. Von Bedeutung ist ferner die Häufigkeit bestimmter Motive : Bildkonjunkturen zeigen, wie zentral Kinder in einer Gesellschaft sind. Das kann für Werbung gelten,26 für politische Plakate27 oder für die politische und die soziale Propaganda.28 Bilder der glücklichen Kinder besetzten die sowjetischen Räume und »grundierten« den Alltag. Die Plakate mit den glücklichen Kindern der Sowjetrepubliken, die sich um Stalin scharen,29 waren ebenso verbreitet wie die Eiscremewerbung, bei der Ähnlichkeiten zur amerikanischen Werbegrafik unverkennbar sind. Auch die Art und Materialität der Bildträger sowie die Wege ihrer Verbreitung sind wichtig, denn sie bildeten den Rahmen für die Zugänglichkeit der Bilder und die Situation ihrer Wahrnehmung : Der Blick richtet sich daher auch auf bisher wenig untersuchte Quellensorten, auf »arme« Bilder wie Postkarten30 oder Briefmarken.31 Der Fokus auf das Kindheitsmotiv erlaubt einen Querschnitt durch verschiedene Bildmedien und die Untersuchung ikonischer wie auch nichtikonischer Bilder in Fotografie, Malerei und Gebrauchsgrafik, illustrierten Büchern und Zeitschriften, Fotobüchern und privaten Alben. Materielle Bedingungen der Herstellung von Bildern wie Materialknappheit, Papierqualität und drucktechnische Möglichkeiten spielten eine Rolle (vgl. hierzu auch das Kapitel Bilder von Kindern – Stil und Medium). Ebenso wichtig waren in der frühen Sowjetunion personelle und institutionelle Kontinuitäten, etwa die Verstaatlichung der Verlage und Druckereien und die Weiterbeschäftigung von Künstlern und Grafikerinnen. Neben der Bildherstellung, Verbreitung und Kontrolle beeinflussten die Rezeptionsbedingungen die Wahrnehmung der Bilder, wenn beispielsweise Wochenschauen oder Informationsfilme im Kino vor dem Hauptfilm, auf Parteisitzungen, in Schulen oder Ferienheimen gezeigt wurden.32 Rekonstruktionen des 12
Das sowjetische Kind als Chiffre und Prisma
Blicks ermitteln Ordnungen des Wissens, Rekonstruktionen der Kontexte, in denen Bilder gezeigt wurden, verweisen auf Ordnungen der Sichtbarkeit. Besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang dem Wechselspiel zwischen offizieller Bildproduktion (dem hegemonialen Diskurs) und der Bildproduktion »von unten«, die häufig bestimmten Mustern und Konventionen folgte, diese aneignete und umformte. Der Bildgebrauch sowohl von Kindern wie auch von Erwachsenen und in Familienzusammenhängen umfasste das Sammeln und Tauschen von Bildern sowie verschiedene Formen der Aneignung. Die Sowjetunion war ein autoritäres, hierarchisches Regime mit totalitären Ansprüchen. Trotzdem »folgten« die sowjetischen Bildwelten nicht einfach den jeweiligen politischen Vorgaben und Programmen, sondern bildeten einen umkämpften Raum. Es gab Rückgriffe auf Traditionen, Aneignungen und Neucodierungen, aber auch Transferprozesse : Für die Erforschung von Diktaturen bedeutet der Zugang der Visual Cultural History, den Fokus nicht auf erzwungene Homogenität zu legen, sondern auf Vielfalt und Hybridität, auf komplexe Kommunikationsformen und Inhalte statt auf »Propaganda«, auf Handlungsspielräume, Integrationsangebote und Kooperation, auf Teilhabe der Akteure statt auf Zwang, auf Alltagskontinuitäten und ikonografische Traditionen statt auf Brüche.33 Die ab 1934 geltende Doktrin des Sozialistischen Realismus verpflichtete die Autoren und Autorinnen von Texten und Bildern zur Eindeutigkeit. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Verpflichtung gerade der Integration der im Alltag allenthalben anzutreffenden Widersprüche dienen sollte. Die populären Bildwelten blieben ein Raum, in dem Formen, Darstellungen und Bedeutungen von ganz unterschiedlichen Akteurinnen verhandelt wurden. Diese Verhandlungen sollen an der Entwicklung, an Typologien und der Zirkulation von Kinderbildern untersucht werden. Das Interesse richtet sich auf das Spannungsfeld zwischen dem politischen Programm einer einheitlichen, visuell vermittelbaren sozialistischen Kindheit und ihren vielfältigen Ausformungen in der kulturellen, sozialen und medialen Praxis. Dazu dient neben den ikonischen Darstellungen ein Reservoir an nichtkanonischen Gestaltungen, die sich vielleicht noch nachhaltiger als die programmatischen Monumentaldekorationen in die kollektiven Gedächtnisse einprägten. Es gilt daher, nach den Produktionsweisen, den sozialen und kulturellen Ökonomien von Kindheitsmotiven in den sowjetischen Bildkulturen zu fragen, die wirkungsmächtige soziale Codes, emotionale Regime, Wissenssysteme, Lebensstile, Körper- und Individualitätskonzepte hervorbrachten.34 Das Kind als Hoffnungsträger : Mythen der Kindheit und Mythen der Nation
Seit dem 18. Jahrhundert ist die Parallelisierung von Kindheit und Nation eine zen trale Figur. Die europäischen Nationalbewegungen inszenierten sich gerne als Aufbruch, als jung und als Träger der Zukunft. Das projizierten sie auch auf ihre Kinder : »Nationale Bewegungen nutzen das symbolische Kapital der Kindheit intensiv zur 13
Sowjetische Kinder im Bild
Identitätskonstruktion.«35 Beide Konstruktionen, Kindheit wie Nation, werden gemeinhin als natürlich gegeben, als primordial angesehen und sind emotional wie moralisch aufgeladen. Homogenisierende nationale Diskurse sprachen jeweils von der »jungen Nation«, die Kinder waren »so alt wie« der Nationalstaat. Ihre emotionale Aufwertung und die Bedeutung von Kindern als »natürliche Ressource« für die aufstrebenden Nationalstaaten führten zur Instrumentalisierung der Kinder für die Bindung der Erwachsenen an Nation und Imperium.36 Nach diesem Muster entstanden auch in der Sowjetunion Leitnarrative, die das Schicksal der Sowjetunion mit dem der gleichzeitig geborenen Kinder verbanden : Die Kinder des Oktober, die oktobrjata, waren die in der Revolutionszeit oder kurz danach geborenen Kinder, die »erste sowjetische Generation«.37 Auch in der Folge wurde das Alter der Sowjetunion regelmäßig in den heranwachsenden »Kindern des Oktober« gespiegelt. Ein Beispiel ist die Monumentalstatue Arbeiter und Kolchosbäuerin, die die neuen sowjetischen Menschen anlässlich der Weltausstellung in Paris 1937 als junge Erwachsene verkörperte (vgl. Kapitel Sowjetische Pathosformeln). Sie treten weniger jung und stürmisch auf als vielmehr selbstbewusst und siegesgewiss. Die »Erneuerung des Sozialismus nach Stalin« wurde wiederum im Tauwetterfilm durch um 1953 geborene Kinderhelden symbolisiert. In der Wahrnehmung von Kindheit verschränken sich innere Vorstellungen und äußere Welt. Solche Landschaften des Imaginären gibt es in allen Kulturen. Mythische Räume des modernen Bewusstseins erscheinen im Film und in der Werbung, in Kunst und Literatur. Sie formen die Fiktion, die vor der Wahrnehmung und der Erfahrung steht. Die Figur des Kindes als Chiffre38 oder Schlüsselfigur ist stark vom mythischen Denken geprägt. Mythisches Denken ist durch den Glauben definiert, dass sich die Gegenwart und ihre Probleme mithilfe alter Mythen und ihrer zeitlosen Wahrheiten verstehen, deuten und bewältigen lassen. Der Begriff des Mythos spielt in verschiedenen Kontexten des Forschungsfeldes der Ikonografie der Kindheit eine Rolle : Kinder und Kindheit sind einerseits Gegenstand von Mythen, andererseits ist das imaginäre Kind Teil der politischen Mythologie der Sowjetunion. In der europäischen Literatur finden sich zwei Grundformen des Kindheitsmythos : Auf der einen Seite standen das Kind als Verkörperung des Ursprungs und das göttliche Kind. Auf der anderen Seite gab es das böse und wilde Kind, das man korrigieren und erziehen musste. Diese mythischen Bedeutungen der Kindheit zirkulieren als Symbole in literarischen Texten,39 in Bildern und anderen Repräsentationen und werden laufend aktualisiert. Der Begriff des Mythos ist in seiner Bedeutung als Ursprungserzählung, Welterklärung und Göttersage eng verbunden mit den Konzepten von Kindheit, die seit den Veröffentlichungen von Jean-Jacques Rousseau in Europa vorherrschen : Die Idee vom Kind als Ursprung und Verkörperung des Goldenen Zeitalters drückte »die Sehnsucht eines ganzen Zeitalters« aus,40 prägte die Romantik und entwickelte ein intensives Nachleben. Der Mythos von »Kind und Volk«, die Idee der Rückkehr zum unverdorbenen natürlichen Zustand, die auch Johann Gottfried Herder (1744–1803) vertrat, entsprach 14
Das sowjetische Kind als Chiffre und Prisma
im Russland des späten 19. Jahrhunderts den Vorstellungen der Ethnografen und der sozialreformerisch engagierten Intellektuellen, der narodniki. Das Volk (narod) galt als Hoffnungsträger, zusammen mit den Kindern : Die narodniki übernahmen die Kindergartenidee von Friedrich Froebel (1782–1852) und gründeten Bauernschulen, um die Gesellschaft zu verändern.41 Der mythische Volksbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts ging später nahtlos in den Mythos der Arbeiterklasse über.42 Die in Deutschland von Froebel seit 1840 propagierten Kindergärten waren eine völlig neue Initiative für Kinder des vorschulischen Alters. Sie orientierten sich an Rousseau sowie am Anschauungsunterricht Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827). Die Position der Kindergärten in Russland, die von liberalen Kreisen außerhalb des staatlichen Schulsystems gefördert wurden, ermöglichte pädagogische Experimente und machte sie zu einem Hort der Reformbewegung. Nicht nur die Kinder sollten hier in einem Garten ihrer Natur entsprechend wachsen, sondern auch die Mütter zur Förderung ihrer Kinder ausgebildet werden. Die Kindergärten begriffen sich als Vorbereiter einer besseren gesellschaftlichen Zukunft, indem sie die menschlichen Sprösslinge nährten. Sie galten als Laboratorien einer idealen Gesellschaft.43 Das Konzept der in kurzer Zeit international gewordenen Froebel-Bewegung schien den führenden Erziehern jedoch als zu starr, zu deutsch und zu sentimental. Die Reformpädagoginnen wollten durch Aufklärung und Bildungsarbeit unter den Bauern das russische Volk aus der Autokratie befreien. Sie russifizierten das Konzept der Kindergartenerziehung, bauten Volkslieder ein und sahen im Anschauungsunterricht an einfachen und für alle Schichten zugänglichen Alltagsgegenständen die Möglichkeit, soziale Barrieren zu überwinden. Die Erziehung der Kinder in Freiheit sollte in den Augen der Sozialrevolutionäre eine neue Generation freier Menschen und letztlich eine freie Gesellschaft hervorbringen. Nach diesem Prinzip richtete auch Lev N. Tol’stoj (1828–1910) zwischen 1859 und 1862 auf seinem Landgut Jasnaja Poljana eine Schule für Bauernkinder ein. Die von den Reformern vertretene kindzentrierte, antiautoritäre Pädagogik ging von der Neugier und den Interessen der Kinder aus. Eine Besonderheit des russischen Kindergartens war die zunehmende Bedeutung antiautoritärer Ideen und des Modells des freien Heranwachsens, die sich mit Anbruch des 20. Jahrhunderts noch verstärkte.44 Mit der zunehmenden Bedeutung mythischen Denkens bevölkerten immer mehr Kinder die Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft in der Literatur, in der Wissenschaft und in der Kunst. Von der Mythenbesessenheit des Fin de Siècle um 1900 zeugt die Beliebtheit von Märchen und Sagen. Die Kunstströmung des Symbolismus suchte nach der tieferen Wirklichkeit und der seelischen Welt, eine Suche, die Sigmund Freud (1856–1939) und Carl Gustav Jung (1875–1961) fortführten : Die Psychoanalyse entzauberte den Mythos vom Kind als Vater des Mannes45 nicht etwa, sondern stärkte ihn, indem sie die Wirkmächtigkeit der Kindheitserfahrungen betonte. Die Psychoanalyse erklärte das mythische Denken aus menschlichen Grundbefindlichkeiten. Kindheit war ein zentraler und normativer Bezugspunkt.46 15
Sowjetische Kinder im Bild
Die Wahrnehmung der Moderne als Krisenzeit um 1900 führte zum Zeitalter des Kindes in der Dichtung und in der Kunst, etwa in der Form des Nonsens (Alice in Wonderland) oder des Dada, indem sich Dichter und Künstlerinnen als Kinder neu erfanden.47 Auf die Suche nach den Ursprüngen begaben sich auch die Künstlerinnen und Künstler des Primitivismus mit ihrer Sehnsucht nach dem Unverbrauchten, Ursprünglichen und Natürlichen, das nicht nur bei Naturvölkern, sondern auch bei Kindern und in Kinderzeichnungen zu finden sei. Dahinter stand, wie auch hinter der Rede vom »Märchenalter«, die Gleichsetzung von Phylogenese und Ontogenese, also die Vorstellung, dass jeder einzelne Mensch in seiner Entwicklung alle Stadien der Menschheitsgeschichte nochmals durchlaufe.48 Mäzene, Künstlerinnen und Künstler gründeten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften in Künstlerkolonien wie Abramcevo, Talaškino, Worpswede, der Darmstädter Mathildenhöhe oder in Hellerau bei Dresden, wo in den 1920er Jahren der britische Reformpädagoge Alexander Sutherland Neill (1883–1973) wirkte. Zahlreiche lebensreformerische Gemeinschaften entstanden auf der Suche nach dem Naturzustand, etwa auf dem Monte Verità im Tessin oder in den Kolonien der Tolstojaner in Russland. Die lebensreformerischen Vorstellungen waren eng mit pädagogischen, künstlerischen und kunsthandwerklichen Strömungen wie dem Jugendstil oder der Arts-and-Crafts-Bewegung verknüpft, die auch das entsprechende Ideengut verbreiteten. Puppentheater hatten Konjunktur. Der Kinderbuchmarkt wurde kommerziell interessant. In der Literatur49 und in Bilderbüchern wimmelte es von Wurzelkindern,50 Feen, Trollen, unterirdischen Wunderländern,51 Wasserkindern,52 wilden Kindern53 und sprechenden Tieren.54 In den 1920er Jahren erkundete Winnie the Pooh die zauberhafte Kinderwelt aus der Teddybärenperspektive. Nach seiner Übersetzung Ende der 1950er Jahre wurde dieses Buch auch in der Sowjetunion sehr beliebt. Alle träumten von einer besseren Gesellschaft und entwarfen ganzheitliche Konzepte und handlungsorientierte Unterrichtsformen für einen neuen, besseren Menschen, der nicht selten wie bei Ellen Key (1849–1926, Das Jahrhundert des Kindes, 1900, dt. 1902) oder Rudolf Steiner (1861–1925) auch durch »völkische Auslese« erzeugt werden sollte.55 Tol’stojs Erzählung Kindheit, 1852 erschienen, gilt als Auslöser der breiten Idealisierung von Kindheit in russischen Erinnerungen. Das Werk initiierte eine neue literarische Gattung, die Pseudo-Autobiografie. Kindheitserinnerungen kamen als literarisches Genre in Mode, und »Kindheit« wurde zu einem soziokulturellen Mythos.56 Bei Tol’stoj war die Kindheit glücklich, privilegiert – das Modell war dasjenige des Adels – und von einer Reihe von typischen Elementen begleitet : der Welt der Bediensteten, der Ammen und Kinderfrauen aus dem einfachen Volk, den idealisierten Eltern. Der Ort der glücklichsten Erinnerungen war das einem Garten Eden gleichende Landgut. Die goldenen Tage der Kindheit wurden zum Topos, der sich auch in der Malerei niederschlug, etwa in den Kinderportraits von Valentin A. Serov Mädchen mit Pfirsichen (Veročka, 1887) (Abb. Einl. 1) oder Mika Morozov (1901). 16
Das sowjetische Kind als Chiffre und Prisma
Maksim Gor’kij (1868–1936) veröffentlichte 1913 eine Erzählung, ebenfalls unter dem Titel Kindheit, die Tol’stojs auf dem adligen Landleben beruhendes Kindheitsmodell in Frage stellte und stattdessen eine Antikindheit entwarf. So verweisen einige formale Eigenheiten dieser fiktiven Autobiografie in parodistischer Manier auf Tol’stojs Modell : Bei Gor’kij ist die Umgebung der Kindheit die Stadt, nicht das adlige Landgut. Die Rolle der Mutter als Verkörperung des Guten und der familiären Harmonie ist in seinem Modell völlig entmystifiziert, so dass ihr Tod nicht einmal als Einschnitt empfunden wird. Somit bedeutet er auch nicht wie im Modell das Ende der Kindheit.57 Kindheit erscheint hier weder als besonders glücklich noch als magische Welt jenseits der Erwachsenenwelt. Gor’kij entlarvte Tol’stojs glückliche Kindheit als klassenspezifisches Phänomen und als Mythos und schuf zugleich eine Mustervorlage für postrevolutionäre Autobiografien. Nach der Oktoberrevolution waren vorrevolutionäre Kindheiten als unglücklich zu erinnern, während das Motiv der glücklichen Kindheit erfolgreich in die glückliche sowjetische Kindheit überführt wurde.58 Die Literatur und die Bildwelten des späten 19. Jahrhunderts behielten dennoch einen nachhaltigen Einfluss auf die Vorstellungen der Erwachsenen von einer idealen Kindheit. Die Bildformeln der sowjetischen Kindheit speisten sich wesentlich aus dem Konsens der Erwachsenen, den Kindern nur das Beste zu geben. Um Überzeugungskraft zu gewinnen, griffen sie auf Muster der europäischen und der christlichen Bildtraditionen zurück. Sowjetische Kinder : Gerettet, sicher, frei, behütet
Das sowjetische Projekt war ein Modernisierungsprojekt, das über 70 Jahre andauerte. Nach der Revolution wurde ein agrarisches Land mit 80 Prozent Analphabeten und einer Stadtbevölkerung von rund 18 Prozent in kürzester Zeit zu einem industrialisierten Land mit einem umfassenden Bildungssystem umgebaut. Das geschah unter Einsatz von mobilisierender Propaganda, mit Enthusiasmus, Verzweiflung und Gewalt. Trotz der enormen Rückschläge und Verluste durch den stalinistischen Terror und den Zweiten Weltkrieg gelang zumindest vorübergehend der Anschluss an die westlichen Industrieländer, glamourös zelebriert durch die bahnbrechenden sowjetischen Erfolge in der Raumfahrt. Der Umbau des Alltagslebens in diesem sowjetischen Modernisierungsprojekt betraf die Frauen und die Kinder besonders stark. Während die traditionellen Rollenverständnisse der Männer weitgehend unangetastet blieben, mussten die Frauen für das Industrialisierungsprojekt von ihren Mutterpflichten befreit und ausgebildet werden. Vor allem aber mussten sie diese neue Rolle annehmen. Eines der wichtigsten Argumente war die fürsorgende Rolle des Staates. Er schuf umfassende Organisationen zum Schutz von Mutterschaft und Kindheit, die sich um Gesundheitsfürsorge für Schwangere, um Geburtshäuser und um die Kinder in Kinderkrippen, Kindergärten, Kinderheimen und Sanatorien kümmern sollten. Die Bildquellen zeigen, wie eine flächendeckende Versorgung der Vorschulkinder in allen sowjetischen Regionen durch einen standardisierten Kanon 17
Sowjetische Kinder im Bild
von Motiven suggeriert wurde. Wer dann tatsächlich Zugang zu dieser Versorgung hatte, wo und in welchem Umfang es sie gab, ist aus den Bildern allerdings nicht ersichtlich. Denn die Mittel für eine flächendeckende Versorgung fehlten. Erst ab Mitte der 1950er Jahre erlaubte ein bescheidener Wohlstand breiteren Teilen der Bevölkerung vor allem in den Städten eine tatsächliche Teilhabe an den sozialen Errungenschaften. Sowjetische Kinder starteten nach der Revolution als »gerettete« Kinder in das 20. Jahrhundert, und sie hatten eine Aufgabe : Selbst Kleinkinder wurden als politische Akteure dargestellt. So forderten die Knirpse in ihren Hemdchen auf den Plakaten wie dem von Aleksej V. Komarov (1887–1950) von 1923, Meeting der Kinder, »[d]ie Brust der Mutter, gesunde Eltern, saubere Luft und Licht, Schutz vor Ungeziefer, trockene und saubere Windeln«. Die kleinen Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Kinderdemo auf einem Plakat von Aleksandra S. Soborova (1882– ?) zur Woche des Mütter- und Kinder schutzes 1923 führten Banner mit sich mit dem Appell : »Gebt uns […] frische Luft, Süßes, Milch, kluge Väter, betreuende Schwestern. Wir fordern […] [,] geliebt zu werden. Wir wollen keine […] Fliegen. Schlagt mich nicht ! Schüttelt mich nicht ! Küsst mich nicht auf den Mund !« Die Kinder demonstrierten in eigener Sache, der des Kinderschutzes und der Hygiene, die in den frühen 1920er Jahren in der sozialen Propaganda im Vordergrund standen. Zu Beginn der 1920er Jahre befasste sich die soziale Propaganda in Bildstrecken und Plakaten mit den fünf bis sieben Millionen besprizornye, obdachlosen Waisen im Schulalter, die durch das Land streunten und sich mit Kleinkriminalität und Prostitution am Leben hielten (Abb. Einl. 3). Sie waren das Erbe der Wirren von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg und sollten in die Bildungskampagnen integriert, in Arbeitskommunen umerzogen werden. Daneben waren durch die allgemeine Situation von Hunger und Not vor allem die Kleinkinder schutzbedürftig. Der Staat beschwor die Mütter auf Plakaten, Neugeborene nicht auszusetzen, sondern die Hilfe der neuen staatlichen Institutionen, etwa der Geburtshäuser, zu suchen, warb mit Kinderheimen und versuchte auch, auf die Erziehungsmethoden und die Kinderpflege einzuwirken. Einerseits wiesen Plakate die Eltern an, Kinder nicht zu schlagen und ihnen keinen Alkohol zu geben. Andererseits propagierten sie Hygiene, ärztliche Kontrollen und das Stillen. Ältere Kinder sollten die eigens produzierten Kinderbücher und Zeitschriften bekommen und der Pionierorganisation beitreten. Ein Plakat von Ivan V. Simakov zur Woche des Kindes 1920 zeigt zwei Kinder, die durch Haltung, Kleidung und die Attribute von Hammer und Sichel als Bauernmädchen (Sichel und Kopftuch) und Arbeiterjunge (Hammer und Mütze) erkennbar sind (Abb. Einl. 4). Sie sitzen vor der aufgehenden Sonne, die den Morgen einer neuen Zeit verkündet. Hammer und Sichel formen das Staatswappen der späteren Sowjetunion. Es sind diese Kinder der »ersten sowjetischen Generation« mit ihren Attributen, denen wir 1937 in der Monumentalstatue Arbeiter und Kolchosbäuerin von Vera I. Muchina (1889– 1953) (Abb. 2.1) als junge Erwachsene und Neue Menschen wiederbegegnen. 18
Das sowjetische Kind als Chiffre und Prisma
Abb. Einl. 3 : Rudolf R. Frenc (1888–1956), Plakat zum Thema Straßenkinder (besprizornye), 1923 »6.000.000 Kinder sind ohne Schulbildung – eine schreckliche Bedrohung für das Land und die Revolution«. Das Plakat entstand für den Wettbewerb zur Woche obdachloser und kranker Kinder des ZK und des Volkskommissariats für Gesundheit und Aufklärung. Es ist im drastischen, an die russischen Volksbilderbögen (lubok) angelehnten holzschnittartigen Stil der frühen 1920er Jahre gehalten. Abb. Einl. 4 : Ivan V. Simakov (1877–1925), Plakat zur Woche des Kindes, 1920 »Kinder sind unsere Zukunft. Wir müssen ihnen das Beste geben«. Die Woche des Kindes fand in den 1920er Jahren regelmäßig statt und propagierte Ratschläge zur Erziehung und zur Gesundheitsvorsorge von Kindern.
So standen in den frühen Bildwelten kriminelle besprizornye neben allegorischen Figuren des Kleinkindes als Zukunft der Nation, neben schutzbedürftigen Säuglingen (Abb. Einl. 5), für ihre Bedürfnisse demonstrierenden Kleinkindern, Kindern im Schulalter, die den Schulbesuch und den Beitritt zur Pionierorganisation für sich einforderten, flankiert von benachteiligten Kindern in der Opferrolle als Kinder von Alkoholikern, geschlagenen oder mit zu schweren Arbeiten belasteten Kindern.59 Eine der durchgehenden sowjetischen Pathosformeln, das hochgehaltene Kleinkind, war ebenfalls bereits in den frühen Jahren präsent (Abb. Einl. 6). Jede Zeit und Kultur aktualisiert bestimmte Pathosformeln – symbolische Gesten und körperliche Haltungen gesteigerten Gefühlausdrucks – und prägt ihre eigenen. Das Kapitel Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit identifiziert solche Formeln und diskutiert sie als Teil eines Prozesses von spezifisch sozialistischen Neucodierungen traditioneller Motive und der Prägung neuer Formeln. Ihre verschiedenen Erscheinungsformen werden auf ihre Bedeutungen hin analysiert, in motivgeschichtliche Kontexte eingeordnet und auf Konjunkturen und Wandel während der Sowjetzeit und darüber hinaus untersucht. Was als spezifisch sozialistisch und sowjetisch betrachtet wurde, darüber geben auch postsowjetische Bildverwendungen Auskunft. Denn Prozesse der Codierung und Umcodierung sind fortlaufend, wie die postsowjetischen Umdeutungen von Symbolen der Sowjetzeit zeigen.60 19
Sowjetische Kinder im Bild
Pädagogische Themen nahmen in den kulturpolitischen Debatten der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre im Rahmen der Ausformung einer gemeinsamen sowjetischen Kindheit eine zentrale Stelle ein. Dabei spielte in den 1920er Jahren die Pädologie eine wichtige Rolle. Diese fasste das Kind als menschlichen Rohstoff auf, den es mit wissenschaftlichen Mitteln zu formen galt. Durch die wissenschaftlich begründete Förderung aller individuellen Anlagen und Organe des Kindes sollten seine Potentiale voll entwickelt werden, so dass ein perfekter Mensch entstünde. Die Pädologie fasste den Körper als Apparat auf, der auf Reize reagierte. Die Psychologie wurde infolgedessen als Lehre der Reflexe auf Reize verstanden. Aufgabe der Pädagoginnen war es, diese Reize zu organisieren. Eine rational gestaltete Umgebung sollte die Reize steuern, die gewünschten Reflexe hervorrufen und sie durch Wiederholung trainieren.61 Der Revolutionär Aleksej K. Gastev (1882–1939) erforschte in seinem Zentralinstitut für Arbeit, wie aus dem Arbeiter ein vernunftgesteuerter »Nerven-Muskel-Automat« werden könnte. Der Psychologe Isaak Spielrein (1889–1937) wollte durch »Psychotechnik« das Verhältnis von Mensch und Maschine am Arbeitsplatz optimal gestalten.62 In eine ähnliche Richtung gingen die Forschungen des Avantgardearchitekten Nikolaj A. Ladovskij (1881– 1941). Er wollte durch psychotechnische Anordnungen bei der Umgebungsgestaltung die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Menschen Abb. Einl. 5 : Unbekannter Künstler, verbessern. Mit seinen Experimenten maß er Aufklärungsplakat Setze dein Kind nicht Aufmerksamkeit, Erinnerung, Wahrnehmung aus, 1925 sowie räumliche und motorische Fähigkeiten. »Setze dein Kind nicht aus« – »Fordere Seine Wahrnehmungsapparate setzte er auch vom Vater den Erziehungsbeitrag ein«. Die soziale Fürsorge des Staates für Mütter und für Eignungsprüfungen von Studienbewerbern ihre Kinder war ein zentrales Thema des ein. Seine »rationalistische Architektur« postusozialistischen Aufbaus. lierte, dass es objektive Formen und Wirkungsgesetze gebe, deren Anwendung es dann ermögliche, durch den wissenschaftlichen Einsatz künstlerischer Formgebung ganz gezielt Gefühle und Reaktionen auszulösen.63 Die rationalistische Architektur war Psychotechnik durch Architektur. Die Kulturrevolution sorgte ab 1928 schließlich für das Ende der meisten dieser Experimente. Die Pädologie wurde 1936 verboten, unter anderem mit der Begründung, dass sie auf dem rassistischen Gesetz der biologischen Vorherbestimmtheit beruhe.64 In den 1920er Jahren erarbeiteten Pädagogen gemeinsam mit Schriftstellerinnen, Schulleitern und Inspektorinnen Pläne, wie das Modernisierungsprojekt durch die Gestaltung des Alltags und der Umgebungen für Kinder in allen Teilen der Sowjetunion voranzubringen sei. Dazu entwickelten sie ein binäres Modell. Dieses ging von »inne20
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ren« und »äußeren« Maßnahmen aus. Die Begriffe von innen und außen konnten sich auf materielle Dinge wie Umgebungen beziehen und Innenräume von Schulen oder Heimen von Außenanlagen wie Pionierlagern und Exkursionen unterscheiden. In Bezug auf den Körper und die Erziehung konnte mit »äußeren« Maßnahmen etwa die Kleidung gemeint sein, während sich »innen« auf die Verinnerlichung etwa von Speisen bezog. Dahinter stand jedoch auch der Gedanke, dass die äußeren körperlichen Erfahrungen Einfluss auf die innere Mentalität und die Gewohnheiten hätten. Diese in den Diskursen verbreitete Dichotomie von innen und außen wurde zu einer wichtigen Grundlage, auf der eine gemeinsame sowjetische Kindheit und darüber hinaus eine neue sowjetische Identität aufgebaut werden sollte.65 Bis in die Mitte der 1920er Jahre herrschte das pädagogische Konzept des freien Heranwachsens des natürlichen Kindes vor.66 Es gab neue, experimentelle Schulen. Irina I. Ehrenburg (1911–1997) erinnert sich, dass sie im Sommer 1923 eine Filiale der Tanzschule Abb. Einl. 6 : Nikolaj M. Kočergin (1897– Isadora Duncans in einer Datscha bei Mos- 1974), Plakat zur Woche des Kindes, 1921 »Kinder sind die Blumen der Kommunen« in kau besuchte. 1923 ging sie in eine »moderne« georgischer und russischer Beschriftung. Schule in Moskau, in der nach dem Daltonplan Alle Republiken führten die Wochen des unterrichtet wurde. Dieses in den USA entwi- Kindes durch. An der Gestaltung fällt die folkloristische Bildsprache ebenso ckelte Konzept erlaubte den Schülerinnen und auf wie die Pathosformel des der Sonne Schülern, nach selbst erstellten, individuellen entgegengehaltenen nackten Kleinkindes. Lernplänen autonom zu arbeiten. Ein Schülerkomitee bestimmte den Lehrplan und stellte die Lehrer ein.67 Die ersten Jahre nach der Revolution waren von solchen reformerischen Ideen geprägt, während Lenins Witwe Nadežda K. Krupskaja (1869–1939), die federführend am Aufbau des sowjetischen Bildungssystems beteiligt war, in ihren pädagogischen Schriften die Kinder lieber konsequent zu Sowjetbürgern erziehen wollte. Ab Mitte der 1920er Jahre setzte sie sich durch. Die Behandlung der Kinder als »kleine Erwachsene« im Hinblick auf die von ihnen zu erlernende gesellschaftliche Rolle entsprach eher dem Gedankengut des 18. Jahrhunderts.68 Viele der frühen sowjetischen Ansätze umfassten Entwürfe von Kinderrepubliken, in denen sich die Kinder selbst regieren sollten. Diese Projekte wurden nicht nur 21
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als Mittel im Kampf gegen die Obdachlosigkeit der Waisenkinder verstanden, sondern galten als Mittel der Umerziehung zum Neuen Menschen und als geeignetes und verfügbares Werkzeug, um eine neue sowjetische Gesellschaft zu schaffen (Abb. Einl. 7 und 8).69 Die Idee der Erziehung in der Gemeinschaft war vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre leitend in der Reformpädagogik, über die Sowjetunion hinaus. In der UdSSR galt die Erziehung im Kollektiv als der Familienerziehung überlegen und als idealer Weg zu einer neuen Moral. Kinderkommunen und Klubs gehörten bereits im vorrevolutionären Russland zum modernen Zeitgeist. Zuerst in die Praxis umgesetzt wurde die Idee in Russland vom Pädagogen Stanislav T. Šackij (1878–1934).70 Manche Revolutionäre sahen in den Horden verwaister, obdachloser besprizornye ganz besonders »freie Kinder«. Der sowjetische Pädagoge Anton S. Makarenko (1888–1939) leitete zwischen 1920 und 1928 ein Arbeitsheim für delinquente Jugendliche im Gouvernement Poltava. Diese Gor’kij-Kolonie führte er als »Kinderrepublik«. Zunächst beargwöhnt, wurde er in der Stalin-Zeit zu einem der leitenden Pädagogen der Sowjetunion. 1927 übernahm er die neu gegründete Kolonie F. E. Dzeržinskij (FED) bei Charkiv, in der Anfang der 1930er Jahre mit der Produktion der sowjetischen Fotoapparate FED auf Basis der Leica begonnen wurde.71 Zu seiner Arbeit veröffentlichte Makarenko pädagogische Schriften. Seine Methoden wurden in den 1930er Jahren vom Stalinismus beeinflusst, hierarchischer und auf den Komsomol ausgerichtet. Nach 1945 fand seine Pädagogik Anerkennung und Verbreitung in den sozialistischen Ländern.72 Makarenko bezeichnete seine Schützlinge in seinem zwischen 1933 und 1935 veröffentlichten Buch Pädagogisches Poem als »Menschenmaterial«, das er zur sowjetischen Gesellschaft formen wollte.73 Er war gegen eine Überhöhung des Kindes, verfolgte aber die Idee der Selbstverwaltung. Als Hauptfaktoren für deren Funktionieren galten ihm Arbeitserziehung und paramilitärische Disziplin. Makarenkos Kolonien waren voller militärischer Symbolik mit Fanfaren, Trommeln und Fahnen. Ausführlich beschrieb er die Strafsysteme kollektiver Gerichte und öffentlicher Bestrafungen der Übeltäter. Inspektionsberichte belegen, dass die Realität in den Kolonien gewalthafter war als im Pädagogischen Poem beschrieben, und dass auch Schläge zu den Strafen gehörten.74 Makarenko unterhielt in seinen Kolonien ein System ständiger Überwachung. Das Strafsystem führte dazu, dass die Angehörigen einer neuen »Betragenselite« und das pädagogische Kollektiv die einzelnen Kinder terrorisierten. Besonders schwierig war die Ordnung bei den ehemaligen besprizornye durchzusetzen. Für sie war das in den Kommunen kriminalisierte Verhalten Teil ihrer Persönlichkeit : Grigorij G. Belych (1906–1938) und Leonid Panteleev (1908–1987)75 zeigten in ihrer Erzählung Respublika Škid von 1927 Verständnis für die besprizornye und ihre »Unarten« wie Rauchen, Trinken, Lügen, Stehlen und Sichprügeln, da sie zu den Überlebenstechniken der Kinder auf der Straße wie auch zu ihrer sozialen Identität gehörten.76 Belych und Panteleev verdankten ihre Glaubwürdigkeit dem Umstand, dass sie selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen waren und anschließend erfolgreiche Karrierewege eingeschlagen hatten. Auch Makarenkos fiktio22
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Abb. Einl. 7 : Fotografien in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die USSR im Bau) Nr. 4, 1934 Die Erziehung im Kollektiv in Kinderheimen und Kommunen galt als das Ideal in der frühen sowjetischen Gesellschaft. Die Darstellungen der Kinder in Aufreihungen korrespondieren mit den seriellen Darstellungen von Industrieprodukten, ebenfalls ein beliebtes Thema der Zeitschrift zu jener Zeit. Die bildliche Darstellung relativiert die Rede vom freien Kind und der Kinderrepublik.
Abb. Einl. 8 : Fotografie in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die USSR im Bau) Nr. 6, 1934 Vorher und nachher : Das gefährliche, männliche böse Kind kann in der Arbeitskolonie umerzogen werden. Aus dem traurig zur Seite und nach unten blickenden zerlumpten Kind im zerrissenen, viel zu großen Mantel kann ein selbstbewusstes, fest auf dem Boden stehendes Kind werden, ein kleiner Erbauer des Kommunismus, der in sauberer, passender Kleidung seine Bücher in der Hand hält und zuversichtlich lächelnd in die Zukunft blickt.
nalisierte Erzählung seiner pädagogischen Erfahrungen, das Pädagogische Poem, galt als authentischer Erfahrungsbericht, der seine Methoden als erfolgreich belegte. Belych und Panteleev dienten als Beweise dafür, dass eine Umerziehung von kriminellen, verwahrlosten, vagabundierenden Kindern zu disziplinierten Sowjetbürgern und guten Menschen möglich war.77 Der besprizornyj als Straßenhooligan tauchte auch in der Dichtung Sergej A. Esenins (1895–1925) auf. In seinen Gedichten Rus’ besprijutnaja (Obdachloses Russland, 1924) und Papirosniki (Zigarettenjungen, 1923) beschrieb er die Straßenkinder nach dem Modell des Oliver Twist.78 In den Darstellungen der Zeitschrift SSSR na strojke kommt der transformative Blick auf die Figur des geretteten Straßenkindes zum Ausdruck, das zum vollwertigen, verant23
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wortungsvollen Sowjetbürger erzogen wird. Darin verwirklichte sich ein zentraler revolutionärer Mythos.79 Die Straßenkinder verschwanden Mitte der 1930er Jahre aus dem öffentlichen Diskurs, weil das Problem als gelöst gelten sollte.80 Der sowjetische Kinder held des »Großen Vaterländischen Krieges«, Aleksandr M. Matrosov (1924–1943), belebte in der Nachkriegszeit noch einmal den Mythos des verwahrlosten Kindes und des Kleinkriminellen, der sich in einer sowjetischen Arbeitskolonie zum heldenhaften Sowjetbürger wandelt : Matrosov warf sich der Legende nach vor die Scharte einer deutschen Maschinengewehrstellung, um seine Kameraden zu retten, und schuf damit eine Heilsfigur der Selbstaufopferung und Erlösung.81 Das Bild des Waisenkindes veränderte sich in den 1920er und 1930er Jahren deutlich : Aus kleinen Waisenmädchen oder jungen, die passiv und mit dem Bild der Familie verknüpft waren, wurde ein ausschließlich männliches Bild, das geprägt war von Widerständigkeit und Vagantentum. Diese Kinder mussten das Leben in einer neuen Gesellschaft erst lernen. Kriminelle und gewalttätige Kinder konnten jedoch in lustige, positive und talentierte Kinder umgeformt werden.82 Die Figur des vernachlässigten und potentiell kriminellen Kindes bot sich nach der Revolution für heilsgeschichtliche Narrative der Rettung der Kinder an und stützte später als Gegenbild das sowjetische Ideal der glücklichen Kindheit.83 Die junge Sowjetunion schuf eine eigentliche Kinderkultur, die mit ihren umfassen den Organisationen Teil des nation building und der Nationalitätenpolitik war. Im Rahmen dieser Kinderkultur entwickelte sich eine eigene Kindheitstypologie. Den jeweiligen Kindertypen zugeordnet waren spezifische Verhaltensweisen, Handlungsräume und konkrete räumliche Umgebungen, eine spezifische Topografie der Kindheit. Diese war besonders für Kinder ab dem Schulalter durch eine eigene Zeichenwelt geprägt, die als Teil der sowjetischen Staatssymbolik aufgefasst werden kann. Mit den spezifisch sowjetischen Kindertypen, der Heraldik und der symbolischen Ausstattung der Kinder- und Jugendorganisationen befasst sich das Kapitel Kinder im Zeichenraum. Die Ausstaffierung der Kinderräume mit Emblemen und Ritualen setzte Mitte der 1930er Jahre ein. Die Pioniersymbolik ist ein Beispiel für die Ausgestaltung des hegemonialen visuellen Diskurses über Kindheit. Die Kindheit wurde hier ritualisiert, in Posen gegossen und in die Staatlichkeit eingeschrieben. Davon zeugen einschlägige sowjetische Anleitungen in Buchform,84 aber auch materielle Überreste wie Anstecknadeln, Uniformen und Ausweise. Die Pioniersymbolik war seit den 1970er Jahren auch Gegenstand von SocArt, Karikatur und Persiflage. Das Kapitel Kinder in der alltäglichen Bildproduktion widmet sich Fotobüchern und Fotoalben. Es untersucht neben den Wechselwirkungen zwischen älteren europäischen Traditionen der Kindheitsdarstellungen und spezifisch sowjetischen Ausprägungen den Austausch und die Zirkulation von Motiven in öffentlichen und privaten Kontexten der Bildproduktion. Die mediale Verbreitung von Kinderdarstellungen in Zeitschriften und Fotobüchern prägte die Sehgewohnheiten und gab Muster vor, die auch die familiäre 24
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Bildproduktion und den Bildgebrauch im Alltag und zu bestimmten Anlässen beeinflussten. Daneben gab es Kontinuitäten vorrevolutionärer Traditionen und Rituale wie die Studiofotografie,85 denn Familienalben sind ein ausgesprochen konservatives Medium. Kinderbilder in privaten Bildkonvoluten reichen von transnationalen Motiven wie dem Kind vor der Neujahrstanne und dem Baby auf dem Schaffell bis hin zu spezifisch sowjetisch geprägten Sehgewohnheiten, Bildpraktiken und Motiven auf Gruppenfotos von Exkursionen oder aus dem Pionierlager und auf Freundschaftsbildern. Ab den 1960er Jahren wurden die medialen Kinderdarstellungen spontaner und familiärer. Das Kapitel beleuchtet, wie sich die Motive und Darstellungsweisen von Kindern sowie der fotografische Stil in offiziellen Medien und Familienalben gegenseitig beeinflussten und veränderten. Die Darstellungen nichtrussischer Kinder aus den verschiedenen Sowjetrepubliken sind Gegenstand des fünften Kapitels, Viele Völker, eine Kindheit. Bilder der Kinder aller Sowjetvölker geben Auskunft über den sowjetischen Umgang mit der ethnischen Vielfalt. Das Kapitel fragt einerseits nach den visuellen Konstruktionen einer übergreifenden sowjetischen Kindheit, aber auch nach den Themen, für deren Verbreitung in der Sowjetunion Kinder im Zusammenhang imperialer Herrschaftssicherung »benutzt« wurden. Dabei erweist sich die »sowjetische Kinderschar« als imperiales Projekt. Eine wichtige Quelle dieses Kapitels sind Fotobücher, die sich als imperiale Auslegeordnungen lesen lassen. Bildzeitschriften und Fotobücher waren neue, intensiv entwickelte und genutzte Medien der 1920er und 1930er Jahre.86 Die Bilder und Narrative zeigten die Fürsorge des Staates, Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitswesen, aber auch verdeckte, dafür umso brisantere Themen wie den Zusammenhalt des riesigen Landes mit den zahlreichen Nationalitäten und einer riesigen Peripherie. Bilder von Kindergärten und Krippen, von glücklichen, spielenden Kindern in Fotobüchern oder auf Postkarten, in Wochenschauen und Dokumentarfilmen87 konnten Vorstellungen davon formen, dass von Karelien bis Zentralasien alle Kinder im Grunde dieselben Bedürfnisse hatten und der Staat ihnen allenthalben die gleiche Fürsorge angedeihen ließ. In den Bildern erhielten sie alle die gleichen Chancen, während kleine Kinder in Kostümen Volkstänze aufführten und so demonstrierten, dass dennoch ethnische Traditionen gewahrt blieben. Einheitliche Kinderräume mit passenden, standardisierten Möbeln, Kinderzeitschriften und Kinderliteratur entstanden und schufen die Illusion einer alle Kinder des riesigen Landes umfassenden »sowjetischen Kindheit«. Den Kinderräumen waren Skripte und Routinen eingeschrieben, die ständig erweitert wurden und sich entwickelten. Die Bilder suggerierten, wie Kinder sich in den standardisierten Räumen bewegen sollten. Diese Standardisierung der Kindheit durch Institutionen und zentrale Richtlinien symbolisierte Stabilität, Qualität und Wohlstand. In den Bildern wurden aber auch deutliche Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherien vermittelt. Im Kapitel Topoi, Tabus und Gegenerzählungen geht es um Topoi sowjetischer Kinderdarstellungen, um Stereotype und Typologien auf der einen Seite und um Leerstellen, 25
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Tabus und das Nichtzeigbare wie etwa kranke und behinderte Kinder auf der anderen Seite. Auch tabuisierte Motive fanden ihren Weg in die sowjetischen Bildwelten, wenn es zweckdienlich war : Gefährdete Kinder appellierten auf den Kriegsplakaten an die sowjetischen Soldaten, ihre von den Deutschen ermordeten Mütter und Väter zu rächen und sie selbst zu retten. Seltene Fotografien von versehrten Kindern aus einem Kinderheim für kriegsinvalide Kinder zielten in dieselbe Richtung. Später, in den 1970er Jahren, begannen sowjetische Künstlerinnen und Künstler, die abgenutzten Kindermotive und die Zeichenwelten des Sozialistischen Realismus am Topos des Pionierlagers zu persiflieren, während Fotografinnen und Fotografen auf der Suche nach dem sozialen Alltag in der späten Sowjetunion Kinderheime besuchten. Sie entwarfen Alternativen, Ergänzungen und Gegenerzählungen zu den offiziellen Versionen sowjetischer Kindheit, die allerdings nur begrenzt verbreitet werden konnten. Erinnerungen an den Sozialismus
Schon bei der Herstellung der Bilder, insbesondere bei Fotografien, spielte das spätere Erinnern an den Moment eine Rolle, das Schaffen von Bedeutung und die Macht darüber, was und wie später erinnert werden sollte.88 Seit den 1990er Jahren bestimmen die visuellen und materiellen Repräsentationen von Kindern in privaten Bildarchiven, in der Erinnerung und in den sozialen Netzwerken und einschlägigen Internetforen weiterhin mit, was der Sozia lismus war. Anhand von Bildzeugnissen und Objekten der materiellen Kultur werden die sozialistischen Gesellschaften und damit ein wesentlicher Teil der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts laufend neu bewertet. Dabei überlagern sich Kindheitserinnerungen, familiäre Erzählungen und die traumhaften, in nostalgischen Glanz getauchten Bildwelten. Im populärkulturellen Kontext besteht dabei die Tendenz, im Sinne eines heilenden Vergessens komplexe historische Erfahrungen in eindimensionale Muster zu verbannen. So wurde etwa das kulturelle Repertoire der Sowjetzeit seit Mitte der 1990er Jahre in den russischen Medien in neue Kontexte gesetzt und angeeignet. Die nostalgischen Reproduktionen sowjetischer Populärkultur stellten einen Versuch dar, die Sowjetzeit abzuschließen, um sie der Gegenwart einverleiben zu können. Die Bilder verloren einen Teil ihrer ursprünglichen Bedeutungen und wurden zu konsumierbaren Stereotypen, die allein dem Zweck des Wiedererkennens und der Aktualisierung geteilter Erfahrungen dienten.89 Das siebte Kapitel hat den Titel Sowjetische Kindheit im Rückblick und ist dem Nachleben sowjetischer Kinderdarstellungen bis in die Gegenwart gewidmet. Es handelt vom nostalgischen Erinnern an die glückliche sowjetische Kindheit. Im Sinne einer Problemgeschichte der Gegenwart, aber auch angesichts der zentralen Rolle von Geschichtspolitik in den postsozialistischen Staaten geht es um die Verwendungen sowjetischer Kinderdarstellungen in der postsowjetischen Alltags- und Populärkultur, in der Werbung, den Medien und der politischen Kultur. Hier stellt sich die Frage, wie Bilder als Bildakte90 Wirkungsmacht entfalteten. Das gilt für Bilder der glücklichen Kindheit in der Sowjet26
Sowjetische Kinder im Bild
union selbst ebenso wie für nostalgische Bilder der sowjetischen Kindheit, die nach deren Untergang politisch eingesetzt werden und wirken. Hinweise auf die Wahrnehmung und Wirkungsmacht der Bilder geben beispielsweise Kommentare in den sozialen Netzwerken.
Sowjetische Kinder im Bild – Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion
Dieses Buch fragt danach, wie Bilder von Kindern sowjetische Geschichte machten. Es versteht sich auch als eine visuelle Geschichte der Sowjetunion anhand eines Schlüsselmotivs. Kinderbilder werden von Erwachsenen gemacht und verbreitet und richten sich in der Regel an Erwachsene. Der Blick auf das Kind und die Repräsentation des Kindes als Figur meinen immer auch die Gesellschaft als Ganzes und ihre Ordnungen, die Erneuerung der Gesellschaft für eine bessere Zukunft. In der frühen Sowjetzeit wurden die Kinder aus den gesellschaftsreformerischen Diskursen des 19. Jahrhunderts heraus als Verkörperungen der Zukunft konstruiert und erhielten in der Folge eine eigene, neue sowjetische Kindheit. Kinder fungierten als emotionale Verstärker und Symbolträger in der utopischen Staatsmythologie der Sowjetunion. In diesem Zusammenhang wurden nachhaltige Pathosformeln geprägt : »Höher und höher«, »die Künftigen«, »wie die Jungen von den Alten lernen«. Nationale Narrative ziehen sich wie ein roter Faden durch die sowjetische Kindheitsgeschichte. Kinderdarstellungen waren Teil eines Bilderteppichs, Teil der visuellen Konstruktion und Vermittlung von Gemeinschaft stiftenden Bildern und Erzählungen im Prozess des nation building. Pathosformeln der glücklichen Kindheit und bildkräftige Inszenierungen der Fürsorge des Staates für Kinder spielten eine wesentliche Rolle bei der imaginären Herstellung eines einheitlichen Sowjetvolkes. Während des stalinistischen Terrors war die »glückliche Kindheit« das Andere der im Alltag grassierenden Gewalt, ein mächtiger, integrierender Faktor. Bilder von Kindern konnten Normalität herstellen und integrativ wirken. Das Heranwachsen der Kinder war zentrales Motiv offizieller Fotobücher wie privater Familienalben. Kinderbilder konnten Identität stiften, aber auch subversiv sein. Sie dienten als Mittel, um die Menschen anzusprechen und emotional an das System zu binden. Die glückliche Kindheit blieb für die sowjetische Obrigkeit ein wichtiges Element, um sich der Bevölkerung gegenüber zu legitimieren. Die jahrzehntelange intensive Arbeit an der Illusion und der Realisierung der glücklichen sowjetischen Kindheit schrieb sich in die Selbstwahrnehmung ein. Bestimmte Typologien wurden fortgeschrieben, so dass im Spätsozialismus das Bild des uniformierten Pioniers mit der Fanfare neben der neuen Ästhetik der Innerlichkeit und des Schnappschusses stand, der das Kind in seiner Welt und seinem Wesen einfing. Spezifische Pathosformeln und Motivtraditionen sowjetischer Kindheit geben darüber Auskunft, wie die gesellschaftliche Erfahrung der glücklichen Kindheit als eskapistischer 27
Sowjetische Kinder im Bild
Zufluchtsort, als Legitimation des Regimes, als mobilisierendes Argument durch Bilder geschaffen wurde. Hier wurden Blicke gelenkt und Sichtbares wie Unsichtbares definiert. Die Matrix der glücklichen Kindheit formte auch die soziale Wirklichkeit. Eltern klebten Schulporträts, Klassenfotos, Aufnahmen aus Pionierlagern und Schnappschüsse der Kinder vor der Neujahrstanne oder in der Badewanne in ihre Alben. Medien und Künstler griffen das Thema Kindheit auf, um Missstände zu verdeutlichen, gesellschaftliche Lagen kritisch zu sondieren, Werte zu hinterfragen und Zukunftsversprechen einzufordern. Die sowjetische Kindheit ist ein wesentliches Motiv des kollektiven Bildgedächtnisses im postsowjetischen Russland. Die Distanz zur eigenen Kindheit wächst. Laufend wird sie aus der Gegenwart heraus neu erinnert und bewertet. Der kollektive Blick auf die Kindheit kann sich dabei vom individuellen Blick unterscheiden. Dabei ist zu bedenken, dass das Ende der Sowjetunion in Russland, anders als in den anderen sozialistischen Ländern des ehemaligen »Ostblocks«, von vielen nicht als Befreiung empfunden wurde, weder von einer Diktatur noch von einer fremden Macht. Die Jugend der 1990er Jahre erlebte die Zeit als Aufbruch. Aber nur eine relativ kleine Zahl kritischer Intellektueller und vom Regime Verfolgter betrachten die Sowjetunion heute als Diktatur oder als »totalitär«. Die Mehrheit sah sich als Bürger einer respektierten Großmacht, deren Zerfall eher Gefühle des Verlustes an Status und an sozialer Sicherheit auslöste. Daher wurde und wird die sowjetische Vergangenheit bereits seit der Mitte der 1990er Jahre zunehmend positiv erinnert. Die glückliche Kindheit gilt als eine der zentralen Errungenschaften der Sowjetzeit, neben dem Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« und den Erfolgen in der Raumfahrt.
Anmerkungen 1 Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005 ; Sergej Žuravlev/A. K. Sokolov, Ščastlivoe detstvo, in : Natal’a Puškareva (Hg.), Social’naja istorija. Ežegodnik, St. Petersburg 2011, S. 159–202 ; Vladimir Dobrenko, Socrealizm i mir detstva, in : Hans Günther/Evgenij A. Dobrenko (Hg.), Socrealističeskij kanon, St. Petersburg 2000, S. 31–40. 2 Ol’ga Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke, Moskau 2017, S. 157. 3 Doris Bühler-Niederberger, Einleitung. Der Blick auf das Kind – gilt der Gesellschaft, in : dies. (Hg.), Macht der Unschuld. Das Kind als Chiffre, Berlin 2005, S. 9–22, hier S. 15. 4 Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Ein-
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führung, Göttingen 2017, S. 80–83 ; Viviana A. Zeliger, Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children, Princeton 1985. 5 Bühler-Niederberger, Einleitung (Anm. 3), S. 11. 6 Stephen Greenblatt, Cultural Mobility. An Introduction, in : Stephen Greenblatt/Ines Županov/ Reinhard Meyer-Kalkus/Heike Paul/Pal Nyíri/ Friederike Pannewick (Hg.), Cultural Mobility. A Manifesto, Cambridge, Mass. 2010, S. 1–23. 7 Winkler, Kindheitsgeschichte (Anm. 4), S. 141 ff. 8 Bühler-Niederberger, Einleitung (Anm. 3), S. 11. 9 Bodo Mrozek, Das Jahrhundert der Jugend ?, in : Martin Sabrow/Peter Ulrich Weiß (Hg.), Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Göttingen 2017, S. 199–218. 10 Maike Steinkamp, Jugend, in : Uwe Fleckner/ Martin Warnke/Hendrik Ziegler (Hg.), Politische
Anmerkungen
Ikonographie. Ein Handbuch, 2. Aufl., München 2014, S. 36–43, hier S. 42. 11 Ebd., S. 40 f. 12 Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Version : 1.0 2016, URL : (04.05.2020). 13 Henry Jenkins, Introduction. Childhood Innocence and Other Modern Myths, in : ders. (Hg.), The Children’s Culture Reader, London 1998, S. 1–37, hier S. 1 ff. 14 Karen Dubinsky, Children, Ideology, and Iconography. How Babies Rule the World, in : The Journal of the History of Childhood and Youth 5 (2012) H. 1, S. 5–13. Im Zuge solcher Kampagnen entwickelte sich eine inzwischen in die Kritik geratene Bildsprache, die »das Kind« universalisierend und aus allen Kontexten gelöst, häufig auch nur partiell (ausgestreckte Hände) darstellte, um größtmögliche Wirkungen zu erzielen (vgl. Winkler, Kindheitsgeschichte (Anm. 4), S. 148). 15 Grischa Müller, Die Macht des Bildes. Das Kind im politischen Plakat, in : Bühler-Niederberger, Macht der Unschuld, S. 149–184, hier S. 171. 16 Bühler-Niederberger, Einleitung (Anm. 3), S. 9–22. 17 Müller, Die Macht des Bildes (Anm. 15), S. 172. 18 Ebd., S. 178. 19 Catriona Kelly, Children’s World. Growing up in Russia, 1890–1991, New Haven 2006 ; Catriona Kelly, A Joyful Soviet Childhood. Licensed Happiness for Little Ones, in : Evgeny A. Dobrenko/ Marina Balina (Hg.), Petrified Utopia. Happiness Soviet Style, London 2009, S. 3–18. 20 Siehe hierfür u. a. Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006, S. 127 ff.; sowie Boris Belge/Manfred Deuerlein, Einführung. Ein goldenes Zeitalter der Stagnation ? Neue Perspektiven auf die Brežnev-Ära, in : dies. (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation ? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 1–35, hier S. 11. 21 Burmeister Stefan, Codierungen/Decodierungen. Semiotik und die archäologische Untersuchung von Statussymbolen und Prestigegütern, in : Berit Hildebrandt/Caroline Veit (Hg.), Der Wert der Dinge – Güter im Prestigediskurs, München 2009, S. 74–100. 22 Elena R. Jarskaja-Smirnova/Pavel V. Romanov
(Hg.), Vizual’naja antropologija. Režimy vidimosti pri socializme, Moskau 2009 ; William J. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008 ; Sigfrid Schade/Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2012 ; Manfred Fassler, Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Wien 2002 ; Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Anette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017 ; Gerhard Paul, Visual History, Version : 3.0, in : Docupedia-Zeitgeschichte 13.03.2014, URL : (04.05.2020). 23 Katharina Kucher, Die visualisierte Kindheit im Russland des 19. Jahrhunderts. Stilisierte Welten zwischen Kanonen, Birken und Schulbänken, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60 (2012) H. 4, S. 510–532, hier S. 510, unter Bezugnahme auf Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 354 und Carsten Goehrke, Russland. Eine Strukturgeschichte, Paderborn 2010, S. 172. 24 Für die Kinderliteratur vgl. dazu Evgeny A. Dobrenko, »The Entire Real World of Chil dren« : The School Tale and »Our Happy Childhood«, in : The Slavic and East European Journal 49 (2005) H. 2, S. 225–248. 25 Visual Studies untersuchen »neuzeitliche Visualitätskonstellationen« wie die wissenschaftliche Beobachtung, die Visualisierung von Wissen und Information, die Bildende Kunst oder auch räumliche Konstellationen der Beobachtung und Zurschaustellung. Vgl. hierfür Sophia Prinz/Andreas Reckwitz, Visual Studies, in : Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies, Bielefeld 2012, S. 176–195, hier S. 178. 26 Victoria D. Alexander, The Image of Children in Magazine Advertisements From 1905–1990, in : Communication Research 21 (1994) H. 6, S. 742–765. 27 Müller, Die Macht des Bildes (Anm. 15), S. 149–184. 28 Ol’ga Bendina, »Čem rebjat branit’ i bit’, lučše knižku im kupit’«. Diskursy žestokogo
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Sowjetische Kinder im Bild
obraščenija s det’mi v 1920–e gody (na materialach Kazanskogo gubernii), in : Elena R. Jarskaja-Smirnova/Pavel V. Romanov (Hg.), Sovetskaja social’naja politika 1920–30-ch godov : Ideologija i povsedevnost, Moskau 2007, S. 392–413. 29 Vgl. N. N. Gluško/V. F. Konjašova (Hg.), Deti, naše budušče, Moskau 2007 ; sowie Klaus Waschik/Nina Baburina, Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts, Bietigheim-Bissingen 2003, S. 165 f. 30 Eva Tropper, Medialität und Gebrauch oder Was leistet der Begriff des Performativen für den Umgang mit Bildern ? Die Ansichtskarte als Fallbeispiel, in : Lutz Musner/Heidemarie Uhl (Hg.), Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften, Wien 2006, S. 103–130 ; Rudolf Jaworski, Deutsche und Tschechische Ansichten. Kollektive Identifikationsangebote auf Bildpostkarten in der späten Habsburgermonarchie, Innsbruck 2006 ; Ludwig Hoerner, Zur Geschichte der fotographischen Ansichtspostkarten, in : Fotogeschichte 7 (1987) H. 26, S. 29–44. 31 Evgeny A. Dobrenko, The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era, in : Evgeny A. Dobrenko/Eric Naiman (Hg.), The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, Seattle 2003, S. 163–200. 32 So erwähnt bei Julija Gradskova, »Nigde tak ne oberegajut detstvo, kak v našej strane«. Doškol’nye učreždenija v sovetskom dokumental’nom kino, 1946–1960-e gody, in : Jarskaja-Smirnova/Romanov, Vizual’naja antropologija (Anm. 22), S. 359–370, hier S. 362. 33 Vgl. dazu auch Neil Gregor, Die Geschichte des Nationalsozialismus und der Cultural-Historical Turn, in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017) H. 2, S. 233–245, hier 235–238 u. 240 ; und Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945, in : Central European History 48 (2015), S. 335–365, hier S. 340. 34 Oksana Gavrišina, Snimajutsja u fotografa. Režimi tela v sovetskoj fotografii 1940ch–1950ch godov, in : dies. (Hg.), Imperija sveta. Fotografija kak vizual’naja praktika epochi »sovremennosti«, Moskau 2011, S. 31–43. 35 Winkler, Kindheitsgeschichte (Anm. 4), S. 105. 36 Ebd.
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37 Catriona Kelly, »Good Night, Little Ones«. Childhood in the »Last Soviet Generation«, in : Stephen Lovell (Hg.), Generations in TwentiethCentury Europe, Basingstoke 2007, S. 165–189, hier S. 169 ; Anna Krylova, Identity, Agency, and the First Soviet Generation, in : Lovell, Generations in Twentieth-Century Europe, S. 79–100, hier S. 105 f. 38 Vgl. Bühler-Niederberger, Einleitung (Anm. 3), S. 9–22. 39 Walter Pape, Das literarische Kinderbuch. Studien zur Entstehung und Typologie, Berlin 1981, Kapitel, »Der Mythos von Kind und Kindheit«, S. 29–49. 40 Ebd., S. 36. 41 Das Konzept »Kindheit« erschien in Russland relativ spät, um die Wende zum 18. Jahrhundert. Es gibt einige Studien zu den ersten Lehrbüchern und zur Entwicklung des russischen Bildungssystems : Max J. Okenfuss, The Discovery of Childhood in Russia. The Evidence of the Slavic Primer, Newtonville 1980 ; Cynthia H. Whittaker, The Origins of Modern Russian Education. An Intellectual Biography of Count Sergei Uvarov 1786–1855, DeKalb 1984 ; Clementine G. K. Creuziger, Childhood in Russia. Representation and Reality, Lanham 1996. 42 Pape, Das literarische Kinderbuch (Anm. 39), S. 45 ff. 43 Lisa F. Kirschenbaum, Small Comrades. Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917–1932, New York 2001, S. 9 ff. 44 Konstantin N. Ventcel’ (1857–1947) war der wichtigste Theoretiker dieses Modells. 45 Sigmund Freud, Das Interesse an der Psychoanalyse. Werke aus den Jahren 1909–1913. Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M 1996, S. 412, zitiert nach Pape, Das literarische Kinderbuch (Anm. 39), S. 43. Das Zitat »The Child is father of the Man« entstammt dem Gedicht »My Heart Leaps Up« (1802) des englischen Romantikers William Wordsworth (1770–1850). 46 Pape, Das literarische Kinderbuch (Anm. 39), S. 43. 47 Ebd., S. 42. 48 Zur Parallelisierung von Phylogenese und Ontogenese vgl. auch ebd., S. 35 f. 49 Vgl. dazu auch ebd., S. 42. 50 Sibylle von Olfers, Etwas von den Wurzelkindern,
Anmerkungen
Eßlingen und München 1906 ; ähnlich auch Ernst Kreidolf, Blumenmärchen, München 1898. 51 Lewis Carroll, Alice’ Adventures in Wonderland, London 1865. 52 Charles Kinsley, The Water-Babies, A Fairy Tale for a Land Baby, Boston 1864. 53 Rudyard Kipling, The Jungle Book, London 1894 ; ders., The Second Jungle Book, London 1895. 54 1881 erschienen in den USA Joel Chandler Harris’ Uncle Remus Stories mit Tiercharakteren, die sehr populär wurden. Sie beeinflussten sowohl Beatrix Potter (The Tale of Peter Rabbit, London 1900) als auch Rudyard Kipling (The Jungle Book). 55 Vgl. hierzu auch Georg Otto Schmid, Die Anthroposophie und die Rassenlehre Rudolf Steiners zwischen Universalismus, Eurozentrik und Germanophilie, in : Joachim Müller (Hg.), Anthroposophie und Christentum. Eine kritischkonstruktive Auseinandersetzung, Freiburg 1995, S. 138–194 ; Helmut Zander, Sozialdarwinistische Rassentheorien aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreiches, in : Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus Ulbricht (Hg.), Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München 199, S. 224–251. Ideengeber Steiners in puncto Rassenlehren waren neben der Okkultistin und Theosophin Helena P. Blavatskaja (1831–1891) und Ernst Haeckel (1834–1919) vermutlich auch Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), Carl Gustav Carus (1789–1869) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Vgl. Helmut Zander, Anthroposophische Rassentheorie. Der Geist auf dem Weg durch die Geschichte, in : Stefanie von Schnurbein/Justus Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe »arteigener« Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, hier S. 302 f. 56 Andrew Baruch Wachtel, The Battle for Childhood. Creation of a Russian Myth, Stanford 1990, S. 15–20. 57 Ebd., S. 136. 58 Marina Balina, The Legacy of Childhood in Soviet Literature, in : The Slavic and East European Journal 49 (2005) H. 2, S. 249–265 ; Creuziger, Childhood in Russia. Representation and Reality (Anm. 41), S. X. 59 Gluško/Konjašova, Deti, naše budušče (Anm. 29), S. 11–33.
60 Siehe auch Sergej Alex Oushakine, »We’re Nostalgic But We’re Not Crazy«. Retrofitting the Past in Russia, in : Russian Review 66 (2007) H. 3, S. 451–482 und den Beitrag von Marija Vejc, Strategii rekonstruirovanija sovetskoj povsednevnosti i telesnosti v sovremennom rossijskom kinomatografe, in : Jarskaja-Smirnova/Romanov, Vizual’naja antropologija (Anm. 22), S. 276–290. 61 Wladimir Bérélowitch, De l’enfant à l’homme nouveau. Le »futurisme pédagogique« des années 1920, in : Revue des études slaves 56 (1984) H. 1, S. 115–125, hier S. 119 f.; Torsten Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002. 62 Michael Hagemeister/Julia Richers, Utopien der Revolution. Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums, in : Heiko Haumann (Hg.), Die russische Revolution 1917, Köln 2007, S. 131–141, hier S. 133. 63 Margarete Vöhringer, Rausch im Blut. Aleksandr Bogdanovs Experimente zwischen Kunst und Wissenschaft, in : Árpád von Klimó/Malte Rolf (Hg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt a. M. 2006, S. 139–150, hier S. 147. 64 Ausführlicher dazu Kapitel Topoi, Tabus und Gegenerzählungen. 65 Loraine de La Fe, Empire’s Children. Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami 2013, S. 19. 66 Kirschenbaum, Small Comrades (Anm. 43), S. 104 f. 67 Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 30 ff. 68 Creuziger, Childhood in Russia. Representation and Reality (Anm. 41), S. XIV. 69 Anja Tippner, »Poterjanyj raj, obretennyj raj« Modeli detskogo samoupravlenija u Januša Korčak i Antona Semënoviča Makarenko, in : V. G. Bezrogov/M.V. Tendrjakova (Hg.), »Guljaj tam, gde vse«. Istorija sovetskogo detstva – opyt i per spektivy issledovanija, Moskau 2013, S. 226–237. 70 Stanislav Šackij, Deti – rabotniki buduščego, Moskau 1908 ; William Partlett, Building Soviet Citizens with American Tools. Russian Revolutions and S. T. Shatskii’s Rural Schools, 1905–1932, o. O. 2011 ; Yordanka Valkanova/Kevin J. Brehony, The »Gifts« and »Contributors«. Friedrich Froebel
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Sowjetische Kinder im Bild
and Russian Education From 1850 to 1920, in : History of Education 35 (2006) H. 2, S. 189–207. 71 Die Dzeržinskij-Kolonien sind Gegenstand des Themenheftes von SSSR na strojke Nr. 6, April 1934. In der Ausgabe wird auch die Herstellung der Leica/FED gezeigt (S. 12–13). 72 Manfred Franz, A. S. Makarenko. Der Hauspädagoge des sowjetischen Staatssischerheitsdienstes, und sein Konzept der kommunistischen Kollektiverziehung, in : Jörn Mothes/Gundula Fienbork/Rudi Pahnke/Renate Ellmenreich/ Michael Stognienko (Hg.), Beschädigte Seelen. DDR-Jugend und Staatssicherheit, Bremen 1996, S. 20–38 ; Johannes-Martin Kamp, Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen, Opladen 1995. 73 Anton S. Makarenko, Pedagogičeskaja poėma, Moskau 1955. 74 Jörg Lotz/Manfred Jourdan, Erziehung zur Disziplin. Bewußte Disziplin in der Kollektiverziehung des A. S. Makarenko, Bad Honeff 1983, S. 47–60 ; Götz Hillig (Hg.), Fürsorge, Kontrolle, Einmischung. Sechs Berichte über Inspektionen und andere Überprüfungen der Gor’kij-Kolonie (1922–1928), Marburg 1994. 75 Leonid Panteleev/Grigorij G. Belych, Respublika Škid, Moskau 1927. 76 Tippner, »Poterjanyj raj, obretennyj raj« (Anm. 69), S. 230. 77 Lilia Khabibullina, »Los niños vienen de Siberia« : estudios sobre la adopción internacional de Rusia a España. Diez años de cambios en el Mundo, en la Geografía y en las Ciencias Sociales, 1999–2008. Actas del X Coloquio Internacional de Geocrítica, Universidad de Barcelona, 26–30 de mayo de 2008. URL : (04.05.2020). 78 Ebd. 79 Juliane Fürst, Between Salvation and Liquidation. Homeless and Vagrant Children and the Reconstruction of the Soviet System, in : Slavonic and East European Review, Special Issue »The Re-
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launch of the Soviet Project : The USSR 1945–64«, 86 (2008) H. 2, S. 232–258, hier S. 234 f. 80 Ebd., S. 247. 81 Ebd., S. 239. 82 Khabibullina, Los niños vienen de Siberia (Anm. 77). 83 Fürst, Between Salvation and Liquidation (Anm. 79), S. 232–258. 84 V. T. Kabuš, Pionerskie simvoly. Ritualy, tradicii, Minsk 1985 ; V. F. Goža (Hg.), Oformlenija pionerskoï kimnati (al’bom). Politizdat Ukrainy, Kiev 1978. 85 Igor V. Narskij, Problemy i vozmožnosti istoričeskoj interpretacii semejnoj fotografii (na primere detskoj fotografii 1966 g. iz g. Gor’kogo), in : Igor V. Narskij/Ol’ga S. Nagornaja/Ol’ga Ju Nikonova (Hg.), Oče-vidnaja Istorija. Problemy vizual’noj istorii Rossii XX stoletija, Čeljabinsk 2008, S. 55–74. 86 Erika Wolf, SSSR na stroike. From Constructivist Visions to Construction Sites, in : Petter Österlund (Hg.), USSR in Construction. An Illustrated Exhibition Magazine, Sundsvall, Sweden 2006, o. S.; Vera Wolff, Fortschritt, in : Fleckner/ Warnke/Ziegler, Handbuch der Politischen Ikonographie, S. 346–352 ; Mikhail Karasik/Manfred Heiting (Hg.), The Soviet Photobook 1920–1941, Göttingen 2015 ; Christoph Bernhardt/Thomas Wolfes (Hg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner 2005. 87 Gradskova, »Nigde tak ne oberegajut detstvo, kak v našej strane« (Anm. 32), S. 364. 88 Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945 (Anm. 33), S. 340. 89 Oushakine, »We’re Nostalgic But We’re Not Crazy« (Anm. 60), S. 451–482. 90 Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in : Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. 2 Begleitbände zur Ausstellung, München 2002, S. 29–66.
1 Bilder von Kindern – Stil und Medium von Proletkul’t bis zum Sozrealismus Bilder und das Visuelle waren in der sowjetischen Kultur seit der Oktoberrevolution von zentraler Bedeutung. Kunst und Medien wie Plakate, Postkarten oder Briefmarken schufen und verbreiteten wirkmächtige Bilder. Dabei dienten diese Bilder keineswegs nur der politischen Propaganda.1 Sie stifteten Identität wie auch Gemeinschaft und trugen zur Integration der sowjetischen Gesellschaft wesentlich bei. Dies galt insbesondere ab den 1930er Jahren, als der Sozialistische Realismus zur Norm wurde. Diese Kunstdoktrin griff auf vertraute Bildsprachen und Motive zurück, war gefällig und leicht verständlich. Die neu erschaffene sozrealistische Massenkultur wurde zum multimedial vermittelten Mainstream. Am Rand der sowjetischen medialen Systeme entstanden zwar auch gegenläufige oder alternative Kulturszenen,2 diese blieben in ihrer Wirkung aber auf kleine Kreise beschränkt.3 In einer international orientierten kunsthistorischen Wertung galt und gilt die russische und frühsowjetische Avantgarde mit ihren prägenden Entwicklungen und Verbindungen zum Futurismus, zum Kubismus, mit dem Konstruktivismus und dem Suprematismus und mit ihren international bekannten Künstlern wie Vasilij V. Kandinskij (1866–1944), Kazimir S. Malevič (1878–1935) oder El Lissitzky (Lazar M. Lisickij, 1890–1941) als richtungsweisend. Diese radikale schwarz-weiß-rote Kunst der Revolution wird wegen ihres Wiedererkennungswertes in der Werbung für russische Produkte gerne erinnert, allerdings nur auf dem internationalen Markt.4 Der Sozialistische Realismus hingegen wurde außerhalb der sozialistischen Länder als »Staatskunst« beargwöhnt und als langweilig, oberflächlich und kitschig gebrandmarkt. In den postsowjetischen Foren des Erinnerns spielen allerdings genau diese Bildwelten des Sozialistischen Realismus die Hauptrolle. Das gilt besonders für die Bilder der Stalin-Zeit aus den 1930er bis 1950er Jahren. Sie wurden durch Institutionen wie Schulen, Museen und die an der Kulturvermittlung beteiligten Menschen Generationen von Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürgern vermittelt und prägten nachhaltig die Vorstellungen davon, was gut und schön sei. In den folgenden Abschnitten geht es zunächst um die politischen, kulturellen und sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen der frühen sowjetischen Kulturproduktion. Die erste Phase war von experimentellen Freiheiten geprägt. Die Künstlergruppen der Avantgarde einerseits und eine auf die Schaffung einer neuen Arbeiterkultur zielende Bewegung andererseits spielten die Hauptrollen. Auf die Machtübernahme Stalins folgte schließlich eine neue, vereinheitlichende Kulturpolitik, die mit dem Sozialistischen Realismus eine Kunstdoktrin installierte und eine populäre Massenkultur sowie einen festen Kanon schuf. Das brachte inhaltliche und stilistische Veränderungen mit sich. In der 33
Bilder von Kindern
Architektur dominierten nun klassizistische, symmetrische Strukturen, die mit reichen Ornamenten verziert waren. Malerei und Grafik griffen vor allem auf die Traditionen und auf vertraute Motive des europäischen Realismus zurück, gerade auch bei Kinderdarstellungen. Wichtig war jedoch nicht mehr das Original, sondern die Vorlage für die Vervielfältigung. Ein weiterer Abschnitt widmet sich daher den Medien, die als Bildträger die Botschaften einer einheitlichen Sowjetunion im ganzen Land verbreiteten, sowie den Gebrauchskontexten dieser Artefakte. Das konnten Postkarten, Briefmarken, illustrierte Zeitschriften, Plakate, aber auch Kopien bekannter Gemälde in lokalen Museen sein. Die Kontexte, in denen Bilder geschaffen, verbreitet und gesehen wurden, sind ebenso wichtig für ihre Analyse wie die ästhetisch-motivische Betrachtung. Die Zusammenschau all dieser Aspekte ermöglicht erst Aussagen über die Formen, Bedeutungen und Wirkungen von Kinderdarstellungen in der sowjetischen Gesellschaft.
Am Anfang war die Vielfalt
In den ersten Jahren beeinflussten die ökonomischen Rahmenbedingungen die revolutionären Bildwelten. Die Materialknappheit machte die Künstlerinnen und Künstler von Zuweisungen abhängig. Künstler und Grafikerinnen, die schon in der Zarenzeit und während des Ersten Weltkriegs Bücher, Postkarten, Plakate und Zeitungen gestaltet hatten, schufen nun Bilder für die Bolschewiki. Für diese Zeit ist eine ausgesprochene Stilvielfalt zu verzeichnen, die einerseits von den unterschiedlichen Hintergründen der Bildproduzenten herrührte : So waren es von Visionen der Avantgarde inspirierte Künstler, Fotografinnen, die ihre Ateliers verließen und die Ereignisse auf Postkarten dokumentierten, sowie Plakatkünstler, die für die neuen Machthaber arbeiteten. Andererseits wollten die Bolschewiki ein breites Publikum erreichen und von ihren Ideen überzeugen, um ihre Macht gerade auch jenseits der Städte bei der bäuerlichen Bevölkerung zu sichern. Nur ein Fünftel der Menschen konnte lesen. Um die Menschen erreichen zu können, mussten Bilder verständlich sein. Das gelang durch vertraute Formen, die etwa von holzschnittartigen Volksbilderbögen (lubok) mit Versgeschichten herrührten, und durch geläufige Motive, die populären Bildtraditionen wie der russischen Märchen- und Sagenwelt entlehnt wurden. Beispiele für den holzschnittartigen Plakatstil sind etwa die in der Einleitung abgebildeten Plakate von Rudolf R. Frenc zu den besprizornye, den obdachlosen Kindern, und von Nikolaj M. Kočergin zur Woche des Kindes 1921 (Abb. Einleitung 3 und 6). Inhaltlich ging es einerseits um politische Ziele : Viel Aufwand wurde für die Dekoration der Städte und für Massenspektakel bei den Feiern zu den Jahrestagen der Revolution betrieben. Agitzüge, von Avantgardekünstlerinnen und Künstlern gestaltet, fuhren durch das Land und zeigten den Dorfbewohnerinnen Bilder und Filme. Aber nicht nur der politische Kampf, auch die soziale Propaganda spielte eine wichtige Rolle : Plakate warben dafür, lesen zu lernen, und sie warben für den Schutz der Kinder. Als Teil 34
Avantgarde und Proletkul’t (1920er Jahre)
der Bildungskampagne entstanden sorgfältig gestaltete Bücher und Zeitschriften speziell für Kinder.
Avantgarde und Proletkul’t (1920er Jahre)
Die Kultur- und Bildungspolitik der ersten Jahre war vom Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze geprägt. Die Proletkul’t-Bewegung, entstanden 1917 in Petrograd und dem sowjetischen Bildungs- und Bildungsministerium Narkompros (Narodnyj kommissariat prosveščenija) unterstellt, wollte die Arbeiter von sich aus eigene kulturelle Formen entwickeln lassen und verfolgte ihren Bildungsanspruch in den neu eingerichteten Arbeiterklubs der verstaatlichten Betriebe mit Zirkeln, Vorträgen und Theatergruppen. Mit 1920 rund 400.000 Mitgliedern, 80.000 Aktivisten und mehreren Zeitschriften wurde sie zur Massenbewegung. Die Arbeiterklubs als kulturelle Neuerung unter den Bolschewiki sollten die Arbeiter alphabetisieren und politisch bilden, um aus ihnen kommunistische Proletarier zu machen. Ein Grundkonflikt bestand zwischen dem Bildungsauftrag dieser Klubs und den Bedürfnissen der Arbeiter nach Feierabend. Die Klubs sagten der Kneipe den Kampf an, mussten aber Unterhaltung bieten, um konkurrieren zu können. Die alternativen, antielitären Ansätze der Proletkul’t-Bewegung sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter zu eigenem Kulturschaffen aktivieren. Von Gewerkschaftsseite wurden sie jedoch angegriffen mit dem Argument, zuerst sei das »Bildungsdefizit« aufzuholen. Als »Defizit« galt dabei der »Bildungsrückstand« zu Adel und Intelligencija nach traditionellen, vorrevolutionären Kriterien. Im Zuge dieser Konflikte verlor der Proletkul’t ab 1921 rasch an Einfluss.5 Solange der Ausgang des Bürgerkriegs noch ungewiss war, blühten Impulse der künstlerischen Avantgarde.6 Die Künstlerinnen der Avantgarde entwarfen »futuristische Konzepte der Lebenskunst«7, von der Stadt über die Flugzeuge bis zu den Kleidern.8 Konkret kamen diese dem Agitprop (Otdel’ agitacii i propagandy, Abteilung für Agitation und Propaganda) zugute, der für Dekorationen und Inszenierungen der Massenspektakel in öffentlichen Räumen verantwortlich war. Ephemere Kunstformen, das heißt vergängliche, im Augenblick wirkende Aktionen, waren ein zentrales Experimentierfeld der künstlerischen Avantgarde, das vom Agitprop gefördert und weiterentwickelt wurde.9 Dazu gehörten beispielsweise der Film, Straßenfeste, Massentheater unter Beteiligung des Publikums, provisorische Denkmäler und Installationen wie Stadtkulissen anlässlich von Revolutionsfeierlichkeiten. In den 1920er Jahren nahmen die Feierlichkeiten nach den Erfahrungen der ersten beiden Jahre neue Dimensionen an. Die Organisatorinnen und Organisatoren trauten sich jetzt noch mehr zu. Die Grundlage für die Ausgestaltung sowjetischer Feierlichkeiten und öffentlicher Räume bildete das von Lenin (1870–1924), Stalin (1878–1953) und dem Leiter des Kulturministeriums, Anatolij V. Lunačarskij (1875–1933), unterzeichnete 35
Bilder von Kindern
Dekret über Monumentalpropaganda vom 12. April 1918.10 1920 gab es in Petrograd im Mai und in Moskau im November große Feste mit Massenaufmärschen, die symbolisch sternförmig auf einen zentralen Punkt in der Stadt zuliefen, sowie revolutionäre Cabarets mit Clowns und Sketches. In spektakulären Inszenierungen und Dekorationen wurden ganze Straßenzüge und Plätze durch Fassadenverkleidungen transformiert und die Straßen in Rot getaucht. Wagen mit allegorischen Figuren, Lenin-Statuen oder Repräsentationen bestimmter Themen und Motive ähnlich den Wagen an Fastnachtsumzügen dominierten die Umzüge. Lebende Bilder und riesige Modelle sowjetischer Errungenschaften wie Telefone, Fabriken und Staudämme mit Kraftwerken zierten die Straßen und Plätze. Das Publikum konnte sich über lächerliche Papp-Kapitalisten lustig machen und Puppentheater genießen. Ernstes und Amüsantes waren bunt gemischt. Abends wurden die bereits errichteten neuen Gebäude effektvoll elektrisch beleuchtet. Im November 1923 erklang im innovativen Moskau eine Symphonie der Fabriksirenen und Dampfpfeifen. Ende 1919 wurde ein Kollektiv gebildet, das Agitzüge gemäß den Vorgaben eines Redaktionskomitees bearbeiten sollte. Die ersten Agitzüge waren mit futuristischen und symbolistischen Bildern bemalt, die aber gemäß dem Leiter der 1920 gegründeten eigenen Abteilung Agitzüge für das ländliche Zielpublikum unverständlich blieben. Weil kubistische Darstellungen die Bauern erheiterten, wurden Skizzen futuristischen Charakters nicht mehr akzeptiert und die Züge erhielten stattdessen eine Bemalung mit satirischen Szenen. Analog zu den satirischen Plakaten wurden sie zum Teil auch von denselben Künstlern gestaltet, etwa von D. Moor (Dmitri S. Orlov, 1883–1946). Russland erschien als allegorische Frauenfigur und fegte die Feinde der Revolution hinweg. Der ursprünglich von einer Gruppe Moskauer Kubisten um Aleksandr A. Osmerkin (1892–1953) bemalte, »Nr. 1« genannte Agitzug Lenins erhielt nun neue Bemalungen und wurde als »Roter Kosake« in die Kuban’-Region geschickt.11 Die Bemalungen der Züge orientierten sich an Motiven und der Formensprache der Ikonenmalerei und folkloristischen Motiven. Dabei versuchte man auch, die Ornamentik der Zielregionen aufzunehmen und die Züge in einem »nationalen Stil« zu gestalten. Während die Agitzüge und die denselben Zwecken dienenden Dampfer anfangs Gelegenheit zu künstlerischen Experimenten boten und eine Verbindung mit der Volkskunst im Sinn einer neuen Kunst der Massen suchten, wandelten sich diese offenen Formen im Lauf der 1920er Jahre hin zu simpler Belehrung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Versuch der Avantgarde, die Wahrnehmung zu revolutionieren, ein Projekt der künstlerischen Eliten blieb. Kreise und Dreiecke waren für das Volk unverständlich, zumal die meisten die Losung nicht lesen konnten, die bei der Interpretation half.12 Die linke Kunstinternationale war außerdem nicht patriotisch, sondern anarchistisch gestimmt und unkontrollierbar.13 Daraufhin wurden die Experimente »von oben«, vom Narkompros, nicht mehr unterstützt, wie das etwa bei der Straßenkunst durch Materialfülle, Arbeitskräfte und Nahrungsmittel geschehen war. Die abstrakten Darstellungsweisen der Avantgarde verschwanden zunehmend aus 36
Avantgarde und Proletkul’t (1920er Jahre)
der politischen Kommunikation. Dieser Prozess zog sich jedoch über mehrere Jahre hin. Denn einige der Techniken und grafischen Verfahren wie etwa die Fotomontage wurden weiterentwickelt, und zahlreiche Bauwerke, die im Geist des Konstruktivismus und der Erneuerung der Gesellschaft geplant worden waren, wurden erst Ende 1920er oder Anfang der 1930er Jahre fertiggestellt. Zu dieser Zeit hatte sich die Kulturpolitik bereits tiefgreifend gewandelt. Die »Kinder Lenins«
Im Januar 1924 starb Lenin. Obwohl sich die Künstlerinnen und Künstler der Avantgarde durch »primitivistische« Kinderzeichnungen inspirieren ließen, hatten Kinder als Motiv bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt. Lenins Tod allerdings löste eine ganze Reihe von künstlerisch gestalteten Publikationen aus, die sich um die Beziehung Lenins zu den Kindern und um das Weiterleben seiner Ideen in den Kindern drehten. In diesen Publikationen verbanden sich Texte unterschiedlichen Typs wie persönliche Erinnerungen an Lenin, Gedichte, Briefe, Tagebucheinträge und politische Losungen mit grafischen Elementen wie Schrift und Zeichnungen mit Fotografien in Montagen. Die Erinnerungskultur um Lenins Tod verhalf der Fotomontage zu einem neuen Status als Instrument politischer Kommunikation.14 In der Fotomontage »überlagerte sich die abstrakte Sprache der Propaganda mit figürlichen Darstellungen des sowjetischen Kommunismus. In dieser Konkretisierung erhielten Kinder ihre Rolle als Verkörperung der kommunistischen Zukunft.«15 Die formale Grundlage bildeten einerseits die amerikanische Werbegrafik, andererseits die Schnitt- und Montagetechniken, die visionäre Filmschaffende wie Sergej M. Ėjzenštejn (1898–1948) und Dziga Vertov (1896–1954) auf der Suche nach dem Neuen Sehen entwickelten. Dabei spielte neben Aleksandr M. Rodčenko (1891–1956) der Grafiker und zentrale Entwickler der sowjetischen Fotomontage in der Propaganda, Gustav G. Klucis (1895–1938), eine zentrale Rolle. Gemeinsam mit Sergej J. Senkin (1894–1963) gestaltete er 1924 ein Fotobuch mit dem Titel Deti i Lenin. In der Folge entwickelten sich solche Fotogeschichten für Kinder zu einem eigenen Genre von Leniniana (der Erinnerung an die Person Lenin gewidmete Artefakte).16 Neu an dieser Geschichte, die von der Trauer der Kinder über »Onkel Lenins« Tod berichtete, waren der Raum, den die Kinder und ihre Geschichten neben der Figur Lenins einnahmen, und die eigene Stimme und Bedeutung, die sie durch ihre Beziehung zu Lenin erhielten.17 Von Bedeutung ist der Umstand, dass es vor allem Waisen waren, die gewissermaßen als Kinder des jungen Staates in dieser direkten Beziehung zur väterlichen Figur Lenins gezeigt wurden. Sie trauerten und unternahmen abenteuerliche Reisen, um Lenin in Moskau die letzte Ehre zu erweisen. Mehrere Montagen spielten auf die Versorgung von obdachlosen Kindern in sowjetischen Institutionen an, die Lenin geschaffen hatte. Aus Geschichten über Lenins Tod wurden Geschichten über das Leben »seiner« Kinder. Die Verschmelzung von Lenins Leben mit dem aller sowjetischen Kinder ging in die Em37
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blematik der Kinder- und Jugendorganisationen über, als Vladimir K. Kuprijanov (1877 – ca. 1930) 1926/1927 eine Briefmarke für die Obdachlosen mit dem Abbild Lenins als Kleinkind schuf. 1928 gestaltete Nikolaj V. Tomskij (1900–1984) das Abzeichen für die Oktoberkinder mit dem kleinen Lenin im Roten Stern und der Inschrift »Die oktobrjata sind die Enkel Il’ičs«.18 Jahr für Jahr erschienen bis in die späten Jahre der Sowjetunion in der Presse, beispielsweise in der Zeitschrift Ogonëk, rund um Lenins Geburtstag im April Fotos von Kindern, die sich um Bilder, Büsten oder Statuen des jungen Lenin scharten.
Der Sozialistische Realismus (1930er Jahre)
Stalins kulturelle Revolution »von oben« setzte den Experimenten und der Vielfalt ein Ende. 1932 wurden alle Gruppierungen und Organisationen aufgelöst und die Künstlerinnen und Künstler in sowjetischen Verbänden zusammengefasst.19 Angesichts der Rivalitäten der Splittergruppen um die knappen Ressourcen waren sie darüber gar nicht so unglücklich : Wer im Verband war, hatte ein garantiertes Auskommen. Auf den folgenden Verbandskongressen wurden die Kunst- und Kulturschaffenden auf eine einheitliche Kunstdoktrin eingeschworen, den Sozialistischen Realismus. Der Begriff tauchte vermutlich zum ersten Mal im Leitartikel Für die Arbeit auf, der am 29. Mai 1932 in der Literaturnaja Gazeta erschien und die Verordnung über die Reorganisation der literarisch-künstlerischen Organisationen des ZK der RKP (b) vom 23. April 1932 zum Thema hatte. Der Artikel forderte eine Kunst, die »Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und einen revolutionären, Sozialistischen Realismus in der Darstellung der proletarischen Revolution« pflegte. Für verbindlich erklärt wurden die Richtlinien des Sozialistischen Realismus auf dem Schriftstellerkongress von 1934. Auf diesem Kongress hielt Andrej A. Ždanov (1896–1948), Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, ein Referat, in dem er die neue Kunstdoktrin ausformulierte und den Sozialistischen Realismus zur allgemeinverbindlichen künstlerischen Methode erklärte. Er sollte die sowjetischen Massen für das neue Gesellschaftsmodell mobilisieren und die Kunstschaffenden im Geiste der Parteipolitik disziplinieren. Fortan sollte es in der bildenden Kunst darum gehen, »propagandistisch wirkungsvolle Idealbilder sowjetischen Lebens für die millionenfache Vervielfältigung in Zeitungen, Zeitschriften und Schulbüchern, auf Plakaten und Postkarten zu generieren«.20 Die Doktrin des Sozialistischen Realismus berief sich unter anderem auf Nikolaj G. Černyševskij (1828–1889), Maksim Gor’kij (1868–1936) und Lenin. Ihren ideellen Kern bildeten diffuse und somit elastisch interpretierbare Begriffe wie Wahrheitsgehalt (pravdivost’) im Sinne von Wirklichkeitsnähe, Parteilichkeit (partijnost’) und Volksverbundenheit (narodnost’).
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Avantgarde und Proletkul’t (1920er Jahre)
Kanon und Chaos
In den 1930er Jahren wurde das öffentliche Leben theatralischer und der Sozialistische Realismus erzog die Bürger zu neuen Formen des Sehens. Die Akademie der Künste der UdSSR in Leningrad und der Künstlerverband der UdSSR waren für die Umsetzung und Überwachung eines sozrealistischen Kanons zuständig. Dieser Kanon bildete sich vor allem in der Panorama- und Historienmalerei heraus. Wichtige Themen und Motive in der visuellen Kultur der Zeit waren Sport, Kindheit und der Neue Mensch. Eine Liste offiziell belobigter Werke half den Künstlern ebenso wie dem Publikum, sich zu orientieren. Das Gefühl, die Handlungsspielräume zu kennen, beruhigte die Menschen, vermittelte Normalität und stabilisierte die sowjetische Gesellschaft.21 Einen frühen Hinweis auf den umfassenden Charakter der Kulturellen Revolution zur Zeit des ersten Fünfjahrplans gibt die zeitliche Nachbarschaft zur Plakatverordnung von 1931, die zentral verwaltete Bewilligungsverfahren und zentralisierte Planungen wie die einheitliche Dekoration von Schaufenstern an Feiertagen einführte.22 Moskaus Zentrum wurde gemäß dem 1935 genehmigten Generalplan zur Rekonstruktion der Hauptstadt ab 1937 durch ein System von monumentalen Magistralen und Plätzen umgestaltet. Architektur und Städtebau lösten hier die Versprechen ein, welche die Ölmalerei, die großformatige Historienmalerei, die Wandmalerei und der Film seit Beginn der 1930er Jahre über die Ankunft im Sozialismus machten. Kalendarische Inszenierungen von Festtagen waren begleitet von Folklore, Massenliedern und Tänzen. Karnevals, Filmkomödien, Musicals, Paraden, Jubiläen waren eine Seite der Medaille, Schauprozesse und Erschießungen die andere. Spezifisch sowjetisch war die Gleichzeitigkeit von Narrativen und Gegennarrativen, das Nebeneinander extremer Widersprüche. Es herrschte eine scheinbare Planhaftigkeit und Ordnung, die in der Alltagserfahrung jedoch im Chaos unterging : Im Hintergrund der Paraden, auf den Rückseiten der Häuser, in den Hinterhöfen der neuen Ritualachsen und sobald man die Hauptstädte verließ, wurde es unübersichtlich und gefährlich. Dem Kanon kam eine zentrale Rolle zu : Er lenkte die Wahrnehmung, er normierte und bestimmte, was darstellbar und sichtbar war, aber auch, was tabu oder unsichtbar blieb. Zu Letzterem zählten zum Beispiel Mangel, Hunger, Chaos sowie Misserfolge, die nicht sogleich heldenhaft überwunden wurden. Massenhaft verbreitet wurden hingegen malerische Visionen, Pläne und Bauten durch Reproduktionen in Form von Postkarten, Briefmarken, Zeitschriften oder in Schulbüchern.23 In sozrealistischen Darstellungen verkörperten die Kinder Wohlergehen, Harmonie und Zukunft, die kräftigen, strahlenden Körper der Sportler den Neuen Menschen, den Aufbau und den Fortschritt. Die Inszenierungen der lichten Zukunft in der Gegenwart boten den Menschen mentale oder reale Fluchträume aus diesem Alltag. Es waren Angebote für die Sinnstiftung und die Verarbeitung der widersprüchlichen und gewalthaften Realität. Ein weiteres ordnungsstiftendes Element war die »familiäre« Staatsstruktur, 39
Bilder von Kindern
die die soziale Zusammensetzung der Akteure suggerierte, mit Stalin als fürsorglicher, schützender und zugleich autoritärer Vaterfigur. Rückgriffe auf mündliche Erzählformen
Die Geschichten, die die Bilder erzählten, folgten bestimmten Mustern, die sich auf mündliche Traditionen zurückverfolgen lassen. Erzählformen mündlicher Tradition wie Märchen arbeiten mit wiedererkennbaren Elementen, mit Formeln, die man sich leicht merken und die man leicht verstehen kann :24 bekannte erzählerische Muster, einfache, schablonenhafte Bilder, eindeutig gezeichnete Figuren und Szenen. Helden und Bösewichte prägen sich gut ein. Formeln des Lobes und der Verachtung verankern solche Figuren im Gedächtnis. Die Handlungskulissen müssen entweder gut bekannt oder bemerkenswert exotisch sein. Wiederholung und feste Formeln spielen eine wichtige Rolle, sowohl für Erzählerinnen wie Zuhörer.25 Unverkennbar gelten diese Eigenschaften mündlicher Überlieferung auch für den Sozialistischen Realismus (und im Übrigen auch für das Genre der Trivialliteratur). Das lässt sich anhand verschiedener visueller Medien nachvollziehen. Motive und Botschaften zirkulierten in Fotobüchern zur Feier von Jahrestagen, in Briefmarkenserien, auf Postkarten, in illustrierten Zeitschriften und später im neuen Leitmedium Fernsehen.26 Die sozrealistische Bildkultur zeigte immer wieder dasselbe in zahlreichen Varianten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In der ästhetischen Praxis kam es zu zahlreichen Kompromissen, nicht nur zwischen Vorstellungen der Parteioberen und den Credos der Kunstschaffenden, sondern auch durch Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack : Typisch für den Sozialistischen Realismus wurde die Anspielung auf »allgemeine Vorstellungen«, die aber nirgends genau ausgeführt wurden.27 Dazu gehörten auch die zugrunde liegenden Vorstellungen von Kind und Kindheit, an die der Sozrealismus appellierte, sowie die Gleichsetzung von Phylogenese und Ontogenese. Das zeigte sich beispielhaft am Umgang mit dem Märchen : Die sowjetische Haltung dem Märchen gegenüber war zunächst ambivalent. Die oberste Pädagogin Nadežda K. Krupskaja (1869–1939), Lenins Ehefrau, war gegen fantastische Geschichten für Kinder, ebenso die Pädologen der späten 1920er Jahre. Doch Maksim Gor’kij sprach sich auf dem Schriftstellerkongress 1934 für das Märchen aus und verankerte es damit auch in der gleichzeitig verkündeten Doktrin des Sozialistischen Realismus.28 Das Märchen repräsentiere die Kindheit der Menschheit, die sich in jeder Generation wiederhole, und es enthalte das Element der Initiation durch eine Prüfung.29 Ziel war die emotionale Mobilisierung durch Archetype, eine funktionale Einwirkung auf das Handeln der Menschen, die das gewünschte Weltbild erzeugen sollte. Analog zur Formelhaftigkeit des Märchens prägte der Sozialistische Realismus eine Reihe wiederkehrender Bildformeln.
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Avantgarde und Proletkul’t (1920er Jahre)
Realismus als Zukunftsversprechen
Die sowjetischen Bildwelten der 1930er und 1940er Jahre waren gekennzeichnet von einer Hinwendung zum Figurativen, zum Menschenbild und zur Abbildung äußerer Wirklichkeiten, die aber als Zeichen auf zukünftige Realitäten verwiesen. Diese Hinwendung zum »Realismus als Zukunftsversprechen« gab es in den 1930er Jahren auch in anderen Diktaturen, etwa in Italien, Deutschland oder Portugal. Sie verlief parallel zur Entwicklung und zum Einsatz von modernen Medien, mit denen Bilder massenhaft verbreitet werden konnten. Kinder hatten allerdings nirgends sonst eine derart prominente Position in den Bildwelten wie in der Sowjetunion. Die Massenbilder des Sozialistischen Realismus zielten auf den Effekt. Im Gegensatz zu den Bildern der Avantgarde (Konstruktivismus, Suprematismus) fehlten Verweise auf Verfahren, es wurde die reine Oberfläche präsentiert. Die Bilder waren synthetisch, sie kombinierten Realität und Traum und verwischten die Grenzen.30 Sozialistisch-realistisch war ein Bild dann, wenn die Abbildung einen subtilen Verschönerungsprozess hin zum Traumhaft-Utopischen durchlaufen hatte. Das ideale Werk des Sozialistischen Realismus sollte als positive Kunst Zuversicht ausstrahlen und eben gerade keine spezifischen stilistischen Merkmale aufweisen. Die Malerei griff auf Traditionen des Russischen Realismus zurück, aber auch die nun notgedrungen figürlich malenden Künstlerinnen und Künstler der Avantgarde prägten die Stilistik. Um das Versprechen einer bereits in der Gegenwart angebrochenen Zukunft angemessen darstellen zu können, integrierten die Künstlerinnen Elemente des Expressionismus, der Romantik und zunehmend auch des Impressionismus und Postimpressionismus. Das zeigt sich insbesondere an der Lichthaltigkeit und der leuchtenden Farbigkeit der Malerei des Tauwetters. Der Maler Aleksandr A. Dejneka (1899–1969) und die Bildhauerin Vera I. Muchina beispielsweise entwickelten sich von einem »harten« postkonstruktivistischen Stil hin zu einem klassizistisch verbrämten Realismus. Generell setzte sich in der Malerei ein unspezifischer Neoimpressionismus durch, mit bewusst vergrauten Farbtönen und schwachem Strich. Beispielhaft dafür sind Aleksandr M. Gerasimov (1881–1963), Vasilij Jefanov (1900–1978) und Boris V. Ioganson (1893–1973). Das Unspezifische der Bilder macht sie nicht nur mittelmäßig,31 sondern auch selbstähnlich. Die Fotografie, das Medium der dokumentarischen Beglaubigung, wich als Leitmedium der Malerei mit ihren synthetischen Eigenschaften der Zeitlosigkeit und Überhöhung oder Konzentration. Der Umstand, dass die Bilder für die Vervielfältigung in Medien gedacht waren, wirkte auf die Bildtechniken und die Herstellungsverfahren zurück. Die Fotografie selbst vermischte sich mit der Malerei. Beide Bildformen überlagerten sich in der Retusche und der Montage. Retusche war produktionstechnisch notwendig, wurde aber durch die Methode des Sozialistischen Realismus zur eigentlichen Kunstform angereichert. Die Retusche wurde zum zentralen Gestaltungselement, das auch vor den Gesichtern der Kinder nicht haltmachte. Dafür ist der Sammelband Sovetskaja Detvora (Sowjetische Kinder41
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schar) von 1936 ein gutes Beispiel (Abb. 5.10, 5.11).32 Darin wurde auch die Konstruktion der allsowjetischen Kindheit zum paradigmatischen sozrealistischen Projekt.33 Die Montage selbst wurde häufiger kaschiert und diente nun ebenfalls der Synthese und nicht mehr der konstruktivistischen Offenlegung des Verfahrens oder der spannungsreichen Kontrastierung.34 Das Original war nur eine Vorlage für Kopien und Reproduktionen. Daher war die Reproduzierbarkeit ein Wesensmerkmal sozrealistischer Bildproduktion. Ebenso wichtig waren die Entwicklungen moderner Bildmedien und Drucktechniken.
»Arme« Bilder : Medien der imperialen Auslegeordnung
In den 1920er und 1930er Jahren entstand ein breites Spektrum medialer Unternehmungen mit der Aufgabe, die »ganze Sowjetunion« in einer visuellen Auslegeordnung darzustellen. Zu den Medien der imperial displays gehörten illustrierte Zeitschriften ebenso wie die Briefmarkenkultur, das filmische Kolchosmusical, die 1939 in Moskau eröffnete Allunions-Landwirtschafts-Ausstellung sowie die ethnografischen Museen und die Fotobücher.35 Sowohl die begehbaren wie die handlichen Gesamtdarstellungen der Sowjetunion als Ganzes erzählten den Sowjetbürgerinnen und bürgern sinnstiftende Geschichten über ihr Land.36 Sie boten den Menschen, die im Chaos des Aufbaus leben mussten, fertige Deutungsmuster für ihre individuellen Wahrnehmungen und subjektiven Erfahrungen an. Eine wichtige Rolle in der imperialen Auslegeordnung spielten kleinformatige, unscheinbare, »arme«37 Bilder auf Gebrauchsmedien wie Briefmarken, Banknoten, Postkarten oder Zigarettenpackungen. Sie werden gebraucht, abgenutzt und weitergereicht und sind im Alltag beinahe unsichtbar ; aber eben nur beinahe, denn zugleich sind Briefmarken und Banknoten auch Denkmäler, da sie Träger bildwürdiger Motive von nationaler Bedeutung sind. So wirken die unscheinbaren Gebrauchsbildchen identitätsstiftend und stellen Ausweise nationaler Zugehörigkeit dar.38 Ein zentraler Faktor ist ihre Mobilität, sowohl geografisch wie auch sozial, wobei Geld und Briefmarken durch die Höhe ihrer Nennwerte in gewisse Richtungen gelenkt werden, so wie etwa hohes Porto für Sendungen ins Ausland bestimmt ist. Arme Bilder sind – als Ergebnis massenhafter Vervielfältigung in miserabler Druckqualität auf minderwertigem Papier oder Karton – oft unscharf.39 Dabei waren Briefmarken und Geldnoten in Druck und Material von höherer Qualität als die meisten sowjetischen Postkarten oder Verpackungen mit ihrer groben Rasterauflösung und schlechten Papierqualität. Arme Bilder sind zugleich populäre Bilder, die von vielen gesehen werden und als alltägliche Gebrauchsgegenstände ihre Nutzer in ihre Dingbiografie einbeziehen : Nutzerinnen verändern diese Bilder, etwa durch Zerreißen, Zerknittern oder Knicken, durch Beschriften, Ergänzen oder Übermalen wie beispielsweise bei Postkarten. Aufgrund der Verbreitung und Popularität der armen Bilder erlauben die Auswahl und Beliebtheit von Motiven wie auch die Ge42
»Arme« Bilder : Medien der imperialen Auslegeordnung
brauchsspuren Einblicke in die affektive Verfasstheit der Massen, ihre Ängste, Wünsche, Hoffnungen, und sie zeigen den Hang zu Konventionen, Floskeln und Formeln.40 Was millionenfach reproduziert wurde, musste umso mehr den Vorgaben des Sozialistischen Realismus entsprechen. Briefmarken und Postkarten spielten in der Sowjetunion gerade für die Kanonisierung von Kinderbildern eine wichtige Rolle, zumal die hierarchisch strukturierte Klassengesellschaft der Bilder durch deren Vervielfältigung und Kopie ebenso abgeschafft wurde wie der Kult des Originals.41 Die mediale Massenvervielfältigung reduzierte die Auswahl auf einen Kanon. Briefmarken
Vor 1917 zeigten russische Briefmarken nur die Höhe der Frankatur an, begleitet von Variationen des Staatswappens. Die ersten neuen Briefmarken kamen in Sowjetrussland 1921 heraus.42 Der staatlichen Stelle für die Herausgabe von Briefmarken (Organizacija Upolnomočennogo po filatelii i bonam, Monopolstelle für Briefmarken und Gutscheine) stand der Verein der allrussischen (später allsowjetischen) Organisation der Philatelisten (Vserossijskaja organizacija filatelistov, VOF) gegenüber.43 Zwischen 1917 und 1957 wurden in der Sowjetunion 50 Milliarden Briefmarken gedruckt, mit 2150 verschiedenen Bildmotiven. Sie wurden als künstlerisch gestaltete Objekte mit Propagandafunktion betrachtet : Briefmarken waren ein wichtiges, im In- und Ausland weitgestreutes Medium. Sie waren wegen ihres Miniaturformates unauffällig und weniger Restriktionen unterworfen als Propagandapamphlete. Für die Gravuren wurden die besten Künstlerinnen und Künstler engagiert.44 Auf Briefmarken wurden neue Helden gefeiert, sowjetische Errungenschaften vorgeführt und eine neue Geschichte des Landes entworfen. Briefmarken zeigten die neue soziale Ordnung : Die 1920er Jahre waren geprägt von den neuen sowjetischen Menschentypen des Arbeiters, des Bauern und des Soldaten. Für das Verständnis der visuellen Botschaften, die von sowjetischen Errungenschaften kündeten, waren keine Russischkenntnisse nötig.45 Auch innerhalb der Weiten der Sowjetunion erreichten die Bildbotschaften mit knappem Text ein wachsendes Publikum, weil immer mehr Menschen Lesen und Schreiben lernten und Briefe verschickten. In den frühen Jahren wurden Briefmarken wie auch Postkarten dafür eingesetzt, Geld für Hilfsorganisationen, für die Hungerhilfe und die besprizornye zu sammeln. Im August 1922 gab es eine Philatelieveranstaltung eigens zum Wohl von Kindern.46 Die Nützlichkeit der Marken im Rahmen der Kinderhilfe war eine wesentliche Rechtfertigung für das Hobby der Philatelisten.47 Die Briefmarken wurden für den nationalen und internationalen Postverkehr verkauft, aber in außergewöhnlich großem Umfang und mit deutlich erhöhten Nennwerten direkt ins Ausland vertrieben.48 Neben der Propaganda ging es auch um die Beschaffung von Devisen. Obwohl der Staat vom Verkauf von Briefmarken an internationale Philatelistenverbände profitierte und auch in der jungen Sowjetunion selbst das Sammeln der Briefmarken mit den neuen sowjetischen Motiven 43
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durch limitierte Sonderserien und Ausstellungen förderte,49 betrachteten die Kommunisten das private Sammeln von Briefmarken mit gemischten Gefühlen, denn es galt als Variante der gewinnorientierten Spekulation.50 Deshalb wurde die Vereinigung der sowjetischen Philatelisten Ende der 1930er Jahre aufgelöst. Erst 1966 konnten sich die Briefmarkensammler neu konstituieren. Der Philatelistenverband wurde zur Massenorganisation. Mitte der 1970er Jahre waren mehr als die Hälfte der Mitglieder Kinder und Jugendliche.51 Ein Überblick über die Motive sowjetischer Briefmarkenserien zeigt, dass mit den Fünfjahrplänen ab 1928 Industrie- und Agrarlandschaften die allegorischen Motive der frühen Sowjetzeit verdrängten.52 Panoramenartige Ansichten dominierten die sowjetischen Briefmarken der 1930er bis 1950er Jahre. Dies hatte auch mit der neuen technologischen Möglichkeit zu tun, Fotografien für die Druckverfahren zu nutzen.53 Mit dem revolutionären Wandel der Fünfjahrpläne ab 1929 kamen neue soziale Typen hinzu. So trat der Kolchosarbeiter an die Stelle des Bauern. Die ersten Frauen waren 1930 Arbeiterinnen und Kolchosbäuerinnen.54 Kinderdarstellungen auf Briefmarken zeigten in den 1920er Jahren die obdachlosen besprizornye einerseits und »sowjetische Kinder« andererseits, namentlich Schülerinnen und Pioniere. Hier dominierten zunächst Porträts von grüßenden Kindern in Uniform oder Hornisten. Es folgten Szenen, die vor dem Berühren von elektrischen Leitungen warnten, Schulzimmer mit Lehrerinnen zum Internationalen Tag der Frau und Pioniere, die im Lager Artek am Strand des Schwarzen Meeres entlangmarschierten oder Modellflugzeuge fliegen ließen. Kinder waren aber auch auf Abbildungen von Kunstwerken vertreten, die ab 1970 auf Briefmarken auftauchten, etwa die Madonna Benois von Leonardo da Vinci (ca. 1475–1478) aus dem Besitz der Eremitage in Leningrad oder die Tochter Kirgisiens von Semën Čujkov (1948) (Abb. 5.12). Ein beliebtes Motiv zum Tag des Sieges am 9. Mai war Evgenij V. Vučetičs Monument des »Soldat-Befreiers« mit dem Kind auf dem Arm (1949, Abb. 2.16). Postkarten
Wie Briefmarken waren auch Postkarten als arme Bilder erschwinglich und allgegenwärtig. Die Postkarte bot sich als enzyklopädisches Medium der sowjetischen Epoche an. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sie sich zeitgleich mit dem Bau der Eisenbahnen verbreitet, die Menschen und Dinge mobil machten. In einer Zeit vor Telefon und E-Mail eroberte sie sich ganz unterschiedliche Funktionen : Die Ansichtskarte wurde zum Nachrichtenmedium, das erinnerungswürdige Ereignisse dokumentierte und unter die Menschen brachte. Im Geschäftsleben dienten Postkarten als günstige Korrespondenzmöglichkeit und zu Werbezwecken. Zur Agentin gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen wurde die Postkarte durch den Verkauf zur Finanzierung anderer, namentlich wohltätiger und politischer Zwecke.55 Nach der Revolution und während des Bürgerkriegs gab die Propagandaabteilung der Roten Armee Postkarten mit Abdrucken 44
»Arme« Bilder : Medien der imperialen Auslegeordnung
von Propagandaplakaten heraus. Das Taschenformat erreichte mehr Menschen und war angesichts der Papierknappheit eine günstige Alternative zum Plakat. Museen und Institutionen übernahmen Teile des Marktes und gaben selber Postkarten heraus. Ab Anfang 1918 brachten die Bolschewiki die Produktion und Verbreitung von Nachrichten und Bildern unter ihre Kontrolle. 1919 wurden zahlreiche kleinere Verlage im staatlichen Verlag Gosizdat zusammengefasst. Dieser gab auch Postkarten heraus, häufig Serien, die in den Verkaufsstellen des staatlichen Verlages landesweit Verbreitung fanden. Im Juni 1921 wurde das staatliche Zensurorgan Glavlit gegründet. Ab 1923 gab das Narkompochtel’ (Narodnyj kommissariat počt i telegrafov, Volkskommissariat für Post und Telegrafie) bereits frankierte Kartenvordrucke mit dem Bild eines Arbeiters heraus, später folgten Karten mit Werbeaufdrucken. Diese Karten hatten riesige Auflagen zwischen 1 und 4 Millionen. In den 1920er Jahren waren auch die Künstlerorganisationen Herausgeber von Postkarten ; 1931 übernahm IZOGIZ (der Verlag Bildkunst, Izobrazitel’noe iskusstvo) diese Funktion. Hier erschienen vor allem didaktische Postkarten mit Vorbildern wie jungen Pionieren. In den 1930er Jahren wurden Postkarten auch als günstige Alternative zu Schulbüchern für die Klassenzimmer produziert.56 Um 1930 galten Postkarten in der Sowjetunion als Kurzbrief, Dekoration und Bildungsmedium. Auf diese Weise waren Postkarten Teil der visuellen Kultur und der ideologischen Praxis. Weil die meisten Gemälde nach einigen Ausstellungen und Preisen in den Magazinen des Kulturministeriums oder irgendeiner staatlichen Institution verschwanden, waren die Kunstwerke den Menschen oftmals nur als Reproduktionen in Form von Postkarten zugänglich. Sowjetische Postkarten hatten somit eine doppelte Funktion : Zum einen dienten sie der Verbreitung und Popularisierung der sozialistisch realistischen visuellen Kultur, zum anderen begleiteten sie das Verschwinden der Originale. Sie wirkten auch auf die Malweise zurück, weil die Reproduzierbarkeit zum wesentlichen Kriterium der Auswahl wurde. Somit ging es um die Produktion von Bildserien als Massenware.57 Die Bedeutung einer Postkarte maß sich an der Höhe der Auflage, die immer genannt wurde und oft in die Hunderttausende ging. Postkarten mit Motiven zu wichtigen historischen Ereignissen der sowjetischen Geschichte wurden in nummerierten und ausführlich beschrifteten Serien herausgegeben und dienten der Volksbildung. Das Sammeln von Postkarten galt auch in den 1930er Jahren im Gegensatz zum Briefmarkensammeln nicht als »bürgerlich«, sondern angesichts der geringen Kosten, der hohen Auflagen und des volkstümlichen Charakters als dem sowjetischen Alltag angemessen. Mit ihrem niedrigen Preis, der allgemeinen Verfügbarkeit, dem kleinen Format, der Anpassungsfähigkeit an verschiedene Funktionen und Umgebungen sowie den bildenden und unterhaltenden Inhalten vereinte die Postkarte eine Reihe sozialistischer Ideale auf sich. Ab Mitte der 1930er Jahre und nach dem Krieg nahmen neben Historienbildern Genrebilder aus dem sowjetischen Alltag mehr Raum ein. Sie feierten sowjetische Interieurs, kultivierten Konsum und Wohlstand.58 45
Bilder von Kindern
Der eigentliche sowjetische Postkartenboom setzte Mitte der 1950er Jahre ein, als die Massen begannen, sich Kartengrüße zu schicken. 1953 fasste der Ministerrat einen Beschluss über die »Verbesserung der Herausgabe der massenhaften künstlerischen Bildproduktion und der Kunstliteratur«, gefolgt 1966 vom Beschluss über die »Erhöhung der Auflagen hochwertiger Farb-Postkarten und Bildbände«. Daraufhin gab es mehr und interessantere Postkarten zu kaufen. Das Versenden von Grußpostkarten zu sowjetischen Feiertagen wurde zu einer verbreiteten Praxis und zum Teil der Festtagsrituale. Die Grußkarten verschickten die Menschen nicht nur per Post, sondern auch betriebsintern, in Familien und in Schulen.59 Die Postkarte war vor allem ein Medium des Austauschs innerhalb der Sowjetunion. Doch wie in den 1920er Jahren waren im Zeichen der politischen Entspannung auch die Aufschriften der Postkarten ab Beginn der 1960er Jahre wieder mehrsprachig. Ähnlich verhielt es sich bei Zeitschriften und Fotobüchern, die das In- und Ausland bedienen konnten. Manche richteten sich explizit an das internationale Publikum wie die Zeitschrift SSSR na strojke oder die mehrsprachigen Fotobücher, die auch anlässlich internationaler Ausstellungen aufgelegt wurden. Die ideologische Natur der Postkarte ergab sich aus ihrer Nähe zum Plakat. Das Medium Plakat wird hier angesichts der umfangreichen Forschungsliteratur nicht ausführlich diskutiert.60 Plakate wirkten in öffentlichen Räumen, im Stadtraum wie auch in Institutionen wie Schulen, Klubs und Krankenhäusern. Sie dienten als Wandzeitungen und verbreiteten Nachrichten und politische Propaganda, aber auch soziale Kampagnen zum Kinderschutz, zu Hygiene und Erziehung. Auch in den 1950er Jahren waren Plakate noch stärker vertreten als Postkarten, aber die Postkarten multiplizierten deren Motive und waren, bestimmt durch ihren persönlichen Gebrauch, gefälliger bis sentimentaler Natur. Auf der Bildseite war die Postkarte durch und durch ideologisch geprägt, durch das Beschriften mit persönlichen Nachrichten jedoch drang das Leben von Millionen in diesen ideologischen Rahmen ein. Neben offen ideologischen Motiven mit direkter politischer Botschaft gab es Karten mit Blumen, Kindern oder Tauben. Plakate funktionierten im öffentlichen Raum als vertikale Kommunikation des Staates an die Bürgerinnen. Die Postkarte hingegen funktionierte horizontal als Kommunikationsmittel zwischen den Menschen im Rahmen persönlicher Beziehungen, im Mikrokosmos des Privaten oder kleiner Kollektive. Das Plakat bewegte sich im heroischen Diskurs, die Karte im lyrischen – dieser korrelierte mit dem Persönlichen, Privaten, Intimen, was sich nicht nur in sentimentalen Motiven, sondern auch im Stil der Texte zeigte. Das Plakat als Sprachrohr der Macht appellierte, befahl, ordnete in Bild und Text Handlungen an. Die Karte bediente sich stiller Methoden, der Wünsche und Träume, Emotionen und Affekte.61 Auf den Karten regierte der Charme des Banalen. Nach dem Krieg wurde das Alltagsgenre in der Kunst rehabilitiert. Das führte zum Triumph des Sentimentalen und zu einer Entheroisierung, einmal abgesehen von den Postkarten zum Tag des Sieges, zu Großprojekten wie dem Staudamm von Bratsk oder später zur Baikal-Amur-Magistrale (BAM), die einen neuen Schub von Romantik und Heroisierung hervorbrachten.62 46
Umkämpfte Bildwelten
Grußkarten dienten der Pflege der Beziehungen zwischen den Generationen, den Kindern und ihren Großeltern, Tanten, Onkeln. Auf den Postkarten der 1950er und 1960er Jahre wurden die Arrangements grundlegend überarbeitet : Motive mit Kindern richteten sich an die Erwachsenen, waren aber auch bei den Kindern beliebt. Kinder auf Postkarten dienten als symbolische Ressource, für Erwachsene waren sie ein gefühlsbetontes Motiv, als Beweise einer heilen Kinderwelt, Zeichen erreichten Wohlstands und als Versprechen einer noch besseren Zukunft. Für Kinder gab es Darstellungen von Vorbildern, märchenhafte Motive, Figuren aus der Kinderliteratur und Folkloremotive. Deutlich wird das am Beispiel der Festtagsgrußkarten. Neujahrskarten und Karten zum Tag des Sieges am 9. Mai hatten die höchsten Auflagen.63 Neujahr war immer auch ein Symbol des Aufbruchs und des Neubeginns : Der Schlüssel zu einer neuen Wohnung, der Aufbruch in den Kosmos konnten die Motive sein, häufig jedoch dienten dabei Kinder als Inbegriff des Neubeginns und als Motivverstärker. Das neue Arbeitsjahr wurde gerne durch das Motiv des KindArbeiters verkörpert. Das (meist männliche) Kind »tritt ein in den Prozess des gemeinsamen Werkes und erscheint als Schweißer, Vermesser, Zimmermann, Monteur. Fröhlich und munter führt er die Sowjetmenschen zum Glück der Arbeit« – mit einem riesigen Arbeitshandschuh als Attribut.64 Arbeit war im Sozialismus der höchste Wert, und das allegorische arbeitende Kind war nicht etwa negativ besetzt. Es hatte vielmehr aktiv Teil an der Gesellschaft und am sozialistischen Aufbau. Das Kind in der Rolle des Erwachsenen intensivierte das Motiv und die Botschaft – das Kind bedeutete symbolische Überhöhung. Der Babyboom der Nachkriegszeit schlug sich auch in den sowjetischen Bildkonjunkturen nieder : Postkarten, Trickfilme, Kinderzeitschriften wie Murzilka und Vesëlye Kartinki sowie die Kinderliteratur eroberten die Kinderzimmer in den 1950er und 1960er Jahren.65 Die Illustrationsstile sowie wandernde Figuren und Motive verbanden die verschiedenen Medien. Die Kinderpublikationen waren ein wichtiges Feld der sowjetischen Gebrauchsgrafik.
Umkämpfte Bildwelten
Die Kulturpolitik in sozialistischen Gesellschaften bemühte sich um eine weitgehende Einflussnahme auf ihre Bildwelten.66 Dennoch lassen sich die Bildwelten im Sozialismus nicht als Bereich rational durchgeführter Manipulationen verstehen, sondern eher als ein umkämpfter Raum : Bildwelten waren Raum der Verhandlungen von Expertinnen und Experten in Politik, Kultur und Medien über Bilder und visuelle Kultur als Mittel, um die Bevölkerung emotional an das System zu binden.67 Dass dies nachhaltig gelang, zeigt das Nachleben der schönen Bilder der sowjetischen Kindheit in einschlägigen Internetforen, in den sozialen Netzwerken, der russischen Populärkultur und der Werbung. Die Avantgarde wollte eine abstrakte neue Bildsprache schaffen und ein neues Sehen einführen. Dafür standen nur knappe Mittel zur Verfügung. Außerdem missachteten 47
Bilder von Kindern
die Künstlerinnen und Künstler in ihrer bewussten Absage an den guten Geschmack die Sehgewohnheiten und die Träume ihres Publikums. Diese bediente dann der Sozialistische Realismus umso konsequenter. Der Stalinismus bündelte die künstlerischen und materiellen Ressourcen und schuf eine Massenkultur, die an vertraute Sehgewohnheiten, aber auch an traditionelle Statussymbole, Archetype und soziale Fantasien anknüpfte. Dabei spielte der Rückgriff auf die seit dem 19. Jahrhundert entstandenen standardisierten Visualisierungen von Kindheit, die in der Einleitung angesprochen wurden, eine prominente Rolle. Diese Bilder prägten die sowjetischen Bildwelten in zahlreichen Abwandlungen weit über die Stalin-Zeit hinaus und üben bis heute ihren Reiz aus. Im Sozialistischen Realismus der Stalin-Zeit entstanden ikonische Monumente, Architekturen und Bildwerke, die auf klassische Muster und Formeln zurückgriffen und zentrale sowjetische Narrative in sich bündelten. Um diese Pathosformeln geht es im folgenden Kapitel.
Anmerkungen 1 Victoria E. Bonnell, Iconography of power. Soviet Political Posters under Lenin and Stalin, London 1997 ; James Aulich/Marta Sylvestrová, Political Posters in Central and Eastern Europe 1945–1996. Signs of the Times, Manchester 2000 ; Klaus Waschik/Nina Baburina, Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts, Bietigheim-Bissingen 2003. 2 Ol’ga V. Chomogorova, Soc-Art, Moskau 1994 ; Karl Eimermacher/Dirk Kretzschmar/Klaus Waschik, Russland, wohin eilst du ? Perestrojka und Kultur, Dortmund 1996 ; Wolfgang Eichwede (Hg.), Samizdat. Alternative Kultur in Zentralund Osteuropa : Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000 ; Pawel Choroschilow/Jürgen Harten/ Joachim Sartorius/Peter-Klaus Schuster (Hg.), Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950–2000, Berlin 2003. Jenseits einzelner Forschungsvorstöße wird in Bezug auf die sozialistische Bildproduktion bis heute ein Paradigmenwechsel von einer utopisch-visionären sozialistischen Bildwelt hin zu politisch motivierter Manipulation als charakteristisch angenommen. Vgl. etwa Valerie A. Kivelson/Joan Neuberger (Hg.), Picturing Russia. Explorations in Visual Culture, New Haven 2008 ; Oliver Johnson, Alternative Histories of Soviet Visual Culture, in : Kritika. Explorations
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in Russian and Eurasian History 11 (2010) H. 3, S. 581–608. 3 Stephen V. Bittner, Green Cities and Orderly Streets. Space and Culture in Moscow, 1928– 1933, in : Journal of Urban History 25 (1998) H. 1, S. 22–56. 4 Beispiele dafür sind die Kampagnen der 2000er Jahre für »Vodka Stolichnaya«. 5 Lynn Mally, Culture of the Future. The Proletkult Movement in Revolutionary Russia, Berkeley 1990. 6 Catherine Cooke, Mass Performances and Spectacles, in : Catherine Cooke/Vladimir Tolstoy/ Irina Bibikova (Hg.), Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918–33, London 1990, S. 121–128, hier S. 121. 7 Marina Dmitrieva, Dekorationen des Augenblicks im Massentheater der Revolution. Petrograd, Kiew und Witebsk 1918–1920, in : Arnold Bartetzky/ Marina Dmitrieva/Stefan Troebst (Hg.), Neue Staaten – neue Bilder ? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918, Köln 2005, S. 117–131, hier S. 127. 8 Ebd., S. 128. 9 Einen Eindruck von der Vielfalt theatralischer Formen vermittelt John E. Bowlt, Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900–1920, Wien 2008. 10 Catherine Cooke, The Artists are Mobilized, in :
Anmerkungen
Cooke/Tolstoy/Bibikova, Street Art of the Revolution, S. 31–38, hier S. 37. 11 Abb. von Zügen und Dampfern in : Szymon Bojko, Rot schlägt Weiß. Die Neue Grafik und das Design der Russischen Revolution, München 1975, S. 67, 88, 138, 140 f. u. 151. 12 Cooke, Mass Performances and Spectacles (Anm. 6), S. 123. 13 Dmitrieva, Dekorationen des Augenblicks im Massentheater der Revolution (Anm. 7), S. 131. 14 Margarita Tupitsyn, The Soviet Photography 1917–1937, New Haven 1996, S. 23 f.; vgl. hierzu auch Mikhail Karasik/Manfred Heiting (Hg.), The Soviet Photobook 1920–1941, Göttingen 2015, S. 12–15. 15 Sergej Alex Oushakine, Realism with GazeAppeal. Lenin, Children, and Photomontage, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 67 (2019) H. 1, S. 11–64 (Übersetzung durch die Autorin). 16 Mikhail Karasik, Udarnaia kniga sovetskoi detvory, Moskau 2010, S. 22. 17 Oushakine, Photomontage, Children and Lenin (Anm. 15). 18 Ebd. 19 Verordnung über die Reorganisation der literarisch-künstlerischen Organisationen des ZK der RKP (b) vom 23. April 1932, Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii (RGASPI), f. 17, op. 163, d. 938, ll. 36–38, online unter (23.09.2019). 20 Ada Raev, Grundzüge des Sozialistischen Realismus, in : Monica Rüthers/Alexandra Köhring (Hg.), Ästhetiken des Sozialismus/Socialist Aesthetics. Populäre Bildmedien im späten Sozialismus/ Visual Cultures of Late Socialism, Köln 2018, S. 13 ff.; Jeffrey Brooks/Sergei I. Zhuk, The Distinctiveness of Soviet Culture, in : Simon Dixon (Hg.), The Oxford Handbook of Modern Russian History. Oxford Handbooks online 2014. 21 Hans Günther, Žiznennye fazy socrealističeskogo kanona, in : Hans Günther/Evgenij A. Dobrenko (Hg.), Socrealističeskij kanon, St. Petersburg 2000, S. 281–288.
22 Waschik/Baburina, Werben für die Utopie (Anm. 1), S. 273. 23 A. L. Rubinčik hat die massenhafte Vervielfältigung auf Postkarten zum Anlass genommen, die Geschichte der sozrealistischen Malerei anhand solcher Reproduktionen nachzuzeichnen. A. L. Rubinčik, Živopis’ socrealizma v sovetskich otkrytkach, Moskau 2008. 24 Martha Langford übertrug diese Eigenschaften mündlicher Überlieferung in die Sprache des Fotoalbums : Martha Langford, Speaking the Album. An Application of the Oral-Photographic Framework, in : Annette Kuhn/Kirsten E. McAllister (Hg.), Locating Memory. Photographic Acts, N. Y. 2006, S. 223–246 ; Martha Langford, Suspended Conversations. The Afterlife of Memory in a Photographic Album, Montreal 2001 ; Walter Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 1982. 25 Langford, Speaking the Album (Anm. 24), S. 225. 26 Reino Paasilinna, Glasnost and Soviet Television. A Study of the Soviet Mass Media and Its Role in Society From 1985–1991, Helsinki 1995. 27 Vladimir Dobrenko, Socrealizm i mir detstva, in : Günther/Dobrenko, Socrealističeskij kanon, S. 31–40. 28 Marina Balina, Introduction Part II. Fairy Tales of Socialist Realism, in : Marina Balina/Helena Goscilo/Mark Lipovetsky (Hg.), Politicizing Magic. An Anthology of Russian and Soviet Fairy Tales, Evanston, Ill. 2005, S. 105–121, hier S. 105 u. 107. 29 Dobrenko, Socrealizm i mir detstva (Anm. 27), S. 33. 30 Boris Groys, Die Massenkultur der Utopie, in : Boris Groys/Max Hollein (Hg.), Traumfabrik Kommunismus. Die visuelle Kultur der Stalinzeit, Ostfildern-Ruit 2003, S. 20–37. 31 Ekaterina Degot, Die Kollektivierung der Moderne, in : Groys/Hollein, Traumfabrik Kommunismus, S. 85–105, hier S. 100 ff. 32 Der Band wird im Kapitel Viele Völker, eine Kindheit näher vorgestellt. Vgl. dazu auch Mikhail Karasik, Iskusstvo ubeždat’. Paradnye Izdanija 1920–1930–ch godov, Moskau 2017, S. 141. 33 Vgl. dazu auch Kapitel Viele Völker, eine Kindheit. 34 Beispiel ist die Abb. in SSSR na Strojke 1934 mit
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Bilder von Kindern
den Betreuerinnen vorne mit Kind auf Waage und den der Kälte ausgesetzten Säuglingen im Hintergrund (Abb. 6.4). 35 Evgeny A. Dobrenko, The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era, in : Evgeny A. Dobrenko/Eric Naiman (Hg.), The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, Seattle 2003, S. 163–200 ; Richard Taylor, Singing on the Steppes for Stalin. Ivan Pyr’ev and the Kolkhoz Musical in Soviet Cinema, in : Slavic Review 58 (1999) H. 1, S. 143–159 ; Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca, N.Y. 2005 ; Greg Castillo, Peoples at an Exhibition. Soviet Architecture and the National Question, in : South Atlantic Quarterly 94 (1995) H. 3, S. 715–746. 36 Castillo, Peoples at an Exhibition (Anm. 35), S. 722 ; für internationale Ausstellungen anderer Imperien vgl. Paul Greenhalgh, Ephemeral Vistas. The Expositions Universelles. Great Exhibitions and World’s Fairs, 1851–1939, Manchester 1988. 37 Zum digitalen »armen Bild« der Gegenwart schreibt Hito Steyerl : »The poor image is a copy in motion. Its quality is bad, its resolution substandard. As it accelerates, it deteriorates.« Hito Steyerl, In Defense of the Poor Image, in : e-flux. (2009) H. 10, S. 1–9. Solche armen »Bastarde fünften Grades des Originals« gab es bereits lange vor dem digitalen Zeitalter. 38 Anne-Marie Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIIe–XXe siècle, Paris 1999, S. 220 f. 39 Steyerl, In Defense of the Poor Image (Anm. 37), S. 1. 40 Ebd., S. 6. 41 Ebd., S. 3. 42 Jonathan Grant, The Socialist Construction of Philately in the Early Soviet Era, in : Comparative Studies in Society and History 37 (1995) H. 3, 476–493, hier S. 478. 43 Ebd. 44 Dobrenko, The Art of Social Navigation (Anm. 35), S. 164. 45 Alison Rowley, Miniature Propaganda. Self-Definition and Soviet Postage Stamps, 1917–1941, in : Slavonica 8 (2002) H. 2, S. 135–157, hier S. 135.
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46 Grant, The Socialist Construction of Philately in the Early Soviet Era (Anm. 42), S. 480. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 481. 49 Rowley, Miniature Propaganda (Anm. 45), S. 138. 50 Grant, The Socialist Construction of Philately in the Early Soviet Era (Anm. 42), 477, 482. 51 Ebd., S. 493. 52 Dobrenko, The Art of Social Navigation (Anm. 35), S. 166–169. 53 Die Marken der 1950er Jahre imitierten Farbfotografien und zelebrierten den Triumphalstil. 1961 änderte sich der Stil der Briefmarkengrafik weg vom zuvor vorherrschenden schattierten dreidimensionalen Typus und der Dominanz der Landschaften hin zum Grafisch-Linearen. Zu den drei Typen linear, dekorativ (flächig, farbkräftig, vereinfachend), dreidimensional schattiert vgl. ebd., S. 167. 54 Grant, The Socialist Construction of Philately in the Early Soviet Era (Anm. 42), S. 485 ; Elizabeth Waters, The Female Form in Soviet Political Iconography, 1917–32, in : Barbara Evans Clement/ Barbara Alpern Engel/Christine D. Worobec (Hg.), Russia’s Women. Accommodation, Resistance, Transformation, Berkeley 1991, S. 225–242. 55 Alison Rowley, Open Letters. Russian Popular Culture and the Picture Postcard 1880–1922, Toronto 2013, S. 15–44. 56 Ebd. 57 Matteo Bertelé, The Soviet Picture Postcard as Transmedial Object of Mass Culture and Ideological Practice, in : Rüthers/Köhring, Ästhetiken des Sozialismus/Socialist, S. 38–60, hier S. 39. 58 Ebd., S. 48. 59 Ol’ga Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke, Moskau 2017, S. 12 f. 60 Umfassend : Waschik/Baburina, Werben für die Utopie (Anm. 1). Als Quelle zu Kindermotiven : N. N. Gluško/V.F. Konjašova (Hg.), Deti, naše budušče, Moskau 2007. 61 Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke (Anm. 59), S. 2. 62 Ebd., S. 123. 63 Ebd., S. 158. 64 Ebd., S. 80 u. 82 (Übersetzung der Autorin). 65 Ebd., S. 158. 66 Groys, Die Massenkultur der Utopie (Anm. 30) ; Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Stefan
Anmerkungen
Troebst (Hg.), Neue Staaten – neue Bilder ? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral– und Osteuropa seit 1918, Köln 2005 ; Klaus Gestwa, Social und soul engineering unter Stalin und Chruschtschow 1928–1964, in : Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 241–327 ; Arnold Bartetzky, Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa, in : Winfried Nerdinger (Hg.), Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der
Geschichte, München 2010, S. 138–147 ; Elidor Mehilli, The Socialist Design. Urban Dilemmas in Postwar Europe and the Soviet Union, in : Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 13 (2012) H. 3, S. 635–665. 67 David Crowley/Susan E. Reid (Hg.), Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc, Oxford 2002 ; Matthew Rampley (Hg.), Heritage, Ideology, and Identity in Central and Eastern Europe. Contested Pasts, Contested Presents, Woodbridge 2012.
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2 Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit Pathosformeln
Den Begriff der Pathosformel prägte der Hamburger Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Aby Warburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er bezeichnete damit von Renaissancekünstlern verwendete Symbole zur Darstellung extremer menschlicher Gefühlszustände, in denen sich das antike Pathos im Sinne eines theatralischen Ausdrucks von Leidenschaft niedergeschlagen hatte. Pathosformeln können Mimik, Gestik, Gefühlsausdruck, die (allegorische) Figur an sich, das Motiv und die Komposition meinen, vor allem aber die Bewegung nicht nur des Körpers, sondern auch des »Beiwerks« wie des Haares oder Gewandes.1 Der Begriff der Pathosformel wird gerne und häufig verwendet, aber nicht immer klar definiert. Der Historiker Gerhard Paul spricht von »stilisierten Mustern der Körpersprache«, die auf Darstellungsformen des Theaters zurückgreifen. Die Elemente der Personendarstellung fasst er unter dem Begriff »Kinesik« zusammen. Mimik, Gestik und Körperhaltung werden auf pathetische und symbolische Formen reduziert.2 Paul bezeichnet allerdings auch symbolische Gesten wie den Händedruck als Pathosformel, wenn sie mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen und, wie im Fall der DDR, zum Gründungsmythos werden.3 Die Slavistin Susi K. Frank betont die Intermedialität von Pathosformeln zwischen Bild und Text (hier in Form rhetorischer Pathosformeln) und identifiziert sie über ihre antike Prägung und wiederholte Aktualisierung im Lauf der Geschichte am Beispiel des Säuglings an der Brust der getöteten Mutter.4 Der Filmwissenschaftler Hermann Kappelhoff macht das Konzept der Pathosformel am Beispiel des shell-shocked face im amerikanischen Kinofilm als generisches Prinzip fruchtbar, indem er herausarbeitet, dass seriell wiederkehrende bildliche Ausdrucksformeln auf spezifische Affektbereiche einer kulturellen Gemeinschaft rückbezogen werden können. Nach dieser Auffassung werden Pathosformeln aus jeweiligen Ereignis- und Kulturzusammenhängen heraus generiert und geben über Affektkonstellationen und Konflikte einer Gesellschaft Auskunft, weil sie ein gemeinschaftliches Gefühl in wiederkehrende und wiedererkennbare Bildformeln gießen.5 Die differenzierteste Diskussion von Warburgs Konzept der Pathosformeln und seiner Arbeiten findet sich bei Georges Didi-Huberman : Er betrachtet Warburgs Denken im Kontext der um 1900 aktuellen wissenschaftlichen Diskurse, also der Evolutionstheorie Darwins, der Anthropologie und der Psychoanalyse, aber auch geistiger und künstlerischer Strömungen wie der Philosophie Nietzsches, des Symbolismus und des Jugendstils. Warburgs Pathosformeln meinten weder einfache, »animalische« Reflexe noch eine kategorisierende Gebärdensprache mit rhetorischen Konventionen. Seine Pathosformeln 52
Pathosformeln
verbänden den körperlichen Ausdruck von Gefühlsregungen mit kulturell geprägten psychischen und symbolischen Formen. Das unterscheide ihn von den universell-an thropologischen Theorien seiner Zeit.6 So weise die Pathosformel eine Analogie zur Struktur mythischer Narrative auf, die (selbst)ähnlich bleibt, also wiedererkennbar, aber mit wandelbaren Inhalten und in Varianten in Erscheinung tritt. Antike Pathosformeln gingen aus den Erzählungen mythischer Narrative hervor, sie fingen bestimmte Momente bekannter Handlungen ein. Wie einleitend erwähnt, ist nach der Auffassung Warburgs die Verschiebung der Gemütsbewegungen in der Darstellung der Figuren von Gesicht und Gebärde auf das »bewegte Beiwerk«, auf Gewand und Haar, zentral.7 Diese Verschiebung bewirke eine Steigerung des Ausdrucks hin zu »Superlativen der Gebärdensprache«,8 wenn beispielsweise in einer (für die Renaissance typischen) choreografischen Steigerung der Gebärde aus dem Schritt Tanz werde. Warburg fasste die widersprüchlichen Darstellungen weiblicher Anmut in der Figur der Ninfa oder Nymphe als generalisierter Form der Darstellung weiblicher Anmut, die für Verschiedenes eingesetzt werden könne.9 An ihr untersuchte er die »transitorischen Bewegungen in Haar und Gewand« als verschobenen Hinweis auf das Pathos (der Bilder der Renaissance).10 Die antike Darstellung weiblicher Schönheit (Venus, Nymphen) wird erst durch den Atem einer äußeren Veranlassung lebendig : Der Wind presst das Gewand an den Körper, so dass Nacktheit suggeriert wird. Tücher wogen in die Luft hinaus. In der Magie der Gewänder verbindet sich die äußere mit der inneren Bewegung. Zeittypische Ausdrucksformen fließen in dieses Paradox der Pathosformel ein : die bewegten Ornamente des Jugendstils, der von der amerikanischen Tänzerin und Choreografin Isadora Duncan (1877–1927) begründete Ausdruckstanz, die Dichtung des Symbolismus – »Mänadentum nach Art des Fin de Siècle«.11 Warburg machte an der Figur der Ninfa grundlegende Aspekte der Pathosformel als vom Inhalt gelöster »Formel« sichtbar. Dazu gehört etwa das paradoxe Bild des Ganges : Der Schritt ist einerseits nach dem Leben empfunden und zugleich von ihm losgelöst. Er ist flüchtig und dabei in der Zeit blockiert, mit dem Boden verbunden und schwebend.12 Die Ninfa mit ihren im Ausdruck gesteigerten Gebärden ist Mörderin und Retterin, Opfer und Täterin, Vergewaltigte und Verführerin, hilfreich und gefährlich, sterblich und unsterblich, Schlafende und Tänzerin. Diese Vieldeutigkeit war bereits in den antiken Mythen angelegt, wurde von der Psychoanalyse aufgegriffen und beschäftigte auch Warburg.13 Ein ausgezeichnetes Beispiel für eine sowjetische Pathosformel findet sich in der Kolossalstatue Arbeiter und Kolchosbäuerin, die die Bildhauerin Vera I. Muchina (1889– 1953) nach Vorgaben des Architekten Boris M. Iofan (1891–1976) für den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937 entwarf. Der Pavillon stand im Zeichen des Neuen Menschen,14 den auch die Skulptur verkörperte.15 Der Übermensch oder der Neue Mensch war ein Projekt der Moderne, ebenso wie seine ideale Umgebung, die ideale Stadt und die ideale Gesellschaft. Der junge, gesunde Körper stand im Zentrum der Wünsche. Der überzeitliche Zauber der Statue erklärt sich durch ihre Anlehnung an Aus53
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
drucksformen des antiken Pathos.16 Tatsächlich griff Boris Iofan für die Idee der Skulptur auf dem von ihm entworfenen Pavillon auf antike Vorbilder zurück, vor allem auf die antike Figurengruppe Tyrannenmörder.17 Den Wettbewerb zur Gestaltung der Statuengruppe gewann Vera Muchina. Die Bewegung des wehenden Schals unterschied den Entwurf Muchinas wesentlich von dem Iofans (Abb. 2.1).18 Ursprünglich sollte er die Geschlechtsteile der nach antiker Manier unbekleideten Idealfiguren verhüllen. Die idealisierte Person (im Unterschied zur Allegorie) war in der sozialistischen Ikonografie des 19. Jahrhunderts bevorzugt nackt dargestellt worden, um ihre Vollkommenheit zu unterstreichen, auch wenn dies »unrealistisch« war. Die sozialistische Bewegung brauchte eine Sprache symbolischer Aussagen, um ihre transnationalen und überzeitlichen Ideale auszudrücken. Da die revolutionären Bewegungen im Zarenreich der Verfolgung ausgesetzt waren, bildeten sich die Grundlagen der politischen Ikonografie der sozialistischen Bewegungen vor allem in England und Frankreich heraus.19 Daran orientierte sich auch die sowjetische Bildsprache. Die Suche nach der idealen Nacktheit ließ sich aber nicht mit den in den 1930er Jahren geforderten realistischen Prinzipien vereinen, da niemand in der Realität nackt arbeitete.20 Eine Formensprache von Symbol und Ideal ohne Nacktheit war schwer zu finden, aber Nacktheit wurde immer weniger akzeptiert.21 Der weibliche Körper blieb in der sozialistischen Ikonografie immer häufiger bekleidet, während der männliche Körper nach und nach entblößt wurde, und zwar für symbolische Zwecke : Der kräftige Körper eines jungen Arbeiters, nackt bis zum Gürtel, der die Axt oder den Hammer schwang, wirkte eindrücklicher.22 Weil ihr Entwurf auch die Darstellung einer Frau enthielt, musste Vera Muchina die Figuren bekleiden. Dafür wählte sie möglichst neutrale Gewänder, die den Torso deutlich abzeichneten und die Beine frei ließen. Auch die wehende Stoffbahn weckte bei der das Projekt begleitenden Kunstkommission des Politbüros Bedenken. Der Schal wog 5 Tonnen, sollte aber der 80 Tonnen schweren Skulptur den Eindruck schwebender Leichtigkeit verleihen und rechtfertigte überdies die unnatürliche Armhaltung der Kolchosbäuerin.23 So erscheint die Kolchosbäuerin als Verkörperung weiblicher Anmut im Sinne von Warburgs Ninfa : Die Gewänder werden vom Wind an den Körper gepresst und lassen dessen Konturen deutlich durchscheinen. Das »bewegte Beiwerk« der wehenden Haare und des Schals dient der Steigerung des Ausdrucks ebenso wie die eigentümliche Choreografie des Schrittes, der zum Tanz wird.24 Für diesen Eindruck sorgen sowohl der nach außen abgedrehte und auf der Spitze stehende hintere Fuß wie auch das Schuhwerk : Die Kolchosbäuerin trägt Ballerinas. Der Arbeiter ist jung, kräftig und muskulös, sein athletischer Oberkörper ist nur teilweise durch die Latzhose bedeckt. Von vorne sieht diese aus wie die lederne Schürze des Schmiedes, dem die Figur mit dem Hammer nachempfunden ist. Das Paar erinnert an die vorwärtsstürmenden Gestalten der Revolution, vor allem an die 1830 entstandene Marianne von Eugène Delacroix (1789–1863). Allerdings ist die Pathosformel des revolutionären Sturms dem siegesgewissen Voranschreiten der Sowjetmenschen in die Zukunft gewichen. Während dieses Paar kein Kind bei sich hat, 54
Der Sozialistische Realismus
sind ähnliche Kompositionen durch Kinderfiguren ergänzt : Die Verdienten Bürger der Sowjetunion, die, bereits gemäßigt, auf Vassilij P. Efanovs (1900–1978) und Aleksandr A. Dejnekas (1899–1969) Monumentalgemälden über den Roten Platz in die Zukunft schreiten, tragen jeweils ein nur leicht bekleidetes Kleinkind auf den Schultern mit sich (Abb. 2.2). Auch die in Nordkorea gefertigte Kolossalstatue Le Monument de la Renaissance Africaine,25 die 2014 in Dakar, Senegal, errichtet wurde, erinnert an Vera Muchinas Figurengruppe. Das Beispiel dieser Figurengruppen zeigt, wie die von Aby Warburg herausgearbeiteten Elemente der Pathosformel in der sowjetischen Ikonografie zur Anwendung kamen. Es zeigt aber auch die von Kappelhoff konstatierte generische Komponente, die Rückschlüsse auf Affektkonstellationen und Konflikte einer Gesellschaft erlaubt.
Der Sozialistische Realismus : Pathos, Kanon, Wiederholung, Reproduktion
Die Kolossalstatue Arbeiter und Kolchosbäuerin gilt als eines der paradigmatischen Werke des Sozialistischen Realismus. Im Sozialistischen Realismus steigerten sich die Haltungen und Gesten der Helden-Vorbilder in Superlative des körperlichen Ausdrucks. Der geforderte Realismus verband sich dabei mit klassischen Allegorien. Leicht verständliche Formeln setzten die zentralen Narrative der sowjetischen Propaganda bildhaft um. Die Monumentalität unterstützte das Pathos und das Erhabene und sollte die Betrachterinnen überwältigen. Das Harmonieverständnis beruhte auf den akademischen Regeln einer Kunst, die sich auf das antike Erbe berief. Die Wiedererkennbarkeit der Motive, Formeln und Botschaften trug zu ihrer Überzeugungskraft bei. So bildete sich ein beglaubigter Kanon an Motiven, Formeln und Narrativen, die in Bildern und Texten zirkulierten. In Schlüsselmotiven transformierten sich die Narrative der Revolution und des kommunistischen Aufbaus in Gesten und Körperhaltungen. Ein Beispiel : Zwischen 1934 und 1938 nahm der Fliegermythos in der sowjetischen Propaganda eine herausragende Rolle
Abb. 2.1 : Vera I. Muchina (1889–1953), Arbeiter und Kolchosbäuerin, sowjetischer Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937 Das 24 Meter hohe stählerne Paar schreitet siegesgewiss und doch beschwingt in die Zukunft. Der Arbeiter ist der Bäuerin dabei immer einen halben Schritt voraus.
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Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.2 : Vassilij P. Efanov (1900–1978), Bürger unseres Landes (Znatye ljudi Strany Sovetov), 1935, Öl auf Leinwand Die auf den Betrachter zumarschierenden Menschen bei einer Festparade waren Teil des sowjetischen Motivkanons. Die verdienten Sowjetbürgerinnen und bürger in diesem 11 auf 17 Meter messenden Monumentalgemälde sind jung und kräftig, die Figuren im Zentrum sind immer russischer Nationalität und weiß gekleidet, flankiert von einigen älteren Bürgern und Angehörigen nichtrussischer Ethnien. Das Motiv des Gemäldes wurde 1941 als Postkarte herausgegeben.
ein. In ihm bündelte sich die Losung der Epoche : »Höher und höher !« oder »Vorwärts und höher !«. Dieses prometheische Streben in die Höhe und nach vorn fand ebenfalls exemplarischen Ausdruck in Muchinas Statue.
Kinder und Pathos
Kinder sind Teil von Pathosformeln. Als Formel der Steigerung des Ausdrucks generiert sich die Pathosformel auch bei Neuinterpretationen durch Rückgriffe auf bekannte Bildformeln : Dabei geht es jedoch nicht nur um die Wiedererkennbarkeit des Ausdrucks, sondern auch um die Einordnung in größere heilsgeschichtliche Kontexte, um die Erweiterung und Überhöhung der Bedeutung. Das Konzept der Pathosformel ist daher ebenso wie der mimische und gestische Ausdruck menschlicher Gefühle keineswegs universell und evident, sondern eng mit europäischen kulturellen Traditionen und der 56
Kinder und Pathos
Abb. 2.3 : Kuz’ma Petrov-Vodkin (1878–1939), Petrograd 1918, 1920, Öl auf Leinwand Das Gemälde wurde als Petrograder Madonna bekannt und Petrov-Vodkin knüpfte explizit an die Farbsymbolik der Ikonen an. Das Rot des Umhangs deutet auf den Leidensweg hin, Hellblau steht für Reinheit und Keuschheit, die Attribute der Gottesmutter und Zeichen ihrer Jungfräulichkeit. Abb. 2.4 : Michail A. Savickij (1922–2010), PartisanenMadonna von Minsk, 1978, Öl auf Leinwand Die Petrograder Madonna von Petrov-Vodkin dürfte Pate für den Titel gestanden haben. Die Komposition von Savickij bezieht sich deutlich auf die Sixtinische Madonna (1512/1513) von Raffael.; ein Hinweis darauf, dass sich die sowjetischen Künstler und Vertreter des Sozialistischen Realismus als Hüter des Erbes der Renaissance sahen.
Kunstgeschichte verbunden. Das Kind wirkt auch im Zusammenhang mit Pathosformeln als emotionaler Verstärker. Insbesondere gilt das, weil in der europäischen Ikonografie Darstellungen von Kleinkindern eng mit Madonnendarstellungen und solchen des Christuskindes verbunden sind. Im Folgenden werden mehrere Bildformeln vorgestellt, die sich auf diese Traditionen bezogen, sie aneigneten und umdeuteten. Die Madonna
Einige Darstellungen von Müttern mit Kindern bezogen sich auch in der Sowjetunion explizit auf Marienbildnisse. Das Motiv symbolisiert die Leidensfähigkeit : Die klassische Mariendarstellung steht für die Unschuld und Reinheit mütterlicher Liebe, für Aufopferung und Leiden.26 Anders als bei den auf den Schultern getragenen Kindern, die meistens etwas älter sind, steht bei den Marienbildnissen die Mutter im Zentrum. Sie blickt aus dem Bild heraus, ihr Ausdruck ist es, der dem Bildnis in erster Linie seine Wirkung verleiht. Die Kinder sind passiv und ohne Gestik. Sie bleiben Symbole, sind aber 57
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
durch die Komposition und durch ihre Nacktheit als reine, unschuldige Erlöserfiguren gekennzeichnet. Ein Beispiel dafür ist das Gemälde Petrograd 1918 von Kuz’ma S. PetrovVodkin (1878–1939) aus dem Jahr 1920 (Abb. 2.3). Weitere Beispiele sind die beiden Gemälde von Michail A. Savickij (1922–2010) mit den Titeln Partizanskaja Madonna (1967) und Partizanskaja Madonna Minskaja (1978) (Abb. 2.4). Die stillende Partizanskaja Madonna (nicht abgebildet) kontrastiert mit dem Elend und der Gewalt des Krieges. Die Komposition ist angelehnt an ein Gemälde Aleksej G. Venecianovs (1780–1847) mit dem Titel Heu (Senokos) aus dem Jahr 1820. Die Darstellungsweise Savickijs verdankt sich dem »strengen Stil«, der nach dem Tod Stalins in der sowjetischen Kunst aufkam und sich an der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre orientierte. Er zeigte die Sowjetmenschen in der Härte ihres Alltags und weniger idealisiert. Petrov-Vodkins Darstellungen stillender Mütter wie auch Savickijs Madonnen griffen Traditionen der Ikonenmalerei auf : sphärische Perspektive, flächiger Farbauftrag und eine Lichtführung, die das hell leuchtende Kind ins Zentrum stellt. Die Madonnen tragen die roten Umhänge als Zeichen ihres vorbestimmten Leidenswegs. Die Verbindung von religiöser Symbolik mit atheistisch geprägter sowjetischer Erinnerungskultur war ein gewagter Grenzgang. In der Kriegszeit unter Stalin war die Kirche Verbündete im mit allen Mitteln geführten Kampf gegen den Gegner gewesen. Das hatte zu einer Lockerung der Repressionen geführt. Dagegen war das Tauwetter unter Chruščëv zwar von künstlerischen Freiheiten, aber auch von antireligiösen Kampagnen begleitet. Michail Savickij hatte die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau überlebt und war als Kriegsheld ausgezeichnet. Seine Allegorie auf Krieg, Leid und Hoffnung machte großen Eindruck auf der Allsowjetischen Kunstausstellung 1967.27 Die Tretjakov-Galerie übernahm das Gemälde, und es wurde auf zahlreichen Ausstellungen im Ausland gezeigt. Die zweite Version entstand, weil das Museum in Minsk sich eine Kopie des Meisterwerks des belarussischen Kriegshelden und Künstlers wünschte. Der Maler schuf jedoch ein Jahrzehnt später ein ganz neues Bild. Der Wechsel im Stil von Traditionen der Ikonenmalerei hin zu einer deutlichen Anlehnung an die italienische Renaissance vertrug sich vielleicht besser mit dem Sozialistischen Realismus und der offiziellen Selbstwahrnehmung der Sowjetunion als Hüterin des europäischen kulturellen Erbes. Das hochgehaltene Kind
Die europäischen Grundformen des Kindheitsmythos, nämlich das göttliche Kind und das Kind als Verkörperung von Ursprung, Natur und goldenem Zeitalter, zirkulieren seit dem 18. Jahrhundert in Kunst, Literatur und populärkulturellen Medien. Die mythischen Bedeutungen der Kindheit als Symbol werden laufend aktualisiert.28 Das galt in besonderem Maße für die mythenversessene Zeit um 1900. Die Begriffe Mythos und Archetyp sind für das Konzept der Pathosformel zentral, da auch Aby Warburg von überzeitlichen Formen menschlichen Gefühlsausdrucks in künstlerischen Darstellungen ausging, die aber in kul58
Kinder und Pathos
Abb. 2.5 : Fedor V. Antonov (1904–1994), Plakat Ehre den sowjetischen Müttern !, 1944 Der Titel bezieht sich zwar allgemein auf die sowjetischen Mütter, aber die Anlehnung an die christliche Ikonografie ist unverkennbar : Der entrückte Ausdruck des blonden, halbnackten Kindes im weißen Hemdchen verweist ebenso wie seine Darbietung vor dem lichten Himmel auf eine übernatürliche Kraft. Abb. 2.6 : Iraklij M. Toidze (1902–1985), Plakat Stalins Liebkosung erhellt die Zukunft unserer Kinderschar !, 1947 Stalin trägt das Kind mit der roten sowjetischen Fahne in eine strahlende Zukunft. In seinem Beschützerpathos erinnert die Pose an christliche Heiligendarstellungen, etwa an den Heiligen Christophorus.
turell bedingten, unterschiedlichen Formen aktualisiert wurden. Ebenso werden immer wieder neue Pathosformeln geprägt oder ihre Bedeutungen wandeln sich durch Überlagerungen alter und neuer Sinngebungen. In der Sowjetunion verkörperte das in die Höhe gehaltene oder auf der Schulter getragene Kleinkind nicht nur die Zukunft, sondern wurde durch den engen Bezug zur christlichen Ikonografie selbst zum Heilsbringer stilisiert. In den sowjetischen Darstellungen lassen sich drei Formen der Geste des hochgehaltenen Kindes unterscheiden : das Kind auf gestreckten Armen, auf der Schulter und im Arm. In den Darstellungen überlagerten sich ältere Motivtraditionen und sowjetische Elemente. So kam es etwa darauf an, wer das Kind hielt, wie alt es war und ob es bekleidet war : Hielt es die Mutter, wurde eine archetypische Urbeziehung aufgerufen. Zugleich klang die christliche Tradition der Madonnendarstellungen an, daher erhielt das Kind eine über die unmittelbare 59
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Beziehung zur Mutter hinausgehende Bedeutung, die durch die Darstellung und den Text mitbestimmt werden konnte. Kinder, die von beiden Eltern oder auch von einer Gruppe von Personen auf den Schultern getragen wurden, verkörperten die kommende Generation und die künftige Gesellschaft. Hielt ein Herrscher ein Kind, konnte er dadurch an das Christophorus-Motiv anschließen. In diesem Fall war das Kind eine unabhängige Größe und verkörperte die Welt von morgen. Hielt ein Herrscher ein Kind im Arm, nahm er die Rolle des väterlichen Beschützers ein. Das göttliche Kind in der sowjetischen Ikonografie
In der christlichen Ikonografie verweisen göttliche Kinder auf das »Wesen Gottes«. Dabei sind sie, insbesondere wenn sie nackt dargestellt sind, einerseits schutzlos, ausgeliefert und bedroht, andererseits besitzen sie zugleich übermenschliche Kräfte.29 Die dem Mythos des göttlichen Kindes geschuldeten Attribute sind eine geheimnisvolle oder unbekannte Herkunft in Anlehnung an die übernatürliche Geburt, Elternlosigkeit, Doppelgeschlechtlichkeit, die Gestalt des Heilsbringers und wunderbare Weisheit. Zahlreiche kindliche Helden der Literatur oder des Films weisen solche MerkAbb. 2.7 : Titelblatt der Zeitschrift Ogonëk male auf, auch in trivialisierter Form : Sie sind Nr. 18, 1950 elternlos, können ein kluges Rätsel lösen und Schon von klein auf wurden Kinder in die sind den Erwachsenen überlegen. sowjetischen Festrituale eingebunden : Die Fotografie zeigt eine Mutter mit Kind Die Formel des Kindes auf ausgestreckten auf der Schulter, das zum Feiertag am Armen verehrt und feiert das Kind als Heils1. Mai ein rotes Fähnchen schwenkt. Die bringer. Darauf weist auch die Gestalt der KinWeitergabe des Wohlstands und Glücks der Sowjetmenschen über die Generationen ist der in den sowjetischen Darstellungen hin : Die das Thema. dargebotenen Kinder sind immer mehr oder weniger nackt, denn Nacktheit symbolisiert paradiesische Unschuld.30 Sie sind noch klein und ihr blondgelocktes, engelhaftes Aussehen greift die Darstellungstraditionen des Christuskindes auf (Abb. 2.5). All das verleiht den Darstellungen eine über das Konkrete hinausgehende Bedeutung – welche, muss aus dem jeweiligen Bildinhalt und seinem Entstehungskontext herausgelesen werden. Häufig erhebt das Kind den Arm in einer Geste, die in die Zukunft weist, aber auch an den zuweilen erhobenen Arm des Christuskindes erinnert. 60
Kinder und Pathos
In Heiligen- und Madonnendarstellungen erscheinen die Christuskinder als blonde Heilsbringer mit erhobenem Arm. Sie segnen, weisen in die Zukunft und verkörpern das Göttliche. Ein berühmtes Beispiel ist die Darstellung des Heiligen Christophorus von Tizian aus dem Jahr 1524. Die Komposition betont mit den wehenden Umhängen, der gedrehten Haltung und dem nach oben und hinten zum Kind auf der Schulter gewendeten Blick sowie mit dem erhobenen Arm des Knaben den überhöhten Gefühlsausdruck. Als Fresko im Dogenpalast, dem Regierungssitz Venedigs, wurde der Heilige zur Allegorie der Macht und des Herrschaftsauftrags der Stadt. Auch als Stich fand das Motiv weite Verbreitung. Ähnlich allegorisch (wenn auch in sowjetischer Manier weit weniger gefühlsbewegt) tritt Stalin auf einem Plakat von 1947 als Beschützer, Retter und Machthaber zugleich in Erscheinung (Abb. 2.6). Die Farbigkeit ist von besonderer Bedeutung. In der christlichen Ikonografie und in der Ikonenmalerei ganz besonders sind alle Elemente symbolisch besetzt. Die Darstellungen sind nie Selbstzweck, sondern verweisen immer auf Höheres, auf Göttliches und auf heilsgeschichtliche Zusammenhänge. In der Ikonenmalerei ist jeder Farbe eine eigenständige symbolische Bedeutung zugewiesen : Gold steht für das Himmlische und das Göttliche, Weiß für Unschuld und Reinheit. Letzteres wird gerne für die Gewänder der Heiligen, Hemden der Kinder und Flügel der Engel verwendet, insbesondere aber für Christus den Erlöser, der häufig ganz in Weiß erscheint. So tragen auch die sowjetischen Heilsbringer meistens weiße Gewänder, die Sportlerinnen und Sportler als Neue Menschen, die hochgehaltenen Kleinkinder oder die Lichtgestalt Stalin in einer weißen Fantasieuniform. Die dunkelblaue Farbe symbolisiert als Farbe des Himmels die Sehnsucht der Welt nach Gott. Blau ist Symbol für die Unendlichkeit des Himmels, Geheimnis, Offenbarung und Weisheit. Das blaue Gewand des Erlösers ist Zeichen seiner Göttlichkeit. Es ist die Farbe der Apostel. Auf der Darstellung von Toidzes Stalins Liebkosung erhellt die Zukunft unserer Kinderschar trägt Stalin die Farbe Dunkelblau und hält das weißgekleidete Kind in die Höhe. Die rote Farbe kennzeichnet die Ruhmestat des irdischen Märtyrertums und im Gewand der Muttergottes die Vorbestimmtheit ihres Leidens. Der rote Umhang ist Zeichen des irdischen Leidenswegs. In der sozialistischen Ikonografie ist die rote Farbe mit dem Weg zur vorbestimmten Erlösung verknüpft. Die Fotografie einer Mutter mit Kind auf der Schulter auf dem Umschlag der Ausgabe von Ogonëk, das zum 1. Mai 1950 ein rotes Fähnchen schwenkt, weist ebenfalls über das Individuelle hinaus : Die Neigung der Köpfe, die Haltung des Kindes sowie Kleidung, Frisuren und Körper von Mutter und Kind verbinden das Kind mit der Mutter, die die Werte, den Wohlstand und das Glück der Sowjetmenschen weitergibt (Abb. 2.7). Im sowjetischen Kontext sind die Kontinuität und Weitergabe der sowjetischen Mythen das zentrale Motiv. Es realisiert sich beispielsweise in den Kombinationen »Kinder und aufgehende Sonne« oder »Kinder und rote Fahne« – viele Kinder schwenken rote Fähnchen, halten sie im erhobenen Arm und sind somit schon von klein auf in die sowjetischen Festrituale eingebunden.31 61
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.8 : Viktor I. Govorkov (1906–1974) Plakat Dem Sowjetland – sowjetische Recken !, 1935 Der Sportler mit Kind repräsentiert den Prototypen des weißen, russischen Neuen Menschen : In weißer Sportkleidung verkörpern Mann und Kind Stärke und Leistungskraft der Sowjetunion. Abb. 2.9 : Mark Markov-Grinberg (1907–2006), Glückliche Mutterschaft, 1935, Fotografie aus dem Gebiet Stavropol Auch die als rückständig betrachteten ländlichen Regionen und die Bäuerinnen sollten von der Kollektivierung profitieren und eine moderne Kinderbetreuung und Mütterfürsorge erhalten.
Das sowjetische Projekt : Nation und Generation
Im sowjetischen Kontext überlagerte sich die Gestalt des Heilsbringers mit derjenigen des sowjetischen Generationenprojekts, das Verzicht im Heute für die Zukunft der Kinder forderte. Insbesondere bei den Themen Hygiene und Sport ging es um den Neuen Menschen, das zentrale sowjetische Modernisierungsprojekt. Der Sportler mit Kind auf dem Plakat von Viktor I. Govorkov 1935 ist ein Prototyp des weißen, russischen Neuen Menschen ; Mann und Kind – den Arm erhoben, auf der Brust ein roter Stern – sind in der weißen Sportkleidung zu sehen ; im Hintergrund ein Baum mit reifen Früchten und ein Flugzeug (Abb. 2.8). Die Aufnahme von Mark Markov-Grinberg aus demselben Jahr zeigt »glückliche Mutterschaft« am Beispiel von Kolchosbäuerinnen in der Gegend von Stavropol (Abb. 2.9). Eine Gruppe von fünf Bäue62
Kinder und Pathos
Abb. 2.10 : Fotografie aus dem Bildband Die Frauen der Ingenieure (Ženy inženerov), Moskau 1937 Die Bildunterschrift lautet : »Da sind sie, unsere Kerle – glückliche, gesunde Kinder starker, kraftvoller Mütter !« Besonders die Sportparaden der 1930er Jahre über den Roten Platz führten die sozialen Errungenschaften der Sowjetunion vor – die Förderung der Mütter und Kinder sowie die Leistungen der Mütter.
rinnen mit Heugabeln und Rechen schreitet auf den Fotografen zu, eine trägt ein nacktes Kleinkind, das auf ihrer Schulter steht. Im Hintergrund raucht der Auspuff einer Landmaschine und hält den hölzernen Rechen und Heugabeln die Mechanisierung der Landwirtschaft entgegen. Die Nacktheit und die ungewöhnliche Pose des Kindes verleihen diesem eine heilsgeschichtlich überhöhte Bedeutung. In vielen Darstellungen sitzt oder steht das Kind auf der Schulter, oft seitlich. Deutlich ist einerseits die Anlehnung an das Christophorus-Motiv. Die Botschaft war aber meistens einfacher : Die Kinder verkörperten die Zukunft. An Sportparaden der 1930er Jahre marschierten Brigaden weißberockter Mütter mit Kindern auf der Schulter, die ihrerseits rote Fähnchen und Blumen in die Höhe streckten (Abb. 2.10). Hier stand der Beitrag der Mütter an die Gesellschaft im Zentrum : Sie boten ihre Kinder dar. Das Motiv der Kinder an den Paraden bedeutete aber auch die Weitergabe der revolutionären Ideen an die nächste Generation. Deshalb hielten die Kleinkinder auf Plakaten oder Postkarten in ihren stets erhobenen Händen oft rote Fähnchen. Im Vergleich zu den in die Sonne oder in den Himmel gehaltenen Kleinkindern waren diese Kinder etwas älter und aktiver. Eltern 63
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
wurden auch als Zuschauer dazu angehalten, ihre Kinder auf die Festparaden mitzunehmen und auf die Schultern zu setzen, damit sie etwas sehen konnten.32 Das Kind als Verkörperung der künftigen Gesellschaft erinnert auch an den Topos der Gleichsetzung von Nation und Kindheit, der Identität und starke Bilder der Gemeinschaft stiftet : Die Kinder sind so alt wie die Nation, die Nation ist so jung und kraftvoll wie die Kinder. Im Fall der Sowjetunion wurde das Narrativ der Nation und ihres Alters von dem der »sowjetischen Generationen« überlagert. Die Vorstellung von einer Generation als Erfahrungsgemeinschaft wird von der Forschung und der Politik zur Einordnung, aber auch von den Menschen zur Selbstverortung verwendet. Im sowjetischen Kontext spielte der Begriff der Generation eine wichtige Rolle bei der Imagination eines transnationalen Sowjetvolkes, aber auch für das Gefühl der Zugehörigkeit unter Altersgenossen. In der Sowjetunion – aber auch in postsowjetischen wie in anderen europäischen Ländern – herrschte die Meinung, dass Generationenzugehörigkeit mit einem bestimmten Erfahrungskontext und einem spezifischen »Generationencharakter« einhergehe. Für die Selbstverortung war in der Sowjetunion die Angabe des Geburtsjahrs, das die Zugehörigkeit zu einer vorgestellten Erfahrungsgemeinschaft implizierte, allgemein verbreitet.33 Die Sowjetbürger sprachen von der »ersten« und der »letzten sowjetischen Generation«,34 dazwischen lagen die »Kriegsgeneration« und die Generation der šestidesjatniki, der »Sechziger«. Spät- und postsozialistische Autobiografien spiegelten das eigene Leben nicht selten am Fortschreiten des sowjetischen Experiments.35 Diese Einteilung erfolgte jedoch vor allem nach dessen Ende. Zu Sowjetzeiten war die Weitergabe der Werte und Ideale der Revolution an die jeweils jüngere Generation ein auch in den Bildwelten allgegenwärtiges Motiv. Bis in die 1930er Jahre wurde das Alter der Sowjetunion regelmäßig in den heranwachsenden oktobrjata, den in der Revolutionszeit geborenen »Kindern des Oktober« gespiegelt.36 Anfangs waren diese im Bild jung und stürmisch, 1937 verkörperten die selbstbewussten und siegesgewissen Figuren der Kolossalstatue Arbeiter und Kolchosbäuerin diese »Kinder der Revolution« dann im Alter von 20 Jahren. Mit dem Heranwachsen dieser »ersten sowjetischen Generation« wandelte sich die Zuschreibung. Die Jugend sollte nun die begonnene Aufbauarbeit weiterführen.37 Doch während sie einerseits gefeiert wurden, lösten diese lang ersehnten Verkörperungen der proletarischen Zukunft in der Partei, dem Komsomol und in den öffentlichen Diskursen auch Unsicherheit aus. Denn ihr Erscheinungsbild und Auftreten war das einer neuen sowjetischen Intelligencija und entsprach dem Habitus der verfemten Bourgeoisie. Ihnen fehlte die Erfahrung des proletarischen Klassenkampfes. Sie waren im Gegensatz zur älteren Generation, die in den 1930er Jahren an den Machthebeln saß, gebildet, kultiviert und lasen viel. Neben dem Kollektiv hatten sie auch persönliche Interessen und ein unkontrollierbares Innenleben. Die Ängste betrafen die Frage, ob sie sich eingliedern würden in den Aufbau des Kommunismus.38 Die heroisierenden Darstellungen der starken jungen sowjetischen Männer und Frauen hatten deshalb auch eine beschwörende Funktion. Sie überdeckten solche Ängste und schufen Vorbilder. 64
Kinder und Pathos
Das Motiv der auf den Betrachter zumarschierenden Sowjetmenschen an einer Festparade war Teil des sowjetischen Kanons (vgl. Abb. 2.2). Die verdienten Sowjetbürgerinnen und -bürger, die auf diesen monumentalen Gemälden und den davon produzierten Postkarten in die lichte Zukunft marschieren, sind jung und kräftig, die Figuren im Zentrum sind immer russischer Nationalität und weiß gekleidet. Sie schreiten zielbewusst in die Zukunft, flankiert von einigen älteren Bürgern und Angehörigen nichtrussischer Ethnien. 2014 wurde bei Renovationsarbeiten hinter einer Wand im zentralen Pavillon der VDNCh (Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft) ein Relief von Evgenij V. Vučetič (1908–1974) mit dem Titel Ehre dem Sowjetvolk, Bannerträger des Friedens entdeckt. Im Gegensatz zu den Gemälden sind die beiden Kleinkinder auf den Schultern je eines Mannes und einer Frau auf den beide Flügeln des Reliefs völlig nackt und somit Symbole paradiesischer Unschuld.39 Vor allem das einzelne Kleinkind weist auf die christliche Tradition dieser Figur des Heilsbringers hin, während die Komposition mit der Gruppe die Erschaffung der Zukunft als kollektives Projekt darstellt. Sowjetische Kriegspropaganda : Pietà und Schutzgeste
Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einem Bruch im Narrativ der glücklichen und behüteten sowjetischen Kindheit. Nun kam Abb. 2.11 : Dementij A. Šmarinov (1907– einerseits der Topos der geopferten Kindheit 1999), Plakat Räche !, 1942 hinzu, andererseits die Bilder von Kindern Der Blick der Mutter richtet sich auf die Betrachterin – das entspricht dem als Märtyrer und Helden.40 Kinder waren nun Appellcharakter des Mediums. Der Künstler nicht mehr brav, behütet und passiv, sondern Dementij Šmarinov aktualisierte Vorbilder wurden wie zu Revolutionszeiten zu aktiven, der Pietà-Darstellung, die wie die Skulptur von Michelangelo im Petersdom zum Kanon arbeitenden, starken Kindern. Im Bild erschie- der abendländischen Kunstgeschichte nen sie als »kleine Erwachsene« und Helfer. gehören. Die jugendlichen Kriegsheldinnen und helden, die als Vorbilder dienten, waren zwar selbst keine Kinder mehr, kehrten aber entsprechend der märchenhaften, zyklischen Struktur sozrealistischer Erzählungen zurück, um die jüngeren Kinder zu erziehen.41 Nach dem Krieg wurde um einige wenige Helden wie Zoja A. Kosmodemjanskaja (1923–1941) und Aleksandr M. Matrosov (1924–1943) 65
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.12 : Fotografie aus dem Archiv der Berliner Zeitung, Straße im belagerten Leningrad, 1942 Im Hintergrund ist das Plakat von Viktor Koreckij Soldat der Roten Armee, rette uns ! zu sehen. Es wurde 1942 in einer Auflage von 400.000 Stück sowie auch als Postkarte verbreitet und vielfach an den Kriegsschauplätzen ausgehängt, was zu dem Beinamen Front-Madonna führte. Das Foto zeigt eindrücklich, wie solche Plakate in ihren Kontexten funktionierten.
der Mythos der geopferten Kindheit konstruiert, während der sowjetische Staat für sich beanspruchte, während des Krieges vorbildlich für die Kinder gesorgt zu haben.42 Der Zweite Weltkrieg brachte die Auferstehung des »russischen Recken« auf Plakaten, Postkarten und Wandbehängen. Frauen und Kinder appellierten auf expressiven Plakaten an den Beschützerinstinkt der Soldaten. Die Gefährdung, aber auch der Appell an die Soldaten als Verteidiger des Mutterlandes und Beschützer ihrer Familien führten zu einer Konjunktur von Schutzgesten im Bild. Das Kind im Arm ist eine solche Geste des Schutzes, die im Zusammenhang des Krieges öfter in Erscheinung trat. Ein zentrales Grundmuster neben der schützenden Umarmung ist das wiederum der christlichen Ikonografie entlehnte Motiv der Pietà (Abb. 2.11). Wie auch beim Motiv der Partisanen-Madonna (Abb. 2.4) oder der sogenannten Front-Madonna (Abb. 2.12) ist der Rückgriff auf christliche Motive mit der Lage höchster Bedrängnis verbunden (Abb. 2.13). Das steht in Einklang mit dem Umstand, dass während des Krieges die orthodoxe Kirche weniger verfolgt, sondern für den Schutz des Vaterlandes vereinnahmt wurde. Maria A. Nesterova (1897–1965) schuf 1942 ein 66
Kinder und Pathos
Plakat mit dem Titel Papa, töte den Deutschen ! (Abb. 2.14). Darauf war ein aufrechtes Kind vor seiner toten Mutter zu sehen, also eine Umkehrung des Motivs. Im Gegensatz zu Darstellungen der toten Mutter mit lebendem Kind43 ist das Kind auf der Darstellung von Nesterova ein Mädchen im Vorschulalter, halbnackt und schutzbedürftig im weißen Hemdchen. Einerseits waren also während des Krieges Kinder als Akteure zum Kampf gegen den Feind an der Heimatfront aufgerufen, andererseits gab es die Darstellungen der Kinder als passive Opfer. Alter, Geschlecht, Aussehen und Bekleidung der Kinder waren von Bedeutung : Die Heilsbringer waren in der Regel knapp dem Säuglingsalter entwachsene Jungen. Die im Arm gehaltenen und so beschützten Kinder dagegen waren auch auf den zahlreichen Kriegsplakaten immer Mädchen im Grundschulalter (die schon vergewaltigt werden könnten), weil es darum ging, die Soldaten für den Kampf zu mobilisieren. Hass, Rache- und Tötungsappelle wandelten sich in der Nachkriegszeit zum Bild des sowjetischen Soldaten als Retters und Befreiers.
Abb. 2.13 : Dementij A. Šmarinov (1907– 1999), Plakat Tod den Faschisten !, 1943 Auf den Kriegsplakaten waren es vor allem die Mütter, die wie auf der Front-Madonna oder diesem Plakat ihr Kind schützend im Arm hielten.
Der Soldat-Befreier zwischen Drachentöter und Christophorus
Ein bekanntes Beispiel für das schützend im Arm gehaltene Kind ist das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow (Abb. 2.15). Das ikonische Denkmal von Evgenij Vučetič wurde im Jahr 1949 im Treptower Park eingeweiht.44 Die 12 Meter hohe Statue aus Bronze ist Teil eines größeren Denkmalkomplexes. Sie steht auf einem klassizistischen zweistufigen, als Krypta ausgestalteten steinernen Sockel, der sich wiederum auf einem eigens aufgeschütteten Grabhügel (kurgan) erhebt. In dem Denkmal mischen sich Elemente antiker und christlicher Ikonografie. Das entspricht einer langen europäischen Tradition der Kriegerdenkmäler.45 Ein Soldat in Uniform mit einem Umhang über den Schultern steht mit erhobenem Kopf auf dem Sockel. Das Schwert in der rechten Hand ist zum Boden gesenkt, der linke Fuß steht auf dem zerbrochenen Hakenkreuz. Bewusst wurde hier das politische Symbol statt des nationalen Symbols des Reichsadlers gewählt. Auf dem linken Arm trägt der Soldat ein kleines Mädchen, das sich an seinen Kragen klammert. Während der Blick des Soldaten in die Ferne gerichtet ist, schaut das Kind leicht abwärts 67
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.14 : Maria A. Nesterova (1897–1965), Plakat Papa, töte den Deutschen !, 1942 Aus dem halbnackten kleinen Mädchen vor seiner toten Mutter spricht Schutzbedürftigkeit und Ausgeliefertsein. Abb. 2.15 : Evgenyj V. Vučetič (1908–1974), Monument im Treptower Park in Berlin Soldat-Befreier, 1949
in Richtung des Betrachters. Das gesenkte Schwert über dem zerbrochenen Hakenkreuz lehnt sich an das archetypische Heldenmotiv des Drachentöters, des Heiligen Georg an, das ein fester Teil der sowjetischen Ikonografie war.46 Das Schwert ist ein Tribut an dieses ikonografische Vorbild und zugleich an die archaische Symbolik des Schwertes : Im Zweiten Weltkrieg kämpften sowjetische Soldaten nicht mit Schwertern. Allerdings wurden häufig, beispielsweise auf Postkartenserien, mittelalterliche Recken mit Rüstung und Schwert abgebildet. Auch auf sowjetischen Kriegsplakaten wurde gerne durch das Rittermotiv im Hintergrund der Bezug zur alten Rus hergestellt.47 Der Film Aleksandr Nevskij von Sergej M. Ėjzenštejn (1891–1953) und Dmitrij I. Vasil’ev aus dem Jahr 1938 war während des Krieges außerordentlich populär. Darin spricht Aleksandr Nevskij den Satz : »Wer uns mit dem Schwert angreift, kommt durch das Schwert um !« (Kto nam s mečom pridet, tot ot meča pogibnet !), bevor er die deutschen Ordensritter vernichtend schlägt. Das Motiv zitiert zugleich die Bildtradition des Heiligen Christophorus, bei dem das Kind die (friedliche) Zukunft bedeutet. Durch das Kind auf dem Arm verkörpert der Sol68
Kinder und Pathos
dat die Tugend der Barmherzigkeit. Die dazugehörige Legende vom sowjetischen Soldaten, der ein von den Nationalsozialisten verfolgtes deutsches Mädchen vor dem Ertrinken rettete, fand ihren Weg in sowjetische Reiseführer und Kinderbücher.48 In der DDR wurde die Skulptur als Teil der Staatsemblematik der Befreiung vom Faschismus kanonisiert49 und erschien auf zahlreichen Briefmarken.50 Auch auf sowjetischen Briefmarken und Postkarten wurde sie zum Tag des Sieges vor allem nach 1965 abgebildet, als der Kriegskult mit der Einführung des Feiertags am 9. Mai einsetzte (Abb. 2.16). Die Skulptur wurde zum Symbol des Sieges über Nazideutschland und der Befreiung Europas auf Briefmarken, Münzen oder Teeglashaltern. Ihre ungebrochene Popularität zeigt ein monumentales Graffiti des Denkmals an einer Fassade beim Bol’šoj Kamennyj Most an der Ulica Mochovaja in Moskau. Eine Tafel informiert darüber, dass das Graffitiprojekt von 2015 Teil der Maßnahmen des Moskauer Kulturdepartements zum 70. Jahrestag des Sieges im »Großen Vaterländischen Krieg« war.
Abb. 2.16 : Sowjetische Briefmarke mit dem Motiv des Soldaten-Befreiers (Treptower Park), 1970 Das Denkmal Soldat-Befreier gilt als prägend für die offizielle sowjetische und DDR-Kriegserinnerung. Es zirkulierte in unzähligen Wiedergaben in allen erdenklichen Medien, auf Gedenkmünzen, als Tischzier oder Meißner Porzellantafel. Zum 40. Jahrestag des Sieges 1985 wurde es in der Sowjetunion als Briefmarke herausgebracht.
Neue Sowjetmenschen als Heilsbringer und Befreier
Der sowjetische Soldat war Befreier, Retter, Friedensbringer, Bote einer besseren Welt. Rund um den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« entstand ein starker Mythos, der sich mit dem Kindheitsmythos verband : Magische Praktiken verwandelten Kinder in den Händen von Sowjetmenschen in Friedensboten. Dieses Grundmotiv findet sich auf einer Postkarte aus dem Jahr 1951 :51 Es handelt sich um eine Reproduktion eines Gemäldes von Georgij M. Jablonskij (1915–1956), Die Unsrigen in Prag, zur Befreiung Prags 1945. Hier reicht eine junge Frau in einem weißen Kleid ihr blondes, halbnacktes Kleinkind in die ausgestreckten Arme eines sowjetischen Soldaten auf den Panzer hinauf (Abb. 2.17). Die Geste bezeichnet die beiden zentralen Figuren als Friedensboten und Heilsbringer : den sowjetischen Soldaten und den blondgelockten Knaben. Zugleich entsteht ein familiäres Motiv, das in zahlreichen Szenen der »Heimkehr« in der sowjetischen 69
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.17 : Georgij M. Jablonskij (1915–1956), Die Unsrigen in Prag, 1948/1949, Öl auf Leinwand. Foto aus Ogonëk Nr. 18, Mai 1970 Die sowjetischen Truppen werden von einer Menschenmenge auf dem Prager Altstadtplatz begrüßt. Ein Sonnenstrahl beleuchtet die Tschechin, die ihr Kind den sowjetischen Soldaten auf ihrem Panzer übergibt. Das Motiv des Gemäldes erschien 1951 auch als Postkarte. Die hier abgebildetete Doppelseite in der Illustrierten Ogonëk zum Tag des Sieges 1970 konnte als Poster herausgetrennt werden.
Malerei des Sozialistischen Realismus zelebriert wurde. Die Geste fand sich auch in der fotografischen Berichterstattung (Abb. 2.18). Die sozialistischen Länder erschienen als eine Familie, in der die Sowjetunion die väterliche Führungsrolle übernahm. Ein Beispiel für die magische Völkerverbindung aus eigener Beobachtung schildert die Kulturwissenschaftlerin Ol’ga Šaburova für das Jahr 1978. Damals gab die sowjetische Delegation der XI. Jugendspiele auf dem Rückweg aus Kuba ein Konzert in Barcelona – die Delegierten nannten sich Botschafter des Friedens. Am Ende des Konzerts reichten die spanischen Zuhörer ihre Kleininder auf die Bühne in die Arme der jungen Sowjetmenschen, damit sie sie berührten – im Saal herrschte lauter Jubel.52 Die Figur des Heilsbringers verdoppelte sich in diesem Motiv : Nicht nur das Kind, sondern auch die sowjetischen Menschen erschienen als Heils- und Friedensbringerinnen. Ihnen wurden magische Kräfte zugeschrieben. 70
Kinder und Pathos
Kinder- und Friedenskult der Nachkriegszeit
Die Nachkriegszeit im Hochstalinismus brachte den patriotischen Triumphalstil in die Bildwelten. Die düsteren Motive der Kriegszeit, Chiaroscuro-Szenarien bedrohter Mütter und Kinder mit deutlichen Anleihen an die christliche Ikonografie, wichen nun friedvollen Motiven der Fürsorge in Pastelltönen. Satte Säuglinge räkelten sich unter roten Samtvorhängen. Kinder aller sowjetischen Völker scharten sich um den »großen Stalin«, der die Vaterrolle übernahm in einem Land, dem nach Millionen von Kriegstoten die Männer und Väter fehlten. Im Alltag ließ sich Stalin vertreten durch die Mutter, die Krankenschwester und die Lehrerin. In zahlreichen Darstellungen ist Stalin als Bild im Bild und väterliche Autorität vertreten. In der Kriegs- und Nachkriegszeit erfuhr der Kinderkult einen neuen Höhepunkt : Sowjetische Kinder sollten liebevoll umsorgt aufwachsen, der Staat übernahm die Rolle der gefallenen Väter. Starke Frauenfiguren umgaben die Kleinkinder im Bild : Nach Kriegsende und mit Einsetzen des Kalten Krieges zeigte sich eine teilweise parallele Entwicklung der Figuren von der strengen Kämpferin für den bedrohten Frieden hin zu Darstellungen einer emotionalen Beziehung zwischen (Pflege)Mutter und Kind. In der Thematik von Frauen und Kindern ging es um die Sicherung des Friedens, aber auch um die Wiederherstellung von »Normalität«, die wie in vielen Ländern mit der Etablierung traditioneller Geschlechter- und Familienverhältnisse einherging (Abb. 2.19). Es gab aber auch das explizit als elternlos dargestellte Kind. Die Kinder waren in der christlichen Tradition des nackten, blonden, männlichen Heilsbringers abgebildet. Ältere Motive wurden aufgegriffen und im üppigen Triumphalstil und in der an die Renaissance angelehnten Malweise des Hochstalinismus neu interpretiert ; beispielsweise auf den Plakaten Abb. 2.18 : Sowjetischer Soldat mit einem von Fedor S. Šurpin (1904-1972), Wachse he- tschechischen Jungen im Arm, Prag im Mai 1944 ran, Recke ! Dich behütet die Sowjetische Armee ! Der sowjetische Soldat verkörpert von 1948 (Abb. 2.21) und dem Plakat von Ni- Humanismus und Völkerfreundschaft, kolaj N. Žukov (1908–1973), Wir umgeben die ein beliebtes Motiv nach dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen der sich ausweitenden Waisen mit mütterlicher Fürsorge und Liebe ! Sowjetmacht. Im Bild ist die Formel des von 1947 (Abb. 2.22). Die Bezeichnung Recke Soldat-Befreiers angesprochen. 71
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.19.: Viktor S. Ivanov (1909–1968), Plakat Sei glücklich, Liebling !, 1955 Das hochgehaltene Kind steht hier im Zentrum der glücklichen Kleinfamilie, die sich von den Kriegsfolgen erholt. Abb. 2.20 : Boris F. Berezovskij (1910–1977), Plakat Wachse heran, Recke !, 1950 Das Kind auf der Waage stellt die staatliche Fürsorge durch die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen unter Beweis. Das Motiv kommt auch in sowjetischen Fotobüchern häufig vor.
(Abb. 2.20, 2.21) rief als weitere Bedeutungsschicht die russische Mythologie auf : Das Kind würde als Recke die übermenschlichen Kräfte der Sagenfigur Il’ja Muromec erlangen, welcher der Legende zufolge einst die Tataren besiegte. Während des Krieges und in der Nachkriegszeit sollten Kampagnen für Adoptionen und Kinderheime die Zahl der Straßenkinder reduzieren und die sowjetische Gesellschaft als große Familie mit Stalin als Vaterfigur darstellen. Heilsgeschichten von durch Pflegefamilien geretteten Kindern waren ein populärer Topos der sowjetischen Kriegspropaganda und ein Beitrag an der Heimatfront.53 Die Bilder gesunder, fröhlicher Kinder zeugten in der Nachkriegszeit von der Stärke des sowjetischen Staates und der sowjetischen Gesellschaft. In diesen Bildern sollte das Trauma des Krieges und der Verlust der Väter geheilt werden. Die sowjetischen Pathosformeln speisten sich gerade im Bereich der Kinderdarstellungen aus der christlichen Ikonografie. Aus deren Traditionen heraus entwickelten 72
Kinder und Pathos
Abb. 2.21 : Fedor S. Šurpin (1904-1972), Plakat Wachse heran, Recke ! Dich behütet die Sowjetische Armee !, 1948 Das halbnackte Kind ist wie Jesus in der Krippe gebettet. Es verkörpert das elternlose, »göttliche« Kind. Der Stern von Bethlehem ist durch den Roten Stern ersetzt, unter dem alle Kinder als Kinder des Staates dessen umfassender Fürsorge übergeben waren. Das schlafende Kind ist auch ein Heilsbringer : Der sagenhafte Recke Il’ja Muromec, auf den der Titel anspielt, fiel nach seinen Heldentaten jeweils in einen tiefen Schlaf, aus dem er sofort erwachte, wenn das Land in Gefahr war, stets bereit, es zu verteidigen.
sich auf der semantischen Ebene spezifisch sozialistische Bildcodierungen : Christliche Motive wurden mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Basiselemente waren das utopische, sakralisierte und, in der säkularen Variante, das »romantische Kind«. Meist war dieses Kind blond, blauäugig, männlich und russisch. Lenin und die Kinder
Das hochgehaltene Kind konnte aber auch im Sinne der sozialistischen Ikonografie auf die Zukunft verweisen und Teil der sowjetischen Folklore sein. So verhielt es sich bei den zahlreichen Geschichten um »Lenin und die Kinder«.54 Dieses Motiv wurde in sowjetischen Kinderbüchern und in der Ikonografie nach einer »wahren Begebenheit« erzählt :55 Lenin soll 1919 eine Schule für Waisenkinder am Moskauer Stadtrand besucht und dort das Neujahrsfest mit ihnen spielend verbracht haben. 73
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.22 : Nikolaj N. Žukov (1908–1973), Plakat Wir umgeben die Waisen mit mütterlicher Fürsorge und Liebe !, 1947 Im Hintergrund hängt eine Abbildung von Stalin mit dem burjatischen Mädchen Gelja Markizova. Stalin hatte die siebenjährige Tochter des Zweiten Parteisekretärs Burjatiens am 27. Januar 1936 im Kreml getroffen. Im folgenden Jahr wurde der Vater verhaftet und erschossen, die Mutter inhaftiert. Das Bild Stalins mit der Burjatin auf dem Arm zirkulierte weiterhin in zahlreichen Publikationen und sollte Stalin als Vater der Völker der Sowjetunion zeigen (vgl. Kapitel Viele Völker, eine Kindheit, Abb. 5.1–5.4).
Die bekannte Illustration von Nikolaj N. Žukov zur Erzählung Die Neujahrstanne in Sokolniki von Aleksandr T. Kononov (1895–1957), die 1939 erstmals erschien und vielfach neu aufgelegt wurde, zeigt das Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Il’ič das Mädchen hochhält, um es vor der Katze zu »retten«. Besondere Verbreitung fand das Motiv ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre und in den 1960er Jahren, nachdem das Bild von »Väterchen Stalin« aus den Kinderwelten verbannt worden war.56 Eine Briefmarke aus dem Jahr 1960 zeigt einen Ausschnitt aus Žukovs Illustration (Abb. 2.23). Sie zierte auch den Umschlag der ersten Januarausgabe der Zeitschrift Ogonëk von 1970 (Abb. 2.24). Neben Lenin und einem neuen Lenin-Kult wurden weitere »kinderliebende« Bolschewiki wie Feliks E. Dzierżyński (1877–1926) und Sergej M. Kirov (1886–1934) ikonografisch wiederbelebt.57 Fotobücher wie Deti i Lenin (Die Kinder und Lenin, 1924) und Lenin i deti (Lenin und die Kinder, 1925) von Il’ja Lin bildeten in den 1920er Jahren ein eigenes Genre.58 74
Kinder und Pathos
Abb. 2.23 : Briefmarke V. I. Lenin beim Neujahrsfest in Sokolniki (zum 90. Geburtstag Lenins), 1960 Abb. 2.24. Titelblatt der Zeitschrift Ogonëk Nr. 1, 1970 Die Illustration erzählt eine populäre Variante des Themas Lenin mit Kindern – den Besuch Lenins in einem Waisenhaus zum Neujahrsfest. Die Kinder sind mit Puppen, Teddybären und Schaukelpferd als Vorschulkinder typisiert.
Die besondere Nähe Lenins zu den Kindern drückte sich in den altersgerechten LeninDarstellungen als Kind und Jugendlicher aus, welche die oktobrjata und die Pioniere ikonografisch begleiteten. Die Kinder wuchsen mit Lenin als Freund und Ratgeber auf, er war immer in ihrem Alter. Nach seinem Tod wurde Lenin zum Onkel oder zur Vaterfigur. Im Vergleich zur Stalin-Zeit hatten die Darstellungen von Lenin mit Kindern in den 1920er Jahren jedoch einen marginalen Status : Der von Stalin propagierte Kult der Kindheit stützte geschickt seinen eigenen Führerkult und ließ ihn als fürsorglichen, gütigen Vater und Lenker erscheinen.59 Die Darstellungen von Lenin mit Kindern wurden erst in den 1960er Jahren Teil des Mainstreams.60 Lenins Geburtstag im April wurde in der Zeitschrift Ogonëk immer als Anlass speziell für Kinder und Jugendliche dargestellt, die an der Statue des jungen Lenin seiner gedenken und ihm Blumen bringen. Die Künftigen
Eine zentrale sowjetische Pathosformel zeigte die Kinder als Zukunftsträger. Die Motivverbindung von Kind und Zukunft zieht sich durch den sowjetischen Bilderkanon, die Räume und Medien von den 1920er bis in die 1980er Jahre. Dabei wandelten sich die Kontexte und Vorlieben mit der Entwicklung des sowjetischen Projekts. Kinder erschienen zunächst als künftige Flieger und Sportchampions, später als künftige Kosmonau75
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
ten. Lyrische Darstellungen von träumenden Kindern wechselten ab mit Kindern, die als kleine Erwachsene allegorische Funktion hatten. Das Verhältnis zwischen den Generationen war von der gemeinsamen Aufgabe, aber auch von schwer lastender Verantwortung und Angst vor dem Scheitern bestimmt. Kinder symbolisierten den Neubeginn des sozialistischen Projekts nach Stalin. Die Pathosformel der Künftigen war geprägt von transzendenten Elementen : Licht, Himmel, Wasser, aber auch Zeit bargen Verheißungen für eine bessere Zukunft. Wichtige Medien, auf denen Pathosformeln der Kindheit popularisiert wurden, waren Plakate, Briefmarken, Streichholzschachteletiketten (die ebenfalls gesammelt wurden) und Postkarten. Postkarten wurden zu festlichen Anlässen von Kindern und an Kinder versandt. Insbesondere das Neujahrsfest war ein Kinderfest. »Kinder sind unsere Zukunft« und das Motiv der »Künftigen«
In der Malerei ging es zunächst lyrisch-impressionistisch zu. Hier erschienen Kinder in Grüppchen ohne Erwachsene am Wasser, in der Natur, und ganz häufig wurden sie im Titel als »Künftige« bezeichnet. Bekannte Gemälde zeigten Künftige Piloten (Aleksandr Dejneka, 1938, Abb. 2.25), Künftige Champions (Michail G. Bogatyrev, 1924–1999, 1950) oder Künftige Kapitäne (Viktor A. Pribylovskij, 1919–1973, 1963) und wiesen somit Kindheiten als Möglichkeitsräume aus. Die Bild- und Motivtraditionen des Sozialistischen Realismus wandelten sich über die Jahrzehnte nur wenig. Der (erwachsene) Betrachter blickt auf die Kinder und über deren Schulter in die Zukunft. Diese erscheint als lichte Weite, der Himmel und das magische Element des Wassers stehen für Tiefe und Unendlichkeit. Die Kinder sind nackt oder leicht bekleidet, es ist sommerlich warm, sie verschmelzen mit ihrer Umgebung. Sie bewegen sich frei, es sind keine Erwachsenen im Bild – die freie Kindheit, der natürliche Urzustand, die Nähe zur Natur, die magischen Elemente Licht und Wasser, die geschützte, sorgenfreie »Welt der Kinder« fließen ineinander. In den 1950er Jahren ersetzte die Fotografie die Malerei als Leitmedium, zentrale Motive der Kindheitsheterotopien bestanden jedoch fort. Lyrische Darstellungen verträumter und spielender Kinder wechselten aus der Natur in die neuen sozialistischen Städte. Aufnahmen von Kindern am Wasserbecken in den Neubauvierteln, die in Zeitschriften oder Fotobüchern erschienen,61 verbanden die vertrauten Elemente mit dem sowjetischen Fortschritt (Abb. 2.26). Hier erhielten die Menschen neuen Wohnraum, in den Bildern der Kinder in den Interieurs materialisierte sich die Verheißung privaten Glücks. Zugleich wurde dem Prinzip der durchgrünten Stadt gehuldigt. Die hohe Lebensqualität drückte sich in Bildern kindlicher Lebensräume aus, in begrünten Höfen und Planschbecken. Kinder am Fenster waren in den 1950er und 1960er Jahren vor allem in der Malerei und auf Postkarten ein beliebtes Motiv. Beispiele sind die Werke Kinder auf dem Balkon von Petr B. Krochonjatkin (1929–2018) aus dem Jahr 1954, Zu Besuch bei den Enkeln von Aleksandr I. Laktionov (1910–1972) aus dem Jahr 1966 oder Rotkehlchen von Nikolaj I. 76
Kinder und Pathos
Abb. 2.25 : Alexander Dejneka (1899–1969), Künftige Piloten, 1938, Öl auf Leinwand Das Fliegen war eines der Fortschritts- und Zukunftsmotive par excellence in der Malerei des Sozialistischen Realismus. Nicht nur in seiner militärischen Funktion war das Flugzeug wichtig, mit dem Flugzeug ließen sich die entlegenen Regionen des sowjetischen Großreichs erreichen. Die Kinder erscheinen als Söhne dieses sowjetischen Imperiums.
Ul’janov (1922–1990) aus dem Jahr 1964 (Abb. 2.27). Das Motiv der Kinder am Fenster zelebrierte die als »lyrische Stadt« inszenierten neuen Wohngebiete.62 Oft stand der Blick aus dem intimen Interieur durch das Fenster auf die Stadt im Zentrum, mit Blumen im Vordergrund und Kränen oder erleuchteten Fenstern im Hintergrund. Die Kinder blickten in eine lichte Zukunft und vor den Fenstern entfaltete sich das sowjetische neue Leben. Es sind keine Erwachsenen im Bild, aber das ist trügerisch : Position und Blick des Betrachters, aber auch der Malerin oder des Fotografen sind Teil der Bilder und ihrer Aussage. Es geht um die Welt der Kinder, um ihre Zukunft. Die Kompositionen hüllen diesen Kinderalltag aber gleichzeitig auch in eine gläserne Glocke. Auffallend ist neben den Elementen Himmel und Wasser die häufige Verbindung von Kindern und Blumen (Abb. 2.28). Die Darstellung von Kindern im Freien oder mit Attributen wie Blumen, Früchten oder Tieren, die die »Natur« verkörpern, greift auf Bildtra77
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.26 : Illustration in dem Bildband Die Frauen der Ingenieure (Ženy inženerov), Moskau 1937 Das Versprechen staatlicher Fürsorge zog sich nahtlos durch diese Bilder neuer Wohnviertel. Die Kinder blickten nicht mehr in eine weite, lichte Ferne, sondern über das Wasser auf die neuen Wohnhäuser : Ein Stück Zukunft war bereits Realität geworden.
ditionen des 19. Jahrhunderts zurück. Das »natürliche« Kind ist auch das »unschuldige«, »reine« Kind.63 Höher und höher – Kind und Kosmos
Ein transzendentes Element enthält auch die Pathosformel des »Höher und höher !« (»vsë vyše, vyše !«). Sie bezog sich einerseits auf den Aufbau des Kommunismus, die Kräne und die Bauten. Andererseits schien der Aufbruch der Menschheit in den Kosmos unmittelbar bevorzustehen, nachdem die Sowjetunion mit dem Sputnik 1957 und dem ersten bemannten Weltraumflug durch Jurij A. Gagarin (1934–1968) 1961 bahnbrechende Erfolge in der Raumfahrt erzielt hatte. Auf der symbolischen Ebene ging es um die Verschiebung der Richtung sowjetischer Entdeckung und Eroberung aus der Horizontale der Polarflüge und der Neulandgewinnung in die Vertikale, zur Eroberung des Himmels. Weiterhin war diese räumliche Bewegung mit einer zeitlichen Bewegung in die lichte Zukunft verbunden. Schließlich spielte die Erneuerung des revolutionären Enthusiasmus durch die wissenschaftlich-technische Revolution eine Rolle. Die Kinder standen in diesen Kontexten stellvertretend für die künftigen Generationen. Die Gestik verän78
Kinder und Pathos
Abb. 2.27 : Nikolaj I. Ul’janov (1875–1949), Rotkehlchen, 1964, Öl auf Leinwand Der Blick auf dem Fenster verbindet romantische Stimmungen und süße kleine Kinder mit dem Aufbauheroismus der neuen – und idyllischen – Stadt draußen. Abb. 2.28 : V. Slatinskij (Lebensdaten unbekannt), Plakat Marmelade ist für alle Kinder gut, 1952 Das Werbeplakat nimmt die Attribute des süßen Mädchens – Hängekleidchen mit Spitzenkragen, die Haarschleife – auf und versetzt das Kind in eine blühende, üppige Landschaft. Die russische Redewendung »Kinder sind die Blumen des Lebens« (deti – cvety žizni) waren und sind fester Teil des Alltagsrepertoires und der Bildformeln.
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Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Abb. 2.29 : Sof’ja M. Nizovaja-Šablykina (1918–1993), Plakat Wir werden lernen, arbeiten, groß werden. Zu den fernen Sternen werden wir reisen !, 1958 Das Plakat zeigt kurz nach dem Erfolg der ersten Sputnik-Flüge zwei Kinder als Neue Menschen in der dynamischen Pose der Himmelsstürmer. Der Junge mit Pionierhalstuch ist einen Schritt voraus und erklärt dem Mädchen die Zukunft. Abb. 2.30 : Konstantin V. Zotov (1906–1991), S novym godom ! – Zum neuen Jahr !, Neujahrspostkarte von 1962 Die heroischen Formeln von Zukunft und Fortschritt in der Figur des Kindes finden sich auch im kitschigen Alltagsdesign der Grußpostkarten – hier in Kombination mit dem »Väterchen Frost«, dem russischen Weihnachtsmann, der als Christophorus den kleinen Kosmonauten auf der Schulter trägt.
derte sich graduell : Während Arbeiter und Kolchosbäuerin in Muchinas Kolossalstatue noch mit hochgestreckten Armen vorwärts schritten, wiesen die Himmelsstürmer der 1960er Jahre steil nach oben. Auch hier waren die Geschlechterrollen klar verteilt. Der Neue Mensch, der den Himmel eroberte, war androgyn und trat in der Regel als Mann und Frau gemeinsam in Erscheinung. Das Paar würde den Himmel bevölkern, aber der Mann stürmte voran, wies die Richtung und zog die Frau nach. Die Kosmonauten im Bild waren in aller Regel männlich – die Figur Valentina V. Tereškovas (*1937) bestätigte lediglich die Vorreiterrolle des sowjetischen Mannes, dem die Frau in den Kosmos folgte. Während das Plakat von Sof ’ja M. Nizovaja (1918–1993) zwei Kinder als Himmelsstürmer nach der Formel »Höher und höher !« zeigt (Abb. 2.29), gab es auch die Pa80
Kinder und Pathos
Abb. 2.31 : Aleksej I. Lavrov (Lebensdaten unbekannt), Plakat Die Träume der Menschen sind wahr geworden !, 1950 Der Großvater zeigt dem Enkel die blühenden Landschaften der Sowjetunion. Ein Buch des sozialkritischen Schriftstellers Nikolaj A. Nekrasov (1821–1878) sowie das Gemälde Die Wolga-Treidler von Il’ja Repin ergänzen das Setting. Wie Buch und Bild suggerieren, haben sich die Träume und Hoffnungen der Unterdrückten des 19. Jahrhunderts in der Sowjetunion verwirklicht.
thosformel des Christophorus mit Kosmonauten. Das Motiv des kleinen Kosmonauten war vor allem auf Neujahrspostkarten beliebt. Auf einer von Konstantin V. Zotov (1906– 1991) gestalteten Karte aus dem Jahr 1962 trägt »Väterchen Frost« den kleinen sowjetischen Kosmonauten auf der Schulter (Abb. 2.30). Das fröhlich lachende Kind mit Helm, den der Rote Stern ziert, hält wiederum eine rote Fahne mit einer Friedenstaube in die Höhe. In beiden Fällen treten die Kinder auch als kleine Erwachsene auf. Kinder als kleine Erwachsene
Das Motiv des Kindes als kleiner Erwachsener fand sich insbesondere auf Neujahrspostkarten, die Motive von Kindheit und vom Weg in die Zukunft verbanden. Hier grüßt nicht nur der Kind-Kosmonaut, der darauf verweist, dass die Kinder den Kosmos erobern und besiedeln werden, sondern auch das Kind als Kranführer oder Bauarbeiter.
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Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
Wie die Jungen von den Alten lernen
Das Motiv der Weitergabe von Werten, Wissen und Können an die junge Generation spielte ab den 1950er Jahren eine Rolle in der sozialen Propaganda (Abb. 2.31 und 2.32). Zuvor sollten eher die Alten von den Jungen lernen oder, wenn es denn nötig war, umerzogen werden : Vor allem die religiösen Großmütter vom Dorf galten als rückständig und als Gefahr für das sowjetische Projekt der Modernisierung. In den 1960er Jahren wurden Generationenkonflikte in sowjetischen Medien als westliches Phänomen dargestellt, in der Sowjetunion gab es sie offiziell nicht. Daraus erklären sich generationenübergreifende Motive in der sozialen Propaganda. Für das Generationenverhältnis waren nicht die Kinder, sondern die Jugendlichen das Barometer. Doch die Propaganda setzte bei den Schülern und den Pionierinnen an. Es ging um die Weitergabe von Wissen und Werten, und zwar der Revolution wie auch des Krieges – daher gehörte die Begegnung und Ehrung von Kriegsveteranen zu den regelmäßigen Ritualen einer sowjetischen Kindheit. Ein weiteres Plakat von Vasilij V. Sur’janinov (1903–1991), das 1954 in einer Auflage von 300.000 Exemplaren gedruckt wurde, zeigte einen Vater mit zwei Kindern am Fenster beim Blick auf das Feuerwerk und hatte den Text : »Der festliche Salut berührt das Herz. In ihm ist unser ganzer Weg verkörpert, alle Schlachten und Siege. In ihm erfahren die Kinder von den Taten der Väter, in ihm sehen die Großväter ihre Jugend.« Abb. 2.32 : Viktor B. Koreckij (1909–1998), Plakat, Ruhm und Ehre gebührt der sowjetischen Lehrerin !, 1951 Die »erste Lehrerin« ist ein zentrales Motiv der sowjetischen Kindheit, häufig als mütterliche Figur dargestellt, als weise Frau, der die Kinder ein Leben lang verbunden bleiben. Die Landkarte zeigt die westlichen Republiken der SSSR, Porträts erfolgreicher ehemaliger Schülerinnen und Schüler – eines Frontsoldaten, eines Musikers, einer jungen Frau mit Orden – rahmen die Szene ein. Auch die Lehrerin trägt den Lenin-Orden.
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Das Pathos des Scheiterns
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und im beginnenden Kalten Krieg waren die Kinder als Zukunftsträger zentral. Nirgends waren körperlich und moralisch perfekte Kinder so wichtig für das nationale Selbstverständnis wie in der Sowjetunion. Dennoch stand in der Nachkriegszeit dem idealisierten Bild der glücklichen Kindheit und des fleißigen, diszi-
Kinder und Pathos
Abb. 2.33 : Titelblatt der Zeitschrift Ogonëk Nr. 5, Januar 1952 Ein Porträt des jungen Lenin, Großmutter, Mutter und Tante überwachen aufmerksam die Hausaufgaben. Das Bild macht deutlich : Auf den Schultern des armen Jungen lastet die Zukunft des Landes ! Abb. 2.34 : Fedor P. Rešetnikov (1906–1988), Wieder eine schlechte Note !, 1952, Öl auf Leinwand Der Schüler steht mit schlechtem Gewissen und zerzaustem Haar vor seiner Mutter, aus der Schultasche schauen die Eislaufkufen hervor. Die Mutter schwankt zwischen Verzweiflung und Mitleid. Die tugendhafte ältere Schwester in Schuluniform und Pionierhalstuch blickt streng und strafend zum Übeltäter hinüber, während der jüngere Bruder schadenfroh grinst. Nur der Hund begrüßt den Jungen sorglos. Die Größe und Ausstattung der Wohnung, das Fahrrad und das Haustier sind alles Kennzeichen sowjetischen Wohlstands.
plinierten Kindes das Schreckensbild der Millionen von verwaisten, verwahrlosten und obdachlosen Kindern gegenüber.64 Das Problem der Waisen und verwahrlosten Kinder wurde durch Adoptionskampagnen, Waisenhäuser und Internate angegangen. Unverbesserliche Kinder kamen in Arbeitskolonien und wurden damit unsichtbar gemacht. Zugleich wuchs der Druck auf die Schulkinder. Die Schulkinder mussten ideologisch und moralisch vorbildlich sein und gute Leistungen aufweisen, umso mehr, als die älteren Jahrgänge durch den Krieg dezimiert waren.65 Die Erwachsenen setzten alles daran, die Verbliebenen zu gebildeten und loyalen Sowjetbürgerinnen zu erziehen. Kindern mit weniger guten Noten wurde eingehämmert, sie würden als Sitzenbleiber den Staat Geld kosten, das sonst in den Wiederaufbau fließen könne (Abb. 2.33). Gute Leistungen waren keine Privatsache, sondern die Kinder fühlten sich verpflichtet, möglichst rasch ihren Abschluss zu machen, um als Spezialis83
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
tinnen ihren Teil zum Aufbau beizutragen. Die Abschlussexamen wurden für die Kinder zur psychischen Belastung, weil auch in der Presse suggeriert wurde, gute Leistungen seien ein Beweis der Loyalität mit dem sowjetischen Volk und dem Vaterland. Schlechte Noten wurden so zum Schandmal moralischen Versagens. Die Kinder mussten durch ihre Leistungen nicht nur die Kosten ihrer Ausbildung, sondern auch die Opfer rechtfertigen, die man während des Krieges für sie erbracht hatte.66 Ihre Vorbilder waren Kriegsheldinnen wie Zoja Kosmodemjanskaja und Aleksandr Matrosov. Sie selbst mussten sich der Sowjetunion im Klassenzimmer als würdig erweisen. Daraus entstand als Pathosformel in der bildlichen Umsetzung das Zusammenspiel von Scheitern und Scham. Die Scham sollte die Kinder zu besseren Leistungen und zu einem besseren moralischen Selbst bekehren.67 Das Gemälde Nicht gelöst ! (Ne raschila !) von Viktor A. Cvetkov (*1920) ist nur eines von zahlreichen Bildbeispielen, die das Thema aufgriffen : Eine sichtlich zerknirschte Schülerin steht mit gesenktem Kopf vor der Tafel. Die Lehrerin am Pult wendet sich ihr mit besorgtem Ausdruck zu. Die Klasse verfolgt gebannt das Geschehen, aber einer der Schüler blickt schadenfroh aus dem Bild heraus auf die Betrachterin – das Scheitern ist mit der Beschämung durch die anderen verbunden. Dasselbe Motiv, nur diesmal mit einem verzagten Schüler, zeigt ein Gemälde von Vladimir I. Ievlev (1922–1993) aus den 1960er Jahren.68 Das Thema des Versagens behandelt auch Fedor P. Rešetnikov (1906–1988) in seinem Gemälde Wieder eine schlechte Note ! (Abb. 2.34). Der Maler griff ein Vorbild von Dmitrij E. Žukov (1841– 1903) aus dem Jahr 1885 mit dem Titel Durchgefallen auf. Rešetnikovs Gestaltung des beliebten Themas wurde sehr bekannt und inspirierte mehrere filmische Umsetzungen. Den Darstellungen der Schulversager von Cvetkov, Ievlev und Rešetnikov ist die damit verbundene Haltung, der körperliche Ausdruck des Scheiterns und der Beschämung, gemeinsam : Das scheiternde Kind steht im Mittelpunkt, doch isoliert, den Körper halb abgewandt von den anderen, aber dem Betrachter in Dreiviertelansicht zugewandt. Der Kopf ist nach vorne geneigt, der Blick auf den Boden gerichtet. Bei den Darstellungen im Klassenzimmer sucht eine Hand am unteren Tafelrand Halt. Die anderen Mitglieder der Gruppe, Familie, Klasse, Lehrerin, blicken auf das scheiternde Kind. Ihr Ausdruck ist ernst und strafend oder traurig, Einzelne können sich aber die Schadenfreude nicht verkneifen. Wer versagt, beschämt nicht nur sich selbst, sondern auch die Familie, die Klasse und das Kollektiv. Obwohl auch Mädchen scheitern können, sind es vor allem die Jungen, die Flausen im Kopf haben und diszipliniert werden müssen. In zahlreichen Kompositionen wird die geschlechterspezifische gesellschaftliche Rollenzuweisung an die Mädchen deutlich, die in ihrem Umfeld durch soziale Kontrolle für Sauberkeit, Ordnung, Disziplin und gute Leistung sorgen sollen.
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Kinder und Pathos
Neubeginn nach der Katastrophe : Der geheimnisvolle, wissende Blick des Kindes
Im Tauwetter, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, löste das Bild des »kindlichen« Kindes dasjenige des künftigen Helden und des »kleinen Erwachsenen« als Leitbild ab. Im Tauwetterfilm etwa lebten die Kinder nicht mehr in der Erwachsenenwelt, sondern in einer erträumten Gegenwelt, aus der heraus sie einen eigenen, unverstellten Blick auf die Welt richteten. Dieses vorgestellte »andere« Kind konnte die Gesellschaft stabilisieren, aber auch grundsätzliche Werte hinterfragen.69 Der Tauwetterfilm entwarf den Neubeginn mit der Kindheit als Anfang. In den nach 1953 geborenen Kinderhelden wurde eine regelrechte Wiedergeburt des Sozialismus zelebriert. Die Kinder verkörperten nun die »Erneuerung des Sozialismus nach Stalin«. Einerseits setzte diese Losung das Zukunftsnarrativ fort, andererseits war es der geheimnisvolle Blick als Symbol der Innerlichkeit, der kindlichen Weisheit, des Lyrischen und der Wahrhaftigkeit. Diese neuen Wertigkeiten sprachen gerade die jungen Menschen an. Der Blick der Kinder war aber auch eine Anklage (Abb. 2.35). Er forderte die Erwachsenen zur Rechtfertigung der Verhältnisse auf, die sie geschaffen hatten. Dabei wurde die Welt der Zeichen, Rituale und Helden der sowjetischen Kinder- und Jugendorganisationen nie Abb. 2.35 : Ėlem G. Klimov (1933–2003), Filmstill/Szenenfoto, Herzlich willkommen zum Gegenstand der Entstalinisierung. oder Unbefugten ist der Zutritt verboten Die Erneuerung der Nachkriegsgesellschaf- (Dobro požalovat’ ili postoronnym vchod ten war auch in anderen europäischen Ländern vospreščen), 1964 ein Thema, das durch kindliche Protagonisten im Kino verhandelt wurde. Im italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit spielten Kinderhelden prominente Rollen : Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) und weitere Filme von Vittorio de Sica, Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960) von Lucchino Visconti, aber auch Le ballon rouge (Der rote Ballon, 1956) und Crin blanc (Der weiße Hengst, 1952) des Franzosen Albert Lamorisse sind Beispiele dafür, wie gesellschaftliche Problemlagen an Kindern verhandelt wurden. Der Film Serjoža aus dem Jahr 1960 (Georgi N. Danelija, 1930–2019, Igor V. Talankin, 1927–2010) erkundete die Welt aus der Perspektive des Kindes. Die im Krieg verwitwete Mutter des fünfjährigen Serjoža heiratet, und er hat nun einen neuen Vater und besten Freund, der ihm hilft, seine kleinen, aber sehr wichtigen Probleme zu lösen. Die Straße, die Menschen, Landschaften, Regen und Sonnenschein erschienen aus diesem Blickwinkel mit neuen, magischen Bedeutungen aufgeladen, jenseits erwachsener Stereotype. Das Kinderauge sah alles, jedes Detail erschien wichtig. In dem Film ging es aber auch um 85
Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
den Konflikt zwischen beruflichen und familiären Pflichten und um die Gefahr, dass Kinder verlassen werden. Die Filme der sowjetischen Tauwetterzeit appellierten an das Bild des Kindes als Verkörperung einer besseren Zukunft und forderten die Erwachsenen dazu auf, den Kindern die durch den Krieg zerstörte behütete Kindheit zurückzugeben.
Kindbezogene Pathosformeln
In der Sowjetunion bildeten sich spezifische Pathosformeln heraus, die meistens Losungen der zeitgenössischen sowjetischen Propaganda in die Bildsprache übersetzten. Auf Kinderdarstellungen bezogen waren dies etwa Formeln wie der Blick in die Zukunft und das hochgehaltene Kind, das häufig selbst mit erhobenem Arm in die Zukunft wies ; die Geste des hochgehaltenen Kindes und seine Nacktheit überhöhten dessen Bedeutung. Beispiele für spezifisch sowjetische Pathosformeln waren die Formel »Höher und höher !«, die in den Himmel und damit ebenfalls in die Zukunft wies, sowie die Generationen verbindende Formel »Wie die Jungen von den Alten lernen«, die auf ein bestimmtes Generationenverhältnis und die Weitergabe nicht nur von Wissen, sondern der revolutionären Werte an sich zielte. Der kindliche Blick in Darstellungen der Tauwetterperiode war Teil der Erneuerung der Utopie, er war unergründlich und in eine Zukunft gerichtet, die dem erwachsenen Betrachter verschlossen blieb. Gemeinsam war diesen Motiven das transzendente Element : der lichte, weite Himmel, das glitzernde Wasser, die Weiten des Kosmos, das Zusammenfließen von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart. Das alles wies auf raumzeitliche Entgrenzungen hin. Diese Formeln wurden in Bildmotive übersetzt, die in allen möglichen Medien vieltausendfach verbreitet wurden : in der Monumentalskulptur, auf Briefmarken, Plakaten, Postkarten, auf Fotografien in Zeitschriften und Zeitungen, in Fotobüchern, Filmen und in der Malerei. Kinder als emotionaler Superlativ eignen sich für Pathosformeln des gesteigerten Gefühlsausdrucks. Sie waren ein fester Faktor in der sowjetischen Propaganda. Als gefährdet oder als Opfer wurden sie nur im Ausnahmezustand der Anfangsjahre und des Krieges dargestellt. Spezifisch sowjetisch waren ihre Auftritte als Akteure : Als Kleinkinder verkörperten sie die Utopie und waren »Heilsbringer«. Als »kleine Erwachsene« nahmen sie die Zukunft vorweg. Als »kindliche« Kinder des Tauwetters verkörperten sie den Neubeginn nach Stalin. Wichtige Formeln waren das Streben und das (vorübergehende) Scheitern. Der Sozrealismus mit seinem Hang zur Figürlichkeit griff auf klassische Muster, Kompositionen und Motive zurück. Basiselemente waren das utopische, sakralisierte oder das »romantische Kind«. Es war meistens blond, blauäugig, männlich und russisch. Auch wenn es regionale Varianten solcher Plakate gab, galt die russische Bevölkerung als auf dem Weg zum Sozialismus bereits weiter fortgeschritten. Daraus ergab sich der Anspruch auf die Führungsrolle. Die Kinderdarstellungen zeigen deutliche Bezüge zu christlichen Bildtraditionen. Aus den Traditionen heraus entwickelten sich bei gleich86
Anmerkungen
bleibenden Motiven auf der semantischen Ebene spezifisch sozialistische Bildcodierungen : Motive der christlichen Ikonografie wurden mit neuen Bedeutungen aufgeladen.
Anmerkungen 1 Vgl. dazu Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt a. M. 2010 ; Martin Warnke, Vier Stichworte : Ikonologie – Pathosformel – Polarität und Ausgleich – Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in : Werner Hoffmann/ Georg Syamken/Martin Warnke (Hg.), Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a. M. 1980, S. 53–83 ; Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 19. 2 Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses, in : ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1900–1949, Bd. 1, Göttingen 2009, S. 14–38, hier S. 32. 3 Der Händedruck symbolisierte und beschönigte hier den erzwungenen Zusammenschluss von Sozialdemokraten und Kommunisten zur »Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«. Vgl. ders., Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016, S. 358 f. 4 Susi K. Frank, Pathosformel »tote Mutter« zwischen Bild und Text, in : Gerhard Paul (Hg.), Bildformeln. Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa, Göttingen 2016, S. 269–304. 5 Hermann Kappelhoff, Genre und Gemeinsinn. Hollywood zwischen Krieg und Demokratie, Berlin 2016, S. 6. 6 Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder (Anm. 1), S. 255. 7 Ebd., S. 268. 8 Ebd., S. 276. 9 Ebd., S. 384 f. 10 Ebd., S. 282 ff. 11 Ebd., S. 288. 12 Ebd., S. 380. 13 Ebd., S. 384–388. 14 Torsten Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002 ; Michael Hagemeister, »Unser
Körper muss unser Werk sein.«. Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts, in : Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005, S. 19–67. 15 Dariusz Konstantynów/Montse Conill, El obrero y la mujer de la granja colectiva de Vera Mukhina 1937, in : Denuncia Social 26 (2001), S. 23–36, hier S. 32. 16 Aby Warburg, Sandro Botticellis »Geburt der Venus« und »Frühling«. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance (1893), in : ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von D. Wuttke, Baden–Baden 1980, S. 11–64. 17 I. Ju. Ėjgel’, »Kremen’ i kresalo«, in : VIVOS VOCO Juli 2006, wieder abgedruckt in : Skul’ptura i vremja. Rabočij i kolchoznica. Skul’ptura V. I. Muchinoj dlja pavil’ona SSSR a Meždunarodnoj vystavke 1937 goda v Pariže. Hg. von Ol’ga Kostina, Moskau, Sovetskij chudožnik, 1987. URL : (11.09.2017). 18 Abb. beider Entwurfszeichnungen in Peter Noever (Hg.), Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München 1994, S. 142 f. 19 Eric Hobsbawm, Man and Woman in Socialist Iconography, in : History Workshop Journal (1978) H. 6, S. 121–138, hier S. 127. 20 Ebd., S. 136. 21 Ebd., S. 130. 22 Ebd., S. 127. 23 Konstantynów/Conill, de Vera Mukhina (Anm. 15), S. 24. 24 Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder (Anm. 1), S. 380. 25 Vgl. dazu auch Nadine Siegert, Sozialistische Monumentalkunst und globale Bildtransfers, in : Monica Rüthers/Alexandra Köhring (Hg.), Ästhe-
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Sowjetische Pathosformeln und Narrative der Kindheit
tiken des Sozialismus/Socialist Aesthetics. Populäre Bildmedien im späten Sozialismus/Visual Cultures of Late Socialism, Köln 2018, S. 19–37. 26 Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017, S. 147. 27 Weniger bekannt und deutlich antisemitisch geprägt ist sein Gemälde Sommertheater aus dem Jahr 1975. Es zeigt einen deutschen KZ-Wachmann und seinen »dienstfertigen Helfer«, der stereotype jüdische Züge trägt, vor einem Berg weißleuchtender Frauenleichen, die von einem Bulldozer bewegt werden. 28 Walter Pape, Das literarische Kinderbuch. Studien zur Entstehung und Typologie, Berlin 1981, Kapitel »Der Mythos von Kind und Kindheit«, S. 29–49. 29 Ebd., S. 33 ; Carl G. Jung/Karl Kerenyi, Einführung in das Wesen der Mythologie, Hildesheim 1951, S. 42. 30 Winkler, Kindheitsgeschichte (Anm. 26), S. 141. 31 Ol’ga Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke, Moskau 2017, S. 158. 32 Vgl. dazu das Plakat von A. A. Kokorenkin aus dem Jahr 1937 in : N. N. Gluško/V. F. Konjašova (Hg.), Deti, naše budušče, Moskau 2007, S. 78. 33 Catriona Kelly, »Good Night, Little Ones«. Childhood in the »Last Soviet Generation«, in : Stephen Lovell (Hg.), Generations in TwentiethCentury Europe, Basingstoke 2007, S. 165–189, hier S. 168 f. 34 Vgl. den Titel von Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006. 35 Irina Paperno, Stories of the Soviet Experience. Memoirs, Diaries, Dreams, Ithaca 2009. 36 Kelly, »Good Night, Little Ones« (Anm. 33), S. 169 ; Sergej Žuravlev/A. K. Sokolov, Ščastlivoe detstvo, in : Natal’a Puškareva (Hg.), Social’naja istorija. Ežegodnik, Sankt Petersburg 2011, S. 159–202 ; Vladimir Dobrenko, Socrealizm i mir detstva, in : Hans Günther/Evgenij A. Dobrenko (Hg.), Socrealističeskij kanon, St. Petersburg 2000, S. 31–40. 37 Kelly, »Good Night, Little Ones« (Anm. 33), S. 169. 38 Anna Krylova, Identity, Agency, and the First Soviet Generation, in : Lovell, Generations in Twentieth-Century Europe, S. 79–100, hier S. 105 f.
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39 Vgl. die Aufnahmen in Igor Mukhin (Hg.), In Search of Monumental Propaganda, Moskau 2018, S. 32. 40 Julie K. de Graffenried, Sacrificing Childhood. Children and the Soviet State in the Great Patriotic War, Lawrence 2014. 41 Dobrenko, Socrealizm i mir detstva (Anm. 36), S. 33. 42 Graffenried, Sacrificing Childhood (Anm. 40). 43 Zur Pathosformel der toten Mutter mit lebendem Kind vgl. Frank, Pathosformel »tote Mutter« zwischen Bild und Text (Anm. 4), S. 269–304. 44 Vgl. dazu Steffi Töpfer, Das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park, in : Stefan Troebst/Johanna Wolf (Hg.), Erinnern an den Zweiten Weltkrieg, Leipzig 2011, S. 128–135. 45 Ebd., S. 134. 46 Zur Tradition des »Drachentöters« in der sozialistischen Ikonografie vgl. Elizabeth Waters, The Female Form in Soviet Political Iconography, 1917–32, in : Barbara Evans Clement/Barbara Alpern Engel/Christine D. Worobec (Hg.), Russia’s Women. Accommodation, Resistance, Transformation, Berkeley 1991, S. 225–242, hier S. 228. 47 Ein Beispiel ist das Plakat von Vladimir A. Serov, »Unsere Sache ist gerecht. Der Sieg wird unser sein« aus dem Jahr 1941, URL : (03.05.2019). 48 Jutta Scherrer, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in : Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. 2 Begleitbände zur Ausstellung, Bd. 2, Berlin 2004, S. 29–66, hier S. 622–623 und 629. 49 Monika Flacke/Ulrike Schmiegelt, Aus dem Dunkel zu den Sternen. Ein Staat im Geiste des Antifaschismus, in : Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. 2 Begleitbände zur Ausstellung, Bd. 1, Berlin 2004, S. 173–189, hier S. 175–178. 50 Zwischen 1963 und 1963 erschien das Ehrenmal sieben Mal auf Briefmarken der DDR. Paul, Das visuelle Zeitalter (Anm. 3), S. 565. 51 A. L. Rubinčik, Živopis’ socrealizma v sovetskich otkrytkach, Moskau 2008, S. 163. 52 Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke (Anm. 31), S. 159. 53 Juliane Fürst, Between Salvation and Liquidation.
Anmerkungen
Homeless and Vagrant Children and the Reconstruction of Soviet Society, in : The Slavonic and East European Review 86 (2008) H. 2, S. 232–258, hier S. 239–242. 54 Sergej Alex Oushakine, Realism with GazeAppeal. Lenin, Children, and Photomontage, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 67 (2019) H. 1, S. 11–64. 55 Alexander Kononov, The New Year’s Tree in Sokolniki School, in : Miriam Morton (Hg.), A Harvest of Russian Children’s Literature. A Treasury for All Ages, London 1970, S. 99–102. Im russischen Original verbreitet als »Ëlka v Sokol’nikach« in der Sammlung Rasskazy o Lenine von Aleksandr Kononov, in zahlreichen Auflagen ab 1939, mit Illustrationen von Nikolaj Žukov ; auch »Na ëlke v škole«, in : Vladimir Bonč-Bruevič, Lenin I deti. M. Izd. Detskaja literatura 1978, S. 11–15. 56 Catriona Kelly, Children’s World. Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven 2006, S. 144. 57 Die Neujahrstanne wurde in den 1920er Jahren als christliches Symbol verbannt, in den 1930er Jahren aber im Zuge der Einführung von Neujahrsfestlichkeiten mit Geschenken für die Kinder wiedereingeführt. Vgl. dazu Svetlana Leont’eva, Detskij novogodnyj prazdnik. Scenarii i mif, in : Otečestvennye zapiski 10 (2003) H.1, URL : (04.05.2020). 58 Die Fotobücher sind ausführlich vorgestellt in Mikhail Karasik, Udarnaia kniga sovetskoi detvory, Moskau 2010, S. 22–25 ; Mikhail Karasik/ Manfred Heiting (Hg.), The Soviet Photobook
1920–1941, Göttingen 2015, S. 50–53 ; Oushakine, Photomontage, Children and Lenin (Anm. 54). 59 Fürst, Between Salvation and Liquidation (Anm. 53), S. 236. 60 Kelly, Children’s World (Anm. 56), S. 106. 61 Z. B. in dem Bildband Ženy inženerov (Die Frauen der Ingenieure), Moskau 1937. 62 Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke (Anm. 31), S. 118 f. 63 Winkler, Kindheitsgeschichte (Anm. 26), S. 141. 64 Fürst, Between Salvation and Liquidation (Anm. 53), S. 249 f. 65 Ann Livschiz, Pre-Revolutionary in Form, Soviet in Content ? Wartime Educational Reforms and the Postwar Quest for Normality, in : History of Education 35 (2006) H. 4–5, S. 541–560, hier S. 558 f. 66 Ebd., S. 559. 67 Kelly, Children’s World (Anm. 56), S. 126 f. 68 Sergej V. Ivanov, Neizvestnyj socrealizm. Leningradskaja škola, St. Petersburg 2007. 69 Christine Gölz, Himmel und Hölle. Sowjetische Kindheit am Beispiel ›revolutionär wachsamer‹ Kinder im Film, in : Christine Gölz/Karin Hoff/ Anja Tippner (Hg.), Filme der Kindheit – Kindheit im Film. Beispiele aus Skandinavien, Mittel- und Osteuropa, Frankfurt a. M 2010, S. 101–126, hier S. 102 ; Alexander Prokhorov, The Adolescent and the Child in the Cinema of the Thaw, in : Studies in Russian and Soviet Cinema 1 (2006) H. 2, S. 115–130 ; Margaret Peacock, Innocent Weapons. The Soviet and American Politics of Childhood in the Cold War, Chapel Hill 2014.
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3 Kinder im Zeichenraum
Die junge Sowjetunion schuf eine eigentliche Kinderkultur, die mit ihren umfassenden Organisationen wie der Gesellschaft zum Schutz von Mutterschaft und früher Kindheit (Ochrana materinstva i mladenčestva, OMM) oder der Pionierorganisation Teil der Nationsbildung und der Nationalitätenpolitik war. Im Rahmen dieser Kinderkultur entwickelte sich in den 1930er Jahren eine eigene, relativ stabile Typologie der Kindheit, eine Reihe von auch visuell konstruierten, normativen und wiedererkennbaren sowjetischen Kindertypen. Diesen zugeordnet waren spezifische Verhaltensweisen, Handlungsräume und konkrete räumliche Umgebungen – eine eigene Topografie der Kindheit. Die sowjetischen Kinderräume waren durch einen eigenen Kosmos an Ritualen und Symbolen geschaffen und geprägt, der als Teil der sowjetischen Staatssymbolik den Alltag durchdrang.1 Erreicht wurde diese Durchdringung der Lebenswelten etwa über Bilder und Symbole auf Alltagsgegenständen oder in der Gestaltung der Umgebungen. Bilder auf Dingen, die so gebräuchlich sind, dass sie beinahe schon unsichtbar werden, wirken nachhaltig identitätsstiftend : Banknoten, Briefmarken und Uniformen etwa sind wichtige Ausweise nationaler Zugehörigkeit.2 Die Pioniersymbolik ist ein Beispiel für die Ausgestaltung des hegemonialen visuellen Diskurses über Kindheit. Die Kindheit wurde ritualisiert, in Posen gegossen und in die Staatlichkeit eingeschrieben. Pionier, Schüler und Schülerin waren ikonische Typen im sozrealistischen Kanon. Die Kinder waren selbst »Zeichen«, die mit weiteren Attributen ausgestattet wurden. Die Zeichenwelt der Uniformen diente der äußeren Disziplinierung und Zähmung der Körper. Sie hatte aber auch Einfluss auf das Innere, die Werte, das Verhalten und sollte einen bestimmten sowjetischen Habitus schaffen.3 Die folgenden Abschnitte werden zeigen, dass sich die Kinder die Uniformen und Abzeichen aber auch aneigneten und den sowjetischen Kosmos der Zeichen und Symbole zum Spielraum eigensinnigen Handelns machten. Die Vervielfältigung von Idealbildern der Sowjetunion im Alltag vereinheitlichte die Formensprache und die Zeichen oder Symbole ; die Figuren, die Räume, die Gegenstände und die Bilder des Ganzen auf Postkarten, Briefmarken, Ölgemälden oder Plakaten wirkten zusammen und schufen einen Kanon typischer, normativer Kinder. In diesem Kapitel geht es um diese Zeichenwelt der sowjetischen Kindheit. Der erste Teil des Kapitels gibt einen Überblick über die sowjetischen Kindertypologien. In den sowjetischen Bildwelten gab es zwei grundlegende Arten von Kinderdarstellungen : erstens das »romantische Kind« jenseits sowjetischer Institutionen und zweitens das institutionalisierte, »sowjetische« Kind diesseits dieser Institutionen, die Schülerinnen und Pioniere als »Staatskinder«. Ein weiterer zentraler Faktor für die Art der Darstellung war das Alter der Kinder. Kleinkinder beispielsweise wurden im Kontext 90
Süße Kleine und vorbildliche »Staatskinder«
der Gesundheitsfürsorge gezeigt, Krippenkinder waren noch nicht aktiv in Institutionen eingebunden und durch eigene Attribute definiert. Im zweiten Teil folgt eine nähere Betrachtung der Handlungsräume und Attribute der »Staatskinder«, der Schulkinder und Pioniere. Drei Themenbereiche werden hier beleuchtet : die Pioniersymbolik und die Rituale, die Pionierräume und ihre Ausgestaltung (auf die Klassenräume geht das Kapitel Viele Völker, eine Kindheit ein) und schließlich die Uniformen der Schülerinnen und Schüler wie auch der Pioniere.
Süße Kleine und vorbildliche »Staatskinder« : Eine Typologie glücklicher sowjetischer Kinder
Eine spezifisch sowjetische Kindertypologie bildete sich in der stalinistischen Kultur der 1930er Jahre und im Sozialistischen Realismus heraus. Das sowjetische Kind war ein kollektives Kind, das je nach Alter und Geschlecht einem bestimmten Typus zugeordnet war. Diese Typologie umfasste die behüteten und gut versorgten Säuglinge und Kleinkinder in den Krippen, die Vorschulkinder in den Kindergärten, Schülerinnen und Schüler in ihren Uniformen sowie Pioniere. Das normative, positiv gezeichnete Kind überwog, selten waren negative Kontrasttypen. Soziale Klassen gab es offiziell nicht mehr, dafür bildeten sich Hierarchien nach neuen Kriterien, etwa Stadt-Land-Unterschiede. Im Alltag wurden und werden Kinder im russischen Sprachgebrauch von Familie und Freunden immer mit den Verkleinerungsformen ihrer Vornamen gerufen : Lida, Pavlik oder Lënja. Diese sprachliche Kennzeichnung durch Kosenamen verwies auf ihren kindlichen Status und legte entsprechende Maßstäbe an. Die Pionierhelden hatten seltenere Namen, aber auch Koseformen. Sie waren »gewöhnlich«, dabei aber in ihrer Biografie bereits von klein auf als Helden erkennbar. Ähnlich wie beim Jesuskind und in der christlichen Hagiografie allgemein zielte ihr Handeln auf die spätere Heldentat hin.4 In den offiziellen Bildmedien ; in der Malerei, auf Postkarten, Briefmarken und Plakaten zirkulierte eine begrenzte Anzahl von Kindertypen. Diese Typen bezogen sich auf jeweilige Altersstufen und sind häufig in einer Kombination aus Kleidung mit einer bestimmten Aktivität und einem Habitus zu beobachten, der in der Regel eine gesellschaftliche Rollenzuweisung ausdrückte. Es gab vorbildliche »Staatskinder«, romantisch-natürliche und süße Kinder – glücklich waren sie alle. Kleinkinder waren in Illustrationen typischerweise hellhäutig und blond. Meistens handelte es sich um Knaben, was wiederum der deutlichen Anlehnung an christliche Bildtraditionen geschuldet war. Diese Kleinkinder wurden häufig im Hemdchen und mit nackten Beinen abgebildet ; zu Beginn der 1920er Jahre im Schwung des revolutionären Pathos als Akteure in eigener Sache, im Kontext des Sozialistischen Realismus dann als »Heilsbringer« (vgl. Kapitel Sowjetische Pathosformeln), aber besonders häufig auf einer Waage sitzend. Die Waage und die dazugehörige Krankenschwester standen für die 91
Kinder im Zeichenraum
Gesundheitsfürsorge, die die Sowjetunion allen Kindern dank regelmäßiger Kontrolluntersuchungen angedeihen ließ. Vorschulkinder traten in Bildern in der Regel spielend auf. Typische Beigaben für diese Altersgruppe waren Teddybären oder Puppen. Das für Illustrationen des Sozrealismus typische süße kleine Mädchen trug häufig ein rotes Kleidchen mit weißem Kragen und im blonden, halblangen Haar eine oder zwei große Schleifen (vgl. Abb. 2.27 und 2.28). Unter dem Kleidchen trugen Mädchen Strumpfbänder und Strümpfe. Strumpfhosen gab es erst ab den 1970er Jahren. Da die Strumpfgürtel für kleine Mädchen nur vorne ein Band hatten, an das der Strumpf geknöpft werden konnte, hingen die Strümpfe hinten tiefer. Eine Zeitzeugin erinnerte sich : »In den sowjetischen Kinderbüchern damaliger Zeit malte man Kinder mit herunterrutschenden faltigen, einfach gestrickten Strümpfen, sie sollten rühren. Ich hasste diese verniedlichenden naturalistischen Bildchen, die in erster Linie von den Künstlern Shukow, Pachomow und Zeitlin gemalt wurden.«5 Größere Mädchen hatten Strumpfgürtel mit zwei Bändern, vorne und hinten. Die Jungen spielten meist im Freien und trugen kurze Hosen, da zahlreiche Darstellungen den Sommer als Kontext bevorzugten. Kinder im Schulalter wurden typischerweise in Uniform abgebildet, entweder in der Schuluniform (Abb. 3.1) oder in der Pionieruniform mit weißer Bluse und rotem Halstuch. Schulkinder wurden als pflichtbewusst und strebsam dargestellt, wobei Mädchen disziplinierende Funktionen zugeschrieben wurden, in der Familie wie in der Gruppe der Gleichaltrigen : Der Schüler, der schlechte Noten nach Hause brachte, fing den strafenden Blick der Schwester ein (vgl. Abb. 2.34). Die Mädchen folgten ihrem Vorbild, der Lehrerin.6 Schülerinnen und Schüler engagierten sich für gesellschaftliche Aufgaben. Während Mädchen eher disziplinierend wirkten, halfen ältere Schüler den jüngeren. Die Pioniere grüßten meistens oder bliesen zum Appell auf der Fanfare, sie trafen sich mit Veteranen oder verbrachten glückliche Tage im Pionierlager, wo sie unter staatlicher Fürsorge den Sommer genossen und ihre Gesundheit im Vordergrund stand. Alle Darstellungen zeigen deutliche geschlechtsspezifische Rollenklischees : Jungen im Kleinkindalter verkörperten Zukunftsträger und Heilsbringer. Kleine Mädchen waren einerseits schutzbedürftig, andererseits früh auf ihre Rolle als Erzieherin, soziale Aufsichtsperson und Helferin fixiert. Männliche Schüler und Pioniere waren Helden und Aktivisten, aber auch nachlässig und übermütig, so dass sie noch zur Pflicht erzogen werden mussten. Die abgebildeten »Staatskinder« waren eingerahmt von Institutionen, Regelwerken und maßgeschneiderten, dem Alter entsprechenden Umgebungen. Dazu gehörten Bücher und Filme, Spielsachen und Möbel, Klassenzimmer mit altersgerechten Pulten, einer Wandtafel und Landkarte, Pionierräume sowie Uniformen. Die Empfehlungen für die Anlage von Pionierlagern versetzten die Kinder in bukolische Landschaften mit Wäldern, Wiesen und Gewässern. Solche Bilder verraten einiges über normative Vorstellungen und utopische Imaginationen. Sie stellen zusammen mit der Ratgeberliteratur gute 92
Kinder in der Genremalerei
Quellen dar, aber man sollte sie nicht für Beschreibungen der Realität halten. Sie geben Auskunft über die Maßstäbe, an denen die Realität gemessen wurde und denen die zuständigen Verantwortlichen in Schulen und Pionierorganisation gerecht werden sollten.
Kinder in der Genremalerei
Interessanterweise stellte die sozrealistische Malerei die Kinder in zwei sehr unterschiedlichen übergeordneten Zusammenhängen dar. Auf der einen Seite steht in den 1930er bis 1950er Jahren das institutionalisierte, pflichtbewusste, zielstrebige und fleißige Kind in Uniform, das sich des Ernstes seiner Aufgaben und seiner gesellschaftlichen Rolle bewusst ist. Auf der anderen Seite steht das Kind in der Natur, das aus gesellschaftlichen Zusammenhängen und Zwängen gelöst ist. Wiederkehrende und stark typisierte Motive sind Porträts, Kinder bei den Hausaufgaben, der Aufbruch von zu Hause am ersten Schultag, Kinder auf dem Weg zur Schule am 1. September mit Blumen (Abb. 3.2 und 3.3), Rituale wie die feierliche Aufnahme in die Pionierorganisation, Kinder in der Schule und mit der Lehrerin sowie Exkursionen in die Natur.7 Die Bilder erzählen jeweils eine Geschichte, die Motive wiederholen sich häufig und lassen sich mühelos als Teil eines typischen sowjetischen Schüler- und Pionieralltags begreifen. Fedor P. Rešetnikov (1906–1988) ist ein gutes Beispiel für solches Geschichtenerzählen. Er malte zahlreiche Kindermotive. Der Informant [jazyk, wörtl. Zunge] ist gefangen von 1945 zeigt Kinder, die Krieg spielen, indem sie Feinde fangen, um ihnen Informationen abzupressen. Der Junge trägt einen Helm, er ist ein gefangener Deutscher, möchte es aber nicht sein. (Niemand wollte beim Kriegsspiel der Deutsche sein, noch in den 1980er Jahren nicht.) In Rešetnikovs Gemälde Auf Heimaturlaub aus dem Jahr 1948 kommt der vorbildliche Schüler in Kadettenuniform nach Hause und grüßt den Großvater militärisch, sein Gesicht leuchtet vor Freude und Stolz. Im Hintergrund verkörpert die kleine Schwester in weißer Schürze und Haarschleife mit Katze vor der Neujahrstanne die Welt der Frauen und der Emotionen. Deutlich ist die Generationenlücke : Der Junge nimmt die Rolle des fehlenden Vaters ein. Die Vaterlosigkeit bleibt, aber in den 1950er Jahren ging es nicht mehr so militärisch zu. In Wieder eine schlechte Note ! steht der Schüler schuldbewusst vor der verzweifelnden Mutter. Aus seiner Tasche ragen ein Paar Kufen : Statt zu lernen war er eislaufen, deshalb schaut ihn die Schwester in ihrer Schuluniform strafend von der Seite an (Abb. 2.34). Ein weiteres Motiv aus dem Jahr 1954 mit dem Titel Prüfungswiederholung zeigt einen Jungen, der alleine drinnen lernen muss, während die anderen Kinder schon draußen spielen. Auf der anderen Seite sind Kinder im Schoß der Natur in lichten Farben abgebildet oder aber in biedermeierlich anmutenden Genrebildern in häuslichen Zusammenhängen, ganz mit sich selbst beschäftigt und aus der Gesellschaft herausgelöst. Die Genrema93
Kinder im Zeichenraum
Abb. 3.1 : Grußpostkarte zum Schulanfang, 1956 Die Postkarte zeigt die Vorbereitungen für den ersten Schultag am 1. September auf. Das wird durch eine bestimmte Kombination von zeichenhaften Accessoires vermittelt : Die Schülerin ist mit weißer Festtagsschürze und weißen Haarschleifen herausgeputzt, sie trägt ihre neue Schultasche und die Blumen für die Lehrerin. Abb. 3.2 : Vladimir Serov (1910–1968), Hausaufgaben, 1956, Öl auf Leinwand Hausaufgaben sind eines der wiederkehrenden Motive. Die meisten Darstellungen zeigen Mädchen in Schuluniform mit festlicher weißer Schürze in städtischen Interieurs. Der Blick aus dem Fenster auf die Stadt verbindet die häusliche Szene mit der allgemeineren gesellschaftlichen Ankunft im Wohlstand. Alle haben ihren Platz und ihre Aufgabe in dieser höheren Ordnung. Oft porträtierten Künstler ihre eigenen Kinder. Abb. 3.3 : Sergej Ja. Dunčev (1916–2004), In die Schule, 1954, Öl auf Leinwand Die über das Land zur Schule wandernden Kinder lassen nicht etwa Strukturschwäche zutage treten, sondern suggerieren eine umfassende Versorgung der Bevölkerung mit Bildung. Zugleich betten sie die Kinder in die Natur und unter einen verheißungsvoll leuchtenden Himmel. Auch hier verweisen die Blumen und weißen Schürzen auf den 1. September.
lerei war in den 1940er und 1950er Jahren ein wichtiges Feld. Kinder wurden häufig in der Natur, auf dem Land, in Gruppen oder in Dorf- und Familiengemeinschaften jenseits von Institutionen, sozialen Rollen und Uniformen dargestellt. Das Kind in der Natur stellte größtmöglichen Abstand zu allen Gefährdungen des Politischen her. Ein gutes 94
Kinder in der Genremalerei
Abb. 3.4 und 3.5 : Arkadij A. Plastov (1893–1972), Sommer, 1954, Öl auf Leinwand, und Enkel, 1960er Jahre Plastov malte die Kinder barfuß, in ihr Spiel oder ihre Arbeit vertieft. Der ewige Sommer auf solchen Bildern wird durch die Übernahme impressionistischer Gestaltungsmittel atmosphärisch verstärkt.
Beispiel dafür sind die Bilder von Arkadij A. Plastov (1893–1972), die in einem idyllischen ländlichen Milieu angesiedelt sind (Abb. 3.4 und 3.5). Die Kinder leben in ihrer eigenen, den Erwachsenen unzugänglichen Welt, nah bei der Natur und bei sich selbst. Auch Kinder im Schulalter erschienen in der stark am Realismus des 19. Jahrhunderts orientierten Genremalerei häufig und mit dem Tauwetter zunehmend jenseits staatlicher Rollenbilder. Eine Ausnahme bilden die Darstellungen von Aleksandr A. Dejneka (1899–1969) aus den 1930er Jahren. Seine Pioniere sind häufig nur am Titel erkennbar, im Bild sieht man Jungen in Badehosen, sie haben allenfalls ein rotes Buch dabei und träumen Flugzeugen hinterher.8 Es sind »künftige Helden« der Sowjetunion (Abb. 2.25). Eigentlich ist nur ihr Alter das Attribut, das sie den Pionieren zuordnet : Alle Jungen in diesem Alter sind bei den Pionieren. Das Mädchen mit Blumenstrauß von Šapaev spielt ähnlich wie Dejnekas Pioniere mit der Spannung zwischen Naturkind und »Staatskind« : Sie trägt die Schuluniform, die Schultasche und das Pionierhalstuch, aber ihr Habitus ist der eines verträumten Kindes, die Haltung das Gegenteil von stramm und strebsam. Sie nimmt sich gerade eine 95
Kinder im Zeichenraum
Abb. 3.6 : Fedor V. Šapaev (*1927), Pionierin, 1955, Öl auf Leinwand Die Schülerin ist in ihrer privaten Umgebung dargestellt. Sie trägt Uniform und Pionierhalstuch, hat auch die Schultasche und Blumen für die Lehrerin bei sich. Aber sie wirkt informell und natürlich, die Blumen betonen eher das lyrische Kind.
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kleine Auszeit (Abb. 3.6). Die Blumen stehen für die Nähe des Kindes zur Natur. Diese lyrische Komponente wurde im Tauwetter immer stärker. Mit dem Tauwetter und dem Aufbruch in eine neue Phase des Sozialismus rückten die Natürlichkeit, das »Lebendige« und Innerliche stärker in den Vordergrund. Himmel, Licht, Wasser und Blumen waren wichtige Elemente, die mit neoimpressionistischer Pinselführung und Lichtreflexen in Szene gesetzt wurden. Ein häufiges Motiv waren Kinder am Fenster oder auf dem Balkon, über deren Schulter die Betrachterin gemeinsam mit ihnen in die Zukunft blicken konnte (vgl. Abb. 2.27).9 Die Ausblicke zeigten die neue, die sowjetische Stadt, die im Bild als lyrische Stadt gefeiert wurde. Dies war ein häufiges Postkartenmotiv der Zeit – die Gemälde dienten als Vorlagen.10 Der Blick aus dem eigenen Fenster offenbarte Interieurs mit Einrichtungsgegenständen im Vordergrund und der Stadt im Hintergrund. Das Motiv verwies auf die Verbindung von privatem und kollektivem Glück.11 Hier schließt sich der Kreis zu den privaten und institutionellen Fotoalben, von denen im folgenden Kapitel die Rede ist. Die Gemälde und die sorgfältig arrangierten Fotografien der 1930er bis 1950er Jahre erzählten jeweils eine Geschichte, während die spontaneren Fotografien des Tauwetters Momente festhielten und erst ihre Anordnung in privaten oder institutionellen Alben einen Sinnzusammenhang herstellte. Die privaten Alben wurden nicht als Geschichten angelegt. Die Alben der Pionierlager hingegen erzählten gruppenübergreifende und kollektive Geschichten eines glücklichen und gesunden Sommers. Die Perspektive blieb diejenige der erwachsenen Beobachter, die mehr wussten als die Kinder und ihr Handeln einordnen konnten.
Pioniersymbolik und Pionierrituale
Pioniersymbolik und Pionierrituale
Symbole und Rituale sollten Kinder und Jugendliche auf emotionaler Ebene ansprechen.12 Die führenden sowjetischen Pädagogen waren überzeugt davon, dass die Bildkraft der Symbole und Rituale, ihre Feierlichkeit und spielerischen Elemente die Pionierarbeit bereicherten, dass sie den Pionieren revolutionäre Romantik und Anziehungskraft verliehen.13 Allerdings zeigt ein Überblick über die historische Entwicklung auch, dass sich der revolutionäre Elan abnutzte und die Symbolik zunehmend historisch erklärt werden musste. Die spätsowjetischen Kinder fanden die Rituale und Symbole schließlich lästig bis »debil«. Die Pionierorganisation
Die Organisation der Jungen Pioniere wurde 1922 als Zweig der Komsomol-Organisation für die 10- bis 15-Jährigen gegründet (diese Altersgrenzen änderten sich mehrfach). Kurz darauf wurden die Pfadfinder verboten.14 Trotzdem fanden viele Elemente der Pfadfinderorganisation ihren Weg in die Pionierorganisation : die Losung (deviz) »Sei bereit !« (bud’ gotov !), die Formeln des Schwurs und der Gesetze, die Uniform, die militärisch inspirierte hierarchische Einteilung in »Freundschaften« (družiny), »Gruppen« (otrjady) und »Zirkel« (zveny). Die Pioniere der ersten Jahre waren ermächtigte Kinder des jungen Sowjetstaates, Agitatoren des sozialistischen Aufbaus, die ihre Eltern und die Erwachsenen überhaupt beobachten und dazu anhalten sollten, ihre Lebensweise zu ändern. Ziel der Propaganda waren die Kinder der Arbeiterinnen und der Bauernschaft, aber auch Straßenkinder und Waisen. Die Pionierpolitik war Teil der Kinderpolitik, die auf Kinderschutz, Hygiene, Ordnung und staatliche Erziehung zielte. Jenseits der Städte waren die frühen Pioniere die Vorhut der Bolschewiki.15 Die Pionierlager der 1920er Jahre standen einerseits im Dienst der Tuberkulosevorsorge, andererseits im Zeichen der Pioniere als Kulturbringer. In den 1930er Jahren wandelte sich der Charakter der Pionierbewegung : Sie wurde weniger aktivistisch, sollte möglichst viele Kinder erfassen und war stärker in die Schul- und Erziehungsarbeit eingebunden. An den bildlichen Darstellungen wird die Überlagerung der Rollen als Pioniere und Schüler in der Überlagerung der Uniformen deutlich, wenn das Halstuch zur Schuluniform getragen wurde (vgl. Abb. 3.6). Pioniersymbolik
Die Organisation wurde mit einem Kostüm von Symbolen und Ritualen ausstaffiert.16 Die Jahre von 1922 bis 1925 waren die zentralen Jahre für die Entstehung der Pioniersymbolik. 1923 wurden Rituale und Symbole wie die Aufnahme in die Organisation und die Aufnahme in die Gruppe sowie die Terminologie (otrjad/Abteilung, zveno/Gruppe, vožatyj/Leiter) eingeführt. Das Aufnahmeritual mit dem Schwur geriet sehr feierlich. In 97
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den folgenden Jahren wurden Symbole und Attribute verbessert und angepasst und der Pioniergruß eingeführt.17 Die sowjetische Historiografie der Pioniersymbolik bescheinigt der revolutionären Romantik und ideologischen Ausstrahlung der Symbole in den 1920er Jahren eine große Anziehungskraft auf Kinder und Jugendliche. Zugleich sei aber die Ausdifferenzierung der Rituale gering gewesen, es sei vor allem um Trommeln, Paraden, Marschieren und um politische Instruktion gegangen. Die symbolpolitische Gruppenarbeit begann erst 1928. Nun kamen Abzeichen, Wimpel und Uniform hinzu (Abb. 3.7 und 3.8).18 Um die zentrale Bedeutung der Symbolik zu untermauern, wurden die Schriften pädagogischer Größen wie Nadežda K. Krupskaja (1869–1939) und Anton S. Makarenko (1888–1939) herangezogen.19 Krupskaja diskutierte in mehreren Schriften die Übernahme von Elementen des Scoutismus. Sie kritisierte zwar die bourgeoise Pfadfinderbewegung, erkannte aber die Bedeutung bildkräftiger Symbole für Zusammenhalt und Motivation. Ins Zentrum der Mitte der 1930er Jahre eröffneten Pionierhäuser und Pionierpaläste rückten die Zirkel mit Freizeitbeschäftigungen wie Schach, Musik, Ballett oder Theatergruppen. Allerdings hatten immer noch erst wenige Kinder vor allem in größeren Städten Zugang zu diesen Errungenschaften der sowjetischen Kinder- und Jugendarbeit. Die Pioniere verkörperten nun die glückliche sowjetische Kindheit. Eine kurze Rückkehr des Politaktivismus brachte die Mobilisierung während der Kriegsjahre. Ganz im Sinne von Arkadij P. Gajdars (1904–1941) 1940 erschienener Erzählung Timur und sein Trupp wurde den Kindern eine aktive Rolle bei der Vaterlandsverteidigung zugewiesen.20 1942 erhielt die Pionierorganisation ein neues Symbol : die brennende Fackel.21 Typischerweise waren die größten Helden der Pionierbewegung, Pavlik T. Morosov (1918–1932) und Zoja A. Kosmoděmjanskaja (1923–1941), Aktivistinnen. Später beschränkte sich der Beitrag der Pioniere zum politischen Leben wieder auf das Verfassen von Wandzeitungen und das Sammeln von Wertstoffen. Nach 1953 wurde die Pionierbewegung zur Massenbewegung, doch erst in den 1960er und 1970er Jahren entstanden auch in ländlichen Siedlungen eigene Pioniergruppen.22 Die Entwicklung zur Massenbewegung ging einher mit dem Ziel der »rationalen Freizeitgestaltung«. Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Symbolpolitik der Pioniere im Rahmen der Entstalinisierung einige Anpassungen. Es ging darum, wann der Pioniergruß entboten werden musste, wann welche Fahnen und Abzeichen mitgeführt werden sollten, sowie um Regeln für die Einrichtung von Abteilungen und um Anleitungen für die Pionierarbeit. Neu geregelt wurden verbindliche Festtage, Treffen mit ausgezeichneten Kommunistinnen und Veteranen, die Pflege der Symbole und Rituale, die politische Arbeit, Führung, sozialistische Werte und die Moral. Insgesamt ging es darum, im Rahmen der Erneuerung des Sozialismus nach Stalin neue Anreize für die Pionierarbeit zu schaffen. Mit den sowjetischen Erfolgen in der Raumfahrt eröffneten sich hier ganz neue Felder. In den Pionierpalästen zahlreicher Städte entstanden »Klubs der künftigen Kosmonauten«. In den 1960er und 1970er Jahren folgten weitere Neuerungen. Diese standen einerseits im Zusammenhang mit Versuchen, die Jugend weiterhin für den Sozialismus zu mobilisie98
Pioniersymbolik und Pionierrituale
Abb. 3.7 : Ekaterina S. Zernova (1900–1995), Plakat Kinder des Oktobers, seid bereit, die große Sache Lenins, die Sache des Weltkommunismus weiterzuführen und zu vollenden !, 1933 Vor einer Baustelle der »Traumfabrik Kommunismus« halten junge Pioniere die sowjetische Fahne, bereit, eine aktive Rolle im Aufbau der sowjetischen Gesellschaft zu übernehmen. Abb. 3.8 : Illustration in der Zeitschrift USSR im Bau Nr. 6, 1934 Diese Pionierdarstellung aus der renommierten Zeitschrift USSR im Bau, die übersetzt und ins Ausland vertrieben wurde, wirkt durch die Montageelemente und die Zeichnung noch »handgemacht«. Zu sehen sind Kinder unterschiedlicher sowjetischer Nationalitäten, die alle das rote Pionierhalstuch tragen. Ein Mädchen lächelt in die Kamera, die anderen drei blicken hoffnungsfroh lächelnd in die Ferne.
ren. Andererseits wurden im Kalten Krieg Kinder vermehrt als Aktivistinnen und Aktivisten dargestellt. Solche Bilder schuf der am 26. Juni 1960 eingeführte Tag der Jugend, der mit einer Demonstration von Pionieren mit Abzeichen in Form einer Taube für den Frieden begangen wurde. Auch das militärische Kriegsspiel zarnica (Blitzgewitter), das ab 1967 zum festen Programm der Pionierlager gehörte, brachte die sowjetische Kinderschar mit Themen des Kalten Krieges in Berührung.23 Zum 50. Jahrestag der Revolution wurde die Bewegung der Roten Pfadfinder gegründet. Hinzu kamen historische Arbeit, Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Traditionen, der Revolution, der Sowjetunion und der Pionierorganisation, Treffen mit Veteranen und Zeitzeuginnen. All dies wirkte zurück auf die Symbole, Rituale und Traditionen.24 99
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Abb. 3.9 : Gennadij A. Dar’in (1922–2012), Gagarin zu Gast bei den Pionieren, 1965, Öl auf Leinwand Besuche von »Helden der Sowjetunion« bei Pionierorganisationen gehörten zu den regelmäßigen Ritualen, die die Weitergabe von Werten von einer Generation an die nächste in Szene setzten. Die Helden konnten alte Revolutionäre, Wissenschaftlerinnen, Kriegsveteranen oder Kosmonautinnen sein. Beispielsweise war Jurij Gagarin ständig zu Gast bei Pionieren, unter anderem im Lager Artek, bevor er 1968 bei einem Flugunfall ums Leben kam.
Abb. 3.10 : Ivan A. Tichij (1927–1982), Feierliche Aufnahme in die Pionierorganisation (Diplomarbeit), 1953, Öl auf Leinwand Im obligatorischen Sonnenschein dürfen ältere Pionierinnen den jüngeren das Halstuch binden. Über der Szene wachen die Erwachsenen sowie eine Büste des jungen Lenin.
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Mit den Jahren wandelten sich Symbole und Rituale in ihrer Funktion : Sie dienten zunächst der Mobilisierung, später der Vermittlung zentraler Werte und ab den 1960er und 1970er Jahren dann zunehmend einer selbstreferentiellen Traditionsbildung. Die Geschichte der Pioniere wurde durch immer mehr Heldinnen und Feiertage und die damit verbundenen Bilder und Rituale angereichert (Abb. 3.9).25 Unverändert gegenwärtig blieb Lenin als Vorbild und Kernelement der Symbolik. Sein Profil prangte im Fackelsymbol der Pionierbewegung. Er begleitete schon die Kleinsten, die oktobrjata, die Oktoberkinder, und war bei allen Ritualen als Kind und Jugendlicher im richtigen Alter auf den Ausweisen, als Büste, Statue oder Porträt dabei (Abb. 3.10). Die Pionieruniform
Die Pionieruniform bestand im Wesentlichen aus einem weißen Hemd und dem roten Halstuch, im Sommer kombiniert mit blauen kurzen Hosen oder einem blauen Rock. Die Kopfbedeckungen (Schiffchenmütze, pilotka) waren rot, später blau, im Sommerlager gab es weiße Stoffhütchen als Sonnenschutz. Das Halstuch wurde auch zur Schuluniform getragen, manche trugen in der Schule je nach Anlass die Pionieruniform. Das rote Halstuch war das wichtigste Zeichen des Pioniers und symbolisierte die Zugehörigkeit zur Organisation wie die Verehrung ihrer Heldinnen und ihrer Werte. V. T. Kabuš beschrieb 1985 den Wandel der Uniformen seit der Revolution : In den ersten Jahren waren sie den soldatischen Uniformen der Revolutionäre nachempfunden, mit einem Hemd in Tarnfarben, dunklen kurzen Hosen oder Rock. Die Uniform wandelte sich in den folgenden Jahren, aber immer waren mit einzelnen Elementen bestimmte Bedeutungen verknüpft. Die Uniform der 1980er Jahre verband Elemente verschiedener Epochen : Die Schiffchenmütze erinnerte an die Pioniere der 1930er Jahre, die eine pilotka-ispanka genannte Schiffchenmütze trugen.26 Die Militärbluse in Khaki (zaščitaja bluza) erinnerte an die Uniform der ersten Pioniere. Die Uniform insgesamt in ihrem ideologischen Gehalt sollte die jungen Leninzen (so wurden die Pioniere als kleine Getreue Lenins ebenfalls genannt) an ihre Pflicht mahnen, die Ideale der Revolution zu verkörpern und die Pioniertraditionen zu schützen.27 Deutlich wird an diesem Rückblick von Kabuš die zunehmende historische Legitimierung und die seit den 1970er Jahren betonte Pflege und Weitergabe der Traditionen und Werte der Bewegung von einer Generation an die nächste (Abb. 3.11 und 3.12). Eine Legitimation aus der sowjetischen Gegenwart heraus fehlte. In den 1970er Jahren wurde der mangelnde Gegenwartsbezug der Pioniersymbolik und zahlreicher Rituale immer offensichtlicher. Der sowjetische Alltag hatte nicht mehr viel gemein mit den Verhältnissen, unter denen die sowjetischen Pädagogen Aleksandr Makarenko und Nadežda Krupskaja in den 1920er und 1930er Jahren die Pionierarbeit konzipiert hatten. Damals hatte die drängende Notwendigkeit bestanden, Millionen von verwahrlosten Kindern und Jugendlichen einzugliedern, umzuerziehen und zu Sow101
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Abb. 3.11 und 3.12 : Illustrationen aus V. T. Kabuš, Symbole der Pioniere (Pionerskie simvoly), Minsk 1985 Die Darstellungen werden von den Zitaten »Nichts stärkt ein Kollektiv so sehr wie Traditionen. Traditionen entwickeln und bewahren – das ist eine wichtige Aufgabe der Erziehungsarbeit« (A. S. Makarenko) und »Es ist unabdingbar, das Leben der Kinder so zu gestalten, dass aus ihnen echte Kommunisten werden« (N. K. Krupskaja) begleitet. Die Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« ist hier zentral : Unten marschieren die Pioniere mit Kranz und Georgsband vor dem Hügel des Ruhmes (Kurgan slavy) in Belarus’. Im Hintergrund ist ein Feuerwerk zur Erinnerung an den Sieg und den Frieden zu sehen. Rechts oben versammeln sich Veteranen mit Pionierinnen vor der Brester Festung.
jetbürgern zu machen. Es ging darum, Anziehungskraft auf die junge Generation auszuüben und sie für die Sache der Partei zu gewinnen. Makarenko betonte, dass bildstarke Symbole die erzieherische Arbeit in der Kommune erst möglich machten. Flaggen, Paradeuniformen und Rituale standen für die höheren Werte, denen sich alle verpflichten mussten. Im Alltag seiner Arbeitskommune regelten Fanfarensignale, Salute und Appelle den Tagesablauf (Abb. 3.13–3.16). Diesen Signalen war das ganze Kollektiv unterworfen, sie gingen in die gemeinsame Tradition ein und förderten die Disziplin und den Zusammenhalt des Kollektivs.28 Mit der Ausdehnung der Pionierorganisation und ihrer Anbindung an die Schule ging auch eine räumliche Verbindung einher : Jede Schule hatte einen Pionierraum (pionerskaja komnata).
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Pioniersymbolik und Pionierrituale
Abb. 3.13 und 3.14 : Luftpostpostkarte zum 50. Gründungsjahr des Pionierlagers Artek, 1975 und Briefmarke aus der Serie Internationaler Tag zum Schutz der Kinder (1. Juni), 1958 Die Postkartenillustration stellt typische Hornisten und grüßende Pioniere dar. Die Briefmarke auf der Postkarte von 1975 sowie die Briefmarke von 1958 zeigen im Hintergrund die Landschaft der Krim beim Prestigepionierlager Artek mit dem Berg Ayu-Dag.
Abb. 3.15 : A. Finogenov, Pionierausweis, Heute wurdest Du zum Pionier (Segodnja ty stal pionerom),
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Kinder im Zeichenraum
recto, verso Auflage von 1989, Jahr der Gestaltung unbekannt Abb. 3.16 Komsomol-Ausweis, Du tratst in die Reihen ein (Ty vystupil v rjady), recto, verso, Auflage von 1989, Jahr der Gestaltung unbekannt. Der Pionierausweis wurde 1989 in einer Auflage von 1.250.000 Exemplaren gedruckt, der KomsomolAusweis in einer Auflage von 750.000 Exemplaren. Die historische Legitimierung zeigt sich an der Gestaltung.
Der Pionierraum und seine Ausstattung
Wie dem sowjetischen Klassenzimmer so kam auch dem Pionierraum eine wichtige erzieherische Bedeutung zu.29 Das zeigt sich an der Ratgeberliteratur zu seiner Ausstattung. Für die Pionierräume wurden eigens Wandbilder geschaffen mit Anleitungen zu verschiedenen Themenbereichen wie der militärischen Ausbildung oder dem Bau eines Heißluftballons. Zahlreiche Plakate zur Pionierthematik waren für die Ausstattung der Pionierräume gedacht. Als Beispiel dient hier eine bilderbuchartige Publikation aus Kiev aus dem Jahr 1978, die genaue Anweisungen zur Gestaltung des Pionierraums gab. Der Pionierraum befand sich in der Schule. Eingangs werden Funktion und Bedeutung des Pionierraums erklärt : Die Pioniere gestalten den Raum, hier finden einerseits Treffen zur Organisation und Planung für die Aktivitäten der Družiny (Freundschaften) statt, ferner die Vorbereitungen für die Aufnahme in den Komsomol und schließlich die Anlässe (klub), Konzerte, Vorträge, Diskussionsveranstaltungen. Die Pionierorganisation ist der erste Rahmen für politische Aktivität. Entsprechend der zentralen Rolle des Raums für die Družina ist seine ästhetische Ausgestaltung von hoher ideeller Bedeutung. Sinnvollerweise sollte das Pionierzimmer in neun Funktionsbereiche unterteilt sein : 1. Die Rote Ecke 2. Der Bereich der Abteilung auf dem Pfad des Marsches der gesamtsowjetischen Pioniere 3. Die jungen Internationalisten 4. Die Pionier-Aktivisten 5. Die Arbeitsecke 6. Der Bereich des Leiters 7. Bereich des Leiters der Oktoberkinder-Gruppen 8. Bereich für die Komsomol-Anwärter 9. Methodische Ecke Exponate sollten nicht mehr als ein Fünftel der Wandfläche bedecken, und es gab Vorschläge für die Anordnung der Bereiche : Stellwände (die Höhe wurde vorgegeben), Vitrinen für Exponate und Tafeln aus Karton für Wandzeitungen und das Anheften von Souvenirs. Die Möblierung sollte so gewählt sein, dass sich der Pionierraum problemlos 104
Kinder in Uniformen – Schulkinder und Pioniere
in einen Saal für Zusammenkünfte und Aktivitäten verwandeln ließ. Die Farbgebung sollte für kleinere Räume hell und kühl, für größere in wärmeren Tönen gehalten sein. Der wichtigste Bereich war die »Rote Ecke«, für die der älteste Leiter oder die älteste Leiterin zuständig war. Die Anordnung der Symbole, Attribute und Texte sollte diese in idealer Weise zur Geltung bringen. In die Rote Ecke gehörten eine Büste oder ein Porträt Lenins, die Fahne der Pionierabteilung, das Bereichsabzeichen, die Abzeichen der einzelnen Untergruppen, die Hörner oder Fanfaren, die Trommeln und die Tafeln mit den sowjetischen Pioniergesetzen sowie weiteren grundlegenden Texten und Gesetzen, die die sowjetische Pionierorganisation betrafen. Es folgten Hinweise für die Anordnung sowie die Anweisung, dass frische Blumen oder Pflanzen unabdingbarer Teil der Inszenierung seien. Ehrungen und Symbole spielten eine ebenso wichtige Rolle wie die Betonung des Internationalismus und eine Tafel zu den Pionieren der Bruderrepubliken sowie die Abzeichen aller demokratischen Kinderorganisationen und die internen Rangabzeichen. In der Arbeitsecke illustrierten Tafeln die Aufgaben wie Gartenarbeiten, die Ehrung der Feiertage mit Blumen und Ritualen, Naturschutz, Singen, Wertstoffsammlung. Darüber hinaus leiteten die Pioniere die Gruppen der Oktoberkinder und gestalteten deren Freizeit. Die Methodische Ecke war für die Instruktion der Leiterinnen gedacht : Hier regte das Handbuch an, Literatur aufzustellen und eine Artikelsammlung zu Themen der Pionierarbeit anzulegen : zur Geschichte der Pionierorganisation, Anregungen für die Arbeit mit den Gruppen, Ratgeber, Vorschläge für Zirkel, Klubs, die Anlage eines Museums der Abteilung oder den Pioniersommer. Deshalb stand neben den Tafeln, hier mit einem Bild von Krupskaja, auch ein Regal. Der letzte Teil des Buches bot Grundrisse für Pionierräume unterschiedlicher Ausmaße, eine Anleitung für den Schaukasten für das Banner in drei Größen sowie typografische Muster. Die Pioniere warben mit properen Kindern in Uniform – der Pionier hat ein Ziel, eine Aufgabe, er weiß, wohin er gehört.
Kinder in Uniformen – Schulkinder und Pioniere
Die Attribute von Schulkindern und Pionieren waren Uniform, bei den Mädchen mit Schürze, das rote Halstuch sowie auf Gemälden und Postkarten auch die Schultasche. Blumen und weiße Schürzen verwiesen auf den feierlichen ersten Schultag. Pioniere waren häufig mit Fanfare, Trommel und Fahne abgebildet sowie in den ritualisierten Haltungen des Hornisten und des Pioniergrußes. Hinzu kamen bestimmte allseits bekannte und leicht zu entziffernde Umgebungen und Tätigkeiten. Die Uniform wurde zum ikonischen Zeichen des Kindes in seiner gesellschaftlichen Rolle als Schulkind und Pionier. Die Attribute und die mit den Ritualen verbundenen Körperhaltungen machten das Kind selbst zum Zeichen, zum gesellschaftlichen Rollenträger und zum Typus. 105
Kinder im Zeichenraum
Die Figur des »Staatskindes« hatte eine starke bildliche Wirkung. Die Zeichenhaftigkeit war so stark verankert, dass sie selbst noch in verfremdeten Darstellungen deutlich erkennbar bleibt. Die Uniformen, die Attribute und die Symbolik stifteten Gemeinschaft und grenzten die Gruppe nach außen ab. Zugleich bezeichneten sie innere Hierarchien. Die Uniformen sollten zwar sichtbare soziale Unterschiede auslöschen, aber mit der Einheitskleidung setzten Prozesse der inneren Abgrenzung ein, etwa durch Details. Dabei half der Umstand, dass es jeweils um den Gesamteindruck einheitlicher Kleidung ging und einzelne Elemente der Uniformen variabel waren. Der Gesamteindruck legte den Fokus auf die Rolle des »Bildes«, unterstrichen durch die Tatsache, dass die Uniform vor allem für feierliche Anlässe und Gruppenaufnahmen getragen wurde (Abb. 3.17 und 3.18). Im Alltag war die Uniform, trotz der lebhaften sinnlichen Erinnerungen an sie, nie ganz einheitlich : Es gab regionale Unterschiede, die Einführung neuer Uniformen verlief zeitlich versetzt, es gab Festtags- und Alltagsvarianten und in Zeiten des Mangels war die Uniform für den Alltag einfach zu schade. Die Schuluniform überlagerte sich mit der Pionieruniform, weil das rote Halstuch oft zur Schuluniform getragen wurde. Außerdem musste häufig improvisiert werden und die Aneignung der sperrigen Uniform führte auch ein Stück weit zu Abb. 3.17 : Das erste Mal in der ersten deren Individualisierung – sei es durch andere Klasse, der Aufdruck unten : Vladivostok Knöpfe, den Schnitt oder die Lage der Taschen. 1972 Die Aufnahme wurde offenbar von einem Hinzu kamen freie Elemente wie Krägen, ManFotografen gemacht, der am ersten schetten und Haarbänder bei den Mädchen, Schultag mithilfe eines Bettlakens ein bei denen nur die Farbe vorgeschrieben war. Atelier improvisierte und außer dem Klassenfoto auch die Schülerinnen und Gerade diese kleinen Accessoires waren jeSchüler einzeln aufnahm. Weiße Schürze, doch neben der Schürze zentrale Kennzeichen Haarschleife und ABC-Fibel sind die der Uniform. Im Ergebnis war keine Uniform Insignien der ABC-Schützin. Das Foto der Offizierstochter wurde an die Familie des genau wie die andere. Im Alltag genügte es, väterlichen Offizierskameraden Kozub wenn der Gesamteindruck und die Rocklänge verschickt, der nach Vilejka versetzt stimmten. Sie markierten gewissermaßen die worden war, und mit dessen Familienfotos Grenzen des Spektrums.30 Das illustriert auch aufbewahrt. 106
Kinder in Uniformen – Schulkinder und Pioniere
Abb. 3.18 : Die Bildunterschrift ist auch hier der Reim Das erste Mal in der ersten Klasse. Es handelt sich um ein Klassenfoto der ersten Klasse 1982 der Allgemeinen Schule in Pskov. Die Kinder stehen auf der Treppe vor der Schule, auffallend einheitlich in ihre neuen Uniformen gekleidet : Die Jungen tragen den 1973 eingeführten dunkelblauen Anzug mit Metallknöpfen, die meisten mit weißem Kragen. Die Mädchen tragen die braunen Wollkleider mit weißen Manschetten und Kragen, dazu weiße Schürzen und Haarschleifen. Alle Kinder haben Pantoffeln an den Füßen.
eine Anekdote, die Svetlana Leont’eva wiedergibt : Bei den Pionieren mussten die Hemden möglichst weiß sein und die Halstücher richtig geknotet. Anfangs hatte kaum jemand eine Uniform. Ein Zeitzeuge erinnert sich, dass er für einen besonderen Anlass 1949 plötzlich und unausweichlich eine Uniform benötigte. Er besaß aber kein weißes Hemd. Abends änderte die Mutter das Nachthemd des Nachbarn in das weiße Hemd des Pioniers ab. Weil es keinen Kragen hatte, befestigte sie mit Stecknadeln einen Wechselkragen des Vaters, und alle waren zufrieden.31 Die historische Recherche zeigt, dass der Normierungsprozess der Schulbekleidung nicht eindeutig aktenkundig ist : Es gibt keine zentralen Dekrete und GOST-Prüfstellendokumente zu den Schuluniformen. Die einigermaßen lineare Erzählung von der Abschaffung der »bourgeoisen« Schuluniformen im Jahr 1918 über die Wiedereinführung nach dem Zweiten Weltkrieg und mehrfache Wechsel vor allem der männlichen Uniformen löst sich bei Betrachtung der Dokumentenlage und der Alltagspraktiken auf 107
Kinder im Zeichenraum
und erweitert sich zu einem Spektrum, dessen Grenzen verhandelbar waren.32 In den 1920er und 1930er Jahren gab es keine Uniformen, wohl aber Vorstellungen über die angemessene Kleidung für die Schule. Diese Vorstellungen waren von vorrevolutionären Traditionen geprägt. Zugleich waren eine gezielte Hygienepolitik und Ordnungsvorstellungen Teil des sowjetischen Modernisierungsprojektes.33 Die materielle Situation ließ an eine flächendeckende Einführung einheitlicher Uniformen nicht denken. Die dennoch vorhandenen Normvorstellungen forderten einheitliche Kleidung, die politischen Trends eine traditionelle Zuschreibung von Geschlechterrollen. Beides verfestigte sich dann bereits Mitte der 1930er Jahre, als die Schürze für Mädchen zunächst an Moskauer Schulen üblich wurde.34 Die Normvorstellungen werden jeweils auf den Klassenfotos deutlich, für die alle ihre besten Kleider trugen. Für den Alltag waren diese angesichts der Defizite jedoch zu schade. Im Krieg herrschte Mangel, und die Kinder saßen oft im Mantel in den ungeheizten Klassenzimmern. Die Kleider für die Kinder wurden aus alten Kleidungsstücken der Familie genäht.35 Ljudmila Ulitzkaja beschreibt in ihrer Erzählung Bronka ein Klassenfoto : Auf einem Schulfoto von 1947 blickt die zwölfjährige Bronka nicht ins Objektiv. Sie hat sich abgewandt – nur ein Teil der Wange ist sichtbar und der dicke, über dem Ohr zusammengebundene Zopf. Die Geschlechtertrennung war damals schon eingeführt, die Schuluniform jedoch noch nicht. Trotz der Unterschiede in der Kleidung bemerkt das geübte Auge eine Gemeinsamkeit – die Sachen sind alle geändert, zusammengestoppelt, umgeschneidert. Übrigens tragen zwei Mädchen Schürzen nach vorrevolutionärer Manier. Das sind Bronka und die Enkelin von Anna Markowna – sie war bis an ihr Lebensende ihrer gymnasialen Weltsicht treu, die tiefe, wenn aber auch verspätete Achtung verdient. Irotschka trägt, entsprechend den Idealen der Großmutter, ein dunkles Kleid mit weißem Kragen, eine Imitation der künftigen Schuluniform, Bronka – eine Wollbluse mit satinbezogenen Ärmeln.36
Die Idee einheitlicher Schulkleidung konnte erst später, mit dem Aufschwung der Leichtindustrie, umgesetzt werden. Ab 1954 gab es einheitliche Schuluniformen. 1943 führten 72 Städte der UdSSR den geschlechtergetrennten Unterricht ein, 1953 wiederum die Koedukation. Die Uniform war in der durch die Kriegserfahrungen und Verluste erschütterten Nachkriegssowjetunion Teil der Rückkehr zu vertrauten Ordnungen, auch der Geschlechterrollen.37 Neben den zeitlichen Verlauf tritt der räumliche, denn Änderungen konnten jeweils nur nach und nach umgesetzt werden : Die in Moskau 1945 für Erstklässlerinnen übliche Schürze setzte sich in den Regionen erst rund zehn Jahre später durch. In den unteren Klassen der Moskauer Jungenschulen wurden Uniformen 1950/1951 eingeführt.38 Sie bestand aus einer gegürteten Militärjacke (gimnastërka) mit Stehkragen. 1962, während des Tauwetters, wurde sie durch einen grauen Anzug ersetzt. Auf Klassenfotos der fol108
Kinder in Uniformen – Schulkinder und Pioniere
genden Jahre trugen einige noch die alte gimnastërka, andere den grauen Anzug.39 1973 wurde dieser »Bürokratenanzug« von einer sportlichen kurzen Jacke und Hosen in Blau abgelöst.40 Die Uniform hatte keine Krawatte oder Schleife, weil in der Regel schon ab den 1920er Jahren das Pionierhalstuch dazu getragen wurde, auch von den Mädchen.41 Es war nicht nur Zeichen für die Aufnahme in die Pionierorganisation, sondern auch für das Erreichen des Schulalters.42 Als ab den 1950er Jahren die Mitgliedschaft bei den Pionieren quasi obligatorisch war, wurde das Halstuch Teil der Schuluniform. Nicht zufällig ist auf den meisten medialen Abbildungen von Schülerinnen und Schülern auch das Halstuch zu sehen. Das Tragen oder Nichttragen des Halstuches galt als Zeichen von Konformismus oder Auflehnung.43 Die Schülerinnen gingen in einem dunkelbraunen Kleid mit weißer Schürze an Feiertagen und dunkler Schürze an Arbeitstagen. Die konservative Erneuerung etwa der Kragenform in der Nachkriegszeit war Teil einer symbolischen Erneuerung der traditionellen Geschlechterordnung mit der Frau als Verantwortlicher für Haushalt und Familie. Der Kragen wurde in der Schule über dem einfachen dunklen Kleid getragen und verband symbolisch die Mädchen mit der häuslichen Sphäre und traditionellen Geschlechterrollen : Der Chalat (Kittelschürze) war und ist das übliche Kleidungsstück sowjetischer Frauen im Haus und bei der Hausarbeit.44 In der späten Stalin-Zeit kam eine weitere geschlechterspezifische Verbindung hinzu, nämlich diejenige zum medizinischen und pflegerischen Bereich, der in der Sowjetunion zu den traditionellen Frauenberufen gehörte. In jeder Klasse übernahm eine Schülerin das Amt der sanitarka. Sie inspizierte Hände, Hälse und Ohren ihrer Klassenkameraden auf Sauberkeit und achtete auf die Ordnung im Klassenzimmer. Diese Kontrollfunktion verlieh Macht und verwies auf ein spezifisch weibliches Berufsfeld. Es ging aber auch darum, von Staates wegen die sowjetischen Werte des Neuen Menschen, den gesunden Körper, die Hygiene und die Ordnung zu schützen.45 In den 1960er und 1970er Jahren entwarf das Moskauer Dom Modelej (Haus der Modelle) die Schuluniformen. Die Details der Ausführung der Uniformkleider hingen jedoch von den regionalen Herstellern und ihrem Engagement ab, die Vorgaben der führenden Moskauer Institution in modischen Fragen umzusetzen.46 Die Mädchenuniform war keineswegs einheitlich, sondern umfasste Varianten von Kleid mit Schürze, Manschetten und Kragen. Die Haarschleife sollte weiß, schwarz oder dunkelbraun sein, aber in Bezug auf Material, Breite des Bandes und Platzierung war sie nicht definiert. Das Kleid konnte tailliert geschnitten sein, die Form des Rockes variierte ebenso wie Sitz und Form der Taschen. In Taschkent gab es in den 1970er Jahren eine blaue Sommeruniform mit kurzen Ärmeln. In Usbekistan trugen die Mädchen lange Röcke. In Estland gab es für die Jungen 1972 einen schwarzen Anzug mit blauem Hemd, ab 1979 sogar Jeanshosen und Jeanshemd als Schuluniform. Verschiedene Hersteller legten auch bei den russischen Uniformen die Details unterschiedlich aus, so dass es sichtbare Differenzen gab. Versuche von Schülerinnen, ohne Schürze zu gehen, konnten noch in der späten Brežnev-Zeit Sanktionen nach sich ziehen.47 Erst 1984 gab es eine Änderung der Mädchenuniform 109
Kinder im Zeichenraum
von Braun zu Dunkelblau und vom Kleid zu Rock, Jacke und Weste. 1988 war auf breiter Front der Widerstand gegen die Uniformen gewachsen. Das führte zu ihrer Abschaffung im Jahr 1992, allerdings auch zu postsowjetischen Debatten :48 Eine Zeitzeugin erinnert sich, dass ihr dadurch bewusst wurde, »wie arm wir waren«. Ehemalige Sowjetbürgerinnen erinnern sich an das braune Kleid mit Schürze. Diese Erinnerungen sind untrennbar mit Sinneseindrücken wie dem Geruch nach Essig oder versengten Haarschleifen verbunden.49 Erinnert werden neben der Pflege auch die Umstände des Erwerbs oder der Herstellung der Uniform. Wichtig waren kleine Besonderheiten. Das etwas »Andere« galt immer als Statussymbol, etwa Spitzenkrägen, Manschetten oder ganze Uniformen aus anderen Städten und Republiken. In Leningrad galt es beispielsweise als besonders schick, eine Uniform aus Riga zu tragen. Das war eine eigensinnige Praxis, die die Grenzen des Erlaubten auslotete und zugleich Teil eines Aneignungsprozesses blieb : Ein anders geschnittenes Kleid wurde als Ausbruch aus der staatlichen Normierung empfunden. Dabei konnte man das System mit seinen eigenen Regeln überlisten, wenn man sich der Direktorin gegenüber mit dem Hinweis verteidigte, das sei eine sowjetische Schuluniform, nur eben aus Riga. Auch die Schürzen waren in Stoffqualität und Zuschnitt Statusobjekte. Lage und Art der Taschen, auch Breite der Träger variierten und unterlagen modischen Trends. Sie wurden von Müttern oder älteren Schülerinnen häufig selbst genäht. Grundlage solcher Distinktionspraktiken waren das sowjetische System von Produktion und Handel, auch die Versorgungsunterschiede von Ort zu Ort. Es gab exklusive Geschäfte wie das Destkij Mir oder Berjoska sowie die Möglichkeit, eine Schneiderin zu engagieren.50 Wie die verschiedenen Codierungen der Uniform zeigen, war ihr von Anfang an das ganze Spektrum der Möglichkeiten von Konformität bis Überschreitung der durch sie definierten Zwänge und Grenzen eingeschrieben.51 Die Uniform ist Teil des Prozesses, den Körper zu zähmen, die äußeren mit inneren Mechanismen der Kontrolle zu verbinden. Gerade der kindliche Körper ist durch die Entwicklung, durch Wachstum und Veränderung der Proportionen starken Wandlungsprozessen ausgesetzt. Selbst die einheitliche Schuluniform kann dem Auge die Heterogenität des kindlichen Kollektivs nicht verbergen. Die ungezähmt wachsenden Körper sprengten die Uniformen. Kinder in zu kleinen oder abgenutzten Uniformen glichen – gewollt oder ungewollt – den negativen Helden der Kinderliteratur, den besprizornye und den »Wiederholern« in ihren abgewetzten, verblichenen, unordentlichen Uniformen.52 In Ljudmila Ulitzkajas Erzählung nutzten die Jungen 1956 ihre Frisur als Zeichen des Eigensinns : Jungen und Mädchen wurden nicht mehr getrennt unterrichtet, sondern zusammen. Die Mädchen trugen Gymnasialkleidung, die Jungen waren kahlgeschoren, nur einige wenige, Bohemiens und Freidenker, die sich von Jugend an zur Opposition gegen die Gesellschaft verurteilt hatten, trugen einen durchsichtigen, fischschwanzartigen Pony.53
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Uniform oder Multiform/Variform ? Ein Fazit
Innerhalb der Grenzen des Spektrums des »Gesamteindrucks« der jeweiligen Uniform oder zwischen Schul- und Pionieruniform war einiges möglich. Erst gegen Ende der 1980er Jahre wurden die Grenzen wirklich anarchisch durch Praktiken des Punk und der Zerstörung überschritten. Rückblickend wird die Uniform als Überstülpen staatlicher Werte und der Umgang damit häufig als Kampf um das Recht auf individuelle Freiheiten dargestellt.54 Das verstellt den Blick auf die breite Akzeptanz und das Spiel mit Varianten entlang der Grenzen, die Status innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen brachten : Man konnte Uniformen aus anderen Republiken anziehen, mit den Accessoires spielen und die Uniform auf lässige Weise tragen, um Coolness zu demonstrieren und die Lehrer zu provozieren. Erst gegen Ende der Sowjetunion wurde die Uniform abgelehnt, Mädchen ließen die Schürze weg, Jungen trugen zivile Hosen zur Jacke. Schließlich wurde sie ganz ins Lächerliche gezogen und gegen Schulschluss im Sinn der Punkmode abgeändert, Ärmel herausgetrennt, Sprüche aufgemalt, Schürzen zerrissen und Röcke extrem gekürzt. Die sowjetische Schuluniform hat ein Nachleben : In den 2000er Jahren avancierte die Mädchenuniform zur Partygarderobe, was einerseits nostalgisch interpretiert werden kann, andererseits als Fetischisierung im Sinne des Lolita-Komplexes.55
Uniform oder Multiform/Variform ? Ein Fazit
Die sowjetischen Kinder im Bild waren selbst gleich der aufgehenden Sonne ein mächtiges Symbol für Aufbruch und Utopie. Sie wurden in zwei Modi dargestellt : jenseits sowjetischer Institutionen und als Vertreter dieser Institutionen. Immer waren sie Trägerinnen sowjetischer Narrative, vor allem des Narrativs der lichten Zukunft. Kinder jenseits der Institutionen waren mit Teddybären, Puppen und rutschenden Strümpfen ausgestattet oder saßen selbstvergessen auf einer Wiese, am Wasser oder mit einem Buch am Fenster. Sie entsprachen dem Bild des »romantischen Kindes«, das Spontaneität, Unschuld und den mystifizierten Kinderblick betonte, und erschienen in einer in sich abgeschlossenen Kinderwelt, die den Blicken der Erwachsenen nur als Projektionsfläche eigener nostalgischer Sehnsüchte zugänglich war. Der Übergang zwischen kindlicher Selbstvergessenheit und sowjetischen Narrativen war fließend. Wenn die Bildunterschrift in jeder Purzelbaum schlagenden Rotznase schon den »künftigen Champion« erblickte, war das Sozialistischer Realismus in Reinkultur : Er bildete die Realität »in ihrer revolutionären Entwicklung« ab, wie es Andrej A. Ždanov (1896–1948) 1934 in seiner Rede vor dem Schriftstellerkongress gefordert hatte. Deutliche Markierungen im Bild waren hingegen kleine Kinder in weißen Trikots, die rote Fähnchen schwenkten und dabei womöglich noch auf den Schultern einer Sportlerin saßen. Kinder in Uniform konnten einerseits beim Ausruhen, in Momenten des Träumens gezeigt werden, andererseits als Rollenträger, die pflichtbewusst die ihnen zugedachten Aufgaben erfüllten. 111
Kinder im Zeichenraum
Die Erinnerungen an die sowjetischen Pionier- und Schuluniformen verweisen auf die große Heterogenität im Alltag, die auf verschiedene Faktoren zurückzuführen war : Uniformen wurden zunächst abgeschafft und später nur langsam und schrittweise wieder eingeführt. Andauernde Defizite führten zu textiler Selbsthilfe. Im Alltag überlagerten sich konkurrierende Uniformen, etwa die Pionieruniform mit der Schüleruniform, und daraus entstanden Mischformen. Diese wiesen ihrerseits auf die räumlichen und organisationellen Überlappungen von Schule und Pionierorganisation hin. Auch während der uniformlosen Zeit gab es informelle Regelungen und Vorstellungen der Beteiligten über angemessene Kleidung für die Schule. Diese Faktoren variierten in den Regionen des riesigen Landes. Wenn Uniformmodelle wechselten, war dies ein längerer und uneinheitlicher Prozess. Immer gab es »freie« Elemente wie die Krägen, Manschetten und Haarschleifen der Mädchen. Der Alltag und die Art, wie Uniformen getragen wurden, hinterließen Spuren am Material. Eigensinn und Widerstände gegen die Disziplinierung schlugen sich in Moden und informellen Codes nieder. Eine Rolle spielten auch das Alter und die Abnutzung der Uniform durch das Wachstum ihres Trägers und das jahrelange Tragen. Prinzipiell unterschied sich die sowjetische Schuluniform der Mädchen (Kleid mit Schürze) weder grundsätzlich von formeller Kleidung in bestimmten beruflichen Kontexten (Hausmädchen, Krankenschwester) noch von den Uniformen der Mädchengymnasien des 19. Jahrhunderts. Auch die Mechanismen der Normativität scheinen für die Schuluniformen dieselben wie für andere traditionelle Trachten oder Formen der Bekleidung (Alltag, Fest, Hochzeit, Beerdigung) gewesen zu sein. Die Alltagskleidung funktionierte normgebend, es gab visuelle Stereotype, die Ideale und Normen prägten. Das erlaubte die Freiheit, sich eigene Uniformen zu nähen und diese mit den richtigen Markern auszustatten. Entgegen dem äußeren Eindruck von Stabilität und Einheitlichkeit war die Schuluniform innerhalb bestimmter (wandel- und verhandelbarer) Grenzen unterschiedlich. Normierungsprozesse erscheinen bei genauerem Hinsehen als Vorgänge des Aushandelns dessen, was die angemessene Schulbekleidung sei. Beteiligt daran waren Schülerinnen, Eltern, Lehrerinnen. Der Prozess entsprach dem anderer traditioneller Bekleidungskonventionen wie etwa der Vorstellung förmlicher Kleidung als »oben hell, unten dunkel«. Einzelne zeichenhafte Elemente der Schuluniform wie Kragen, Manschetten, Schürze entsprachen visuellen Stereotypen und waren in vielen Fällen schon ausreichend, um den »Gesamteindruck« der entsprechenden Uniform herzustellen. Die erstaunliche Flexibilität in Hinblick auf die Uniformen und den Gesamteindruck verweist auf den Improvisationscharakter der sowjetischen Zivilisation. Sie verweist zugleich auf die erfolgreiche Bildpolitik : Der Eindruck der Uniformierung wurde durch die zahlreichen Kinderdarstellungen tatsächlich so umfassend vermittelt, dass sich alle an »die Uniform« erinnern. Die Pionier- wie die Schuluniformen waren Teil eines Universums an Ritualen, Festen, Skripten und Symbolen, mit dem die Erinnerung an sie untrennbar verbunden ist. Das 112
Anmerkungen
Zeichenuniversum der Pioniere mit Pomp und Ritualen verlor allerdings zusehends den Bezug zu seinen ursprünglichen Inhalten. Ab den 1970er Jahren war die Pioniersymbolik nur noch Pionierfolklore. Als solche wurde sie in den 1970er Jahren von der subversiven SocArt aufgegriffen und ironisch umgedeutet (vgl. Kapitel Topoi, Tabus und Gegenerzählungen). Stets wurde von den Kindern Gehorsam verlangt, sie waren eingebunden in Institutionen, die ihre Tage nach genauen Zeitplänen organisierten, und sie sollten verantwortungsbewusst und politisch korrekt handeln. Sie traten in feierlichen Ritualen der Pionierorganisation bei, grüßten, spielten Fanfare, halfen der Mutter und erledigten selbständig ihre Hausaufgaben. Diese wiederkehrenden Motive zirkulierten in allen sowjetischen Medien, in Zeitschriften, auf Briefmarken, im Film, in Büchern, Museen und auf Postkarten. In den 1930er Jahren wurde die Kindheit zum nach Kräften idealisierten und privilegierten Raum und zu einem zentralen Thema des Sozialistischen Realismus. Die behütete Kindheit mit dem anerkannten Recht auf eigene Fantasiewelten war Ende der 1950er Jahre auch in der Alltagsrealität weiter Teile der Sowjetunion fest etabliert.56 Die schon in Losungen der 1930er Jahre behauptete, durch den Krieg gefährdete und in der Nachkriegszeit umso entschlossener etablierte abgeschirmte, heile Welt der glücklichen Kindheit bildete sich in der Anlage räumlicher und bildlicher Heterotopien ab, perfekter Orte, beispielsweise Pionierlager, in denen die Zukunft bereits in der Gegenwart besichtigt werden konnte.57 Die Kinder verkörperten insbesondere im Tauwetterfilm den Neubeginn nach Stalin. Aber die Welt der Zeichen und Rituale der Kinder- und Jugendorganisationen wurde nicht zum Gegenstand der Entstalinisierung, und die Kinder-Helden der Stalin-Zeit blieben Teil der Kinderwelten. Auch was die heile Kinderwelt anging, gab es eine Einschränkung : In der Propaganda wurden die Kinder bald als Aktivisten des Kalten Krieges dargestellt.58 Die Friedensdemonstration von Pionieren anlässlich der Einführung des Tags der Jugend am 26. Juni 1960 und die Aufnahme des militärischen Kriegsspiels zarnica in das Programm der Sommerlager 196759 transportierten das politische Bedrohungsszenario auch in die geschützte Kinderwelt.
Anmerkungen 1 Besonders deutlich wird das in der Anleitung zur Ausstattung von Pionierräumen, vgl. dazu V. F. Goža (Hg.), Oformlenija pionerskoï kimnati (al’bom). Politizdat Ukrainy, Kiev 1978. 2 Anne-Marie Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIIe–XXe siècle, Paris 1999, S. 220 ff. 3 Jennifer Craik, Uniforms Exposed. From Conformity to Transgression, Oxford 2005 ; vgl. auch die Diskussion der idealen Kinderkleidung
bei Loraine de La Fe, Empire’s Children. Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami 2013, S. 75–80. 4 Svetlana Leont’eva, Pioner, vsem primer, in : Otečestvennye zapiski 17 (2004) H. 3, URL : (03.05.2018). Zur Typologie und Hagiografie sozialistischer Helden vgl. Rainer Gries/Silke Satjukov, Zur Konstruktion des »sozialistischen Helden«. Geschichte und
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Bedeutung, in : Rainer Gries/Silke Satjukow (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 15–34. 5 Kommentar einer Zeitzeugin im Katalogband der Ausstellung über sowjetische Unterwäsche, die im Jahr 2000 zunächst am Staatlichen Museum für Geschichte in St. Petersburg gezeigt wurde und vom 20. März bis 3. August 2003 am Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien zu Gast war. Ekaterina Degot/Julia Demidenko/Irina Sandomirskaja (Hg.), Körpergedächtnis. Unterwäsche einer sowjetischen Epoche, Wien 2003, S. 112. 6 Kult der Lehrerin bei Evgeny A. Dobrenko, »The Entire Real World of Children« : The School Tale and »Our Happy Childhood«, in : The Slavic and East European Journal 49 (2005) H. 2, S. 225–248, hier S. 242. 7 Sammlungen typischer Darstellungen finden sich auf den Seiten , und (03.03.2019). 8 Krymskie pionery, 1934 ; Buduščie lëtčiki, 1937 ; Pioner, 1934. 9 Z. B. Petr B. Krochonjatkin, Kinder auf dem Balkon, 1954 ; Boris E. Esin (*1930), Morgen, 1969 ; Konstantin N. Vasil’ev (*1923), Nach der Schule. 10 Beispiele auf (04.05.2020) sowie für Postkarten : Ol’ga Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke, Moskau 2017, S. 120 zur Dominanz des Himmels, S. 118–119 Beispiele für Städte als Symbol der neuen Gesellschaft, Fenster und Vitrinen, neue, ruhige Fröhlichkeit, lyrische Stadt. 11 Ebd., S. 122. 12 V. T. Kabuš, Pionerskie simvoly. Ritualy, tradicii, Minsk 1985, S. 47. 13 Ebd., S. 22. 14 Catriona Kelly, Children’s World. Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven 2006, S. 71 ; Vsevolod L. Kuchin, Skauty Rossii 1909–2007. Istoriya, dokumenty, svidetel’stva, vospominaniya, Moskau 2008. 15 Kelly, Children’s World (Anm. 14), S. 547. 16 Kabuš, Pionerskie simvoly (Anm. 12).
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17 Als Folge des V. Komsomolkongresses im Oktober 1922. Vgl. ebd., S. 14. 18 Ebd., S. 15 f. 19 Ebd., S. 22 f. Kapitel »Symbole und Rituale im Werk Krupskajas und der praktischen Arbeit Makarenkos«. 20 Kelly, Children’s World (Anm. 14), S. 550–555. 21 Kabuš, Pionerskie simvoly (Anm. 12), S. 16. 22 Kelly, Children’s World (Anm. 14), S. 550–555. 23 Ebd., S. 559. 24 Kabuš, Pionerskie simvoly (Anm. 12), S. 18 f. 25 Als Quelle dient hier ebd., S. 20 und generell als Beispiel für die sowjetische Pionierhistoriografie. Man kann davon ausgehen, dass die faktischen Angaben zur Geschichte der Symbolik korrekt sind. Die Funktionen der Rituale und Symbole werden affirmativ angeführt. Zugleich versteht sich das Werk als Anleitung für die korrekte Durchführung der Pionierrituale. 26 Den Namen verdankte die Mütze dem Spanischen Bürgerkrieg. Fotos, auch zu unterschiedlichen Farben, auf : (04.05.2020). 27 Kabuš, Pionerskie simvoly (Anm. 12), S. 14. 28 Ebd., S. 32–36 ; Aleksandr S. Makarenko, Flagi na bašnjach, 1938. 29 Zum Schulzimmer als Ort der Sowjetisierung vgl. das Kapitel Viele Völker, eine Kindheit sowie zum Klassenzimmer als »Mikrokosmos des imperialen sowjetischen Projekts« La Fe, Empire’s Children (Anm. 3), S. 47. Zum Pionierraum vgl. Goža, Oformlenija pionerskoï kimnati (al’bom) (Anm. 1). 30 Grundlegend dazu Larissa Rudova/Marina Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (po materialam proizvedenij detskoj i avtobiografičeskoj literatury), in : Teorija Mody. Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 25–47, und Svetlana Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma. Kanon i povsednevnost, in : Teorija Mody. Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 47–79. 31 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 73. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 50. 34 Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40.
Anmerkungen
35 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 54. 36 Ljudmila Ulitzkaja, Bronka, in : Ljudmila Ulitzkaja (Hg.), Sonetschka und andere Erzählungen, Köln 1999, S. 7–37, hier S. 11 f. 37 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 50 und 52. 38 Ebd., S. 50 f. 39 Ebd., S. 52. 40 Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 29 ff. 41 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 55. 42 Ebd., S. 56. 43 Ebd. 44 Ol’ga Vainshtein, Female Fashion, Soviet Style, in : Helena Goscilo/Beth Holmgren (Hg.), Russia – Women – Culture, Bloomington 1996, S. 64–93. 45 In den 1980er Jahren war der Begriff sanitarka mit dem Gesundheitswesen und den Krankenhäusern assoziiert, die Schülerin wurde nun medsestra (Krankenschwester) genannt. 46 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 54 f. 47 Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 30.
48 Ebd., S. 29 ff. 49 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 67. 50 Ebd., S. 58 ff. 51 Craik, Uniforms Exposed (Anm. 3). 52 Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 38 f. 53 Ulitzkaja, Bronka (Anm. 36), S. 19. 54 Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 48. 55 Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 30. 56 Elisabeth Kristofovich Zelensky, Popular Children’s Culture in Post-Perestroika Russia. Songs of Innocence and Experience Revisited, in : Adele Marie Barker (Hg.), Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham 1999, S. 138–160, hier S. 139 f. 57 Michel Foucault, Andere Räume, in : Manfred Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, S. 65–72. 58 Margaret Peacock, Innocent Weapons. The Soviet and American Politics of Childhood in the Cold War, Chapel Hill 2014. 59 Kelly, Children’s World (Anm. 14), S. 559.
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4 Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Dieses Kapitel beleuchtet einerseits offizielle sowjetische Fotobücher, die als neue Mediengattung gefördert wurden, andererseits private Fotoalben. Es fragt nach den Wechselwirkungen und Transferprozessen zwischen offiziellen Bildern und den Bildern und Bildpraktiken im Alltag und im privaten Bereich. Wie entwickelten sich visuelle Muster von Kinderdarstellungen in Fotobüchern und privaten Alben ? Postkarten, Genremalerei, Fotobücher und die Bildpresse schufen einen Kanon von Ansichten und fungierten als Schulen des Sehens. Sie definierten Normen des Sehenswürdigen und des Sehenswerten. An diesen Normen und an den Vorbildern orientierten sich auch die Amateurfotografen und -fotografinnen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Motive bildwürdig waren und wie eine Bildkomposition beschaffen sein sollte.
Die 1990er Jahre sprengten den Rahmen
Im September 2015 rief das russische Kulturportal Colta.ru seine Leserinnen und Leser im Rahmen eines virtuellen Museumsprojektes zu den 1990er Jahren dazu auf, Kinderund Jugendfotos von sich aus dieser Zeit hochzuladen. Das Ergebnis war eine Bilderflut, ein Bilder-Flashmob. Die große Resonanz und die Fotos selbst waren bemerkenswert und lösten zahlreiche Kommentare aus. Denn in den medialen Erzählungen gelten die 1990er Jahre gewöhnlich als eine Zeit, in der sich das Land im freien Fall befand. Die Großmacht Sowjetunion hatte sich über Nacht aufgelöst. Der russische Staat und die parlamentarische Demokratie versagten kläglich, die Hyperinflation tötete den Rubel und vernichtete die Ersparnisse der Menschen, viele verarmten, wenige wurden unvorstellbar reich, Kriminalität grassierte. Für die damals mitten im Leben stehenden Eltern und Großeltern war es ein Jahrzehnt der permanenten Krise und des Zerfalls, nicht nur der Sowjetunion als Staatengebilde, sondern auch der Werte, der Moral, der sozialen Netze und Sicherheiten. In den privaten Erinnerungen der älteren Generation dominieren Motive des Überlebens, der Bewährung und der kleinen Erfolge entgegen aller widrigen Umstände.1 Auf den eingesandten Fotos der damaligen Kinder und Jugendlichen ist von Niedergang nichts zu spüren : Hier wurden die Kinder weiterhin in den bekannten sowjetischen Posen als glückliche Kinder fotografiert, während die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Neues ausprobierten. In einem Artikel über die Fotos stellt der kritische russische Publizist Andrej Archangel’skij (*1974) denn auch ein neues Narrativ über die 1990er Jahre vor. Vor seinen Augen entfaltet sich eine Epoche der Freiheit, des demokratischen Aufbruchs und der unbegrenzten Möglichkeiten. Archangel’skij weist auf den Kontrast zu den spätsowjetischen Kinderfotos hin : Die Kinderfotos der 1960er bis 1980er Jahre 116
Die 1990er Jahre sprengten den Rahmen
sähen alle gleich aus, »egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren«,2 da sie unter denselben quasirituellen Bedingungen hergestellt worden seien. Die Fotos der 1990er Jahre hingegen hätten mit den Traditionen gebrochen : »Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf ›Stillgesessen !‹.« Nun dominierte nicht das starre Lächeln, sondern das Staunen über das neue Selbst : »Die Freiheit verstand sich noch nicht als solche : Es war nur Verwirrung darüber, dass nun alles möglich war.« Archangel’skij geht es in seiner Analyse um die Frage, was nach 18 Jahren Putin aus der Freiheit und dem Aufbruch geworden sei. Das Projekt macht die generationenspezifische Erfahrung der 1990er Jahre deutlich : Was den Eltern und Großeltern als Verlust erschien, sahen die Kinder als Chance – damals und auch im Rückblick. Doch was ist auf den Fotos zu sehen ?3 Es gibt tatsächlich ein paar Punker und wilde Frisuren, auch erstaunte Gesichter – jedoch ausschließlich bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die viel und ausgelassen feierten. Unübersehbar ist der Einbruch der Farbfotografie vor allem bei diesen Aufnahmen. Kinderbilder, Schülerportraits und Klassenfotos hingegen, die ja von den Erwachsenen gemacht wurden, entsprachen auch in den 1990er Jahren noch völlig unerschüttert den Normen der untergegangenen Sowjetunion : Kleine Mädchen in Schuluniform mit weißer Schürze, Haarschleife, Blumenstrauß und Schultasche blicken ernst oder mit allenfalls angedeutetem Lächeln in die Kamera ; ein kleines Mädchen im Kopftuch könnte von der Hülle der Alenka-Schokolade gefallen sein (Abb. 7.1) ; ein kleiner Junge in der riesigen Uniformjacke des Vaters, der Militärmütze auf dem Kopf und dem Schnuller im Mund greift das sowjetische Motiv des »kleinen Erwachsenen« auf ; Kinder sind mit der Neujahrstanne oder im Auto abgebildet, es gibt verwackelte Schnappschüsse aus Familienalben und sorgfältig ausgeleuchtete Aufnahmen aus dem Atelier, die Vater, Mutter und Kind in silbernen Grautönen zelebrieren. Diese Aufnahmen sind durchwegs Schwarz-Weiss. Sie atmen nicht die Atmosphäre des Aufbruchs, sondern sind eindrückliche Zeichen dafür, dass sich die Eltern in stürmischen Zeiten an vertraute Konventionen und Sehgewohnheiten klammerten. Sie sind Ausdruck des Versuchs, die Kinder und damit auch sich selbst so gut es ging vor den Härten der Gegenwart abzuschirmen. Die Kinder- und Jugendfotos aus dem Russland der 1990er Jahre, die im Rahmen des Projektes von Colta.ru im September 2015 ins Netz gestellt wurden, dokumentieren nicht nur den Fortbestand von Konventionen in der Kinder- und Familienfotografie, sie zeigen in den Schnappschüssen der Jugendlichen auch, wie sich der radikale gesellschaftliche Wandel in die Körper einschrieb, wenn etwa Teenager mit nacktem Oberkörper und Sonnenbrille breitbeinig auf der Rückenlehne einer Bank lümmelten. Der vertraute Rahmen sowjetischer Inszenierungen kam ebenso abhanden wie die soziale Kontrolle des öffentlichen Raums durch Patrouillen kommunistischer Jugendorganisationen oder vigilante ältere Frauen, die »Tanten«, denen in der Sowjetunion die Rolle öffentlicher Erzieherinnen zugefallen war. Das breite Spektrum 117
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
der eingesandten Fotos wirft die Frage auf, wie die hier schon in ihren letzten Zügen liegenden Konventionen für sowjetische Kinderbilder zustande gekommen waren und wirkten.
Vorweggenommene Erinnerungen : Fotos »zum Andenken«
Archangel’skij rückt die Kinderfotos der 1970er und 1980er Jahre, als es üblich war, mit Kindern zwischen einem und sieben Jahren dem Fotoatelier einen jährlichen Besuch abzustatten, in die Nähe Orwell’scher Praktiken. Das Ergebnis, festgehalten von einem »sowjetischen Auge«, wurde dann an Tanten, Onkel und Großeltern verschickt : Ihr wart so angezogen, ›wie es sich gehörte‹, euer Blick war so, ›wie er zu sein hatte‹ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren […]. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf ›Nicht bewegen jetzt !‹, sind ein grelles Kindheitstrauma. All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen.4
Die Normierung der Kinder durch die schablonenhafte Aufnahme im Atelier war allerdings keine sowjetische Erfindung, sondern ging auf vorsowjetische Traditionen der Porträtfotografie zurück.5 Das Porträt ist gerade deshalb ein besonders konservatives Genre, weil die im 19. Jahrhundert aufkommende Daguerreotypie die Aufstiegsfantasien des europäischen Kleinbürgertums bediente und in Konkurrenz zur Malerei stand. Die Fotoateliers mit ihren pompösen Requisiten – vergoldete Stilmöbel, drapierte Samtvorhänge – bestanden auch in Sowjetzeiten fort und mit ihnen die traditionell ausgebildeten Fotografen. Noch in der späten Sowjetunion und darüber hinaus hielten sie wichtige Momente im Leben fest, setzten die Kunden in die richtige Pose und sorgten für das richtige Licht. Wie solche Fotos auszusehen hatten, war fest im sowjetischen Weltwissen verankert : Der Historiker Igor Narskij hat in einem wissenschaftlich-autobiografischen Essay ein Atelierfoto von sich analysiert, das 1966 in Gor’kij anlässlich eines Besuchs bei den Großeltern aufgenommen wurde. Es zeigt den Sechsjährigen in seinen guten Kleidern, aber in sowjetischen Defizitsandalen auf einem gedrechselten, mit Samt gepolsterten, aristokratisch anmutenden Hocker. Das Kind war von dem verschnörkelten Möbelstück fasziniert, aber der Atelierfotograf und der Großvater waren in der vorrevolutionären Zeit und ihrer Ästhetik verwurzelt. Diese Retromanie, die Vergangenheitsverliebtheit der Fotografie, bildet das zen118
Vorweggenommene Erinnerungen
trale Motiv in Ljudmila E. Ulickajas Erzählung Bronka (1989). Es gab einen Konsens zwischen Fotografen, Auftraggebern (Eltern oder Großeltern) und den fotografierten Kindern, wie die Kinder auf dem Foto auszusehen hatten.6 Die Aufnahmen waren Koproduktionen aller Beteiligten. Die Atelieraufnahmen zeugen vom hybriden Charakter der sowjetischen Alltagskultur, die trotz aller Ausmerzungsversuche zahlreiche vorrevolutionäre Elemente bewahrte. Im westlichen Europa zeigen Familienalben und die an runden Geburtstagen oder Hochzeiten üblichen Diaschauen, dass sich auch hier die Schülerportraits und Klassenfotos aus den 1950er bis 1980er Jahren bis aufs sorgfältig gekämmte Haar gleichen.7 Von den sowjetischen Aufnahmen unterscheiden sie sich allenfalls durch Kleidung und Frisur, die Schuluniform und die Haarschleifen der Mädchen etwa. Auch die Atelieraufnahmen von Kindern mit Requisiten wie schielenden Teddybären finden sich in ostund westeuropäischen Familienalben. Dahinter stehen dieselben Bildkonventionen, die in Bildpraktiken des aufstrebenden Bürgertums im 19. Jahrhundert oder in der Logik von Institutionen wie der Schule wurzeln.8 So wurden in der fotografischen Praxis Stereotype überliefert. Aufgrund der Autorität und Gleichförmigkeit der Institutionen, der Regelhaftigkeit des Alltags und der zunehmenden Kanonisierung der Bildwelten blieben solche visuellen Floskeln aus dem 19. Jahrhundert in der Sowjetunion länger erhalten und wirkten auch noch nach. Die spätsowjetische Ritualisierung des Alltags reichte bis in die Bildpraktiken hinein. Die Bedeutung des ersten Schultages, die Uniform, die feierliche Aufnahme in die Pionierorganisation gaben feste Klischees vor. Die Fotos »zum Andenken«, die anlässlich des feierlichen Schulabschlusses gemacht wurden, verteilte man an die Freundinnen und Freunde, denn Militärdienst, Arbeitseinsätze und Studium verstreuten die Jugendlichen über die Weiten der Sowjetunion. Das »Sowjetische« der Bilder ergab sich aus ihren Entstehungszusammenhängen und dem Gebrauch, es entstanden spezifische Bildpraktiken, die sich auch in den Bildern selbst niederschlugen. Die konventionellen Kinderfotos auf Colta.ru bestätigen den Befund, dass Familienfotos als besonders konservatives Medium gelten, etwa im Vergleich zu Tagebüchern : Familienfotos werden im Hinblick auf spätere Momente des Erinnerns angefertigt. Gerade in unsicheren Zeiten können konventionell vorgeformte Erinnerungsfotos das Gefühl von Sicherheit und Stabilität stärken.9 Doch das Wissen darüber, wie Kinder auf Bildern auszusehen hatten, speiste sich nicht nur aus bürgerlichen Traditionen, sondern wurde auch durch die offiziellen sowjetischen Bildwelten und ihre Medien geprägt. Politische Programme und Ziele beeinflussten nicht nur die Produktion der Bilder und ihre mediale Verbreitung. Kontrolliert wurden auch die Bedingungen, unter denen die Menschen die Bilder zu sehen bekamen. Aus dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren (Künstlerinnen, Kulturpolitik, Museen und Ausstellungen, Bildungseinrichtungen, technische Grundlagen, Sehgewohnheiten, Traditionen) entwickelten sich Normen und Praktiken für alle Stufen dieses Prozesses. Dabei entstand ein Kanon vertrauter, wiedererkennbarer »sowjetischer« Praktiken, Mo119
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tive und Sehgewohnheiten. Diese wurden in privaten Bildproduktionen aufgegriffen und weiterentwickelt.
Fotoalben und Fotobücher zwischen offiziellem und familiärem Gebrauch Fotoalben und Familienalben
Fotoalben sind vorgefertigte oder nachträglich gebundene Alben, auf deren Seiten Fotografien angebracht sind. Häufig finden sich handschriftliche Kommentare zu einzelnen Fotografien. Solche Alben gab es seit der Entstehung der Fotografie im 19. Jahrhundert. Sie dienten zum Sammeln von Fotovisitenkarten (carte de visite) und später von Bildpostkarten sowie zum Aufbewahren, Anordnen und Vorzeigen von Familienfotos. Auch andere Erinnerungen wie etwa Theaterkarten konnten hier ihren Platz finden und die persönliche Bildungsgeschichte und das bürgerliche Familienleben dokumentieren.10 Fotoalben wurden im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen handlicher Fotokameras und günstiger Filme zu einer weitverbreiteten kulturellen Praxis, auch in der S owjetunion und den sozialistischen Ländern. Von den 1950er bis in die 1970er Jahre erlebten sie eine Blütezeit. Anschließend kam die Praxis außer Gebrauch. Fotos wurden in losen Konvoluten, in Schachteln oder Umschlägen aufbewahrt.11 Diese Trends lassen sich in Ost- und Westeuropa gleichermaßen beobachten. Dokumentiert wurde nicht der Alltag, sondern besondere Momente im Lebenslauf, Feste und vor allem Reisen.12 Es bildeten sich aber auch spezifische »sozialistische« Anlasstypologien, Motive und Bildkonventionen heraus, die es näher zu untersuchen gilt. In der Geschichtswissenschaft haben aktuelle Forschungen im Zuge des visual turn frühere Verwendungen von Fotografien und Alben in der Lokal- und Heimatgeschichte oder als »Quelle« hinter sich gelassen. Neuere Studien gehen auf deren Geschichtlichkeit, Materialität, ihren Aufführungs- und Vorstellungscharakter ein. Alben und private Fotografien ermöglichen Einblicke in das komplexe Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart.13 Fotoalben sind Teil der Fotografiegeschichte,14 stellen aber auch eine erzählerische Organisationsform mit besonderen Eigenschaften dar.15 Schließlich sind Fotoalben materielle Artefakte. Weil Alben und Fotografien als »Akte vorweggenommenen Erinnerns«16 Teil kultureller Erinnerungspraktiken sind, bezieht sich ein wichtiger Teil der Forschung auf die Rolle von Fotoalben in Erinnerungskontexten.17 Dabei liegt das Augenmerk einerseits auf dem Umstand, dass sich Fotoalben laufend verändern, weil durch den Gebrauch beispielsweise lose darin liegende Fotos anders eingeordnet werden, weil Bilder entfernt werden oder herausfallen und neue hinzukommen. Andererseits geht es darum, dass Fotos und Alben in ihren Sinnstiftungen bei jeder Betrachtung aktualisiert werden und sich ihre Bedeutungen wandeln. Die Interpretation ist vorgeprägt von den historiografischen Traditionen und zeitgenössischen visuellen Konventionen, aber auch von Betrachtungskontexten : Ein privates Fotoalbum wird im Rahmen der Familie 120
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anders betrachtet als auf dem Flohmarkt oder im Kontext der Sammlung eines Archivs oder Museums. Sind die Alben einmal »verwaist«, das heißt aus ihren ursprünglichen Kontexten gelöst und von ihren Kommentatoren getrennt, folgen ihre Wahrnehmungen und Interpretationen einzig den jeweiligen historiografischen Traditionen, zeitgenössischen visuellen Konventionen und aktuellen Identitätsbedürfnissen.18 Die Alben sprechen das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, aber auch die Beziehungen zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen an. Ein wichtiger Aspekt ist der duale Charakter der Alben, ihre doppelte Wertigkeit : Die Bilder zeigen das Individuelle, aber die Einzelnen verweisen doch als Stellvertreter immer auch auf die Vielen, die zu gleicher Zeit und unter ähnlichen Umständen lebten.19 Das gilt umso mehr, als sich die Alben so stark ähneln. Deshalb können einzelne Alben als Reservoir kollektiver Gedächtnisse dienen. Auch der Vorgang des Betrachtens und Kommentierens, des Zuschreibens von Bedeutungen ist mehrschichtig.20 Die Bilder zeigen Alltagsrealitäten, sind »authentisch« und realitätsbezogen, aber sie sind auch Symbole und erlauben Projektionen, die im Fall von Familienalben letztlich die wechselnden Identitätsbedürfnisse der Betrachter in der Gegenwart bedienen.21 Welche Rolle können Fotoalben für die Kindheitsgeschichte spielen ? Alben dokumentieren Stationen des Lebens, sie sind entweder einzelnen Personen gewidmet oder zeichnen das Familienleben der Kernfamilie und ihres Umfeldes nach. Das heranwachsende Kind ist ein zentrales Motiv des Familienalbums in Europa wie in den USA. Auch Alben aus sowjetischen Familien sind meistens voller Kinderfotos. In vielen Familien war es üblich, für jedes Kind ein Album anzulegen. Private Fotoalben und Fotosammlungen betrachtete man allein oder beugte sich im Familienkreis darüber und erzählte die Geschichten zu den Bildern. Sie dienten dem individuellen oder gemeinsamen Erinnern und der Weitergabe des familiären Gedächtnisses, in ihrer starken Bindung an Konventionen wie auch im bewussten Bruch mit diesen aber auch der gesellschaftlichen Verortung. Somit unterschied sich nicht nur die Produktion, sondern auch die Betrachtungsweise und der Gebrauch von familiären und institutionellen Alben ganz erheblich. Kinderfotos gab es auch in Alben, die von kindbezogenen Institutionen wie der Schule oder der Pionierorganisation stammen. Bevor es drucktechnisch möglich war, qualitativ und preislich adäquate Bildbände herzustellen, behalfen sich sowjetische Institutionen mit Fotoalben. Diese konnten Prachtalben zu Jubiläen sein, in mehreren Exemplaren, gebunden in Leder oder Samt mit Goldprägedruck auf dem Einband. Es gab aber auch einfachere Alben, denn Fotoalben waren Teil der sowjetischen Berichtskultur. Praktisch alle sowjetischen Institutionen und Kollektive legten Rechenschaft über ihre Arbeit in selbstgestalteten Wandzeitungen und Fotoalben ab. Institutionelle Alben belegten, dass man den Plan erfüllt hatte, dokumentierten die Arbeit und waren auch Lehrmittel. Ein gutes Beispiel sind Pionierlageralben. Die sommerlichen Pionierlager wurden von den Gewerkschaftsbüros einzelner Betriebe für die Kinder der Angestellten organisiert. Sie unterstanden einer strengen Qualitätskontrolle und mussten Ende des Sommers einen 121
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Bericht abliefern.22 Dazu gehörte ab den 1950er Jahren jeweils auch ein Fotoalbum. Institutionelle Alben erfüllten einen Auftrag im Rahmen einer Institution, es gab bestimmte Vorbilder und Erwartungen, und die Anordnung der Bilder erzeugte eine bestimmte Erzählung. Die Funktion der Alben steuerte die Sinnstiftung. Die Pionierlageralben hatten ihrerseits ein Vorbild, das Muster zur Verfügung stellte : Sie bezogen sich häufig explizit auf das 1925 gegründete Pionierlager Artek auf der Krim. Zu diesem Lager erschienen im Laufe der Jahrzehnte über hundert Bildbände und illustrierte Broschüren. Artek war in der Presse, im Film, in Illustrierten und in der Kinderliteratur präsent und prägte die Pionierikonografie. Die Alben aus den Pionierlagern entfalteten ein Spektrum spezifisch sowjetischer Motive einer glücklichen, sozialistischen Kindheit. Sie zeigten nicht individuelle, sondern typische Kinder, die Teil des Kollektivs waren. Die Kinder des Kollektivs bastelten, spielten und trieben Sport, sie wanderten und zelteten, engagierten sich für Frieden und Völkerfreundschaft und trafen sich mit Veteranen. Diese Bilder der kollektiven Kinder glichen den Bildern der »Kinder der Völker« (vgl. Kapitel Viele Völker, eine Kindheit), die sich in den Fotobüchern finden. Sowohl institutionelle als auch familiäre Fotokonvolute waren stark durch Formen alltäglicher Bildproduktion, des Bildgebrauchs23 und durch Konventionen und Narrative der Anordnung und des Zeigens geprägt.24 Was die Motive und den Stil der Bilder betrifft, unterschieden sich private und institutionelle Alben vor allem dadurch, dass etwa in den Pionierlageralben »Szenen«, zum Beispiel spielende Kinder, im Stil der dokumentarischen Reportagefotografie aufgenommen wurden, während in Familienalben Kinder für die Kamera posierten und Porträt- und Gruppenfotos dominierten. Fotobücher
Im Russischen hat der Begriff des Albums eine breitere Bedeutung. Ein Album liest man nicht, man schaut es an ; darin liegt der Unterschied zum Buch. Der Begriff des Fotoalbums steht hier sowohl für Familienalben als auch für gedruckte Fotobücher oder Bildbände. Vielleicht erklärt sich die Begriffsüberlagerung auch aus der Entstehungsgeschichte der Bildbände aus den institutionellen Alben. Fotobücher waren die Fortsetzung des Fotoalbums mit anderen technischen Mitteln. Als Fotobücher werden Bildbände bezeichnet, die mehrheitlich aus Fotografien bestehen, die allenfalls mit kurzen, erklärenden Bildlegenden versehen sind. In den 1920er und 1930er Jahren ermöglichten neue Druckverfahren die massenhafte Verbreitung von Fotografien. In der Sowjetunion schufen begabte Grafiker, Fotografen und Gestalter Künstlerbücher im Geist der Avantgarde, um den Geist des neuen Zeitalters in neuen Formen auszudrücken. Darüber hinaus wurden Fotos und Fotoserien oder Reportagen in Bildzeitschriften, in Bildmappen und auch in Fotobüchern verbreitet. In den 1930er Jahren entstanden dann zunehmend so genannte Paradealben, die die Errungenschaften 122
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der sowjetischen Transformation abbildeten. Die Fotobücher standen neben den Bildzeitschriften, allen voran SSSR na strojke25 und Ogonëk.26 Die Fotografen arbeiteten für die sowjetischen Bildagenturen, und die Bilder zirkulierten zwischen den verschiedenen Medienformaten. Die Paradealben der Stalin-Zeit sind bislang nur fragmentarisch erforscht, finden aber seit ihrer umfangreichen Erhebung und sorgfältigen Präsentation durch Michail Karasik vermehrt Aufmerksamkeit.27 Diese Fotobücher knüpften in ihrem gestalterischen Anspruch zunächst an die Künstlerbücher der Avantgarde an. Sie wurden zu bestimmten Anlässen, etwa zur Kollektivierung, zu den ersten Fünfjahrplänen und zu Jubiläen der Oktoberrevolution herausgegeben. Zu diesen Jahrestagen erschienen in rituell zu nennender Regelmäßigkeit Fotobücher zu einzelnen Republiken und zur Sowjetunion als Ganzes. Bereits 1932 kamen prachtvolle Bildbände zu »15 Jahren Sowjetunion« heraus – obwohl diese nicht 1917 gegründet wurde, verkörperte die Revolution doch den Gründungsmythos. Das Jahr 1917 blieb bis zum Ende der Sowjetunion der Referenzpunkt solcher Jubiläumsausgaben. Diese dienten der Selbstvergewisserung ebenso wie der Präsentation des Landes nach außen. Die Bildlegenden waren manchmal mehrsprachig, weil die Bücher auf Messen und internationalen Ausstellungen ausgelegt wurden, etwa auf der Weltausstellung in Paris 1937. Intern wurden sie an verdiente Funktionäre verteilt und an Bibliotheken gegeben.28 Durch die massenhafte Verbreitung von Fotografien in den neuen Druckformaten entstanden Muster und Konventionen, die Sehgewohnheiten prägten. Die Fotobücher zu den Jahrestagen der Oktoberrevolution beispielsweise entwickelten hochstandardisierte Formate, was Form und Inhalt anbetraf. Die systematische Abfolge sowjetischer Errungenschaften in Landwirtschaft und Industrie und der Wohlfahrt für alle in Bildung, Gesundheitswesen und Fürsorgeinstitutionen, Arbeit, Freizeit, Wohnen und Kultureinrichtungen bestimmte die Dramaturgie, die sich in den 1920er und 1930er Jahren herausbildete. Ziel der Bände war jeweils die Darstellung der Sowjetunion als moderne Zivilisation und Vielvölkerstaat mit allen Republiken zwischen zwei Buchdeckeln (vgl. Kapitel Viele Völker, eine Kindheit). Dabei verbanden sich erzieherische Ziele mit Propaganda und ästhetischen Ansprüchen. Bilder von Kindern und von Einrichtungen für Kinder waren in den Fotobüchern prominent vertreten. Kinderbilder wurden zu einer Art Grundierung in diesen Medien sowjetischer Selbstvergewisserung. Wechselwirkungen und Wandel
Die Fotobücher der Stalin-Zeit prägten den Kanon des Sozialistischen Realismus mit. Sie stellten das »Typische« und das »Sowjetische« in statischer Manier ins Zentrum. Selbst die Mütter, die mit ihren Kindern auf den Schultern in die lichte Zukunft schritten, schienen in ihrer Bewegung seltsam schwebend und eingefroren, formelhaft (Abb. 5.7). Jegliche Spontaneität wurde sorgfältig vermieden. Die häufig malerisch retuschierten Aufnahmen zirkulierten zwischen verschiedenen sowjetischen Bildmedien und schulten 123
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die Sehgewohnheiten. Diese Sozialisierung des Blicks schlug sich auch im Bereich des Privaten nieder. Private Fotoalben setzten sich aus Atelieraufnahmen und Gruppenbildern, Passfotos und Aufnahmen von Fotografen in Ferienorten zusammen. Wer eine Kamera hatte und selbst fotografierte, der war in den 1920er Jahren meist in einem Klub oder gehörte ab den 1930er Jahren, als Kameras erschwinglich wurden, zur sowjetischen Schicht der Ingenieure und Kader. Die Amateurfotografen orientierten sich an der Atelierfotografie, am Piktorialismus und an den Motiven, die auch die Genremalerei bevorzugte. Ende der 1950er Jahre lockerten sich die Konventionen im Zuge der Erneuerung des Sozialismus nach Stalin. Fotoal’bomy, die offiziellen wie die privaten, erlauben es, die Entstehung neuer Typologien in dieser Umbruchzeit im Detail herauszuarbeiten. Das Feld des Fotografierbaren erweiterte sich durch die Hinwendung zum täglichen Leben, das Interesse für den Menschen und seine Befindlichkeit, seine Schwierigkeiten und den Arbeitsalltag. Es gab die offizielle Forderung nach einem sovremennyj stil’ (zeitgemäßen Stil), nach einer modernen Ästhetik in allen Lebensbereichen.29 Währenddessen galten die Regeln des Sozialistischen Realismus weiterhin : Wichtig waren Optimismus des Ausdrucks und Leitwerte wie Arbeit, die »sozialistische Moral« im Sinne eines erhabenen Kanons von humanistischen Wertvorstellungen sowie die Völkerfreundschaft. Optimismus und Völkerfreundschaft ließen sich anhand von Kinderdarstellungen hervorragend ins Bild setzen. Kinder verkörperten zugleich den Neubeginn, die Wahrhaftigkeit, die Moral und, einmal mehr, die Zukunft. Die Fotobücher der 1920er und 1930er Jahre demonstrierten die Fürsorge des Staates und die modernen Institutionen der Gesundheitsfürsorge und Erziehung. Hier spielte sich Kindheit im Kollektiv ab. Erst ab Mitte der 1950er Jahre trat das Moment individuellen Glücks in den Vordergrund, verkörpert im lesenden, spielenden, verträumten oder lächelnden Kind. Die Analyse von Kinderaufnahmen in Fotobüchern zeigt, dass sich zu Beginn der 1960er Jahre ein Wandel des Blicks vollzog. Parallel zur Betonung von Individualität, Innerlichkeit, Lebensfreude, Wohlstand und Freizeit änderte sich auch die Darstellung der Kinder : Die Kamera nahm deren Perspektive ein und hielt »kindliche Momente« fest. Neben den bislang dominierenden Szenen mit Gruppen von Kindern standen nun häufig einzelne – fröhliche oder nachdenkliche – Kinder im Fokus der Kamera. Die Aufnahmen begannen den Knipserfotos aus familiären Zusammenhängen zu gleichen. In der Knipserfotografie nahmen in Westeuropa30 wie in der Sowjetunion ab den 1960er Jahren Bilder von Freizeitaktivitäten zu. Gleichzeitig wurde eine stärkere Konsumorientierung in den Motiven sichtbar. Einerseits blieben die außergewöhnlichen Ereignisse, die besonderen Momente und die Rituale Teil der Familienalben, andererseits wollte man sich durch informellere Aufnahmen von den alten Posen und Konventionen distanzieren. Bedingt durch das Medium und die Tatsache der Veröffentlichung, wiesen die Aufnahmen in Zeitschriften, auf Ausstellungen und in Fotobüchern noch stärker als die in Familienalben über das einzelne Kind, den einzelnen Menschen hinaus auf die 124
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vielen, die ähnlich lebten und empfanden. Wie in der Malerei lässt sich auch in der Fotografie eine Zweiteilung in der Darstellung von Kindern beobachten : Auf der einen Seite posierten Kinder in Uniform als »Staatskinder«, denen klare gesellschaftliche Rollen als kleine Sowjetbürger zugewiesen waren. Auf der anderen Seite träumten Kinder in einer behüteten Welt der Kindheit vor sich hin, am Fenster, in der Natur, in Einzelportraits, beim Lesen oder ins Spiel versunken. Eine Reihe von Fotobüchern widmete sich in den 1930er Jahren Müttern und Kindern. Sie feierten die sowjetischen Errungenschaften in den Bereichen der Gesundheit und Erziehung. Die Gleichberechtigung der Frauen und die vorbildliche Versorgung der Kinder waren Prestigeprojekte, die stellvertretend für die Wohlfahrt der Bevölkerung standen. Zum Beispiel : Abteilung für den Schutz von Müttern und Kindern
Im Jahr 1935 und zum Gründungsjubiläum 1938 erschienen zwei opulente Fotobücher, welche die Arbeit der Abteilung für Mütter- und Kinderschutz, Otdel’ ochrany materinstva i mladenčestva (OMM), vorstellten.31 Die Abteilung für Mutter- und Säuglingsschutz wurde als erste dringliche Maßnahme bereits im November 1917 gegründet, nahm ihre Arbeit im Januar 1918 auf und sollte Forderungen umsetzen, die Aleksandra Kollontaj bereits 1914 formuliert hatte. An erster Stelle standen der Kampf gegen die hohe Kindersterblichkeit, eine Mutterschutzversicherung und Geburtshäuser mit angemessener Hygiene und medizinischer Versorgung für Mutter und Kind.32 Während der 1920er Jahre entwickelte sich die dem Volkskommissariat für Gesundheit angegliederte Organisation zu einer wichtigen Institution, die sich um Geburtshilfe und Fragen rund um Schwangerschaft und Verhütung kümmerte. Mütterberatungsstellen, ein Forschungsinstitut in Moskau und die Ausbildung von Fachfrauen waren zentrale Aufgaben. Die Fotobücher zeigen die von der OMM unterhaltenen Heime für Mutter und Kind, die Krippen und Beratungsstellen für Schwangere und Stillende. Ab 1930 betrieb die Sowjetunion eine aktive Bevölkerungspolitik. Von nun an war die Förderung der Geburtenzahlen offizielle Aufgabe der Organisation.33 Nach der Abschaffung der ženotdely (der Frauenabteilungen der KP) und der Delegiertenversammlungen 1930 bzw. 1933 war die OMM die einzige frauenpolitische Organisation. Der Band Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov (Mutter- und Säuglingsschutz im Land der Sowjets) von 1935 war von der Fotomontage geprägt (Abb. 4.1‒4.4). Die Dominanz der Farbe Weiß in den Bildern der Institutionen wurde formal aufgegriffen in den großzügigen freien Flächen auf den weißen Buchseiten, die den Eindruck von Hygiene, Licht und Luft verstärkten. Bemerkenswert sind die beiden Montagen zur Modernisierung. Die Milchflaschen stehen für die systematische Versorgung der Kinder mit Muttermilch, indem Mütter ihre Milch abpumpten und zur Verfügung stellten. Im Band Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov aus dem Jahr 1938 war die Fotomontage der 1920er und frühen 1930er Jahre von der Fotoreportage abgelöst, 125
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.1–4.4 : Abbildungen im Bildband Mutter- und Säuglingsschutz im Land der Sowjets (Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov), Moskau/Leningrad 1935 Die aus heroisierender Untersicht fotografierten Mütter verschiedener Nationalitäten blicken gemeinsam in die Zukunft. Ihre in symbolischer Distanz davor montierten, autonom wirkenden Babys schauen aktiv in die Kamera. Rechts daneben ist die hygienische Versorgung zu sehen, die Schwester in der Madonnenpose füttert in (staatlicher) Liebe und Fürsorge einen ihr anvertrauten Säugling. Die Kinder wiederum treten als selbständige Akteure auf und demonstrieren ihre Rollen als Träger der Gesellschaft – den Roten Stern balancierend, in dem sich spielende Kinder spiegeln, und mit Lenin als geistigem Vater.
die mit einem politisch inspirierten Ansatz die Ereignisse festhielt und geschlossene Narrative schuf (Abb. 4.5–4.7). Das Buch war in der Formensprache des Sozialistischen Realismus gehalten, wies aber in einzelnen Aufnahmen konstruktivistische Relikte auf. Die ersten Seiten rahmten den Inhalt thematisch : Das Zitat des § 122 der neuen Stalin-Verfassung von 1936 zur Gleichberechtigung der Frauen (in Gold auf Rot) bettete die Bilder in das Narrativ des gesamtsowjetischen Fortschritts ein. Den Fortschritt betonten weiter Aufnahmen aus den Säuglingszimmern der Geburtshäuser mit den Mitteln der konstruktivistischen Industriefotografie, die auf Serialität der modernen Produktionsweise und Standardisie126
Fotografie als Beweismittel
Abb. 4.5–4.7 : Einband und Abbildungen des Bildbandes Mutter- und Säuglingsschutz im Land der Sowjets 1918–1938 (Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov 1918–1938), Moskau/ Leningrad 1938. Der »stalinistische Stil«, der sich im Fotobuch herausbildete, sah folgendermaßen aus : ein Einband in Lederimitation, gerne mit eingeprägtem bas-relief-Titel und einem Bild, eine dekorative Umschlaginnenseite mit einer Illustration oder Fotografie, dann ein Bild von Stalin, das üblicherweise nach der Titelseite folgte, sowie der unvermeidliche Ikonostas der Führer. Die als endlos suggerierten Reihen von Kinderbettchen betonen Effizienz und Hygiene : »Jede Stunde werden 800 Kinder geboren«. Die Darstellungen der Mütter mit Kindern folgen dem Madonnenmotiv mit der Pathosformel des in den Himmel gehaltenen nackten Kindes als Heilsbringer. Zugleich sind vier unterschiedliche Ethnien vertreten, die an der sowjetischen Modernisierung teilhaben dürfen. Der Text sagt : »Es gibt keine Glücklicheren in der Welt«.
rung fokussierte : Angeschnittene Reihen von weißen Kinderbettchen suggerierten deren endlose Fortsetzung und stellten die Berichte in den Zusammenhang der Bevölkerungspolitik und der Erfüllung eines Plansolls bei der Produktion von Nachwuchs. In den Darstellungen von Kindern und Müttern ging es um den Typus der glücklichen Mutterschaft und Kindheit, der für alle sowjetischen Republiken gelten sollte.
Fotografie als Beweismittel
Die 1920er Jahre waren in der jungen Sowjetunion der Schauplatz einer grundsätzlichen Debatte darüber, welches Medium besser geeignet sei, um die Fortschritte und Errungenschaften des Sowjetstaates darzustellen. Die Fotografie hatte den Vorteil, als »objektiv« zu gelten, weil sie durch ein technisches Gerät erzeugt wurde und eindeutig dokumentarischen Charakter hatte. Fotografie hatte die Aura der Beglaubigung und des Authenti127
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
schen. Das vermeintlich objektive Auge der Kamera sollte den sowjetischen Aufbau seit den 1920er Jahren dokumentieren. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass die Manipulation so alt ist wie die Fotografie selbst. Techniken wie Montage und Retusche sollten die intendierten Botschaften verstärken und galten nicht als Manipulation. Die Malerei hingegen konnte tiefere Wahrheiten in konzentrierter Form auf die Leinwand bannen, verschiedene Zeitzustände zusammenführen, das »wahre Wesen« eines Menschen oder einer Szene wiedergeben. Für die »höhere Wahrheit« des Kommunismus schien dieses synthetische Verfahren durchaus angemessen. Der avantgardistische Maler Aleksandr M. Rodčenko wandte sich allerdings der Fotografie zu und argumentierte 1928 in der Zeitschrift Novyj LEF »gegen das synthetische Porträt und für die Momentaufnahme«.34 Nur eine Vielzahl von Schnappschüssen in ihrer Gesamtheit könne die Realität einfangen und die wirkliche Person zeigen. Die hier aufscheinende Rivalität der Medien Fotografie und Malerei prägte fortan deren Beziehung. Seit 1923 erschien die populäre Zeitschrift Ogonëk, deren Leiter, Michail E. Kol’cov (1898–1940) den Fotojournalismus aktiv förderte und ein Netz von Fotokorrespondenten sowie die Kooperation mit internationalen Agenturen aufbaute. Zur gezielten Förderung einer spezifisch sowjetischen Fotografie betrieb Ogonëk auch die Gründung der Fotozeitschrift Sovetskoe Foto, die 1926 erstmals erschien. In ihrer Aufmachung und mit den Themen richtete sich die Zeitschrift anfangs deutlich an ein breites, proletarisches Publikum.35 In der allerersten Ausgabe von Sovetskoe Foto36 1926 meldete sich der Kulturminister Analolij V. Lunačarskij zu Wort und unterstrich die Bedeutung dessen, was man heute als visual literacy bezeichnet, für die Sowjetunion : »So wie jeder fortschrittliche Genosse eine Uhr besitzen sollte, sollte er auch imstande sein, mit einer Kamera umzugehen. […] Ebenso wichtig wie die Alphabetisierung ist die fotografische Kompetenz.«37 Profis und Amateure
Geregelte Berufslaufbahnen für Fotografen gab es in der Sowjetunion bis in die 1960er Jahre hinein nicht. In den frühen Jahren kamen die Fotografen entweder aus der Atelierfotografie, aus Künstlerkreisen und grafischen Berufen oder vom Film. Seit den 1920er Jahren wurde die Amateurfotografie explizit zur Dokumentation des sozialistischen Aufbaus gefördert, zunächst in Arbeiterklubs, seit den 1950er Jahren dann in Fotozirkeln.38 Viele Betriebsfotografen und Fotojournalisten hatten andere Berufsausbildungen und kamen über die Amateurfotografie in ihre Funktion.39 Exemplarisch für die erste Generation sowjetischer Fotografen ist der Werdegang von Semën Fridljand. 1905 in Kiev geboren, arbeitete er ab 1925 für die illustrierte Zeitschrift Ogonëk, deren Leiter sein Vetter Michail E. Kol’cov war. 1927 erhielt er eine Auszeichnung im Rahmen der Ausstellung 10 Jahre sowjetische Fotografie und machte dann eine Ausbildung als Kameramann an der Kinematografischen Fakultät, die er 1932 ab128
Fotografie als Beweismittel
schloss. In der Folge arbeitete er für die renommierte, in mehreren Sprachen für ein internationales Publikum erscheindende Zeitschrift SSSR im Bau und ab 1933 auch als Fotokorrespondent der Pravda. Ende der 1930er Jahre war er Vorsitzender des Verbands der Moskauer Fotojournalisten. Während des Krieges arbeitete er als Kriegsreporter für die Agentur Sovinformbjuro. In dieser Zeit fotografierte er auch ein Heim für kriegsverletzte Kinder (Abb.6.5 und 6.6). In den 1950er Jahren war er Leiter der Bildredaktion von Ogonëk. Seine Aufnahmen waren in den 1920er und frühen 1930er Jahren geprägt von extremen Blickwinkeln und dynamischen, exzentrischen Kompositionen, in denen die Diagonale dominierte. Seine Bildreportagen aus Kalmückien, Zentralasien und Birobidžan waren bereits konventioneller fotografiert und zeigten sowjetische Motive wie ein kirgisisches Mädchen mit Buch unter dem Arm (Abb. 5.13) oder einen Kindergarten in Birobidžan.40 Die Kriegsreportagen zeigten Kampfhandlungen in Stalingrad und Kursk und Soldaten mit Kindern aus befreiten Dörfern auf dem Arm, fotografiert aus Augenhöhe in Zentralperspektive. In den 1950er Jahren erreichten seine Aufnahmen glücklicher Sowjetmenschen, darunter viele Kinderbilder, ein Maximum an sowjetischer Biederkeit : Jungen graben Beete um, während sich Mädchen in Schuluniform, müde vom Blumengießen, kurz ausruhen. Durch seine Arbeit bei der populären Illustrierten Ogonëk kann man Semën Fridljand als einen der wichtigen visuellen Diskursgestalter des Sozialistischen Realismus in der Fotografie der 1950er bis 1970er Jahre bezeichnen. Seine Aufnahmen von glücklichen Kolchosbäuerinnen in der Ukraine oder von lächelnden Kindern werden bis heute in den sozialen Medien geteilt und als Beweise für das glückliche Leben der sowjetischen Menschen gehandelt. Zu Sowjetzeiten beeinflussten die Bilder in den Zeitschriften die Sehgewohnheiten der Menschen. Amateurfotografen versuchten, den fotografischen Blick der Profis zu imitieren.41 Das zeigt sich an vielen Stellen in den Alben des Wasserkraftingenieurs Viktor V. Naugol’nov, die im Folgenden noch zur Sprache kommen. Das fotografische Feld wies einerseits fließende Übergänge zwischen Amateuren und Profis auf, andererseits war es stilistisch divers. Ein Grund dafür waren Kontinuitäten des Piktorialismus und des Sozialistischen Realismus, die neben neuen Tendenzen der 1960er Jahre im Zuge des Tauwetters und der kulturellen Öffnung der Sowjetunion fortbestanden. Die Biederkeit, in der sowjetische Fotoreportagen in den 1950er Jahren erstarrten, hatte mit Bedürfnissen der Stabilisierung zu tun, die in allen Nachkriegsgesellschaften konservative Werte und traditionelle Geschlechterverhältnisse begünstigten. Es blieb gängige Praxis, etwa auf den Seiten des populären Magazins Ogonëk, Aufnahmen nachzubearbeiten, Umgebungen zu verändern und Personen zu verschieben. Auch die selektive Komposition, die sorgfältige Inszenierung der Aufnahme für den »fotografischen Moment« war üblich. Eine wichtige Rolle spielte ferner der Text, der die Aufnahme begleitete, denn er lenkte die Aufmerksamkeit der Betrachter auf eine vorgegebene Deutung.42 129
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Ein gutes Beispiel für die sowjetische Reportagefotografie vom Spätstalinismus der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre hinein sind home stories, die nicht nur Berühmtheiten wie Schauspielerinnen und Schauspieler, Künstlerinnen und Künstler oder Kosmonautinnen und Kosmonauten zeigten, sondern auch »einfache Leute«, die im Land des »Wohlstands für alle« eine vorbildliche Lebensweise pflegten. Als Vorbild diente eine vielzitierte Reportage über die kinderreiche Arbeiterfamilie Filippov, die 1931 zunächst in der deutschen Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) erschienen war.43 Solche Reportagen sollten demonstrieren, dass die Sowjetunion ihren Bürgerinnen und Bürgern einen soliden Lebensstandard ermöglichte. Sie wirkten zugleich normativ, weil hier vorbildliche Familien und Werktätige in ihrem Alltag und ihrer Freizeit vorgeführt wurden. In diesen und späteren Häuslichkeitsfotos wurden häufig familiäre Szenen dargestellt, etwa die Familie beim abendlichen Tee, unter der Neujahrstanne oder die Eltern bei der Vorbereitung des Kindes für den ersten Schultag (Abb. 4.8). In malerischen Darstellungen finden sich solche Motive ebenso (Abb. 4.9). Mit der Aufbruchstimmung des Tauwetters kam Kritik an diesen konventionellen Ansichtsfotografien auf. Nach dem XX. Parteitag wurde die Dokumentarfotografie gefördert, und es gab neue Freiheiten. Die führende Fachzeitschrift Sovetskoe Foto, die seit 1957 wiedererschien, forderte im Rahmen der Entstalinisierung eine Erneuerung des Fotojournalismus und die Hinwendung zur Realität und zum Alltagsleben. Der Journalistenverband verurteilte hier offiziell ab 1961 die kanonisierten statischen Bildformeln des Stalinismus.44 Bereits 1958 prangerte eine Parteiresolution die Defizite der Bildzeitschrift Ogonëk an.45 Die ökonomischen, wissenschaftlichen und sozialen Fortschritte wurden seit 1961 von jährlichen Fotoausstellungen dokumentiert.46 Aber die Redaktionen hatten Mühe, sich interessante Aufnahmen zu verschaffen. Dabei nahm die Anzahl von Amateurfotografen zu, denn in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kam das Fotografieren als Freizeitbeschäftigung auf. Einerseits hing das mit der Förderung des Binnentourismus zusammen, andererseits waren nach dem Krieg die bereits in den 1930er Jahren entwickelten sowjetischen Kleinbildkameras verfügbar. Einfache Kameras gab es schon für weniger als 10 Rubel.47 Sie eigneten sich als Geschenk für Heranwachsende. Die nächstbessere Preiskategorie lag bei 20–30 Rubel, und die FED-Kamera kostete rund 50 Rubel. Das Zenit-Modell für 70 Rubel entsprach dem Monatseinkommen eines Facharbeiters. Das teuerste Modell war die deutsche Praktika, die mehrere hundert Rubel kostete. Auch die Vergrößerungsgeräte waren kostspielig. Die Filme mussten die Fotografen selber entwickeln und abziehen. Zahlreiche Ratgeber und Broschüren berieten die Amateurfotografen bei der Arbeit in der Dunkelkammer. Man brauchte Wannen für die Abzüge, eine orangefarbene Labortaschenlampe, eine Waage und weitere Dinge. Das Hobby war aufwendig und kompliziert. Daher blieb die Amateurfotografie bis in die 1960er Jahre hinein ein Privileg der bessergebildeten, städtischen Mittelschichten. Sie war ein Statussymbol und entwickelte sich erst in den 1970er Jahren zu einer allgemeiner verfügbaren Möglichkeit kreativer Selbstverwirklichung.48 130
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Abb. 4.8 : Fotografie Bei der Familie des Technikers Sorokin, 1954, Fotograf : N. Maksimov (Sovinformbjuro) »Die Eltern der siebenjährigen Irina – Ninel’ und Jurij Sorokin – machen ihre Tochter am ersten Tag des neuen Schuljahres für die Schule fertig«, sagt die Bildunterschrift in der Reportage über die Technikerfamilie. Abb. 4.9 : Aleksandr Guljaev (1917–1995), Neujahr, 1967, Öl auf Leinwand Häusliche Szenen bildeten auch beliebte Motive in der süßlichen Malerei eines konservativen Sozialistischen Realismus der späten Sowjetunion – das Glück war im Alltag angekommen. Der Maler, der im Mittelgrund selbst mit einem Skizzenblock zu sehen ist, wählte seine eigene Familie für das Motiv.
Die meisten Amateure beschäftigten sich mit Landschaften, Stillleben und Etüden. Exemplarisch dafür sind die Alben des Kraftwerksingenieurs Viktor V. Naugol’nov, der sich in den 1950er Jahren neben Familienfotos in künstlerischen Porträts seiner Tochter, Landschaften mit Birken an der Wolga und Blumen versuchte.49 Seit Ende der 1950er Jahre wetterten die Beiträger in der Zeitschrift Sovetskoe Foto gegen die sogenannte Postkartenfotografie, die Fotografie der schönen Ansichten, wie sie auch die Zeitschrift Ogonëk unter Leitung von Fridljand prägte. Für die Entwicklung des geforderten neuen »zeitgenössischen Stils« spielten Begegnungen mit Fotografien aus dem westlichen Ausland eine Rolle. Dazu gehörten die Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson, der die Sowjetunion 1954 besuchte und eine Reportage über den sowjetischen Alltag für das Life Magazine fotografierte. Großen Einfluss hatte die von Edward Steichen als Direktor der Fotoabteilung des New Yorker Museum of Modern Art kuratierte Ausstellung Family of 131
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Man, die 1959 im Rahmen der Amerikanischen Ausstellung im Moskauer SokolnikiPark gezeigt wurde. Um zu besseren Bildern zu kommen, organisierten zahlreiche städtische Zeitungen Fotozirkel in der Tradition der Arbeiterzirkel der 1920er und 1930er Jahre und führten in die Bedürfnisse der Pressefotografie ein. Führend wurde der 1953 als erster Fotoklub der Nachkriegszeit gegründete Leningrader Fotoklub VDK (Vasileostrovskij Dom Kul’tury) mit über 400 Mitgliedern. Die künstlerische Qualität der Herbstausstellungen war hoch, und die Mitglieder nahmen an den Allunions-Ausstellungen zum Siebenjahrplan Anfang der 1960er Jahre teil. Auch regionale Fotoklubs wurden prägend für eine neue Vielfalt. Dazu gehörte etwa der 1959 mit Unterstützung der lokalen Zeitung gegründete Čeljabinskij Fotoklub (ČFK), aus dem bekannte Fotografen wie Sergej Vasil’ev (*1930), Jurij Teuš (1930–1988) oder Vladimir Belkovskij (1933–1996) hervorgingen und der in den 1960er und 1970er Jahren das kulturelle Aushängeschild der Industriestadt im Ural war. Auf den Seiten der zentralen Fachzeitschrift Sovetskoe Foto und in den jährlichen Ausstellungen der lokalen Fotoklubs wurden neue Bildprogramme entwickelt, diskutiert und verbreitet.50 Der seit 1958 propagierte »zeitgenössische Stil« war ein umstrittenes Konzept, das die Hinwendung zur Lakonik, Verallgemeinerung und Ausdrucksstärke hervorhob.51 Die Förderung der Fotografie war erfolgreich : In den Zeitungen begannen lebhafte Momentaufnahmen zu erscheinen und Fotojournalisten erhielten einen eigenen beruflichen Status.52 Zu Beginn der 1960er Jahre gab es erste Vorschläge, Normen für Arbeit und Entlohnung von Pressefotografen einzuführen. Großen Einfluss entwickelten internationale Ausstellungen : Auf die ikonische Schau Family of Man 1959 in Moskau folgten Interpressfoto-60 zunächst in Berlin und dann in Moskau, Interpressfoto-66 in Moskau und weitere internationale Meisterschauen. Fotoausstellungen und Professionalisierung
Die Grenzen zwischen der Amateurfotografie und der professionellen Fotografie wurden in Ausstellungen und Wettbewerben verhandelt und waren fließend. Auf den Seiten der Zeitungen kam es zu einer Trennung von Reportagefotografie einerseits und Fotowettbewerben zur ästhetischen Erziehung der Leserschaft andererseits.53 In den 1960er Jahren setzte auch in der Sowjetunion die massenhafte Familien-(Knipser)Fotografie ein. Damit stieg das Interesse an den Ausstellungen der Klubs. Die Amateurfotobewegung der 1960er Jahre gruppierte sich um Klubs wie den Moskauer Novator oder den Leningrader VDK und war experimentell-künstlerisch ausgerichtet. Besonders innovativ waren die Fotografen in Litauen. Die litauischen Fotojournalisten schlossen sich 1958 in einem Verband zusammen.54 Sie arbeiteten sowohl im künstlerischen als auch im journalistischen Bereich und machten sich ihrerseits an die Erneuerung des Sozialistischen Realismus. Bald veranstalteten Fotoklubs in der ganzen Sowjetunion Wettbewerbe und 132
Fotografie als Beweismittel
Ausstellungen. Die Ausleseverfahren wurden zunehmend kompetitiv. Rund um renommierte Klubs bildeten sich kleine Fotografeneliten – Fotografinnen gab es nur wenige. Es gab nationale und internationale Ausstellungen und Kontakte. Einzelne Fotografen wurden bekannt und zogen ein großes Publikum an. Der große Wettbewerb zwischen den Klubs auf regionaler und nationaler Ebene führte zu einer Professionalisierung und zur Trennung von »starken« Amateuren von den übrigen. Für die »übrigen« gab die Fachzeitschrift Sovetskoe Foto die Ratgeberbroschüre Fotoljubitel’ (Amateurfotograf, wörtlich : Fotoliebhaber) heraus.55 Für beide Sparten, den Fotojournalismus und die Fotokünstler, war die Hinwendung zum täglichen Leben bedeutsam, das Interesse für den Menschen und seine Befindlichkeit, seine Schwierigkeiten und den Arbeitsalltag. Das Feld des Fotografierbaren erweiterte sich radikal. Motive, die zuvor nicht bildwürdig oder einfach nicht »fotogen« gewesen waren, gerieten ins Blickfeld der Fotografen.56 Die grundsätzliche künstlerische Richtlinie des Sozrealismus aus dem Jahr 1934, nämlich die »Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung«57 darzustellen, behielt auch in der Tauwetterfotografie ihre Gültigkeit.58 Heroisierende Aufnahmen begleiteten etwa die Kampagnen der Mobilisierung für die Erneuerung des Sozialismus nach Stalin, die Helden der Neulandkampagnen, das Pathos der Raumfahrt und die Konsumfotografie. Aber es gab ein neues stilistisches Lexikon. Die mythische Überformung der Realität und der transformative Blick wichen romantisierten Szenen aus dem sowjetischen Alltag. An die Stelle der Motive von harter Arbeit, Heldentum und Verzicht traten Motive der Freizeit und des Konsums als Botschaften der Ankunft im sozialistischen Wohlstand und des Aufbruchs in eine unbeschwerte Zukunft. Wie im Film verkörperten auch in der Fotografie gerade die Kinder die Werte des Tauwetters : Chruščëvs humanistischer Sozialismus war beseelt vom Pathos des Neubeginns und der Wahrhaftigkeit, moralisch aufgeladen und überzeugend.59 Zeitgenössische internationale Einflüsse wurden mit sozialistischen Werten wie Optimismus, Arbeitsethos, Völkerfreundschaft und Humanismus verknüpft.60 Zu den bekannteren Namen der sowjetischen Tauwetterfotografie gehörten Nina Sviridova (1933–2008) und Dmitrij Vosdviženskij (1942–2005), Vladimir Lagranž (*1939) oder der späte Vsevolod Tarasevič (1919–1998). Sie alle fotografierten zahlreiche Kindermotive. Viele sowjetische Fotografen waren auf beiden Gebieten aktiv : Sie machten die »richtigen« Fotos für die Presse und fingen nebenher informelle Szenen des Alltags ein. Die Zweiteilung des fotografischen Feldes entwickelte sich dahingehend, dass die Regeln des Sozrealismus in den offiziellen Bereichen angewendet wurden, in der Presseberichterstattung und in Verlagspublikationen wie offiziellen repräsentativen Fotobüchern über die Republik und im Rahmen von Themenausstellungen. In sozialen, kulturellen, humanistischen Zusammenhängen kam hingegen die Ästhetik der modernen dokumentarischen Fotografie zum Zug, in Literatur- und Kunstzeitschriften, Sonderausgaben zur Fotografie und lokalen Ausstellungen. Innovative Impulse und kritische Sichtweisen fanden im Bereich der künstlerischen Fotografie eine Nische.61 133
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Die künstlerische fotografische Praxis in der Sowjetunion der 1960er Jahre wurde wesentlich durch die litauischen Fotografen geprägt. Die humanistische Ästhetik des litauischen Realismus bestand im Entwurf eigenwilliger, nicht romantisierter sozialer Landschaften. Statt Optimismus standen Drama, Nostalgie, Entmystifizierung und Ironie im Vordergrund. Der Ansatz der »Beobachtung der täglichen Existenz« verdankte sich der neuen sozialdokumentarischen Fotografie, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er amerikanische Fotografen wie Garry Winogrand, Diane Arbus und Lee Friedlander entwickelten, und dem Social Landscape Concept, das in den 1970er Jahren unter der Bezeichnung New Topographics neu aufgelegt wurde und neue Maßstäbe in der Landschaftsfotografie setzte.62 Ernst, skeptisch, nachdenklich, jenseits aller Pionierklischees sind die Aufnahmen von Kindern in den Jahrbüchern der Gesellschaft litauischer Fotokünstler (Abb. 4.10–4.13). Litauische Fotografen der 1960er und 1970er Jahre zeigten Kinder nicht lachend in einer behüteten Kinderwelt, sondern ernst bis nachdenklich oder verschlossen und immer in einer Welt mit den Erwachsenen. Sie lebten nicht in der Utopie, sondern voll und ganz im Hier und Jetzt der harten Gegenwart. Anstelle der lichten Zukunft spielten Vergangenheit, Generationenverbindungen und eigene Traditionen eine Rolle. Die Aufnahmen zeigten Kinder meistens im Freien, eingebettet in eine soziale und topografische Landschaft, im Matsch des Dorfes, auf dem Schulweg über Land, ebenso fern von jedem Idyll wie von der urbanisierten sowjetischen Moderne, wie sie in den offiziellen Bildwelten gezeigt wurde. Die Darstellungen im Geist des Sozialistischen Realismus lösten die Kinder aus ihren sozialen Kontexten und stilisierten sie durch bestimmte Requisiten, sorgfältige Kompositionen und gestellte Aufnahmen. Das machte die Kinder im Bild einerseits universell oder »sowjetisch« und betonte andererseits die Abgeschlossenheit der behüteten Kinderwelt. Davon grenzten sich die litauischen Fotografen deutlich ab. Der Verband der litauischen Fotojournalisten förderte ein Netz von Fotoklubs im ganzen Land, aus dem dann 1969 die Gesellschaft litauischer Fotokünstler hervorging. Ein gemeinsamer Nenner war das (national verstandene) Thema von Mensch und Landschaft. Das Programm der Gesellschaft litauischer Fotokünstler propagierte eine enge Verbindung zur Heimat ; die Einheit von Individuum und Landschaft, Mensch und Natur ; Verantwortungsbewusstsein (Ethik) ; die Harmonie von Form und Aussage ; die Poetik der Wahrnehmung. Zentrale Anforderungen an die Qualität waren ein ungebrochener (wahrhaftiger) Realitätsbezug, individueller Ausdruck (dokumentarischer Stil) und existentielle Themen.63 Das Ergebnis war eine radikale Ästhetik jenseits der sowjetischen Genrefotografie der 1960er Jahre. Bedingung für die Förderung und die Möglichkeit zu publizieren und an sowjetischen und internationalen Ausstellungen teilzunehmen, war allerdings eine positive Grundeinstellung, eine optimistische Darstellung der Realität.64 Die litauischen Fotografen konnten sich im sowjetischen Kulturbetrieb etablieren, weil sie einigermaßen konformistisch blieben und ihre Inhalte den Parteidirektiven nicht widersprachen, aber auch wegen der hohen künstlerischen Qualität ihrer Bilder. Der Ver134
Fotografie als Beweismittel
Abb. 4.10 : Romualdas Požerskis (*1951), Im Krankenhaus (Doppelseite), im Bildband Fotografie in Litauen 1981–1982 (Lietuvos Fotografija 1981–1982), Vilnius 1986 Die Serie von Romualdas Požerskis Im Krankenhaus ist ein gutes Beispiel für den sozialdokumentarischen Stil : Es sind Bilder der vorbildlichen sowjetischen Gesundheitsfürsorge, aber sie zeigen kranke Kinder, und sie stellen die Perspektive des Kindes in den Fokus. Abb. 4.11 : Algirdas Tarvydas (*1940), Die Hundertjährigen, 1969 und Antanas Miežanskas, Der Blick, Doppelseite im Bildband Lietuvos Fotografija (Fotografie in Litauen), Vilnius 1971 Die Aufnahmen zeigen Kinder auf Veranstaltungen der litauischen Volkskultur. Sie betonen die generationenübergreifene Zusammengehörigkeit. Hier sind die Kinder nicht Teil einer behüteten, abgesonderten Welt der Kindheit, sondern Teil der ländlichen lokalen Gemeinschaft – diese steht im Vordergrund zahlreicher Aufnahmen und in bewusster Opposition zur sowjetischen Moderne. Abb. 4.12 : Romualdas Rakauskas (*1941), Der Morgen, 1968, im Bildband Lietuvos Fotografija (Fotografie in Litauen), Vilnius 1971 Die Aufnahme von Mutter und Kind auf dem Bett könnte sich ebenso gut in einem privaten Album finden wie in dem Jahrbuch des litauischen Fotografenverbandes. Sie wurde aber auch in dem Jubiläumsband Die Sowjetunion von 1972 veröffentlicht. Die Vermutung liegt nahe, dass der Fotograf hier sein Motiv in der Familie fand. So ergeben sich in den Fotobüchern Überschneidungen zwischen der familiären und der offiziellen Fotografie. Abb. 4.13 : Antanas Sutkus (*1939), Der Pionier, 1968, im Bildband Lietuvos Fotografija (Fotografie in Litauen), Vilnius 1971 Der Pionier hat nichts gemein mit der behüteten Welt glücklicher sowjetischer Kinder. Kahlgeschoren und ernst ist er mit den selben Realitäten des Alltags konfrontiert wie die Erwachsenen. 1970 erhielt Sutkus für seinen Pionier in Italien den Preis Michelangelo d’Oro, erst danach wurde die Aufnahme in der Sovetskoe Foto Nr. 11, 1970 abgedruckt.
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band litauischer Fotokünstler schützte seine Nische durch Loyalitätsbekundungen an die kommunistischen Ziele, um an den der künstlerischen Elite vorbehaltenen Privilegien wie Reisen, Mittel und Material teilhaben zu können.65 In den 1970er und frühen 1980er Jahren nahmen sozrealistische Floskeln und Haltungen in den offiziellen Medien wieder zu. Zugleich kam Kritik auf an den litauischen Fotokünstlern, die Individuen statt Kollektive und traditionelles lokales statt modernes sowjetisches Leben fotografierten.66 Grenzen des Zeigbaren : Die neue Spontaneität
Abb. 4.14–4.15 : Fotografien im Bildband 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan 1960 Die neue Spontaneität konnte vor allem in Porträts kleiner Kinder ausprobiert werden, wie in dem Foto mit der Bildunterschrift »es lässt sich nicht zuknöpfen«. Andere Kompositionen entsprechen Vorbildern aus den 1930er bis 1950er Jahren : Hier genießen armenische Kinder in ihren Rollen als strebsame kleine Sowjetbürger die Vorteile des sowjetischen Bildungswesens.
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Das Spektrum des fotografischen Feldes hatte sich in den 1960er Jahren wesentlich erweitert und ausdifferenziert. Entscheidend war dabei der Grad der Verbreitung der Aufnahmen. In Ausstellungen und Jahrbüchern wurden im kleinen Kreis die Grenzen des Zeigbaren verhandelt, während in den Fotobüchern, die der Feier der sowjetischen Errungenschaften dienten, Optimismus angesagt war. Hier machte sich jedoch ein verstärkter Föderalismus bemerkbar. Ab den 1960er Jahren erschienen Fotobücher zu den Republiken häufiger nicht mehr in Moskau und Leningrad, sondern in den Republiken selbst. Die Bandbreite der Fotobücher wuchs, es gab zentrale und regionale Publikationen sowie je nach Auflage und Reichweite verschiedene Grade der Förmlichkeit und Repräsentativität. Regionale Fotobücher legten den Schwerpunkt stärker auf regionale Identitäten, verwendeten dabei aber auch sowjetische Formeln. Zugleich wandelten sich die Fotostile und auch der Stil der Kinderfotos in den Fotobüchern : spontan, bewegt, weniger auf Kollektive als auf exemplarische, zufriedene Individuen und Familien abzielend. Die Kinderfotos glichen sich dem Stil der Familienfotografie an : Das Lyrische und das Intime, Spontane hielten Einzug in die Fotobücher. Kleine Kinder eigneten sich besonders gut für Spontaneität, Glück und die Betonung des all-
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.16 : Fotografie in 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan 1960 Abb. 4.17 : Abbildung in dem Bildband Die Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980 Eine musikalische Ausbildung war ebenso wie Ballett Teil des Kanons sowjetischer »Kultiviertheit« (kul’turnost’) in der Tradition europäischer Hochkultur, an der auch die nichtrussischen Republiken teilhaben durften. Der Band von 1980 zeigt hingegen eine Momentaufnahme einer heilen und behüteten Kindheit.
gemein Menschlichen. Die alte und die neue Ästhetik koexistierten zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre. Der Wechsel der Perspektive in der Fotografie der 1960er Jahre machte sich auch in den Fotobüchern bemerkbar. Die Aufnahmen wurden spontaner und lockerer. An den Bänden Sovetskaja Armenija za 40 let (40 Jahre sowjetisches Armenien) von 1960 und Deti Armenii (Kinder Armeniens) von 1980 lässt sich der Wandel der Bildsprache anhand von Bildern von Kindern, von Freizeit und Wohlstand verfolgen (Abb. 4.14‒4.17).67 Die Bildbände aus den Regionen selbst präsentierten sowjetische Republiken mit eigenen nationalen Identitäten, was wiederum die Frage nach der Rolle der Kinder aufwirft. Die Kunsthistorikerin Elena Barkhatova betont, mit dem Pomp, den Ritualen und den Großprojekten der 1970er Jahre sei der Appell an die Fotografen einhergegangen, das Sowjetische, die weiten Horizonte und den entwickelten Sozialismus in den Fokus zu rücken und nicht mehr die romantisierten Individuen wie Physiker, Piloten und Kreative der 1960er Jahre.68 Das einzige Motiv, das romantisch verklärt werden durfte und individuell bildwürdig blieb, waren offensichtlich die Kinder (Abb. 4.14 und 4.17).
Zum Beispiel private Fotoalben
Die sowjetische private Fotografie wird erst seit wenigen Jahren intensiv erforscht. Die Familie war in der Sowjetunion ein sozialer Raum des Rückzugs. Hinter verschlossenen 137
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Türen entstanden sowohl Fotos vom Kind vor der Neujahrstanne als auch subversivere Projekte. Die Kunsthistorikerin Ekaterina Degot weist darauf hin, dass es zu Sowjetzeiten grundsätzlich riskant war, auf der Straße zu fotografieren, abgesehen von Erinnerungsfotos von Sehenswürdigkeiten mit Familienmitgliedern im Vordergrund. Deshalb wurde die Amateurfotografie auch ohne offiziell ausgesprochenes Verbot aus urbanen Räumen in Parks und Privatwohnungen verbannt.69 Als eine Folge der Verdrängung der Knipserfotografie in den privaten Raum nennt Degot die Vorliebe für erotische Motive. Daneben war die Kinderfotografie grundsätzlich unverfänglich, da das Heranwachsen der Kinder eines der zentralen Motive der Familienfotografie darstellt.70 Das machten sich immer wieder auch Künstler zunutze. Degot erwähnt den Rückzug der Nonkonformisten in ihre privaten Lebensprojekte und die »Intimität« als Thema der nonkonformistischen Kunstszene der 1960er und 1970er Jahre, als Künstler in Anlehnung an die Form von Familienalben ihre eigenen, künstlerischen »Alben« schufen. Kinder kamen darin bezeichnenderweise nicht vor. Allerdings gab es in der konzeptuellen Kunstszene der 1970er Jahre durchaus Familienprojekte wie das Nest-Projekt der Gruppe Gnezdo (Nest). Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt an einer Ausstellung nonkonformistischer Kunst im Kulturpavillon der VDNCh in Moskau 1975 saßen drei Männer und ein Kind in einem Nest. Davor stand ein Schild : »Bitte Ruhe, Experiment. Sie brüten.«71 Der Rückzug in die Familie klang auch in den Familienklubs der 1980er Jahre an.72 Bezeichnenderweise stellten die nonkonformistischen Künstler keine Kinder dar, sondern inszenierten sich selbst als Erwachsene in Kinderposen, um auf die Infantilisierung der Bürger durch den bevormundenden Fürsorgestaat hinzuweisen.73 Auf Familienklubs und Formen der ironischen Aneignung sowjetischer Pathosformeln geht das Kapitel Topoi, Tabus und Gegenerzählungen näher ein. Hier soll dagegen ein Blick auf die Bildpraktiken und in die Fotoalben ganz »normaler« sowjetischer Familien geworfen werden. Für diese Studie wurden zunächst Fotoalben aus drei Familien untersucht, deren Angehörige schon früh selber fotografierten und auch den Kindern Fotoapparate und Alben schenkten. Es sind Angehörige urbaner, gebildeter Schichten, die hier mit ihren Alben kurz vorgestellt werden : Zwei Familienalben wurden von Elena Alekseevna zur Verfügung gestellt. Die Interviewerin betrachtete die Alben gemeinsam mit der Zeitzeugin im August 2011. Elena Alekseevna wurde 1955 geboren. Ihr Vater war Oberst-Ingenieur und Offizier des Generalstabs. Ihre Mutter war Ingenieurin. Die Familie lebte in einer Wohnung im neuen Moskauer Rayon Kuncevo. Ihren Lebensstandard kann man als überdurchschnittlich bezeichnen. Die Großeltern väterlicherseits waren Ärzte. Die Großmutter, 1904 geboren, war Ärztin-Laborantin, der Großvater Oberst des medizinischen Dienstes. In den 1960er Jahren lebten die Großeltern im Kurort Kislovodsk im nördlichen Kaukasus, wo sie in Sanatorien arbeiteten. Elena Alekseevna verbrachte den Sommer und die Ferien bei ihnen. In der ersten Klasse lebte sie in Kislovodsk und ging dort zur Schule. Ab der zweiten Klasse besuchte sie eine Schule in Moskau. 138
Zum Beispiel private Fotoalben
Fotografieren war das Familienhobby. Der Vater fotografierte leidenschaftlich und besaß »schon immer« eine Kamera. In den 1960er Jahren war dies eine FED. Die Großmutter fotografierte auch. In den 1960er Jahren hatte sie, wie auch Elena Alekseevna selbst, eine Kamera Smena. Elena fotografierte schon als zehnjähriges Mädchen. Entwickelt wurde gemeinsam mit dem Vater in der Wohnung, in einem dunklen Abstellraum. Das Auswählen von Fotos, deren Anordnen und Beschriften in den Alben war ein Ritual, an dem die ganze Familie teilnahm. Jedes Familienmitglied bekam ein eigenes Album. Die Alben wurden streng chronologisch und thematisch geordnet, was Elena Alekseevna als untypisch bezeichnet und mit dem Charakter ihres Vaters erklärt. Zwei Alben wurden Elena Alekseevna als Kind gewidmet. Das erste wurde von den Eltern als »Kinderalbum« gestaltet – von der Geburt bis zum Eintritt in die Komsomol-Organisation. Vor dem Gespräch meinte Elena Alekseevna, dass ihre Eltern das Kinderalbum während ihrer Kindheit gestaltet hätten. Zu ihrer Überraschung entdeckten sie und die Interviewerin während des Gesprächs auf dem Rücken des Albums einen Produktionsstempel von 1972. Das zweite Album bekam Elena Alekseevna 1965 zum zehnten Geburtstag geschenkt. Es füllt eine Lücke in der Mitte des Kinderalbums (ca. 1959–1967). Dieses Album gestaltete Elena Alekseevna selbst. Die erste Seite zeigt zwei handkolorierte Studiofotografien mit und ohne Großmutter aus dem Jahr 1962. Auf einer sitzt die Sechsjährige im braunkarierten Kleid mit rosa Haarschleife auf einer aristokratisch verschnörkelten güldenen gepolsterten Sitzbank. An den Füßen schimmern, passend zum Requisit des Fotosalons, goldene Sandalen. Die Aufnahme ist ein noch opulenteres Pendant zum Porträt von Igor Narskij, das dessen Großvater in Gor’kij anfertigen ließ, und das ihn auf einem ähnlichen Sessel zeigt.74 Da Elena 1964 in Kislovodsk in die erste Klasse gekommen war, finden sich auf den Folgeseiten zahlreiche Aufnahmen der Schülerin in Uniform und Klassenfotos sowie eine Reihe von Ferien- und Freizeitfotos : Elena mit Freundin oder Bruder, Ausflüge mit dem Auto in die Natur und Besuche bei der Großmutter in Kislovodsk ; dazwischen und am Ende des Albums Fotos des Abschlussexamens der vierten Klasse 1967 und ein Klassenfoto sowie Aufnahmen als Pionier. Die Überschriften wurden teilweise von der Mutter angebracht. Das Familienalbum der Familie Plotnikov befindet sich im Museum des Moskauer Pionierpalastes auf den Sperlingsbergen. Kirill Nikanorovič Plotnikov, geboren 1907 in Kursk, war ein bekannter Ökonom und korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Zugleich war er der Schwiegersohn des Bildhauers Innokentij N. Žukov (1875–1948),75 der bei der Gründung der sowjetischen Pionierorganisation zu Beginn der 1920er Jahre eine wichtige Rolle gespielt hatte. Dessen Enkelin übergab das Album der Familie dem Archiv des Pionierpalastes, als dessen Mitarbeiterinnen eine Biografie vorbereiteten. Das Album mit Herstellungsstempel Anfang der 1970er Jahre ist mit Familienfotos gefüllt. Auf dem ersten Blatt ist das Studioporträt eines jungen Paares zu sehen. Die Bildunterschrift lautet : »Papa und Mama 1934«. Das letzte Blatt zeigt sechs Gruppenfotos von Menschen in einer Wohnung und trägt die Beschriftung 139
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
»Familientreffen an den Novemberfeiertagen 1972«, neben einem weiteren Foto eines kleinen Jungen, der mit seiner Mutter am Esstisch sitzt : »Antoscha ist drei Jahre und 5 Monate alt, 1972«. Wie viele Familienalben ist dieses Album nicht rein chronologisch organisiert, sondern gruppiert immer wieder Fotos verschiedener Generationen vergleichend : Kinderfotos des Großvaters Kirill aus den 1920er Jahren stehen unmittelbar neben solchen seines 1946 geborenen Sohnes Aleksandr »Sascha« und des Enkels, des 1969 geborenen Anton »Antoscha« Plotnikov, und Passfotos verschiedener Familienmitglieder mit sehr unterschiedlichen Entstehungsdaten sind auf einer Seite gruppiert. Die Fotos sind fest eingeklebt und durchgehend kurz, aber präzise beschriftet mit Namen und Orten. Das private Fotoalbum der Lena Ivanova wird im Archiv von Rosfoto St. Petersburg aufbewahrt. Dieses Album beginnt in der vorrevolutionären Zeit um 1912. 1932 heiratete dessen Besitzerin Lena mit 20 Jahren »N. I.«, der in der Roten Armee diente. 1935 wurde die einzige Tochter geboren, ein Studiofoto zeigt sie mit Eltern und Großmutter – die vermutlich das Kind erzog. Sie hält es auch auf dem Foto. Ein weiteres Foto zeigt den Säugling nackt auf einem Fell, auf dem Bauch liegend, von der Seite. Das Kind stemmt sich hoch und schaut in Richtung Kamera, Unterschrift : »Naša edinstvennaja«, »Unsere Einzigartige«. 1942, während der Blockade von Leningrad, folgten Passfotos und ein Foto der Eheleute – »nach dem Abschied« : Das Kind verhungerte vermutlich während der Blockade oder wurde evakuiert. Es kommt später nicht mehr vor in dem Album. Stattdessen nimmt der 1947 geborene Neffe Sascha die Kinderrolle im Album ein. Ebenfalls im Archiv von Rosfoto befinden sich fünf private Alben des Wasserkraftingenieurs Viktor Vasil’evič Naugol’nov.76 Naugol’nov war ein beispielhafter Vertreter der sowjetischen Mittelschicht der späten Stalin-Zeit.77 Nach den Fotos geschätzt wurde Naugol’nov zwischen 1916 und 1920 geboren, er war also ein Kind der Revolution und Angehöriger der »Ersten sowjetischen Generation«. Seine Eltern lebten in Novočerkassk. Auf der ersten Doppelseite prangt ein sehr feierliches Gruppenfoto über der kalligrafischen Unterschrift »Das Jahr 1946«. Es ist höchstwahrscheinlich das Abschlussfoto seiner Ausbildung, denn er gehörte von nun an zur staatstragenden Berufsklasse der Ingenieure.78 Als Kraftwerksingenieur (ėnergetik) folgte der Lebensweg Naugol’novs mit Frau und Tochter (* ca. 1942) den beruflichen Möglichkeiten, die sich durch die innere Kolonisierung und Erschließung Zentralasiens und Sibiriens mit sowjetischer Infrastruktur eröffneten.79 Das erste seiner fünf Alben beginnt 1946. Die übrigen Alben weisen Herstellerstempel von 1971 auf. Der Ingenieur erreichte in den 1970er Jahren das Pensionsalter. Der Zeitpunkt, sein Engagement als Fotograf und die Komposition einzelner Doppelseiten sprechen dafür, dass er selbst die Alben zusammenstellte. Das späteste datierte Foto stammt aus dem Jahr 1973. Drei kleinere Alben sind chronologisch geordnet. Das erste umfasst die Jahre 1946–1949 in Rybinsk an der Wolga, das zweite die Jahre 1954–1958 als Direktor eines Kraftwerkes im Transili-Alatau-Gebirge in Kasachstan, das dritte die Jahre 1958–1963 im südrussischen Kuban’-Gebiet und schließlich im sibirischen Tomsk. 140
Zum Beispiel private Fotoalben
Zwei größere Alben sind chronologisch und thematisch durchmischt. Die Themen sind Arbeit und Kollegen, Frau und Tochter, die erweiterte Familie, die Freizeit, Geselligkeit, Ferienreisen und die künstlerische Fotografie, vor allem Naturaufnahmen an der Wolga und im Tian-Shan-Gebirge. Vieles spricht dafür, dass sich der ambitionierte Amateurfotograf von den Aufnahmen aus der Ogonëk inspirieren ließ, insbesondere bei den zahlreichen Aufnahmen der Tochter unter blühenden Obstzweigen, in Kornfeldern oder mit reifen Früchten. Auch die Tochter begann früh mit dem Fotografieren und ist häufiger mit Kamera in der Hand abgelichtet. Neben den selbstaufgenommenen Fotos finden sich in den Alben auch vereinzelte Postkarten und, häufiger, Atelieraufnahmen von Familien, Gruppen und Porträts aus der erweiterten Familie und dem Freundeskreis. Dies hing wohl damit zusammen, dass die Familie mehrfach umzog und weit entfernt von Eltern, Geschwistern und Freunden lebte. Die heranwachsende Tochter ist auf zahlreichen Aufnahmen zu sehen, allerdings finden sich nur zwei Studiofotografien von ihr mit Schulkameraden beim Abschluss der Schulzeit 1960. Insgesamt gibt es genau zwei Fotos aus dem Klassenzimmer, die vermutlich der Vater machte. Das Fehlen der üblichen Aufnahmen zum ersten Schultag und von Klassenfotos lässt vermuten, dass die Tochter eigene Alben besaß. Eine Anmerkung zur Methode
Die Fotoalben standen in Archiven und Museen zur Verfügung. Nur zum Album von Elena Alekseevna gab es ein Gespräch mit der Verfasserin. Die Mitarbeiterinnen des Museums des Moskauer Pionierpalastes hatten ferner einige Informationen zur Familie der Plotnikovs. Die Alben der Lena Ivanova, der Naugol’novs und der Plotnikovs sind »verwaiste« Alben ohne begleitende Familienerzählungen, die überdies durch die Abgabe an eine öffentliche Institution aus dem Bereich des privaten Erinnerns und Erzählens in den öffentlichen Raum übergetreten sind. Damit wandeln sich auch die Bedingungen, unter denen sie angeschaut und wahrgenommen werden, grundlegend. Für dieses Kapitel wurden die Alben als narrative Zusammenhänge betrachtet, analysiert und interpretiert, ähnlich der Phasen, die Martha Langford beschreibt :80 Zunächst wurden alle Informationen erhoben, Daten, Namen, Orte, Beschriftungen. In einem zweiten Schritt folgte eine genaue Betrachtung der Bilder mit dem Ziel, die Geschichten der Menschen in die sozialen und historischen Kontexte einzupassen und ihre Geschichten in den sowjetischen Kontexten zu verorten. Oft sind die Bilder in Fotoalben nicht chronologisch angeordnet. Um die autobiografischen Geschichten der Alben, die Zyklen, Brüche und Veränderungen in den Bildmustern zu erkennen, wurde eine chronologische Folge rekonstruiert. Im dritten Schritt ließen sich nun Besonderheiten der Verfasserinnen und Verfasser erkennen : Wie erzählten sie ihre eigenen Kindheitsgeschichten oder die ihrer Kinder durch Arrangements, die Auswahl der Bilder und Themen, ihre Beschriftung und Präsentation ? Was betonten sie, was ließen sie weg ? Welche Genres bevorzugten sie für Kinderdarstel141
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
lungen, welche Motive häufen sich zu bestimmten Zeiten, und welche Dinge erscheinen mit den Kindern im Bild ? Die nachfolgenden Abschnitte wurden anhand der oben vorgestellten Alben entwickelt. Wider Erwarten gab es keine Druckfreigabe für Fotos aus den Alben der Plotnikovs und Elena Alekseevnas. Daher mussten in letzter Minute über informelle Netzwerke möglichst entsprechende Bilder gefunden werden. Dass dies kein allzu großes Problem darstellte, liegt an der bereits festgestellten Konformität und Ähnlichkeit der Alben und ihrer Motive und bestätigte letztlich die Befunde. So war es möglich, gezielt nach bestimmten Bildtypen zu suchen, wie etwa Atelierfoto, erster Schultag, Kind im Auto, Spielsachen und Kindermöbel als Zeichen von Wohlstand. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den erzählerischen Zusammenhängen der nachträglich erhaltenen Aufnahmen fehlte jedoch die Zeit. Zwei Familien stellten dankenswerterweise kurzfristig Aufnahmen zur Verfügung. Die Fotos der Familie Širočin werden von Vadim Širočin (*1958) aufbewahrt. Sein Vater war ein hochangesehener Chirurg und Traumatologe in Vilejka in der Belarussischen SSR. Die Mutter war Leiterin der Gynäkologischen Abteilung des städtischen Krankenhauses. Die Familie war für sowjetische Verhältnisse wohlhabend, »es gab immer ein Auto«. Jedes Jahr fuhr man in den Urlaub, oft ans Meer. Der Vater fotografierte selber. Die Fotos verwahrt Vadim Širočin nicht in Alben, sondern in einer Schachtel. Die genauen Entstehungszeiten sind nicht bekannt, man kann sie lediglich anhand des Alters des Kindes schätzen. Familie Kozub lebte erst in Vladivostok, ab 1971 dann im belarussischen Vilejka. Die Tochter Nelja kam am 24. Dezember 1963 zur Welt, der Sohn Vitalij am 9. März 1965. Der Vater war Offizier der Kriegsmarine, die Mutter leitete die Abteilung für Wohn- und Kommunalwirtschaft der Fabrik Zenit in Vilejka, die optische Geräte und auch Fotoapparate herstellte. Der Vater fotografierte selbst, man bekam Bilder von Bekannten und Freunden, von den Schulen und anderen Einrichtungen. Es gab Fotoalben. Die Albumseiten hatten Schlitze für die Ecken der Fotos, die aber die Bilder nicht fest genug hielten, so dass sie immer wieder herausrutschten. Außerdem nahm man die Fotos oft selber heraus, um sie besser betrachten zu können. Zwar befinden sich die meisten Fotos jetzt noch in den Alben, liegen dort aber lose zwischen den Seiten. Genres, Motive, Attribute der Kindheit Stillhalten ! Fotos »zum Andenken«
Ein nicht unwesentlicher Bestandteil der familiären Konvolute sind Studiofotos, sogenannte Fotos zum Andenken, fotografii na pamjat’ (Abb. 4.18 und 4.19). Der Austausch von Porträtfotos am Ende der Schulzeit erinnert an die traditionelle carte-de-visite-Fotografie. Während und nach der Oktoberrevolution gingen die Fotografen und die Fotoateliers weiterhin ihrer Arbeit nach. Einerseits bestand diese in der Herstellung von Por142
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.18 : Familienalbum der Familie Širočin, Vadim Širočin (*1958), ca. 1960 Das Kind sitzt in seinen besten Kleidern, frisch frisiert und gut ausgeleuchtet auf einem gedrechselten Stühlchen im Atelier des Fotografen und schaut brav in die Kamera. Es ist ein klassisches Studioporträt in der bürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts. Abb. 4.19 : Familienalbum der Familie Naugol’nov, 1958–1963, Albumseite ca. 1960 Die Albumseite zeigt drei typische »Fotos zum Andenken« der Tochter mit einem Schulfreund und einer Schulfreundin aus dem Atelier zum Andenken an den Schulabschluss in Tomsk 1960. Man sieht deutlich, dass sich die Porträtierten zurechtgemacht hatten, um ins Fotoatelier zu gehen, und dort feierlich posierten. Rechts unten auf der Seite der Vater, Viktor Vasil’evič Naugol’nov.
trätaufnahmen, Familien- und Gruppenfotos, andererseits dienten die Fotografen auch als Bildberichterstatter. Die Fotografie wurde über die Ansichtskarten popularisiert, die kurz vor 1900 den cartes de visite und Kabinettfotografien den Rang abliefen. Bis zum Ende der Sowjetunion und darüber hinaus ließ man sich zu wichtigen Momenten im Leben von einem Berufsfotografen im Atelier ablichten und verschenkte diese Bilder an Freunde und Verwandte. Das bedingte die Weiterexistenz von Fotoateliers und des Berufsstands des Atelierfotografen in der Sowjetunion. Die Fotos der Atelierfotografen zeigen, was in den Augen der Auftraggeber, der Fotografierten und des Fotografen als gut, wahr und schön galt. Das reichte von Habitus, Frisur, Haltung, Kleidung und Accessoires bis hin zu den gewählten Requisiten der Selbstdarstellung wie Hintergrund oder Möbel. Atelierfotografien bestätigten die soziale Zugehörigkeit, Status und »Glück«.81 Die Porträts waren von Konventionen geprägt und der Kanon an Motiven fest im Alltagswissen verankert. Die Atelierfotos führten einerseits fotografische Traditionen fort, andererseits waren sie, weil sie anlässlich bestimmter Momente im Leben angefertigt wurden, auch Teil der Ritualisierung des Alltags in der Sowjetunion. Interessant ist der Umstand, dass Ritual und Normierung in die privaten Bildpraktiken und in die Familienalben hineinreichten. Immerhin waren die Kinderfotos Teil einer Selbstbeschreibung 143
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
wie auch des Einschreibens in eine Gemeinschaft. Igor Narskij bettete die Aufnahme, die er 1966 mit seinem Großvater im Atelier machte, in kulturelle Praktiken ein und bezog die vor- und nachfotografischen Momente, die Familiengeschichte, die emotionalen Beziehungen und den persönlichen Geschmack der an der Produktion der Aufnahme Beteiligten mit ein.82 Diese Informationen fehlen bei »verwaisten« Alben. Wenn Alben an Institutionen wie Museen oder Archive übergeben wurden, weist das darauf hin, dass sowohl die Spender als auch die Institutionen ihren Inhalten eine über die persönliche oder familiäre Ebene hinausreichende Bedeutung zumaßen. Sie wurden im Moment der Archivierung entweder für besonders typisch für ihre Zeit oder für besonders außergewöhnlich gehalten. Ebenfalls »zum Andenken« boten in sowjetischen Ferien- und Kurorten Fotografen an Aussichtspunkten und Sehenswürdigkeiten ihre Dienste an. Sie fotografierten die Feriengäste und schickten ihnen die Abzüge zu. Diese bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur für sowjetische Tourismusdestinationen typische Variante touristischer Fotografie brachte gewissermaßen eine personalisierte Postkarte hervor. Diese Praktiken führten zu einer Vereinheitlichung visueller Muster, zu einer Sowjetisierung der Fotografien und der Alben. Das Klassenfoto und das Gruppenfoto
Weiter finden sich in privaten Fotokonvoluten Aufnahmen, die im Betrieb oder der Institution, in der man arbeitete, von Werksfotografen gemacht wurden. Häufig waren dies Gruppenbilder am Arbeitsplatz, bei Feiern, Ausflügen oder festlichen Anlässen. Auch in Institutionen wie Schulen und Pionierlagern wurden Fotos gemacht und an die Kinder verteilt. Das in fast allen Alben vertretene Klassenfoto ist Teil der Ikonografie der Schule und hat sich seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im europäischen Raum in den 1880er Jahren kaum verändert. Die Schüler stehen in Reihen hinter- und übereinander, oft auf einer Treppe, die Lehrerin in der Mitte. Die Fotos sehen sich zum Verwechseln ähnlich, und doch ist, das ist wichtig, jeder einzelne Schüler, jede Schülerin deutlich erkennbar. Wahrscheinlich ist das Klassenfoto gerade wegen dieser formalen Austauschbarkeit zur Ikone der Volksschule geworden : Gruppenbilder stellen gesellschaftliche Zusammenhänge her und tragen zur Konstruktion und Stabilisierung von sozialer Wirklichkeit bei. Das Klassenfoto stiftet Identität über den Moment hinaus. Die wohl überall bestehenden Konflikte, Rivalitäten und Ausgrenzungen verschwinden hinter der Fassade der Gruppe. Das Klassenfoto symbolisiert die Ideale der Gleichheit, die der Volksschule zugrunde liegen, und ist wohl deshalb über Jahrzehnte unverändert geblieben. Im Gruppenbild findet die Idee der gleichen Bildung für alle ihren Ausdruck. Klassenfotos waren eine Koproduktion von Lehrerinnen, Fotografen und Schülern. Eine Kinderschar wird samt Außenseitern und Rebellen zur Einheit, so dass im Foto auch der Gegensatz von Individuum und Kollektiv visuell überwunden wird. 144
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.20 : Familienalbum, Klassenfoto aus der 3. Klasse auf dem Schulhof, Pskov, Mai 1985 Das Klassenfoto zeigt dieselbe Klasse wie Abb. 3.18, nun jedoch am Ende der dritten Klasse, im Mai 1985. Das Foto wurde im Schulhof gemacht, die Komposition ist klassisch mit Reihen hinter- und übereinander, die Lehrerin steht in der Mitte. Die Mädchen sitzen auf der vorderen Bank. Sie tragen ihre weißen Festtagsschürzen über den braunen Kleidern. Die Jungen stehen auf der hinteren Bank und tragen die 1973 eingeführten dunkelblauen Schuluniformen. Die Besitzerin des Albums erinnert sich, dass in der dritten Klasse alle feierlich in die Pionierorganisation aufgenommen wurden. Deutlich sind die roten Pionierhalstücher zu erkennen, zwei Mädchen tragen die Pionieruniform : weiße Bluse und blauer Rock.
Ganz allgemein dokumentieren Gruppenfotos die soziale Zugehörigkeit und sind ein wichtiges Medium, sich selbst und seine Lebenswelt festzuhalten. Deshalb sind sie sozialgeschichtlich ergiebige Quellen. Sie zeigen nicht nur, wie sich Gruppen selbst sehen wollten, sondern auch, dass eine gewisse Konformität akzeptierter Teil des Lebenszusammenhangs war. Man fügte sich den Konventionen und wollte nicht aus dem Rahmen fallen. Die Abgebildeten waren bereit, sich in ein Kollektiv einzufügen und die soziale Zugehörigkeit für die Nachwelt festzuhalten : In den streng arrangierten Kompositionen wusste ein jeder, wo sein Platz war. Solche Aufnahmen vermitteln Sicherheit und Orientierung und bieten gerade im Fall von Kinder- und Klassenfotos die Vorlage für die Sehnsucht nach einer verlorenen intakten Ordnung, selbst wenn diese von manchen als leidvolle Zwangsgemeinschaft erinnert wurde. 145
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.21 : Familienalbum der Familie Kozub, Erinnerungsfotos zum Abschluss der Grundschule der Tochter Nelja (*1963) im Frühjahr 1973, Vilejka, Belarussische SSR Die beiden Albumseiten wurden den Kindern zum Abschluss der Grundschule mitgegeben. Die Kinder sind mit Porträt und Namen über einem Bild der Schule Nr. 1 in Vilejka aufgereiht. Nelja ist die Dritte von oben ganz rechts. Alle sind bereits Pioniere und tragen das Halstuch. Die Kinder verabschieden sich von der Grundschule und von der ersten Lehrerin, die alle Fächer unterrichtete. Das Motiv der ersten Lehrerin ist ein zentrales Element der »sowjetischen Kindheit«. Sie wird auf Bildern und Fotos, in Liedern und Erzählungen oft als »zweite Mutter« dargestellt, als weise und liebevolle Frau, der die Kinder auch später verbunden bleiben (Abb. 2.32). Auf dem rechten Blatt prangt links neben dem Porträt der Lehrerin das Porträt des jungen Lenin über dem Denkmal der Sieger auf dem Platz der Freiheit in Vilejka, unten links eine Aufnahme der Rakete vor dem Kosmos-Pavillon der Moskauer Landesausstellung VDNCh, daneben eine Aufnahme des Klassenzimmers, rechts davon das Kriegsdenkmal in Vilejka, darüber das Lenin-Denkmal und das Schild der Schule in belarussischer Sprache.
Es gibt drei klassische Varianten des sowjetischen Klassenfotos : das Foto im Klassenzimmer, das Gruppenfoto in strengen Reihen mit Lehrer oder Lehrerin in der Mitte und die Porträtschablone, die in den 1970er Jahren üblich wurde (Abb. 4.20‒4.22). Für das Foto im Klassenzimmer saßen zunächst alle Kinder in derselben Haltung aufrecht in den Bänken, die Arme gekreuzt, und blickten in dieselbe Richtung. Diese bereits in den 1930er Jahren übliche Klassenzimmerkomposition lockerte sich in den 1960er Jahren auf. Nun wurden gerne Szenen währen des Jahresabschlussexamens oder des Unterrichts aufgenommen, die Kinder saßen nicht mehr steif da, sondern arbeiteten mit, und die Kamera nahm gerne die Schülerperspektive ein (Abb. 4.22). Dem Wandel auf der Spur – Vom Stillhalten zum Schnappschuss
Im Album der Plotnikovs lässt sich sehr schön betrachten, wie sich die Aufnahmen des kleinen Aleksandr, genannt »Sascha«, der 1946 zu Welt kam, von den Fotos seines 1969 geborenen Sohnes Anton, genannt »Antoscha«, unterschieden. 1949 posierte das Kind im Stil einer Atelieraufnahme. Sascha wurde dafür im Alter von einem Jahr auf einen Tisch gestellt oder schön angezogen auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, stillzuhalten. Die Aufnahmen von Antoscha aus dem Jahr 1970 hingegen sind spontane Schnapp146
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.22 : Familienalbum der Familie Naugol’nov, 1950er Jahre Die Tochter des Ingenieurs posiert ganz klassisch vor der Neujahrstanne und, typisch sowjetisch, bei den Hausaufgaben, ergänzt von einem Foto in der Badewanne. Abb. 4.23 : Familienalbum der Familie Ivanov, Leningrad, 1930er Jahre »Und die Familie wächst« – Die linke Aufnahme der jungen Familie mit der Großmutter ist eine Studiofotografie. »Unsere Einzigartige im Alter von 6 Monaten und 7 Tagen«, sagt der liebevolle handschriftliche Kommentar unter dem Baby auf dem Fell. Das Mädchen kam während der Leningrader Blockade um.
schüsse im Kinderbettchen oder beim Essen. Aber auch sie folgen als Nahaufnahmen mit Fokus auf den Gesichtsausdruck des Kindes den Konventionen ihrer Zeit. Momente der Intimität, des »zweckfreien«, privaten Glücks wurden legitime Motive. Kinder kamen nun nicht nur in Institutionen, als Versorgte oder fleißig Lernende ins Bild, die sich zu nützlichen Sowjetbürgern entwickelten und auf ihre künftige Rolle vorbereiteten. Sie waren auch in familiären, emotionalen Kontexten zu sehen, die an Bedeutung auch für die Legitimation des Regimes zunahmen. Das individuelle Glück war verbunden mit der eigenen Wohnung, mehr Konsum und neuen, individuelleren Formen des Tourismus. Eine der vielleicht deutlichsten Motivverschiebungen war das nackte Kind im häuslichen Kontext, wie zuvor im Atelier üblich auf dem Fell (Abb. 4.23) oder in der Badewanne. Richard Chalfen meinte, das Badezimmer sei »ein interessantes Gelände« der Kinderfotografie : Während die Gegend um die Badewanne als für Kinderaufnahmen besonders geeignet gelte, werde es rund um die Toilette heikel.83 Das klassische Wannenmotiv, das zuvor der Knipserfotografie vorbehalten war, fand im sowjetischen Tauwetter seinen Weg auch in die Fotobücher, sogar in die feierlichen Jubiläumsbände wie den monumentalen Band Sovestkij Sojuz aus dem Jahr 1972. 1980 waren im Bildband Die Kinder Armeniens sogar Kinder beim fröhlichen Töpfchentraining in der Krippe zu sehen. In der zunehmenden Intimität der Kinderaufnahmen in Fotobüchern trafen verschiedene Entwicklungen zusammen : Die Wohnbaukampagnen, steigender Wohlstand und die Aufbruchstimmung des Tauwetters maßen individueller Erfüllung größere Bedeutung zu, und die fotografischen Vorlieben und Sehgewohnheiten bewegten sich seit den 1960er Jahren hin zu spontanen und sozialdokumentarischen Aufnahmen. Dass Nackt147
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
heit sichtbarer wurde, hatte mit dem steigenden materiellen Wohlstand zu tun. Die eigenen vier Wände ermöglichten mehr Freiheiten, sich nackt in der Wohnung zu bewegen. Die Nacktheit in diesen Bildern war zwar ein Attribut der freien frühen Kindheit, sie verwies aber auf größere individuelle Freiräume, auch der Erwachsenen. Die Neubauwohnungen waren eine wesentliche Errungenschaft, die selbstverständlich in den repräsentativen Fotobänden gezeigt wurde. Damit kamen auch Szenen des Familienlebens und Kinder ins Bild. Von hier zur Annäherung an die Familienfotografie war es nur ein kleiner Schritt. Konsumgüter für Kinder : Möbel und Spielsachen
In den Bildern aus Familienwohnungen und Spielzeuggeschäften tritt ein Gegensatz zutage, der die sowjetische Kindheit in zwei Epochen teilte : Die Kindheitserfahrungen der ersten drei sowjetischen Jahrzehnte unterschieden sich in materieller Hinsicht grundlegend von den Rahmenbedingungen ab Mitte der 1950er Jahre. Die kindlichen Lebenswelten der 1920er, 1930er und 1940er Jahre waren von Mangel, Not und Krieg geprägt. Die nach 1954 Geborenen dagegen erinnern übereinstimmend eine glückliche, sorglose Kindheit.84 Mit Chruščëvs Wohnbaukampagne begann die Befreiung aus der Enge der Gemeinschaftswohnungen und der Umzug in die Neubauviertel. Der Alltag des städtischen Milieus der Facharbeiter und Angestellten blieb von den frühen 1960er bis in die späten 1980er Jahre relativ unverändert. Man wohnte lange am selben Ort in derselben Wohnung, oft mit der Großmutter zusammen, es gab kaum Anzeichen für soziale Ungleichheit. Die Menschen einte ein verbindliches, überregionales »sowjetisches« System sozialer Normen. Man war wie alle anderen. Zugleich änderten sich in dieser Phase die pädagogischen Richtlinien und die Kinderkultur erheblich. Den Eltern wurde nahegelegt, eine Kinderecke oder ein Kinderzimmer einzurichten und diese mit entsprechenden Kleidern, Möbeln, Spielsachen und anderen Dingen auszustatten.85 Eine autonome Kinderkultur entwickelte sich. Kinderbücher erschienen, auch Übersetzungen westlicher Klassiker wie Pippi Langstrumpf und Winnie the Pooh. In den 1950er und 1960er Jahren setzte die Produktion von Kinderfilmen und Zeichentrickfilmen ein, auch für das neue Medium Fernsehen. Die Freizeitangebote der Pionierbewegung vermehrten sich. Es gab Kindermöbel, Kleider und Spielsachen. Ratgeber schärften den Eltern ein, dass die Kinder vollwertige Ernährung brauchten und mehr und mehr Konsumgüter »benötigten«, selbst wenn diese knapp und schwer zu beschaffen waren. Die Konsumgüteroffensive war Chruščëvs Ticket zur Macht, und Artikel für Kinder waren in der politischen Ökonomie einer auf eine »glückliche Kindheit« eingeschworenen Gesellschaft doppelt wirksam. Die Kinder sollten nur das Beste bekommen. Die Zufriedenheit der Konsumenten und der Zusammenhang von Wohlstand und Patriotismus spielten eine wesentliche Rolle im Kontext des Kalten Krieges : Auf beiden Seiten des Systemwettbewerbs wurde das Bild des glücklichen und sorglosen Kindes zum Schlüsselbild des gesellschaftspolitischen Erfolgs. Um diesen Erfolg vorzuführen, wurde das Einkaufen für die Kinder zum patriotischen Akt.86 148
Zum Beispiel private Fotoalben
Die materiellen Bedingungen hatten wesentlichen Einfluss auf Individualisierungsprozesse und Vorstellungswelten, auch auf die Vorstellungen von idealer Kindheit. Dinge, die früher als Luxus gegolten hatten, wurden nun in Elternratgebern zur Notwendigkeit stilisiert. Es war auch legitim, Kinder zu verwöhnen, beispielsweise mit Schokolade oder einem speziell für Kinder hergestellten Waffelkonfekt, das einzeln in Papierchen mit Märchenmotiven verpackt war (Abb. 4.27). Die Beziehung zum Kind wurde emotionalisiert, so wie im Tauwetter auch der Anspruch auf private Erfüllung anerkannt und Teil des neuen Gesellschaftsvertrags wurde. Erkennungszeichen für materiellen Wohlstand und emotionale Beziehungen auf den Bildern waren Spielsachen, wie zum Beispiel der Teddybär, der zuvor ein elitäres Spielzeug gewesen war. Nun wurden Plüschtiere Symbol der sorglosen und liebevollen Kindheit. Die Eltern sollten die Kinder nicht nur versorgen und überwachen, sondern sich mit ihnen beschäftigen. Fotos von Kindergeschäften waren fester Teil der Bildreportagen aus dem städtischen Leben der Sowjetunion. Eines der größeren baulichen Projekte der ChruščëvZeit war die 1957 am Moskauer Lubjanka-Platz eröffnete Welt des Kindes (Detskij mir), eine märchenhafte Wunderwelt voller Kinderspielzeug und Kleidung inmitten einer immer noch von Defiziten geplagten Gesellschaft. Schon Fotografien aus dem älteren Kindergeschäft Detskij mir am alten Arbat aus den Jahren 1953 und 1954 zeigen Mütter mit ihren Kindern beim Einkauf von Spielsachen.87 Ab 1957 gehörten Bilder des neuen Detskij mir zum festen Inventar der visuellen Narration sowjetischer Kindheit. Das Kinderkaufhaus war gestaltet wie ein riesiges Puppenhaus mit Lichthof und Arkaden. Hier gab es alles, was das Herz begehrte. Das Geschäft sollte stellvertretend für die insgesamt bessere Versorgungslage stehen. Die Bildlegende neben dem Foto der Spielwarenabteilung im Fotobuch Deti strany sovetov, Moskau 1962 lautet : »Unterschiedliche Kinderartikel für 500.000 Rubel verkauft das Moskauer Warenhaus ›Detskij mir‹ im Durchschnitt pro Tag. Insgesamt gibt es landesweit rund 600 Spezialgeschäfte für Kinder. Waren für Kinder jedes Alters können auch in den 350 großen Warenhäusern des Landes gekauft werden.« Die Konsumoffensive hinterließ auch Spuren in den Familienalben. Ein Beispiel sind Kinderbettchen mit Nylonnetzen statt Gittern als typisches Erzeugnis der unter Chruščëv geförderten Leichtindustrie. Im Zuge der Erziehungsreformen der Chruščëv-Zeit sollten Kinder in den Wohnungen einen eigenen Bereich mit kindgerechten Möbeln, Büchern und Spielsachen bekommen.88 Auch Kinderkleider wurden vermehrt produziert. Die Ergebnisse konnte man in der illustrierten Zeitschrift Ogonëk betrachten. Teddybären89 waren schon in den ersten sowjetischen Jahrzehnten ein Attribut der frühen Kindheit und kennzeichneten das Kind im Vorschulalter (Abb. 4.24 und 4.25). Der Teddy aus Plüsch war ein traditionelles Spielzeug, das im Gegensatz zu »erzieherisch wertvollen« Spielsachen das Kindsein des Kindes betonte. So blieb es auch in der frühen Sowjetzeit : Die Hersteller produzierten während der Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren weiterhin traditionelle Kinderspielsachen. Dazu gehörten neben 149
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.24 : Familienalbum der Familie Širočin, Vadim Širočin (*1958), um 1959 Vadim Širočin (*1958) im Alter von etwa einem Jahr. Der Vater fotografierte den Sohn mit einem Spielzeug in der Hand neben dem Teddybären auf einem Kinderstuhl vor der Neujahrstanne. Abb. 4.25 : Abbildung In den Kinderkrippen in dem Bildband Die Frauen der Ingenieure (Ženy inženerov), Moskau 1937 Teddybären (»Mischka«) und Plüschtiere spielen in den Institutionen für Kleinkinder eine wichtige Rolle. Es gab zwar eine Debatte über Puppen und Teddybären als »bourgeoise« Spielsachen, doch konkrete Maßnahmen gegen deren Verbreitung unterblieben. Von 1935 an gehörte die Versorgung der Kinder mit attraktiven Spielsachen zu den erklärten politischen Zielen.
Puppen auch Teddybären, die man sogar mit Kleidern und Schuhen ausstatten konnte, sofern man Zugang zum besonderen Ladengeschäft für die Moskauer Angestellten der Geheimpolizei OGPU hatte. Im März 1936 beklagte die Pravda in einem Artikel den Mangel an Teddybären und im September deren schlechte Qualität.90 Tatsächlich waren Teddybären Defizitware und gute Spielsachen sehr teuer. Daher blieben sie bis in die Nachkriegszeit den Kindern der sowjetischen Eliten vorbehalten. Wie ein Bild aus dem Album von Lena Ivanova von zwei uniformierten Rotarmisten mit Teddybär vermuten lässt, fanden sogar Beuteteddys aus Deutschland den Weg in die Sowjetunion. Allerdings deutete die Debatte um schöne Spielsachen in den Medien darauf hin, dass die sowjetische Kulturpolitik auf Vorstellungen einer idealen, geschützten Kindheit aus dem 19. Jahrhundert zurückkam. Wie die Bilder von reich mit Spielsachen ausstaffierten Kinderkrippen zeigen, sollten nun alle Kinder an diesem privilegierten Raum der glücklichen Kindheit teilhaben. Deshalb verfügte jedes Pionierhaus über ein Spielzimmer mit Spielsachen. Neben dem Teddybären waren Themen aus Märchen Elemente der Dekoration. Sie verwiesen auf eine magische Wunderwelt und machten zugleich die Pionierpaläste zu transformativen Räumen.91 Teddybären symbolisierten die emotionale Hinwendung und liebevolle Fürsorge für das Kind. Sie gehörten zum Bildinventar der Spielzimmer in Krippen, Pionierhäusern und, etwas später, in Spielzeuggeschäften. Teddybären galten bis in die 1960er Jahre als Statussymbol. Die Fotos aus den hier verwendeten Alben stammen von verdienten Sow150
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.26 : Album des Pionierlagers namens A. Matrosov der Magnitogorsker Arbeitsgemeinschaft des Roten Banners der Eisen-Metallurgischen Fabrik, Sommer 1978 »Zu Gast bei den Märchen« – Pionierlager hatten alle einen Tag des Märchens, an dem sich die Kinder verkleideten. Solche Traditionen gab es auch an Neujahr. Abb. 4.27 : Wickelpapier für das Konfekt Rotkäppchen der Firma Roter Oktober, Privatbesitz Die kleinen Waffelkonfekte mit den bekannten und beliebten Märchenmotiven gibt es bis heute. Die Kinder sammelten die bunten Papierchen, fantiki genannt.
jetbürgern. Auf den Fotos kommen Teddys öfter vor als Puppen oder andere Spielsachen. In den 1980er Jahren knüpfte »Mischka«, das Maskottchen der Olympischen Spiele von 1980, an diese starke Verbindung zwischen Teddybären und Kindheit an. Die ganzen Spiele waren als »Märchen« inszeniert. Insbesondere der sentimentale Abschied mit dem Lied und dem wegfliegenden »Mischka«, der für immer in »seinen Märchenwald«, also in den nicht mehr erreichbaren Raum der Kindheit zurückkehrte, wurde als Abschied von der Kindheit empfunden. Märchen- und andere Figuren
Im Gegensatz zu den Teddybären finden sich auf den Familienfotos eher selten Anspielungen auf Märchen, die in der offiziellen sowjetischen Kinderkultur eine wichtige Rolle spielten. Kinderparks und Freizeitangebote der Pionierlager bezogen sich in ihrem Dekor häufig auf Märchen (Abb. 4.26). Die bunten Papiere mit Märchenmotiven, in die der beliebte Waffelkonfekt eingewickelt war, hießen fantiki und wurden von den Kindern gesammelt (Abb. 4.27). Figuren aus Zeitschriften wie Vesëlye kartinki, die 1956 erstmals erschien und »über Jahrzehnte die visuelle Erscheinung des sowjetischen Kinderheldenpantheons vorgeprägt hat«,92 waren außerordentlich populär. Individualisierte Grußkarten mit Motiven wie Märchen- und Comicfiguren oder, zum Jahreswechsel, Väterchen Frost standen in der Tradition der carte-de-visite-Fotografie. Wie diese erweiterten sie das Spektrum der Be151
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.28 : Individualisierte Grußkarte zum Tag des Sieges, im Doppelpack mit einer Grußkarte zum Geburtstag, Fotoalbum der Familie Kozub, Vilejka 1972 Vitalij Kozub ist in der ersten Klasse der Schule Nr. 1 in Vilejka, es ist Frühjahr 1972. Er trägt eine blaue Schuluniform mit leicht karierter Jacke. Die Schulfotos wurden normalerweise zum Abschluss des Schuljahres gemacht. Diese Aufnahme eignete sich dann auch für eine Grußkarte zum zeitnahen 9. Mai, dem Tag des Sieges, visualisiert durch den Spasskij-Turm des Kreml mit Feuerwerk und ein Emblem der Roten Armee. Es ist auch ein Gruß aus den Zeichenwelten : Hier überschneiden sich die Studiofotografie und der ab den 1960er Jahren zunehmende Brauch, zu den Festtagen Grußkarten an Freunde und Familie zu schicken (vgl. Kapitel Bilder von Kindern – Stil und Medium. Beliebt sind bis heute die jährlichen Neujahrspostkarten, die das Heranwachsen des Kindes dokumentieren. Die Geburtstagskarte rahmt das Kind in beliebte sowjetische Comicfiguren.
trachterinnen und Betrachter, den Öffentlichkeitsgrad des Kinderporträts, über den Raum der häuslichen Kommunikation hinaus.93 Die Grußkarten wurden an einen erweiterten Familien- und Freundeskreis verschickt und konnten auch bei Bekannten landen, die sonst nicht in den Modus der häuslichen Kommunikation einbezogen waren. Solche Grußkarten verbanden private mit halböffentlichen Kommunikationsräumen. Kind, Fortschritt, Konsum
Die visuelle Verbindung von Konsumpraktiken und Politik, die auf die persönliche Aneignung des Fortschritts und auf Teilhabe im Alltag verweisen,94 gab es im Stalinismus wie in der Chruščëv-Zeit : Neben dem Teddybären gehörten dazu der Sanatoriumsaufenthalt bzw. die Reise überhaupt, das Auto (Bilder von Kindern mit dem Auto gibt es einige) und der Aufbruch in den Kosmos. Das Auto wandelte sich in der Zuschreibung : Vor dem Krieg hatte es praktisch ausschließlich Dienstwagen gegeben, daher war das Auto ein Statussymbol hoher Funktionäre oder aber Prämie für besondere Verdienste gewesen, sei es als Bestarbeiter, häufiger aber als Künstler oder Ähnliches. Nach dem Krieg gab es vermehrt Privatautos, in den 1950er und 1960er Jahren wandelte sich damit auch die Zuschreibung.95 Auf den Fotos der Familie von Elena Alekseevna aus den 1960er Jahren ist deutlich der kleine Zaporožec vom Pobeda-Dienstwagen der Plotnikovs zu unterscheiden. Der Dienstwagen 152
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.29 : »Wir hatten immer ein Auto« : Vadim Širočin (*1958) im Moskvič 430 der Familie, ca. 1961 Abb. 4.30 : Abbildung aus dem Bildband Die Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980 Die Wartezeiten für ein eigenes Auto waren lang und die Freude groß, wenn es errungen war. Familienausflüge mit dem Auto gehörten zur Freizeitgestaltung – und das Auto steht hier neben dem Kind im Mittelpunkt. Das Auto ist in Fotobüchern wie in privaten Alben ein wichtiges Symbol von Wohlstand und Glück. Im Bildband aus Jerewan ist das Statussymbol Auto aus der Kinderperspektive aufgenommen, und sogar die nächste Generation hat ein Modellauto ! Das Motiv des Kindes vor dem Auto und des Autos vor dem Haus oder der Datscha ist typisch für die Zeit, nicht nur in der Sowjetunion. Fotografie als verbreitetes Hobby und die neue, individuelle Mobilität waren beide Phänomene des aufkommenden Wohlstands.
steht vor der Dienstdatscha, während die Familie Elena Alekseevnas keine Datscha hatte, sondern Ausflüge mit dem Zelt unternahm. Freizeit und Tourismus sind zentrale Motive der privaten Fotografie. Die erweiterten Möglichkeiten des Konsums und des Reisens in der Familie manifestierten sich nicht nur in Autofotos, sondern auch in den Ferienfotos mit Kindern (Abb. 4.31 und 4.32). Neue Ladengeschäfte, Neonbeleuchtungen und insbesondere auch Verkaufsautomaten versprachen das Ende der Defizitwirtschaft und des Schlangestehens. Sie standen für ein neues, von moderner Technik, Konsum und Raumfahrt geprägtes Zeitalter. Das Motiv des Jungen am Getränkeautomaten (Abb. 4.31) entspricht ähnlichen Gestaltungen in der Tauwetterfotografie, die die Aufbruchstimmung und Zuversicht der Zeit im Bild besonders gerne in Motiven von Kindern und Jugendlichen vermittelte. Ein bekannter Vertreter ist Vladimir Lagranž (*1939, ab 1959 für die Agentur TASS tätig). Seine erste Ausstellung 1962 kreiste um das Thema Unsere Jugend und die ikonische Aufnahme Friedenstauben (Abb. 5.26), die junge Schulabgängerinnen und Absolventen nach durchfeierter Nacht bei Tagesanbruch mit auffliegenden Tauben auf dem Roten Platz zeigte. Zu sehen waren bewegte Aufnahmen von Kindern bei einer Schneeschlacht oder, wie im Fall der Familie Širočin motivisch aufgegriffen, am Getränkeautomaten. Dabei nahm der Fotograf häufig die Kinderperspektive ein, um Lebensnähe und Spontaneität zu vermitteln. Die Motivverbindung von Kind und Kosmos, die den öffentlichen Raum und die Geschäfte in Form von Wandbildern, Installationen, Spielzeugen und Klettergerüsten prägte, 153
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.31–4.32 : Familienalbum der Familie Širočin, Urlaubsfotos aus Jevpatorija, Halbinsel Krim, um 1966 Vadim Širočin zieht sich Mineralwasser am Automaten. Er ist acht Jahre alt. Das Bild entstand 1966 im Urlaub, in der Stadt Jevpatorija auf der Krim. Deutlich wird der Faktor Freizeit und Konsum auf diesen Aufnahmen. Das Kind, das sich an einem der neu eingeführten Automaten streckt, war ein beliebtes zeitgenössisches Motiv, das sich auch in einer Aufnahme von Vladimir Lagranž aus dem Jahr 1961 findet. Dem Jungen auf dem Liegestuhl mit Sonnenbrille und Flossen fehlt es an nichts.
ist auf den privaten Aufnahmen nicht vertreten. In den Pionierlageralben hingegen gab es einen Tag des Kosmos, und der Heldenkult um die Kosmonauten wurde in der Pionierorganisation mit eigenen »Klubs der jungen Kosmonauten« gepflegt.96 Jurij Gagarin (1934–1968) besuchte regelmäßig das Pionierlager Artek, und Bilder von Kosmonauten mit Kindern waren Teil des Kults um die Helden des Kosmos. Im Rahmen der Gebrauchsgrafik fand das Kosmosfieber einen bleibenden Ausdruck auf den Neujahrskarten, die häufig KindKosmonauten mit Väterchen Frost zeigten. Kinder beim Sport
In den Familienalben ist Wintersport ein wiederkehrendes Motiv : Schlittschuhlaufen, Langlaufski und Schlittenfahren (Abb. 4.33). Dabei geht es eher um die spielerischen Freuden des Winters. Im Pionierlager dienten fizkul’tura und Sport der Ertüchtigung, Gesundheit und Entwicklung der Kinder. In den Pionierlagern wurde ab 1980 eine »Olympiade« veranstaltet. Zu den Motiven von Schnee und Kälte als Teil der sowjetischen nationalen Identität gehörten die Kinder der Nomaden im Polarkreis, die russischen Eisschwimmer und die Atomeisbrecher ebenso wie Bilder warm eingepackter Kleinkinder im Schnee. 154
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.33 : Familienalbum der Familie Širočin, 1960er Jahre Vadim Širočin (*1958), Vilejka, Belarussische SSR, ging am Wochenende oft mit den Eltern Ski laufen. Die Teilhabe an Wintervergnügungen wie Schlittenfahren, Skilaufen und Eislaufen war ein wichtiger Ausdruck sowjetischen Wohlstands, der in den Fotobüchern mit Bildern des »russischen Winters« und mit der Kälte als identitätsstiftendem Faktor verknüpft war. Abb. 4.34 : Fotografie in dem Bildband Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980 Das Motiv der wandernden Jugend ist in der »nationsbildenden« Fotografie weitverbreitet und findet sich beispielswiese in der Kibbuzfotografie. Es geht auf Jugendbewegungen wie die Wandervögel und auf den Pioniergedanken zurück. Insbesondere die Untersicht auf die Jugend vor dem weiten Himmel wirkt heroisierend und weist über den konkreten Moment und die Beteiligten hinaus.
Ikonisch ist auch hier eine Aufnahme von Vladimir Lagranž mit dem Titel Babulja (Großmütterchen) aus dem Jahr 1961, die ein warm eingepacktes Kleinkind mit weißem gehäkelten Schultertuch und Schäufelchen im Schnee zeigt. Eine fast identisches Motiv zeichnete Nikolaj N. Žukov mehrfach. Beliebt in Fotobüchern und auf Postkarten waren auch Gruppen von kleinen Kindern im Schnee, meist mit dem Titel Wir waren spazieren. Der tägliche Spaziergang war für die gesunde Entwicklung der Kinder obligatorisch. Neben den Bildern von Kindern in Eis und Schnee stehen Bilder von Kindern in der sommerlichen Landschaft, oft in der Ferienzeit oder bei Pionierausflügen (Abb. 4.34–4.37). Kinder am Wasser und in der Landschaft
Postkarten und Pionierlageralben zeigten Kinder in der idealen russischen Landschaft, beim Spielen im Birkenwald, beim Zelten, am Lagerfeuer : Erholung fern der Zivilisation und der Stadt. Landschaft und Natur97 waren ein zentrales Motiv in den privaten Alben des Ingenieurs Viktor V. Naugol’nov (Abb. 4.38, 4.40. und 4.42). Seine Flusslandschaften und Birkenwälder evozierten Vorbilder der russischen realistischen Schule der Malerei im späten 19. Jahrhundert, der peredvižniki (Wanderer).98 Isaak Levitans oder Ivan Šiškins Gemälde waren im Sozialistischen Realismus in Reproduktionen etwa auf Postkarten oder Konfektverpackungen gegenwärtig.99 Aber die ideale Landschaft des Sozialistischen Realismus oszillierte zwischen den malerischen Landschaften der Erholung und den me155
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.35 : Privates Fotoalbum der Familie Naugol’nov, Urlaub in Ikscha, 1951 Himmel, Licht und Wasser sind wie auch das Flugzeug Elemente, die über den Moment hinausweisen und die Magie der Welt betonen, in die die Kinder hineinwachsen. Die Aufnahme ist deutlich von der Ikonografie der »Künftigen« (Abb. 2.25) und der Motivtradition der Kinder in Verbindung mit den Elementen Himmel und Wasser inspiriert. Die Bildunterschrift »Ikscher Spatzen« setzt die Kinder mit den Vögeln am Himmel gleich – eine lyrische Variante des Aufbruchsmotivs. Abb. 4.36 : Album des Pionierlagers namens A. Matrosov der Magnitogorsker Arbeitsgemeinschaft des Roten Banners der Eisen-Metallurgischen Fabrik, Sommer 1978 Abb. 4.37 : Pionierlageralbum Junger Kosmonaut der Moskauer Stadtwerke (Mosgormechpogruz), 1976 Auf dem Umschlag prangt die Aufnahme einer Gruppe von Kindern in einer idyllischen Landschaft mit Wiese, Wald und Wasser. Die Aufnahme aus dem Album des Pionierlagers Junger Kosmonaut (Iunyi Kosmonavt’) aus dem Jahr 1976 zeigt Kinder beim Zelten. Die Bilder knüpfen an die Ideen der Jugendbewegungen des 19. Jahrhunderts an. Sie klammern die oft straff organisierte Staatlichkeit der Sommerlager aus. Die Pioniergruppen, die sich malerisch in die Landschaft fügen und dort kreativer und sinnvoller Erholung nachgehen (razumnyj otdych), waren ein bereits in den 1930er Jahren verbreitetes Motiv (vgl. Kapitel Kinder im Zeichenraum).
chanisierten Landschaften der Zukunft, die Lebensmittel, Energie und Rohstoffe lieferten.100 Viktor Naugol’nov platzierte seine Tochter, Familie und Freunde immer wieder in Landschaften der Erholung, unter Blütenzweigen und reifen Früchten, bei der Bootsfahrt und beim Picknick, im Garten der Datscha am gedeckten Tisch, beim Pilzesammeln, auf dem Baum und in der Hängematte. Naugol’novs Aufnahmen der Tochter im Kornfeld standen in der Tradition der sowjetischen Ernte- und Überflussikonografie, die beispielsweise in der Mähdrescheroper Kubanskie Kazaki von 1949 gefeiert wurde und die wiederum dem 156
Zum Beispiel private Fotoalben
Abb. 4.38 : Aufnahmen von Frau und Tochter, privates Fotoalbum der Familie Naugol’nov, Ende 1950er und Anfang 1960er Jahre Die Aufnahmen Naugol’novs von seiner Tochter unter Apfel- und Blütenzweigen, Mitte der 1950er Jahre, entsprechen einem Muster, das sich in der offiziellen Fotografie auf Postkarten, in Fotobüchern und Zeitschriften wiederfand. Die anderen Aufnahmen zeigen oben rechts Frau und Schwiegermutter, darunter Naugol’nov mit Frau und Tochter, unten die drei Frauen. Abb. 4.39 : Semën Fridljand (1905–1964), Fotoserie über die Ukraine, 1950er Jahre, Mädchen unter Obstzweigen Abb. 4.40 : Privates Fotoalbum der Familie Naugol’nov, Mitte 1950er Jahre Abb. 4.41 : Semën Fridljand (1905–1964), Fotografie Mitte 1950er Jahre, junge Mädchen im Kornfeld Die jungen Mädchen in Bauernblusen sind in der Tradition der russischen Fruchtbarkeitsgöttin Mutter feuchte Erde und des Motivs der Ährenleserin dargestellt.
europäischen romantischen Motiv der Ährenleserin101 entlehnt war. Motive der nährenden Erde und des Überflusses in den sowjetischen Provinzen waren auch in der populären Zeitschrift Ogonëk häufig vertreten, in deren Bildredaktion Semjon Fridljand tätig war (Abb. 4.39 und 4.41). Die Aufnahmen Naugol’novs zeigen exemplarisch die ästhetische Verknüpfung des Menschen mit der Erde, der Heimat. 157
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Abb. 4.42 : Aufnahmen aus Kuban’, Novočerkassk und Tomsk, privates Fotoalbum, Familie Naugol’nov, 1958–1960 Bilder des Überflusses, aber auch der Erholung – Festessen auf der Datscha und Picknicks.
Was ist das »Sowjetische« ?
Die Bildmuster des Sozialistischen Realismus waren von der Romantik und dem Realismus inspiriert. Sie verbanden klassische Motive, Posen und Kompositionen mit der Darstellung einer Gegenwart, die bereits im sanften Glanz der lichten Zukunft schimmerte. Für die Fotobücher und Bildzeitschriften produzierten professionelle Fotografen die entsprechenden Aufnahmen, und die Fachzeitschrift Sovetskoe Foto legte die Regeln fest, zeigte Musterbeispiele und übte Kritik. Amateurfotografen orientierten sich an den rituellen Bildern und an den sozrealistischen Bildprogrammen, denen auch die von professionellen Fotografen bestückten Fotobücher und illustrierte Zeitschriften wie das populäre Magazin Ogonëk102 verpflichtet waren. Kinderdarstellungen und ihre Muster aus dem Repertoire der Genremalerei finden sich in Fotografien wieder, die die behütete Kinderwelt darstellen sollten. Dabei fällt auf, dass Künstler wie Fotografen häufig die eigenen Kinder als Modelle nahmen. Auch daraus erklärt sich die Annäherung medialer und privater Kinderfotos. 158
Was ist das »Sowjetische« ?
In Fotoalben wie Bildbänden wichen die konservativen, das heißt posierenden, statischen Kinderportraits der 1930er bis 1950er Jahre in den 1960er Jahren spontaneren Aufnahmen. Themen und Motive blieben erhalten, und es kamen neue hinzu : Konsum, emotionale Beziehungen, informelle Situationen. In den frühen privaten Alben stammten zahlreiche Aufnahmen von professionellen Fotografen und aus Ateliers. Sowohl Porträts wie auch Gruppen- und Schülerfotos sind sehr konservative Genres. In den 1960er Jahren und danach war Fotografie zu einem weiterverbreiteten Hobby geworden. Immer mehr Knipserfotos begleiteten die Atelieraufnahmen, Postkarten, Gruppenbilder und Passfotos in den privaten Alben. Die Fotos in den hier analysierten Alben stammten von Amateurfotografen, die viel Zeit und Energie investierten und auch gehobene Ansprüche hatten. Neben ihre eigenen Aufnahmen klebten sie weiterhin Passfotos, Gruppenbilder aus Schule und Betrieb, Postkarten und Atelieraufnahmen von Freunden und Verwandten in ihre Alben. Ein ähnlich durchmischtes Bild bieten die Fotobücher der Sowjetunion der 1960er bis 1980er Jahre. Kinder spielen Klavier, lernen in Schulen oder besuchen mit Orden behangene Veteranen, aber dazwischen tauchten nun immer häufiger bunte Aufnahmen von Kindern auf einem Karussell oder auf dem Töpfchen auf. Das Private wurde bildwürdig und fand Eingang in Zeitschriften und Fotobücher, denn individuelles Glück war immer auch Beleg für das gute Leben der Vielen in der Sowjetunion. Vor allem kleine Kinder wurden häufig aus Kontexten herausgelöst, so dass das Allgemeine, universell Kindliche in den Vordergrund trat. Kinder waren als Träger des neuen Zukunftsoptimismus ein wichtiges Thema des Tauwetters und des Kalten Krieges, im Film, in der Fotografie, der Propaganda und der Populärkultur. Sie blieben es auch in den 1970er und 1980er Jahren. Das »Glück«, die leuchtenden Augen der Kinder galten als zentrales Element des Optimismus, den der Sozialistische Realismus vermitteln sollte. Auch in privaten Alben wiesen die »konservativen« standardisierten Bilder wie auch die »Schnappschüsse« über sich hinaus, einerseits auf die sozial akzeptierten Muster und Konventionen, andererseits auf die Vielen, die ein ähnliches Leben führten und ähnliche Erfahrungen machten. Die Wechselwirkung durch das Aneignen und Reproduzieren von visuellen Mustern war nicht spezifisch sowjetisch, sondern Teil der Geschichte der Amateurfotografie.103 Muster und Konventionen gab und gibt es auch in den Bildsprachen außerhalb des Sozrealismus. Vielleicht ist das Sowjetische an den offiziellen und privaten Alben die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, der Kanon, der neben dem Neuen immer auch das Alte beibehielt. Es gab spezifische Themenverbindungen und Zitate, Dinge, auf die man stolz war, und solche, die einfach zum Inventar gehörten. Das galt insbesondere für die »Hyperstabilität«104 der 1970er Jahre. Die Wiedererkennbarkeit der Muster erzeugt beim Betrachten der Bilder ein nostalgisch begründetes Gemeinschaftsgefühl. Die 1990er Jahre sprengten die vertrauten Konventionen, sowohl die sozialen als auch die visuellen. Die Bildpraktiken änderten sich. Die digitale Fotografie steckte noch in den Kinderschuhen, aber es gab billige Einwegkameras und vor allem Fotodienstleis159
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
tungen, die von der eigenen Dunkelkammer unabhängig machten. Nun konnte jede und jeder Schnappschüsse machen, sogar in Farbe. Der Bilder-Flashmob von Colta.ru zeigt aber, dass Eltern vertraute Rituale beibehielten und ihre Kinder auch in den stürmischen 1990er Jahren noch in den klassischen Posen und Umgebungen verewigten. An Anlässen wie dem ersten Schultag statteten sie weiterhin dem Atelier des Fotografen einen Besuch ab. Diese Aufnahmgen wie auch die Schüler- und Klassenfotos blieben schwarzweiß. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hingegen fingen ihre eigenen besonderen Momente im bunten Bild ein. Wilde Frisuren, Insignien der Rock- oder Punkkultur, lässige Posen mit runden Sonnenbrillen und Zigaretten im Mundwinkel weisen auf die Befreiung aus der Umklammerung sowjetischer Klischees hin oder vielmehr auf den Wechsel aus einem Bezugsrahmen in einen anderen, der ebenfalls einen Baukasten von – postsowjetischen – Konventionen bereithielt. So findet sich unter den Einsendungen auch ein ganz braves Selbstportrait eines jungen Mädchens aus dem Fotoautomaten.
Anmerkungen 1 Olga Shevchenko, Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow, Bloomington 2009. 2 Andrej Archangel’slkij, Pomnim, ljubim, skorbim. Vaši foto iz 90–ch. Što v nich vidno cegodnja ? 21.9.2015, URL : (12.07.2018), hier zitiert die deutsche Übersetzung des Artikels durch Barbara Sauser auf Dekoder »In stillem Gedenken und in Dankbarkeit ?«, URL : (22.10.2015). 3 Teile der eingesandten Fotos sind einzusehen unter den URL : (14.07.2018), (19.09.2019) oder (19.09.2019). 4 Archangel’slkij, Pomnim, ljubim, skorbim (Anm. 2). 5 Igor V. Narskij, Fotokartočka na pamjat’. Semejnye istorii, fotografičeskie poslanija i sovetskoe detstvo (avtobio-istorio-grafičeskij roman), Čeljabinsk 2007 ; Igor V. Narskij, Problemy i vozmožnosti istoričeskoj interpretacii semejnoj fotografii (na primere detskoj fotografii 1966 g. iz g. Gor’kogo), in : Igor V. Narskij/Ol’ga S. Nagornaja/Ol’ga Ju Nikonova (Hg.), Oče-vidnaja
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Istorija. Problemy vizual’noj istorii Rossii XX stoletija, Čeljabinsk 2008, S. 55–74. 6 Narskij, Fotokartočka na pamjat’ (Anm. 5), S. 66–70. 7 Irène Jonas, Portrait de famille au naturel. Les mutations de la photographie familiale, in : Études photographiques (2008) H. 22, URL : (04.05.2020) ; Richard Chalfen, Snapshot Versions of Life, Bowling Green, Ohio 1987. 8 Igor V. Narskij, Fotografie und Erinnerung. Eine sowjetische Kindheit – Wissenschaft als »Roman«, Köln 2013, S. 90. 9 Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945, in : Central European History 48 (2015), S. 335–365, hier S. 336 f. 10 Philipp Sarasin, »Stadt der Bürger«. Struktureller Wandel und bürgerliche Lebenswelt 1870–1900, Basel 1990. 11 Jonas, Portrait de famille (Anm. 7). 12 Für die USA vgl. dazu auch Chalfen, Snapshot Versions of Life (Anm. 7). 13 Alexander Freund/Alistair Thomson (Hg.), Oral History and Photography, New York 2011 ; Cord Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quelle, in : Zeithistorische Forschungen/
Anmerkungen
Studies in Contemporary History 6 (2009) H. 3, S. 449–463 ; Rudolf Herz, Gesammelte Fotografien und fotografierte Erinnerungen. Eine Geschichte des Fotoalbums an Beispielen aus dem Krupp-Archiv, in : Klaus Tenfelde (Hg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 241–267. 14 Narskij, Problemy i vozmožnosti istoričeskoj interpretacii (Anm. 5) ; Valerij Timofeevic Stigneev, Fototvorčestvo Rossii. Istorija, razvitie i sovremennoe sostojanie fotoljubitel’stva, Moskau 1990 ; Anri Vartanov, Etapy razvitija sovetskogo fotoreportaža (20–30e i 50–60e gody), in : Valerij Timofeevič Stigneev/Aleksandr Lipkov (Hg.), Mir Fotografii, Moskau 1989, S. 8–17 ; Susan E. Reid, Photography in the Thaw, in : The Art Journal 53 (1994) H. 2, S. 33–39. 15 Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.), Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen 2013. 16 Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945 (Anm. 9), S. 337. 17 Martha Langford, Suspended Conversations. The Afterlife of Memory in a Photographic Album, Montreal 2001 ; Martha Langford, Speaking the Album. An Application of the Oral–Photographic Framework, in : Annette Kuhn/McAllister Kirsten E. (Hg.), Locating Memory. Photographic Acts, New York 2006, S. 223–246. 18 Langford, Speaking the Album (Anm. 17) ; Langford, Suspended Conversations (Anm. 17). 19 Oksana Sarkisova/Olga Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography. Events, Evidence, Erasure, in : Olga Shevchenko (Hg.), Double Exposure. Memory & Photography, New Brunswick 2014, S. 147–174, hier S. 150 f. 20 Zum »Nachleben« der Alben vgl. die Beiträge von Langford, Suspended Conversations (Anm. 17) ; Langford, Speaking the Album (Anm. 17) sowie Sarkisova/Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography (Anm. 19). 21 Sarkisova/Shevchenko, Soviet Past in Domestic Photography (Anm. 19), S. 150ff. und 170. 22 Monica Rüthers, Picturing Soviet Childhood. Photo Albums of Pioneer Camps, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 67 (2019) H. 1, S. 65–95. 23 Narskij, Fotokartočka na pamjat’ (Anm. 5) ; Narskij, Problemy i vozmožnosti istoričeskoj
interpretacii (Anm. 5) ; Ol’ga Shevchenko/Oksana Sarkisova, Sovetskoe prošloe v ljubitel’skoj fotografii. Rabota pajmati i zabvenija, in : Otečestvennye zapiski. žurnal dlja medlennogo čtenija 43 (2008) H. 4, S. 205–217 ; Stefan Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit. Eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, Frankfurt a. M. 2002 ; Oksana Gavrišina, Snimajutsja u fotografa. Režimi tela v sovetskoj fotografii 1940ch–1950ch godov, in : dies. (Hg.), Imperija sveta. Fotografija kak vizual’naja praktika epochi »sovremennosti«, Moskau 2011, S. 31–43. 24 Shevchenko/Sarkisova, Sovetskoe prošloe v ljubitel’skoj fotografii (Anm. 23). 25 Vgl. dazu Erika Wolf, SSSR na Stroike. From Constructivist Visions to Construction Sites, in : P. Österlund (Hg.), USSR in Construction. An Illustrated Exhibition Magazine, Sundsvall, Sweden 2006, op. 26 Timothy Nunan, A Union Reframed. Sovinformbiuro, Postwar Soviet Photography, and Visual Orders in Soviet Central Asia, in : Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 17 (2016) H. 3, S. 553–583. 27 Mikhail Karasik, Udarnaia kniga sovetskoi detvory, Moskau 2010 ; Mikhail Karasik, Dembel’skij Al’bom – russkij Art Brut. Meždu subkul’turoj I knigoj chudožnika, Sankt Petersburg 2001 ; Mikhail Karasik/Manfred Heiting (Hg.), The Soviet Photobook 1920–1941, Göttingen 2015 ; Mikhail Karasik, Iskusstvo ubeždat’. Paradnye Izdanija 1920–1930-ch godov, Moskau 2017. 28 Mikhail Karasik, Introduction, in : Karasik/Heiting, The Soviet Photobook 1920–1941 (Anm. 27), S. 10–35, hier S. 26. 29 Susan E. Reid, Khrushchev Modern. Agency and Modernization in the Soviet Home, in : Cahiers du monde russe 47 (2006) H. 1–2, S. 227–268. 30 Jonas, Portrait de famille au (Anm. 7). 31 Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov [Mutter- und Säuglingsschutz im Land der Sowjets] S. Berljand, E. G. Karmanova. OGIZ-IZOGIZ und Institut für Hygienekultur. Moskau, Leningrad 1935. Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov 1918–1939, Moskau 1938. 32 Carmen Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem
161
Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich 2002, S. 56–60. 33 Ebd., S. 59. 34 Novyj LEF (1928) H.4. Ähnlich auch in : »Wege der zeitgenössischen Fotografie« Novyj LEF (1928) H.9, S. 31–39. Auch in Hubertus Gassner (Hg.), Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion 1917–1934, Köln 1979, S. 217 f. 35 Erika Wolf, The Soviet Union. From Worker to Proletarian Photography, in : Jorge Ribalta (Hg.), The Worker Photography Movement [1926–1939]. Essays and documents, Madrid 2011, S. 32–46, hier S. 34. 36 Die Zeitschrift Sovetskoe Foto (gegründet 1926) war das offizielle staatliche Organ und informierte über die verschiedenen Entwicklungen fotografischer Theorie und Praxis. Sie wurde vom Moskauer Haus der Presse seit 1926 herausgegeben und war mit der Agentur Sojusfoto verbunden. Zwischen 1930 und 1933 hieß sie Proletarskoe Foto. Von 1942 bis 1956 war sie eingestellt. Die letzte Ausgabe erschien 1991. 37 Anatolij Lunačarskij, Naša kul’tura i fotografija, in : Sovetskoe Foto 1 (1926), S. 2. Zit. nach Wolf, The Soviet Union (Anm. 35), S. 36. 38 Stigneev, Fototvorčestvo Rossii (Anm. 14), S. 23. 39 Ekaterina Degot, The Copy is the Crime. Unofficial Art and the Appropriation of Official Photography, in : Diane Neumaier (Hg.), Beyond Memory. Soviet Nonconformist Photography, New Brunswick 2004, S. 103–117, hier S. 104. 40 Über 18.000 Aufnahmen von Fridljand befinden sich heute im Archiv der University of Denver, Special Collections, das Mädchen aus Kirgistan unter der URL : (04.05.2020). 41 Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945 (Anm. 9), S. 339 ; Alf Lüdtke, Industriebilder – Bilder der Industriearbeit ? Industrie- und Arbeiterphotographie von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre, in : Historische Anthropologie (1993) H. 1, S. 394–430 ; Nachdruck in : Irmgard Wilharm (Hg.), Geschichte in Bildern. Von der Miniatur
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bis zum Film als historische Quelle, Pfaffenweiler 1995, S. 47–92 ; zur Arbeiterfotografiebewegung in Deutschland vgl. (04.05.2020). 42 Margarita Matulytė, Nihil Obstat. Lietuvos fotografija sovietmečiu, Vilnius 2011, S. 361. 43 Literatur zur paradigmatischen Filippov-Reportage : Arkadij Šajchet, Max Al’pert : Kak my snimali Filippovych, in : Proletarskoe Foto (1931) H. 4, S. 46, zitiert nach Nina Klingler, 24 Stunden im Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie. Die Fotoreportage als historische Quelle, in : Fotogeschichte 23, S. 31–42 ; Vartanov, Etapy razvitija sovetskogo fotoreportaža (Anm. 14) ; Erika Wolf, As at the Filippovs. The Foreign Origins of the Soviet Narrative Photographic Essay, in : Ribalta, The Worker Photography Movement [1926–1939]. Essays and documents, S. 124–130. 44 Sovetskoe Foto 12, 1961, S. 1 und Sovetskoe Foto 7, 1962, S. 14 (zit. nach Reid, Photography in the Thaw (Anm. 14), S. 34). 45 Elena Barkhatova, Soviet Policy on Photography, in : Neumaier, Beyond Memory. Soviet Nonconformist Photography (Anm. 39), S. 47–66, hier S. 49. 46 Vgl. I. K. Tupitsyn, Sovetskoe Fotoiskusstvo, Moskau 1963. Reid, Photography in the Thaw (Anm. 14), S. 35 und 38. 47 Die Preisangabe bezieht sich auf die Zeit nach der Geldreform von 1961. 48 Narskij, Fotografie und Erinnerung (Anm. 8), S. 320 und 323 ; Ekaterina Degot betont eher, Fotografieren sei in den 1970er Jahren eine billige Möglichkeit kreativer Selbstverwirklichung gewesen und das Zubehör einfach zu beschaffen : Degot, The Copy is the Crime (Anm. 39). 49 Monica Rüthers, Das Leben als Expedition. Die Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs (1940er bis 1970er Jahre), 2017), in : Zeithistorische Forschungen (2017) H. 1, S. 128–148, URL : (04.05.2020) (einige Formulierungen wurden übernommen). Fünf Fotoalben dieser sowjetischen Familie liegen ohne weitere Informationen im Magazin des St. Petersburger Museums und Ausstellungszentrums Rosfoto. Das staatliche russische Museum und Ausstellungszentrum Rosfoto () wurde 2002 vom
Anmerkungen
Kulturministerium der Russischen Föderation gegründet. 50 Stigneev, Fototvorčestvo Rossii (Anm. 14) ; Vartanov, Etapy razvitija sovetskogo fotoreportaža (Anm. 14). 51 Reid, Photography in the Thaw (Anm. 14), S. 35. 52 Stigneev, Fototvorčestvo Rossii (Anm. 14), S. 35. 53 Ebd., S. 45. 54 Matulytė, Nihil Obstat (Anm. 42), S. 371. 55 Stigneev, Fototvorčestvo Rossii (Anm. 14), S. 37. 56 Vartanov, Etapy razvitija sovetskogo fotoreportaža (Anm. 14), S. 11. 57 Im Statut des sowjetischen Schriftstellerverbandes hieß es mit Bezug auf das Grundsatzreferat von Andrej Ždanov am Schriftstellerkongress 1934 : »Der Sozialistische Realismus als grundlegende Methode […] erfordert vom Künstler eine wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung.« Zit. nach : Ada Raev, Grundzüge des Sozialistischen Realismus, in : Monica Rüthers/ Alexandra Köhring (Hg.), Ästhetiken des Sozialismus/Socialist Aesthetics. Populäre Bildmedien im späten Sozialismus/Visual Cultures of Late Socialism, Köln 2018, S. 13 ff., hier S. 13. 58 Zum Zitat aus dem Statut des Schriftstellerverbandes (S. 390) bzw. Sozialistischen Realismus vgl. auch : Kratkaja literaturnaja ėnciklopedija, Moskau 1972, Bd. 7, S. 1008, URL : (04.05.2020). 59 Matulytė, Nihil Obstat (Anm. 42), S. 358. 60 Ebd., S. 366. 61 Ebd., S. 357. 62 Julia Galandi-Pascual, Zur Konstruktion amerikanischer Landschaft. Kuratorische und künstlerische Strategien der Fotoausstellung New Topographics : Photographs of a Man-altered Landscape, Freiburg/Br. 2010. 63 Matulytė, Nihil Obstat (Anm. 42), S. 358 f. 64 Ebd., S. 371. 65 Ebd., S. 359 und 366. 66 Barkhatova, Soviet Policy on Photography (Anm. 45), S. 59. 67 Sovetskaja Armenija za 40 let, Jerewan 1960 ; G. L. Artakjan (Hg.), Deti Armenii, Jerewan 1980. 68 Barkhatova, Soviet Policy on Photography (Anm. 45), S. 59.
69 Degot, The Copy is the Crime (Anm. 39), S. 113. 70 Ebd., S. 115. 71 Moskau-Berlin, Projekte Ende der 1970er Jahre. 72 Vgl. dazu Einleitung, Kapitel Topoi,Tabus und Gegenerzählungen sowie Sheila Cole, Soviet Family Clubs and the Russian Human Potential Movement, in : Journal of Humanistic Psychology 26 (1986) H. 4, S. 48–83, hier S. 56 f. 73 Vgl. das Kapitel Topoi, Tabus und Gegenerzählungen. 74 Narskij, Fotokartočka na pamjat’ (Anm. 5). 75 Vgl. auch : Corinna Kuhr-Korolev, Rezension zu : Sebastian Waack : Lenins Kinder. Zur Genealogie der Pfadfinder und Pioniere in Russland 1908– 1924, Berlin 2008 und Vsevolod L. Kučin : Skauty Rossii 1909–2007. Istorija, dokumenty, svidetel’stva, vospominanija, Moskau 2008, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010) H. 4, S. 582–584. 76 Zu den Alben Naugol’novs vgl. Rüthers, Das Leben als Expedition (Anm. 49). 77 Vera Dunham, In Stalin’s Time. Middle Class Values in Soviet Fiction, Cambridge 1976. 78 Susanne Schattenberg, Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002. 79 Alexander Semyonov, Empire as a Context Setting Category, in : Ab Imperio (2008) H. 1, S. 193–204 ; Malte Rolf, Einführung : Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850–1918), in : Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 5–21. 80 Langford, Speaking the Album (Anm. 17), S. 226 f. 81 Narskij, Problemy i vozmožnosti istoričeskoj interpretacii (Anm. 5). 82 Ebd. 83 Chalfen, Snapshot Versions of Life (Anm. 7), S. 81. 84 Catriona Kelly, »Good Night, Little Ones«. Childhood in the »Last Soviet Generation«, in : Stephen Lovell (Hg.), Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke 2007, S. 165–189. Ähnlich Kelly auch in : dies., Roskoš’ ili pervaja neobchodimost’ ? Prodaža i pokupka tovarov dlja detej v Rossii v poststalinskuju ėpochu, in : Teorija mody. Odežda, telo, kul’tura 3 (2008) H. 8, S. 119–185. 85 Victor Buchli, Khrushchev, Modernism, and the Fight Against Petit-Bourgeois Consciousness in the Soviet Home, in : Journal of Design History 10
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Kinder in der alltäglichen Bildproduktion
(1997) H. 2, S. 161–176, hier S. 166 ; Kelly, Roskoš’ ili pervaja neobchodimost (Anm. 84), S. 152–155. 86 Margaret Peacock, Cold War Consumption and the Marketing of Childhood in the Soviet Union and the United States, 1950-1960, in : Journal of Historical Research in Marketing 8 (2016) H. 1, S. 83–98, hier S. 84 f. 87 CGA Moskvy, Otdel chranenija audiovizual’nych dokumentov, Neg. Nr. 1–8812, 1–18071. 88 Catriona Kelly, Children’s World. Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven 2006, S. 143. 89 Zum Teddy vgl. dies., Shaping the »Future race«. Regulating the daily life of children in early Soviet Russia, in : Christina Kiaer/Eric Naiman (Hg.), Everyday life in early Soviet Russia. Taking the Revolution inside, Bloomington 2006, S. 256–281, hier S. 269 f. 90 Pravda, 22.2.1936, S. 4, und 22.9.1936, S 4, zit. nach ebd., S. 269. 91 Ebd., S. 270. 92 Christine Gölz, Fröhliche Bildchen für kleine Leute. Die Bildzeitschrift Vesëlye kartinki oder was bleibt übrig von der visuellen »Kinderwelt des Sozialismus«, in : Rüthers/Köhring, Ästhetiken des Sozialismus (Anm. 57), S. 75–94, hier S. 86. 93 Vgl. dazu für die US-amerikanische SnapshotFotografie und den Brauch der Weihnachtskarten Chalfen, Snapshot Versions of Life (Anm. 7), S. 82. 94 Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945 (Anm. 9), S. 338. 95 Lewis H. Siegelbaum, Cars for Comrades. The Life of the Soviet Automobile, Ithaca, N.Y. 2008 ; Corinna Kuhr-Korolev/Dirk Schlinkert (Hg.), Towards Mobility. Varieties of Automobilism in East and West, Wolfsburg 2009. 96 Monica Rüthers, Children and the Cosmos as Projects of the Future and Ambassadors of Soviet Leadership, in : Eva Maurer/Julia Richers/Monica Rüthers/Carmen Scheide (Hg.), Soviet Space Culture. Cosmic Enthusiasm in Socialist Societies, Basingstoke 2011, S. 206–225. 97 Vgl. Denis Cosgrove (Hg.), The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design and Use of Past Environments, 8. Aufl., Cambridge 2004. Zum russischen Kontext vgl. Christopher David Ely, This Meager Nature. Landscape and National Identity in Imperial Russia, DeKalb, Ill. 2002.
164
98 Rosalinde Sartorti, Pictures at an Exhibition. Russian Land in a Global World, in : Studies in East European Thought 62 (2010) 3/4, S. 377–399 ; Elizabeth K. Valkenier, Russian Realist Art. The State and Society : The Peredvizhniki and their Tradition, New York 1989 ; Walter K. Lang, Das heilige Russland. Geschichte, Folklore, Religion in der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts, Berlin 2003. 99 Matteo Bertelé, Arte russa e sovietica nelle cartoline illustrate della collezione Sandretti, URL : (04.05.2020) ; Monica Rüthers, Wegwerfbilder mit Nachleben. Sowjetische Verpackungen, virtuelle Konsumwelten und russische EiscremeNostalgie, in : Historische Anthropologie 23 (2015) H. 2, S. 205–228. 100 Evgeny A. Dobrenko/Eric Naiman (Hg.), The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, Seattle 2003 ; Klaus Gestwa, Sowjetische Landschaft als Panorama von Macht und Ohnmacht. Historische Spurensuche auf den »Grossbauten des Kommunismus« und in dörflicher Idylle, in : Historische Anthropologie 11 (2003) H. 1, S. 72–100 ; Mark Bassin, »I object to rain that is cheerless«. Landscape Art and the Stalinist Aesthetic Imagination, in : Ecumene 7 (2000) H. 3, S. 313–336. 101 Ein bekanntes Beispiel ist Jules Bretons (1827–1906) Gemälde Ährenleserin (Glaneuse) 1877. 102 Ogonëk-Titelseiten unter URL : und auf und (04.05.2020). 103 Lüdtke, Industriebilder – Bilder der Industriearbeit ? (Anm. 41). 104 Boris Belge/Manfred Deuerlein, Einführung. Ein goldenes Zeitalter der Stagnation ? Neue Perspektiven auf die Brežnev-Ära, in : dies. (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation ? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 1–35, hier S. 13.
5 Viele Völker, eine Kindheit : Die Kinder der Sowjetrepubliken im Bild
Die Kinder der Nationen
Am Bildkorpus der vorherigen Kapitel hat sich gezeigt, dass das normative Kind – das paradigmatische zukunftsbringende Kind – das weiße, russische Kind war. Es erschien als blondgelockter Heilsbringer, als eifriger Schüler und Pionier, als kleines Mädchen mit weißem Kragen und Haarschleifen. In diesem Kapitel geht es um die nichtrussischen Kinder, um die Kinder der Nationen. Die Sowjetunion war ein Vielvölkerreich von riesigen Ausmaßen. Sie umfasste mehrere Klimazonen, elf Zeitzonen und verschiedene Kulturen, in denen Kinder unter ganz unterschiedlichen Bedingungen lebten und die Vorstellungen von Kindheit und Erziehung erheblich variierten. Die Transformation der Menschen in Neue Menschen und dieser wiederum in ein Sowjetvolk war ein zentrales Projekt der sowjetischen Integration, das sich auch und vor allem an die Kinder richtete. Zugleich sollten die als rückständig wahrgenommenen Randgebiete modernisiert werden. Die Schöpfung einer gemeinsamen sowjetischen Nation lässt sich als Teil einer sowjetischen Kolonialgeschichte verstehen.1 Dieses Kapitel untersucht die Rolle, die Bilder einer gemeinsamen sowjetischen Kindheit in der sowjetischen Nationalitätenpolitik spielten. Wie wurden Bilder von Kindern und Kindheiten im Umgang mit der Vielfalt eingesetzt, um gemeinsame Bilder zu schaffen ? Nach einem kurzen Blick auf die schiere Größe und Vielfalt des Imperiums leitet eine Analyse von Darstellungen Stalins mit Kindern der Völker der Sowjetunion in die Diskussion von Darstellungen der »Sowjetunion im Kleinen« über. Diese imperialen Auslegeordnungen zeigen, wie die Komplexität reduziert wurde, um für die Sowjetbürger ein überschaubares und verständliches, geordnetes Bild des Landes zu erzeugen. Anschließend geht es um die »Kleinen in der Sowjetunion«, also um die Rolle der Kinder und der Kinderdarstellungen in diesem imperialen Projekt. Dabei fallen zwei zentrale Bildformeln ins Auge : folkloristische Darstellungen von Kindern in Nationalkostümen bei der Pflege nationaler Traditionen in Musik und Volkstanz einerseits und Kinder im Rahmen der Fürsorge und der Zukunftsmöglichkeiten der sowjetischen Institutionen andererseits. Eine Quellengattung, an der sich die Ausdifferenzierung der Kinderdarstellungen und ihre Instrumentalisierung besonders gut untersuchen lassen, ist das sowjetische Fotobuch. In den Jahren zwischen 1919 und 1921 gewannen die Bolschewiki die abgefallenen Randgebiete des Zarenreiches zurück, so dass sie längerfristig nur Finnland und Polen verloren. Zur Organisation des sowjetischen Vielvölkerreichs griffen sie auf das System des Föderalismus zurück und gründeten 1922 die UdSSR als Bundesstaat aus 4 Republiken (RSFSR, Ukrainische, Belarussische sowie Föderative Transkaukasische Republik), 165
Viele Völker, eine Kindheit
von denen die RSFSR nochmals in 8 Autonome Republiken und 13 Autonome Regionen untergliedert war. 1924 wurde Zentralasien umstrukturiert und neue nationale Einheiten geschaffen. Usbekistan und Turkmenistan erhielten Republikstatus. 1936 wurde in der Stalin-Verfassung die Aufteilung in 11 Sowjetrepubliken festgeschrieben. Die Transkaukasische Republik wurde dabei aufgelöst. Später ergaben sich Änderungen nur noch durch die Annexion neuer Territorien.2 Der Umgang mit der Vielfalt von Ethnien, Wirtschafts- und Lebensformen war eine große Herausforderung für die sowjetische Führung. Die offizielle Nationalitätenpolitik der korenizacija (wörtlich »Einwurzelung«, gemeint war Indigenisierung) sah nach 1923 das vorrevolutionäre Russland als Unterdrücker der nichtrussischen Republiken der Sowjetunion an. Die junge Sowjetunion schuf sich mit der Konstruktion von zahlreichen neuen »Nationalitäten« ein neues Ordnungsprinzip und griff zugleich auf traditionelle »imperiale« Praktiken zurück.3 Die Bolschewiki nutzten das ethnografische Wissen vorrevolutionärer Spezialisten, verschriftlichten in den 1920er Jahren lokale Sprachen, definierten Volksgruppen bzw. »Nationalitäten«, richteten Schulen ein und arbeiteten mit lokalen Eliten zusammen. Kinder wurden zu wichtigen Objekten dieser Nationalitätenpolitik, die die Völker der Sowjetunion modernisieren und einen gemeinsamen Neuen Menschen schaffen sollte. Die Bolschewiki erschlossen die Republiken des Kaukasus und Zentralasiens mit Verkehrswegen und Projekten zur Energiegewinnung, trieben ihre Industrialisierung voran (das gelang erst ab den 1940er Jahren) und bauten die Städte um. Als Erstes jedoch schufen sie Institutionen zur Bildung und sammelten ethnografisches Material, insbesondere auch Kinderfolklore und Lieder, um ihre Bildungspolitik erfolgreich implementieren zu können.4 Am Beispiel von Kalmückien, das 1920 den Status eines autonomen Gebiets erlangte, hat Loraine de La Fe die Gestaltung kindlicher Umgebungen in Institutionen der Peripherie im Vergleich zu Moskau, dem Zentrum, untersucht und einen starken Trend zur Vereinheitlichung festgestellt. Der erste sowjetische Bildungsminister Anatoli V. Lunačarskij (1875–1933) und sein Bildungsministerium Narkompros verfolgten das Ziel der Professionalisierung, der kostenlosen Bildung für alle und zunächst auch Modelle eines unhierarchischen Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern. Das Narkompros propagierte die MontessoriPädagogik5 und nahm Rücksicht auf regionale Unterschiede und Bedürfnisse. Angehörige von Nationalitäten oder Minderheiten die als »rückständig« galten wurden in den sowjetischen Institutionen, etwa im Bildungssystem und am Arbeitsplatz, systematisch privilegiert und gefördert und konnten in der Parteihierarchie rasch aufsteigen.6 Nicht zuletzt deshalb rückten in der Partei Nationalkommunisten wie Stalin und Grigorij K. Ordžonikidze (1886–1937) ins Zentrum vor und verdrängten die alten Revolutionäre.7 Ziel der Nationalitätenpolitik der Indigenisierung war letztlich die Sowjetisierung der Nationen der UdSSR, weil die sozialistische Ideologie den Menschen durch Angehörige ihrer eigenen Nationalität in ihrer Sprache vermittelt werden sollte. Dieses Ziel stand im fortwährenden latenten Konflikt mit den Interessen der lokalen Eliten, die durch die Revolution die Nationwerdung und letztlich die Autonomie anstrebten.8 166
Der Vater der Völker
Abb. 5.1 : Viktor I. Govorkov (1906–1974), Plakat Dank dem geliebten Stalin für unsere glückliche Kindheit, 1936 Alle Kinder blicken den in eine weiße Uniform gekleideten Stalin an, der seinen Arm in väterlicher Geste um einen Jungen im Matrosenanzug gelegt hat. Lächelnd beugt er sich über »seine« Kinder der Völker. Die Kinder haben Präsente für Stalin – Blumen, eine Zeichnung vom Kreml, ein Modellflugzeug und ein Schiffsmodell.
Das Sowjetische Imperium9 umfasste wie alle Imperien nicht nur zahlreiche sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, Nationen oder Ethnien, die Sowjetunion war auch durch ihre räumliche Ausdehnung und große Entfernungen geprägt. Um die erwähnten gemeinsamen Vorstellungen zu schaffen, die das Imperium in den Köpfen zusammenhalten und einen sollten, spielten »imperiale Auslegeordnungen«, Visualisierungen der Sowjetunion im Kleinen, eine wichtige Rolle. Sie sollten die Bilder liefern, die ein kompaktes kollektives Imaginäres für die vorgestellte Gemeinschaft des Sowjetvolkes bereitstellten.
Der Vater der Völker : Bilder der »Sowjetunion im Kleinen«
Ein beliebtes Motiv zeigte Stalin inmitten einer bunt gemischten Kinderschar. Das Plakat von Viktor I. Govorkov (1906–1974) entstand im Jahr 1936, dem Jahr der neuen Stalin-Verfassung, die als Errungenschaft auf dem Weg zu einer lichten Zukunft gefei167
Viele Völker, eine Kindheit
Abb. 5.2 : Vasilij S. Svarog (1883–1946), I. W. Stalin und Mitglieder des Politbüros inmitten von Kindern im Gor’kij-Park in Moskau, 1939, Öl auf Leinwand Stalin steht gemeinsam mit vier Mitgliedern des Politbüros inmitten einer Kinderschar. Die meisten Jungen tragen Pionieruniformen und Schiffchenmützen, ein Mädchen ist in eine ukrainische Bauernbluse gekleidet, im Haar bunte Bänder und Blumen, ein anderes, dunkleres Mädchen trägt eine Kappe, ein weiteres ein Kopftuch. Die impressionistischen Stilmittel und die bewegte Gestik verlebendigen die Szene.
ert wurde. Sie legte die Führungsrolle der Kommunistischen Partei fest und verschaffte Stalin weitreichende Kompetenzen. Die Bilder Stalins mit den Kindern verschiedener Nationalitäten setzten diesen als Vater der Völker in Szene. Bei den Darstellungen von Vasilij S. Svarog (1883–1946) und Viktor I. Govorkov finden die Treffen von Stalin mit den Kindern an einem symbolischen Ort statt : Die Umgebung ist der Park für Kultur und Erholung namens Gor’kij (Abb. 5.1 und 5.2). Der 1929 eröffnete und laufend weiter ausgebaute Erholungspark war eine der zentralen Sehenswürdigkeiten in Moskau, eine soziale Errungenschaft, die den Bürgern der Sowjetunion zugutekam. Es war ein heterotopischer Raum, der die sowjetische lichte Zukunft, in der die Kinder leben würden, in die Gegenwart holte.10 Die Bilder zeigen Stalin bzw. die politische Führung in zugewandter Harmonie mit Kindern aus verschiedensten Regionen des Landes. Diese Kinder standen auch für die Völker, über die sich die Herrschenden fürsorglich, wohlwollend und lenkend beugten, während diese zu ihnen aufblickten und Geschenke darboten. In Darstellungen des Herrschers Stalin als Vaterfigur mit den Kindern der Nationen zeigte 168
Der Vater der Völker
Abb. 5.3 : Bei einem Sportfestival der Pioniere, Fotografie (Sputnik, vormals RIA Novosti), 1937 Abb. 5.4 : Stalin und Molotov mit Pionieren bei einer Sportparade, Fotografie (Sovfoto), 1946 Die Fotografie von Stalin mit der Burjatin Gelja Markizova auf dem Arm war ein ikonisches Bild, das im Vorspann zahlreicher Bücher mit Kindheitsbezug auftauchte. Hier gehört das Bild zur dekorativen Ausstattung einer Sportparade.
sich ein organisches und paternalistisches Staatsverständnis. Stalin beugt sich über die Kinder/Völker und hält sie in einer eisernen Umarmung. Die Darstellungen des Herrschers mit Kindern in unterschiedlichen Medien zeigen, wie die Motive des Vaters der Völker in verschiedenen sowjetischen Kontexten aufbereitet wurden und zirkulierten (Abb. 5.3). Die Zusammenhänge konnten formeller und spontaner Natur sein, immer aber stand Stalin im Mittelpunkt und die Anwesenden blickten zu ihm auf. Die Aufnahme Stalins mit der kleinen Burjatin Gelja Markizova im Arm erschien am 29. Juni 1936 in der Pravda. Die Fotografie wurde sofort ausgesprochen populär, ja ikonisch und erschien in zahlreichen Zusammenhängen und Varianten (Abb. 5.3). Sie entsprach in vieler Hinsicht einer typischen Konstellation von Herrscher mit Kind. Gelja war ein vorpubertäres Mädchen aus der nichtrussischen und untergeordneten Volksgruppe der Burjaten am Baikalsee. Das machte sie zu einer harmlosen Vertreterin kindlicher Unschuld und unterschied sie von den vorbildlichen Pionierhelden und den strebsamen Schulkindern, die alle etwas von einem kleinen Erwachsenen an sich hatten. Gelja 169
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hingegen war ein durch und durch kindliches Kind. Stalin erschien wegen des deutlichen ethnischen Unterschiedes nicht als natürliche, sondern nur als symbolische Vaterfigur, als Vater der Völker der Sowjetunion. Nation war weiblich imaginiert, etwa in der Mutter Heimat. Gelja selbst verkörperte eines der sogenannten kleinen Völker, die unter Stalins persönlichem Schutz standen, und damit die Freundschaft aller Sowjetvölker. Ihre »orientalischen« Züge ließen Stalin »europäisch« aussehen.11 Die Aufnahme diente bis in die 1950er Jahre hinein als Symbolbild für die Darstellung der besonderen Beziehung Stalins zu Kindern und erschien auf dem Vorblatt zahlreicher Publikationen, zynischerweise auch, nachdem Geljas Vater 1938 den stalinistischen »Säuberungen« zum Opfer gefallen war. Die nichtrussische Nationalität von Kindern, die mit Stalin abgebildet wurden, war typisch für die 1930er Jahre, ebenso der rituelle Austausch von Blumen und Geschenken. Nach dem Krieg änderte sich dies zugunsten russisch aussehender Kinder – möglicherwiese auch als Ausdruck eines Vertrauensverlustes, hatten doch einige der Völker tatsächlich oder angeblich mit der Wehrmacht kollaboriert. Es fanden auch kaum noch persönliche Begegnungen statt, und an die Stelle der Fotos traten Illustrationen. Drei Elemente an dem Motiv »Stalin mit Kindern der Völker« sind zentral : Erstens die Gleichsetzung der Beziehung von Stalin zu den Kindern mit der Beziehung von Stalin zu den Völkern ; zweitens das zentralistische Grundprinzip der Darstellungen, das sich auf räumliche Hierarchien übertragen ließ ; drittens waren die Darstellungen von Stalin mit Kindergruppen und Blumen eine Allegorie auf die Sowjetunion im Kleinen. Auf dieses Prinzip, das große Sowjetreich mit seinen vielen Völkern auf vereinfachte Weise allegorisch und symbolisch darzustellen, wird im Folgenden näher eingegangen. In der Sowjetunion gab es eine Reihe von räumlichen und visuellen Anordnungen, die das große und vielfältige Reich im Kleinen abbildeten und somit erfahrbar und begreifbar machten. Ein Beispiel war das Ethnografische Museum in Leningrad. Die Gestaltung der 1923 eröffneten Ausstellung zu den Völkern der UdSSR entwarf das Narrativ eines postkolonialen, antiimperialistischen multinationalen Staates Sowjetunion.12 Die Hauptstadt Moskau wurde seit den 1930er Jahren nach und nach in eine Metropole verwandelt, deren Institutionen und Bauten sie virtuell, bildlich, aber auch physisch mit allen Teilen des Imperiums verbanden : durch Überseehäfen, die verschiedenen Endbahnhöfe der Eisenbahnlinien in die Provinzen und durch Spezialitätengeschäfte, die Delikatessen aus entfernten Regionen anboten. Diese Gebäude waren jeweils opulent dekoriert im Stil der Regionen, die sie vertraten. Zugleich konnten sie als netzartige Verbindungslinien in die Provinzen gelesen werden. Das Zusammenspiel verschiedener Orte bildete das Imperium in der Metropole in idealisierter Form ab.13 Ein weiteres Element in diesem Tableau waren die Metrostationen der nach dem »Großen Vaterländischen Krieg« fertiggestellten Moskauer Ringlinie. Hier konnten die Sowjetbürger anhand der Dekorationen der Stationen und der Symbolik der Rundreise die Einheit der Völker der Sowjetunion nachvollziehen. Die einzelnen Stationen wie etwa die Kievskaja waren mit »typischen Szenen« dekoriert, die den Beitrag der jeweiligen Region zum sowjetischen Projekt, aber 170
Der Vater der Völker
auch den durch die Zugehörigkeit zur Sowjetunion erreichten Fortschritt zeigen sollten. Imperiale Displays boten auch Messen und Ausstellungen, etwa die 1939 eröffnete Allunions-Landwirtschaftsausstellung in Moskau (VSChV, Vsesojuznaja sel’sko-chozjajstvennaja vystavka, später VDNCh).14 Auch hier boten die Pavillons der Republiken die Möglichkeit einer virtuellen Rundreise durch das Sowjetland von morgen im Heute. Für die Kinder gab es einen Märchenpark mit Eisgrotte und Eiscreme. Den Sowjetbürgern, nicht nur den Kindern, erschien die ganze Ausstellung märchenhaft. Dass die heterotopischen Inszenierungen ihre Wirkung nicht verfehlten, zeigt die Erinnerung des Moskauer Kulturphilosophen Michail Ryklin : Mitte der Fünfzigerjahre erreicht auf der Ausstellung die Staatsästhetik ihren Höhepunkt. Ich erinnere mich gut an meine Kindheitseindrücke vom Besuch der VDNCh : Ich verließ das Gelände völlig verzaubert. Wenn, so dachte ich damals, an diesem Ort, zwischen all den Palästen, Skulpturengruppen und Fontänen, Wunder wahr werden, so kann es gar nicht anders sein, als dass solche Wunder sich auch an anderen Orten viele Male wiederholen. […] Lange Zeit bewahrte ich das Plastikei auf, welches in einem Pavillon das Modell einer Henne ›gelegt’ hatte, womit der Prozess des Ausbrütens von Eiern visualisiert wurde. Insofern die Besichtigung dieser ›illusionistischen’ Räume einer Fata Morgana gleichkam, diente dieses Ei mir als einziger handgreiflicher Beweis dafür, dass die VDNCh wahrhaft existierte und ich dort gewesen war.15
Imperial Displays gingen einher mit den neuen Möglichkeiten der Mobilität. Alle Sowjetbürger sollten einmal im Leben die Hauptstadt besuchen und ihre Sehenswürdigkeiten bewundern : das pompös mit Boulevards und Plätzen umgebaute Zentrum, den Gor’kij-Park für Kultur und Erholung, die wunderbare Metro, die VDNCh. Symbolisch waren diese Heterotopien Orte der Begegnung und Verständigung zwischen Obrigkeit und Volk, Orte der Teilhabe. So nahmen die Menschen sie auch wahr. Der Rundgang als Narrativ versorgte die Besucherinnen und Besucher mit einem Bild des Landes und zugleich mit standardisierten Vorstellungen über die ausgestellten Republiken und ihre Bewohner. Dazu gehörten Informationen über die Natur des Fortschritts und das Recht der »Fortgeschrittenen« auf die Vorherrschaft.16 Begleitet waren diese Erzählungen über nationale Unterschiede vom wissenschaftlich-linguistischen Diskurs der Zeitlosigkeit ethnischer Verschiedenheit, wie er in Stalins linguistischen Schriften zum Ausdruck kam.17 So entstanden Topografien, die auf den gesamten Herrschaftsbereich verwiesen und virtuelle Rundreisen durch das Imperium anboten. Da sich diese Orte, Angebote und Bilder an Familien, Schulklassen und Pioniergruppen gleichermaßen richteten, wuchsen die sowjetischen Kinder im Bewusstsein der inneren Hierarchien der Sowjetunion auf. Sie waren auch an imperialen Netzwerken des Austauschs beteiligt, etwa wenn sie die Sommerferien in einem überregionalen Pionierlager verbrachten oder wenn sie Briefmarken oder Postkarten sammelten. Das Motiv der »Einheit in der Vielfalt« war in allen Medien gegenwärtig, auch in Briefmarkenserien. 1932 erschien eine Serie von 171
Viele Völker, eine Kindheit
19 Briefmarken unter dem Titel Völker der UdSSR, die Angehörige der verschiedenen Nationalitäten in typischen Umgebungen bei ihrer täglichen Arbeit zeigten : Nenzen mit Rentieren, Korjaken auf der Jagd, Georgier auf dem Gemüseacker und Usbeken auf dem Baumwollfeld.18 1939 erschien zur Eröffnung der Allunions-Landwirtschaftsausstellung eine weitere Serie mit nationalen Motiven, die neben den Viehherden der Ukraine, russischen Kornfeldern und den Weiden des Kaukasus auch die Pavillons der Moskauer Ausstellung umfassten.19 Von den Bildern der »Sowjetunion im Kleinen« ist es nicht weit zur Frage nach den Bildern der »Kleinen in der Sowjetunion«. Während Kinder als Zielpublikum durchaus mitgemeint waren, spielten in den bisher geschilderten imperialen Auslegeordnungen Bilder von Kindern eine untergeordnete Rolle oder fehlten gänzlich. In diesen imperialen Auslegeordnungen kommen Kinder lediglich als (Mit)Adressaten vor, nicht jedoch in den bildlichen Darstellungen selbst. In den symbolischen Erzählungen, die einem einheitlichen Sowjetvolk Gestalt geben sollten, hatten Kinder hingegen einen zentralen Part. Es gab zwei Modi der Darstellungen : »Folklorekinder« und »Sowjetkinder«.
Die Kinder der Völker : Folklore und Märchen
Die symbolischen Repräsentationen des sowjetischen Staates verbanden nationale Narrative visuell mit Folklore und mit Kindheit. Die Sowjetunion als Staat wurde im Stalinismus als Familie dargestellt, und Stalin als Vaterfigur auch der Sowjetvölker war Teil der politischen Mythologie der Sowjetunion (vgl. Abb. 5.1).20 Die Kinder funktionieren in den Repräsentationen in unterschiedlicher Art und Weise als Allegorien für die Völker. In den 1930er Jahren war Stalin zugleich Vater aller ethnisch definierten Sowjetrepubliken, die dadurch infantilisiert wurden. Spätere Herrscher setzten nicht mehr so explizit auf Darstellungen mit Kindern. Das Motiv multinationaler Kindergruppen blieb vor allem auf Festtagspostkarten gegenwärtig. Internationalismus, Völkerfreundschaft und damit Frieden waren zentrale Themen von Postkarten der 1950er und 1960er Jahre (Abb. 5.5 und 5.6). Die Attribute dazu waren rote Fähnchen, Blumen und weiße Tauben mit Gruppen von Kindern unterschiedlicher Hautfarbe.21 Folklore war ein mächtiger Bildgenerator und ein wesentliches, aber nicht unumstrittenes Instrument der Nationalitätenpolitik in den Aushandlungsprozessen zwischen dem Regionalen und dem Imperialen. In den 1930er Jahren wurden Folkloreveranstaltungen zum Teil der neuen sowjetischen Massenkultur. Sie boten Profis wie Amateuren und auch Kindern eine Bühne. Weil sie auf die Nationalkulturen einerseits und auf bäuerliche Kulturen andererseits anspielten, waren die Volkstänze eine bei der werktätigen wie der bäuerlichen Bevölkerung beliebte Form der Unterhaltung. Sie boten Anknüpfungspunkte für die Identifikation und präsentierten die Sowjetunion nach innen und nach außen als Land der Völkerfreundschaft. Die Kinder als Trägerfiguren der nationalen 172
Die Kinder der Völker
Abb. 5.5 : Cover des Albums im Postkartenformat Kinder der Völker der SSSR (Deti narodov SSSR), Moskau 1940 Abb. 5.6 : Grußpostkarte zum 1. Mai, Rostov am Don, 1960 Die Abbildungen zeigen paradigmatische Darstellungen von »Folklorekindern« aus verschiedenen sowjetischen Epochen. Durch ihre Nationaltrachten und ethnischen Merkmale sind sie verschiedenen Völkern der Sowjetunion zuzuordnen, wie auf dem rechten Bild der Ukraine, Zentralasien und Russland. Frühlingsblüte und lichter Himmel mit Tauben rahmen als Zeichen für Aufbruch und Frieden die Kinder ein.
Identitäten der Sowjetvölker rückten die Folklore visuell in einen apolitischen, harmonisierenden Kontext. Motive der Folklore und Bücher mit Märchen aus verschiedenen Sowjetrepubliken waren auch an die Kinder selber gerichtet und in deren auch visuell konstruierte Lebenswelten integriert. Märchen waren zunächst umstritten. Die oberste sowjetische Pädagogin Nadežda K. Krupskaja (1869–1939) sprach sich gegen Märchen und fantastische Literatur für Kinder aus, und noch 1928 erschien in der Sowjetunion eine Schrift, die sich gegen das Märchen richtete. Das Autorenkollektiv bestand aus Vertretern der Pädologie, die eine neue Wissenschaft vom Kind etablieren wollte. Deren Standards und Regeln sollten auch für die Kinderliteratur gelten. Maxim Gor’kij rehabilitierte jedoch das Märchen in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress im August 1934.22 Märchen werden in der Psychologie große Kraft zugeschrieben, da in ihrem Zentrum meist ein spirituell begründetes Motiv der Wunscherfüllung steht. Dies dürfte hinter der Integration des Genres in den Sozialistischen Realismus stehen, der ja seinerseits der Beschreibung einer sich laufend nach hinten verschiebenden märchenhaften Zukunft diente. Diese nie eintreffende Verheißung verlangte nach immer stärkerer Kompensation in den kulturellen Texten des sowjetischen Alltags.23 So fanden Märchen mit ihren Prüfungen und Wundern Eingang in alle Genres sowjetischer Medienproduktion. In Märchen spielen nicht nur magische Kräfte und Wunder eine Rolle, auch traditionelle Werte und Tugenden verhelfen den Helden zum Glück. Außerdem geben die Märchen aus verschiedenen Republiken die Gelegenheit, Eigenes und Fremdes zu vermessen und Gemeinsamkeiten zu finden. Ein Beispiel ist eine illustrierte Edition kalmückischer 173
Viele Völker, eine Kindheit
Märchen, die unter dem Titel Der Wunderstein 1981 in Moskau erschien.24 Diese Sammlung enthielt zwei Märchen. Im Märchen Der Wunderstein macht sich ein armer Hirtenjunge auf die Suche nach dem Wunderstein, um sein Volk von dem bösen Han zu befreien. Das Märchen behandelt die Themen des Kampfes von Arm gegen Reich, der Befreiung aus der Unterdrückung und der gemeinsamen Anstrengung, die von Erfolg gekrönt wird. Im zweiten Märchen, Wie der faule Subsutaj anfing zu arbeiten, weigert sich der faule Subsutaj zu arbeiten, bis er durch eine List seiner Mutter die Arbeitsfreude für sich entdeckt. Subsutaj findet durch Arbeit zum Glück. Die Moral : Jeder muss arbeiten, und wer nicht arbeitet, bringt Unglück über seine Familie. Die Herausgabe von – sorgfältig im Sinne des Sozialistischen Realismus bearbeiteten – Volksmärchen war in der späten Sowjetunion Teil der Integration und des Aufwachsens im Vielvölkerstaat UdSSR. Kalmückien galt vielleicht offiziell nicht mehr als rückständig, die kulturelle Mission und die sowjetischen Werte hatten sich durchgesetzt. Aber die traditionellen Volksmärchen beschworen eine mythische Vorzeit ursprünglicher, archetypischer Figuren und Handlungen. Die Illustrationen zeigen orientalische Interieurs mit Teppichen und Wasserpfeife. Pferde und Jurten suggerieren eine nomadische Lebensweise. Das Buch, herausgegeben in Moskau, vermittelte russischen Kindern exotische Volksmärchen, aber zugleich auch zentrale »sowjetische« Werte wie Arbeitsliebe oder den Kampf gegen Tyrannen. Die Exotik diente der parabelhaften Erzählweise und verrät nichts über die Kultur der Kalmücken, dafür umso mehr über andauernde kulturräumliche Hierarchien. In der Sowjetunion gab es ausgeprägte räumliche Hierarchien, die nicht nur auf den Konzepten von Ethnie und Kultur beruhten, sondern auch mit dem Wohnort verbunden waren. Das allgemeine Wohlstandsgefälle von Nordwest nach Südost blieb die gesamte Sowjetzeit hindurch erhalten. Es wurde überlagert von der Landkarte der sowjetischen Modernisierung, die neue, industrialisierte Landschaften schuf. Diese mündeten wiederum in Hierarchien von Wohnorten : Sowjetische Industrie- und Wissenschaftsstädte, manche von ihnen geheim, lockten Fachkräfte mit guter Bezahlung und hervorragender Versorgung an Nahrungsmitteln und Konsumgütern auch in entlegene Ecken wie beispielsweise nach Novosibirsk oder in eine der geheimen Städte der Nuklearindustrie. Urbanisierung und Industrialisierung begünstigten strukturell die Russen, die als Ingenieure und Facharbeiter die Kraftwerke und die neuen Städte und Fabriken aufbauten und dort arbeiteten. Die anderen Nationalitäten blieben stärker auf dem Land verwurzelt. Mit diesen Hierarchien, mit kulturellen Unterschieden und der Größe der Sowjetunion wurden die Kinder von klein auf vertraut gemacht durch entsprechende Spielsachen, Bilderbücher und Märchensammlungen. Nichtrussische Kinder waren immer mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen oder hatten eine bestimmte Rolle in den Bildern. Diese bezogen sich in der Regel auf das sowjetische Projekt, ein einheitliches und modernes Sowjetvolk zu schaffen. Dabei gaben sie auch Auskunft über die inneren Hierarchien dieses Imperiums. Die figürlich-realisti174
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
sche Bildsprache des Sozialistischen Realismus verband sich hier mit einem organischen Staatsverständnis und der Rolle Stalins als Vater der Völker. Kinder, Körper, einzelne Gliedmaßen, Haltungen, Gesten und das Aussehen, das Alter, die Kleidung, die Hautfarbe bis hin zur Augenform, alles konnte eine diesbezügliche Bedeutung in sich tragen. Die »Folklorekinder« tauchten in den Bildwelten als Symbole für Völkerfreundschaft und Exotik auf. Russische Kinder lernten ihrerseits anhand von Folklore und Märchen aus entlegenen Republiken, dass die Sowjetunion ein Imperium war, in dem überall dieselben Werte herrschten. Die Verbreitung von Folklore, eine höhere Mobilität, die Pilgerreisen nach Moskau ermöglichte, und überregionale Aktivitäten der Pioniere förderten in der Kinderkultur das Bewusstsein und den Stolz darüber, in einem Land mit über 140 verschiedenen Nationalitäten zu leben. Museen, Bücher, Schulzimmer, Ausstellungen, Filme – überall war das Wissen über die räumlichen, sozialen und ethnischen Hierarchien der Sowjetvölker vertreten und präsent. Die Kinder sollten aber nicht nur eine gemeinsame Kindheit im Bewusstsein der Beschaffenheit des Imperiums erleben, sondern zu einem Sowjetvolk heranwachsen. Die »Sowjetkinder« sind das Thema des folgenden Abschnitts.
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
Die Verwandlung der Kinder in Neue Menschen und der Neuen Menschen in ein einziges Sowjetvolk war ein Kernelement der Sowjetisierung. Dokumentarfilme, Kinochroniki (Wochenschauen) und Fotobücher demonstrierten die staatliche Fürsorge für alle, vor allem für Mütter und Kinder. Diese Kinder waren als »Sowjetkinder« Symbole der Integration. Fotobücher stellen eine ideale Quelle dar, sowohl die Bände über sowjetische Kinder und Kindheit als auch die Bände über die ganze Sowjetunion und über einzelne Sowjetrepubliken. In Bildbänden und Fotostrecken wurden die offiziellen Ideologeme des Staates, vor allem diejenigen von Kollektivität und Sozialisation, in gemeinsame Bilder gegossen. Sie dienten als Werkzeuge des social engineering. In vielen der gesichteten Fotobücher sind Kinder auf fast jeder Doppelseite präsent. In den folgenden Abschnitten geht es zunächst um die Darstellungen sowjetischer Mütter und sowjetischer Mutterschaft und dann um Bilder von Kindern in Fotobüchern und in Jubiläumsbänden zu einzelnen Sowjetrepubliken. Sowjetische Mütter – Gesellschaftlich aktiv
1937 erschienen zwei Bände zu sowjetischen Frauen, die beide dem Thema Mutterschaft und Kinderbetreuung sehr viel Raum gaben. Soviet Women sollte, wie die mehrsprachigen Texte andeuten, vermutlich anlässlich der Weltausstellung in Paris ausgelegt werden (Abb. 5.7). Der Band entspricht dem stalinistischen Stil in allen Belangen. Auf der ersten Doppelseite schreitet eine weißgeklei175
Viele Völker, eine Kindheit
Abb. 5.7 : Fotografie aus dem Bildband Soviet Women, Moskau 1937 Die Aufnahme von Mutter und Kind ist der Fotografie einer Sportparade entnommen und in einen sowjetischen »Garten Eden« montiert worden. Mit erhobenen Armen grüßt das Paar und weist in eine paradiesische Zukunft.
dete Frau, die ein Kind auf einer Schulter trägt, unter blühenden Obstbäumen auf den Betrachter zu. Sie sieht aus wie eine der Sportlerinnen mit Kindern auf der Schulter, die an den Sportlerparaden mitmarschierten, von denen zwei in dem Band abgebildet sind. Sie ist, wie sich beim genaueren Hinschauen erweist, in den Obstgarten hineinmontiert. Der Band Ženy inženerov (Frauen der Ingenieure) begleitete die Kampagne der Obščestvennica (die gesellschaftlich engagierte Frau), die sich in den Betrieben ihrer Männer im Sinne der kul’turnost’-Kampagne engagieren sollte (vgl. Abb. 2.10). Diese »Ehefrauenbewegung« war eine Fortsetzung der Delegiertenkampagne.25 Sie entsprach der allgemeinen Tendenz, dass weibliche Bolschewiki sich vorwiegend um Frauenbelange zu kümmern hätten.26 »Die Obščestvennica war eine gesellschaftlich aktive Frau, die sich um alltägliche Dinge kümmerte, wie etwa Kindergärten, Kantinen, Krippen, Wäschereien, aber auch die öffentliche Ordnung in der Gesellschaft und zu Hause. Diese Figur entwickelte sich als ein zunehmend bedeutenderes Leitbild für Frauen seit Mitte der zwanziger Jahre aus dem System der Delegiertenbewegung heraus.«27 Es gab zu wenige Frauen in der kommunistischen Partei. Die Kampagnen sollten Frauen für politi176
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
sche und gesellschaftliche Anliegen mobilisieren. Je zehn Arbeiterinnen in städtischen Betrieben wählten eine Delegierte für ein Jahr. Die Delegierten wurden in Delegiertenversammlungen von den ženotdely, den Frauenabteilungen der Kommunistischen Partei, politisch unterwiesen und sollten eine Brücke zwischen Partei und Arbeiterinnenschaft bilden. Die Delegatka war ein Vorbild für die Arbeiterinnen, das parteiliche Normen für weibliche Verhaltensweisen vermittelte. 1933 wurde diese Praxis abgeschafft. Neben der Delegierten gab es die Obščestvennica, die ebenfalls mütterliche und hausfrauliche Arbeiten im öffentlichen Auftrag leistete und soziale Kontrolle ausübte, aber nicht durch Wahlen legitimiert war. Die Bewegung richtete sich zunächst an Bäuerinnen und Arbeiterinnen, die etwa Näh- und Strickkurse veranstalteten oder Kindergärten verschönerten. Nach der Abschaffung der ženotdely und der Delegiertenversammlungen 1930 bzw. 1933 verfolgte die Partei zwischen 1936 und 1941 die Kampagne der Ehefrauenbewegung (žen-obščestvennic), die von Grigorij K. »Sergo« Ordžonikidze (1886–1937) angeregt wurde, seit 1932 Volkskommissar für Schwerindustrie. Diesem war auch das Fotobuch Frauen der Ingenieure gewidmet,28 in dem es um die Frauen der Vorarbeiter und Ingenieure der Schwerindustrie ging. Denn die Neuauflage der Figur der Obščestvennica richtete sich an die Frauen der aufsteigenden sowjetischen Mittelschicht.29 Diese öffentlichen Hausfrauen wurden in dem Bildband dem stalinistischen Mutterkult entsprechend bei der Pflege der Kinder, bei der Hausaufgabenhilfe, der Kontrolle von Geburtshäusern und Krippen oder bei Freizeitangeboten wie Musikunterricht für Schülerinnen gezeigt. Sie kompensierten mit ihrem ehrenamtlichen Einsatz ein Stück weit staatliche Defizite im sozialen Bereich und verkörperten das geltende Frauenideal. Im Band Soviet Women erschienen Frauen sowohl als autonome Frauen in vielfältigen Berufen im Bild, immer aber auch als Mütter. Der Staat ermöglichte ihnen die Ausbildung und die erfüllende Berufstätigkeit und versorgte gleichzeitig die Kinder in mustergültigen Institutionen. Im Band Frauen der Ingenieure waren Frauen ehrenamtlich in ausschließlich weiblich konnotierten, reproduktiven Tätigkeiten zu sehen. Diese wurden zwar als hygienisch und modern beschrieben, das Frauenbild lehnte sich dabei aber an traditionelle Muster bürgerlicher Wohltätigkeit an. In beiden Büchern war die umfassende Fürsorge für Frauen und Mütter in allen Sowjetrepubliken ein zentrales Thema, dabei traten aber ethnische Russinnen als Leitfiguren für die Neuen Menschen auf. Dieses Vorrecht ergab sich aus der Vorstellung, dass die Russische Sowjetrepublik auf dem Weg zum Kommunismus am weitesten fortgeschritten sei.30 »Die Sowjetunion wächst heran« – Der transformative Blick
Der Band Sovetskaja Detvora (Sowjetische Kinderschar) von 1936 machte exemplarisch die Konstruktion eines Sowjetvolkes aus den Kindern aller Völker der Sowjetunion als sozrealistisches Projekt deutlich. Die imaginäre Einheit der »sowjetischen Kinderschar« war ein zentraler Topos. 177
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Der Blick auf die Kinder war ein transformativer Blick. Der Fotoband Sowjetische Kinderschar erzählte Geschichten über die Einheit, die in der heranwachsenden Generation aus einer Vielfalt entstand. Das wird unter anderem durch eine Serie deutlich, die Porträts von Kindern aller Landesteile zeigte unter dem Motto »Die Sowjetunion wächst heran«. Das Kapitel über Pioniere betont die Multiethnizität, zugleich aber die Tatsache, dass die Pioniere überall in der Sowjetunion genau dasselbe täten : Sie alle veranstalteten Umzüge zum 1. Mai, bastelten Wandzeitungen und träfen sich zur Selbstverwaltung, leisteten Ernteeinsätze und verpflichteten sich, gut zu lernen (Abb. 5.8–5.11). Die erzieherischen Maßnahmen wurden auf 225 Seiten umfassend ins Bild gesetzt. Die Bildsprache war an die Malerei angelehnt, die großzügige Platzierung auf halbleeren Seiten unterstrich den piktorialistischen Ansatz. Die Kinder sind häufig aus der Nähe in Doppelportraits vor einem spezifisch sowjetischen Hintergrundmotiv abgebildet. Nicht selten handelt es sich dabei um Photomontagen. Ein wichtiges Motiv war die Schule. Bildung für die Kinder der Peripherie war eine zentrale Botschaft der 1930er Jahre, die in den Bildmedien prominent transportiert wurde. Das Motiv fand sich nicht nur in Fotobüchern, sondern in allen Medien, auch in der Malerei und in der Fotografie. Wichtige Themen neben Bildung und Erziehung waren Gesundheit und Hygiene. Ein Kapitel war dem Aufenthalt zu Hause gewidmet. Frische Luft, Lesen, Zähneputzen und gesunde Mahlzeiten erschienen im Bild, ebenso Ruhe und ein Tisch für die Hausaufgaben. Für Gesundheit sorgten auch die staatlichen Institutionen, etwa durch das Essen in der Schule und die Landschulheime für geschwächte Kinder. Das Bild des kindlichen Körpers war normiert. Wie für das Ideal des Neuen Menschen galt hier, dass das neue sowjetische Kind sauber und gut gekleidet sein sollte. Kinder waren Gegenstand staatlicher Gesundheitskampagnen. Diese regulierten neben der körperlichen Hygiene auch Kleidung und Haltung. Die Kinder sollten Routinen und hygienische Praktiken verinnerlichen, denn das sowjetische Kind war zugleich innerlich rein und äußerlich diszipliniert.31 Die Fotobücher zeigen ebenso wie Inspektionsberichte und amtliche Korrespondenzen, dass sich die imperiale Strategie staatlicher Fürsorge, der Hygiene und der uniformen Kleidung auf die entlegensten Regionen erstreckten. Die Regelwerke und Maßnahmen umfassten die äußere materielle Umgebung der Kinder ebenso wie ihr Inneres : Neben Bildung, Spiel und Hygiene war die Ernährung ein Faktor, der die Einheit betonen sollte. Waren die Speisepläne und Ernährungspraktiken zunächst regional bestimmt, wurden die Menüs der Institutionen mit der Zeit zunehmend sowjetisiert. Dabei spielte auch die Entwicklung einer sowjetischen Lebensmittelindustrie in den 1930er Jahren eine Rolle, die in den Fotobüchern unter anderem durch Konserven vertreten war. Die Speisepläne und die einheitliche Gestaltung der Kantinen, aber auch die Speisen selbst vermittelten sowjetische Werte. Eine noch deutlichere Transformation als die geschwächten Kinder durchliefen die ehemaligen besprizornye, die auf S. 94 und 95 des Bandes vorgestellt wurden. Sie konnten in der Sowjetunion Ärzte und Ingenieure werden, Möglich machten dies die im Foto178
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buch abgebildeten Arbeitsschulen Neues Leben und Dzeržinskij des Narkompros (Volkskommissariat für Bildung). Auch der Bildband Sowjetische Kinderschar vermittelte spezifische sowjetische Vorstellungen räumlicher Hierarchien : In den großen Städten zeigten Aufnahmen die Kinder beim Spielen in der Wohnung, in den nichtrussischen Republiken verrichteten sie leichte Arbeiten in der Landwirtschaft – Russen wurden tendenziell als fortschrittliche Städter dargestellt, Nichtrussen als implizit rückständigere Landbevölkerung. Diese Unterschiede, das behaupteten zumindest die Bilder, sollten verschwinden. Geformt wurde die einheitliche sowjetische Kindheit durch Institutionen. Die offizielle Kinderkultur war maßgebend für die Ausgestaltung gemeinsamer sowjetischer Umgebungen für Kinder im Sowjetreich. Erziehung, Gesundheitsfürsorge und Ernährung wurden wesentlich durch diese Maßnahmen beeinflusst. Die unter wissenschaftlichen Vorgaben gestalteten Räume für die Kinder führten dazu, dass Kinderkrippen und Klassenzimmer in Moskau, Leningrad, Elista und Jerewan gleich aussahen, nämlich ausgestattet mit kindgerechten Pulten und Stühlen, einer Wandtafel, Kreide und, vor al- Abb. 5.8 : Fotomontagen in dem Bildband lem, einer Landkarte oder sogar einem Glo- Die sowjetische Kinderschar, Moskau 1936 Unter Darstellungen von Pionierparaden in bus. Eine Folge war, dass die Kinder sich an verschiedenen Provinzen zum 1. Mai heißt den unterschiedlichen Orten auf dieselbe Art es : »In Moskau, Taschkent, Baku, Batumi, durch die gleichen Räume bewegten, dieselben in jeder Stadt und jeder Siedlung der Sowjetunion ziehen am 1. Mai die jungen Spiele spielten, Bücher betrachteten, Feiertage Leninzen mit ihren Fahnen durch die und Rituale begingen, wie beispielsweise den Straßen und über die Plätze.« ersten Schultag am 1. September. Wegen ihrer homogenisierenden Funktion dienten Klassenzimmer als »Mikrokosmen des sowjetischen imperialen Projektes«,32 insbesondere wenn man sich etwa in Kalmückien den Kontrast zwischen den herkömmlichen Tempelschulen und den modernen sowjetischen Schulgebäuden mit ihrem Fokus auf Licht, Luft und hygienische, glatte Oberflächen, ihrer rationalen Ordnung und den standardisierten Möbeln vor Augen führt. Pionierorganisation und Schule waren im Bildband Sovetskaja Detvora prominent vertreten. Klassenzimmer hatten Wandtafeln, Reagenzgläser und einen Globus. Auf einer Aufnahme aus einer »türkischen Schule« ist ein Klassenzimmer mit einheitlichen Möbeln zu sehen, in dem die Kinder in ordentlichen Reihen an Zweiertischen sitzen und aus einem Schulbuch lernen. Die einheitliche Körperhaltung und die kollektive Geste des Zeigens verweisen auf das Primat der Vereinheitlichung. Das galt auch für die Kleidung. Obwohl es noch keine einheitlichen Schuluniformen gab, trugen die Schülerinnen 179
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Abb. 5.9–5.11 : Abbildungen in dem Bildband Die sowjetische Kinderschar, Moskau 1936 Abb. 5.9 : Hier erhält Stalin ein Geschenk der tadschikischen Pionierin und Kolchoznica Mamlakat Nachangova. Über der Szene preist ein Zitat aus einer Stalin-Rede die »Freundschaft der Völker« als Stärke der Sowjetunion. Mamlakat Nachangova hatte dadurch, dass sie beide Hände zum Pflücken von Baumwolle benutzte, die Norm mehrfach übererfüllt und erhielt den Lenin-Orden sowie von Stalin eine Armbanduhr und ein signiertes Foto von ihr in tadschikischer Tracht mit Politbüromitgliedern. Abb. 5.10 : Über der Schülerin mit zentralasiatischer Kappe und dem Jungen steht ein Text zur Einführung der allgemeinen Grundschulpflicht aus dem Jahr 1930. Abb. 5.11 : Unter dem Motto »Die Sowjetunion wächst heran« zeigen grobe Fotomontagen Kinder aus den weitentfernten Regionen des sowjetischen Imperiums – hier zwei Kinder des sowjetischen Nordens vor dem Eismeer mit einem Eisbrecher. Diese Kinder blieben namenlos. Beim Namen genannt und somit identifiziert wurden nur Kinder wie Mamlakat, die Stalin begegneten.
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Abb. 5.12 : Semën Čuikov (1902–1980), Tochter des sowjetischen Kirgisiens, 1948, Öl auf Leinwand Abb. 5.13 : Semën Fridljand (1905–1964), Fotografie aus den späten 1930er Jahren Das Gemälde Tochter des sowjetischen Kirgisiens zierte unter anderem den Umschlag der Zeitschrift Pionier Nr. 9, 1949. Fridljand reiste 1938 für eine Fotoreportage durch Kirgistan. Die Ähnlichkeit des Gemäldes mit der Aufnahme des kirgisischen Schulmädchens zeigt die Kanonisierung bestimmter Motive.
und Schüler helle Kittel. Die Aufnahme zeigt exemplarisch, wie turkmenische Kinder in kleine Sowjetbürger verwandelt wurden. Zum Projekt der sowjetischen Kinderkultur gehörten einheitliche, auf die kindlichen Größen und Bedürfnisse zugeschnittene Möbel, Spielplätze mit Klettergerüsten und gemeinsame Aktivitäten wie das Essen. Spezifisch sowjetische Orte der glücklichen Kindheit waren Exkursionsstationen, Kinderstädte, Klubs und Kulturzentren sowie Erholungslager in der Natur. Durch die einheitliche und spezifische Gestaltung dieser Kinderräume entstand über das örtliche Kollektiv hinaus auch ein in zahlreichen Bildern dokumentierter und verbreiteter umfassender ideeller Raum, ein gemeinsames Imaginäres aus dem Wissen, dass alle Kinder des großen Sowjetlandes denselben Alltag durchlebten, dieselben Erfahrungen machten, dieselben Dinge lernten. Dieses gemeinsame Wissen teilten die Kinder, aber auch die Erwachsenen. Konkrete topografische Orte dieses kollektiven Raumes (über die gleich gestalteten Institutionen hinaus) waren Orte wie das legendäre Pionierlager Artek auf der Krim. Dieser transformative Blick prägte auch Darstellungen zentralasiatischer Kinder in Malerei und Fotografie. Die von Semën A. Čuikov 1948 lebensgroß porträtierte und später mehrfach kopierte Tochter des sowjetischen Kirgisiens hält Bücher und Hefte im Arm und schaut nach Westen. 181
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Ihre Kleidung besteht aus einem roten Kopftuch, hinten geknotet, einer weißen Bluse und einer blauen Weste. Sie erinnert in der Farbigkeit an die Pionieruniform (Abb. 5.12). Die zentrale Botschaft ist, dass diese Bevölkerungen zwar rückständig seien, aber sowjetisch würden. Die Zöpfe stehen für die Tradition, aber das Buch steht nicht nur für Bildung, sondern auch für ein einheitliches, standardisiertes Curriculum.33 Der Titel Tochter des sowjetischen Kirgisiens weist auf die Möglichkeiten hin, die der jungen Generation in der modernen Sowjetunion offenstehen. Das Gemälde und die sehr ähnliche fotografische Aufnahme von Semën Fridljand zeigen, dass das Motiv des Mädchens mit Buch an der rückständigen Peripherie der Sowjetunion eine gern gewählte Bildformel darstellte, die den Weg der jungen Generation in eine zivilisierte Zukunft dokumentierte. Die heroisierende Untersicht überhöht das dargestellte Kind und macht es zum Platzhalter für seine Generation, während der weite Himmel die unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert. Es sind Mädchen, die hier die peripheren und rückständigen Völker verkörpern. Das kann mit der weiblichen Konnotation von Nation oder auch von orientalischen Völkern zu tun haben, aber auch mit der Vorstellung, Mädchen seien anpassungsfähiger, fleißiger und leichter formbar und wirkten in ihrem Herkunftsmilieu von innen heraus verändernd. Sowohl Rückständigkeit wie auch Fortschritt wurden gerne an den als besonders rückständig geltenden Frauen bzw. Mädchen demonstriert, zumal Frauen mit dem Land, dem Dorf, der Tradition und der Religiosität bzw. dem Aberglauben assoziiert blieben. Innere Schwierigkeiten bei der Kollektivierung und die außenpolitische Lage führten Mitte der 1930er Jahre dazu, dass »rückständige« Nationalitäten als illoyal angesehen und verfolgt werden konnten, andere wiederum galten als Spione oder Angehörige »feindlicher Nationen«. Der Trend zur vereinheitlichenden Sowjetisierung und Russifizierung von Institutionen der Bildung, Rechtsprechung und Rekrutierung verstärkte sich.34 Ab 1938 mussten alle Kinder Russisch lernen.35 Die enorme Bildungsexpansion der 1930er Jahre ließ die Zahl von Schülern wie von Lehrerinnen in den peripheren Regionen stark ansteigen, aber die Bildungsexpansion war auf sowjetische Inhalte konzentriert und ging auf Kosten regionaler Tradition und Kultur. Die Nationalitäten blieben getrennt, die russischen Schulen in den neuen Städten waren für ethnisch russische Kinder. Es war schon zu Beginn der 1930er Jahre klar, dass die Zukunft und die Perspektiven nicht in einer Ausbildung in den Sprachen der Minderheiten lagen. Eine zentrale Aufgabe der Bilder einer universellen, gut versorgten sowjetischen Kindheit bestand darin, die Bewohner des weitläufigen und ethnisch diversen Landes mit der Neugestaltung des Bewusstseins und dem Wandel des Alltagslebens bzw. seiner Vereinheitlichung in den unterschiedlichen Regionen vertraut zu machen. Bildbände aus den Republiken
Im Zentrum des Auftrags der Agenturfotografen stand auch in der Nachkriegszeit die Aufgabe, die Verbindung des Nationalen mit dem Sowjetischen darzustellen.36 Die Jubi182
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
läumsbildbände zu den Geburtstagen der einzelnen Sowjetrepubliken waren in besonderer Weise dazu bestimmt, die Verbesserungen und Vorteile der sowjetischen Modernisierung zu belegen. Das Nationale in den Fotografien bestand zum einen in der Frisur (in Zentralasien etwa die schmalen Zöpfe der Mädchen) und zum anderen in der Kleidung (traditionelle Kopfbedeckung, Tracht). Dieses traditionelle Element wurde durch sowjetische Motive wie Schulbesuch oder etwa bei Mädchen Ballett aufgewogen. Die Rückständigkeit einer Kultur maß sich auf der Skala der Sowjetisierung, auf der die russische Nation am weitesten fortgeschritten war. Das Nationale wurde häufig durch traditionelle Elemente wie Pferdezucht und die Herstellung orientalischer Textilien markiert und dabei auf den Fotografien idealerweise in Bezug zu »sowjetischen« Kontexten wie Opernhäusern, Universitäten oder Kolchosen gesetzt.37 Nach dem Krieg stiegen die Ansprüche, eine reine Addition oder Gegenüberstellung reichte nicht mehr, die Fotografien sollten eine fortgeschrittene Sowjetisierung dokumentieren. So wurden etwa die Stadträume der nach dem Krieg von ethnischen Russen dominierten Regionalhauptstädte fotografisch als Orte des Miteinanders inszeniert, an denen europäisch gekleidete Slaven gemeinsam mit Einheimischen flanierten, Sportveranstaltungen besuchten oder an heißen Tagen hygienische Badeanstalten aufsuchen konnten. So ließ sich die gelungene Integration der ethnischen Republiken in das universalistische sowjetische Fortschrittsprojekt ins Bild setzen.38 Neben der Skala des Fortschritts gab es eine weitere Hierarchie, nämlich die der metaphorischen Nähe zur Metropole Moskau.39 Vertreter der peripheren Republiken wurden bei Besuchen in der Hauptstadt als »orientalische Exoten« abgebildet, beispielsweise indem der Pferdetrainer in derselben Perspektive und mit denselben Floskeln in der Bildlegende bedacht wurde wie der von ihm präsentierte Achal-Tekkiner-Hengst.40 Fotografien der Moskauer Leistungsschau VDNCh aus dem Jahr 1956 zeigen turkmenische Reiter in traditionellen exotischen Kostümen auf ebenso geschmückten Pferden. 1970 waren auf dem Ausstellungsgelände neben solchen Pferden auch usbekische Kamelreiter zu bewundern, die paarweise in ihrer exotischen Nationaltracht in der Ausstellung umherritten.41 Ab den 1960er Jahren erschienen Fotobücher zu den Republiken häufiger nicht mehr in Moskau und Leningrad, sondern in den jeweiligen Hauptstädten. Hintergrund für die selbstbewusste Herausgabe der Jubiläumsbände vor Ort war eine Politik der Regionalisierung : Nachdem die Entstalinisierung den »Orient« mit dem Despotentum verbunden hatte, kehrte der Orientalismus gegen Ende der 1960er Jahre zurück.42 Die Regionalisierung knüpfte an die Politik der korenizacija an. Durch die Stärkung der Kader in den einzelnen Republiken hatten sich in den 1970er Jahren Regionalfürsten etabliert.43 Auch in der Architektur ließ sich im Zuge dieser neo-korenizatsija ein neuer Orientalismus ausmachen.44 Die Bildbände aus den Regionen selbst präsentierten sowjetische Republiken in den eigenen Nationalsprachen und mit eigenen nationalen Identitäten, was Fragen nach den Adressaten, den Zielsetzungen und auch nach der Rolle der Kinder aufwirft. 183
Viele Völker, eine Kindheit
Abb. 5.14.–5.15 : Abbildungen in dem in dem Bildband Das sowjetische Kalmückien (Sovetskaja Kalmykija), Elista 1967 Die Städte sind modern und begrünt, eine Gruppe von Kindern läuft unter der Überschrift »Eine glückliche Zeit – die Kindheit !« lachend auf die Kamera zu. Einerseits erscheint die Kindheit hier als eine in sich abgeschlossene Welt, andererseits zeigt die Aufnahme eine ethnisch gemischte städtische Bevölkerung in der Republik. Unten bringen kalmückische Kinder Blumen nach Moskau : »In wenigen Stunden werden diese Tulpen, gepflückt von den Pionieren Kalmückiens, auf dem Roten Platz, beim Lenin-Mausoleum sein. Das ist zur Tradition geworden.« Vermutlich geht es bei dieser Art Pilgerfahrt um Feiern zu Lenins Geburtstag am 22. April, zu dem auch die Abbildung rechts unten gehört. Reisen im Rahmen von Pionierlagern, Ausflügen oder dem Besuch des Lenin-Mausoleums in Moskau wurden für eine größere Zahl an Kindern aus den Republiken des Kaukasus oder Zentralasiens erst in den 1960er Jahren selbstverständlich.
Sowjetisches Kalmückien
Der Bildband Sovetskaja Kalmykija von 1967 eröffnet mit einer Totale der modernen Hauptstadt Elista, geprägt von modernen Plattenbauten. Es folgen der moderne Flughafen, neue Wohnviertel, Industrieanlagen, eine fröhlich auf den Fotografen zurennende »sowjetische Kinderschar« (Abb. 5.14), Studentinnen im Hörsaal der Universität, hübsche junge Frauen vor Blütenzweigen, ein Pionierlager mit Zelten, ein händchenhaltendes Paar in einer verschneiten Landschaft, Kinder, die mit Tulpen für Lenin in ein Flugzeug nach Moskau steigen (Abb. 5.15), Parkanlagen in Elista, der grünen Stadt, ein Tisch voller Kinderbücher, eine Gruppe von Landarbeiterinnen und Arbeitern, die in einer Pause zur Akkordeonmusik tanzen. 184
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
Abb. 5.16 : Doppelseite in dem Bildband Das sowjetische Kalmückien (Sovetskaja Kalmykija), Elista 1967 Frauen in leuchtend bunten Kleidern pflücken auf einer Plantage Obst – halbnackte Kleinkinder sitzen in einer Kinderkrippe inmitten eines Blumenbeetes und begießen es, im Hintergrund eine weißgekleidete Betreuerin : Während die Mütter beruhigt ihrer Arbeit nachgehen können, sorgt der Staat für ihre Kinder. Außerdem zeigen die Darstellungen die sowjetische Transformation der Landschaft, das Entstehen von »Gärten in der Steppe« (sad v stepi).
Der Bildband stellte modernen Sportarten wie Motorradball (Motobol’) traditionelle Pferderennen gegenüber. Neben Chiffren der Modernisierung wie Umspannwerken, Anlagen zur Erdölförderung oder dem Eisenbahnbau standen kulturelle Errungenschaften wie Kinos, Monumente und Bibliotheken. Immer wieder waren »nationale Motive« eingestreut wie eine »verdiente Künstlerin der Kalmückischen ASSR« in Nationaltracht, Ringkämpfe, Kamelreiter oder ein Reiter auf einem sich aufbäumenden Pferd. Weitere Aufnahmen zeigen Schafe und weidende Rinder sowie eine Getreidesammelstelle der blühenden Landwirtschaft (Abb. 5.16). Boote für den Fischfang und Frauen in weißen Kitteln zwischen riesigen Stapeln von Fischkonserven machten die Bedeutung Kalmückiens für die sowjetische Lebensmittelindustrie deutlich. Ein Chirurgenteam bei der Arbeit war der Motorradproduktion zur Seite gestellt : Fortschritt und Zivilisation paarten sich mit sozialem Wohlstand. Die letzte Doppelseite zeigt Passagierschiffe und badende Kinder an der Wolga. Ein allsowjetisches Motiv waren die Kinder, die den ordensgeschmückten betagten Kriegsveteranen Blumen überreichten (Abb. 5.17). Gerade in diesem Fallbeispiel stemmte sich das Narrativ gegen alternative Überlieferungen lokaler Ereignisse und Gewalterfahrungen : Die Kalmücken waren 1943 deportiert worden, weil sie zwischen Juli und Dezember 1942 mit den Deutschen kollaboriert und kalmückische Soldaten freiwillige Einheiten der Wehrmacht gebildet hatten.45 Hintergrund waren die obrigkeitlichen Modernisierungsmaßnahmen, die zu einer anhaltenden Armut geführt hatten. Außerdem hatte die sowjetische Regierung die Religion unterdrückt und traditionelle 185
Viele Völker, eine Kindheit
Abb. 5.17 : Fotografie in dem Bildband Das sowjetische Kalmückien (Sovetskaja Kalmykija), Elista 1967 »Generaloberst und Held der Sowjetunion Oka Ivanovič Gorodvikov und seine Mitkämpferin, die legendäre Narma Šapšukova« – Kinder ehren Veteranen, die zum Sieg der Oktoberrevolution und zum Sieg über den Faschismus beigetragen hatten. Generaloberst Gorodvikov (1879–1960) hatte sich um die Verteidigung des Ufers der westlichen Dvina verdient gemacht. Narma Šapšukova (1901–1978) war 1918 Mitglied einer Partisaneneinheit und im Bürgerkrieg Teil der legendären Ersten Reiterarmee gewesen. Sie war Trägerin hoher sowjetischer Auszeichnungen.
Lebensweisen angegriffen. Das hatte einen antisowjetischen Reflex ausgelöst und zur Kollaboration mit der Deutschen Wehrmacht geführt. Nach der Rückeroberung durch die Rote Armee wurde die Kalmückische ASSR noch im Dezember 1943 aufgelöst. Erst unter Chruščëv konnten die Kalmücken zurückkehren und Kalmückien erhielt den Status eines Autonomen Gebietes zurück. Der Bildband überging die problematische Geschichte und integrierte die Kalmücken durch kanonisierte Bildmotive in das hegemoniale sowjetische Geschichtsnarrativ der Revolution, der Liebe zu Lenin, der Modernisierung, der Fürsorge und des gemeinsamen Sieges im »Großen Vaterländischen« Krieg. Sowjetisches Armenien : 1960, 1971, 1980
An den Bänden 40 Jahre sowjetisches Armenien, Jerewan 1960, 50 Jahre sowjetisches Armenien, Jerewan 1971 und Kinder Armeniens, Jerewan 1980, lassen sich die Entwick186
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
Abb. 5.18 : Doppelseite in dem Bildband 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan, 1960 Die Bildunterschriften schildern den Fortschritt des Schulwesens in Armenien : »In der 5. Klasse des Jerewaner Schulinternates Nr. 2« (links unten), »Junge Mitschurinzen bereiten Saatgut für Gemüsekulturen vor. Im vorrevolutionären Armenien gab es nur 13 Mittelschulen, heute gibt es 1200 Schulen, in denen über 300.000 Mädchen und Jungen lernen« (links oben) und : »In der Jerewaner Čarenc-Schule wird der Gebrauch des Mikroskops erlernt« (rechts).
lungslinien sowjetischer fotografischer Selbstdarstellung anhand der Kinderaufnahmen exemplarisch verfolgen.46 Der Band 40 Jahre sowjetisches Armenien illustrierte die sowjetische zivilisatorische Mission anhand von Vorher/Nachher-Argumenten, etwa am Beispiel der Schule (Abb. 5.18), und betonte den Aufbau sowjetischer Institutionen für Kinder auch in ländlichen Regionen. Dabei spielten die Institutionen zur Vermittlung klassischer europäischer Bildung und Kultur eine zentrale Rolle. Armenische Spezialitäten und die Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion (Cognac, Tabak, Aprikosen) wurden neben der sowjetischen Überformung der Hauptstadt, deren Silhouette bis 1962 eine monumentale Stalin-Statue beherrschte,47 der Industrialisierung, dem sozialen Wohlstand (Schulen, Krippen, Geburtshäuser, Wohnbauten) und der Pflege der klassischen Hochkultur (Konzerte, Ballett), der Populärkultur (Turnfeste, Feuerwerke) sowie neuer Errungenschaften wie dem Fernsehen gepriesen. 187
Viele Völker, eine Kindheit
Abb. 5.19 : Fotografie in dem Bildband 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan, 1960 Abb. 5.20 : Semën Fridljand (1905–1964), Fotografie, Moskau, 1950er Jahre
Die Bilder zeigen, dass die armenischen Sowjetbürger teilhatten an den Errungenschaften der sowjetischen Moderne, an den schönen neuen Städten und ihren Freiräumen. Die Übereinstimmung der Motive des Kindes mit Dreirad vor Wasserspiel und neuer neoklassizistischer Stadtkulisse weist auf die Kanonisierung solcher Bildformeln hin (Abb. 5.19 und 5.20). Armenien erschien in diesem Bild ebenso »sowjetisch« wie Moskau. Die Fotobücher, die im Russischen wegen ihrer Jubiläumsfunktion »Paradealben« genannt werden, betonten am Beispiel der Provinzen den Zusammenhalt und die Harmonie des Ganzen, der Sowjetunion und ihrer Völker. Dabei war der armenische Nationalpatriotismus ein dauernder Konfliktherd. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die gewährten nationalen Freiheiten erneut beschnitten. Lavrentij P. Berijas (1899–1953) Sprachenpolitik, die in der Armenischen Sowjetrepublik sehr populär war, führte nach dessen Verurteilung 1953 zu Repressionen gegen armenische Schriftstellerinnen wie Syl’va Kaputikjan (1919–2006). Im frühen Tauwetter wurden diese jedoch rehabilitiert und auch nationale Interessen und Kulturen erhielten wieder mehr Spielräume.48 Unter Chruščëv blühte die Armenische ASSR auf. Anastas Mikojan, Mitglied des Politbüros und selbst Armenier, unterstützte den kulturellen Aufschwung. Die Sowjets machten Je188
Die »sowjetische Kindheit« als imperiales Projekt
Abb. 5.21 : Fotografien in dem Bildband 50 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 50 let), Jerewan 1971 Die »Hornisten« bildeten ein Standardmotiv bei den Darstellungen auch der armenischen Pioniere. Rechts sind »Kinder von Auslandarmeniern im Kirovakansker Lager« zu sehen, dem »armenischen Artek«.
rewan zur armenischen Hauptstadt und bauten die Stadt in den 1950er und 1960er Jahren um. Die Antikisierung sollte historische territoriale Ansprüche legitimieren, auch in Dichtung und Architektur – Jerewan wurde zum mythischen Zentrum der armenischen Kultur stilisiert. 1957 wurde in dem Berg unter der Stalin-Statue ein eigenes Archiv für kostbare armenische Handschriften (Matedanaran) eingeweiht.49 Neben der sowjetischen Moderne wurde die armenische Antike gefeiert. Im Band 50 Jahre sowjetisches Armenien von 1971 trat die erneute Politik der Regionalisierung deutlich in Erscheinung : Dafür sprechen nicht nur Erscheinungsort und Sprache, sondern auch die Herausgeberin : Syl’va Kaputikjan war die bekannteste armenische Schriftstellerin der Zeit. Der Bildband betont die klassische armenische Hochkultur, die armenische Sprache und ihre Dichtung, antike Überreste, moderne armenische Musik und Architektur. Diese Wertschätzung wurde mehrfach durch Aufnahmen von »Sowjetkindern«, meist Schülerinnen in Uniform, vor antiken Kulturdenkmälern ins Bild gesetzt. Diese Schülerinnen verkörpern die »alte« armenische Nation im sowjetischen Gewand der Gegenwart. Ihre künftige Deutung der armenischen Geschichte und Kultur sei, so die Botschaft, eine sowjetische Deutung.50 Im sowjetischen Jerewan vermählten sich armenische und sowjetische Geschichte, Antike und Moderne, die Stadt war alt und jung zugleich. 189
Viele Völker, eine Kindheit
Abb. 5.22–5.23 : Fotografien im Bildband Die Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980 Es ist das universelle, das »romantische Kind«, das in diesen Aufnahmen gezeigt wird, einmal in der intimen häuslichen Umgebung und einmal in der Natur.
Die Verbindungen zur Diaspora wurden wieder aufgenommen, und viele Exilarmenier besuchten die Heimat als Touristen. Im Buch 50 Jahre sowjetisches Armenien von 1971 zeigen zwei Aufnahmen die Ankunft von Repatrianten mit dem Schiff in Odessa und das Betreten armenischen Bodens nach der Zugfahrt. Nachdem eine erste Kampagne zur Repatriierung von Armeniern in den Jahren 1946–1949 aufgrund sozialer und politischer Probleme eingestellt worden war, gab es in den 1960er Jahren weitere kleinere Repatriierungsaktionen sowie Besuchs- und Bildungsangebote für Diasporaarmenier.51 Ein Beispiel zeigt die Aufnahme »Kinder von Auslandarmeniern im Kirovakansker Lager Armenisches Artek« (Abb. 5.21). Insgesamt kamen in den 1960er Jahren ca. 20.000 190
Kinder als Vehikel der Integration
Repatrianten, viele im Rentenalter, während über 9000 der früheren Heimkehrerinnen und Heimkehrer wieder ausreisten.52 Der Band Deti Armenii von 1980 war ganz den Kindern gewidmet. Er zeigt zunächst Einzelaufnahmen, dann auch Gruppen spielender Kinder, die auf den ersten Blick weder armenisch noch sowjetisch wirken, sondern eher die universelle Kindheit und »das Kind« zum Thema haben, das die Welt entdeckt. Die Bilder ähneln privaten Schnappschüssen aus Familienalben, aber auch der Reportagefotografie, die vermehrt die Kinderperspektive einnahm (Abb. 5.22 und 5.23). Erst ab dem zweiten Drittel des Bandes finden sich Aufnahmen von »Sowjetkindern« in Schuluniformen, Momentaufnahmen aus Schulen oder von Pionieren, aber auch Veranstaltungen. Dabei stehen sowjetische neben armenischen Motiven.
Kinder als Vehikel der Integration
Im Fotoband Sovetskaja Detvora von 1936 wurden grundlegende Bildformeln für die Darstellung sowjetischer Kinder und sowjetischer Kindheit entwickelt. Der Band Deti strany sovetov (Kinder aus dem Land der Sowjets) aus dem Jahr 196253 zeigt einerseits, dass die Bildformeln, die in den 1930er Jahren geprägt worden waren, ihre Gültigkeit ebenso behielten wie das Medium des Fotobuches. Andererseits belegt er auch den Wandel der Bildsprache und eine Verschiebung der Schwerpunkte in Richtung Alltag und Verheißung privaten Glücks. Deutlicher als der ältere Band wendet sich dieses Buch auch an die Kinder selbst : Als Erstes springt die bunte grafische Gestaltung ins Auge, die an Bilderbücher erinnert. Die zahlreichen Fotos sind wie in einem Familienalbum unregelmäßig auf den Seiten verteilt. Es gibt einige »Postkarten«, ganz wie im Familienalbum kombiniert mit niemals retuschierten »Schnappschüssen« oder Reportagefotografien. Die Doppelseiten sind mit Farbtupfern und scherenschnittartigen Illustrationen unterlegt, im Stil von Kinderbüchern der 1960er Jahre. Kurze Texte erläutern die Themen der jeweiligen Doppelseiten. Die Dramaturgie der Darstellung folgt dem Verlauf einer typisch sowjetischen Kindheit von der Geburt bis zum Schulabschluss in Bildern aus allen Regionen und handelt dabei verschiedene Themen und Errungenschaften auf einzelnen Doppelseiten ab. Das Leitbild war das blauäugige, blonde Kind. Die Fürsorge genossen jedoch die Kinder aller sowjetischen Völker. Bilder zeigen den Beginn der sowjetischen Kindheit im Geburtshaus unter den Augen des geschulten Personals und die Nachsorge durch die Kinderschwester zu Hause in Usbekistan. Der Text weist auf die steigende Zahl der zur Verfügung stehenden Geburtshäuser, Ambulatorien und Kinderkliniken hin. Im Bild sind sowohl »Sowjetkinder« als auch »Folklorekinder« zu sehen : Neben die Aufnahme einer Musikgruppe in Nationaltracht wurde die eines Puppentheaters als Errungenschaft sowjetischer Kinderkultur platziert. Alle sowjetischen Kinder kannten Buratino, 191
Viele Völker, eine Kindheit
die sowjetische Version des Pinocchio, der den Kindern aus der unteren Ecke der Seite zuwinkte. Eine Doppelseite stellt einen typischen Tag im Leben einer Familie in einer modernen sowjetischen Stadt dar. Nach der Arbeit holte die Mutter das Kind von der Krippe ab und spazierte mit ihm nach Hause. Den Abend verbrachte die Familie inklusive Oma gemeinsam rund um den Tisch bei Hausaufgaben, Lektüre und Strickarbeit. Aufnahmen von Familienwohnungen und des gut ausgestatteten Kinderkaufhauses Detskij mir betonen den Wohlstand, der auch den Kindern zugutekam. Das Emotionale der Familienbeziehungen stand auf diesen Seiten im Vordergrund. Kinder sollten geliebt und verwöhnt werden. Die Kinder der Sowjetunion, so suggerierte es der Band Kinder aus dem Land der Sowjets von 1962, wurden alle unter hygienischen Bedingungen geboren und medizinisch betreut und erfuhren dieselbe Erziehung in Krippen und Bildung in Schulen (Abb. 5.24– 5.26). Sie lasen dieselben Geschichten, spielten mit denselben Spielsachen, trugen dieselben Schuluniformen und Pionierhalstücher, verbrachten den Sommer im Pionierlager und begingen am 1. September feierlich den ersten Schultag. Am Ende des Buches sind sie zu fröhlichen und zuversichtlichen Sowjetmenschen herangewachsen. Die Grundaussagen der Bände von 1936 und 1962 waren dieselben : Erstens hatten es die Kinder nirgends so gut wie in der Sowjetunion, wo der Staat sich um sie kümmerte. Zweitens verlief die sowjetische Kindheit im ganzen riesigen Land im Grunde gleich. Aber die Darstellungsweise und die Akzente hatten sich deutlich verschoben. Das Gewicht lag 1962 weniger auf der Peripherie als 1936, das Landleben blieb gänzlich ausgespart. Die sowjetische Kindheit erschien im Bild urban und konsumorientiert. Die Szenen mit Pionieren waren weniger aktivistisch, es waren keine Paraden und Umzüge zu sehen. Die Pioniere genossen ihre Freizeit in der Natur, die Aufnahmen stellten Erholung und Lagerromantik ins Zentrum. »Sowjetkinder« waren die Regel, »Folklorekinder« die Ausnahme. An der Präsenz von Kindern in den Fotobüchern auch jenseits kindbezogener Themen zeigt sich der Symbolcharakter von Kindern, die Wohlstand und Zukunft verkörperten. Die Bände zeigen auch, dass Kinder ein zentrales Element der sowjetischen Nationalitätenpolitik waren. Das sowjetische Klassenzimmer wurde zum Mikrokosmos des sowjetischen imperialen Projekts und im Bild zum Zeichen der Modernisierung auch ländlicher und peripherer Gebiete. Zugleich suggerierten die Kinderbilder eine universelle sowjetische Kindheit und versprachen somit den Neuen Menschen und das Sowjetvolk in naher Zukunft. Bilder von Kindergärten und Krippen, von glücklichen, spielenden Kindern in Wochenschauen und Dokumentarfilmen,54 in Fotobüchern oder auf Postkarten erweckten den Eindruck, dass von Karelien bis Zentralasien alle Kinder im Grunde dieselben Bedürfnisse hatten und der Staat ihnen allenthalben seine Fürsorge angedeihen ließ. In der Stalin-Zeit wurde aufgrund ihrer synthetischen Möglichkeiten die Malerei bevorzugt, um die »Idee der Sowjetunion« zu vermitteln. Der spätere Einsatz von Fotobüchern allerdings bediente sich des dokumentarischen »Vorteils« der Fotografie, die 192
Kinder als Vehikel der Integration
Abb. 5.24–5.26 : Illustrationen im Bildband Kinder im Land der Sowjets (Deti strany sovetov), Moskau 1962 Der Schulbeginn am 1. September war ein Feiertag und ein in der gesamten Sowjetunion einheitlich begangenes Ritual : Schuluniform, Blumen und Schleifen gehörten dazu (vgl. Abb. 3.1). Die Postkarte oben im Bild (Abb. 5.24) hat diesen Wiedererkennungswert, die anderen Aufnahmen betonen den allsowjetischen Charakter des Tages. Dem Ferienlager Artek, der Freizeit mit Pionieraktivitäten und dem Sport sind weitere Seiten gewidmet (Abb. 5.25). Zum Schulabschluss gingen Mädchen in Festkleidern zum Ball, man spazierte die ganze Nacht durch Moskau und war bei Tagesanbruch auf dem Roten Platz. Hier im Hintergrund der Kreml, im Vordergrund auffliegende (Friedens)Tauben (Abb. 5.26.). Es handelt sich um eine bekannte Aufnahme des Tauwetterfotografen Vladimir Lagranž.
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Viele Völker, eine Kindheit
beglaubigenden Charakter hat. Einerseits war in diesen Bildbänden die Darstellung der (angestrebten) »Realität« gefordert, andererseits wurden das Regionale und die ethnischen Besonderheiten durch die Doktrin der Bruderschaft der Sowjetvölker eingeschränkt. Aus diesem Grund war die Darstellung von Institutionen wie beispielsweise den Vorschuleinrichtungen in den verschiedenen Regionen darauf getrimmt, das Gesamtsowjetische zu betonen.55 Regionale Unterschiede erhielten in den Bildern nur eine marginale Rolle.56 Innerhalb dieser Grenzen spielte in den Bildern die kollektive Erziehung der Kinder in Verbindung mit dem Thema der glücklichen Mutterschaft eine wichtige Rolle. Daher gab es in allen untersuchten Bildbänden rührende Gesichter kleiner Kinder, Gruppen von Kindern an der frischen Luft, lächelnde Frauen und hygienische Räumlichkeiten für die Kinderbetreuung, unterstrichen durch die Allgegenwart der Farbe Weiß : Weiß waren die Wände, die Kittel und Kopftücher der Erzieherinnen, die Bettwäsche, die Windeln und Servietten, die Hemdchen und Hütchen der Kinder. Die Kinder in Fotobüchern und Bildzeitschriften waren klein und glücklich, süß und drollig, geboren in modernen Krankenhäusern, aufgezogen in hygienischen Krippen. Die etwas größeren Kinder lernten fleißig in den Schulen, um später in der modernen Landwirtschaft, der Industrie oder einer der Universitäten und Forschungseinrichtungen zu arbeiten. Sie trugen Schul- und Pionieruniformen, besuchten ordentliche Schulen und konnten ins Pionierlager, Ballett tanzen und Instrumente der klassischen europäischen Hochkultur wie Geige und Klavier lernen, aber auch in nationalen Kostümen Folkloretänze aufführen. Die zentrale Botschaft lautete : Die Sowjetunion ist groß und weit, aber alle Kinder sind gut umsorgt und erhalten dieselben Chancen auf eine gute Ausbildung. Die Kinder symbolisierten dadurch den Zusammenhalt des Landes, die Praxis knüpfte an die Vorstellungen vom im Grunde überall gleichen, universellen, »romantischen Kind« an. Die Kinder wurden zu einem Vehikel der Integration, in ihnen wurde das Sowjetvolk vorgestellt. Dies galt sowohl für die Jubiläumsbände der einzelnen Republiken als auch für die gesamtsowjetischen Prachtbände. Die sowjetischen Errungenschaften der Modernisierung, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Wohlfahrt für alle in Bildung, Gesundheitswesen und Fürsorgeinstitutionen wurden systematisch als alle sowjetischen Regionen umfassend dargestellt. Dabei fällt auf, dass in den 1970er und 1980er Jahren Darstellungen des »universellen« und des »romantischen« Kindes zunahmen. Der Stil der Aufnahmen glich immer mehr privaten Schnappschüssen. Neben das eindeutig Sowjetische trat die Verheißung privaten Glücks.
Anmerkungen 1 Jörg Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion, in :
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Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47 (1998), S. 482–504. Speziell zu Zentralasien auch : Christian Teichmann, Cultivating the Periphery.
Anmerkungen
Bolshevik Civilizing Missions and Colonialism in Soviet Central Asia, in : Comparativ 19 (2009) H. 1, S. 34–52. Ursula Lehmkuhl, Ambivalenzen der Modernisierung durch Kolonialismus, in : Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012) H. 44–45, S. 44–50. 2 Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, S. 301 f. 3 Peter A. Blitstein, Nation and Empire in Soviet History, 1917–1953, in : Ab Imperio (2006) H. 1, S. 197–219, hier S. 200 f.; Jörg Baberowski, Stalinismus und Nation. Die Sowjetunion als Vielvölkerreich 1917–1953, in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006) H. 3, S. 199–213, hier S. 203. 4 Loraine de La Fe, Empire’s Children. Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami 2013, S. 44. 5 Ebd., S. 27. 6 Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca, N.Y. 2005, S. 5. 7 Baberowski, Stalinismus und Nation (Anm. 3), S. 202 ; Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca, N.Y. 2001. 8 Baberowski, Stalinismus und Nation (Anm. 3), S. 207. 9 Imperium/imperial verstehe ich als eine »relationale Kategorie«, die der Untersuchung von kulturellen Herrschaftspraktiken innerhalb eines Herrschaftsbereichs dient. Imperien sind multinational und damit heterogen. Mit dieser Vielfalt müssen sie umgehen. Wie sie das tun, aber auch die Frage nach horizontalen Interaktionen auf allen Ebenen, nach offenen und verwischten Grenzen, nach Identitäten und Loyalitäten ist Gegenstand der aktuellen Imperienforschung. Wesentliche Merkmale sind innere Machtgefälle und die Herrschaft des Zentrums über »Eigene« und »Andere« durch bestimmte kulturelle Praktiken. 10 Den Begriff der Heterotopie prägte Michel Foucault. Gemeint sind abgetrennte, ideale Räume jenseits der alltäglichen Aufenthaltsorte, Räume, die eine besondere Ordnung und eine in sich geschlossene Logik aufweisen und in denen Menschen ihren Alltag verlassen können. Dies
können Schiffe und Züge, Vergnügungspärke, Klöster, aber auch Lager, Gefängnisse, psychiatrische Anstalten oder Friedhöfe sein. Michel Foucault, Andere Räume, in : Manfred Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, S. 65–72, hier S. 71 f. 11 Die Interpretation folgt Catriona Kelly, Riding the Magic Carpet. Children and Leader Cult in the Stalin Era, in : The Slavic and East European Journal 49 (2005) H. 2, S. 199–224, hier S. 205 f. 12 Francine Hirsch, Getting to Know »The Peoples of the USSR«. Ethnographic Exhibits as Soviet Virtual Tourism, 1923–1934, in : Slavic Review 62 (2003) H. 4, S. 683–709, hier S. 694. 13 Monica Rüthers, Moskau als imperiale Stadt. Sowjetische Hauptstadtarchitektur als Medium imperialer Selbstbeschreibung in vergleichender Perspektive, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008) H. 4, S. 481–506. 14 Greg Castillo, Peoples at an Exhibition. Soviet Architecture and the National Question, in : South Atlantic Quarterly 94 (1995) H. 3, S. 715–746 ; Felix Driver/David Gilbert (Hg.), Imperial Cities. Landscape, Display and Identity, Manchester 1999 ; Rüthers, Moskau als imperiale Stadt (Anm. 13). 15 Michail Ryklin, Ort der Utopie, in : ders. (Hg.), Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt a. M. 2003, S. 134–148, hier S. 137 f. 16 Patricia A. Morton, Hybrid Modernities. Architecture and Representation at the 1931 Colonial Exposition, Paris, Cambridge 2000, S. 17 und 89 ; Castillo, Peoples at an Exhibition (Anm. 14), S. 719. 17 Josef Wissarionowitsch Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1953 ; Blitstein, Nation and Empire in Soviet History, 1917–1953 (Anm. 3), S. 211. 18 Evgeny A. Dobrenko, The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era, in : Evgeny A. Dobrenko/Eric Naiman (Hg.), The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, Seattle 2003, S. 163–200, hier S. 169. 19 Ebd., S. 171. 20 Zur Symbolik von Stalin als Vaterfigur vgl. auch Anita Pisch, The Personality Cult of Stalin in Soviet Posters 1929–1953. Archetypes, Inventions, and Fabrications, Acton, Australien 2016,
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Viele Völker, eine Kindheit
S. 225–236 ; Jan Plamper, Georgian Koba or Soviet »Father of Peoples«, in : Balázs Apor/Jan C. Behrends/Polly Jones/Edward A. Rees (Hg.), The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc, Basingstoke 2004, S. 123–140 ; Jan Plamper, Stalinkult und Ethnizität. »Koba« : Georgier oder Vater der Völker ?, in : Osteuropa 65 (2015) 7–10, S. 129–149. 21 Ol’ga Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke, Moskau 2017, S. 158. 22 Marina Balina, Introduction Part II. Fairy Tales of Socialist Realism, in : Marina Balina/Helena Goscilo/Mark Lipovetsky (Hg.), Politicizing Magic. An Anthology of Russian and Soviet Fairy Tales, Evanston, Ill. 2005, S. 105–121, hier S. 105 und 107. 23 Helena Goscilo, Introduction Part I. Folkloric Fairy Tales, in : Balina/Goscilo/Lipovetsky, Politicizing Magic (Anm. 22), S. 5–21, hier S. 7. 24 Čudesnyj kamen’. Chudož. O. Zotov, Nacherzählung G. Naumenko. Moskau 1981. 25 Die in der Parteileitung umstrittene Frauenabteilung (russ. ženotdel’) wurde 1918 gegründet, federführend waren Alexandra Kollontaj und Inessa Armand. Armand leitete die Abteilung. (Carmen Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich 2002, S. 46 u. 52). Die ženotdely wurden 1930 geschlossen. 26 Ebd., S. 53. 27 Ebd., S. 185. 28 Im Februar 1937 starb Ordžonikidze ganz plötzlich, nachdem er sich mit Stalin überworfen hatte. Die Todesursache ist umstritten, in Frage kommen Mord oder Selbstmord, um der Verhaftung zu entgehen. 29 Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus (Anm. 25), S. 187–192. 30 Timothy Nunan, A Union Reframed. Sovinformbiuro, Postwar Soviet Photography, and Visual Orders in Soviet Central Asia, in : Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 17 (2016) H. 3, S. 553–583, hier S. 570. 31 La Fe, Empire’s Children (Anm. 4), S. 70. 32 Ebd., S. 47. 33 Nunan, A Union Reframed (Anm. 30), S. 567.
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34 Baberowski, Stalinismus und Nation (Anm. 3), S. 209. Blitstein und Martin sehen darin einen Bruch oder »Rückzug« von den antikolonialen Grundsätzen der 1920er Jahre, Hirsch eher eine konsequente Weiterentwicklung hin zu einer herrschaftstechnischen Vereinfachung durch die selektive Reduktion der Zahl genehmer Nationalitäten. 35 Blitstein, Nation and Empire in Soviet History, 1917–1953 (Anm. 3), S. 212 f. Die kul’turnost’Kampagne versuchte ebenfalls, einheitliche, sowjetische Hygienevorstellungen durchzusetzen (vgl. dazu Vadim Volkov, The Concept of Kul’turnost’. Notes on the Stalinist Civilizing Process, in : Sheila Fitzpatrick (Hg.), Stalinism. New Directions, London 2000, S. 210–230). 36 Die Politik von Sovinformbjuro in der Nachkriegszeit hat Timothy Nunan am Beispiel des sowjetischen Zentralasien untersucht, allerdings ohne auf die im fotografischen Kontext zentrale Rolle der Fotobücher einzugehen (er erwähnt nur die illustrierten Zeitschriften) : siehe Nunan, A Union Reframed (Anm. 30). 37 Ebd., S. 570. 38 Ebd., S. 571. 39 Katerina Clark, Socialist Realism and the Sacralizing of Space, in : Dobrenko/Naiman, The Landscape of Stalinism (Anm. 18), S. 3–18. 40 Nunan, A Union Reframed (Anm. 30), S. 574. 41 Central’nyj gosudarstvennyj archiv goroda Moskvy (CGA Moskvy), Otdel chranenija audiovizual’nych dokumentov, R : Sel’skoe Chozjajstvo, VDNCh, Neg. Nr. 1–48, AЦ–233, 1–20561 (1956) ; 0–110234, 0–110235 (1970). 42 Greg Castillo, Soviet Orientalism. Socialist Realism and Built Tradition, in : Traditional Dwellings and Settlements Review 8 (1997) H. 2, S. 33–47, hier S. 44. 43 Boris Belge/Manfred Deuerlein, Einführung. Ein goldenes Zeitalter der Stagnation ? Neue Perspektiven auf die Brežnev-Ära, in : dies. (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation ? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 1–35, hier S. 23 f. 44 Castillo, Soviet Orientalism (Anm. 42), S. 44. 45 Es gab auch Kalmücken-Rotarmisten, die loyal blieben. Deportiert wurden jedoch nach der Demobilisierung auch sie. Vgl. K. N. Maksi-
Anmerkungen
mov, Sovetskie Kalmyki na frontach Velikoj Otečestvennoj Bojny i v deportacii [Sojwetische Kalmücken an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges und während der Deportation], in : Voprosi istorii (2012) H. 6, S. 77–92. 46 S. M. Manasjan/M. K. Martikjan (Hg.), 40 let Sovetskoj Armenii, Jerewan 1960 ; Syl’va Kaputikjan Sovetskaja Armenija za 50 let, Jerewan 1971 ; G. L. Artakjan (Hg.), Deti Armenii, Jerewan 1980. 47 Maike Lehmann, Eine sowjetische Nation. Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945, Frankfurt a. M 2011, S. 118. Die Statue ist im Band 40 let Sovetskoj Armenii von 1960 abgebildet. 48 Ebd., S. 175–179, 186 und 196. 49 Ebd., S. 120. 50 Ebd., S. 216. 51 Ebd., S. 78.
52 Ebd., S. 264–268. 53 Während die Bände der 1930er Jahre von Mikhail Karasik als Genre beschrieben und in wesentlichen Teilen katalogisiert und erschlossen sind, fehlen vergleichbare Publikationen zu den 1960er bis 1980er Jahren. 54 Julija Gradskova, »Nigde tak ne oberegajut detstvo, kak v našej strane«. Doškol’nye učreždenija v sovetskom dokumental’nom kino, 1946–1960–e gody, in : Elena R. JarskajaSmirnova/Pavel V. Romanov (Hg.), Vizual’naja antropologija. Režimy vidimosti pri socializme, Moskau 2009, S. 359–370, hier S. 364. 55 Ingeborg Baldauf, Tradition, Revolution, Adaption. Die kulturelle Sowjetisierung Zentralasiens, in : Osteuropa 57 (2007), S. 99–119. 56 Gradskova, »Nigde tak ne oberegajut detstvo, kak v našej strane« (Anm. 54), S. 362.
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6 Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
Die zentralen Topoi sozialistischer Kindheit fanden ihren Ausdruck in Pathosformeln, Typisierungen und Attributen, aber auch in spezifischen Motivverbindungen und Motivkonjunkturen. Die Geschichte sowjetischer Kinder im Bild unterlag mediengeschichtlichen Einflüssen und Verschiebungen, und sie wies Brüche und Kontinuitäten ebenso auf wie Widersprüche. So waren in den heterotopischen Darstellungen die Kinder in Pionierlageralben, in Malerei und Fotografie als Gruppen »freier Kinder« dargestellt. Erwachsene blieben völlig ausgeblendet, um das Bild der Gesellschaft der Zukunft nicht zu stören. In der Realität, die unter anderem aus der Ratgeberliteratur, aus Gesprächen mit Erzieherinnen und aus Erinnerungen hervortritt, waren die Kinder durch ihre Einbindung in sowjetische Institutionen und durch den konventionellen Erziehungsstil in hohem Maß von Erwachsenen kontrolliert und gelenkt. Die Kindheitserinnerungen an die postsowjetisch zum »goldenen Zeitalter« verklärten sowjetischen 1970er Jahre heben im Allgemeinen den bescheidenen Wohlstand hervor.1 Inzwischen gehörte das Fernsehen zum Inventar, und Kindersendungen sind heute fester Teil der Erinnerungen an die Sowjetunion. Im Sommer war man im Pionierlager, bei Verwandten auf dem Land oder mit der Oma auf der Datscha. Es gab Unterschiede zwischen größeren und kleineren Städten im Bereich der Kultur- und Freizeitangebote, Arbeiterkinder wurden eher geschlagen, aber insgesamt sind die Erinnerungen an die glückliche Kindheit in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren kohärent und stehen im starken Kontrast zu den Kindheiten der 1930er, 1940er und 1950er Jahre, die von Mangel und Not geprägt waren.2 Doch dieses Bild des Durchschnitts ist unvollständig. Das vorliegende Kapitel widmet sich den Unebenheiten, Widersprüchen und ironischen Brechungen, die sich in den Bildern zeigen. Auf einen kurzen Überblick über kanonische Bildformeln folgt die Frage nach den Kindern, die nicht gezeigt wurden und die sich in den Bildern der glücklichen sowjetischen Kindheit nicht wiedererkennen konnten : Wo blieben die »bösen«, die kranken oder in anderer Weise nicht perfekten Kinder ? Eine Suche fördert durchaus Bilder solcher Kinder zutage. Doch diese entstanden einerseits im Ausnahmezustand des Krieges, andererseits im Zusammenhang fotokünstlerischer Neuinterpretationen des Sozialistischen Realismus und der sozialdokumentarischen Fotografie. Hier kommen alternative Erzählungen und Gegenerzählungen zum offiziellen Glücksnarrativ zum Vorschein. Denn im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass die im Zuge dieser »glücklichen Kindheit« gemachten Versprechen nicht eingelöst wurden. Das blieb nicht ohne Resonanz. Manche Erwachsene eigneten sich die ausstaffierten Kinderwelten als Fluchträume oder für kreative Gegenentwürfe an. Die kanonisierten, allgegenwärtigen Bilder der glücklichen Kindheit drängten sich für subversive Aktionen geradezu auf. In den 1970er Jahren wurden sie zum Gegenstand künstlerischer Ausein198
Der sowjetische Kanon : Typen, Posen, Pathosformeln
andersetzung. Filme variierten am Beispiel der Pionierlager ironisch-liebevoll das Motiv der »Sowjetunion im Kleinen«, während andere Künstler die Zeichenwelten der Pioniere aufs Korn nahmen, sich selber als Kinder inszenierten oder sich kindisch benahmen. Doch die Fluchträume beschränkten sich nicht auf ästhetische oder imaginäre Räume. Alexei Yurchak hat in seiner Studie gezeigt, dass große Teile der Gesellschaft sich zwar im Alltag konform verhielten und die von ihnen erwarteten Rollen einnahmen. Genau das verschaffte ihnen aber die Möglichkeit und die Räume, ihre eigenen Interessen innerhalb der Strukturen des »entwickelten Sozialismus« zu verfolgen. Es gab viele Gelegenheiten, dem Alltag zeitweise zu entkommen, ohne zum »Aussteiger« oder Nonkonformisten zu werden und sich Probleme einzuhandeln.3 So bot sich sowjetischen Frauen durch ein Engagement im Pionierlager eine seltene Möglichkeit, ihrem Alltag zu entfliehen. Eine zweite Form der Aneignung fand über die pädagogische Schiene statt : Einzelne Pädagogen und in ihrem Gefolge immer mehr Familien erzogen ihre Kinder lieber selber, als sie den staatlichen Institutionen zu überlassen.
Der sowjetische Kanon : Typen, Posen, Pathosformeln
Hinter der sowjetischen Pädagogik standen widersprüchliche Vorstellungen vom Wesen des Kindes : Zum einen waren Kinder unverdorben und nahe an den »natürlichen« Wurzeln der Menschheit, andererseits mussten sie doch angeleitet und gelenkt werden, um zu nützlichen Staatsbürgern heranzuwachsen. Die entwicklungspsychologische Theoriebildung im Zuge der Erziehungsreformen unter Chruščëv vertrat die Ansicht, dass Kinder eine behütete, autonome Kinderwelt brauchten, um sich optimal entwickeln zu können. Das Paradies der heilen Kinderwelt mit dem anerkannten Recht auf eigene Fantasiewelten war Ende der 1950er Jahre fest etabliert.4 Grundsätzlich lassen sich Darstellungen von Kindern in Institutionen und Darstellungen von Kindern jenseits der Institutionen unterscheiden. Die Kinder in Institutionen waren ab dem Schulalter als »Staatskinder« dargestellt, sie trugen in der Regel eine Uniform, hatten eine Aufgabe und trugen einen Habitus zur Schau : der Pionier mit der Fanfare, das Schulmädchen in Uniform mit Haarschleifen, Blumen und Schultasche. Die Kinder jenseits der Institutionen waren als »romantische Kinder« entweder kontemplativ in die Natur gebettet, oder sie befanden sich in einem privaten Interieur, sahen verträumt aus dem Fenster, lasen oder spielten. Auf einer allegorischen Ebene sind »kleine Erwachsene« einzuordnen, die ein beliebtes Postkartenmotiv der Chruščëv-Zeit bildeten. Dazu gehörten neben dem »Folklorekind« im Nationalkostüm beispielsweise der KindKosmonaut als Lichtgestalt, Allegorie und Fortschrittssymbol, oder der kleine Kranführer als (künftiger) Erbauer des Kommunismus.5 Der relativ begrenzte Kanon an Motiven ging mit einer medialen Differenzierung einher : Momentaufnahmen in der Fotografie, Idealisierung in der Malerei, massenhafte Verbreitung auf Briefmarken, Postkarten, Pla199
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
katen, in Zeitschriften und Zeitungen, Film und Fernsehen. Topoi regierten auch die Welt der Kinderfotografie, und zwar nicht nur in den Fotobüchern, sondern bis in die privaten Bildpraktiken und Fotoalben hinein, in denen die rituellen Aufnahmen aus dem Fotoatelier neben den Schülerportraits in Uniform mit Haarschleife und schließlich den Fotos »zum Andenken« (na pamjat’) zu sehen sind, die man zum Schulabschluss austauschte.6 Zum Kanon der Motive gehörten die »künftigen« Piloten, Kapitäne und Champions, die, noch Kinder, träumerisch in die Ferne blickten oder, noch spielerisch, erste Versuche wagten. Ihnen gehörte die Zukunft, und diese war als Fortschritt des ganzen Landes imaginiert, mit Spitzenleistungen der Neuen Menschen am körperlichen Limit im Sport, an der menschlich-technischen frontier der Fliegerei oder der Seefahrt. Die »Künftigen« standen immer in Verbindung mit »Landschaft«, Wasser und hellem, weitem Himmel. Ein weiteres kanonisches Motiv, tief in der christlichen Ikonografie verwurzelt, war die Mutter mit Kind. Die Mütter mit Kindern waren Variationen der Madonnenmotive und ein starker Archetyp. Die Kinder wurden im sowjetischen Kontext meist blond und halbnackt als Heilsbringer und Zukunftsträger dargestellt. Der mit Symbolen und Attributen angereicherte Hintergrund suggerierte häufig mithilfe von Blüten und Blumen einen Garten Eden. Es gab einen festen Kanon von Kompositionen und Requisiten, der allgemein verstanden wurde : Blühende Zweige und Kinder verschiedener »Farben« beispielsweise deuteten auf den Frieden und die Freundschaft als Thema hin. Die für Kinderdarstellungen typischen Beigaben von Blumen und Natur bezogen sich auf die Vorstellung vom Kind als natürlicher Urzustand des Menschen, aber auch auf den Frühling (in Analogie zur aufgehenden Sonne) als junges Lebensalter und Verheißung. Der blühende Obstgarten lässt sich auch als Metapher für die Sowjetunion als Garten Eden deuten. Kind und Kosmos, technischer Fortschritt, Wohlstand, Konsum
Im sowjetischen Kontext kam in den späten 1950er Jahren die Verbindung von Kindheit mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt hinzu : Motivverbindungen von Kindern mit Technik, vor allem als Kosmonauten, verwiesen auf propagandistisch genutzte Verheißungen von (beschleunigtem) Fortschritt, Konsum und Wohlstand. Das Thema war allgegenwärtig, und der Aufbruch in den Kosmos verhieß zugleich einen Neubeginn der Menschheit. In diesem Kontext wurde der Kind-Kosmonaut wiederum zum Heils- und Friedensbringer stilisiert. Das »allegorische« Kind im Kosmos, der »Kind-Kosmonaut« hatte Attribute des göttlichen Kindes : Die den Gagarin-Porträts nachempfundenen Kindergestalten trugen den Helm wie einen Heiligenschein und waren häufig von hinten erleuchtete, »lichte« Gestalten. Sie waren jenseits sozialer Beziehungen dargestellt, manchmal mit den Hunden Belka und Strelka, die als Erste lebend von einem Ausflug in den Kosmos zurückkehrten, manchmal, insbesondere auf Neujahrspostkarten, mit Vä200
Der sowjetische Kanon : Typen, Posen, Pathosformeln
Abb. 6.1–6.2 : Illustrationen in dem Kinderbuch von Nikolaj Nosov Nimmerschlau auf dem Mond, Moskau 1965 Jedes sowjetische Kind kannte die Erzählungen von Nikolaj N. Nosov (1908–1976), die 1965 in Moskau erstmals erschienen. Das Bild zeigt Originalillustrationen des kleinen Nimmerschlau mit seinem Freund Pummelchen. Die Geschichten führten die Kinder auf unterhaltsame Weise in die Raumfahrt ein und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie erschienen auch in der DDR.
terchen Frost (Abb. 2.30). In Kinderbüchern tauchten aber auch Figuren auf, die auf fast antiautoritär wirkende Weise die Welten des Kosmos und der Erwachsenen eroberten (Abb. 6.1 und 6.2) Brave kleine Mädchen und Buben
Beliebte Motive auf Postkarten mit Kindermotiven waren neugierige Kinder am Fenster, das Frühlingsthema, der Aufbruch in die Zukunft. Die Kinder waren adrett gekleidet und frisiert und strahlten Zufriedenheit und Glück aus. Mädchen trugen Haarschleifen und häufig auch Blumen (vgl. Abb. 2.27 und 2.28). Die Verbindung von Kindern und Blumen war auch in der Redewendung »Kinder sind die Blumen des Lebens« gegenwärtig und ein fester Teil des Bildrepertoires. Seit dem 19. Jahrhundert bedeuteten in europäischen Kinderdarstellungen »natürliche« Attribute wie Früchte, Blumen oder Tiere die Unschuld und Reinheit der Kinder.7 Die braven sowjetischen Kinder traten im Bild häufig wie kleine Erwachsene auf, sie lernten und studierten fleißig, spielten Klavier und trugen dabei Krawatte oder Schürze zu ihren Schuluniformen. Sie waren angehalten, den älteren Kindern und den Eltern zu helfen und von ihnen zu lernen. Es gab keine Generationenkonflikte, und ein traditionelles Rollenverständnis äußerte sich in den Requisiten, dem Aussehen, der Kleidung und den Tätigkeiten der Mädchen und Jungen. Die Kinder wuchsen im behüteten Kinderkollektiv auf. Der sowjetische Staat sorgte für sie, und diese Fürsorge war verkörpert in den weißgekleideten Erzieherinnen, in den Krankenschwestern oder in den Lehrerinnen (vgl. Abb. 2.20 und 2.32). Beliebte Motive waren der winterliche Spaziergang oder die Kinder, die am Fenster nach draußen, auf die neue, moderne 201
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
Abb. 6.3–6.4 : Abbildung in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die UdSSR im Bau) Nr. 5, 1936, und Nr. 6, 1934 »Übungen zur Kräftigung vor dem Bad«, wie hier dargestellt, sowie Bewegung in Licht und Luft und leichte Bekleidung waren Teil der Hygiene- und Gymnastikpropaganda zur Abhärtung der Kinder. Rechts sind warm eingewickelte Kinder in Reih und Glied zu sehen, die im Winter der Kälte ausgesetzt werden ; darunter die Kontrolle – ein Kind auf der Waage unter Beobachtung des medizinischen Personals. Die in Die USSR im Bau gezeigten Bilder (vgl. auch Abb. Einl. 7 und 8) stehen an der Wende zum Sozialistischen Realismus. Noch sind konstruktivistische Ansätze und die Montagetechnik erkennbar und bildliches Mittel für eine sich dynamisch wandelnde Kultur.
Stadt, in die Ferne und in die Zukunft blickten. Sie standen für eine behütete, glückliche Kindheit im Kollektiv. Die Kinder wurden aber nicht nur in Watte gepackt. Wichtige Elemente der sowjetischen Erziehung waren der Sport, die Disziplin und die Abhärtung. Die Erziehung zur Selbständigkeit, die Abhärtung durch Luftbäder und die Förderung der Leistung entsprachen den reformpädagogischen Gedanken der 1920er Jahre und der Heranbildung des Neuen Menschen. Die Kälte erschien im Bild einmal im Kontext der Abhärtung, wenn bereits Säuglinge der kalten Luft ausgesetzt wurden (Abb. 6.3 und 6.4), aber auch im Motiv der Eltern, die ihre Kinder für den Schulweg warm einpackten oder im winterlichen Spaziergang mit dick eingewickelten Kleinkindern und in Bildern von winterlichen Vergnügungen wie Eislaufen und Schlitten- oder Skifahren. Zentral in diesen Darstellungen war die systematische Erziehung gesunder und kräftiger, arbeitsfähiger Sowjetbürger. Problematisch wurden Kinder in dem Moment, in dem 202
Tabus : »Böse«, kranke und beeinträchtigte Kinder
dieses Ergebnis nicht mehr gesichert war. Das konnte unterschiedliche Gründe haben, körperliche Defizite wie unerwünschtes Verhalten.
Tabus : »Böse«, kranke und beeinträchtigte Kinder »Böse Kinder« und »unschuldige Waisen«
Die verwahrlosten Kinder und die Anstrengungen für ihre Umerziehung und Integration waren in den sowjetischen Medien ein Thema bis in die 1930er Jahre hinein. Die Zeitschrift SSSR na strojke veröffentlichte mit Nr. 6, 1934 eine Sonderausgabe zum Thema der von der OGPU (Vereinigte staatliche politische Verwaltung) geführten Arbeitskommunen, in denen junge Delinquenten zu verantwortungsbewussten Sowjetbürgern umerzogen werden sollten (vgl. Abb. Einl. 7 und 8). Es war eine der letzten Publikationen zu diesem Thema. Dann »verschwanden« sie aus dem öffentlichen Diskurs und der visuellen Kultur. Ab Mitte der 1930er Jahre gab es nur noch lächelnde, glückliche Kinder. Obwohl die verwahrlosten Kinder aus dem Bild fielen, bestand das Problem weiterhin : Durch den stalinistischen Terror und die Deportationen und später durch den Krieg stieg die Zahl der obdachlosen, verwaisten und streunenden Kinder, die unter den Begriffen besnadzornye (unbeaufsichtigte, verwahrloste Kinder) und besprizornye (obdachlose Waisenkinder) zusammengefasst wurden. Ab 1943 wurden Maßnahmen zur Integration von Waisen durch Pflegefamilien oder Heime getroffen, aber die waren durch die oftmals traumatisierten Kinder überfordert. Die Zahl der Straßenkinder wuchs rasant. Ihre Sichtbarkeit und ihre unsowjetische Subkultur befeuerten bei den Herrschenden die Angst vor Kontrollverlust, um die Zukunft der jungen Generation und der sowjetischen Gesellschaft insgesamt. Daher wandelte sich der Diskurs vom revolutionären Mythos der Rettung unschuldiger Opfer (Integration) hin zur Strafe und zur Eliminierung (Exklusion).8 Das Problem der Waisen und obdachlosen Kinder sollte komplett beseitigt werden. Diebstahl wurde nun hart bestraft und aufgegriffene Kinder systematisch auf Institutionen verteilt. Kinder unter 14 Jahren kamen in Waisenhäuser, ältere in Fabrikschulen, Fabriken und Kolchosen oder, in Härtefällen, in Arbeitserziehungskolonien. Widerständige Kinder – es gab zahlreiche Ausreißer – wurden kriminalisiert und, sofern sie sich nicht umerziehen ließen, durch die Einweisung in Arbeitskolonien unsichtbar gemacht. Sie verschwanden aus dem Bild und aus dem öffentlichen Diskurs. Das durch den Krieg gebeutelte Land brauchte die Bilder gesunder, sauberer, fröhlicher Kinder, um seine Überlegenheit zu demonstrieren.9 Das offizielle Narrativ stand im diametralen Gegensatz zur Problemlage. Bilder von Kleinkindern betonten die Rolle des fürsorglichen Staates, der die Waisen als unschuldige Opfer darstellte, als dankbare Kriegswaisen, die liebevoll umsorgt in staatlichen Waisenhäusern aufwuchsen. Die Realität in den Heimen hing zwar von den jeweiligen Institutionen und den Persönlichkeiten der Erzieherinnen ab,10 war aber im Allgemei203
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
nen wie schon in den 1930er Jahren von Hunger, mangelhafter Ausstattung und regelmäßiger Gewalt geprägt.11 Die allgemeine Devise, dass, wer nicht arbeitete, auch nicht essen sollte, stand hinter der strukturellen Benachteiligung. Die Arbeitsfähigkeit bestimmte die Zuteilung von Ressourcen. Versehrte Kinder
Versehrte Kinder, ja versehrte Menschen allgemein, sind bis in die Gegenwart hinein im Prinzip nur bildwürdig, wenn es um Appelle geht, sei es auf Kriegsplakaten oder im Dienst humanitärer Kampagnen. Die Bilder, die wir sehen wollen, sind Idealisierungen, schöne, lustige oder süße Kinder. Mittlerweile gilt es zumindest in »westlichen« Ländern als ethisch verwerflich, Menschen und insbesondere Kinder als Opfer darzustellen, vor allem, wenn damit kommerzielle Zwecke verfolgt werden.12 Doch trotz der Fixierung auf Kinderglück und Optimismus existieren Aufnahmen von versehrten sowjetischen Kindern. Ein Beispiel ist die Fotoserie des Fotografen und Kriegsreporters Semën Fridljand aus einem nicht näher bezeichneten Heim »im Hinterland« (v tylu SSSR), die zwischen 1942 und 1944 entstanden sein muss.13 Fridljand zeigte Kinder als Kriegsinvalide, die liebevoll umsorgt und gepflegt wurden. Die Aufnahmen lassen sich im Kontext der Propaganda gegen die Deutschen deuten, die sowjetische Kinder töteten und verletzten. Kindermördern vergibt man nicht so leicht. Ein Plakat von Viktor Ivanov und Ol’ga Burova aus dem Jahr 1942 zeigt ein ähnliches Motiv, ein auf dem Rücken liegendes totes Mädchen in weißem Hemd mit weißer Schleife im Haar, zertreten von einem deutschen Stiefel mit Hakenkreuz im Absatzprofil und dem Text »Tod den Kindermördern !«.14 So wurde auch Max Al’perts Aufnahme des von deutschen Soldaten in Rostov am Don getöteten Jungen Vitja Čerevičkin mit der Taube in der Hand zum denkmalwürdigen Symbol für die Verbrechen der »Faschisten« gegen die Menschlichkeit. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Betreuung von Waisen und verletzten Kindern, ja von Kindern überhaupt, eine erhöhte Aufmerksamkeit in der offiziellen Kommunikation und auch in der Realität. Dies bezog sich allerdings nicht auf die älteren besprizornye, die nicht mehr thematisiert wurden – offiziell gab es sie nicht mehr, trotz der Zunahme durch den Krieg –, sondern vor allem auf Kleinkinder und Kinder im Grundschulalter. Neben den Kriegsinvaliden waren in den 1950er Jahren auch die Polio-Betroffenen nicht ganz von der Gesellschaft ausgeschlossen – vielmehr wurde der Sieg über die Krankheit als Erfolgsgeschichte erzählt, sowohl die Behandlung und Rehabilitation der Betroffenen als auch die Impfung. Für die sowjetische Kriegserinnerung, die ab Mitte der 1960er Jahre institutionalisiert wurde,15 war das Bild eines kleinen Mädchens wichtig, dessen Tagebuch in der Sowjetunion zum Symbol der Belagerung Leningrads wurde. Die 1930 geborene Tanja Savičeva war eines der zahlreichen Opfer der Blockade. Sie starb im Juni 1944 nach der Evakuation und erlangte wegen ihres Tagebuchs den Status einer »sowjetischen Anne Frank« : 204
Tabus : »Böse«, kranke und beeinträchtigte Kinder
Abb. 6.5–6.6 : Semën O. Fridljand (1905–1964), Fotografien im Hinterland, um 1944 In einem nicht näher bezeichneten Heim werden kriegsverletzte Waisenkinder behandelt. Die Szenen der Fürsorge durch die Heimatfront unterscheiden sich von den erschütternden, anklagenden Einzelaufnahmen. Abb. 6.7 : Viktor B. Koreckij (1909–1998), Plakat Tod den Kindermördern !, 1942 Das wehrlose Kind im Hemdchen mit der Puppe, verletzt durch den Deutschen, griff Motive der Plakate der Kriegspropaganda auf. Entsprechende Motive zeigten bereits im Ersten Weltkrieg englische Kriegsplakate, welche die Deutschen ebenfalls als Kindermörder darstellten, etwa Souvenez vous de la Belgique et du Nord de la France. N’achetez rien aux Boches. Plakat, England, 1917.
Auf den neun erhaltenen Seiten sind die Todestage ihrer nächsten Familienmitglieder festgehalten. Für die »Blockadekinder« wurde 1968 ein Denkmal eingeweiht, das den Namen Blume des Lebens trägt. Teil des Denkmalkomplexes ist auch das 1975 errichtete Monument, welches die Seiten des Tagebuchs von Tanja Savičeva auf steinernen Stelen abbildet. Kinder mit Behinderung : Aus dem Auge, aus dem Sinn
Menschen mit Behinderungen, auch Kinder, wurden in der Sowjetunion marginalisiert, sowohl in der Realität als auch im Diskurs.16 Da sich der sowjetische Staat vor allem für ihre Arbeitsfähigkeit interessierte, wurden sie nach diesem Kriterium in drei Kategorien eingeteilt. Betroffene der Kategorie I brauchten Pflege und waren dauerhaft arbeitsun205
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
fähig, Angehörige der Kategorie II brauchten nicht dauernd Pflege und konnten in geschützter Umgebung ein wenig arbeiten. Angehörige der Kategorie III waren mit Einschränkungen arbeitsfähig. Diese bereits länger existierenden Klassifizierungen wurden 1932 offiziell und sind es bis heute geblieben. Kinder mit Behinderung wurden zunächst vom Status der Invaliden ausgeschlossen und erhielten bis 1967 keine Unterstützung. Der Begriff von Kinderinvaliden tauchte erst 1979 anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes auf. Nach der Oktoberrevolution übernahm der Staat die zuvor von religiösen Institutionen und Philanthropen geführten Initiativen. Der Aufbau der sowjetischen Infrastruktur von Heimen und Internaten dauerte bis in die 1930er Jahre.17 Ganzheitliche Ansätze wie derjenige von Lev S. Vygotskij (1896–1934) forderten in den 1920er Jahren die soziale Integration »defizienter« Kinder, konnten sich aber nicht durchsetzen : Gemeinsame Bildung für Kinder mit und ohne Behinderung wurde nicht erlaubt.18 1930 erfolgte das Dekret zur allgemeinen Grundschulbildung (vseobuč). Dieses hatte die Abkehr von pädagogischen Experimenten und die Rückkehr zu traditionellen Inhalten und Lehrmethoden mit fixen Curricula zur Folge, auch die verschärfte Disziplinierung devianter Kinder. Jetzt tauchte die Figur des »Massenkindes« als normativer Durchschnitt auf. Dieses wurde zum zentralen Forschungsobjekt der sowjetischen kindbezogenen Wissenschaften unter der Bezeichnung Pädologie.19 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre vervielfachten sich neue Normen und Tests. Nun wurden Kinder in allen Sowjetrepubliken getestet. Die »unterhalb der Norm« liegenden Kinder kamen ab Beginn der 1930er Jahre in Sonderschulen. Die pädologischen Dienste wurden zum Teil des sowjetischen Schulsystems. 1936 trat die Stalin-Verfassung in Kraft, die das Recht auf Bildung garantierte. Im selben Jahr wurde die Losung »Wir danken dir, Genosse Stalin, für unsere glückliche Kindheit« lanciert. Nun entschied die Partei, dass zu viele Kinder aussortiert würden und die Pädologie versagt habe. Am 4. Juli erfolgte ein entsprechendes Dekret, das die Pädologie offiziell der »Verdrehung«, des »Biologismus« und des Rassismus beschuldigte, aus den Schulen verbannte und Reihenuntersuchungen von Kindern verbot.20 Das war auch das Ende des (statistisch eruierten) sowjetischen »Massenkindes«. Die positivistische Norm wurde durch die ältere, klinische Norm ersetzt.21 Die individuelle Feststellung von Mängeln an einem Kind war fortan Gegenstand der »Defektologie«. Der Begriff Defizienz (defektivnost’) wurde ab Mitte der 1920er Jahre als Oberbegriff für ein breites Spektrum von Entwicklungsproblemen verwendet. Darin überlagerten sich Vorstellungen von pathologischer Schädigung und Abweichungen von der Norm. Es gab die Konzepte der Korrektur (durch Training) und der Kompensation (durch Förderung anderer Fähigkeiten). Die Defektologie wurde wesentlich von den Disziplinen der Hygiene und der Psychiatrie beeinflusst und verfolgte heilpädagogische Ansätze.22 Die Defektologen standen in den 1920er Jahren im Schatten der Pädologie, kämpften aber um ihren Anteil am Feld der Kindheitsforschung und betonten ihren Beitrag zu Erkenntnissen der »normalen« Entwicklung der Kinder. An206
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gesichts des Bannstrahls, der die Pädologie 1936 traf, zog sich die Defektologie strategisch zurück auf ein enggefasstes und individualisiertes Konzept von Defekten.23 Die Defektologie, die Elemente der Pädagogik, Psychologie und Medizin einschloss, prägte fortan die sowjetische Sonderpädagogik.24 Kinder mit Behinderung gehörten aus sowjetischer Sicht in staatliche Institutionen. Für Kinder gab es bis zum Alter von 18 Jahren eigene Einrichtungen. Während der 1950er und 1960er Jahre wuchs das System der Behindertenheime exponentiell an. Grund war einerseits der staatliche Anspruch, für alle Bürger zu sorgen, andererseits der Wunsch, die Behinderten »unsichtbar« zu machen, weil sie das sorgfältig konstruierte Bild der gesunden Nation des Sowjetvolkes ohne soziale Probleme störten. Die Platzierung in Internaten entsprach dem Recht auf Versorgung, zugleich war sie aber auch eine disziplinierende Maßnahme gegen Störenfriede und »Parasiten«.25 Lernschwierigkeiten wurden pathologisiert : Die Kinder wurden entsprechend bewertet und eingestuft mit dem Ziel, sie zu »korrigieren«. Es gab Sonderschulen für Blinde und Sehbehinderte, Taube und Schwerhörige, für Kinder mit motorischen Schwierigkeiten, Skoliose, Herzkrankheiten, Rheuma und eine Reihe von geistigen Behinderungen. Das System unterschied deutlich zwischen Kindern, die eine Bildung erhielten, und solchen, für die keine Sonderpädagogik angebracht schien und die man vom Sonderschulsystem ausschloss. Diese Kinder landeten in Heimen, die ihre Grundversorgung garantierten, oder lebten in ihren Familien, was allerdings seltener vorkam. Behinderungen bei Kindern wurden weithin als »Versagen« der Mutter angesehen. Der Staat übte erheblichen Druck auf die Familien aus, damit sie diese Kinder in die staatlichen Internate gaben. Nicht selten wehrten sich die Eltern dagegen. Ein Grund war der Umstand, dass diese Internate außerhalb der Städte lagen, um die Kinder den Blicken zu entziehen. In einem Land ohne Autos waren sie für ihre Familien dann nur schwer erreichbar. Die Entfernung aus der Mitte der Gesellschaft galt als rationaler Weg, mit dem Problem umzugehen.26 Bilder aus den Heimen
Erforscht worden ist die Geschichte der Kinder in staatlichen Kinderheimen in der Sowjetunion erst im Zuge der Perestrojka und vor allem seit 1991. Unterdessen liegen einige Studien und auch Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vor. Die Bedingungen in den Internaten und ihre Qualität variierten demnach beträchtlich. In vielen sowjetischen Kinderheimen der 1930er bis 1950er Jahre waren Hunger, Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung.27 Nur zu Beginn, in den 1920er Jahren, gab es offizielle Kinderschutzkampagnen und die soziale Propaganda schärfte den Eltern ein, die Kinder nicht zu schlagen oder zu schütteln. Ab den 1930er Jahren verschwand die Möglichkeit von Gewalt gegen Kinder (mit Ausnahme des Zweiten Weltkrieges) aus dem Diskurs auch visuell. 207
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
Abb. 6.8 : Evgenij A. Chaldej (1917–1997), Fotografie Kinderheim No. 53, Leningrad 1954 In dem Kinderheim lebten Waisen aus den Familien der Kommandeure aus Leningrad und dem Leningrader Gebiet, die im Krieg umgekommen waren. Die Szene am Tisch mit Tischdecke, Blumen, Wandteppich und Gummibaum strahlt eine quasifamiliäre Gemütlichkeit aus. Der Globus dokumentiert die guten Bildungsmöglichkeiten. Unter freundlicher und kompetenter Aufsicht erledigen die Kinder ihre Hausaufgaben. Abb. 6.9 : Sergej A. Zinov’ev, Fotografie aus einem Kinderheim in Syktyvkar, Republik Komi, 1985 Die Gegenüberstellung der Aufnahmen von Evgenij Chaldej aus dem Jahr 1954 und von Sergej Zinov’ev aus dem Jahr 1985 im peripheren nordwestrussischen Syktyvkar zeigt zum einen das regionale Gefälle. Die neue investigative und sozialdokumentarische Fotografie ermöglichte im Unterschied zum Sozialistischen Realismus auch Einblicke in den düsteren Alltag sowjetischer Kinderheime in der Provinz. Sozialkritische Ansätze mehrten sich in den frühen 1980er Jahren. Ab 1985 konnten mit der Perestrojka auch solche Fotografien publiziert werden.
Als vorbildlich galt das 1968 gegründete Ciurupyns’kij-Internat in der ukrainischen Oblast Cherson, in dem 200 Kinder der Kategorie I untergebracht waren. Ein Zögling berichtet später, dass das Internat mitten in der Wüste und weit weg von menschlichen Augen gebaut wurde, aber auch, dass Angestellte und Kinder diese Wüste in einen grünen Garten verwandelten. Der Fokus lag nicht auf der Heilung oder Behandlung der Kinder, sondern auf ihrer Bildung. Vielen Kindern, rund 60 Prozent in den 1980er Jahren, gelang der Übertritt in höhere Bildungsanstalten, trotz des heimlichen Numerus Clausus für Menschen mit dauerhafter Behinderung.28 Der Zeitzeuge verweist mehrfach ausdrück208
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lich auf den Versuch, Kinder mit Behinderung zu verstecken und von der Gesellschaft zu isolieren. Wenn die Kinder das Internat zu Ausflügen verließen, schrieben die Anwohner in der Region wütende Briefe an den Direktor, in denen sie sich über den Anblick der Kinder beschwerten. Wegen der abgelegenen Lage kamen die Eltern nur selten zu Besuch. Die Schule versuchte die Isolation zu durchbrechen, indem sie Ausflüge organisierte und Gäste einlud. Dennoch litten die Bindungen der Kinder an Familie und Außenwelt. Das führte dazu, dass Menschen mit Behinderung das System der Institutionen nicht verlassen konnten. Die gefürchteten Heime für Erwachsene ab 18 Jahren dienten einzig der Isolation und Verwahrung. Ein anderer Zeitzeuge mit Cerebralparese beschreibt für die 1960er Jahre vernachlässigte und schmutzige Schulheime mit überwiegend gleichgültigen Pflegerinnen und schlechtem Essen. Doch auch er kannte Lichtblicke wie Ferien in wärmeren Regionen und freundliche Erzieherinnen. Diese hatten häufig einen religiösen Hintergrund. So waren diese Internate doch um vieles besser als die gefürchteten Heime für Erwachsene mit Behinderung, in denen irgendwann alle landeten, Abb. 6.10 : Antanas Sutkus (*1939), Fotografie Der die nicht selbständig laufen konnten.29 Aufnahmen aus den Heimen gab es nur we- blinde Pionier aus dem Zyklus Blindenschule, 1962 Der blinde Pionier transportiert zwei Stimmungen, nige. Die offiziellen Fotografien bedienten vor deren Spannungsverhältnis die Stärke der Aufnahme allem in der Kriegs- und Nachkriegszeit die ausmacht : Zum einen den Stolz, zu den Pionieren zu staatliche Propaganda der Fürsorge für die gehören, zum anderen kann dieser Junge die »lichte Zukunft« nicht sehen – auch wenn sie noch eintreten Waisenkinder. Grundsätzlich waren die ver- sollte. sehrten Kinder im Rahmen des weiterhin dominierenden Sozialistischen Realismus nicht bildwürdig. Doch in den 1960er Jahren erweiterte sich das Feld des Fotografierbaren radikal. Der Ansatz der sozialdokumentarischen Fotografie wollte die Menschen in ihrem Alltag zeigen und nahm auch die im Sozialistischen Realismus der Stalin-Zeit ausgeklammerten Bereiche in den Blick (Abb. 6.8 und 6.9). Ein Beispiel sind die Bilder der sozialdokumentarischen Fotoreportagen der 1960er und 1970er Jahre. Eine wegweisende Rolle spielte der Verband der litauischen Fotojournalisten, der eine eigenwillige Ästhetik jenseits der populären sowjetischen Genrefotografie verfolgte. Zu den prominentesten Vertretern der litauischen Fotokunst der 1960er Jahre gehörte Antanas Sutkus, der 1962 Kinder in einer Blindenschule fotografierte (Abb. 6.10). Die Bilder aus diesem Projekt wurden jedoch nicht in der sowjeti209
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
schen Massenpresse oder in Jubiläumsbänden publiziert, sondern blieben im Bereich der künstlerischen Fotografie, der Fachzeitschriften, Ausstellungen und Jahrbücher. Sozialdokumentarische, kritische Reportagen mehrten sich in den frühen 1980er Jahren, aber sie konnten erst während der Perestrojka veröffentlicht werden. Doch es gab diese düsteren Bilder, die damalige Filme wie den aus der Perspektive eines Jugendlichen gedrehten Antikriegsfilm »Komm und sieh !« (Idi i smotri !, Ėlem Klimov, Mosfilm und Belarusfilm, 1985) prägten, auch in der Fotografie : Während die Aufnahmen aus Waisenhäusern während des Krieges und danach die vorbildliche Fürsorge des Staates vorführten (an Waisen und Kriegsverletzten, nicht aber an Kindern mit Behinderungen),30 wurde in Reportagen von Vladimir Sokolaev (1981–1982) und Sergej Zinov’ev (1985) (Abb. 6.9) die trostlosen Verhältnisse und die Versehrtheit der Kinder in sowjetischen Kinderheimen gezeigt. Die Zeitschrift Ogonëk entwickelte sich ab 1985 durch investigativen Journalismus zu einem zentralen Organ der Perestrojka.31 Einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten warfen sozialdokumentarische Fotografen bereits in den 1960er Jahren (vgl. Kapitel Kinder in der alltäglichen Bildproduktion).
Gegenerzählungen – Die offizielle Kindheit wird zum inoffiziellen Fluchtort Nicht eingelöste Versprechen
Die 1960er und vor allem die 1970er Jahre sind in der letzten Zeit in den Fokus der Forschung gerückt, weil insbesondere die 1970er Jahre aus postsowjetischer Sicht zum Erinnerungsort und »goldenen Zeitalter« geworden sind. Außerdem zeichneten sich hier Entwicklungen ab, die im Sinne einer »Hyperstabilität«32 das nicht mehr reformier- und steuerbare System letztlich zum Einsturz geleiteten.33 Diese Zeit war von komplexen äußeren und inneren Dynamiken geprägt und ist erst in den letzten Jahren über den Ost-West-Gegensatz des Kalten Krieges als Systemwettkampf hinaus untersucht worden. Wichtig waren auch für die Sowjetunion übergreifende Transformationsprozesse der 1960er und 1970er Jahre wie die Globalisierung, die Krise der Industriegesellschaften und Diskurse um Moderne und Postmoderne. Die globalen ökonomischen Krisen brachten auch den Giganten ins Schlingern, was sowjetische Wirtschaftsexperten durchaus mit Sorge betrachteten. In Erinnerung ehemaliger Sowjetbürger geblieben sind hingegen der trügerische Wohlstand und die scheinbare soziale Sicherheit nach Chruščëvs Reformen und vor den Wirren der Perestrojka.34 Dass dieser Wohlstand auf tönernen Füßen stand und die Entwicklungskurve bereits Ende der 1970er Jahre deutlich nach unten zeigte, wird im kollektiven Erinnern der Perestrojka angelastet. Die Wahrnehmung der 1960er Jahre wurde bis in die Gegenwart hinein wesentlich vom Tauwetter, den neuen Freiheiten und der daraus für intellektuelle, urbane, gut ausgebildete Sowjetbürgerinnen und bürger resultierenden Aufbruchsstimmung geprägt. Angehörige der Intelligencija betonten diese Werte noch in ihren postsowjetischen Er210
Gegenerzählungen
zählungen.35 Aber die große Mehrheit der sowjetischen »Normalbürger« jenseits der großen Städte kümmerte sich wenig um Ideale, sondern interessierte sich für die konkreten, materiellen Veränderungen. Die Reformen unter Chruščëv führten zunächst zu Engpässen. Es gab kein Brot, neben den üblichen Saaten wuchs nun Mais auf den Feldern und die Frauen mussten sich von ihren Kühen verabschieden, weil der Viehbestand der Privatwirtschaften reduziert wurde. Zugleich führten die Investitionen in die Konsumgüterindustrie, der Wohnungsbau und der einsetzende Aufschwung zu mehr Gütern und bescheidenem Wohlstand. Dieser wurde allerdings über Systeme von Beziehungsnetzwerken und Privilegien verteilt. In Stadt und Land entstand eine deutliche Kluft zwischen jenen, die am Privilegiensystem teilhatten, und denjenigen, die leer ausgingen. Der Aufschwung erlahmte dann in den 1970er Jahren spürbar. Zeitzeugen verwiesen in den 1990er Jahren zwar auf Missstände. Aber der Widerspruch zwischen Erinnerungen an Trunksucht, enge Wohnungen, die Mühseligkeiten des Alltags und die Korruption der Vorgesetzten einerseits und dem Gefühl, einer »großen Familie« anzugehören, soziale Sicherheit und die umfassende Fürsorge des Staates zu genießen andererseits blieb unaufgelöst.36 Der Fokus auf die gesellschaftliche Erneuerung nach Stalin verlieh den Kindern neue Bedeutung. Das allgemeine Interesse für Kinder äußerte sich in einer neuen Bereitschaft, die Kinderperspektive einzunehmen, und in der Betonung der Ursprünglichkeit und Natürlichkeit »des Kindes« (vgl. Kapitel Sowjetische Pathosformeln und Kinder in der alltäglichen Bildproduktion). Zugleich erhielten Kinderbilder in den 1960er Jahren im Rahmen des Kalten Krieges neue Aufgaben. »Staatskinder« wie die Pioniere wurden wiederum zu Aktivisten, nur nicht mehr für Veränderungen im eigenen Land, sondern in Ländern Afrikas oder Südamerikas, und Orte wie das internationale Pionierlager Artek wurden zu Räumen, in denen Differenzen zwischen »eigenen« und »anderen« Kindern konstruiert und verhandelt wurden.37 Und auch die Dissidenten der 1960er Jahre griffen den Kindheitsdiskurs auf, als es um das Aushandeln der Beziehungen zwischen persönlichen Wünschen und Hoffnungen einerseits und staatlichen Erwartungen und Plänen andererseits ging.38 Zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten machten der Sowjetunion zu schaffen. Der innere Zusammenhalt war in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur durch intellektuelle Andersdenkende und Abweichler bedroht, sondern auch durch Unruhen und Aufstände in verschiedenen Satellitenstaaten und sogar in sowjetischen Provinzstädten wie Novočerkassk. Die Bedrohungen im Rahmen des Kalten Krieges und ein allgemeines Krisengefühl, für das die »Krise der Männlichkeit« nur eine Erscheinungsform war, kamen hinzu. Die Jugendlichen der 1960er Jahre hatten die Aufbruchstimmung des Tauwetters erlebt und mussten in den 1970er Jahren Abschied von ihren Träumen nehmen, als sich die nicht eingelösten Kindheitsversprechen in Luft auflösten.39 Ein Gefühl der Frustration und des Utopieverlustes breitete sich aus. In den 1970er Jahren erweiterte sich das Spektrum für die Unzufriedenen und Enttäuschten ebenso wie für die Gleich211
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gültigen oder diejenigen, die sich eigene Ziele setzten. Einige verließen die Sowjetunion oder wurden ausgebürgert, nicht wenige landeten in psychiatrischen Anstalten, und viele lebten in geduldeten Nischen oder »jenseits« (vne) des Systems.40 Die sowjetischen 1970er Jahre zwischen Ritual und Ironie
Die sowjetischen 1970er Jahre bieten ein höchst widersprüchliches Bild. Einerseits wünschten sich die Menschen Stabilität nach den Jahren sich überstürzender Reformen unter Chruščëv. Andererseits veränderte sich die Gesellschaft rasch, und vertraute Mechanismen der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle gerieten ins Wanken. Während die Korruption um sich griff und soziale Gruppen auseinanderdrifteten, entfaltete sich ein ungeahntes Spektrum an Lebensweisen. Künstler, Schriftsteller und Liedermacher wie Vladimir S. Vysockij (1938–1980) entwickelten neue Ausdrucksformen und Visionen. Zugleich breitete sich im sowjetischen Alltagsleben die ständige Wiederholung des Gleichen aus : Die Städte ähnelten sich mit ihren riesigen Plattenbauvierteln, sprachliche Floskeln verdrängten Inhalte und Informationen und im Fernsehen wiederholten sich die immer gleichen Bilder.41 Das Regime führte neue Rituale ein und baute Hochzeitspaläste, um den Sozialismus feierlicher zu gestalten. In Kollaboration mit Fiat entstand eine Autostadt, Togliatti, und mehr Sowjetbürger wurden automobil. Aber sämtliche Versuche, das soziale Gefüge mit der Hilfe von Pomp, Paraden und Feierlichkeiten zu stabilisieren, konnten die Aushöhlung der Formen nicht verhindern. In den 1970er Jahren erreichte die sowjetische Alltagskultur ein Stadium höchster Standardisierung, Wiederholung, Typisierung und Ritualisierung.42 Das »normale Leben« war eine Gratwanderung zwischen dieser offiziellen Normativität und den zunehmenden Möglichkeiten, sich in Subkulturen und Freiräume zu flüchten : »Das Leben oszillierte zwischen lähmender Langeweile, fieberhafter Aktivität und unbeabsichtigter Komik.«43 Politische Apathie ging mit künstlerischer Experimentierfreude einher.44 Pionierlager als Fluchträume und Brutstätte der Ironie
Die eingefahrenen Strukturen boten Freiräume.45 Ein Beispiel für solche Freiräume im Bereich des Kinderalltags waren Pionierlager. An ihnen lässt sich die Mehrdeutigkeit solcher Freiräume gut aufzeigen : Einerseits waren es »brave« Orte der Kinderbetreuung und der glücklichen Kindheit in der Natur. Aber unter der ruhigen Oberfläche der Lager pulsierte das pralle Leben. Eine eigene Lagerkultur entstand mit ihrer Folklore, ihren Archetypen wie den Stiefelleckern (podlezy) und Petzen (fiskaly),46 den Streichen der Kinder und amourösen Abenteuern der Leiterinnen. Filme und Künstler griffen die Pionierlager als Metaphern auf und entwarfen ironische Gesellschaftsbilder der Sowjetunion im Kleinen. Beispiele sind die Filme Dobro požalovat’ ili postoronnim vchod vospreščen (Herzlich Willkommen, oder Unbefugten ist der Zutritt verboten, Ėlem Klimov, 1964) oder 212
Gegenerzählungen
Sto dnei posle detstva (Hundert Tage nach der Kindheit, Sergei Solov’ev, 1975). Klimovs Film machte sich über die Rituale des Lagerlebens und die Autorität des Direktors lustig, zeichnete aber auch ein Bild kindlicher Solidarität und liebevoller junger Leiterinnen. Er ist eindeutig dem Tauwetter zuzurechnen, wurde aber nur wegen Chruščëvs persönlicher Fürsprache freigegeben. Auch das Genre der sowjetischen »Schülergeschichten« blühte auf.47 Die Ironie, die in den 1960er Jahren einsetzte, wurde zunehmend bitterer und desillusionierter. Das Pionierlager war aber nicht nur das fröhliche Gegenstück zum Kinderheim. Die Sommerlager boten jungen Erwachsenen die Möglichkeit, als Betreuerinnen und Leiterinnen für drei Monate ihrem Alltag zu entfliehen und relativ selbstbestimmt zu arbeiten. Solche Freiräume waren in den 1970er Jahren gesuchte Mangelware. Männer konnten Nachtwächterposten annehmen und währenddessen ihren privaten intellektuellen oder künstlerischen Neigungen nachgehen. Angehörige der breiten Kreise von Facharbeitern und Angestellten gingen Angeln, bastelten an ihren Autos oder bildeten Baubrigaden, die im Sommer wochenlang gemeinsam auf Tour gingen. Doch Frauen hatten durch ihre familiären Verpflichtungen und die herrschende Doppelmoral weit weniger Möglichkeiten, sich solche Nischen zu schaffen. Wenn sie im Sommer im betriebseigenen Pionierlager arbeiteten, konnten sie ihre Kinder mitbringen und ihren Alltag von Beruf und Hausarbeit hinter sich lassen. Ehemalige Pionierleiterinnen betonen gerne das hohe Maß an Improvisation und Kreativität, das ihnen die Arbeit mit den Kindern im Pionierlager erlaubte.48 Die Allgegenwart von Floskeln machte die pompösen Bildwelten des Sozialistischen Realismus und auch die Zeichenwelten der Kinder zur Brutstätte der Ironie : Ausgerechnet die Pioniersymbolik inspirierte eine der wichtigsten subversiven künstlerischen Bewegungen der Zeit. Die Erfahrung des Pionierlagers wurde zum Bestandteil der Selbststilisierung und des Gründungsmythos der SocArt, als die jungen Absolventen der Grafikausbildung Vitalij Komar (*1943) und Aleksandr Melamid (*1945) 1972 das Pionierlager des Instituts für Luftfahrt dekorieren sollten und dabei begannen, die Pioniersymbolik spielerisch abzuwandeln.49 Durch subtile Verschiebungen entlarvten sie die Bedeutungsleere der Symbole und erzeugten komische Effekte. Später griff das Künstlerduo Komar und Melamid das Thema in seinem Selbstportrait als Junge Pioniere im Kontext einer 1982/1983 entstandenen Werkreihe mit dem Titel Nostalgischer Sozialistischer Realismus nochmals auf (Abb. 6.12). Männer als überenthusiastische Kinder
In ihrem Zyklus Nostalgischer Sozialistischer Realismus inszenierten sich Komar und Melamid selber als Pioniere, als Kindmänner mit Bart, Banner und Fanfare. Als überenthusiastische Kinder gebärdeten sich auch die Angehörigen der Leningrader Künstlergruppe der Mit’ki (Abb. 6.11). 213
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Abb. 6.11 : Mit’ki, Selbstporträt als Recken Die Mit’ki parodieren das bekannte Gemälde von Viktor Vasnecov Die drei Recken (Bogatyri) von 1898. Auf ihren Pferden herumalbernd, nehmen sie die kreative Freiheit einer Subkultur in Anspruch. Kinderzeichnungen und naive Malerei standen dabei für die Gestaltung Pate. Abb. 6.12 : Komar und Melamid, Selbstporträt als junge Pioniere, 1982/1983, Öl auf Leinwand Das Selbstporträt als junge Pioniere gehört zur Serie Nostalgischer Sozialistischer Realismus. Es kommentiert einerseits die »totalitäre Kindheit« unter staatlichen Institutionen, die durch Uniformen und Rituale geprägt und militarisiert war. Andererseits infantilisieren die Künstler die Jungpioniere – und umgekehrt : Man kommt aus der Rolle des braven Pioniers nie heraus, so sehr man sich auch darum bemüht.
In der Kunstgeschichte hat die Selbstinszenierung von Künstlern als Kinder Tradition, etwa in der Kunst des Dada oder in der Figur des Narren.50 Das Bild des infantilen Mannes entstand in den 1970er Jahren aus dem Kontext einer künstlerischen Subkultur heraus, die mit den Symbolen des Staatssozialismus ihr ironisches Spiel trieb. Von dieser Position aus wurde der deprivierte sowjetische Mann aufs Korn genommen.51 Die Diagnose des »sozialen Infantilismus«52 des sowjetischen Mannes war Teil einer breiter geführten Debatte in den 1970er und 1980er Jahren angesichts der hohen Männersterblichkeit und deren niedriger Lebenserwartung, aber auch wegen der mangelhaften gesellschaftlichen »Performanz« vieler Männer. Am Anfang stand der Artikel eines bekannten sowjetischen Demografen, Boris C. Urlanis, Rettet (schützt) die Männer ! (Beregite mužčin !), der am 24. Juli 1968 in der Literaturnaja Gazeta erschien. Der Autor äußerte die Besorgnis, die sowjetischen Männer seien vom Aussterben bedroht. Die alarmistisch ausgerufene »Krise der Männlichkeit« wurde zu einem allgemein anerkannten Leitsatz des spätsowjetischen kritischen Diskurses. Sie ist als Metapher für 214
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die Krise der sowjetischen Gesellschaft insgesamt zu verstehen.53 Eigentliches Ziel der Debatte war die allgemeine Diagnose einer sowjetischen Identitätskrise, die aus Gründen der sowjetischen Zensur am Mann und an den Geschlechterverhältnissen festgemacht wurde. In dem implizit regimekritischen Diskurs galt die sowjetische Geschlechterordnung als »pervers«. Dem Diskurs lagen essentialistische Vorstellungen von gegebenen Geschlechtercharakteren und vor allem bestimmte Leitbilder von Männlichkeit zugrunde. Hintergründe waren der Männermangel nach dem Krieg und der Umstand, dass zahlreiche Jungen ohne Vater aufwuchsen. Die geringe Zahl steigerte den symbolischen Wert von Männern. Die vaterlosen Jungen wurden verhätschelt und gegängelt : Sie waren umgeben von Frauen, die vom Staat zur Fürsorge und Kontrolle über sie ermächtigt waren, von Müttern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und schließlich von Ehefrauen, die viel besser wussten als sie selbst, wie man ein Budget verwaltete und einen Haushalt führte.54 Der kritisch-liberale Diskurs »vertrat somit die These, dass der Mann neben der sowjetischen Frau unter zunehmender Abhängigkeit, Unterdrückung und Manipulation zu leiden hatte«.55 Die sowjetische Politik habe zu einer Vermännlichung der sowjetischen Frauen geführt. Darüber hinaus habe die Macht der Frauen im Alltag die sowjetische Gesellschaft, und besonders die Männer, feminisiert. Die in der Stalin-Zeit und im Krieg geprägten hypermaskulinen Heldenfiguren und Vorbilder, mit denen sowjetische Jungen und Männer aufwuchsen, waren unerreichbar. Sie hatten wie etwa Aleksandr Matrosov oder Timur in heroischen Zeiten des »Großen Vaterländischen Krieges« oder des »Winterkrieges« gelebt, gekämpft und sich im Fall Matrosovs selbstlos geopfert. Auch die toten Väter gehörten dieser heldischen Generation an, hatten als Erbauer des Sozialismus, im Terror oder im Krieg als Soldaten und Befreier ihr Leben gelassen. Ihr Status war ebenfalls unerreichbar. Der gefallene Vater konnte nur als Projektionsfläche für nostalgische Träume dienen.56 Da die sowjetisch-hegemonialen Männlichkeitsvorbilder nicht zu verwirklichen waren und die Frauen über ihre Fürsorge und Kontrolle die Männer im Alltag und in den Familien an den Rand drängten, bildeten sich kompensatorische Praktiken männlicher Selbstvergewisserung heraus. Der Soziologe und Sexualwissenschaftler Igor’ Kon nennt als Beispiele erstens die Identifikation mit dem traditionellen starken und aggressiven »hypermaskulinen« und militarisierten Männerbild. Dessen Profil umfasste Trinken, Raufhändel, die Demonstration körperlicher Stärke und die Mitgliedschaft in entsprechenden Männergesellschaften sowie soziale und sexuelle Gewalt. Zweitens gab es das Format des Familientyrannen, der Frau und Kinder schlug. Der dritte Typ war der infantile Mann, denn eine Folge der schwachen Stellung der Männer konnte gemäß Kon gesellschaftliche Passivität sein. In ihrer Hilflosigkeit flohen sie vor jeder Verantwortung in eine regressive, infantile Haltung, in eine spielerische Kinderwelt.57 Für die Frauen wurde die Fürsorge zur Machtressource. Die Männer erlebten die Fürsorge nicht selten als Form von Gewalt.58 Der sogenannte liberale Diskurs, der die sowjetischen Gesellschaftsverhältnisse kritisierte, sah daher die Flucht aus der Familie in Sex und Männerfreundschaften als Rebellion und Ausweg an. Männer flüchteten sich in 215
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»alternative Sphären, Bilder und Praktiken der Männlichkeit«59 jenseits der offiziellen Billigung. Inseln patriarchaler Männlichkeit bildeten sich etwa in der Schattenwirtschaft, aber auch in der Dissidentenbewegung, diversen Subkulturen und elitären Zirkeln. Alternativen aus dem traditionellen russischen Heldenregister konnten helfen, wie etwa die Figur des einfachen Bauern (mužik) oder die des Aristokraten. Vor allem intellektuelle und alternative Zirkel schufen sich ihre eigenen Ideale der Männlichkeit wie den (adligen) Dekabristen. Der war zwar ebenfalls unerreichbar in seiner Ehrenhaftigkeit, bot aber Orientierung. »Charakteristisch für den Stil der Dekabristen ist die Übereinstimmung von Wort und Tat, Position und Verhalten. Ihr Alltagsleben wird zu politischem Handeln, zu einem Symbol ihres Protestes gegen die mondäne Gesellschaft.«60 Die Männer auf der Flucht aus den sowjetischen Geschlechterverhältnissen hatten aber auch Spaß : »Die Welt des ›ausgelassenen Verhaltens‹ erschien als eine autonome Sphäre der persönlichen Freiheit, der Kameradschaftlichkeit unter Männern, der Freigeistigkeit, als ein Zeichen staatsbürgerlicher Tugend, als Potential politischen Protestes.«61 Der »Protest des deprivierten Mannes gegen die offizielle Geschlechterordnung« wurde zum Attribut einer alternativen Männlichkeit.62 An diese Flucht in alternative Sphären schließt sich auch der Bereich an, den der Kulturwissenschaftler Aleksej Yurchak als »Jenseits« (vne) bezeichnet hat. Als Beispiel für die Flucht in ein kindlich-naives Reich der Unschuld und des Antiheldischen fern jeder Verantwortung nennt er die Mit’ki. Diese Künstlergruppe trat Anfang der 1980er Jahre in Leningrad auf.63 Sie war Teil einer männlichen Subkultur von Nachtwächtern und Fernheizzentralenangestellten, die sich mit drei Nachtschichten pro Woche von ihren staatsbürgerlichen Pflichten freigekauft hatten.64 Die Bezeichnung leitete sich von Mitëk, dem Diminutiv für Dmitrij (Šagin) ab, einem ihrer Mitglieder, dessen Künstlereltern sie als ihre spirituellen Eltern betrachteten.65 Zugleich war dies eine demonstrative Flucht aus der normativen »sowjetischen« Familie in die Geselligkeit der Freunde. Die Mit’ki stilisierten sich in Form eines »Leben-als-Kunst«-Projektes als absolut abgehängte Minimalisten, die nur ein Minimum an Zeit und Energie für Alltagsdinge wie Kochen aufwendeten und ihre Zeit freundlich und zufrieden und mit sich selbst beschäftigt verbrachten. Sie stellten eine ironische Ästhetik des Nichtstuns zur Schau ; aber auch der traditionsreiche russische Humor des Absurden spielte eine Rolle. Mit’ki waren das Gegenteil von cool und strichen dies heraus. Sie waren unsportlich, ungepflegt, ernährten sich von billigem industriellem Käse und tranken viel. Ein Rezept, das kursierte, betraf die Herstellung einer Monatsration aus der Mischung von 3 Kilo Fleischsülze, 4 Laib Brot und 2 Päckchen Margarine – man konnte die Pampe warm oder kalt essen. Mit’ki waren erklärte Antihelden, sie wollten »niemanden besiegen« (so lautete ihr Motto)66 und nichts beweisen. Ihr Ideal war, keines zu haben. Sie waren enthusiastisch freundlich zu allen, sprachen in der Verkleinerungsform und nannten andere Brüderchen und Schwesterchen. Sie führten sich auf wie große Kinder, die die Teilhabe an der sowjetischen Gesellschaft verweigerten. 216
Gegenerzählungen
Die Mit’ki pflegten eine groteske Version ironischer Ästhetik und eine ziellose, feuchtfröhliche Geselligkeit. Das Leben im Diminutiv war Sinnbild für die Verweigerung von Verantwortung als Staatsbürger und von traditionellen Rollenbildern, nicht zu reden von den im Stalinismus geprägten sozrealistischen Heldenbildern. Sie inszenierten sich aber nicht als Verweigerer, sondern im Gegenteil (ironisch) als überaus zugewandt, tolerant, lieb, aber nutzlos. Sie lebten in ihrer eigenen Welt, außer Konkurrenz. Ihr Habitus, ihr Sprechen im kindlichen Diminutiv und ihre demonstrative Naivität, ihre Asexualität und ihre triebhafte Verfressenheit lassen sich über die bisherigen Deutungen von Aleksei Yurchak (Kunstprojekt im Geiste des stiob)67 und Alexandar Mihailovic (Stil als postmoderner politischer Protest) hinaus als Selbstinfantilisierung verstehen. Die Leningrader Mit’ki sind ein Beispiel dafür, dass sich Männer in eine Kinderwelt – apolitisch und ohne Eigenverantwortlichkeit – flüchteten und dies zu einem politischen Akt der Verweigerung machten. Kindheit als Fluchtraum
Die Gegenerzählungen zur glücklichen sowjetischen Kindheit entsprangen zunächst künstlerischen Kreisen, die durch die Selbstinszenierungen von Kindmännern die Infantilisierung der sowjetischen Gesellschaft aufs Korn nahmen. Gleichzeitig wurde auch die sowjetische Geschlechterordnung zum Thema, die Macht der Frauen im Alltag und die durch deren Fürsorge drangsalierten Männer, die nach Fluchträumen nicht nur aus der weiblichen Obhut, sondern aus den gesellschaftlichen Zwängen überhaupt suchten. Männer flüchteten sich in »sozialen Infantilismus« oder stilisierten sich als große Kinder. Die Perestrojka und noch mehr die postsowjetische Transformation nahmen viele als Chance der Revitalisierung »echter« hegemonialer Männlichkeit wahr : Der erfolgreiche Unternehmer und Privateigentümer nahm sein Schicksal unabhängig vom Staat im öffentlichen und von den Frauen im privaten Leben selbst in die Hand.68 Die Rückkehr zu patriarchalen Modellen in wirtschaftlichen, politischen und familiären Beziehungen und damit zu traditionellen Geschlechterordnungen lässt sich auch als Folge der oben ausgeführten sowjetischen Debatten um eine »Krise der Männlichkeit« interpretieren. Niemand kam auf die Idee, eine »Krise der Weiblichkeit« oder eine »Krise der Kindheit« auszurufen. Frauen hatten zwar (angeblich) die Macht im Alltag, aber sie mussten neben ihrer Arbeit die Männer und die Kinder versorgen. Neben dieser Verantwortung blieb ihnen keine Zeit für irgendwelche Lebensexperimente.69 Fluchträume für Frauen gab es kaum. Deshalb waren die sommerlichen Pionierlager der Betriebe so beliebt, in denen Frauen als Pionierleiterinnen arbeiten konnten und einige Freiheiten hatten.70 Im brüchigen sozialen Gewebe der Sowjetunion der 1970er Jahre hatten Kinderräume wie die Pionierlager eine kompensatorische und stabilisierende Funktion. Diese Inseln der behüteten sowjetischen Kindheit repräsentierten im kollektiven Imaginären ein Gefühl moralischer Sicherheit in einer zunehmend komplexen Welt. Gleichzeitig wurde 217
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
ihre Bedeutung vielschichtiger. Einerseits stilisierten populäre Filme die Pionierlager ironisch als »Sowjetunion im Kleinen«, andererseits boten sie begehrte Freiräume für Erwachsene, die auf gesellschaftlich akzeptierte Weise ihrem Alltag entkommen wollten. Viele Kinder fanden die Lager langweilig und hatten keine Lust auf straffe Tagespläne und die immer gleichen Programme. Das Vertrauen in die sowjetischen Institutionen war auch bei den Eltern begrenzt. Mit der Vervielfältigung individueller Lebensstile in den 1970er Jahren wuchs der Wunsch nach Autonomie in der Erziehung der Kinder und einer freieren Pädagogik, besonders in gut ausgebildeten, akademischen Kreisen. Die pädagogische Initiative der Nikitins und die Familienklubs waren ein Ausdruck davon, dass Gleichgesinnte für ihre Kinder und Familien ihre eigenen Freiräume schufen und diese gestalteten. Abhärten und behüten : Chruščëvs Erziehungsreformen, die Nikitin-Kinder und die Flucht in die Familie
Zwischen die Bilder der glücklichen sowjetischen Kinder schoben sich immer wieder Bilder gefährdeter Kinder : Die Kinderschutzkampagnen der frühen Jahre, die besprizornye, die Kinder während des »Großen Vaterländischen Krieges«, Kriegsspiele wie zarnica. Auch das behütete Kind, so zeigen zahlreiche Darstellungen von Säuglingsgymnastik und Kindern, die der kalten Luft ausgesetzt wurden, musste trainiert und abgehärtet werden : Nur so konnte es zum überlegenen neuen Sowjetmenschen heranwachsen. Die sowjetische Erziehung legte auch zur Chruščëv-Zeit großen Wert auf Folgsamkeit und Disziplin, auf die Anpassung des Einzelnen an das Kollektiv. Während es etwa in Moskau bis zum Zweiten Weltkrieg eine ungeregelte und »wilde«, gefährliche Welt der Höfe gegeben hatte, änderte sich die Atmosphäre im Verlauf der 1950er Jahre grundlegend.71 Kinder wurden vor allem in den großen Städten der Sowjetunion immer häufiger zu Einzelkindern, die zwischen Haushalten mit Müttern und Großmüttern und den staatlichen Institutionen wie Schule und Pionierorganisation aufwuchsen. Ihr Leben verlief in kontrollierten Räumen. Die Reform des Erziehungssystems gehörte zu den wichtigsten Kampagnen Chruš čëvs.72 Die Abschaffung der in der Stalin-Zeit eingeführten Schulgebühren beschnitt den privilegierten Zugang der Kinder der Eliten zur höheren Bildung. Eine neue Kampagne propagierte Internats- und Tagesschulen und eine erneute Verstaatlichung der Erziehung, wie sie in den 1920er Jahren gefordert worden war. Auch die Berufsbildung und die Möglichkeiten des zweiten Bildungswegs wurden gefördert. Widerstand aus der Intelligencija, den Betrieben und den Schulen führte nach 1964 zur Rücknahme der meisten Reformen.73 Ebenso wichtig war der Ausbau der Pionierbewegung mit ihren Freizeitangeboten und Sommerlagern, die bildmächtig inszeniert wurden und viel Raum in der Presse einnahmen. Allerdings waren die Angebote von schwankender Qualität. In einem Artikel Lagerfeuer ohne Flamme prangerte die Pädagogin und Publizistin Frida 218
Gegenerzählungen
Abb. 6.13 : Boris Pavlovič Nikitin (1916–1999), Lena Alekseevna Nikitina (*1930) und die Nikitin-Kinder in Aufnahmen aus den 1960er Jahren von der Webseite der Nikitiny.ru Abhärtung und Gymnastik sollten die Gesundheit stärken und die körperliche und geistige Entwicklung fördern. Im Hintergrund sind die Turngeräte, aber auch Zahlentafeln, das Periodische System und eine Wandtafel zu sehen.
Vigdorova in der Literaturnaja Gazeta vom 7. März 195774 auch hier nicht eingelöste Versprechen an und übte heftige Kritik an der Pionierarbeit : Sie sei langweilig und zu sehr von den fürsorgenden Erwachsenen geprägt.75 Nicht eingelöste Versprechen, das Scheitern von Reformen und der Bruch mit den konservativen Eliten drängten einen Teil der jüngeren Intellektuellen in den künstlerischen Untergrund und in die Lehrerberufe, wo sie in Ruhe gelassen wurden. Aber es entstanden auch informelle erzieherische Initiativen jenseits der Institutionen, die sich auf die Familie konzentrierten. In den 1960er und 1970er Jahren machten die »NikitinKinder« Furore. Die sieben Kinder eines Ingenieurs und einer Lehrerin blieben eine ganze Weile Gegenstand öffentlicher Debatten, denn verschiedene Prinzipien, die die Nikitins umsetzten, kursierten auch sonst in der sowjetischen Pädagogik : Die Erziehung zur Selbständigkeit, die Abhärtung der Kinder durch Luftbäder, die Förderung der Leistung entsprachen den reformpädagogischen Gedanken der 1920er Jahre und der Heranbildung des Neuen Menschen. Nur propagierten die Nikitins weder Institutionen noch das Kollektiv, sondern die Erziehung der Kinder in der Familie. Die sieben Nikitin-Kinder wurden zwischen 1959 und 1972 geboren, also in die Phase relativen Wohlstands. Sie wuchsen in einer ländlichen Umgebung in Bolševo nahe Moskau auf. Die Eltern stellten Turngeräte sowie einen Werkraum zur Verfügung. Sie veröffentlichten mehrere Bücher und zahlreiche Artikel zu ihren Erziehungsmethoden. Zentral war, dass die Kinder nicht nach (in Nikitins Texten durch die »Großmütter« verkörperten) traditionellen Erziehungsmethoden ständig überwacht, warm eingepackt, 219
Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
gegängelt, beschäftigt, umsorgt und verwöhnt wurden. Die Kinder wurden vielmehr ermuntert, sich frei zu betätigen und zu spielen, ihre Umgebung zu beobachten und sich leicht bekleidet im Freien aufzuhalten. Durch Neugier und Wissensdurst eigneten sie sich früh auf eigene Initiative Fähigkeiten im Lesen und Rechnen an. Die Eltern, der Vater Ingenieur und Werklehrer, die Mutter Lehrerin, waren ursprünglich an einem Projekt für eine Kinderkolonie nach dem Vorbild Makarenkos beteiligt gewesen, das nicht zustande gekommen war.76 Später versuchten sie, die Prinzipien des Anschauungsunterrichts, des gleichberechtigten Zusammenlebens mit den Kindern und der Erziehung zur Selbständigkeit in ihrer Familie umzusetzen. Das sowjetische Kino bzw. die Wochenschauen brachten in den 1960er Jahren mehrere Beiträge über die Nikitin-Kinder, die auch in der Pravda besprochen wurden.77 Der Vater arbeitete tagsüber, die Mutter abends, so dass sich immer jemand um die Kinder kümmern konnte. Die Filme zeigen die Einrichtung der Wohnung mit Turngeräten, Weltkarte, Periodensystem und Werkraum, vor allem aber den Vater bei seinen Turnübungen mit den Kindern und der anschließenden »Dusche« mit der Gießkanne im verschneiten Garten. Auch das regelmäßige Wiegen und Messen der Kinder wurde vorgeführt. Die Methoden der Nikitins waren jedoch in der Fachwelt umstritten und wurden in der Literaturnaja Gazeta kontrovers diskutiert.78 In den 1970er Jahren hatten die Nikitins eine Kolumne im Moskovskij Komsomolec.79 Das Vorbild der Nikitins regte viele Paare an, mehr als nur ein Kind zu haben. Das kam der sowjetischen Bevölkerungspolitik entgegen und könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Nikitins in den sowjetischen Medien so präsent waren, obwohl ihre Methoden von der Fachwelt angezweifelt wurden.80 Offenbar wuchs aus den Debatten um die Erziehung in der Familie eine Familienbewegung, die sich den sowjetischen Institutionen entzog. 1986 erschien ein Artikel der amerikanischen Journalistin Sheila Cole über sowjetische Familienklubs Anfang der 1980er Jahre, die vor allem in den Wissenschaftsstädten blühten und die Methoden der Nikitins anwandten. Diese Familien hatten mehrere Kinder und stellten die Familie ins Zentrum ihres Lebensalltags. Sie leisteten gegenseitige Hilfe, bauten gemeinsam Spielplätze und verfolgten weitere gemeinsame Projekte. Sie waren auch für natürliche Geburtsmethoden, praktizierten Hausgeburten und unterliefen dadurch die staatlichen Institutionen und die damit verbundene Kontrolle. Cole schildert den Besuch bei einer Moskauer Familie, deren drei Kinder halbnackt draußen spielten trotz frischer Temperatur, am liebsten auf dem Balkon schliefen und ein Fitnessgerät »wie von Nikitins empfohlen« in der Wohnung hatten.81 So führte der hohe Status der glücklichen sowjetischen Kindheit auch zu zivilgesellschaftlichen Initiativen und zur Selbstermächtigung der Familien. Dieses Kapitel fragte nach den Kindern, die dem Bild des gesunden, glücklichen und strebsamen Kindes nicht entsprachen und begab sich auf die Suche nach Gegenerzählungen und Praktiken des Rückzugs oder der Verweigerung. Sowohl die Straßenkinder als auch Kinder mit Behinderung wurden seit den 1930er Jahren systematisch aus den 220
Anmerkungen
sichtbaren Räumen der Gesellschaft ausgeschlossen und in abgelegenen Institutionen den Blicken entzogen. Ab den 1960er Jahren gab es einzelne Fotografen, die sich mit dem Thema beschäftigten. Die ironischen Formen der Auseinandersetzung mit den heilen Kinderbildern griffen mehrere Themen auf : Filme nutzten die Auslegeordnung der Pionierlager, um an dieser »Sowjetunion im Kleinen« gesellschaftliche Themen zu verhandeln. Die Künstler Komar und Melamid nahmen als Grafiker gezielt die Bildformeln der Pioniere und ihre Zeichenwelten aufs Korn. Sie inszenierten sich aber auch selbst innerhalb des politischen Diskurses, nämlich als »Staatskinder« in Pionieruniform mit Fanfare. Die Mit’ki hingegen zielten auf das wilde, naturnahe und triebgesteuerte Kind : Sie benahmen sich »kindisch« jenseits aller staatlichen Formen. Befeuert wurden die verschiedenen Aneignungen der Kinderwelten und damit symbolisch auch der »Zukunft« durch die Frustration über die nicht eingelösten Kindheitsversprechen.
Anmerkungen 1 Boris Dubin, Goldene Zeiten des Krieges. Erinnerung als Sehnsucht nach der Brežnev-Ära, in : Osteuropa 55 (2005) 4–6, S. 219–233 ; Catriona Kelly, Roskoš’ ili pervaja neobchodimost’ ? Prodaža i pokupka tovarov dlja detej v Rossii v poststalinskuju ėpochu, in : Teorija mody. Odežda, telo, kul’tura 3 (2008) H. 8, S. 119–185. 2 Catriona Kelly, »Good Night, Little Ones«. Childhood in the »Last Soviet Generation«, in : Stephen Lovell (Hg.), Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke 2007, S. 165–189. 3 Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 108–121 ; Für eine Kritik siehe Kevin M. F. Platt/Benjamin Nathans, Socialist in Form, Indeterminate in Content. The Ins and Outs of Late Soviet Culture, in : Ab Imperio (2011) H. 2, S. 301–324. 4 Elisabeth Kristofovich Zelensky, Popular Children’s Culture in Post-Perestroika Russia. Songs of Innocence and Experience Revisited, in : Adele Marie Barker (Hg.), Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham 1999, S. 138–160, hier S. 139 f. 5 Ol’ga Šaburova, Sovetskij mir v otkrytke, Moskau 2017, S. 80 ff. 6 Igor V. Narskij, Fotokartočka na pamjat’. Semejnye istorii, fotografičeskie poslanija i sovetskoe detstvo (avtobio-istorio-grafičeskij roman),
Čeljabinsk 2007 ; Igor V. Narskij, Fotografie und Erinnerung. Eine sowjetische Kindheit – Wissenschaft als »Roman«, Köln 2013 7 Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017, S. 141. 8 Der bekannteste Fall ist die Hinrichtung des erst 15-jährigen Arkadij Nejland im Jahr 1964, die offenbar von Chruščëv persönlich angeordnet wurde, im Rahmen seiner Kampagne des Kampfes gegen die Kriminalität Minderjähriger und der Verschärfung des Jugendstrafrechts. 9 Juliane Fürst, Between Salvation and Liquidation. Homeless and Vagrant Children and the Reconstruction of Soviet Society, in : The Slavonic and East European Review 86 (2008) H. 2, S. 232–258, hier S. 234, 240, 250 und 252. 10 Catriona Kelly, Children’s World. Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven 2006, S. 251. 11 Zur Situation in sowjetischen Kinderheimen vgl. Corinna Kuhr-Korolev, Kinder von »Volksfeinden« als Opfer des stalinistischen Terrors 1936–1938, in : Stephan Plaggenborg (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 391–417 ; Fürst, Between Salvation and Liquidation (Anm. 9), S. 244. 12 Winkler, Kindheitsgeschichte (Anm. 7), S. 147 f. 13 Vgl. https://fishki.net/2506970-fotograf-semyonosipovich-fridljand.html (04.05.2020). Semën Fridljand an sich ist eine interessante Figur, da
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Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
er nach Anfängen bei Ogonëk als Fotokorrespondent für alle bedeutenden Agenturen (Union, Sojusfoto, Sovinformbjuro) und Zeitschriften (SSSR na Strojke, Pravda, Ogonëk) arbeitete. In den 1920er Jahren experimentierte er mit gewagten Bildausschnitten und extremen Blickwinkeln. Seine Kriegsreportagen zeigten die sowjetischen Soldaten jeweils beim Ausruhen, Musizieren oder siegesgewiss bei der Organisation der Einsätze und mit Einwohnern befreiter Dörfer. In den 1950er Jahren war er Bildredakteur bei Ogonëk. In den 1950er Jahren machte er zahlreiche kanonische Aufnahmen zu den Themen Landwirtschaft, Kinder, Aufbau des Sozialismus/ Baustellen. Er war ein Meister des Sozialistischen Realismus und zeigte nur zufriedene Sowjetmenschen. 14 Vgl. zu diesem Motiv auch : Julie K. de Graffenried, Sacrificing Childhood. Children and the Soviet State in the Great patriotic War, Lawrence 2014, S. 108 f. 15 Zur Etablierung des sowjetischen Kriegskultes vgl. Amir Weiner, The Making of a Dominant Myth : The Second World War and the Construction of Political Identities Within the Soviet Polity, in : Russian Review 55 (1996) H. 4, S. 638 ; Jonathan Brunstedt, Building a Pan-Soviet Past : The Soviet War Cult and the Turn Away from Ethnic Particularism, in : The Soviet and PostSoviet Review 38 (2011) H. 2, S. 149–171 ; Nina Tumarkin, The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York, NY 1994. 16 Sarah D. Phillips, »There Are No Invalids in the USSR !«. A Missing Soviet Chapter in the New Disability History, in : Disability Studies Quarterly 29 (2009) H. 3, URL : (04.05.2020). 17 Ebd. 18 Andy Byford, The Imperfect Child in Early Twentieth-Century Russia, in : History of Education 46 (2017) H. 5, S. 595–617, hier S. 606. 19 Ebd., S. 607 f. 20 Central’nyj komitet VKP(b), Postanovlenie ot 4 julija 1936 goda o pedologičeskich izbraščenijach v sisteme narkomprosov, URL : (16.05.2019). 21 Byford, The Imperfect Child (Anm. 18), S. 609 ff.
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22 Ebd., S. 612. 23 Ebd., S. 614 f. 24 Phillips, »There Are No Invalids in the USSR !« (Anm. 16). 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Kuhr-Korolev, Kinder von »Volksfeinden« (Anm. 11), S. 397 ; Fürst, Between Salvation and Liquidation (Anm. 9), S. 244 ; Kelly, Children’s World (Anm. 10), S. 251. 28 Phillips, »There Are No Invalids in the USSR !« (Anm. 16). 29 Ebd. 30 Vasin 1941, Chaldej 1954, Chuchlaev 1956. 31 Dirk Kretzschmar/Antje Leertz (Hg.), Ogonjok. Ein Querschnitt aus dem Perestroika-Magazin, Reinbek 1991. 32 Boris Belge/Manfred Deuerlein, Einführung. Ein goldenes Zeitalter der Stagnation ? Neue Perspektiven auf die Brežnev-Ära, in : dies. (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation ? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014, S. 1–35, hier S. 13 ; Klaus Gestwa, Von der Stagnation zur Perestrojka. Der Wandel der Bedrohungskommunikation und das Ende der Sowjetunion, in : Belge/Deuerlein, Goldenes Zeitalter der Stagnation ?, S. 253–311, hier S. 289–297. 33 Yurchak, Everything Was Forever (Anm. 3) ; Peter Rutland/Viktoria Smolkin, Introduction. Looking back at Brezhnev, in : Russian History 41 (2014), S. 299–306 ; Juliane Fürst, Where Did All the Normal People Go ? Another Look at the Soviet 1970s, in : Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 14 (2013) H. 3, S. 621–640 ; Platt/Nathans, Socialist in Form, Indeterminate in content (Anm. 3). 34 Gestwa, Von der Stagnation zur Perestrojka (Anm. 32), S. 271 f. 35 Nina N. Cvetaeva, Biografičeskie narrativy sovetskoj epochy, in : Sociologičeskij Žurnal 1–2 (2000), S. 153–166. Die soziologische Studie wertete 93 in St. Petersburg zwischen 1994 und 1995 erhobene lebensgeschichtliche Interviews über die sowjetischen »Sechziger« aus. 36 Ebd., S. 153. 37 Margaret Peacock, Innocent Weapons. The Soviet
Anmerkungen
and American Politics of Childhood in the Cold War, Chapel Hill 2014. 38 Platt/Nathans, Socialist in Form, Indeterminate in content (Anm. 3). 39 Peacock, Innocent Weapons (Anm. 37), S. 220. 40 Yurchak, Everything Was Forever (Anm. 3) ; Fürst, Where Did all the Normal People go ? (Anm. 33), S. 636. 41 Yurchak, Everything Was Forever (Anm. 3), S. 59. 42 Fürst, Where Did all the Normal People go ? (Anm. 33). 43 Ebd., S. 622 (Übersetzung der Autorin). 44 Rutland/Smolkin, Introduction (Anm. 33), S. 301. 45 Yurchak, Everything Was Forever (Anm. 3), S. 135–138. 46 Nazad v SSSR, Re : a vy pomnite pionerskie lagerja, Ivanko46 on October 11, 2013, URL : (12.04.2018) ; 47 Evgeny A. Dobrenko, »The Entire Real World of Children« : The School Tale and »Our Happy Childhood«, in : The Slavic and East European Journal 49 (2005) H. 2, S. 225–248. 48 Rüthers, Picturing Soviet Childhood. Photoalbums of Pioneer Camps, in : Jahrbuch für Geschichte Osteuropas 67 (2019) H. 1, S. 65–95. 49 Siehe hierfür Jürgen Hohmeyer, Stalin von innen, in : Spiegel (1988), S. 166 f., URL : (04.05.2020). 50 Die Figur des Narren steht im Kontext der Karnevalskultur und des Grotesken, die der russische Kunstwissenschaftler Michail Bachtin (1895–1975) in einer prominenten Studie untersucht hat. Sein Buch über Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur erschien 1965 in der Sowjetunion. 51 Anna Temkina/Elena Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs. Wandel der Geschlechterordnung in Russland, in : Berliner Debatte Initial (2001) H. 4, S. 78–90, hier S. 87. 52 A. Charčev, Brak i sem’ja, Moskau 1979, S. 209., zitiert nach : Temkina/Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 87. 53 Temkina/Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 86.
54 Igor’ Kon, Mužčina v menjajuščimsja mire, Moskau 2009. 55 Temkina/Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 87. 56 Ebd., S. 83. 57 Den Infantilismus bei einem Teil der männlichen Jugend hatte bereits Charčev, Brak i sem’ja (Anm. 52), S. 209 festgestellt. Zit nach : Temkina/ Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 86. 58 Temkina/Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 86. 59 Ebd., S. 87. 60 Ebd., S. 84. 61 Ebd.; Jurij Lotman, Dekabrist v povsednevnoj žizni, in : ders. (Hg.), Iszbrannye stat’i v trëch tomach, Tallinn 1992, S. 296–336. 62 Temkina/Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 87. 63 Yurchak, Everything Was Forever (Anm. 3), S. 250 f. 64 Ebd., S. 153–156. 65 Vgl. (04.05.2020). 66 Alexandar Mihailovic, The Mitki and the Art of Postmodern Protest in Russia, Madison 2018, S. 68. 67 Yurchak spricht von stiob als Form der Ironie, die eine Überidentifizierung mit dem Objekt, der Person oder Idee erforderte, auf die sich stiob bezog. Es war nie klar, ob es sich nun um Affirmation handelte, um subtile Lächerlichmachung oder eine Mischung beider. Die Performer ließen das bewusst offen und boten keine Interpretation an, sie ignorierten einfach die Grenze zwischen Ernst und Ironie. Sie knüpften auch an die russische Lachkultur an. 68 Temkina/Zdravomyslova, Die Krise der Männlichkeit im Alltagsdiskurs (Anm. 51), S. 88. 69 Darauf verweist auch Yurchak, Everything Was Forever (Anm. 3), S. 253. 70 Rüthers, Picturing Soviet Childhood (Anm. 48). 71 Jelena Bonner, Mütter und Töchter. Erinnerungen an meine Jugend 1923 bis 1945, München 1992, S. 154 f.; Vladimir Bukovsky, To Build a Castle. My Life as a Dissenter, New York 1978, S. 72 f. und 114 f. 72 Josef Roggenkamp, Die sowjetische Erziehung.
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Topoi, Tabus und Gegenerzählungen
Ihre Struktur und ihre Tendenzen in Dokumenten, Düsseldorf 1961, 80ff. 73 Donald A. Filtzer, Die Chruschtschow-Ära. Entstalinisierung und die Grenzen der Reform in der UDSSR, 1953–1964, Mainz 1995, S. 45–48. 74 Zit. Nach Roggenkamp, Die sowjetische Erziehung (Anm. 72), S. 110–113, orig. Kostër bez plameni, in : Literaturnaja Gazeta nr. 29, 7. März 1957, S. 1–2. 75 Frida Abramovna Vigdorova war eine Vertreterin der »ersten sowjetischen Generation«. 1915 in Orša geboren, schloss sie 1937 ein Literaturstudium an der Pädagogischen Fakultät ab und arbeitete dann als Publizistin, v.a. über Fragen von Schule und Erziehung für die Zeitungen Pravda, Komsomolskaja Pravda und Literaturnaja Gazeta. Während der Antikosmopolitismuskampagnen wurde sie entlassen, war aber in den 1950er Jahren wieder Mitglied der Redaktion und hier zuständig für die Leserbriefe. Sie zeigte ein starkes soziales Engagement, in den 1960er Jahren auch für Josef Brodskij und andere verfolgte Schriftsteller, und engagierte sich im Samizdat. Sie starb 1965 im Alter von 50 Jahren. 76 Marianna Butenschön, Vorwort, in : dies. (Hg.), Boris und Lena Nikitin : Die Nikitin-Kinder. Ein Modell frühkindlicher Erziehung, Köln 1978, S. 9–24. In Bolševo befand sich in den 1930er Jahren eine der Dzeržinskij-Kolonien, Arbeitskommunen für besprizornye. 77 Filme über die Nikitins auf Youtube : Pravy li my ? (Haben wir Recht ?, 1965), URL : (25.09.2019) und Den’ v sem’e Nikitinych (Ein Tag bei der Familie Nikitin), besprochen von S. Gušev, Na ėkrane – eksperiment, Pravda, 10.09.1969, S. 3 ; ein weiterer Film mit dem Titel Pravy li oni ? Otkuda berutsja talanty ? (Haben sie Recht ? Woher kommen die Begabungen ?) erschien 1975 und ist online unter der URL : (25.09.2019) verfügbar. 78 Sehr kritisch : Tat’jana Snegireva, Ostorožno : detstvo ! (Vorsicht : Kindheit !), in : Literaturnaja Gazeta, 14.01.1970, S. 13 ; A. A. Ljapunov, Ju. I. Sokolovskij, Budet li izučen opyt Nikitinych ? (Wird die Methode der Nikitins erforscht ?) und A. Petrovskij, Otvet po suščestvu (Antwort zur Sache), in : Literaturnaja Gazeta, 30.09.1970, S. 2. Positiv : E. Chiltunen, Anton stroit šalaš, in : Literaturnaja Gazeta, 28.03.1979, S.12. 79 Butenschön, Vorwort (Anm. 76), S. 14 f. 80 Sheila Cole, Soviet Family Clubs and the Russian Human Potential Movement, in : Journal of Humanistic Psychology 26 (1986) H. 4, S. 48–83, hier S. 66. – In Deutschland wurden die Nikitins und ihre Methode der »natürlichen« Erziehung zur Selbständigkeit durch Marianna Butenschön bekannt gemacht, die ihre Aufsätze 1978 in einem Sammelband veröffentlichte : Marianna Butenschön (Hg.), Boris und Lena Nikitin : Die Nikitin-Kinder. Ein Modell frühkindlicher Erziehung, Köln 1978. 81 Cole, Soviet Family Clubs (Anm. 80).
7 Sozialistische Kindheit im Rückblick – Die Macht der Nostalgie Im nostalgischen Blick, den viele ehemalige Sowjetbürger zurück auf die Sowjetunion und in ihre Fotoalben werfen, steht die glückliche Kindheit für den Verlust der sowjetischen Utopie. Nicht die kahlgeschorenen verhärmten Heimkinder spätsowjetischer Fotoreportagen sind im Gedächtnis geblieben, sondern die süßen kleinen Mädchen mit Spitzenkragen und Haarschleifen bevölkern die Bildräume des kollektiven Imaginären. Der Untergang der Sowjetunion erscheint so als Vertreibung aus dem Paradies. Das sollte aber nicht verschleiern, dass diese Utopie bereits seit Ende der 1960er Jahre Risse bekommen hatte, als sich die in der Kindheit gemachten Versprechen noch immer nicht bewahrheiteten. Also ist der Rückblick eher ambivalent, sofern man überhaupt von einem dominierenden kollektiven Narrativ ausgehen kann. Die sowjetischen Symbole verloren zwar zunächst an Bedeutung, und die Denkmäler wurden gestürzt, aber schon bald wuchs Erinnerungsorten aus dem sowjetischen Alltag die Funktion von Denkmälern zu. Die nostalgischen Praktiken dienen einerseits der Suche nach einer tröstlichen Mythologie, andererseits der Suche nach einer positiven gemeinsamen Identität.1 Die ikonischen Bilder der sowjetischen Kindheit wurden in beiden Zusammenhängen zu wichtigen Erinnerungsorten. Über den glücklichen Charakter der sowjetischen Kindheit herrschte dank der sorgfältigen sowjetischen Arbeit an den heilen Kinderwelten und ihren schönen Bildern weitgehende Einigkeit. Diese Vorstellung überdauerte das Ende der Sowjetunion, auch die Gegenerzählungen der 1970er und 1980er Jahre konnten ihr nichts anhaben. Die sowjetische Filmsatire Dobro požalovat’ ili postoronnim vchod vospreščën von Ėlem Klimov aus dem Jahr 1964 ist immer noch populär. Der Film spielt in einem Pionierlager, das als ironische Allegorie auf die Sowjetunion gelesen werden kann und nostalgische Bilder transportiert. Er zeigt das Lagerleben aus der Perspektive der Kinder, macht sich über die Lagerleitung und das strenge Regime lustig und stellt die harmlos menschlichen Streiche der Kinder ins Zentrum. Dabei bestätigt er auf amüsante Weise auch die nostalgischen Bilder einer glücklichen Kindheit. Die sowjetischen Bildwelten erhielten ein zweites Leben in den Medien. Im Fernsehen wurden und werden teils auf eigenen Kanälen wie Nostal’gija oder Retro sowjetische Filme gezeigt,2 und seit sich das Internet in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verbreitete, ist ein weiterer virtueller Raum entstanden, in dem Bilder aus der sowjetischen Vergangenheit zirkulieren.3 Unterlegt sind diese Bilder etwa auf YouTube häufig mit populären sowjetischen Liedern, welche Kindheit mit Licht, Freude, Freundschaft, Wind, Segel, Himmel, Lachen und Frieden in der ganzen Welt assoziieren.4 1976 sang die populärste sowjetische Künstlerin Alla Pugačeva, die Kindheit sei ein Garten der Wunder, voller Schneehaufen und Pfützen, ein wundervolles Land, in 225
Sozialistische Kindheit im Rückblick
das man nicht mehr zurück könne, denn es gebe keinen Weg dorthin.5 Auch die 1994 in die USA emigrierte russisch-jüdische Lyrikerin Natal’ja Reznik hängt in ihren Texten der verlorenen Zeit nach. Sie erinnert sich ganz bewusst nostalgisch an die sowjetische Kindheit, wenn auch mit ironischem Augenzwinkern : Gegen die Nostalgie hilft keine Medizin, wenn Du Dir auch den Wodka eimerweise reinkippst. Vor den Augen das rote Halstuch, in der Schulkantine wieder die Kohlsuppe, der Teller mit klebrigem Grießbrei und Kompott aus Trockenfrüchten. Unten, im Krankenzimmer, befreit Marivanna die Mädchen, die ES haben, die, so sagt man, unpässlich sind, vom Unterricht, weil man einfach nichts bekommt in den Apotheken, wie in den Geschäften, Wo die Regale jungfräulich leer sind und in den Auslagen ein paar dürre Möhren ihr Kraut hängen lassen. Die verwahrloste Kommunalka, die klapprige Straßenbahn – und doch bin ich den ganzen Scheiß so leid, dass ich beinahe den Wodka mit Bier hinunterspüle ! (Natal’ja Reznik)6
Nicht immer sind die Reminiszenzen so ironisch gebrochen und ambivalent : In Russland finden sich die Bilder der glücklichen sowjetischen Kindheit bis heute auf Verpackungen und werden in den sozialen Medien geteilt. Sie sollen zweierlei belegen : dass es den Menschen in der Sowjetunion gut ging und dass Russland nun auf einer guten sowjetischen (paternalistischen, fürsorgestaatlichen) Vergangenheit aufbaut. Kinder sind zugleich apolitisch und politisch : Sie sind keine politischen Akteure, aber sie sind ein wichtiges nationales Gut, dessen Schutz das Handeln der Mächtigen legitimiert, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.
Denkmalsturz und Bildersturm
Im Gegensatz zur sozialen Ächtung des Nationalsozialismus und seiner Anhänger und zum Verbot nationalsozialistischer Symbole in beiden deutschen Nachfolgestaaten fand 226
Denkmalsturz und Bildersturm
im postsowjetischen Russland kein tiefgreifender, sondern nur ein vorübergehender Ikonoklasmus der Sowjetsymbole statt. Sowjetische Monumente und Machtsymbole wurden entfernt. Bereits Mitte der 1990er Jahre setzte deren Sekundärverwertung auf Flohmärkten ein, während die Kunst des Sozrealismus von den Neuen Russen entdeckt und gesammelt wurde.7 Was in den Zentren Denkmalstürzer publikumswirksam inszenierten, vollbrachte an den Rändern, im Schatten der Geschichte, der Zahn der Zeit und manchmal auch die unsichtbare Hand von Vandalen. Überall in der Sowjetunion waren in den 1930er bis 1950er Jahren auf Plätzen, in Parks und vor Krankenhäusern kleine Gipskopien bekannter Werke aufgestellt worden, die Kurorte, Erholungsparks oder Pionierlager verschönerten. Die sowjetische Zukunft war mit Sinnlichkeit und Lebensfreude ausstaffiert.8 Da gab es antikisierende Figuren, fürsorgliche Mütter mit ihren Kindern, zum Sprung ansetzende Schwimmerinnen, Speerwerferinnen oder die legendären Mädchen mit Ruder, die dann jahrzehntelang sich selbst überlassen dahindämmerten, von der wuchernden Natur zurückerobert wurden und Arm oder Bein verloren. Im Gegensatz zum morbiden Charme der bröckelnden Statuen wurden die strammen stalinistischen Turner mit dem Alter nicht ansehnlicher. Die Kinder der 1960er Jahre realisierten mit Schrecken, dass die »Fratzen, die um uns waren, eben jene schönen Turner« von Aleksandr Rodčenkos Fotografien aus den 1930er Jahren sein mussten.9 Während des Niedergangs der Sowjetunion schließlich verströmten die bröckelnden Statuen die Tristesse der nicht eingetroffenen, längst überfälligen Utopie.10 Die zweite Form des Bildersturms zielte auf eine Umdeutung von Inhalten oder auf die Entlarvung des Pathos. Dieses Verlachen der sinnentleerten Formeln hatte seine Anfänge in der Untergrundkunst der 1970er Jahre und setzte sich postsowjetisch fort. Grigory Freidin stellte bereits 2000 in seiner Analyse des Dichters Timur Kibirov und der Konzeptualisten die These auf, dass die SocArt, begründet 1972 durch die Künstler Komar und Melamid, das Phänomen der Sowjetnostalgie vorweggenommen habe.11 Das ironische Spiel mit den politischen Losungen, Zeichen und Symbolen der Macht entlarvte diese als hohle Floskeln und machte sie zu Kitsch.12 Damit wurden sie bereits vor dem Ende der Sowjetunion als Symbole verlorener Utopien zu Objekten der Nostalgie. Ein Beispiel ist der Zyklus des »nostalgischen Sozialistischen Realismus«, den Komar und Melamid 1982/1983 im Exil produzierten. Angesichts der starken Stellung der glücklichen sowjetischen Kindheit in der postsowjetischen Erinnerungslandschaft scheint es, dass die ironische Entlarvung der sowjetischen Kindheitssymbolik durch die spätsowjetische Intelligencija den Bildern der glücklichen Kinder nicht geschadet hat. Vielmehr wurde die »glückliche sowjetische Kindheit« zu einem zentralen Erinnerungsort des sowjetischen Lebens. Die Rolle des Sozrealismus als Orientierungshilfe für die Wahrnehmung und Deutung eines schwierigen Alltags13 blieb über das Ende der UdSSR hinaus erhalten, gerade angesichts der schwierigen, »orientierungslosen« 1990er Jahre. In den 1990er Jahren brach mit dem sowjetischen Staat auch dessen Kinderkultur zusammen. Die Betriebe wurden 227
Sozialistische Kindheit im Rückblick
privatisiert, die Gewerkschaften abgewickelt. Damit kamen sie auch ihren quasistaatlichen Aufgaben im sozialen Bereich nicht mehr nach, der Gesundheitsfürsorge, den Sport- und Freizeitangeboten und Pionierlagern. Familien verarmten und zerbrachen, und in großen Städten wie St. Petersburg tauchten die besprizornye wieder auf, Straßenkinder, die Kleber schnüffelten, auf den Strich gingen und sich mit Kleinkriminalität über Wasser hielten. Die Bilder der Straßenkinder und erschütternde Bilder aus den oft verwahrlosten Kinderheimen gingen durch die Medien. In den öffentlich kommunizierten Bildern wurde die Fallhöhe zwischen sowjetischer und postsowjetischer Kindheit besonders deutlich. Dabei ist weniger wichtig, wie die sowjetische Realität vor dem Zerfall aussah. Viel wichtiger sind die Bilder der sowjetischen Kindheit, welche die Menschen vor Augen hatten.
Das Nachleben der Bilder von Kindern
Während die sowjetischen Denkmäler stürzten, das sowjetische Pathos der Lächerlichkeit preisgegeben wurde und die Utopie kollabierte, begannen die Bilder der glücklichen sowjetischen Kindheit als Erinnerungsorte des Alltagslebens in verklärtem Glanz zu leuchten. 70 Jahre sowjetische Kindheitspolitik in Verbindung mit der massenhaften Produktion und Verbreitung sozialistisch-realistisch optimierter Kinderbilder hatten Ikonen geschaffen und einen Kanon wiedererkennbarer Motive und Kindheitsparadiese hervorgebracht. Zu diesen Erinnerungsorten zählen bis heute die sommerlichen Pionierlager. Das elitäre Lager Artek auf der Krim galt als der Leuchtturm unter den sowjetischen Kinderparadiesen. Obwohl oder gerade weil die wenigsten Kinder Artek mit eigenen Augen gesehen hatten, war es in allen Medien als Vorbild zugegen. Diese Lager haben einige Züge der sozialistisch-realistischen Ästhetik bis in die Gegenwart bewahrt, und postsowjetische Eltern scheinen ihre Kinder gerne in die Vergangenheit zu schicken, um sie auf die Zukunft vorzubereiten. Das 1961 in der Nähe von Soči eröffnete internationale Pionierlager Orlënok ist bis heute in Betrieb,14 und nach der Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 beeilte sich der russische Präsident Putin, das renommierte Lager Artek unter seine persönliche Schirmherrschaft zu stellen und dessen glorreiche Auferstehung anzukündigen.15 Die stabilisierende Rolle der Pionierlagerkindheit in der schlingernden sowjetischen Gesellschaft des Spätsozialismus scheint nachzuwirken. Die immer gleich organisierten Pionierlager bieten noch im Rückblick ein Gefühl der Wertesicherheit in einer zunehmend komplexen Wirklichkeit. Die Sommerlager gelten als Bestandteil einer »richtigen sowjetischen Kindheit«, die sich, glaubt man den sozialen Netzwerken, aus einer Liste standardisierter Stationen zusammensetzte. Erinnert werden die obligaten Sommerlager der Pioniere, die richtig kalten Winter mit ihren Vergnügungen (Schlitten, Ski, Eislauf), der strenge sowjetische Erziehungsstil, die Rituale des ersten und letzten Schultages, die 228
Beliebte sowjetische Marken und ihre Verpackungen
Schuluniform, Spiele im Hof, Sammelleidenschaften und Hobbys sowie die normativen, auf einen klar umrissenen »klassischen« europäischen kulturellen Kanon ausgerichteten Bildungsideale. Die Aufzählung erinnert zu Recht an die Motive in sowjetischen Familienalben : Die Illusion einer gemeinsamen sowjetischen Kindheit, an der mit allen Kräften gearbeitet wurde, hat die Sowjetunion nicht zuletzt in Form privater Fotoalben überlebt. Aber auch der Sozialistische Realismus entwickelte ein Nachleben, das bis heute die Vorstellungen davon prägt, was schön, und auch davon, was moralisch richtig sei. Die Wirkmächtigkeit eines nicht zu hinterfragenden ästhetischen Kanons ist ein postsowje tisches Erbe, das über die Ästhetik hinaus auch bestimmte Inhalte betrifft, die Teil eines kollektiven Imaginären sind. Der sowjetische kulturelle Kanon rettete die Menschen durch das Chaos der 1990er Jahre und bestimmt die Vorstellungen postsowjetischer Lehrerinnen, Museumsleiterinnen, Mütter und Großmütter bis heute. Der russische Präsident Putin, der im Jahr 2000 an die Macht kam, erkannte dieses Potential und wertete zentrale Narrative der sowjetischen Mythologie als Erinnerungsorte auf : den Sieg im »Großen Vaterländischen« Krieg und den Status einer gefürchteten Großmacht mit großem Einflussbereich im Kalten Krieg, die Erfolge im Kosmos und die glückliche Kindheit. Aber die Erinnerungsorte wurzeln in einer fernen Kindheit und führten nicht zu einer postsowjetischen Gemeinschaft von unabhängigen Staaten wie der Ukraine und Belarus’. Russland sieht sich als Nachfolgestaat der gesamten Sowjetunion. In Russland werden sowjetische Errungenschaften seit den 2000er Jahren intensiv politisch instrumentalisiert. Die zunehmend identitäre Politik der Regierung unter Putin erklärte sie zu Denkmälern. Trotzdem diskutieren die Menschen beispielsweise in den sozialen Netzwerken intensiv darüber. Daher sind sie dem kommunikativen Gedächtnis noch nicht entzogen und bleiben verhandelbar. Zu Denkmälern sowjetischen Alltags avancierten auch beliebte sowjetische Marken, die zum Teil durch staatliche Unterstützung vor dem Untergang bewahrt wurden.16 Vor allem im Lebensmittelbereich verbinden sich diese Marken mit Kindheitserinnerungen. Das symbolische Universum der sowjetischen Kindheit und die populären Darstellungen typisierter sowjetischer Kinder waren bereits zu Sowjetzeiten mächtige Werbebilder. Die postsowjetische Werbeindustrie verwendet sie weiter. Sie haben einen hohen Wiedererkennungswert, rufen die alten sowjetischen Kontexte auf und können zugleich mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden.17
Beliebte sowjetische Marken und ihre Verpackungen
Weiterhin beliebt sind sowjetische Süßigkeiten, die man aus der Kindheit kennt oder die die Aura des Unvergänglich-Sowjetischen verströmen. Dazu gehörten etwa die einzeln verpackten Waffelkonfekte mit Motiven aus der Märchenwelt, deren Papiere fantiki genannt und gesammelt wurden (vgl. Abb. 4.27). Sie werden bis heute hergestellt. 229
Sozialistische Kindheit im Rückblick
Alënka-Schokolade
Auf der Schokolade Alënka, einem Paradebeispiel postsowjetischer Markenpolitik, ist seit den 1970er Jahren das Porträt eines pausbäckigen kleinen Mädchens im Vorschulalter mit buntem Kopftuch abgebildet (Abb. 7.1). Ursprünglich sollte Viktor Vasnecov’s (1848–1926) Alënuschka aus dem Jahr 1881 auf das Etikett, analog zu einer Tafel mit Ivan Šiškin’s (1832–1898) Gemälde Morgen im Kiefernwald von 1889.18 Aber eine Schokolade mit diesem Namen existierte bereits. So wurde der Name leicht geändert. Die ersten Verpackungen hatten mit dem später bekannten Mädchen nichts gemeinsam. Die Verpackungsbilder wechselten im Rahmen von Feiertagen mehrfach.19 Das Porträt des Mädchens mit Kopftuch wurde nach einem Foto gestaltet, das der Fotograf Aleksandr Gerinas zwischen 1957 und 1960 von seiner Tochter aufgenommen und zunächst bei der Zeitschrift Sovetskoe Foto eingereicht hatte. Das Bild erschien 1962 auf der Titelseite des Gesundheitsmagazins Zdorov’e mit einer Auflage von 800.000 Exemplaren. Später gelangte es im Rahmen eines Wettbewerbs auf die Schokolade und wurde zu deren Markenzeichen. Diese Schokolade war von hoher Qualität und nicht immer einfach zu bekommen. Postsowjetisch wurde sie zum Erinnerungsort. »Nostalgische« Verpackungen sind seit den Anfängen der Verpackungsindustrie besonders häufig im Lebensmittelbereich anzutreffen. Sie preisen beispielsweise Gebäck »aus Großmutters Küche« an und bedienen die Sehnsucht nach dem Authentischen. Gerade die Aura des Nichtkommerziellen, die eine nostalgische Verpackung verströmt, macht die Waren begehrenswert.20 Für eine sowjetische Verpackung gilt die nichtkommerzielle Aura erst recht. Darin liegt ein moralischer Mehrwert, denn die sowjetischen Konsumbeziehungen wurden postsowjetisch, aus der Erfahrung des Turbokapitalismus der 1990er Jahre heraus, als solidarisch verklärt. Dass die Produkte zugleich authentisch und kommerziell jederzeit verfügbar sind, macht sie hybrid : modern und »alt«, vertraut, herkömmlich zugleich. Die Nachfrage nach »sowjetischen« Lebensmitteln, vor allem nach comfort foods,21 stieg ab Mitte der 1990er Jahre. Damals lebten beliebte sowjetische Marken wie Indijskij Čai, Java-Zigaretten, Schmelzkäse Družba und Doktorskaja-Wurst wieder auf, nicht zuletzt weil manche dieser Marken fester Bestandteil sowjetischer Kochrezepte sind.22 Andere wie das beliebte Eis plombir oder der Waffelkonfekt waren gar nie verschwunden. Weitere Gründe für die Rückbesinnung auf »eigene« Produkte waren die Enttäuschung durch Importwaren und deren hoher Preis, der Rubelverfall, aber auch politische Appelle an den Nationalstolz und das Gefühl, vom Ausland mit minderwertigen Waren beliefert zu werden. Insbesondere ausländische Lebensmittel standen unter dem Verdacht, aus Überschussproduktionen zu stammen, Allergien zu erzeugen und mit Zusatzstoffen belastet zu sein. Naš (unsrig) und čistyj (rein) sind seit Ende der 1990er Jahre wichtige Marketingbegriffe.23 Viele Produkte knüpften nun in Verpackung und Werbung direkt an sowjetische Vorbilder an. Omička, »ein cremiges Dessert mit Käse«, erinnert 230
Beliebte sowjetische Marken und ihre Verpackungen
Abb. 7.1 : Verpackungen für die Schokolade Alënka, 1970er Jahre und 2006 Die Milchschokolade Alënka wurde von der Firma Roter Oktober produziert und war in den 1960er und 1970er Jahren sehr beliebt. Zur Herstellung von Milchschokolade war rares Milchpulver nötig, und die Schokolade war ein Produkt von Chruščëvs Konsuminitiative. Alënka kam 1966 auf den Markt.
beispielsweise an ein sowjetisches Produkt gleichen Namens, das in Omsk hergestellt wurde.24 Auch ausländische Hersteller begannen nun, ihre Produkte »russisch« zu verpacken. Verpackungen als Bildmedium waren als massenhafte Bildträger eine postsowjetische Neuerung, da zu Sowjetzeiten Offenverkauf vorherrschte und nur Geschenkartikel wie Konfekt, Schokolade oder Parfüms aufwendig verpackt waren.25 Als Flächen für massenhaft wirksame Bildnarrative lösten die Verpackungen andere Bildträger wie Briefmarken und Postkarten ab. Eis als nostalgische Speise
Werbekampagnen funktionieren umso besser, je geschickter sie sich an populärkulturelle Vorstellungen und das Selbstverständnis ihrer Zielgruppe anschmiegen. Daher kann man davon ausgehen, dass regelmäßig auftauchende Motive und Klischees bei den Kunden besonders gut ankommen. Glaubt man der russischen Werbung für den heimischen Markt, vermögen Russen große Kälte und außerordentliche Hitze zu ertragen. Beweise dafür sind Polarexpeditionen, das winterliche Baden in Eislöchern und die Banja.26 Neuerdings häufen sich ernsthafte Klagen, dass der sowjetische Winter besser gewesen sei als 231
Sozialistische Kindheit im Rückblick
die Winter heutzutage : mehr Schnee, mehr Platz, kälter, feierlicher, insgesamt »winterlicher« und für Kinder viel interessanter.27 Dieses privilegierte Verhältnis zur Kälte dürfte ein Grund dafür sein, dass Eis als russische Nationalspeise angesehen wird. Eis gilt sogar als der »Heilige Gral der Sowjetnostalgie«,28 als das russische Pendant zur Madeleine, deren Duft Marcel Proust schlagartig in seine Kindheit zurückversetzte.29 Eingeführt in den späten 1930er Jahren mithilfe amerikanischer Technologie als kleiner Luxus für alle,30 war Speiseeis omnipräsent auf Plakaten und Teil des sowjetischen Kindheitskultes.31 Russische, ukrainische und belarussische Hersteller bewerben ihr »sowjetisches« Eis einmütig als reines Milchspeiseeis nach sowjetischer Rezeptur und versehen es mit den Prüfnummern der längst versunkenen staatlichen sowjetischen Prüfstelle GOST.32 Als Geschenk des sowjetischen Staates an seine Bürger wurde sowjetisches Speiseeis traditionell hergestellt und galt als überaus rein, nahrhaft, natürlich und gesund. Die Vielzahl an positiven Eigenschaften, die sich überlagern, macht das »sowjetische« Eis zum Lieblingsobjekt der postsowjetischen populären Nostalgie. Wohlfühlspeisen sind häufig nostalgische Lebensmittel, die glückliche Kindheitserinnerungen evozieren. Es sind genussorientierte Speisen mit einem hohen Anteil an Zucker, Salz und Fett. Sie sollten sofort verfügbar sein und ohne besondere Anstrengung genossen werden können. Deswegen ist Trostessen oft breiförmig und häufig auch warm.33 Eiscreme ist gewissermaßen die russische Ausnahme von der Wärme-Regel, denn hier ist Kälte identitätsbildend : Zu Sowjetzeiten brüstete man sich damit, dass Russen zum Erstaunen westlicher Besucher auch im tiefsten Winter bei Minusgraden auf der Straße Eiscreme verzehrten. Nostalgische Speisen wie das Eis stellen eine Kontinuität her zwischen dem erinnerten Moment und dem heutigen Selbst. Wenn solche Lebensmittel apokryphe, also nicht bewusste und bereits in Erzählungen kanonisierte Erinnerungen wachrufen, reichen sie in tiefere emotionale Schichten.34 Nostalgische Speisen lösen Erinnerungen aus, die nicht nur kognitiv, sondern vor allem emotional und physisch erlebt werden.35 Gerade die flüchtigen Sinne Geschmack und Geruch haben einen großen Einfluss auf die Prozesse im Gehirn.36 Geteilte Lieblingsspeisen der Kindheit können aber auch dem gemeinsamen Erinnern dienen. Der Begriff der Nostalgie bezeichnet sowohl das individuelle »Schwelgen« in »süßen« Erinnerungen, als auch ein entsprechendes kollektives Erinnern. Neuere Beiträge weisen darauf hin, dass sich Nostalgie im Sinne eines sehnsüchtigen Erinnerns an unwiederbringlich verlorene Orte und Zeiten im Rahmen von Erinnerungsprozessen »ereignet« und sich, glaubt man den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, nur bedingt rational steuern lässt.37 Dieser Zugang setzt sich jedoch nur langsam gegen den durch die Maximen der Aufklärung geprägten Nostalgiebegriff durch, der Nostalgie als gefühlsduselige, kitschige und verfälschende Erinnerung betrachtet. Die Erinnerungen an die Sowjetunion sind nicht homogen und kohärent, sondern widersprüchlich und bruchstückhaft. Die Menschen haben glückliche und traurige Momente erlebt und erinnern beides. Offizielle und familiäre Narrative stimmen nicht überein. Nostalgie »ereignet sich« an der 232
Beliebte sowjetische Marken und ihre Verpackungen
Schnittstelle zwischen dem Individuellen, dem Sozialen und dem Politischen.38 Anthropologische Ansätze fragen deshalb nach nostalgischen Praktiken und deren Funktionen. Sie betrachten Nostalgie als einen Modus des Erinnerns, der Teil umfassenderer Erinnerungspraktiken und -modi ist. Es geht dabei um Prozesse der Vermittlung kollektiver Identitäten, um den Umgang mit Wandel und um die Deutung der eigenen Erinnerungen. In dieser Perspektive wird Nostalgie als subalternes Erinnern im Rahmen der Konzepte Macht, Widerstand und Eigensinn interpretiert und erhält emanzipatorisches Potential.39 Nostalgische Praktiken können ein Mittel der Selbstermächtigung im Umgang mit dem Wandel sein. Nostalgische Praktiken des Erinnerns an die Epoche des Sozialismus sind heterogen und in unterschiedliche kulturelle und diskursive Felder eingebettet.40 Dabei überlagern sich individuelle mit kulturell modellierten Erinnerungen, wie dies bei Kindheitserinnerungen exemplarisch der Fall ist. Unterschiedliche Altersgruppen sind an diesen Aushandlungsprozessen beteiligt. Daher stellt sich zunehmend die Frage nach den Hintergründen nostalgischer Praktiken derjenigen, die »den Sozialismus« nicht selbst erlebt haben. »Sowjetisches« Eis erinnert ältere Menschen an die Fürsorge durch den mächtigen Sowjetstaat und an die »glückliche sozialistische Kindheit«. Im »sowjetischen« Eis verbinden sich süßer Geschmack, weiche Konsistenz, das Versprechen von Fürsorge und heiler Kindheitswelt mit Nostalgiebildern auf der Verpackung. Bewertungen von »sowjetischem« Eis im Internet vergleichen dieses häufig mit dem Eis der Kindheit : »Eis ist mit Kindheit assoziiert, als es für uns eine seltene und köstliche Belohnung [ugoščenie] war. Doch früher war das Eis einfach toller, echter, sahniger.«41 Gemeinsam ist den Kommentatorinnen und Kommentatoren die Suche nach »genau dem« (tot samyj) Geschmack der Kindheit. Die Wirkung bleibt nicht aus : »Sowjetisches Eis kann man natürlich nicht ersetzen, aber dieses Eis löste in mir einen Furor aus. Ich erwartete einfach nicht, dass das Eis mir den Geschmack des sowjetischen Eises wiederbrachte.«42 Die Verpackungsstile sind inspiriert von Kindheitsdarstellungen der 1930er bis 1950er Jahre, von einer entpolitisierten biografischen Erinnerung und von mehr oder weniger ironischen Zitaten der Sowjetsymbolik, aber auch von Folklore, Märchen und Helden der russischen Geschichte. Die Bilder auf den Verpackungen können das Eis mit neuen Bedeutungen versehen, die Vergangenheit nach Belieben ausschmücken, Identitätsbedürfnisse befriedigen und Gemeinschaft stiften. Die vielen verschiedenen Retroverpackungen deuten darauf hin, dass Konsum als Entschädigung für den Mangel an politischer Mitsprache steht. Die Retroeiscremes bedienen Identitätsbedürfnisse in zahlreichen Varianten. Im Eis überlagern sich der Geschmack der Kindheit, das gustatorisch, haptisch und visuell ausgelöste Erinnern, mit bestimmten kulturell geprägten Bildern und Deutungen der glücklichen sowjetischen Kindheit, heroischer Epochen und Geschichtsnarrative, aber auch mit Zukunftsversprechen. Das beliebte sowjetische Milchspeiseeis (plombir) gibt es von zahlreichen Herstellern. Die unterschiedlichen Verpackungsversionen lassen sich in verschiedene Retrostile un233
Sozialistische Kindheit im Rückblick
Abb. 7.2 : Überarbeitung der Eissorte plombir für das Chladokombinat Udmurtskij, 2014 Mädchen mit Haarschleifen und Schuluniform aus der Stalin-Zeit : Die Agentur Getbrand selbst wies explizit auf ihrer Webseite neben anderen Beispielen auf das »Marmeladen«-Plakat von V. Slatinskij aus dem Jahr 1952 als Vorbild für die »Retroausgabe« hin (Abb. 2.28). Abb. 7.3 : Neues Logo für die Smetana (Schmand) Ostankinskoe, 2015 Das vormals schematisch-abstrahierende Logo der Firma wurde 2013 in Anlehnung an Vorbilder aus der Stalin-Zeit umgestaltet. Auch hier stand das »Marmeladen«-Plakat von V. Slatinskij Pate.
terteilen : sozialistisch-realistisch mit Anleihen an die Bildsprache der Stalin-Zeit wie diejenige von Udmurtskij, puristisch-authentisch im Stil der 1960er Jahre und patriotisch-heroisch mit Sowjetemblem auf rotem Grund.43 Das Motiv des »Geschmacks der Kindheit« griff Getbrand bei der Gestaltung des plombir-Eises von unserem Hof (s našego dvora) des Herstellers Volga Ice auf. Hier werden die Verpackungen zu Seiten aus einem Fotoalbum der sowjetischen Kindheit der 1970er und 1980er Jahre im expliziten Versuch, den Kunden eine Rückkehr in die »sorglose Kindheit« und in eine Zeit traditioneller Werte zu ermöglichen. Als »Nostalgietrigger« dienen schwarz-weiße Kinderfotos aus dem Kreis der Angestellten des Eisherstellers.44 Das Eis des 1938 gegründeten Eiskombinats Udmurtskij war bis zur Überarbeitung durch Getbrand 2014 wie zu Sowjetzeiten gelb verpackt. Die neue Packung machte den Bezug zur sowjetischen Tradition explizit (Abb. 7.2, vgl. auch Abb. 2.28).45 Diese neue Verpackung bezog sich visuell auf die 1930er Jahre, also auf die Stalin-Zeit. Stalin selbst wird in der postsowjetischen medialen Populärkultur nicht als Urheber des Großen Terrors, sondern als Landesvater und siegreicher Feldherr des Zweiten Weltkrieges erin234
Versicherungen knüpfen an sowjetische Versprechungen an
nert.46 Die Retrolinie des Eisherstellers Udmurtskij von Anfang 2014 zeigt ein Mädchen in Schuluniform im Stil der Stalin-Zeit, einen Jungen mit Reifen und einen Jungen auf einem altertümlichen Fahrrad sowie eine Eisverkäuferin mit einem typischen sowjetischen Wägelchen vor einem klassizistischen Eingangsportal, das dem des Moskauer Parks für Kultur und Erholung ähnlich sieht.47 Auch diese Serie folgte der Bildsprache der 1930er bis 1950er Jahre. Von der Auswahl des Zeitfensters her nehmen diese Motive Bezug auf den Beginn der sowjetischen Eiscremeproduktion in den 1930er Jahren. Der Illustrationsstil erinnert an die damalige Plakatwerbung und den Sozialistischen Realismus. Die 1930er Jahre waren unter anderem geprägt von einer neuen Konsumpolitik, die von Bildern des Überflusses und kleiner Luxusprodukte begleitet wurde.48 Sie huldigten auch einem Kindheitskult, der zur Errichtung von heterotopischen heilen Kinderwelten führte und dem Versprechen einer lichten Zukunft diente.49 Damit verbunden war ein bestimmter Illustrationsstil, der die lichte Zukunft in die Gegenwart holte und alles in einen überirdischen Glanz tauchte. Auch darauf bezieht sich die Illustration auf der Verpackung. Die Werbeagentur Getbrand informierte auf einem Werbeblog zu Udmurtskij über ihre Absicht, die Kunden durch die Wahl natürlicher Farben, handschriftlich anmutender Typografie und eines realistischen Illustrationsstiles an ihre eigene Kindheit und »die glücklichen Momente zu erinnern, wenn sie das beste Eis der Welt probierten. Diesen Moment sollten sie heute mit ihren Kindern und Enkeln teilen können«.50 Weitere Beispiele wie das der Smetana (saure Sahne) Ostankinskoe zeigen, dass Rückgriffe auf konkrete Bilder und stilistische sowie motivische Stereotype der Stalin-Zeit wegen des hohen Wiedererkennungswertes verbreitet sind. Ostankinskoe-Milchprodukte für Kinder
Das Logo des ehemals sowjetischen Milchkombinates Ostankinskoe wurde 2013 durch die Agentur Polaris erneuert. Hier wurde ein Motiv direkt übernommen. Das sehr bekannte, aber abstrakte Logo aus Sowjetzeiten zeigte ebenfalls ein Mädchen mit Milchflasche. Es wurde nun durch ein von einem sowjetischen Marmeladeplakat von 195251 übernommenes »realistisches« Mädchen ersetzt (Abb. 7.3, vgl. Abb. 2.28).52 Polaris meint dazu, die Milchprodukte von Ostankinskoe erinnerten in ihrer traditionellen Qualität an die »sorglose, glückliche Kindheit«, und das Bild der »Heldin« verbinde drei Generationen von Moskauerinnen miteinander.53
Versicherungen knüpfen an sowjetische Versprechungen an
Werde groß ! – Die Plakatwerbung für eine Krankenversicherung aus dem Jahr 2009 verwendete ein universelles Motiv, eine Pathosformel der Mutterliebe, die neben der mütterlichen Fürsorge die freudige Gewissheit zum Ausdruck bringt, dass Kinder groß wer235
Sozialistische Kindheit im Rückblick
Abb. 7.4 : Werde groß !, Werbung für eine Krankenversicherung an der Metro Belaevo, Moskau 2009 Dasselbe Foto wurde in Asien und in der Schweiz 2012 seitenverkehrt und in anderer Färbung der Kleider (das Hemdchen des Kindes ist gelb) für Bimbosan-Werbung (Säuglingsnahrung) verwendet.
den und daher »unsere« Zukunft sind (Abb. 7.4, vgl. Abb. 2.5–2.7). Das Bild stammte aus einem transnationalen Bilderpool im Internet und fand sich auch – seitenverkehrt und in etwas anderer Farbigkeit – auf der Werbung für Bimbosan-Säuglingsnahrung in Asien und der Schweiz. Im postsowjetischen Zusammenhang hat der Rückgriff auf ein zu Sowjetzeiten allgegenwärtiges Motiv eine besondere Bedeutung : Es knüpft an vertraute Motive und die damit verbundenen Assoziationen und Emotionen von Festtagen, sozialer Sicherheit und Hoffnungen auf eine lichte Zukunft an. Ähnlich wie bei den Konsumbeziehungen sind Solidarität, Stabilität und soziale Sicherheit mit dem Andenken an die Sowjetunion verbunden. Das lässt sich gerade im Versicherungsbereich sehr gut nutzen. Kindheit ist ein Konstrukt aus der Distanz, das für den Konsum in der Gegenwart angefertigt wird. In der sowjetischen Kindheit verdoppelt sich dieser Effekt, denn die Repräsentationen des Sozialistischen Realismus machten sie bereits zu Sowjetzeiten zugleich zur Utopie und zum Objekt der Nostalgie. Auch die familiären Bildwelten waren durchdrungen von den Motiven einer hochgradig ritualisierten Kindheit mit spezifischen Bildanlässen. Weil sich die Familienalben so sehr ähneln, bilden sie unter anderem eine 236
Anmerkungen
»richtige sowjetische Kindeit« ab, ein Bildwissen, das noch heute viele teilen und das die Werbeindustrie gerne aufgreift. Die politics of nostalgia richten sich immer auch auf die Zukunft.54 Die sowjetische Kindheit bietet eine Vielfalt an geteilten Bildern einer gemeinsamen Vergangenheit, gebrauchsfertig zur Wiedererkennung auch für die politische Indienstnahme. Die Wirkung von Nostalgie in der Gegenwart ist unbestritten.
Anmerkungen 1 Elena Morenkova, (Re)Creating the Soviet Past in Russian Digital Communities. Between Memory and Mythmaking, in : Digital Icons – Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media 7 (2012), S. 39–66, hier S. 40. 2 Nostal’gija wurde 2003 gegründet, Retro 2004. Vgl. Ekaterina Kalinina, Multiple Faces of the Nostalgia Channel in Russia, in : View : Journal of European Television History & Culture 3 (2014) H. 5, S. 108–118, URL : (04.05.2020). 3 Beispiele für die UdSSR 2.0 im Netz sind zu sehen auf : , , , , http://cccp-revivel.blogspot.ru/2012/06/realniemalchishki-iz-sssr.html, (04.05.2020). Ein weiteres Beispiel ist die mit staatl. Unterstützung gedrehte Dokuserie Hergestellt in der UdSSR (sdelano v SSSR), zu sehen auf (04.05.2020). Zu Gruppenchats in sozialen Netzwerken (Livejournal und VKontakte) vgl. Morenkova, (Re) Creating the Soviet Past in Russian Digital Communities (Anm. 1). 4 Kindheit, das sind ich und Du (detstvo, eto ja i ty), Melodie : Jurij Čičkov, Text : Michail Pljackovskij, 1980, URL : (04.05.2020). 5 Melodie : Aleksandr Zacepin, Text : Leonid Derbenev, URL : (04.05.2020). 6 Natal’ja Reznik schloss das polytechnische Institut in Leningrad ab und wanderte 1994
in die USA aus. Sie lebt in Boulder, Colorado. URL : (04.05.2020) (Übersetzung der Autorin). 7 Joy Neumeyer, Socialist Realism’s Russian Renaissance, in : Artnews, URL : (04.05.2020). 8 Sergei Kruk, Semiotics of Visual Iconicity in Leninist ›Monumental Propaganda’, in : Visual Communication 7 (2008) H. 1, S. 27–56. 9 Ekaterina Degot/Pawel Pepperstein, Dialog über die Scham, in : Ekaterina Degot/Julia Demidenko/ Irina Sandomirskaja (Hg.), Körpergedächtnis. Unterwäsche einer sowjetischen Epoche, Wien 2003, S. 58–66, hier S. 65. 10 Igor Mukhin (Hg.), In Search of Monumental Propaganda, Moskau 2018. 11 Gregory Freidin, Transfiguration of Kitsch. Timur Kibirov’s Sentiments, A Farewell Elegy for Soviet Civilization, in : Marina Balina/Nancy Condee/ Evgeny A. Dobrenko (Hg.), Endquote. Sots-Art Literature and Soviet Grand Style, Evanston 2000, S. 123–145. 12 Zum lächerlich machen der erhabenen Symbole durch die SozArt vgl. auch Maya Nadkarni/Olga Shevchenko, The Politics of Nostalgia. A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices, in : Ab Imperio 2 (2004) H. 4, S. 487–519, hier S. 499. Komar und Melamid antizipierten gewissermaßen den postsozialistischen Gebrauch der ideologischen Ikonen des Sozialismus. 13 Sandra Dahlke, Individuum und Herrschaft im Sozialismus. Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943), München 2010, S. 385–401. 14 Siehe (30.11.2016). 15 O finansirovanie razvitija meždunarodnogo
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Sozialistische Kindheit im Rückblick
detskogo centra »Artek« Nr. 900, September 10, 2014, URL : (30.11.2016). – Mathias Schepp, Putins Schicksalsinsel, in : Der Spiegel 33 (2014), S. 75–78. 16 Olga Kravets/Örsan Örge, Iconic Brands. A Socio-Material Story, in : Journal of Material Culture 15 (2010) H. 2, S. 205–232. 17 Zum allgemeinen Prozess der Dekontextualisierung und der semantischen Entleerung, der die sowjetischen Bilder und Symbole in postsowjetische Klischees verwandelt vgl. Sergej Alex Oushakine, »We’re Nostalgic But We’re Not Crazy«. Retrofitting the Past in Russia, in : Russian Review 66 (2007) H. 3, S. 451–482, hier S. 455 und 469. 18 Michail Bačurin, Večno junaja Alënka, in : upakovano.ru, URL : (04.05.2020). 19 Frühe Varianten finden sich hier : (26.09.2019). 20 Elizabeth Outka, Consuming Traditions. Modernity, Modernism and the Commodified Authentic, Oxford 2009, S. 4. 21 Julie Locher/William Yoels/Donna Maurer/Jillian von Ellis, Comfort Foods. An Exploratory Journey into the Social and Emotional Significance of Food, in : Food and Foodways : Explorations in the History and Culture of Human Nourishment 13 (2005) H. 4, S. 273–297. Zu den Marken : Walter Sperling, »Erinnerungsorte« in Werbung und Marketing. Ein Spiegelbild der Erinnerungskultur in gegenwärtigen Russland ?, in : Osteuropa 51 (2001) 11–12, S. 1321–1341 ; Jeremy Morris, The Empire Strikes Back. Projections of National Identity in Contemporary Russian Advertising, in : The Russian Review 64 (2005) H. 4, S. 642– 660 ; Kravets/Örge, Iconic Brands (Anm. 16) ; Graham H. Roberts, It’s (im)material. Packaging, Social Media and Iconic Brands in the New Russia 2013, URL : (04.05.2020). 22 Kravets/Örge, Iconic Brands (Anm. 16), S. 205 f. und 211. 23 Melissa L. Caldwell, The Taste of Nationalism. Food Politics in Postsocialist Moscow, in : Ethnos 67 (2002) H. 3, S. 295–319, hier S. 311 f. 24 Sergey Chernov, URL : (04.05.2020). 25 Monica Rüthers, Wegwerfbilder mit Nachleben. Sowjetische Verpackungen, virtuelle Konsumwelten und russische Eiscreme-Nostalgie, in : Historische Anthropologie 23 (2015) H. 2, S. 205–228. 26 Im Sommer 2014 ließ die Biermarke Sibirskaja Korona einen Werbespot für Youtube drehen, da Alkoholwerbung im russischen Fernsehen verboten ist. Held des Films ist der amerikanische Schauspieler David Duchovny (X-Files, Californication), dessen Großeltern aus seinerzeit zum Russischen Reich gehörenden polnischen bzw. ukrainischen Gebieten ausgewandert waren. In dem Clip blättert Duchovny vor dem inneren Auge in einem sowjetischen Fotoalbum und durchlebt dabei eine alternative, typisch »russische« Biografie mit Winterschwimmen, Banja, Polarexpedition und als Eishockeyspieler. URL : (08.02.2016) ; das Kvass Nikola warb 2007 mit einem Spot, in dem Michael Jackson in der Banja von Coca-Cola auf Kvass umstieg und daraufhin die Hitze ertragen konnte. Vgl. Andrey Privorotskiy, Kvass »Nikola« is a commercial that appeals to patriotism and positioning through denial 2014, URL : (04.05.2020). 27 Vgl. die mit staatl. Unterstützung gedrehte Dokuserie Hergestellt in der UdSSR (sdelano v SSSR), zu sehen auf (15.05.2018). 28 Sasha Raspopina, Sweet Nostalgia. Why the Ice Cream Brands of Communist Russia Are Still a Hot Favorite, in : The Calvert Journal. A guide to the new East (o.D.), URL : (04.05.2020). 29 Marcel Proust, Du côté de chez Swann. A la recherche du temps perdu, Bd. 1, Paris 1919, S. 48 f. 30 Edward Geist, Cooking Bolshevik. Anastas Mikoian and the Making of the Book about Delicious and Healthy Food, in : The Russian Review 71 (2012), S. 295–313, hier S. 299 ; Jukka Gronow, Caviar With Champagne. Common Luxury and
Versicherungen knüpfen an sowjetische Versprechungen an
the Ideals of Good Life in Stalin’s Russia, Oxford, New York 2003, S. 115 ff. 31 Zum Kindheitskult vgl. Catriona Kelly, A Joyful Soviet Childhood. Licensed Happiness For Little Ones, in : Evgeny A. Dobrenko/Marina Balina (Hg.), Petrified Utopia. Happiness Soviet Style, London 2009, S. 3–18. 32 Zum Kult um die GOST-Nummern vgl. Kravets/ Örge, Iconic Brands (Anm. 16) ; Svetlana Suchova, GOSTom budete. V Rossii gosudarstvo zaščitit provo každogo s’est’ nevkusnuju, no bezvrednuju kotletu 2006, URL :
(04.05.2020). 33 Alkohol und Zigaretten, die ebenfalls zu den beliebtesten sowjetischen Nostalgiemarken zählen, können die comfort foods der Kindheit ersetzen, werden hier aber aus Platzgründen nicht diskutiert, ebenso wenig wie der offensichtliche geschlechtsspezifische Aspekt. 34 Locher/Yoels/Maurer/Ellis, Comfort Foods (Anm. 21), S. 280 f. 35 Jon D. Holtzman, Food and Memory, in : Annual Review of Anthropology 35 (2006) H. 1, S. 361–378, hier S. 365 argumentiert mit Pierre Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, Cambridge 1977 und Paul Stoller, Embodying Colonial Memories. Spirit Possession, Power, and the Hauka in West Africa, New York 1995. Dabei spielen Konzepte wie Bourdieus Habitus, Connertons Körpererinnerung und Stollers einverleibte Erinnerungen eine Rolle. Ähnlich argumentieren auch Nadkarni/Shevchenko, The Politics of Nostalgia (Anm. 12), S. 501. 36 Constance Classen, Aroma. The Cultural History of Smell, London, New York 1994 ; Catherine Rouby/Benoist Schaal/Danièle Dubois/Rémi Gervais/André Holley (Hg.), Olfaction, Taste, and Cognition, Cambridge 2005 ; Fabio Parasecoli, Bite me. Food in Popular Culture, Oxford, New York 2008, S. 18. 37 Parasecoli, Bite me (Anm. 36), S. 17–18. 38 Olivia Angé/David Berliner (Hg.), Anthropology and Nostalgia, Oxford, New York 2015, S. 1. 39 Nadia Atia/Jeremy Davies, Nostalgia and the Shapes of History, in : Memory Studies 3 (2010) H. 3, S. 181–186.
40 Nadkarni/Shevchenko, The Politics of Nostalgia (Anm. 12). 41 Islamovalena aus Orenburg am 16.4.2014 unter der Überschrift »Eis Sovetskij Standart ›Plombir‹. Geschmack aus der Kindheit«, URL : (10.12.2016). 42 Ksenija Livanova aus Perm’ am 16.8.2015 über das Plombir slavica »Sovetskij«, URL : (10.12.2016). Übersetzung durch die Autorin. 43 Zu dem seit 2009 andauernden Retroeiscremeboom siehe Rüthers, Wegwerfbilder mit Nachleben (Anm. 25) ; Monica Rüthers, Essen als Politik. Weltoffenheit und Patriotismus im russischen Supermarkt, in : Osteuropa 65 (2015) 11–12, S. 89–102 ; Monica Rüthers, Süße Erinnerungen. Eisverpackungen als Träger populärer russischer Geschichtserzählungen zwischen Stalin und Pin-up 2016, URL : (04.05.2020). 44 Der Geschmack der Kindheit »in unserem Hof«, URL : (24.03.2020). 45 Die ursprüngliche Packung ist in der russischen Version der Webseite zu sehen : Chladokombinat »Udmurtskij« – moroženoe v stile retro, URL : (10.08.2016). 46 Morenkova, (Re-)Creating the Soviet Past in Russian Digital Communities (Anm. 1), S. 42 f.; Lilya Berezhnaya, Die Stalinzeit im russischen Postperestroika-Film, in : Jörg Ganzenmüller/ Raphael Utz (Hg.), Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung. Orte – Akteure – Deutungen, München 2014, S. 198–215, hier S. 213 f.; Felix Philipp Ingold, Diktatur als Volksherrschaft ? Hinweise und Überlegungen zur Restauration des Stalin-Kults in Russland, in : Neue Zürcher Zeitung, 7.4.2007, S. 9 f. 47 (10.09.2014) bzw : (20.08.2015). 48 Helena Goscilo, Luxuriating in Lack. Plentitude and Consuming Happiness in Soviet Paintings and Posters, 1920s–1953, in : Dobrenko/Balina, Petrified Utopia, S. 53–78. 49 Kelly, A Joyful Soviet Childhood (Anm. 31).
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Sozialistische Kindheit im Rückblick
50 Zit. nach : (10.09.2014) bzw.
(20.08.2015). 51 Djem-Plakat von V. Slatinskij, Marmelade ist für alle Kinder gesund. Ministerium der Nahrungsmittelindustrie der UdSSR (Glavkonserv), Moskau 1952, 60 × 93 43 cm, 20.000 Ex., Offset. Quelle : russianposter.ru, URL : (08.08.2016). 52 Foto : Marianna Zhevakina, Supermarkt okej, Prospekt Mira dom 211, korpus 2, am 25.09.2015. Das alte Logo ist auf der Webseite von Polaris zu sehen. URL : (30.10.2018). Weitere Informationen : »Ostankinskoe« – rodom iz detstva [Ostankinskoe – genau wie in der Kindheit], unipack.ru, 09.09.2013, URL : (04.05.2020) ; Galina Zinčenko : Uroki istorii. Počemu potrebiteli doverjajut sovetskim brendam. [Geschichtslektionen. Warum Verbraucher sowjetischen Marken vertrauen], in : Forbes, 12.01.2015, URL : (04.05.2020). 53 URL : < http://polaris-branding.com/portfolio/ ostankinskoe/> (04.05.2020). 54 Dominic Boyer, From Algos to Autonomos. Nostalgic Eastern Europe as Postimperial Mania, in : Marija Todorova/Zsuzsa Gille (Hg.), Postcommunist Nostalgia, Oxford 2012, S. 17-28 ; Ilya Kalinin, Nostalgic Modernization. The Soviet Past as ›Historical Horizon’, in : Slavonica 17 (2011) H. 2, S. 156–166 ; Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001, xvi.
8 Kindheit als Ressource – Ein Fazit
Unter dem Roten Stern geboren : Kulturelle Mobilität
Ein satter, halbnackter Säugling schlummert selig auf einem weißen Kissen unter einem rotwehenden Banner aus Samt mit einem Roten Stern darauf und der Aufschrift : »Wachse heran, Recke ! Die Rote Armee wacht über dich.« Deutlich schöpft das Bild aus Traditionen der christlichen Bildsprache und der europäischen Kunstgeschichte. Das helle, blonde männliche Kleinkind ist in seiner ungeschützten Nacktheit Symbol von Unschuld und Verletzlichkeit. Zugleich strahlt es in seinem entspannten Schlaf unendliches Vertrauen aus und steht mit seinem wohlgenährten Körper für Sicherheit und Zuversicht. Dafür sorgt das Symbol des Roten Sterns, der über dem Kind schwebt wie der Stern von Bethlehem über dem Jesuskind in der Krippe. Das von Fedor S. Šurpin (1904–1972) im Jahr 1948 geschaffene Plakat zeigt ein sowjetisches Waisenkind, das der väterliche Staat in seinen Institutionen mit Liebe und Fürsorge umgibt. Im Gegensatz zu vielen anderen Bildern der Nachkriegszeit, auf denen der Fürsorgestaat durch Frauen vertreten ist, ist dies ein männlich geprägtes Bild, in dem die Rote Armee als Retterin und Befreierin der Frauen und Kinder die Hauptrolle übernommen hat. Das Motiv des Waisenkindes knüpft deutlich an den Mythos des elternlosen, »göttlichen« Kindes an. Die Bezeichnung »Recke« in der Inschrift und das Motiv des Schlafes stellen das Kind zugleich in die Tradition der russischen Heldenmythologie : Sie weisen ihm die übermenschlichen Kräfte der legendären »drei Recken« Il’ja Muromec, Dobrynja Nikitič und Aleša Popovič zu, die Viktor M. Vasnecov (1848–1926) in einem ikonischen Gemälde (1881–1898) verewigt hat.1 Vor allem der heiliggesprochene Il’ja Muromec hatte sich um den Schutz der Rus’ verdient gemacht und beispielsweise die Tataren besiegt. Er fiel nach seinen Heldentaten jeweils in einen tiefen Schlaf, aus dem er sofort erwachte, wenn das Land in Gefahr war, stets bereit, es zu verteidigen. Diese Recken waren in der sowjetischen und sind in der russischen Populärkultur als Identifikationsfiguren außerordentlich präsent und spielen eine wichtige Rolle im kollektiven Imaginären. Der Rückgriff auf diese Motivtraditionen weist über den unmittelbaren sozialen Zusammenhang hinaus und verleiht dem Bild ein heilsgeschichtliches Pathos. Es ist auch beispielhaft für den Sozialistischen Realismus : Dessen künstlerischer Auftrag verlangte, die »Realität in ihrer revolutionären Entwicklung« zu zeigen, und erzeugte dadurch einen transformativen Blick,2 der in jeder Baugrube bereits den fertigen Palast und in jedem männlichen Säugling den künftigen »Recken« erkannte. Die Komposition ist ein Beispiel für kulturelle Mobilität. Sie führt vor, wie Bilder wandern, wie Stile und Bildformeln über Zeiten, Räume und Kulturen hinweg aufgegriffen, angeeignet und jeweils aus aktuellen Bedürfnissen heraus mit spezifischen Bedeutun241
Kindheit als Ressource – Ein Fazit
gen versehen werden.3 Kinderbilder zirkulierten im 20. Jahrhundert durch verbesserte Drucktechniken in der Presse, auf Postkarten, in Bildzeitschriften und Fotobüchern, auf Briefmarken oder im Film länder- und systemübergreifend und wurden in verschiedenen zeitlichen und örtlichen Kontexten auf spezifische Weisen verhandelt und mit Bedeutungen befrachtet ; so auch in der Sowjetunion. Dieses Buch fragt danach, wie Bilder von Kindern Geschichte machten, und entwirft zugleich eine visuelle Geschichte der Sowjetunion. Es identifiziert und analysiert beliebte Pathosformeln und zeichnet die Entstehung eines Motivkanons und die Herausbildung von Typologien am Beispiel sowjetischer Kinder im Bild nach. Dabei wird offensichtlich, dass die sowjetische Ikonografie der Kindheit aus vorsowjetischen europäischen Motivtraditionen und Ästhetiken gespeist wurde und auch später Motive aus transnationalen Kontexten integrierte. Sowjetische Kinderbilder waren Teil umfassender Entwicklungen, die im 19. Jahrhundert im Rahmen der Entstehung der bürgerlichen Kernfamilie aus dem Kind ein kostbares, emotional besetztes Gut gemacht hatten. In der Folge wurde das 20. Jahrhundert gewissermaßen zum Jahrhundert des »Plakatkindes«, das als emotionaler Verstärker für alle Themen diente und das Kindeswohl als schlagendes Argument etablierte.4 Kinderbilder wurden in zahlreichen Ländern von sozialen oder politischen Bewegungen, von Organisationen und auch zu kommerziellen Zwecken in ähnlicher Weise eingesetzt wie in der Sowjetunion. Der Blick auf das Kind war zugleich der Blick auf die Gesellschaft und in die Zukunft.5 Es gab erkennbar ähnliche Motive und gemeinsame Vorstellungen von Kind und Kindheit. Die Übertragbarkeit der emotionalen Wertigkeit war dabei gerade der Vorteil des glücklichen Kindes als Werbebild. Dasselbe galt für die oft dem Realismus, der Romantik oder der christlichen Ikonografie entlehnten Kompositionen und Darstellungsweisen. Um 1900 waren Kinder im Bild und in pädagogischen Konzepten in europäischen Ländern Träger unterschiedlicher Gesellschaftsutopien, die in einigen Ländern dann zu mehr oder weniger offensichtlich vereinnahmten »Staatskindern« mit einer Mission wurden. Im 20. Jahrhundert erschienen Kinder in Bildern gesellschaftspolitischer Kampagnen als Notleidende, die Hilfe und Schutz brauchten. Hier interessiert die Frage, wie solche Motive sowjetisch angeeignet und neu codiert wurden. Denn das Universum sowjetischer Kinderbilder und deren Allgegenwart waren im internationalen Vergleich einzigartig. Das belegt die vorliegende Studie : Welch anderen Landes visuelle Geschichte ließe sich so wie die Sowjetische anhand von Kinderdarstellungen erzählen ? Einzigartig war auch das Maß der staatlichen Kontrolle über die Produktion und Verteilung von Bildern bis hin zu den Betrachtungs- und Deutungskontexten von den frühen 1920er Jahren bis in die späten 1980er Jahre.
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Stabilisierende Wirkung von Typen und Topoi
Stabilisierende Wirkung von Typen und Topoi
Die sowjetische Gesellschaft entwickelte sich dynamisch und widersprüchlich, und dabei wandelten sich Werte und Normen gerade auch in Bezug auf familiäre Beziehungen : Die angestrebte Befreiung der Frauen von reproduktiven Tätigkeiten, ihre Einbindung in die Arbeitswelt zum Aufbau des Sozialismus, aber auch die Debatten um die Auflösung der Familie und kollektive Formen des Zusammenlebens bedeuteten Eingriffe in vertraute traditionelle Verhältnisse. Inmitten dieser Umbrüche, die alle sozialen Beziehungen veränderten, stellten die Kinder und die Bilder der Kinder einen bleibenden Wert dar. Das war sicher auch eine Botschaft hinter der kindbezogenen Propaganda : Alles ändert sich ; der paternalistische Staat übernimmt die Sorge für die Kinder und ihre Zukunft ; wer den Staat unterstützt und den Kommunismus aufbaut, arbeitet an der Zukunft dieser Kinder. Die Verbreitung dieser Botschaften geschah in einer sehr heterogenen sowjetischen Lebensform zwischen Altem und Neuem, Enthusiasmus und Gleichgültigkeit, Mangel und Gewalt, aber auch im Zuge der Verheißung eines Lebens im Überfluss. In der frühen Sowjetunion war die Kindheit Gegenstand intensiver pädagogischer Debatten : Die nach der Revolution zwischen 1922 und 1926 geborenen Kinder waren die Ersten, die in der Sowjetunion erzogen wurden, für die der Staat ganz gezielt eine sowjetische kulturelle Identität entwarf und die er zu formen versuchte.6 Die Sowjetunion nahm einerseits europäische Kindheitskonzepte auf, gestaltete sie aber auch neu. In den 1920er und 1930er Jahren verfolgten die Kinder in Filmen,7 in Geschichten oder auf Plakaten und Postkarten häufig »erwachsene« Aktivitäten ; sie spielten nicht, sondern »arbeiteten«. Selbst kleine Kinder wurden als politische Akteure dargestellt, die wie kleine Erwachsene »Meetings« abhielten, an denen sie saubere und trockene Windeln, die Mutterbrust und gesunde Eltern forderten. Die Umstrukturierung des Bildungswesens führte bald zu einer hohen Alphabetisierungsrate unter Kindern. Kinder im Schulalter waren bei den Pionieren und agitierten. Dabei überwachten und erzogen sie auch ihre Elterngeneration. Schulkinder sollten ihren Eltern die Zeitung vorlesen und so an deren Umerziehung zu Sowjetbürgerinnen und bürgern mitwirken. Die Kinder auf den Bildern, die in den sowjetischen Medien verbreitet wurden, besuchten die sowjetischen Kindergärten und Schulen, sie lernten fleißig und diszipliniert und arbeiteten bei regelmäßigen Einsätzen, vor allem in der Landwirtschaft. Das emotionale Gegenbild zu diesen vorbildlichen, aber etwas anstrengenden »Plakatkindern« schuf die zeitgleiche Genremalerei mit Darstellungen des müßigen, spielenden »romantischen Kindes« in der Natur. Während der Stalin-Zeit wurden im Rahmen des Sozialistischen Realismus gezielt Typen und Topoi geschaffen. Der Sozialistische Realismus diente als wirkmächtiges Medium bei der Formung und Verbreitung von Kinderbildern. Dieses Regelwerk war weit mehr als nur eine Kunstdoktrin : Es prägte die sowjetischen Bildwelten über 60 Jahre, also über mehrere Generationen hinweg, und formt das Weltwissen der Sowjetbürgerin243
Kindheit als Ressource – Ein Fazit
nen bis heute. In seinen Anfängen handelte es sich um eine Anleitung für Kunst- und Kulturschaffende, deren Werke parteilich, volkstümlich und wirklichkeitsnah sein sollten. Die Wirklichkeit sollten sie immer »in ihrer revolutionären Entwicklung« zeigen und das »Typische« betonen. Den Sowjetbürgerinnen und -bürgern der 1930er Jahre boten diese Regeln und die in den Werken vorgeschlagenen Perspektiven auf die Gegenwart Orientierung in einer Zeit großer Unsicherheit und Gewalt, in einem unberechenbaren und chaotischen Alltag. Sie waren Interpretationsanleitung, Erklärung und Trost in einer Welt, die erst vom Terror und dann vom Krieg geprägt war. Sie vermittelten ein Wertegerüst, eine Moral und waren scheinbar eindeutig, wenn es um richtig oder falsch ging. Das Regelwerk und die Kulturpolitik führten bald zur Bildung eines festen Kanons, der zwar Sicherheit ausstrahlte, dabei aber wandelbar und anpassungsfähig, letztlich auch unscharf und schwer greifbar blieb. Zu den Gewissheiten gehörten eindeutige, klassische ästhetische Regeln, welche das Wahre, Gute und Schöne im sowjetischen Sinn definierten. Kinder waren in diesen Zusammenhängen ein besonders tröstliches und einendes Motiv, das dem Regelwerk entsprechend ausgestaltet wurde. Vier Kindertypen sind in den sowjetischen Bildwelten deutlich erkennbar : erstens das »universelle«, allsowjetische Kind : Formeln der Verallgemeinerung im Bild waren der Blick der Betrachter über die Schulter der Kinder, eine mittlere Distanz, Gruppen, Kollektive oder Reihen von Kindern, Typisierung und die Einbettung in spezifisch sowjetische Umgebungen, Rituale und Handlungen, die von Ernst, Konzentration und Arbeit erzählten. Zweitens gab es das »romantische« Kind, das Porträts, die Genremalerei und -fotografie in selbstvergessener Pose in die Natur betteten, barfuß und scheinbar frei von Zwängen. Dies war das »kostbare« Kind, das den Neubeginn und die Zukunft ebenso verkörperte wie das »göttliche« Kind, welches den dritten Typus darstellt. Dieses verweist auf das Wesen Gottes. Es ist zugleich ausgeliefert und bedroht und verfügt über übermenschliche Kräfte. Seine Attribute sind die geheimnisvolle Herkunft, oft als Elternlosigkeit ausgeprägt, Doppelgeschlechtlichkeit, wie in den paarweisen Darstellungen des Neuen Menschen häufig erkennbar, die Lichtgestalt des Heilsbringers sowie wunderbare Weisheit und Kraft. Das »funktionale« Kind als vierter Typus ist ein Motiv der sowjetischen Moderne : Identisch gekleidete Kinder in Uniform oder fest gewickelte Säuglinge in Reihen und standardisierten Bettchen wie aus der industriellen Massenproduktion betonen Serialität und Menge, sie verkörpern als »Staatskinder« die heranwachsende Generation, die »künftigen« Werktätigen und Verfechter der sowjetischen Idee. In die Kategorie der Topoi fallen die Darstellungen der institutionalisierten Kinder vom Neugeborenen im Geburtshaus über das Kind auf der Waage, in der Krippe, Schule und Pionierorganisation bis zum Schulabschluss. Die sowjetische Schülerin glich der russischen Schülerin des 19. Jahrhunderts, der hochgehaltene halbnackte Säugling war der christlichen Ikonografie entlehnt, selbst Stalin erschien als Christophorus. Das hochgehaltene Kind ist ein Beispiel dafür, wie diese Topoi mit Pathosformeln verbunden waren. Ein wichtiger Topos und eine genuin sowjetische Bildschöpfung war in den 244
Glückliche Kinder, Neubeginn, Weltfrieden
1920er Jahren das Kind als Akteur und Arbeiterin : Kleinkinder demonstrierten für ihre Bedürfnisse. Zugleich warben Plakate auf konventionelle Weise für den Schutz hilfloser und verletzlicher Kinder : Mütter sollten Neugeborene nicht aussetzen, Eltern ihre Kleinkinder nicht schütteln. Beide, das Kind als Akteur und das schutzbedürftige Kind, waren gleichermaßen Ausdruck der Neuschöpfung sowjetischer Verhältnisse und der Bedeutung, die Kindern als Trägern der Zukunft zugemessen wurde.
Glückliche Kinder, Neubeginn, Weltfrieden
Der Sozialistische Realismus schöpfte aus dem europäischen Fundus, eignete sich die Motive an und spielte sie zurück. Ab den frühen 1930er Jahren grundierten glückliche Kinder die sowjetischen Bildwelten durch alle Medien hindurch. Sie waren der Beweis für die Errungenschaften, legitimierten vorübergehende Missstände durch das Versprechen einer besseren Zukunft für die Kinder und wurden auch international in doppelter Bedeutung präsentiert : An der Weltausstellung in New York 1939 etwa zeigten die glücklichen Kinder den gegenwärtigen Wohlstand, aber auch die künftige Stärke der heranwachsenden sowjetischen Generationen.8 Im Innern schufen die Bilder der typischen sowjetischen Kindheit über die Typologien der Kinder wie auch über die überall verbreiteten Fürsorge, Bildungs- und Freizeitinstitutionen die mächtige Vorstellung einer umfassenden kollektiven sowjetischen Kindheit. Diese allsowjetische Kindheit diente als imperiale Herrschaftstechnik auch dazu, den Zusammenhalt der Sowjetunion zu stärken und zu zeigen, dass die Errungenschaften der sowjetischen Modernisierung und Kulturmission durch Geburtshäuser, Krippen und Schulen auch den Völkern an der Peripherie zugutekamen. Zugleich waren diese Institutionen Agentinnen der Sowjetisierung und machten die Kindheit zum imperialen Projekt. Von den 1920er bis in die 1950er Jahre hinein entwickelte sich das Motiv vom Kind als Zukunftsträger über die allsowjetische Kindheit als imperiales Projekt zur heterotopischen Funktion der glücklichen Kindheit und ihrer Räume, herausgelöst aus den realen sozialen Kontexten. Die glückliche sowjetische Kindheit wurde zum »anderen« Raum, in den sich Erwachsene aus dem aufreibenden Alltag flüchten konnten, der aber zugleich die sowjetischen Wirklichkeiten als defizitär denunzierte. In der Nachkriegszeit standen Kinder in den betroffenen Ländern für das unschuldig erfahrene Leid des Krieges, aber auch für den Neubeginn. Gerade im Film wurde das deutlich. In der Sowjetunion verschob sich der »Aufbruch« in die Zeit nach Stalins Tod und in die Tauwetterperiode. Insbesondere in den Bereichen internationale Verständigung und Frieden spielten Kinderbilder eine wichtige Rolle. Das zeigte etwa anfangs der 1950er Jahre die Fotoausstellung Family of Man, die vom Leiter der Fotoabteilung des MoMA kuratiert wurde und vom humanistischen Stil der Agentur Magnum beeinflusst war. Sie legte den Fokus auf das Allgemein-Menschliche, das alle Kulturen verbinde. Kin245
Kindheit als Ressource – Ein Fazit
derbilder suggerierten die Gleichartigkeit der Menschen in aller Welt, Harmonie und die Möglichkeit des Friedens. 1959 wurde die Ausstellung in Moskau gezeigt und machte großen Eindruck. Diese Idee von Frieden und Weltgemeinschaft fand ihren Ausdruck nach dem Sputnik-Erfolg 1957 und Gagarins erstem Flug ins All in einer weiteren genuin sowjetischen Bildschöpfung, nämlich in der Motivverbindung von Kindheit und Kosmos. Das Kind als kleiner Kosmonaut verwies auf die Zukunft, in der die Menschheit den Kosmos erobern und besiedeln würde.9 In »West« und »Ost« bündelten und verhandelten Kinderdarstellungen politische, technische und wirtschaftliche sowie kulturelle und soziale Themen »im Kleinen«. Nicht nur der sowjetische Kindheitskult war dabei von grundlegenden Paradoxien unterlegt : Kindheit wurde zwar als apolitischer Raum konstruiert, dann aber als solcher intensiv politisch instrumentalisiert. Die sowjetischen Kinder erschienen einerseits als politische Rollenträger und institutionelle Funktionskinder in Uniform, andererseits als romantische, freie Kinder in idyllischen Umgebungen. Gewalt, Versehrtheit und das »böse« oder rebellische Kind wurden, abgesehen vom Ausnahmezustand des Krieges, systematisch aus der Öffentlichkeit verdrängt und unsichtbar gemacht. Auch wenn es im Bild Formeln des Scheiterns und die Figuren des Einzelgängers, des Faulpelzes, der Petze oder des Schleimers gab, dienten diese nur dem Spannungsaufbau, als vorübergehende Fehltritte, vor denen sich die glückliche und brave Kinderschar und die positiven Heldinnen um so vorteilhafter abhoben. Auch über die 1950er Jahre hinaus blieb die »sowjetische Kindheit« ein nach Kräften geschützter Raum. Die Text-Bild-Beziehung schuf jeweils die spezifisch sowjetischen Botschaften. Hatte es von den 1930er bis in die 1950er Jahre geheißen : »Wir danken Dir, lieber Stalin, für unsere glückliche Kindheit !«,10 lautete die Botschaft der 1960er bis 1980er Jahre : »Nirgends ist die Kindheit so behütet wie in unserem Land.«11 Das war ein kleiner Trost für die Erwachsenen des Spätsozialismus, deren Träume von einer besseren Zukunft sich nicht verwirklicht hatten. Die Kinderräume, beispielsweise die Pionierlager, wurden nicht nur zu imaginären, sondern auch zu ganz realen Rückzugsräumen, insbesondere für Frauen. Dieser Aspekt verdient weitere Untersuchungen.
Kinderbilder zwischen Subversion und Verheißung
In den 1970er Jahren wurden Kinderbilder mehrdeutig. Künstlerinnen und Künstler thematisierten den Kinderkult, das Ausbleiben der verheißenen lichten Zukunft und die Infantilisierung der Gesellschaft, indem sie sich als Kinder inszenierten : Komar und Melamid als Pioniere mit Fanfare, die Leningrader Mit’ki als ewige Kinder und Blödelspezialisten. Filme wie Dobro požalovat’ ili postoronnim vchod vospreščën (Herzlich Willkommen oder Unbefugten Eintritt verboten, Ėlem G. Klimov, 1964) oder Sto dnei posle detstva (Hundert Tage nach der Kindheit, Sergej A. Solovev, 1975) nutzten die Pionierlager als 246
Kindheit wird zur politischen Ressource
Metapher und entwarfen ironische Gesellschaftsbilder der Sowjetunion im Kleinen. Die Reportagefotografie wandte sich den sozialen Realitäten zu. Fotografen schufen neben den erwünschten optimistischen Bildern auch Aufnahmen von Kindern, die diese als Teil einer harschen sowjetischen Realität und jenseits der Verheißungen des Kommunismus zeigte. Aber auch in den offiziellen Bildwelten erhielten das Private und die emotionalen und familiären Beziehungen als Verheißungen privaten Glücks mehr Raum. Raum war hier im doppelten Sinn von Bedeutung : Privates Glück war in den Bildern von Interieurs in den schnellwachsenden Neubauvierteln auch mit der Verheißung von sozialem Status verbunden. Aufnahmen von Familien in ihren Wohnungen betonten Kultiviertheit, Rückzugsmöglichkeiten und das Privileg einer neuen oder großen Wohnung. Die sowjetische Familien- und Knipserfotografie wird in letzter Zeit intensiv erforscht. Seit den 1960er Jahren wurde das Fotografieren zu einem zunehmend günstigen und verbreiteten Hobby. Der Vergleich privater Alben mit offiziellen Fotobüchern, dem Paradebeispiel sowjetischer Selbstdarstellung mit hohem Kinderanteil, zeigt, dass lange Zeit offizielle Bildmuster die Familienalben prägten, während ab den späten 1950er Jahren zunehmend spontane, schnappschussähnliche Aufnahmen aus dem familiären Bereich Eingang in offizielle Fotobücher fanden. Das Heranwachsen der Kinder war in beiden Medien ein zentrales Motiv. Dabei galt für die Kinderfotos in den Fotobüchern und in den Alben in der Sowjetunion wie anderswo auch, dass das Besondere, der wichtige Moment im Leben neben dem süßen oder drolligen Kind die wichtigsten Motive vorweggenommenen Erinnerns waren. Zugleich sind Familienfotos ein intimer Raum, in dem das Heranwachsen der Kinder dokumentiert und für die Nachwelt konserviert wird – im Einklang mit, aber auch in Abgrenzung von obrigkeitlichen Ansprüchen. Seit der Aufbruchstimmung des Tauwetters verschob sich die Darstellung der Kinder in den Parade bänden. Unter die »Staatskinder«, deren behüteter Lebensweg vom Geburtshaus über die Gesundheitskontrollen, Krippe und Kindergarten über Pioniere und Komsomol, Schule und Universität nachgezeichnet wurde, mischten sich immer mehr »universelle«, »romantische« und spontane Kinder in Aufnahmen, die deren Natürlichkeit betonten. Waren nun diese Darstellungen privaten Glücks, oft aus den Familien der Fotografen selbst, Übergriffe des Staates in die Privatsphäre der Bürger oder Zeichen des staatlichen Nachgebens gegenüber Ansprüchen der Menschen auf mehr Privatsphäre ?
Kindheit wird zur politischen Ressource
Es waren zahlreiche Akteurinnen und Agenten, die den sowjetischen Bilderkanon definierten, Trends schufen, verbreiteten, förderten und kontrollierten. Neben den Spitzen von Partei und Staat waren die Ausbildungsstätten und die dort Lehrenden beteiligt, aber auch Hofkünstler wie Maksim Gor’kij und stilbildende Maler wie Isaak I. Brodskij (1883–1939), Sergej W. Gerasimov (1885–1964) oder Jurij I. Pimenov (1903–1977). 247
Kindheit als Ressource – Ein Fazit
Einige Künstler wie Fedor P. Rešetnikov (1906–1988) und vor allem Nikolaj N. Žukov (1908–1973) spezialisierten sich auf Kinderdarstellungen. Neben Genrefotografen und Bildredakteuren wie Semën O. Fridljand (1905–1964) oder Vladimir Lagranž (*1939) prägten Theoretikerinnen, Kritiker, Museen und Ausbildungsstätten den Kanon und die führenden Zeitschriften, in denen Werke abgedruckt und besprochen wurden. Medien der massenhaften Verbreitung waren Postkarten ebenso wie die populäre Illustrierte Ogonëk, die Bildeinlagen veröffentlichte, die man heraustrennen und sich in die Stube hängen konnte, die renommierte Fotozeitschrift Sovetskoe Foto oder Ausstellungen. Es gab aber auch Einflüsse aus dem Ausland, durch Künstlerkontakte, Reisen, den Krieg, internationale Ausstellungen und Programme des Kulturaustauschs, Jugend- oder Filmfestivals und Medien wie Fernsehen, Bildzeitschriften und Fotobücher. Postkarten und Briefmarken waren grenzüberschreitend, und Bildagenturen standen im internationalen Austausch. Diese Erlebnisse veränderten die Betrachtungskontexte der »eigenen« Bilder und deren Interpretationsrahmen. Kindheit ist einerseits eine anthropologische Konstante als Phase des Lebens, die alle Menschen durchlaufen. Zugleich ist sie kulturell und zeitlich gebunden. Die Grundfrage der »sowjetischen Kindheit« ist die nach dem spezifisch sowjetischen Einfluss auf Kindheitsvorstellungen nach der Revolution und im weiteren Verlauf des sowjetischen Projektes. Die Bolschewiki wollten zwar den Neuen Menschen schaffen, entwickelten jedoch jenseits der frühen, als politische Akteure und Erzieher ihrer Eltern stilisierten Kinder keine grundlegend neuen Kindheitskonzeptionen. Es war ähnlich wie bei den Geschlechterrollen, die ebenfalls zunächst herausgefordert, dann aber nicht grundlegend neu gedacht wurden. Die Sowjetunion mobilisierte die Bevölkerung und bewarb die Veränderungen mit Bildern gut versorgter und glücklicher Kinder. Dem mit aller Gewalt angestrebten Ideal einer modernen Nation widersprachen jedoch bis in die 1950er Jahre hinein die von Terror und Not geprägten Verhältnisse sowie eine hohe Zahl von Waisen, obdachlosen und delinquenten Kindern. Ein Hinweis darauf, was zeigbar und was nicht zeigbar war, sind kritische Fotos und Künstlerfotos. Sie vertraten Einzelpositionen und konnten auch das nicht Zeigbare sichtbar machen oder die Grenzen des Zeigbaren ausloten. Kinder auf Werbebildern auch von politischen Parteien und Systemen waren ein Kennzeichen des 20. Jahrhunderts. Spezifisch sowjetisch waren jedoch die Allgegenwart und Intensität der Kindermotive in der visuellen Kultur. Sie sollten den sowjetischen Anspruch verkörpern, der ideale Wohlfahrts- und Fürsorgestaat zu sein. Die behütete Kindheit bildete eine wichtige politische Ressource. Dafür steht das blonde Knäblein unter dem Roten Stern als kommunistischer Heilsbringer. An solchen Bildern zeigt sich aber auch die Funktion der russischen Kultur als Leitkultur und die Rolle der Kinder im sowjetischen imperialen Projekt. Die sowjetischen Kinder wuchsen in dem Bewusstsein auf, als Auserwählte im besten aller Länder zu leben. Zugleich waren sie eingebettet in 248
Anmerkungen
soziale, geschlechtsspezifische, ethnische und regionale Hierarchien des Imperiums.12 Reisen, Brieffreundschaften, der Tausch von Briefmarken und Postkarten, Begegnungen beim Besuch in Moskau oder in den allsowjetischen Pionierlagern Artek und Orlënok sorgten nicht nur für Austausch und Zusammenhalt, sondern vermittelten auch ein Bild des Landes. Fotoalben, Kinderzeitschriften und literatur oder Verhaltensrichtlinien wie die »Freundschaft der Völker«, Fotobücher, Schulzimmer, Ausstellungen, Museen und Filme – überall war das Wissen über die räumlichen, sozialen und ethnischen Hierarchien der Sowjetvölker vertreten und präsent. Und meistens wurde dieses Wissen über Kinderdarstellungen vermittelt.
Anmerkungen 1 Helena Goscilo, Viktor Vasnetsov’s Bogatyrs. Mythic Heroes and Sacrosanct Borders Go to Market, in : Valerie A. Kivelson/Joan Neuberger (Hg.), Picturing Russia. Explorations in Visual Culture, New Haven 2008, S. 248–253. 2 Valerie A. Kivelson/Joan Neuberger, Seeing into Being. An Introduction, in : dies., Picturing Russia, S. 1–11 (Anm. 1), hier S. 6. 3 Stephen Greenblatt, Cultural Mobility. An Introduction, in : Stephen Greenblatt/Ines Županov/ Reinhard Meyer-Kalkus/Heike Paul/Pal Nyíri/ Friederike Pannewick (Hg.), Cultural mobility. A manifesto, Cambridge, Mass. 2010, S. 1–23. 4 Karen Dubinsky, Children, Ideology, and Iconography. How Babies Rule the World, in : The Journal of the History of Childhood and Youth 5 (2012) H. 1, S. 5–13. 5 Doris Bühler-Niederberger, Einleitung. Der Blick auf das Kind – gilt der Gesellschaft, in : dies. (Hg.), Macht der Unschuld. Das Kind als Chiffre, Berlin 2005, S. 9–22 ; Grischa Müller, Die Macht des Bildes. Das Kind im politischen Plakat, in : Bühler-Niederberger, Macht der Unschuld, S. 149–184. 6 S. A. Smith, The First Soviet Generation. Children and Religious Belief in Soviet Russia, 1917–41, in : Stephen Lovell (Hg.), Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke 2007, S. 79–100, hier S. 81 ; Catriona Kelly, Shaping the »Future Race«. Regulating the Daily Life of Children in Early Soviet Russia, in : Christina Kiaer/Eric Naiman (Hg.), Everyday Life in Early
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Kindheit als Ressource – Ein Fazit
Kraftwerken an der Wolga, in Zentralasien und in Sibirien lebte. Vgl. Monica Rüthers, Das Leben als Expedition. Die Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs (1940er- bis 1970er-Jahre),
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise Soweit nicht anders angegeben, stammen die Abbildungsvorlagen von der Autorin. Einl. 1 Valentin A. Serov (1865–1911), Mädchen mit Pfirsichen (Veročka), 1887, Öl auf Leinwand, 91 × 93 85 cm, Staatliche Tretjakov-Galerie Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) Einl. 2 Il’ja Repin (1844–1930), Wolga-Treidler, 1870–1873, Öl auf Leinwand, 131,5 × 93 281 cm, Staatliches Russisches Museum Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) Einl. 3 Rudolf R. Frenc (1888–1956), Plakat zum Thema Straßenkinder (besprizornye), 1923, Farblithografie, 70,5 × 93 93 cm, 20.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : Einl. 4 Ivan V. Simakov (1877–1925), Plakat zur Woche des Kindes, 1920, Lithografie, 50 × 93 66 cm, Auflage unbekannt Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : Einl. 5 Unbekannter Künstler, Aufklärungsplakat Setze dein Kind nicht aus, 1925 Foto : Bildband »Deti, naše buduščee«, Moskau 2007, Abb. 8 Einl. 6 Nikolaj M. Kočergin (1897–1974), Plakat zur Woche des Kindes, 1921, mit georgischer Beschriftung, Farblithografie, 85 × 93 60 cm, Auflage unbekannt Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : Einl. 7 Fotografie in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die USSR im Bau), 1934 Nr. 4, o. S. Foto : Staats- und Universitätsbibliothek der Universität Hamburg Einl. 8 Fotografie in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die USSR im Bau), 1934 Nr. 6, o. S. Foto : Staats- und Universitätsbibliothek der Universität Hamburg 2.1 Vera I. Muchina (1889–1953), Arbeiter und Kolchosbäuerin, Sowjetischer Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937, Fotografie aus dem deutschen Bundesarchiv Bild 146-1990-036-19 Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) 2.2 Vassilij P. Efanov (1900–1978), Bürger unseres Landes (Znatye ljudi strany sovetov), 1935, Öl auf Leinwand, 1100 × 93 1700 cm, Staatliche Tretjakov-Galerie Foto : Internetplattform , Eintrag vom 19.05.2017 in der Rubrik »Museum«, URL : (04.05.2020) 2.3 Kuz’ma Petrov-Vodkin (1878–1939), Petrograd 1918, 1920, Öl auf Leinwand, 73 × 93 92 cm, Staatliche Tretjakov-Galerie Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) 2.4 Michail Savickij (1922–2010), Partisanen-Madonna von Minsk, 1978, Öl auf Leinwand, 207 × 93 142 cm, Nationales Kunstmuseum Minsk Foto : E. Pugačeva : Michail Savickij, Minsk 1982, Abb. 1.
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise
2.5 Fedor V. Antonov (1904–1994), Plakat Ehre den sowjetischen Müttern !, 1944, 57,5 × 93 41,6 cm Foto : Datenbank »Tramvai Iskusstv«, URL : , (04.05.2020) 2.6 Iraklij M. Toidze (1902–1985), Plakat Stalins Liebkosung erhellt die Zukunft unserer Kinderschar, 1947, Farblithografie, 59,5 × 93 41,5 cm, Auflage unbekannt Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.7 Titelblatt der Zeitschrift Ogonëk, Nr. 18 1950 Foto : Datenbank »Žurnaly SSSR«, URL : (04.05.2020) 2.8 Viktor I. Govorkov (1906–1974) Plakat Dem Sowjetland – sowjetische Recken !, 1935, Farblithografie, 59 × 93 91 cm, 75.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.9 Mark Markov-Grinberg (1907–2006), Glückliche Mutterschaft, 1935, Fotografie aus dem Gebiet Stavropol Foto : Brigham Young University Museum of Art, URL : (04.05.2020) 2.10 Fotografie aus dem Bildband Die Frauen der Ingenieure (Ženy inženerov), Moskau 1937, o. S. 2.11 Dementij A. Šmarinov (1907–1999), Plakat Räche !, 1942, Offset, 92 × 93 59 cm, 50.000 Ex. Foto : Zegers, Peter Kort/Druick, Douglas (Hg.) : Windows on the War : Soviet Tass Posters at Home and Abroad, 1941–1945. New Haven, 2011, S. 126, Abb. 51 2.12 Fotografie aus dem Archiv der Berliner Zeitung, Straße im belagerten Leningrad, 1942 (Plakat von Viktor Koreckij) Foto : AKG images, © VG Bildkunst 2.13 Dementij A. Šmarinov (1907–1999), Plakat Tod den Faschisten !, 1943, Farblithographie, 79 × 93 56 cm, Auflage unbekannt Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.14 Maria A. Nesterova (1897–1965), Plakat Papa, töte den Deutschen !, 1942, Farblithografie, 81 × 93 57,4 cm, 200.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.15 Evgenyj V. Vučetič (1908–1974), Monument im Treptower Park in Berlin Soldat-Befreier, 1949, Aufnahme von 1950 aus dem Bundesarchiv Bild 183-19204-0945 Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) 2.16 Sowjetische Briefmarke mit dem Motiv des Soldaten-Befreiers (Treptower Park), 1970 Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) 2.17 Georgij M. Jablonskij (1915–1956), Die Unsrigen in Prag, 1948–1949, Öl auf Leinwand, Nationalmuseum Lvov Foto : Ogonëk Nr. 18, 1970, S. 18/19 2.18 Sowjetischer Soldat mit einem tschechischen Jungen im Arm, Prag im Mai 1944 Foto : AKG images 2.19 Viktor S. Ivanov (1909–1968), Plakat Sei glücklich, Liebling !, 1955 Foto : Bildband »Deti, naše buduščee«, Moskau 2007, Abb. 216
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise
2.20 Boris F. Berezovskij (1910–1977), Plakat Wachse heran, Recke !, 1950, Offset, 84 × 93 59 cm, Auflage unbekannt Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.21 Fedor S. Šurpin (1904–1972), Plakat Wachse heran, Recke ! Dich behütet die Sowjetische Armee !, 1948, Farblithografie, 80,5 × 93 58 cm, 50.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.22 Nikolaj N. Žukov (1908–1973), Plakat Wir umgeben die Waisen mit mütterlicher Fürsorge und Liebe !, 1947 Foto : Datenbank »Stalinka. Digital Library of Staliniana«, University of Pittsburgh, URL :
(04.05.2020) 2.23 Briefmarke V. I. Lenin bei Neujahrsfest in Sokolniki (zum 90. Geburtstag Lenins), 1960 Foto : wikimedia commons, URL : (04.05.2020) 2.24 Titelblatt der Zeitschrift Ogonëk Nr. 1, 1970 Foto : Datenbank »Žurnaly SSSR«, © VG Bildkunst, URL : (04.05.2020) 2.25 Alexander Dejneka (1899–1969), Künftige Piloten, 1938, Öl auf Leinwand, 131 × 93 161 cm, Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau Foto : Groys, Boris u. a. (Hg.) : Traumfabrik Kommunismus, Ostfildern-Ruit 2003 2.26 Illustration in dem Bildband Die Frauen der Ingenieure (Ženy inženerov), Moskau 1937, o. S. 2.27 Nikolaj I. Ul’janov (1875–1949), Rotkehlchen, 1964, Öl auf Leinwand, Maße unbekannt Foto : Blogeintrag »Chudožnik Nikolaj Ul’janov ›Snegiri‹«, 06.01.2016, URL : (04.05.2020) 2.28 V. Slatinskij (Lebensdaten unbekannt), Plakat Marmelade ist für alle Kinder gut, 1952, Offset, 60 × 93 43 cm, 20.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.29 Sof ’ja M. Nizovaja-Šablykina (1918–1993), Plakat Wir werden lernen, arbeiten, groß werden. Zu den fernen Sternen werden wir reisen !, 1958 2.30 Konstantin V. Zotov (1906–1991), S novym godom !, Neujahrspostkarte von 1962, Privatsammlung Ulrich Gribi 2.31 Aleksej I. Lavrov (Lebensdaten unbekannt), Plakat Die Träume der Menschen sind wahr geworden !, 1950, Technik und Maße unbekannt, 300.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, © VG Bildkunst, URL : 2.32 Viktor B. Koreckij (1909–1998), Plakat, Ruhm und Ehre gebührt der sowjetischen Lehrerin !, 1951, Offset, 82,6 × 93 55 cm, Auflage unbekannt Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 2.33 Titelblatt der Zeitschrift Ogonëk Nr. 5, 1952 Foto : Datenbank »Žurnaly SSSR«, URL : (04.05.2020) 2.34 Fedor P. Rešetnikov (1906–1988), Wieder eine schlechte Note !, 1952, Öl auf Leinwand, 101 × 93 cm, Staatliche Tretjakov-Galerie
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise
Foto : Matthew Cullerne Bown, Socialist Realist Painting, New Haven/London, 1998, S. 297 Abb. 333, © VG Bildkunst 2.35 Ėlem Klimov (1933–2003), Filmstill/Szenenfoto Herzlich willkommen oder Unbefugten ist der Zutritt verboten (Dobro požalovat’ ili postoronnym vchod vospreščen), 1964 3.1 Grußpostkarte zum Schulanfang, 1956, Privatsammlung Ulrich Gribi 3.2 Vladimir Serov (1910–1968), Hausaufgaben, 1956, Öl auf Leinwand, 54 × 93 67,5 cm, Foto : Blog Album »Serov Vladimir«, URL : (04.05.2020) 3.3 Sergej Ja. Dunčev (1916–2004), In die Schule, 1954, Öl auf Leinwand, 101 × 93 130 cm Foto : Auktionshaus »Sovkom«, URL : (04.05.2020) 3.4 Arkadij A. Plastov (1893–1972), Sommer, 1954, Öl auf Leinwand. Foto : Bildband Arkadij Aleksandrovič Plastov, Leningrad 1979, o.S., © VG Bildkunst 3.5 Arkadij A. Plastov, Enkel, 1960er Jahre, Öl auf Leinwand Foto : Bildband Arkadij Aleksandrovič Plastov, Leningrad 1979, o.S., © VG Bildkunst 3.6 Fedor V. Šapaev (1927– ), Pionierin, 1955, Öl auf Leinwand, 149 × 93 69 cm, Privatsammlung Foto : Matthew Cullerne Bown, Socialist Realist Painting, New Haven/London, 1998, S. 365, Abb. 428, © VG Bildkunst 3.7 Ekaterina S. Zernova (1900–1995), Plakat Kinder des Oktobers, seid bereit, die große Sache Lenins, die Sache des Weltkommunismus weiterzuführen und zu vollenden !, 1933, Farblithografie, 103 × 93 70 cm, 30.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 3.8 Illustration in USSR im Bau 1934 Nr. 6, Rückumschlag innen Foto : Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 3.9 Gennadij A. Dar’in (1922–2012), Gagarin zu Gast bei den Pionieren, 1965, Öl auf Leinwand, ohne Maßangaben Foto : Best Livejounal.ru, Blog »Jurij Gagarin i deti«, Eintrag vom 11. April 2019, URL : (04.05.2020) 3.10 Ivan A. Tichij (1927–1982), Feierliche Aufnahme in die Pionierorganisation (Diplomarbeit), 1953, Öl auf Leinwand, ohne Maßangaben Foto : Blog »Malerei. Ideologie. Pioniere«, Eintrag vom 15. Mai 2019, URL : (04.05.2020) 3. 11 und 3.12. Illustrationen aus V. T. Kabuš, Symbole der Pioniere (Pionerskie simvoly), Minsk 1985, S. 54/55 und S. 146/147 3.13 Luftpost-Postkarte zum 50. Gründungsjahr des Pionierlagers Artek, 1975 Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) 3.14 Briefmarke aus der Serie Internationaler Tag zum Schutz der Kinder (1.6), 1958, Künstler : L. Golovanov, Auflage : 2 Mio. Foto : Wikimedia Commons, URL : (04.05.2020) 3.15 Pionierausweis, recto und verso, 1989, Auflage 250.000 Ex. 3.16 Komsomol-Ausweis, recto und verso, 1989, Auflage 750.000 Ex.
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise
3.17 Familienalbum der Familie Kozub, Klassenfoto der 1. Klasse, Vladivostok um 1971, Privatbesitz 3.18 Familienalbum, Klassenfoto der 1. Klasse, Pskov 1982, Privatbesitz 4.1–4.4 Abbildungen im Bildband Mutter- und Säuglingsschutz im Land der Sowjets (Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov), Moskau/Leningrad 1935, o.S. Foto : Helmut-Schmidt-Universität Hamburg 4.5–4.7 Einband und Abbildungen des Bildbandes Mutter- und Säuglingsschutz im Land der Sowjets (Ochrana materinstva i mladenčestva v strane sovetov 1918–1938), Moskau/Leningrad 1938. 4.8 Fotografie Bei der Familie des Technikers Sorokin, 1954, Fotograf : N. Maksimov (Sovinformbjuro) Foto : Central’nyj gosudarstvennyj archiv goroda Moskvy (CGA Moskvy), Otdel chranenija audiovizual’nych dokumentov Neg. Nr. 1-17600 4.9 Aleksandr Guljaev (1917–1995), Neujahr, 1967, Öl auf Leinwand, ohne Maßangaben Foto : Internetplattform , URL : (04.05.2020) 4.10 Romualdas Požerskis (*1951), Im Krankenhaus (Doppelseite), im Bildband Fotografie in Litauen 1981–1982 (Lietuvos Fotografija 1981–1982), Vilnius 1986, Abb. 108. 4.11 Algirdas Tarvydas (*1940), Die Hundertjährigen, 1969/Antanas Miežanskas, Der Blick, 1971, im Bildband Lietuvos Fotografija (Fotografie in Litauen), Vilnius 1971, o. S. 4.12 Romualdas Rakauskas (*1941), Der Morgen, 1968, im Bildband Lietuvos Fotografija (Fotografie in Litauen), Vilnius 1971, o. S. 4.13 Antanas Sutkus (*1939), Der Pionier, 1968, im Bildband Lietuvos Fotografija (Fotografie in Litauen), Vilnius 1971, o. S. Foto und © : Antanas Sutkus Archives 4.14–4.15 Fotografien im Bildband 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan 1960, o.S. 4.16 Fotografie in 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan 1960, o. S. 4.17 Abbildung in dem Bildband Die Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980, o. S. 4.18 Familienalbum der Familie Širočin, Vadim Širočin (*1958), ca. 1960, Privatbesitz Vilejka, Belarussische SSR, Atelieraufnahme 4.19 Familienalbum der Familie Naugol’nov, 1958–1963, Archiv Rosfoto St. Petersburg 4.20 Familienalbum, Klassenfoto aus der 3. Klasse auf dem Schulhof, Pskov Mai 1985, Privatbesitz 4.21 Familienalbum der Familie Kozub, Erinnerungsfotos zum Abschluss der Grundschule, Vilejka, Belarussische SSR, 1973, Privatbesitz 4.22 Familienalbum der Familie Naugol’nov, 1950er Jahre, Archiv Rosfoto, St. Petersburg 4.23 Familienalbum der Familie Ivanov, 1930er Jahre, Archiv Rosfoto, St. Petersburg 4.24 Familienalbum der Familie Širočin, Vadim Širočin (*1958), um 1959, Privatbesitz Vilejka, Belarussische SSR 4.25 Abbildung In den Kinderkrippen in dem Bildband Die Frauen der Ingenieure (Ženy inženerov), Moskau 1937 4.26 Berichtsalbum des Pionierlagers namens A. Matrosov der Magnitogorsker Arbeitsgemeinschaft des Roten Banners der Eisen-Metallurgischen Fabrik, Sommer 1978 (Pionerskij lager’ im. A. Matrosova Magnitogorskogo ordena trudovogo krasnogo znameni metizno-metallurgičeskogo
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise
zavoda, leto 1978), OGAČO (Staatliches Archiv des Gebiets Čeljabinsk/Ob’edinennij Gosudarstvennij Archiv Čeliabinskoi oblasti), f. 1372 d. 1180. 4.27 Konfekt Rotkäppchen, 2019, produziert seit 1955, Fabrik Roter Oktober, Moskau 4.28 Individualisierte Grußkarte zum Tag des Sieges und zum Geburtstag, Privatbesitz Vilejka Belarussische SSR, 1972 4.29 Vadim Širočin (*1958) im Moskvič 430 der Familie, um 1961, Privatbesitz Vilejka, Belarussische SSR 4.30 Abbildung aus dem Bildband Die Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980, o. S. 4.31 Familienalbum der Familie Širočin, Urlaubsfoto Jevpatorija, Krim, um 1966, Privatbesitz Vilejka, Belarussische SSR 4.32 Familienalbum der Familie Širočin, Urlaubsfoto Jevpatorija, Krim, um 1966, Privatbesitz Vilejka, Belarussische SSR 4.33 Familienalbum der Familie Širočin, 1960er Jahre, Privatbesitz Vilejka, Belarussische SSR 4.34 Fotografie in dem Bildband Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980, o. S. 4.35 Fotoalbum der Familie Naugol’nov, Urlaub in Ikscha, 1951, Archiv Rosfoto, St. Petersburg 4.36 Berichtsalbum des Pionierlagers namens A. Matrosov der Magnitogorsker Arbeitsgemeinschaft des Roten Banners der Eisen-Metallurgischen Fabrik, Sommer 1978, Staatliches Archiv des Gebiets Čeljabinsk (OGAČO), f. 1372, d. 1180. © VG Bildkunst 4.37 Fotografie in dem Pionierlageralbum Junger Kosmonaut der Moskauer Stadtwerke (Mosgormechpogruz), 1976, Muzej istorii detskogo dviženija Moskovskogo Dvorca Pionerov 4.38 Aufnahmen von Frau und Tochter, privates Fotoalbum, Familie Naugol’nov, Ende 1950er und Anfang 1960er Jahre, Archiv Rosfoto St. Petersburg 4.39 Semën Fridljand (1905–1964), Fotoserie über die Ukraine, 1950er Jahre Foto : University of Denver, University Libraries, Digital Collections @DU, frid06335, URL : (04.05.2020) 4.40 Familienalbum der Familie Naugol’nov, Mitte 1950er Jahre, Archiv Rosfoto St. Petersburg 4.41 Semën Fridljand (1905–1964), Fotografie Mitte 1950er Jahre Foto : University of Denver, University Libraries, Digital Collections @DU, frid18988, URL :
(04.05.2020) 4.42 Aufnahmen aus Kuban’, Novočerkassk und Tomsk, privates Fotoalbum, Familie Naugol’nov, 1958–1960, Archiv Rosfoto St. Petersburg 5.1 Viktor I. Govorkov (1906–1974), Plakat Dank dem geliebten Stalin für unsere glückliche Kindheit, 1936, Farblithografie, 70 × 93 103 cm, 50.000 Ex. Foto : Datenbank »Russische und sowjetische Plakatkunst«, URL : 5.2 Vasilij S. Svarog (1883–1946), I. W. Stalin und Mitglieder des Politbüros inmitten von Kindern im Gorki-Park in Moskau, 1939, Öl auf Leinwand, 200 × 300 cm, Staatliche Tretjakov-Galerie Foto : URL : (04.05.2020) 5.3 Bei einem Sportfestival der Pioniere, Fotografie (Sputnik, vormals RIA Novosti), 1937 Foto : AKG images 5.4 Stalin und Molotov mit Pionieren bei einer Sportparade, Fotografie (Sovfoto), 1946 Foto : AKG images
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Abbildungsverzeichnis und -nachweise
5.5 Cover des Albums im Postkartenformat Kinder der Völker der SSSR (Deti narodov SSSR), Moskau 1940. 5.6 Grußpostkarte zum 1. Mai, Rostov am Don, 1960, Privatsammlung Ulrich Gribi 5.7 Fotografie aus dem Bildband Soviet Women, Moskau 1937, o. S. 5.8–5.11 Fotomontagen in dem Bildband Die sowjetische Kinderschar (Sovetskaja detvora), Moskau 1936, o. S. Foto : Helmut-Schmidt-Universität Hamburg 5.12 Semën Čuikov (1902–1980), Tochter Kirgisiens, 1948, Öl auf Leinwand, 120 × 93 95 cm, Privatsammlung Foto : Matthew Cullerne Bown, Socialist Realist Painting, New Haven/London, 1998, S. 295 Abb. 330 5.13 Semën Fridljand (1905–1964), Fotografie aus den späten 1930er Jahren Foto : University of Denver, University Libraries, Digital Collections @DU, frid02094, URL :
(04.05.2020) 5.14–5.17 Abbildungen in dem Bildband Das sowjetische Kalmückien (Sovetskaja Kalmykija), Elista 1967, o. S. Foto : Helmut-Schmidt-Universität Hamburg 5.18–5.19 Fotografien in dem Bildband 40 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 40 let), Jerewan, 1960, o. S. 5.20 Semën Fridljand, Moskau, Fotografie, 1950er Jahre Foto : Blogeintrag, URL : (04.05.2020) 5.21 Fotografien in dem Bildband 50 Jahre sowjetisches Armenien (Sovetskaja Armenija za 50 let), Jerewan 1971, o.S. 5.22–5.23 Fotografien im Bildband Die Kinder Armeniens (Deti Armenii), Jerewan 1980, o. S. 5.24–5.26 Illustrationen im Bildband Kinder im Land der Sowjets (Deti strany sovetov), Moskau 1962, o. S. 6.1–6.2 Illustrationen in dem Kinderbuch von Nikolaj Nosov, Nimmerschlau auf dem Mond (Neznajka na lune), Moskau 1965, S. 10 und S. 110 Foto : Helmut-Schmidt-Universität Hamburg 6.3 Abbildung in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die UdSSR im Bau) 1936, Nr. 5, o. S. 6.4 Abbildungen in der Zeitschrift SSSR na strojke (Die USSR im Bau) 1934, Nr. 6, o. S. Foto : Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 6.5–6.6 Semën O. Fridljand, Fotografien aus dem Hinterland, um 1944 Foto : Blogeintrag, URL : (04. 05.2020) (6.5), Internetplattform »Voennyj al’bom«, URL : (04. 05.2020) (6.6) 6.7 Viktor B. Koreckij (1909–1998), Plakat Tod den Kindermördern !, 1942 Foto : Zegers, Peter Kort/Druick, Douglas (Hg.) : Windows on the War : Soviet Tass Posters at Home and Abroad, 1941–1945. New Haven, 2011, S. 148, Abb. 20. © AKG images 6.8 Evgenij A. Chaldej (1917–1997), Fotografie Kinderheim No. 53, Leningrad 1954 Foto und © : Evgenij A. Chaldej Archives 6.9 Sergej A. Zinov’ev, Fotografie aus einem Kinderheim in Syktyvkar, Republik Komi, 1985 Foto : Datenbank des Hauses der Fotografie/Mulitmedia Art Museum, Moskau, URL : (04.05.2020) 6.10 Antanas Sutkus (*1939), Fotografie Der blinde Pionier aus dem Zyklus Blindenschule, 1962 Foto : Antanas Sutkus Archives 6.11 Mit’ki, Selbstporträt als »Recken«, Öl auf Leinwand, o. J. Foto : Illustration zum Ausstellungsraum der Künstlervereinigung »Mitki« in Sankt Petersburg, Veranstaltungsplattform URL : (04.05.2020) 6.12 Komar und Melamid, Selbstporträt als junge Pioniere, 1982/1983, Öl auf Leinwand, 183 × 93 127 cm. Collection Martin Sklar Foto : Datenbank »Stalinka : Digital Library of Staliniana«, University of Pittsburgh, URL : (04.05.2020) 6.13 Boris Pavlovič Nikitin (1916‒1999), Lena Alekseevna Nikitina (*1930) und die Nikitin-Kinder, 1960er Jahre Foto : Fotoarchiv der Homepage der Familie Nikitin, URL : 7.1 Verpackungen für die Schokolade Alënka, 1970er Jahre und 2006 7.2 Überarbeitung der Verpackung der Eissorte Plombir für das Chladokombinat Udmurtskij, 2014 7.3 Neues Logo für die Smetana Ostankinskoe, 2015 Foto : Marianna Zhevakina, 2015 7.4 Werde groß !, Werbung für eine Krankenversicherung an der Metro Belaevo, Moskau 2009 Foto : Monica Rüthers Die Autorin hat sich bemüht, alle Bildrechte vollständig zu recherchieren. Sollten dennoch Rechteinhaber und inhaberinnen unberücksichtigt geblieben sein, setzen diese sich bitte mit der Autorin in Verbindung.
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Dank
Dieses Buch ist im Laufe vieler Jahre gewachsen. Während meiner Reisen und Forschungs aufenthalte in Bibliotheken und Archiven, anlässlich von Vorträgen und Konferenzen, in Seminardiskussionen mit Studierenden, bei Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, Freunden und Bekannten haben mir zahlreiche Menschen weitergeholfen mit Materialien und Ideen, Kritik und Unterstützung : Ulrich Gribi, Heiko Haumann, Nathalie Keigel, Alexandra Köhring, Maike Lehmann, Igor Narskij, Julia Richers, Susanne Schattenberg, Carmen Scheide, Benjamin Schenk, Oksana Sarkisova, Olga Shevchenko, Anja Tippner und Martina Winkler. Dafür, dass sie spontan ihre Familienfotos zur Verfügung gestellt haben, danke ich besonders den Nikitin-Enkeln, Vitalij Kozub, Vadim Širočin und einer ehemaligen Schülerin aus Pskov. Am Anfang stand ein Forschungsprojekt zu Topografien kindlicher Lebenswelten in der Sowjetunion, 1950–1985, das vom Schweizer Nationalfonds gefördert wurde, und zum Abschluss kam das Buch während eines Jahres als Stipendiatin am Historischen Kolleg in München (2017/2018). Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der wunderbaren Kaulbach-Villa und dem Institut für Zeitgeschichte, das mich als Stipendiatin eingeladen hat, sei hier von Herzen gedankt. Für die Text- und Bildredaktion konnte ich mich auf die professionellen Fähigkeiten von Klaas Anders, Stella Maria Frei und Natalie Zivkovic verlassen. Die größte Hilfe war mir Marianna Zhevakina, die mich mit dem Aufspüren von (auch privaten) Bildmaterialien und Selbstzeugnissen, mit Hinweisen auf populärkulturelle Materialien, auf Filme, Lieder, Gedichte und Redewendungen und mit ihrem Hintergrundwissen enorm unterstützt hat. Euch allen : danke !
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GEBAUTE RÄUME UND SOWJETISCHE ÖFFENTLICHKEIT
Monica Rüthers Moskau bauen von Lenin bis Chruschtschew Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag 2007. 363 Seiten, zahlr. s/w. und farb. Abb., Paperback € 40,00 D | € 42,00 A ISBN 978-3-205-77490-7
Preisstand 1.1.2020
Architektur, visuelle Kultur und Kommunikation zwischen Individuum und System in der Sowjetunion zwischen 1917 und 1970 stehen im Zentrum dieser Studie. Anstoß gab der irritierende Gegensatz zwischen der unwirtlichen Weite öffentlicher Räume in sozialistischen Städten und dem Gedränge vor den Geschäften, in Bussen, Straßenbahnen und winzigen Plattenbauwohnungen. Wie hingen die gebauten Räume mit den sowjetischen Öffentlichkeiten zusammen? Moskau wurde nach der Revolution zur Welthauptstadt des Kommunismus umgebaut. Die Autorin macht sich in der schillernden Metropole auf die Suche nach Antworten.
WIE WURDE KINDHEIT GEDACHT, GELEBT, GEREGELT UND DARGESTELLT?
Martina Winkler Kindheitsgeschichte Eine Einführung 2017. 240 Seiten mit 32 Abb. und 1 Tab., kart. € 35,00 D | € 36,00 A ISBN 978-3-525-30106-7 E-Book: € 27,99 D | € 28,80 A ISBN 978-3-647-30106-8
Preisstand 1.1.2020
In ihrer Einführung in die Kindheitsgeschichte bietet Martina Winkler einen systematischen Überblick zu den faszinierenden Fragen und Perspektiven der historischen Kindheitsforschung. Inspiriert von verschiedenen Disziplinen wie der Literaturwissenschaft, der Soziologie und der Erziehungswissenschaft, analysiert die Kindheitsgeschichte historische Veränderungen dessen, wie Kindheit gedacht, gelebt, geregelt und dargestellt wurde. Kindheit ist ein soziales und kulturelles Konstrukt, abhängig von sozialen Notwendigkeiten, politischen Ideologien und moralischen Werten. Als ein solches Konstrukt bildet Kindheit ein grundlegendes Element zur Strukturierung von Gesellschaften und einen spannenden, faszinierenden Spiegel für das Verständnis heutiger wie vergangener sozialer Ordnungen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kindheit gehört zu den intellektuell – und nicht selten auch emotional – herausforderndsten Bereichen aktueller Forschung.Das Buch bietet Studierenden, Forschern und der interessierten Öffentlichkeit eine Einführung in Thematik, Fragestellungen und Forschungskontroversen und eröffnet so Perspektiven für die selbständige Arbeit am Thema.