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German Pages [328] Year 2003
Europäische Geschichtsdarstellungen Herausgegeben von Johannes Laudage Band 4
Bilderzählungen Zeitlichkeit im Bild Herausgegeben von
Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner und Guido Reuter
§ 2003
B Ö H L A U VERLAG K Ö L N WEIMAR WIEN
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Loren% Dittmann Der folgerichtige Bildaufbau. Ein wissenschaftsgeschichtliche Skizze
VII
1
Andrea von Hülsen-Esch Zeitkonzepte in der oberitalienischen Malerei des Quattrocento. Überlegungen zu 'Zeit im Bild' und 'Bildzeit' bei Pisanello und Mantegna
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Hans Körner Biblische Erzählung und Bildzeiten in Sandro Botticellis Judith-und-Holofernes-Darstellungen (Mit der Neuzuschreibung einer Laurentiusmarter an Fiüppino Lippi im Anhang)
45
Guido Reuter Zeitaspekte der Skulptur. Die strukturelle Zeit in plastischen Bildwerken
65
Tanja Michalski Landschaft beleben. Zur Inszenierung des Wetters im Dienst des holländischen Realismus
85
Sergius£ Michalski Narration, Gebärdensprache und Mimik im „Dariuszelt" des Charles Le Brun. Zu einem Leitbild des „grand goût"
107
Heinrich Theissing Die panische Zeit bei Francisco Goya
127
VI
Hubertus Kohle Zeitstrukturen in der Geschichtsmalerei des 19. Jahrhunderts. Adolf Menzel und seine Kollegen
139
Reinhard Steiner Pièce fugitive oder: Whisders entschwindende Damen
149
Ingmar Reither Deconstructing Albert Speer — Reconstructing Albert Speer. Die ausstellungstechnische Abbildung architektursprachlicher Inhalte der NS-Zeit im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitaggelände
167
Gabriele Genge Im Reich der Zeit. Yinka Shonibare und Jean-Honore Fragonard
179
Saskia Reither Wie lange dauert ein Bild? Dehnung, Dauer und Aktualität in der Medienkunst
199
Timo Skrandies Ein Hauch von Aura. Krisenbilder in Zeiten von Bilderkrisen
219
Abbildungsnachweise
241
Vorwort Am 5. November 1667 entspann sich im Sitzungssaal der französischen Kunstakademie eine Diskussion vor einem Gemälde Nicolas Poussins, die sich an der Frage entzündete, ob es einem Maler, da dessen Kunst sich nun einmal auf den Augenblick beschränke, gestattet sei, der Vollständigkeit der Erzählung wegen auch vorangegangene und zukünftige Ereignisse mitdarzustellen. Er dürfe, so die Entscheidung des Akademiedirektors, ja er müsse so verfahren. Täte er dies nicht, würde er ebenso unverständlich sein wie der Geschichtsschreiber, der nur vom Ausgang eines Geschehens berichtet. Fast genau ein Jahrhundert später, erneut bezüglich eines Gemäldes Poussins, kam Diderot zum entgegengesetzten Urteil: Poussin habe „auf ein und demselben Gemälde im Vordergrund gezeigt, wie Jupiter die Kallisto verführt, und im Hintergrund, wie Hera die verführte Nymphe wegschleppt: ein Fehler, der eines sonst so klugen Künsders unwürdig ist." Eine Möglichkeit ließ Diderot dem bildenden Künstler freilich doch offen, wie er trotz der Beschränkung auf „einen Augenblick" den Fortgang eines Geschehens andeuten könne. Diderots Beispiel: „Eine plötzliche Katastrophe überrascht einen Menschen inmitten seiner Tätigkeit: er ist dann bei der Katastrophe, ist aber auch noch bei seiner Tätigkeit." Dieser Vorschlag nähert sich dem, was Lessing in seinem im gleichen Jahr 1765 begonnenen „Laokoon" den „fruchtbaren Augenblick" nannte. Nicht die simultane Präsentation mehrerer Handlungsmomente, sondern die Dehnung des Moments durch Transitorisches wird den bildenden Künsdern von Diderot und Lessing empfohlen. Trotz dieser Annäherung besteht der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Theorien jedoch darin, dass bei Diderot das Transitorische ins Kunstwerk selbst verlegt ist, in Form einer künstlerischen Synthese zweier aufeinanderfolgender Momente, die in einer Darstellung vereint sind, während bei Lessing das Transitorische verstärkt in den Akt der Rezeption verlagert ist: Die Wahl des richtigen Moments soll dem Betrachter ermöglichen, sich das Vorausgegangene und das Nachfolgende zum dargestellten Moment hinzuzudenken. Unabhängig aber von diesen Abweichungen zielt die Empfehlung beider Autoren auf das nämliche grundsätzliche Anliegen: auf die Bedingungen der Möglichkeit von Bilderzählung.
VIII Die Textbeispiele sind dem kunsttheoretischen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts entnommen, das grundsätzliche Problem aber reicht weit darüber hinaus. Immer schon mutete man den bildenden Künstlern zu, Geschichte und Geschichten zu erzählen. Mit der berühmten Bestimmung Gregors des Großen, Bilder seien gleichsam die Schriften für die des Lesens Unkundigen, war bereits in der Frühzeit der christlichen Bilderlehre diese Zumutung, im Bild zu erzählen, geradezu zur Definition des Bildes aufgestiegen. So selbstverständlich von Bildern Bilderzählungen erwartet wurden, so wenig selbstverständlich ist allerdings die bildliche Produktion von Erzählung, denn Erzählung setzt nun einmal eine zeitliche Dimension voraus, die den Bildmedien vor Erfindung des laufenden Bildes notwendig mangelte. Bildkünstler haben sich deshalb schon immer als „Zeitschmuggler" betätigt, wie Otto Pächt es einmal formuliert hat, haben Strategien der Verzeitlichung im Bild erprobt. Diesen „Zeitschmugglern" wird der vorliegende Sammelband nachspüren. Welche Strategien der Bilderzählung entwickelt wurden, wie Zeit von den Bildern „geschmuggelt" wurde, ob dieser „Schmuggel" gegen die Medialität der Bilder oder gerade unter Berufung auf die spezifische Verfasstheit des jeweiligen Bildmediums gelang, diese und weitere Fragen sind in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes thematisiert. Der „Bildbegriff", der den Beiträgen dabei zugrunde liegt, beinhaltet neben den klassischen Bildmedien Malerei, Bildhauerei und Graphik auch die Architektur als Bild sowie die modernen Bildmedien bis hin zum Videobild und Computerbild. Anlass dieser Aufsatzsammlung zum Thema „Bilderzählugen — Zeitlichkeit im Bild" war eine Tagung, die das Seminar für Kunstgeschichte am 05. und 06. Mai 2003 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Europäische Geschichtsdarstellungen" an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf ausgerichtet hat. Der vorliegende Band vereinigt die anlässlich der Tagung entstandenen Beiträge mit drei weiteren Aufsätzen, die auf Wunsch der Herausgeber hinzugefügt wurden, um den thematischen Bezugsrahmen dieses Sammelbandes noch zu erweitern. 1 Neben Beiträgen aus der Kunstgeschichte, die einen Schwerpunkt bilden, beinhaltet der vorliegende Band Untersuchungen, die das Thema „Bilderzählungen - Zeitlichkeit im Bild" aus geschichtswissenschaftli-
Bei den zusätzlichen Beiträgen handelt es sich um die Aufsätze von Gabriele Genge, Andrea von Hülsen-Esch und Reinhard Steiner.
IX
eher, medienwissenschaftlicher und kulturwissenschaftler Perspektive beleuchten. Die Entstehung eines Buches bis hin zum fertigen Produkt verdankt sich immer einer Vielzahl von Mitwirkenden. Besonders aber die Herausgabe eines Sammelbandes bedarf der reibungslosen Kooperation aller Beteiligten. In diesem Sinne möchten sich die Herausgeber noch einmal bei allen Autorinnen und Autoren herzlich für deren zügige Mitarbeit bedanken, die Voraussetzung dafür war, dass wir dem Leser „frische" Ergebnisse unserer Tagung präsentieren dürfen. Des weiteren möchten die Herausgeber Johannes Laudage, dem Sprecher des Graduiertenkollegs „Europäische Geschichtsdarstellungen" dafür danken, dass er das Erscheinen dieses Buches im Rahmen der Veröffentlichungen des Graduiertenkollegs im Böhlau Verlag möglich gemacht hat. Zu großem Dank sind die Herausgeber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seminars für Kunstgeschichte verpflichtet, die die redaktionelle Betreuung des Buches tatkräftig unterstützt haben. Niklas Gliesmann sei an dieser Stelle namentlich gedankt. Schließlich schulden die Herausgeber der DFG, der Anton-BetzStifung der Rheinischen Post e. V. sowie der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf besonderen Dank, ohne deren finanzielle Unterstützung dieses Buch niemals hätte verwirklicht werden können.
Düsseldorf, im Ju/i 2003
Die Herausgeber
Lorenz Dittmann
Der folgerichtige Bildaufbau Eine wissenschaftsgeschichtliche Skizze
„Folgerichtiger Bildaufbau" meint die Gliederung eines Bildes unter Einbeziehung eines Aspektes von Zeit. Ein „folgerichtiger Bildaufbau" trägt entscheidend bei zu dem, was „Bildkomposition" genannt werden kann. Für den Vorschlag einer „Interpretation nach dem folgerichtigen Bildaufbau" sind von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus Kriterien erarbeitet worden. Voraussetzung ist ein Begriff des „Bildes", wie er von Hans Jantzen 1939 in seinem Aufsatz „Die zeitliche Abfolge der Paduaner Fresken Giottos" für die Kunst Giottos folgendermaßen bestimmt worden ist: „Das Bild wird innerhalb der Rahmengrenzen als ein organisches Gefüge gestaltet, das Anfang und Ende, rhythmische Ordnung und Geschlossenheit besitzt und damit zu einer neuen Auffassung von 'Ganzheit' der Bildwirkung gelangt, in der jedes Einzelne zum Ganzen in eine klare Beziehung tritt."1 In seinem erstmals 1941 erschienenen Buch „Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst" führt Theodor Hetzer in gleichem Sinne aus, „daß zu keiner Zeit das Bild in der Malerei so wesentlich und so wesenhaft war, wie in der Epoche, die mit Giotto begann und mit Tiepolo endete. Zu keiner Zeit nämlich war das Garthe so sehr Inbegriff der Gestaltung und der Ordnung. In der Antike nicht, denn die Antike geht auch in der Malerei von der einzelnen Figur aus und kennt wohl Konfiguration und Komposition auf der Fläche, nicht aber Gestaltung der Fläche selbst. Die Unteilbarkeit im antiken Bilde bezieht sich immer nur auf die organische Einheit der Menschen und Dinge, nie auf das Übergeordnete einer Bildvorstellung. Das Mittelalter ist alles in allem überhaupt nicht eine Zeit bildmäßigen Schaffens gewesen. Die Fläche ist weder als Realität, wie in der Antike, noch als Idee wesentlich; die Ordnung auch der Malerei wird zum einen durch das Gerüst der Architekten, zum anderen durch freies oder mathematisches Ornament bestimmt. Das 19. Jahrhundert endlich verlegt die Bildeinheit in das natürli-
Zit. nach Hans JANTZEN, Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 1951, S. 24. Erstmals erschienen im Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, 1939, S. 1 8 7 - 1 9 6 .
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Lorenz Dittmann che Sehen, das jedem Menschen, ob Künstler oder nicht, angeboren ist und bestimmt das gemalte Bild als einen mehr oder minder geschickt und witzig gewählten Ausschnitt aus dem allgemeinen optischen Zusammenhang. [...] Demgegenüber hat die Epoche, die mit Giotto begann und gerade in dieser Hinsicht durch ihn mit der größten Sicherheit eingeleitet wurde, ihre Bildvorstellung im engsten Zusammenhang mit der Bildfläche als einem begrenzten, gegliederten, durch mannigfache Beziehungen ineinander gewebten Gebilde gestaltet. [,..]"2
In einigen Bildbeschreibungen bringt Hetzer - ansatzweise - auch eine Folgeordnung des Bildaufbaus zur Sprache, so wenn er zu Giottos Fresko der „Darstellung im Tempel" der Arena-Kapelle, Padua, im Unterschied zu Cavallinis Mosaik in Sta. Maria in Trastevere, Rom, (Abb. 1) formuliert: „Bei Cavallini zwar auch die weite Fläche, aber in dieser die Figuren und Bauten statuarisch nebeneinander gestellt; eine Abfolge von parallelen Vertikalen; die Bewegungen die Handlung andeutend, aber nicht wirklich vollführend. Nichts von jenen aktiven Kräften Giottos, die unsichtbar aber bestimmend zwischen den Figuren spielen, auch nichts von jener Straffung der ganzen Bildfläche durch die überall hin dringenden Richtungen; die schimmernde, unbestimmte, ungegliederte Unendlichkeit des Mosaikgrundes legt sich rings um die Figuren. Bei Giotto — der Kontrast ist so deutlich, wie er nur sein kann — kommt alles auf den Vorgang an, darauf, was an körperlicher und seelischer Bewegung sich zwischen den Menschen ereignet. Das Kind, auf den Armen Simeons, strebt der Mutter entgegen, die ihm ihre Arme entgegenstreckt. Diese Bewegung wird schon am linken Bildrand vorbereitet: der Kontur der Frau ganz links stößt kräftig und steil nach unten und läßt so die Hauptbewegung aufschnellen, die in der Kurve der Gewandsäume die drei Figuren zusammenfaßt und schließlich in Marias Armen ihre Energie dem Kinde entgegenstrahlt. Als hochbedeutsame Kontrastfigur steht rechts, für sich, die Greisin Hanna, teilnehmend und betrachtend in prophetischer Größe; in ihr kommt das Bild zur Ruhe. Ein elastischer großer Zug also schreibt die Szene von links nach rechts hin."3 Damit ist das „Problem des Links und Rechts" angesprochen, — ein Teilproblem des „folgerichtigen Bildaufbaus", keineswegs das zentrale. 2
3
Zit. nach Theodor HETZER, Giotto. Grundlegung der neuzeitlichen Kunst, Schriften Theodor Hetzers, Bd. 1, hg. von Gertrude BERTHOLD, , Mittenwald/ Stuttgart 1981, S. 39f. Sehr wichtig für die Bestimmung des „Bildes" in der Kunst auch: Theodor HETZER, Zur Geschichte des Bildes v o n der Antike bis Cézanne, in: Schriften Theodor Hetzers, Bd. 9, hg. von Gertrude BERTHOLD, Stuttgart 1998. Ebda. S. 51.
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Bekanntlich hat Heinrich Wölfflin erstmals dieses Problem gesondert behandelt, in seinem Artikel „Über das Rechts und Links im Bilde", zuerst erschienen als Beitrag zur Festschrift für Paul Wolters im „Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst", Neue Folge, V, 1928, aufgenommen in den Sammelband: Heinrich Wölfflin: Gedanken zur Kunstgeschichte, Gedrucktes und Ungedrucktes, Basel, Zweite Auflage, 1941, in dessen Kapitel „Kritische Kunstgeschichte". Wölfflin geht hier aus von dem in der kunsthistorischen Lehre zu erfahrenden Missgeschick der Seitenvertauschung eines Diapositivs und stellt zu Raffaels „Sixtinischer Madonna" fest (Abb. 2) (ich greife nur einige Sätze heraus): „In der richtigen Ansicht steigen wir mit dem emporgewendeten Blick des Sixtus von links nach der Höhe der Madonna hinauf, und die heilige Barbara, die Kopf und Auge senkt, führt uns auf der andern Seite wieder nach unten. Ich sage nicht, daß man nur diese Bewegung ausführt, aber man hat entschieden die Neigung, im Sinn der Darstellung von links nach rechts emporzugehen und auf der entgegengesetzten Schräglinie niederzugleiten. Sobald das Bild im Gegensinn gesehen wird und also die Richtungen sich umkehren, verzerrt sich die Erscheinung: die Motive wirken zusammenhanglos und laufen 'gegen den Strich'. Statt des schwungvollen Aufstiegs bei Sixtus, wenn er links kniet, empfinden wir jetzt nur ein schweres Einsacken, und jene Wolkenbreitung unterhalb der Barbara, die ursprünglich beruhigend, festigend, schließend wirkte, wird zu einer unverständlichen Leere im Bild, wenn sie links zu liegen kommt. Und im gleichen Sinne wird die begleitende Bewegung der Vorhänge, wenn die natürliche Blickbahn zerstört ist, nicht nur unverständlich, sondern widrig. [...] Im weiteren Verlauf solcher Beobachtungen ergibt sich dann, daß wir durchweg von steigenden und fallenden Schräglinien zu reden Anlaß haben. Was im Sinn der LinksRechts-Diagonale läuft, wird als steigend, das Entgegengesetzte als fallend empfunden. Dort sagen wir (wenn sonst nichts dagegen spricht!): die Treppe führt hinauf, hier: die Treppe führt hinab. Die gleiche Berglinie wird sich emporziehen, wenn die Höhe rechts liegt, und wird sich senken, wenn die Höhe links liegt (daher auf Abendlandschaften so häufig die Abdachung des Berges von links nach rechts hin). Ich wiederhole: 'wenn sonst nichts dagegen spricht'. Es gibt Kombinationen, die diese elementare Wirkung modifizieren können, zum Beispiel, wenn die objektive Bewegung der Figuren gegensätzlich läuft. Aber auch die Lichtführung kann als Gegenkraft wirken, und die leichter faßbare Form wird unter allen Umständen eine unmittelbarere Anziehung ausüben als die schwerer faßbare und dadurch (von einer anderen Seite her) einen bestimmten Gang der Betrachtung erzwingen. Meist handelt es sich um kombinierte Färb-, Licht- und Formwirkungen, der Variationsmöglichkeiten sind
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Lotvn% Dittmann unendliche, und zeitweilig scheint man einen besonderen Reiz in der widersprechenden Führung der Stimmen gefunden zu haben."
Wölfflin beschließt seine Ausführungen mit folgendem Satz: Das Phänomen „hat offenbar tiefe Wurzeln, Wurzeln, die in die untersten Gründe unserer sinnlichen Natur hinabreichen."4 Wie das Problem des „Rechts und Links im Bilde" ist das der „Bildrhythmik" ein Teilproblem des „folgerichtigen Bildaufbaus". (Schon Jantzen hatte von der „rhythmischen Ordnung" des Bildes gesprochen.) In beidem geht es um den Richtungssinn von Formen. Die wichtigsten frühen Erörterungen von Bildrhythmik stammen von Hans Kauffmann und Erwin Panofsky. In seinem 1924 erschienenen Buch „Albrecht Dürers rhythmische Kunst" stellt Hans Kauffmann einleitend fest: die „Formgesetze des Rhythmus haben in der bildenden Kunst zwei Arten rhythmischer Gruppierung hervorgebracht: die rhythmische Periode und die Eurhjthmie. Eine rhythmische Periode ist gegeben, wo die Komponenten nebenoder hintereinander auf einer Richtungslinie gereiht sind (z.B. Stützenfolge eines kirchlichen Langhauses). [...] Eurhythmie ist gegeben, wo die Komponenten antithetisch auf eine Mitte bezogen sind (wie z.B. beim Zentralbau). [...] Ist die rhythmische Periode sowohl den musischen, wie den bildenden Künsten eigen, so ist die Eurhythmie das alleinige Vorrecht der bildenden. Der Rhythmus in seiner Doppelgestalt der rhythmischen Periode und der Eurhythmie ist bisher nur an Werken der Baukunst festgestellt worden. Meine nachfolgende Untersuchung will den Beweis erbringen, daß er für die nachahmenden Künste nicht minder gültig ist. Albrecht Dürer hat ihn zu einem Formgesetz seiner Kunst erhoben." Es war in Dürer „Zeitphantasie mächtig und deshalb müssen seine Kompositionen sukzessive abgelesen werden." 4
Zit. nach Heinrich WÖLFFLIN, Gedanken zur Kunstgeschichte, 2. Aufl., Basel 1941, S. 82, 83, 90. Zu Wölfflins Kunsttheorie allgemein vergleiche: Andreas ECKL, Kategorien der Anschauung. Zur transzendentalphilosophischen Bedeutung v o n Wölfflins 'Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen', München 1996. - Zum „RechtsLinks-Problem": Wilfrid LENNENBACH, Über das Rechts und Links im Bilde, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, XLI/1 (1996), S. 5 - 5 7 . Sigrid WEIGEL, Die Richtung des Bildes. Zum Links-Rechts-Problem von Bilderzählungen und Bildbeschreibungen in kultur- und mediengeschichtlicher Perspektive, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 64 (2001), S. 449-474.
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Bildauflau
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Nur ein Beispiel aus der Fülle der von Kauffmann behandelten sei hier referiert, die „Bekleidung der Seligen" auf dem vierten Blatt der Dürerschen „Apokalypse" mit der Darstellung der Öffnung des fünften und sechsten Siegels (Abb. 3): Dürer hat das Thema aus dem Text der Apokalypse übernommen und dabei dessen Grenzfalle der Nacktheit und des Bekleidetsein um Zwischenphasen bereichert. Kauffmann schreibt: „Wir verfolgen dies Kunstwerk von links nach rechts in einem Zyklus. Am Fuße des Altars liegen drei Auferstandene. Von einem Engel behütet hat links ein vierter sich zum Sitzen halb aufgerichtet. Gegenüber harren andere der Bekleidung, drei empfangen die Gewänder, fünf weitere sind vollständig angetan und bilden den Beschluss. Zwischen diesen fünf Stadien vermitteln feinere Zwischenstufen. Während zwei Nackte noch regungslos gesenkten Hauptes daliegen, hat der dritte bereits den Kopf erhoben, im Blick zum Altar regt sich seine Sehnsucht. Er bildet den Übergang zu dem, gleich ihm bärdgen Greisen, der an der Hand seines Engels zu reicherem Leben erwachte, samt dem Kopf den Rumpf aufrichtete, auch Hände und Füße zu regen begann. Noch lebhafter rühren sich mit gleichartig vorgestreckten Armen die Gefährten drüben. Ein Greis erfasst den Saum des ihm soeben gestifteten Kleides, eine Frau besitzt den Mantel schon halb, so daß er über ihr linkes Bein und den rechten Arm fallt, ein anderer streift den seinen über Arm und Kopf. Fertig sind die übrigen und völlig bekleidet."5 Erwin Panofsky widmete diesem Buch von 149 Seiten Text eine eindringliche, 57 engbedruckte Seiten umfassende Besprechung im „Jahrbuch für Kunstwissenschaft", Leipzig 1926. Ich greife hier nur einige Elemente von Panofskys Rhythmus-Definition heraus. Er bestimmt ihn als „eine stetige Ordnung optischer oder akustischer Eindrücke in der Zeit. Insofern der Rhythmus eine Ordnung ist, setzt das Zustandekommen des rhythmischen Erlebnisses eine relative Unterschiedenheit einzelner Elemente (Glieder des rhythmischen Ganzen), andererseits aber ihre Verwandtschaft (d.h. also entweder ihre Gleichheit oder ihre Ähnlichkeit) voraus. Insofern der Rhythmus eine Ordnung in der Zeit ist, setzt das Zustandekommen des rhythmischen Erlebnisses eine Sukzession dieser Elemente voraus - sei es nun, daß diese Sukzession, wie stets bei akustischen Eindrücken, objektiv stattfindet, sei es, daß sie, wie in der Regel bei optischen, durch 'sukzessive Apperzeption' vom aufnehmenden Subjekt erzeugt wird. [...] In5
Hans KAUFFMANN, Albrecht Dürers rhythmische Kunst, Leipzig 1924, S. 8, 9, 10, 12.
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Loren% Dittmann sofern endlich der Rhythmus eine stetige Ordnung ist — und diese seine dritte Eigenschaft ist [...] die eigentlich entscheidende —, setzt das Zustandekommen des rhythmischen Erlebnisses voraus, daß die Glieder des rhythmischen Ganzen stets miteinander verbunden bleiben, mit anderen Worten, daß in denselben eine ununterbrochene, von einheitlichem Schwünge getragene, sich immer wieder aus sich selbst erneuernde, kurzum 'lebendige' Bewegung empfunden werde: Es darf sich nicht als eine Abfolge abrupter Stöße, sondern als eine Kette kontinuierlich ineinander übergreifender Eindrücke darstellen." So ist die „Form des rhythmischen Ganzen [...] also in der Tat die, wenn auch noch so differenzierte, Wellenbewegung [...]".
Den bildnerischen Rhythmus definiert Panofsky folgendermaßen: „Neben den gleichsam nur strukturmäßig gegebenen, erst vom Betrachter in Vollzug zu setzenden Rhythmus der Architektur, und neben den als Einheit von Struktur und Funktion gegebenen Rhythmus der mimischen Künste tritt [...] der Rhythmus der bildenden Kunst als ein gewissermaßen zwiegestaltiger; insofern ihre Hervorbringungen 'formal' (als reine Linien- und Flächengebilde) betrachtet werden, ist er realiter, aber lediglich strukturhaft gegeben - insofern sie 'gegenständlich' (als Veranschaulichungen einer darund vorgestellten Dingwelt) betrachtet werden, ist er als Einheit von Struktur und Funktion, aber in einer illusionären Sphäre gegeben [...]"6 Diese scharfsinnigen Erörterungen Panofskys sind m.E. in der Weise zu verstehen, dass dieser „zwiegestaltige" bildnerische Rhythmus künsderisch einer ist, der in unterschiedlicher Weise „Darstellungs"- und „Eigenwerte" vermittelt. 7
Erwin PANOFSKY, Albrecht Dürers rhythmische Kunst, Jahrbuch für Kunstwissenschaft (1926), S. 136-192. Zitate auf den Seiten 136,137,139,140. Ich übertrage hier Jantzens Unterscheidung von „Darstellungs"- und „Eigenwerten" der Farbe auf den bildnerischen Rhythmus. (Vgl. Hans JANTZEN, Über Prinzipien der Farbengebung in der Malerei [1914], in: DERS., Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 1951, S.61-67.) Zur Bildrhythmik vgl. auch: Lorenz DITTMANN, Die Farbe bei Grünewald. Diss. München 1955, S. 77-90. Lorenz DlTTMANN, Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Farbgestaltung in Werken der Malerei, in: Festschrift Wolfgang Braunfels, hgg. von Friedrich PLEL/ Jörg TRAEGER, Tübingen 1977, S. 93-109. Lorenz DlTTMANN, Überlegungen und Beobachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes, Neue Hefte für Philosophie. Anschauung als ästhetische Kategorie, 18/19, hgg. von. Rüdiger BUBNER/ Konrad CRAMER/ Reiner WIEHL, Göttingen 1980, S. 133-150. Lorenz DlTTMANN, Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei, in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. von Hannelore PAFLIK, Weinheim 1987, S. 89-124.
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Im selben Jahr 1926 erscheint auch die grundlegende Untersuchung „Vom Problem des Rhythmus. Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie" des aus dem Neukantianiamus kommenden Philosophen Richard Hönigswald. Hönigswald wurde 1875 in Ungarisch-Altenburg geboren, lehrte bis 1930 als Ordinarius in Breslau, wurde 1938 für mehrere Wochen im KZ Dachau inhaftiert, konnte 1939, fast in letzter Minute, noch in die Vereinigten Staaten emigrieren und starb 1947 in New Häven, Connecticut. 8 In der genannten Schrift definiert Hönigswald das Rhythmuserlebnis als „Erlebnis mehrerer aufeinander folgender, mit Bezug aufeinander gegebener und durch diesen Bezug auf bezeichnende Weise vereinheitlichter Zeitstrecken. In solchem Sinne bedeutet das Erlebnis des Rhythmus zugleich zeitliches Zusammen- und zeitliches Unterschiedensein." Hönigswald charakterisiert Rhythmus als „rhythmische Ganzheit", als „Rhythmusgestalt", erörtert die „Übertragbarkeit von Rhythmen", das Verhältnis eines „rhythmischen Ganzen" zu „Teilrhythmen" und vieles andere mehr, in einer ungemein komprimierten Sprache.9 Wichtig ist vor allem Hönigswalds Kennzeichnung des Rhythmus als eines „produzierten Gegenstandes", der einer „Fundierung" bedarf. Dieses Verhältnis beschreibt Hönigswald unter anderem mit folgenden Worten: Was heißt es, „Rhythmus bedeute 'Ganzheit'? Das 'was' ich 'hören' muß, um ihn zu erleben, ist an sich nicht der Rhythmus. Auch sind die einzelnen Gehörseindrücke als solche nicht etwa 'Teile' des Rhythmus. Denn sie 'setzen' den Rhythmus nicht 'zusammen', sondern nur an und mit ihnen, an und mit ihrer besonders bestimmten Gemeinschaft, erscheint dieser gesetzt. Der Rhythmus 'baut sich', wie man es zu nennen pflegt, auf ihnen 'auf, er ist durch sie 'fundiert'. Eine Beziehung von merkwürdiger Komplexion offenbart sich hier der zergliedernden Analyse. Das Rhythmuserlebnis setzt das Gegebensein von Elementen voraus, die an sich und in ihrer bloßen Summe, oder besser: in beliebiger Gruppierung, den Rhythmus noch nicht ergeben würden. [...] Ihr 'Dasein' ist auch in der für einen bestimmten Rhythmus bezeichnenden Gruppierung von der Bestimmtheit eben dieses Rhythmus selbst zwar unterschieden, dabei aber doch auch nur von diesem Rhythmus 8
9
Vgl. Gerd W O L A N D T , Richard Hönigswald: Philosophie als Theorie der Bestimmtheit, Grundprobleme der großen Philosophen, hg. von Josef S P E C K , Philosophie der Gegenwart II, Göttingen 1973, S. 4 3 - 1 0 1 , zur Biographie S. 45—46. Richard H Ö N I G S W A L D , Vom Problem des Rhythmus, Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie, in: Wissenschaftliche Grundfragen, Philosophische Abhandlungen, hg. von DEMS., V, Leipzig/ Berlin 1926, S. 4, 9, 11, 13, 19.
8
Lorenz Dittmann her zu bestimmen. Sie sind 'vor' dem Rhythmus, sofern der Rhythmus an ihnen 'haftet'; aber gerade darum sind sie auch für ihn. Ihre Gegebenheit genügt seinen, des Rhythmus, Bedingungen, f...]"10
In der Anerkennung einer Zeitdimension auch für die bildende Kunst treffen sich Kunstwissenschaft und Philosophie mit gleichzeitigen maßgeblichen Künstlertheorien, die sich mit der Klärung von Gestaltungsproblemen befassen. In Paul Klees berühmter, erstmals 1920 erschienener „Schöpferischen Konfession" ist zu lesen (ich zitiere nur einige Sätze aus dem betreffenden Absatz): „Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist's doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff. Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen." „Die Genesis der 'Schrift' ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung, Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es rein als Produkt erlebt. [...] Auch des Beschauers wesentliche Tätigkeit ist zeitlich. Das Auge ist so eingerichtet, es bringt Teil für Teil in die Sehgrube, und um sich auf ein neues Stück einzustellen, muß es das alte verlassen. [...]"11 Im seinem „Pädagogischen Skizzenbuch", erschienen 1925 als Band 2 der „Bauhausbücher", erläutert Klee das Gemeinte in Abschnitt 13 des ersten Kapitels.12 In „Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente", dem 1926 erschienenen „Bauhausbuch" 9, behandelt Wassily Kandinsky die bildnerischen Elemente in einem ähnlichen Sinne. Er entwickelt Punkt, Linie und Fläche vornehmlich als kräfte- und damit zeitbestimmte Elemente. Kandinsky stellt fest: „Die scheinbar klare und berechtigte Teilung: Malerei — Raum (Fläche) / Musik — Zeit ist bei näherer (wenn auch bis jetzt flüchtiger) Untersuchung plötzlich
11
12
Ebda. S. 7f. Zit. nach Paul KLEE, Das bildnerische Denken. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre, hg. und bearb. von Jürg SPILLER, Stuttgart 1956, S. 78. Vgl. Pädagogisches Skizzenbuch, Neue Bauhausbücher, hg. von Hans M. WlNGLER, 2. Aufl, Mainz/ Berlin, 1968, S. 23.
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zweifelhaft geworden — und, soviel mir bekannt ist, zuerst den Malern." In einer Anmerkung schreibt Kandinsky: „Bei meinem definitiven Übergang zu abstrakter Kunst ist mir das Zeitelement in der Malerei unbestreitbar klar geworden, und ich habe es seitdem praktisch verwendet." Kandinskys Analysen der bildnerischen Elemente ergeben: „Der Punkt ist die zeitlich knappste Form". Die Linie „ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis." Die Gerade stellt „die knappste Form der unendlichen Bewegungsmöglichkeit" dar. Die eckige Linie „entsteht unter dem Druck von zwei Kräften", kompliziertere mehreckige Linien und Flächen aus der Einwirkung mehrerer Kräfte, usf. 13 Aus der iCra/febestimmtheit bildnerischer Elemente folgt deren Rich/««gj-bestimmtheit, ein wichtiges Phänomen auch innerhalb der Frage nach einem „folgerichtigen Bildaufbau". Einer ausgearbeiteten Methode der „Interpretation nach dem folgerichtigen Bildaufbau" widmet Kurt Badt sein 1961 erschienenen Buch „'Modell und Maler' von Vermeer. Probleme der Interpretation". Auf ihren Charakter einer „Streitschrift gegen Hans Sedlmayr" gehe ich nicht weiter ein. Er berührt nicht das Zentrum der von Badt vorgeschlagenen Interpretationsmethode.14 Badt formuliert für sie drei Regeln: „Es gibt [...] für die europäische Malerei im ganzen eine Ordnung des Bildaufbaus, eine Folgeweisung, der der Interpret sich zu fügen hat. U n d diese Ordnung des Bildaufbaus ist deshalb v o n größter Wichtigkeit, weil damit die Kunst, auch abgesehen v o n ihren Inhalten, ihren T h e m e n , mit der Wirklichkeit des Lebens zusammenhängt. [...] Wir fassen die sichtbaren Erscheinungen (Objekte) der uns u m g e b e n d e n Wirklichkeit unter zwei Bedingungen auf, die in unserer psycho-physischen Natur begründet sind. Wir ermessen sie im B e z u g auf unser Stehen auf der Erde unter d e m H i m m e l (nach unten und oben) und auf unsere eigene Bedingtheit im Handeln, das zwischen rechts und links unterscheidet. D a s ist altbekannt." [Hier verweist
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Zit. nach Wassily KANDINSKY, Punkt und Linie zu Fläche, 7.Aufl., mit einer Einführung von Max BILL, Bern-BümpUtz 1973, S. 34, 57, 58, 71, 72, 83ff. - Vgl. dazu auch Reinhard ZIMMERMANN, Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Berlin 2002, Bd. I, Darstellung, S. 297-316, 345-356; Bd. II, Dokumentation, S. 421 ff., 455ff., 458ff., 485ff., 515ff., 572ff. Vgl. hierzu mein Nachwort zur Neuausgabe von Kurt Badts „Modell und Maler von Jan Vermeer", Köln 1997, S. 147-165.
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Lorenz Dittmann Badt auf das Buch „Substanzbegriff und Funktionsbegriff" von Ernst Cassirer, das erstmals 1910 erschienen war.] Weiter Badt: „Auf der Erde ist das Nahe mir vertraut, es ist 'dicht' bei mir, und 'dicht' bezeichnet wiederum einen erhöhten Zustand der Fülle [...], es bedeutet die Fülle von Einzelheiten, mit denen das dicht bei mir Befindliche 'reich' besetzt ist. Unter Fernem aber verstehen wir nicht nur das durch weite Zwischenräume von uns Getrennte, sondern auch sowohl das Unerreichbare wie das Verlockende. Das Obere ist das Himmlische, Leichte, das Untere die ruhende und tragende, die fest gegründete Erde. [...]"
So „haben wir europäische Bilder von der Erde, auf der das Bild so gut 'steht', wie wir selbst es tun, also vom unteren Bildrand her, und wenn die Erderstreckung dargestellt ist, vom Vordergrunde aus zu interpretieren. Die zweite allgemeine Auffassungsform optisch wahrgenommener Wirklichkeit ist bestimmt durch die Unterschiede, die wir - aus Ursachen, die im asymmetrischen Bau des menschlichen Gehirns bedingt sein mögen — zwischen rechts und links machen."15 Sind diese beiden Regeln der optischen Wahrnehmung der empirischen Wirklichkeit entnommen, so thematisiert die dritte Regel eine spezifisch künstlerische Gliederungsform. Badt schreibt: „Die in den europäischen Gemälden auftretende Gerichtetheit von links nach rechts und zugleich von unten nach oben wird, auf die Bildstrukturen angesehen, zu einer Folge, die Folge aber zur grundlegenden Svcuktutdifferen%ierung. Es wird nämlich im allgemeinen der Bildteil links unten ausgebildet als ein Kompositionsa«/ä«g, die Bildmitte zur Entwicklung des Themas (oder verschiedener Themen) benutzt, und im normalen Falle der Bildteil rechts als Schluß gestaltet. — Es ergibt sich die Aufgabe, die Bildkompositionen auf Grund dieser Strukturen zu erkennen. Hierzu sei vorsorglich bemerkt, daß die angegebene Folge nebst ihren Bedeutungen für den Bildaufbau nur als allgemeinstes Schema zu verstehen ist. Es bestimmt die Methode der Bildanalyse generell; aber aus der Tatsache, daß jenes Nacheinander von Anfang, Kurt BADT, Modell und Maler von Jan Vermeer. Probleme der Interpretation. Eine Streitschrift gegen Hans Sedlmayr, Köln 1961, S. 32-34. Badts Behauptung: „Daher zeigt die allgemeine Tendenz, ein Gemälde von links her zu beginnen, die Kunst der Malerei als ein auf die Darstellung von Freiheit gerichtetes Schaffen an" (S. 37) geht in die Irre.
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Thema und Schluß auf unendlich verschiedene Weise ausgebildet werden kann und ausgebildet worden ist, folgt, daß es nicht genügt, die allgemeine Methode mechanisch anzuwenden. Sie muß sich vielmehr in jedem einzelnen Falle von den Gegebenheiten des vorliegenden Bildes bestimmen lassen, so daß sie dadurch zum Verständnis neu auftretender Tatbestände führt."16
Ich referiere nun nicht die von Badt in seinem Buch erörterten Bilder, sondern weise darauf hin, dass Badt schon zwei Jahre zuvor, 1959, im „Journal of the Warburg and Courtauld Institutes", einen Aufsatz über „Raphael's 'Incendio del Borgo'" veröffentlicht hat, der bereits eine Interpretation nach dem „folgerichtigen Bildaufbau" enthält. Hier bezeichnet Badt die linke Gruppe als ersten Akt, der sich, wie die anderen, in mehrere Phasen gliedert, die rechte Gruppe als zweiten Akt und als dritten die zentrale Gruppe mit dem Schluss des segnenden Papstes (Abb. 4). Diese Dreiteilung verbindet Badt hier mit der „Poetik" des Aristoteles, die für die Tragödie eine Gliederung nach „Vorgeschichte", „Wende" und „Lösung" fordert. „Thus the painting fulfils the principal demands of tragedy according to Aristotle."17 Mit diesem im „Vermeer"-Buch nicht wiederholten Bezug wird eine prinzipielle Fragestellung angesprochen, die Badt selbst nicht thematisiert: Badts Interpretationsmethode lässt sich vereinbaren mit Forderungen der aristotelischen „Poetik". In Kapitel 7 dieser „Poetik" heißt es: „Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist. [...] Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht."18
Aus der von Aristoteles gesetzten Relation von „Ganzem" und der Unterteilung in „Anfang, Mitte und Ende" folgt, dass diese Gliederung 16 17
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Ebda. S. 38f. Kurt BADT, Raphael's 'Incendio del Borgo', Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. XXII (1959), S. 35-59. Hinweis auf die Seiten 45-49. Vgl. ARISTOTELES, Poetik, Griechisch/Deutsch. Übers, und hg. von Manfred FUHRMANN, Stuttgart 1982, S. 25.
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auch für das Epos gilt, damit auch diese Dichtung, wie es in Kapitel 23 heißt, „in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar" wird. 19 Badt unterscheidet im Weiteren zwei „Funktionen" des „folgerichtigen Bildaufbaus": „Das Nacheinander der Bildkomposition in der Malerei kann einem zeitlichen Ablauf entsprechen, der der Darstellung innerhalb eines bestimmten Raumes sich vollziehender Vorgänge zugehört." Hierzu zählt der „Borgo-Brand", oder, worauf Badt an dieser Stelle verweist, „Domenichinos ' J a g d der Diana' (Galleria Borghese, Rom, Abb. 5), wo der Freudenausbruch der zentralen Figur der Diana, die Bewunderung der Gefahrtinnen und das Anspringen des einen Hundes verursacht sind, und daher erst verständlich werden, durch die Bogenschützin links, die den Meisterschuß bereits getan hat. Sie hat den Vogel von dem Faden geschossen, an dem er aufgehängt war; man sieht ihn ganz rechts durch die Luft fliegen. (Dies Bild ist zugleich ein Beispiel dafür, wie frei ein Künstler in der Darstellung des Zeitverlaufes innerhalb der Bildkomposition verfahren kann.)" 20 „Neben der Darstellung eines faktischen Nacheinander im Bilde gibt es aber die bloß darstellungsmäßige, die kompositionelle Folge besonderer Bildformen; ebenfalls ein Nacheinander", das nun in der „dem Verstehen zugehörigen Zeit fortschreitet." 21 Hierfür zitiere ich aus Badts 1960 erschienenem Artikel „Stilleben mit Frühlingsblumen von Paul Cézanne" (Abb. 6): „Folgen wir dem Bildaufbau, der Komposition, wie sie sich als eine aufg ebaute im Nacheinander ihrer Teile selbst zu verstehen gibt: Auf einer weiß19
20
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Ebda. S. 77. Die mögliche Aktualität der aristotelischen „Poetik" wird, unter anderen Hinsichten als der hier erörterten Interpretationsmethode, angesprochen in dem Sammelband „Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?", hgg. von Thomas BUCHHEIM/ Hellmuth F l A S H A R / Richard A. K l N G , Hamburg 2 0 0 3 , S. 165ff. BADT, Modell und Maler (wie Anm. 15) S. 40 und S. 41. Ein Jahr später, 1962 präzisiert Badt seine Ausführungen zu Domenichinos Bild, und zwar in seinem Aufsatz „Domenichinos 'Caccia di Diana' in der Galleria Borghese", Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Dritte Folge, XIII (1962), S. 2 1 6 - 2 3 7 , vor allem S. 232-235. Das Thema klärende Interpretationen nach dem folgerichtigen Bildaufbau entwickelten auch Martin GoSEBRUCH (z.B.: Zum Disegno des Michelangelo, in: Michelangelo Buonarroti, Würzburg 1964, S. 5 1 - 8 8 , bes. S. 72-74) und Erich HUBALA (z.B.: Figurenerfindung und Bildform bei Rubens. Beiträge zum Thema: Rubens als Erzähler, in: Rubens. Kunstgeschichtliche Beiträge, hg. von DEMS., Konstanz 1979, S. 1 2 9 - 1 8 5 , bes. S. 171ff.). BADT, Modell und Maler (wie Anm. 15) S. 41.
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liehen Fläche, die nach Grün und Violett, Blau und Gelb spielt, d.h. alle diese Farben zart andeutend vorwegnimmt, die uns aber nicht horizontal entgegensteht, sondern nach vorn absinkt und aus dieser Abgrundtiefe emporgestiegen unbewegt gedacht ist, erscheinen zwei Äpfel in hochgesteigertem Gold (Orange) und Rot. Sie bilden den Beginn, die 'Anhebung', die Eröffnung des Bildthemas, wie ein Vorspiel ganz in sich selbst beschlossen, zwei Kreis- und Kugelformen völliger Beruhigung aber auch der Isolierung. Nicht wie in der Mehrzahl europäischer Bilder setzt also diese Komposition von der linken Bildecke ein, diese vielmehr ist leer gelassen, als wäre sie nicht in die Komposition einbezogen, nicht in sie aufgenommen. Die Welt der Dinge, um die es Cézanne geht, beginnt etwa in der Bildmitte in dem zweimal wiederholten sehr intensiven und besonders betonten Apfelmotiv. In ihm erschöpft sich die „Anhebung" und kommt zum Stehen. Von dem linken, dem größeren Apfel führt kein Weg das Auge zu den übrigen Objekten des Bildes weiter. Es bedarf zum Fortgang einer Rückkehr, die die Rückläufigkeit der Kreisformen dieser Gegenstände begünstigt, bis zu dem Schatten des rechten Apfels, von dem es mit einem Sprunge, einem Formenintervall, einer Pause des Seins der Dinge, weitergeht in der die Vase links begrenzenden Kurve, die in ihrem unteren Teil, wo ihr Ansatz nach oben durch eine Unterbrechung markiert ist, dem Apfelumriß etwa parallel verläuft. — Mit dem Vasenkontur ist dann das Hauptmotiv der Komposition erreicht, das sich in einer Vielfalt von Schwüngen aus jenem entfaltet, zuerst in den Tulpenblättern, dann in den übrigen Gebilden, Blüten, Stengeln und weiteren Blättern. Und zwar vollzieht sich die Motiventfaltung trotz ihrer linearen Einleitung im Körperlichen 'voluminar', [...] 'voluminar' im Gegensatz zu körperlich, worunter gegenüber der Massenhaftigkeit der wirklichen Dinge die als Volumen gestaltete künstlerische Darstellungsform verstanden werden soll. Bereits die Tulpenblätter sind voluminar, eindeutig gerichtete, sich erstreckende Kötperformen, ebenso die Blüten, Tulpen wie Narzissen. In diesem Hauptthema des Bildes stehen dann die Blüten als in sich ruhende Gebilde gegenüber den sich hebenden und erstreckend bewegten steilen Blättern da. Zuerst begegnet die große Tulpe links der Vase; durch die Blattkurve, die sie dem Strauß verbindet, tritt eine runde Bewegung auf, die an die Apfelumschattungen mahnt; sie führt über den kleinen feststehenden gelben Blütenstern, der die untere Partie des Buketts festlegt, zu einer Schwingung rechts, welche einen Bezug zum Hintergrunde herstellt. Diese, als Wand- und Schlagschatten wiederholt, führt noch einmal zu der Tischplatte zurück, wodurch in dieser anscheinend verlorenen Ecke des Bildes ein kleines reizvolles Nebenmotiv entsteht. Das Hauptthema jedoch geht über die gelbe Blume und unterste Blattkurve aufwärts, in die weißen Flecke der Narzissen, die zwischen den unbewegten Blätterströmen hervorbrechen; deren Schräge wird in einem genau senkrecht gestellten Blatt zum Stehen gebracht und damit das Schlußmotiv angekündigt. Dies jedoch nur für einen Moment; dann tritt links davon das neue Motiv der gelben und rotbraunen Blüten auf, senkrecht und zugleich auch halbkreisförmig entfaltet und sich
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zur großen Tulpe herabsenkend. So wird der Strauß in einem 'Halbschluß' geschlossen, zu dem im Gegensatz und ihn aufhebend die (unvollendete) Kaminwand mit ihren vier- und fünffach wiederholten Senkrechten tritt, die durch markierte horizontale Teilungen den Anschluß an die Tischkante gewinnen, die hier als Symbol des Horizonts der ruhenden Erde stehen mag, wie das Ganze in seinen unauflösbaren Beziehungen und Verbindungen das Bestehen der Dinge aus ihrem Zusammenstehen zum Ganzen einer Welt bezeugt."22
Einen Höhepunkt in der Analyse des folgerichtigen Bildaufbaus stellt das Buch von Rudolf Kuhn „Erfindung und Komposition in der Monumentalen Zyklischen Historienmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts in Italien" dar.23 Schon in mehreren Veröffentlichungen zuvor hatte sich Rudolf Kuhn mit Fragen von Komposition und Rhythmus befasst. 24 Dieses Buch enthält die Quintessenz seiner Forschungen. Der erste Eindruck ist eher abweisend: ein Buch von 666 Seiten Umfang, ohne alle Abbildungen, anscheinend nur eine Aneinanderreihung von Beschreibungen in stark schematisierter Form. Lässt man sich aber auf die Lektüre ein und ist man bereit, Geduld und Aufmerksamkeit dieser, so scheint es, trockenen Lektüre zu widmen, wird man durch eine Vielzahl von Erkenntnissen belohnt. Es sei versucht, Aufbau und Gedankengang dieses monumentalen Werkes nachzuzeichnen (wenn auch nur für den ersten Teil). Es gliedert sich, nach einem Vorwort, in einen Abschnitt A. Doctrina, die Lehre von der Kunst, von der Erfindung und der Komposition, einen Abschnitt B. Exempla, Monumentale Historien-Zyklen, Erfindung und Komposition, und dieser Abschnitt wiederum in eine Einführung, einen 1. Teil: Trecento: Stillagen, Rhythmus und Metrum, einen 2. Teil: Trecento, Quattrocento: Stillagen und Stillagenwechsel; Rhythmus und Metrum, einen
22
23
Kurt BADT, Stilleben mit Frühlingsblumen von Paul Cézanne, in: Die Kunst und Das schöne Heim, 57 (1960), S. 171. Rudolf KUHN, Erfindung und Komposition in der Monumentalen Zyklischen Historienmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts in Italien, Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern
2000. 24
Ich erwähne nur: Rudolf KUHN, Komposition und Rhythmus, Beiträge zur Neubegründung einer Historischen Kompositionslehre, Berlin/ New York 1980. Dazu Lorenz DITTMANN, Probleme der Bildrhythmik, Mit einer Besprechung des Buches von Rudolf Kuhn, „Komposition und Rhythmus", Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 29/2 (1984), S. 192-213.
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3. Teil: Quattrocento: Episch, Lyrisch und Dramatisch, und einen Abschluss: Aus späteren Zyklen. Die Erörterung der insgesamt 17 behandelten Zyklen erfolgt also nicht in erster Hinsicht chronologisch, sondern gemäß der genannten Gesichtspunkte. Dennoch bleibt die Einteilung der ausgearbeiteten Kapitel im Exempla-Teil immer die gleiche: Bildweise Übersicht, Zusammenstellung: 1. Erfindung, a) Personenerfindung, b) Erfindung des Übernatürlichen, c) Ortserfindung, d) Vorgangserfindung. 2. Komposition, a) Reinheit und Durchsichtigkeit, b) Disposition, c) Figurenschemata, d) Rhythmus, bzw. Metrum und Rhythmus. Diese strenge Kategorisierung erlaubt eine Vergleichbarkeit der Gesichtspunkte in den Einzelkapiteln, beflügelt aber nicht gerade die Neugier des Lesers. Abschnitt A. Doctrina, enthält zwei Kapitel, 1. Leon Battista Alberti: die Komposition als die Kunst in der Malerei, 2. Cennino Cennini: das Handwerk als die Kunst in der Malerei. Die Komposition hingegen als die Leistung eines auf sich gestellten Ingeniums. Die Untertitel benennen die leitende Absicht der Darlegungen. Was das Wesentliche einer „Komposition" ausmacht, wird erst von Alberti benannt, und zwar mit dem Begriff „ordo": Kuhn nimmt dabei Bezug auf Albertis Beschreibung der 'Verleumdung' des Malers Apelles. „Der Ordo gab ein je besonderes Yxguterigescbehen, er gab es innerhalb der Struktur, des Baues aus durchgängig abgeschattenen Flächen, bewegten Gliedern und handelnden Figuren, inmitten von Ordo und Struktur, von Bau und Geschehen, stand die Figur, achsenfest und artikuliert. Dieses Verständnis von Kunst entsprach der Zeitstelle Quattrocento und der Reform von Figur und Figurenfolge durch Masaccio." (S. 40)
An Cennino Cennini arbeitet der Autor die begriffliche Präzision und die Methodik des Malens als Handwerk heraus. Vom Komponieren spricht Cennini jedoch nur in Verbindung mit einer Entwurfszeichnung auf einer Wand für ein Wandgemälde. (Vgl. S. 59) Die Darlegungen zu Cennini und Alberti dienen Kuhn dazu, seinen Begriff von Komposition als Figurenfolge, so gut es geht, mit Gedanken der zeitgenössischen Kunsdehre und Kunsttheorie zu verbinden. Im Einführungsteil zu Abschnitt B. Exempla stellt Kuhn „Einige Grundbegriffe der Erörterung der Zyklen" vor. (Dieser Abschnitt gehört also noch zu Kuhns Doctrina.) Hier handelt es sich nun um Begriffe der modernen Literatur- und Kunstwissenschaft, nämlich 1) Grundbegriffe des dichterischen Verhaltens in und zu der Welt: Lyrisch
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— Episch — Dramatisch, wobei sich Kuhn vor allem auf Emil Staiger und Wolfgang Kayser beruft, 2) Grundbegriffe der Darbietungsform: Metrisiert und nicht metrisiert, und 3) Grundbegriffe der Stillage: Niederer Mittlerer - Hoher Stil. A m engsten mit der Frage nach dem „folgerichtigen Bildaufbau" ist das Problem des „Metrums" verbunden. Die Fruchtbarkeit der übrigen „Grundbegriffe" für die Interpretation kann allein ihre konkrete Anwendung erweisen. In Kapitel II führt der Autor in die Begriffe „Erfindung", „Komposition", „Figuration" und „Disposition" ein, und zwar am Beispiel von „Giottos Reform der Historienmalerei" bei seiner Franzlegende in S.Francesco in Assisi. (Er kommt später aber noch einmal ausführlicher auf diesen Zyklus zu sprechen.) Unter dem Titel „Erfindung" behandelt Kuhn das Verhältnis von Bild zu einem möglichen Text, bei „Komposition" kommt u.a. das Problem von „Links und Rechts" zur Sprache. Bei Giotto „haben Links und Rechts verschiedene Bedeutung. In dreizehn von achtzehn Bildern ist Franz nach rechts gerichtet, durch die thematischen Stationen seines Lebens weiterschreitend: so liegt das vor ihm Liegende, auf das er trifft und bei dem er ankommt, rechts und das hinter ihm Liegende, das zurückbleibt oder ihm folgt, links. Nur in drei Bildern ist Franz nach links gewendet: In der 'Lossagung', in welcher Franz sich von den Zurückbleibenden, von Bürgerstand und Vater, lossagt [...] (Abb. 7). Dann in der 'Feuerprobe' [...]. Giotto ließ den Sultan Franzens Weiterschreiten nach rechts unterbrechen, hindern und ihn in die Vernichtung nach links zurückschikken, jenseits welcher Gefahr sich die für sicher geltenden Zauberer davonmachen. Und drittens ist Franz in Traumbilde des Papstes Innozenz nach links gerichtet: hier schaut der Papst im Traume und voll Sorge auf die bestehende, vom Einsturz bedrohte Kirche zurück, und er sieht den Heiligen aus der Richtung seiner Sorge bereits auf die Kirche zurückgegangen und sie säulengleich stützen [...]." (S. 97, 98) Bei der zweiten Besprechung des Franziskus-Zyklus heißt es, „die rechte Seite [ist] als Ankunfts- und Zukunftsort zu verstehen." (S. 216) In diesem Abschnitt erläutert der Autor sodann genauer, was unter „Metrum" zu verstehen sei: „Giotto räumte den Figuren jedes Bildes [...] untereinander gleiche oder doppelte, selten auch dreifache Platzbreiten ein. Er gab in der „'Mantelspende' Franz, dem Mantel und dem Ritter je eine Platzbreite, zusammen
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drei, dem Pferde genau wiederum drei. [...] In der [...] 'Lossagung' gab Giotto, mit einer leichten Binnenverschiebung an der Kluft, welche die gegnerischen Seiten trennt, den Bürgern zwei Spatia (genauer dem Vorsteher eines und dem ersten der Reihe eines), dem Vater zwei Spatia, dann Franz zwei Spatia und dem Bischof und den Klerikern je ein Spatium. [...] In der 'Feuerprobe' gab er den vier Zauberern zusammen eines, dem Feuer eines, Franz und Illuminatus eines und, leicht verschoben, dem Sultan zwei Spatia. [...] Das Spatium bezog sich dabei auf die figurierte Erzähleinheit; sein Maß war meistens gleich der Breite der Figur eines frontal aufrecht stehenden Menschen; doch, wie der Wechsel der Gesamtanzahl zeigt, nicht stets. [...] Die Figuren wurden solcher Art metrisch reguliert. Giotto setzte dieses Maß dann durch die gesamte Breite des Bildes hindurch, manchmal mit Zäsuren und Verschiebungen, doch kohärent. Die Messung hatte nicht die Präzision einer Zollstockmessung, doch zeigte sich das Maß durch Wiederkehr und Folgerichtigkeit als identisch an. Das Maß wurde, unter Vorzug der genannten Regelbreite, Vorgang für Vorgang gesetzt, es war nicht Resultat einer vorgängigen Bildfeldquadrierung, eines abstrakten Rasters." (S. 102,103) Später ergänzt der Autor: „Es kam [...] sogar darauf an, leiernde Exaktheit zu vermeiden; und das geschah durch den Rhythmus. Der Rhythmus wird dabei vom Metrum getragen. Das besagt, die — abstrakt genommen — gleichmäßigen 'Hebungen' und Spatia des Metrums heben gleichwohl verschieden ausgebildete Figuren; und das bleibt nicht ohne Rückwirkung auf das Metrum." (S. 227) Und: „Jenes Verweilen und Auskosten rhythmisch im Rahmen des Metrums schwer genommener Stellen war auch Giottos Hauptmittel für die Entfaltung des Rhythmus." (S. 228) Leider findet sich an keiner Stelle des Buches eine systematische Erörterung des Bezugs von Metrum und Rhythmus. 25 In der „Einführung" heißt es: 25
Kurt BADT hatte in seinem Buch „Die Kunst des Nicolas Poussin", Köln 1969, S. 235, ausgeführt: „Rhythmus ist akzentuierend, betonend, ob durch Länge oder durch Stärke. [...] Unter Rhythmus verstehen wir eine in gleichmäßigen Abständen sich wiederholende Betonung. Sie setzt für ihre Existenz ein Metrum, eine meßbare Einheit der Abstände voraus, die die Regelmäßigkeit des Flusses (Rhythmus) der Akzente ermöglicht. [...] Solches Metrum zeigen auch die Werke der Malerei, es ist die Symmetrie im ursprünglichen Sinne des Wortes, das Einhalten eines Grundmaßes. In der Architektur ist dieses Maß meßbar, in der Malerei dagegen, wegen des verändernden Einflusses von Formen, Linien, Hell-Dunkel und Farben aufeinander, nicht. Aber im Resultat aller dieser Darstellungsfaktoren ist es intuitiv auffaßbar. Wir spüren die Grunddistanz, die ein Bild bestimmt, und zugleich auch den Darstellungswert derselben in bezug auf den Gegenstand, welcher Bewegung oder Ruhe, etwas langsam oder etwas schnell Vergehendes sein kann. - Diese Grunddi-
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„Giotto hat das Zusammenwirken der Personen miteinander im natürlichen, wirklichen Leben sofort überstiegen, indem er die Personenreihen in deren Figuren regulierte und die Figuren ins gleiche Maß brachte; die beiden Gaddi haben sich an jenes natürliche, wirkliche Leben länger gehalten, indem sie geradeaus und dem Natürlichen schmiegsam erzählten, durchaus kunstvoll aber, indem sie sorgfältig die Figuren bildeten, die Zusammenhänge darlegten, Zahl und Lage der Betonungen bestimmten, rhythmische Folgen rafften, Pausen und Abstände einlegten [...]". (S. 89)
Im „Metrum" liegt für Kuhn ein Hauptmittel zur Gewinnung des „hohen Stils". Das nächste Kapitel bringt Kontrastierungen dieser Art von Darstellung zur Darstellung in älteren Zyklen. Die 'Geschichte Israels' in Santa Maria Maggiore, Rom wurde im „mittleren Stil" dargestellt und in Einheiten komponiert, die als Gestaltkomplexe nebeneinander gesetzt wurden. (S. 105—113) Die 'Geschichte Christi' in Sant'Angelo in Formis zeigt, erstmals innerhalb der ausgewählten Beispiele, rhythmische Figurenfolgen, wobei die Figuren konsequent nach links und rechts disponiert wurden. „Christus wurde stets nach rechts gerichtet, ob er aufruft, segnet oder nicht an sich kommen läßt." (S. 117) Die 'Geschichte Mariens' und die 'Geschichte der Apostel' von Cimabue in der Oberkirche von S.Francesco in Assisi zeichnet sich bei den Bildern 'Die Apostel versammeln sich um das Sterbelager Mariens', 'Marientod', 'Himmelfahrt Mariens' und 'Maria als Fürsprecherin zur Seite Christi' durch eine Gesamtform aus, die die Figurenfolge dominiert. (S. 125—128) Darin ist ein wesentlicher Unterschied zu Giotto zu erkennen. „Giotto komponierte in kohärenten Figurenreihen-, jede Differenzierung blieb, bereichernd, dem unterworfen. Es gab bei ihm keine Dominanz der Form, darin war und blieb Giotto rigoros; er konstituierte die Einheit seiner Zyklen über die kohärente Figurenreihe." (S. 130) Bei der 'Geschichte Mariens' von Cavallini in S. Maria in Trastevere in Rom dagegen ist die Komposition „ihrer Form nach Bild für Bild äußerst ver-
stanz wird aber nun wahrnehmbar durch ihre jeweiligen Einsätze in der Erscheinung markierenden Betonungen, mögen diese noch so zart sein. Die Betonung ist aber nicht ohne Charakter, nicht bloße Betonung, vielmehr stetig, unregelmäßig, hüpfend, lastend, schwer, leicht, heiter, ernst und dergleichen. Ohne Metrum und ohne Rhythmus kann kein Gemälde sein, weil durch diese beiden voneinander untrennbaren Kompositionsmittel erst jene Teile in demselben konstituiert werden, die ein Kunstwerk als Gan^heit, als die es gefordert wird, ermöglichen."
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schieden. Doch die Form dominiert die Figurenfolge Cimabue [...]" (S. 131) Kuhn resümiert:
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„Für den jungen Giotto, der dann die Franzlegende entwarf, war der römische Maler Cavallini durch die Monumentalität der Figuren, durch die Sammlung und Konzentration der Figuren, durch das Gewicht der Figuren in der jeweiligen Erzählung und durch den inneren Zusammenhang der Gestalten in den Storie vielleicht noch wichtiger als sein Landsmann Cimabue. Die Erzählweise des Isaakmeisters [dem der folgende Abschnitt gewidmet ist] endlich stellte [...] einerseits eine Weiterentwicklung der Erzählweise des Cavallini und des Cimabue dar, eine Weiterentwicklung zu ungewöhnlicher Verfeinerung hin. Andererseits komponierte der Isaakmeister nicht mehr auf eine Gesamtform hin, er komponierte rhythmische Figurenfolgen. [...]" (S. 137) „Giotto fand im Werke des Isaakmeisters die ersten vollständig bildimmanenten Erzählungen, ein Commercium der Figuren untereinander. Was die Stimmungsdichte der Darstellungen angeht, kam Giotto erst in Padua [...] auf die Höhe des Isaakmeisters, jetzt aber als derjenige, der die Historienmalerei in Assisi reformiert hatte und die sie in Padua weiterentwikkelte." (S. 141 f.) Auch im nun anschließenden Teil I folgt der Autor nicht dem chronologischen Ablauf, sondern erörtert zuerst die Geschichte der hl. Jungfrau Maria von Taddeo Gaddi in der Cappella Baroncelli von S. Croce in Florenz als „epische Erzählweise im mittleren Stil, lockere Variante" (S. 145-161), sodann die Geschichte des hl. Kreuzes von Agnolo Gaddi im Chor von S. Croce in Florenz als „epische Erzählweise im mittleren Stil, festere Variante" (S. 163—188), um dann nochmals zu Giottos Geschichte des hl. Franz im Langhaus der Oberkirche von S.Francesco in Assisi zurückzukehren, die nun als „epische, metrisierte Erzählweise im hohen Stil" charakterisiert wird. (S. 189-233). Dieser Aufbau ist nicht leicht zu durchschauen, und es fragt sich, ob er sachlich notwendig ist. Ich greife daraus nur die Beschreibung des Freskos „Franz schenkt seinen Mantel einem armen Ritter" heraus (Abb. 8): „Es fällt auf, daß alle für das Geschehen wichtigen Sachen vornean und nebeneinander aufgereiht wurden: links das Pferd, rechts daneben Franz, daneben dann der Mantel, zuletzt daneben der Ritter. Die Figuren beruhen dabei auf sich und stehen eine jede für sich. Das Für-sich-Stehen und Aufsich-Beruhen wurde so wichtig genommen, daß zwischen allen Figuren so große Abstände gewahrt blieben, daß jede Figur sich an ihrem Platze ganz und vollkommen entfalten konnte und keine Figur in den Bereich einer an-
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hareng Dittmann deren eindrang. [...] Der Abstand zwischen Franz und dem Ritter wird nicht als Leere oder als Distanz des Hochmutes des Franz, der den Ritter nicht an sich kommen lasse, mißverstanden, sondern durch den Mantel vollauf und zur Genüge besetzter Platz. Alles Unwichtige und Beiläufige wurde, außer der als Hintergrund zurückgestuften und resolut in zwei Figuren zusammengezogenen Landschaft, bei Seite gelassen und es ist lapidar von nichts weiter gehandelt als dem Pferde, von dem Franz, der, den hl. Martin an Demut übertreffend, abgestiegen ist, als von Franz, dem Mantel und dem Ritter. Unter diesen übriggebliebenen Sachen wiederum wurde das Wichtigere und das Unwichtigere wenig gegeneinander höher- oder zurückgestuft; vielmehr sind, auch wenn Franz genau an jenen Platz gestellt wurde, an dem die Konturen der beiden Landschaftsfiguren aufeinander stoßen, auch wenn er allein enface zu sehen und größer als der Ritter ist und einen Heiligenschein trägt, sind alle Teile der Erzählung einander angeglichen. Dieses ruhige, gleichmäßige Aufgereihtsein der Figuren, jede mit genügend Platz und angeglichener Wichtigkeit, zeigt auch, daß das Thema der Darstellung nicht von einzelnen Gestalten her zu begreifen ist, sondern in diesem ins Gleiche gebrachten Gesamt besteht. Giotto stellte das Geschehen dar, das Geschehen, an dem die Sachen, wie unterschiedlich sie auch sind, Pferd, Mantel, Heiliger und Ritter, zu gleichen Teilen teilnehmen: das Geschehen ist die Einheit, welche sie, jedes für sich bestehend und auf sich beruhend, im Zusammenhange sind; dieses Geschehen, als die Einheit ihrer, wird erst durch ihr auf sich Beruhen frei und sichtbar." (S. 192)
In dieser Weise werden Bild für Bild beschrieben. Ihr episches Gleichmaß wird darin sichtbar gemacht. Bisweilen, so beim „Traum Franzens" (S. 229), beschreibt Kuhn die Blickführung in extremer Detaillierung, und gerade damit umso weniger verbindlich, verzichtet er doch auf jede Analyse der Farbgestaltung. Davon abgesehen, liegt eine Gefahr dieser Untersuchung in der nahezu dogmatischen Festlegung auf eine Folgeordnung, eine Blickfuhrung. Das nächste Kapitel ist Giottos Zyklus in der Arena-Kapelle in Padua gewidmet. (S. 243-321) Auch diese vielbesprochenen Werke beschreibt der Autor mit nie erlahmender Aufmerksamkeit, meist in eindringlichen und einfühlsamen Worten. Aus der Quintessenz der „Personenerfindung" sei zitiert: „Giotto erzählte von dem Christus, der in die Welt kam, den die Welt nicht erkannte; der in sein Reich kam, es segnend eroberte, segnend ergriff und den die Seinen nicht aufnahmen, den sie vielmehr zurück drängten, in den Tod voraus stießen und der sich dann der Welt im Triumphe entzog und den Geist sandte." (S. 293) Nach einem kürzeren und, wie mir scheint, weniger aussagekräftigen Abschnitt zu Giottos Fresken in der Cappella Bardi und der Cappella
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Peruzzi in S. Croce in Florenz, gleichfalls als „epische, metrisierte Erzählweise im hohen Stil" verstanden (S. 323-348), wendet sich der Autor im zweiten Teil (S. 359—562) Vergleichen von Stillagen und Stillagenwechsel in Zyklen des Trecento und des Quattrocento zu. Diese Vergleiche aber werden nicht ausdrücklich durchgeführt, sondern entstehen vor allem durch Lektüre der aufeinanderfolgenden Kapitel. Im dritten Teil kontrastiert der Autor überzeugend mit der bislang behandelten epischen Erzählweise die dramatische von Masaccio in seiner Geschichte des hl.Petrus in der Brancacci-Kapelle von Sta. Maria del Carmine, Florenz: „Dramatisch ist, daß die innere Situation der mittleren Begebenheit [im Fresko „Petrus und die Tempelsteuer"] in sich selbst nicht zu Ende gebracht wurde, in sich selbst nicht genügte, sondern präzipitierte." (S. 609) „Die mitdere Begebenheit stellte Situation und Problem dar, sie zeigte den Konflikt, der im Weitergeben der Forderung entstand [...]. Die Situation, die in der Mitte geschildert wurde, drängte weiter, bedurfte der Ergänzung, sie präzipitierte und spannte, sie ist dramatisch." (S. 610)
Die vom Autor in Anspruch genommene „lyrische Darstellungsweise" überzeugt mich dagegen nur bei Fresken Fra Angelicos in Zellen des Konvents von San Marco in Florenz (S. 619ff.), nicht aber bei Giottos „Verkündigung" in der Arena-Kapelle zu Padua (S. 320f.) oder bei Michelangelos Fresken der „Erschaffung der Welt", der „Erschaffung des Menschen" und der „Epiphanien Gottes" in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan (S. 647). Im letzten Abschnitt („Aus späteren Zyklen") schließlich geht es dem Autor vor allem darum, aufzuzeigen, wie die Komposition der einzelnen Figuren- und Gruppenfolge „nun ein Ganges, nicht mehr bloß ein Gesamt ist", anschaubar „in einer überfiguralen Bildform." (S. 659) Für Andrea del Sartos „Geschichte Johannes des Täufers" im Chiostro dello Scalzo zu Florenz gilt, „daß die Ganzheit und die Bildform, zu denen Andrea jede Storia innerhalb des Zyklus in Einheit durchgestaltete, die Bilder auf sich selbst konzentrierte und gegen andere Storie abschloß und daß damit [...] in dem Außerordentlichen dieses Zyklus zugleich eine Krise der monumentalen zyklischen Historienmalerei lag." (S.662)
Rudolf Kuhn erkundete die Anfange einer folgerechten Bildkomposition und deren Möglichkeiten in der italienischen Wandmalerei des vier-
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zehnten bis zum frühen sechzehnten Jahrhundert. Kurt Badt und andere erforschten schwerpunktmäßig deren Vielfalt in der europäischen Tafelmalerei der Neuzeit. Das Ende dieser Art des Bildaufbaues ist noch nicht bestimmt.26 In seinem Vermeer-Buch verweist Badt an mehreren Stellen auf Wilhelm Diltheys 1900 verfasste Abhandlung „Die Entstehung der Hermeneutik", so auch im Abschnitt über „Vororientierung": „Wie man [...] vorzugehen hat, um zu einer wirklichen Interpretation zu gelangen, hat Dilthey am (literarischen) Verfahren Schleiermachers beschrieMax Imdahl schreibt zu Picassos Guernica: „Sämtliche Aktionen aber, die Bewegungen und Gebärden von rechts nach links und von unten nach oben, geschehen in jeweils dynamisch aufgeladenem Augenblick wie in Gleichzeitig, im dramatischen Moment eines Eben-Jetzt. Das Eben-Jetzt ist der alles beherrschende, eine und selbe Zeitausdruck der verbildlichten Szene, und gerade er auch verleiht ihr - sozusagen niemals ein für allemal, sondern immer aufs neue — unmittelbare Aktualität." (Max IMDAHL, Picassos Guernica, Frankfurt am Main 1985, S.69f.) Brigitte Scheer führt aus: „Das künsderische Bild ist an solches Gerichtetsein in der Zeit zum Zweck der eindeutigen Bestimmung seiner dargestellten Erscheinungen nicht gebunden. Selbst wenn es bei einem solchen Bild vordergründig um die Darstellung historischer Abfolgen geht und der Künsder das Bild (meist von links nach rechts) in Phasen einer Entwicklung einteilt, so ist schon die triviale Beobachtung, daß der Betrachter dieser vermeindich zwingenden 'Lesart' des Bildes nicht folgen muß, Hinweis auf andere Möglichkeiten des Zeitverständnisses im Bild." „Das Bild zeigt die paradoxe Eigentümlichkeit, daß in ihm die Elemente visuellen Zeitverstehens gleichgegenwärtig sind und gleichwohl nicht nur stillgestellte Zeit erfahrbar wird. Dies letztere mag jedoch eine Grenzerfahrung des Bildwerks etwa bei einer monochromen Bildfläche sein, die zum Ausdruck von Ruhe und unbewegter Dauer werden kann. Die Simultaneität der Elemente des Bildes ist jedoch auch hier wie bei allen Bildwerken kein passives Nebeneinander, obgleich das Prinzip der Gleichzeitigkeit für das äußerlich unbewegte Werk unaufhebbar ist." „Die ungegenständliche Bildkunst der Moderne bietet zweifellos eine besondere Chance, die bildimmanenten Zeitcharaktere wahrzunehmen, weil die bloß wieder erkennbaren Zeitgestalten, das Moment der Narrativität, hier ausbleiben. Statt des wieder erkennenden - ist das 'sehende Sehen' (Imdahl) gefordert, um den Bildbedeutungen auf die Spur zu kommen. Um so mehr treten die eigenrhythmische Struktur, die Dynamik des Farbauftrags und die Zeitentfaltung bei den Linienführungen für die ästhetische Wahrnehmung hervor." (Brigitte SCHEER, Zur Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung in der bildenden Kunst, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2 (2001), S. 255-269, Zitate auf den Seiten 267-269.) Der Irrtum dieser Ausführungen liegt darin, das „Moment der Narrativität" als „bloß wieder erkennbare Zeitgestalten" zu deklarieren, und nicht zu beachten, dass „eigenrhythmische Struktur", „Dynamik des Farbauftrags" und „Zeitentfaltung bei den Linienführungen" den „folgerechten Bildaufbau" entscheidend mitkonstituieren. Gerade die „ triviale Beobachtung", dass der Blick „frei", d.h. beliebig, über des Bildfeld schweifen kann, macht die Entdeckung eines folgerichtigen Bildaufbaus zu einer Leistung des verstehenden Sehens.
Der folgerichtige
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ben [...]: 'Er begann', so heißt es dort, 'mit einer Übersicht der Gliederung, welche einer flüchtigen Lesung zu vergleichen war, tastend umfaßte er den ganzen Zusammenhang, beleuchtete die Schwierigkeiten, bei allen einen Einblick in die Komposition gewährenden Stellen hielt er überlegend inne. Dann erst begann die eigentliche Interpretation." 27 Unmittelbar vor und nach diesen Zeilen finden sich bei Dilthey folgende Sät2e: „Hier macht sich die zentrale Schwierigkeit aller Auslegungskunst geltend. Aus den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des einzelnen das des Ganzen voraus. Dieser Zirkel wiederholt sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zu Geistesart und Entwicklung seines Urhebers, und er kehrt ebenso zurück im Verhältnis dieses Einzelwerks zu seiner Literaturgattung. [...] Theoretisch trifft man hier auf die Grenzen aller Auslegung, sie vollzieht ihre Aufgabe immer nur bis zu einem bestimmten Grade: so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum est ineffabile." 28 Diese Grenzen bestehen auch für die „Interpretation nach dem folgerichtigen Bildaufbau". Sie gelten aber gleichermaßen für jede andere mögliche Interpretationsmethode.
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BADT, Modell und Maler (wie Anm. 15) S.32. Wilhelm DILTHEY, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Wilhelm DILTHEY, Gesammelte Schriften, V. Band), Stuttgart/ Göttingen 1957, S. 330.
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Zeitkonzepte in der oberitalienischen Malerei des Quattrocento Überlegungen zu ,Zeit im Bild' und ,Biklzeit' bei Pisanello und Mantegna
Eines der bekanntesten Werke Pisanellos dürfte das „Georgsfresko" in Sant'Anastasia zu Verona sein, das bereits in der frühen Kunstliteratur mit den Beschreibungen des Veroneser Dominikanerpaters Fra Marco de' Medici aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerühmt und in Vasaris Schriften aufgenommen wurde (Abb. 9—11). Auftraggeber dieses Wandbildes war die Veroneser Familie Pellegrini, deren bildgewordener Name, in ein sprechendes Wappen mit der Darstellung eines Jakobspilgers übersetzt, den rechten unteren Abschluß des Freskos bildet. Dokumente über die Fertigstellung des Kunstwerks existieren nicht, doch wird es in der Forschung überwiegend auf die Jahre zwischen 1435 und 1438 dauert.1 Thema der Wandmalerei ist eine Episode aus der Georgslegende, so wie sie Jacobus de Vorágine im späten 13. Jahrhundert in seiner legenda aurea niedergeschrieben hat: Die Stadt Silena in Lybien wurde durch den Atem eines Drachens verpestet, der am See zu Füßen der Stadt hauste. Um den Drachen zu besänftigen, wurden ihm Schafe und später durch das Los bestimmte Menschen geopfert. Darunter befand sich auch des Königs einzige Tochter, die sich daraufhin in königlicher Aufmachung zum See begab. Wie durch ein Wunder erschien der heilige Georg und bekämpfte den Drachen, tötete ihn aber erst, nach-
Die kunsthistorische Diskussion ist zusammengefasst und mit Beobachtungen zur künstlerischen Ausführung und zur Einordnung in Pisanellos Oeuvre ergänzt bei Annegrit SCHMITT, Pisanellos Georgswandbild in Sant'Anastasia, Verona, in: Bernhard DEGEN HART - Annegrit SCHMITT, Pisanello und Bono da Ferrara, München 1995, S. 1 1 9 - 1 7 9 und in: Pisanello. Ausstellungskatalog, Verona, Museo di Castelvecchio, 8 sett.-8 die. 1996, hg. von Paola MARINI, Verona 1996, S. 1 5 1 - 2 2 4 ; weitere Aspekte bezügl. der Motive in Pisanellos Georgswandbild in dem Kolloquiumsbeitrag von Serena SKERL DEL CONTE, Pisanello et la culture du XIV e siècle, in: Pisanello. Actes du colloque organisée du Musée du Louvre par le Service culturel les 26, 27 et 28 juin 1996, hg. von Dominique CoRDELLIER/ Bernadette PY, Paris 1998, Bd. 1, S. 45—82; alle Quellen zu Pisanello sind jetzt ediert in: Documenti e Fonti su Pisanello (1395-1581 circa), hg. von Dominique CoRDELLIER, Verona 1995.
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dem der König und die gesamte Bevölkerung Silens sich zum christlichen Glauben bekehrt hatten. 2 Im allgemeinen wird in der Malerei des Quattrocento der Drachenkampf als das zentrale Motiv der Legende abgebildet; dies ist jedoch bei dem Fresko der Pellegrinikapelle nicht der Fall: Links vom Eingangsbogen zur Kapelle ist eine wüste, steinerne Landschaft mit bodendeckenden Sträuchern zu sehen, in deren Vordergrund ein Drache mit einer Eidechse (oder mit seinem Jungtier?) sowie menschlichen und tierischen Knochen zu sehen ist; im Mittelgrund liegt ein gerade verendetes Reh auf dem Rücken, bewacht von einem Löwen, der zum Sprung auf einen davonspringenden Hirschen anzusetzen scheint (Abb. 10).3 Uber dem Eingangsbogen verbindet ein — durch den schlechten Erhaltungszustand nur in einigen Partien zu erkennender — See, der Drachensee, an dessen stadtseitigem Ufer ein Boot mit geblähtem Segel liegt, die Drachenstätte mit einer im rechten Bildfeld wiedergegebenen hügeligen Landschaft mit Stadtvedute. Darin sielt sich die folgende Szene ab: In der Bildmitte befinden sich vor einer etwa mannshohen Hecke die beiden Protagonisten, Georg und die Prinzessin, umgeben von einem Höfling zu Pferde, der offensichtlich die Standarte des ritterlichen Edelmannes trägt, und Haustieren; am rechten Bildrand sind die Vorderbeine und Köpfe heransprengender Pferde zu erkennen. Im Mittelgrund links hinter Georg und von diesem durch die Hecke getrennt steht der König mit seinem Gefolge und schließlich schließt die Stadtvedute Silens mit einem prominent platzierten Galgen vor den Toren der Stadt das Bild im Hintergrund ab. Am Horizont erscheint ein Regenbogen, Symbol für den glücklichen Ausgang der Legende — so wie im Alten Testament der Regenbogen nach der Sintflut als Versöhnungszeichen Gottes aufgefaßt wurde. 4 Pisanello breitet ein Panorama der weit verbreiteten Episode aus, die hier nicht, wie üblich, durch den entscheidenden Drachenkampf repräsentiert ist: in den Mittelpunkt rückt ein anderer Zeitpunkt, den Fra
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Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, übers, von Richard BENZ, 10. Aufl. Darmstadt 1984, S. 301-303. Interessanterweise beschreibt Annegrit Schmitt hier nicht den Drachen, sondern spricht nur von einer .Drachenbrut'; SCHMITT, Pisanellos Georgswandbild (wie Anm. 1) S. 120. Ulrike BAUER-EBERHARDT, Per l'iconografia del San Giorgio e la principessa di Pisanello, in: Pisanello, hg. von MAR1NI (wie Anm. 1) S. 1 5 1 - 1 6 4 , beschreibt erstmals die genaue Szenerie und thematisiert auch den dargestellten Zeitpunkt, allerdings mit anderem Akzent. Ebda. S. 121.
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Marco de' Medici (gest. 1583) — über Vasari vermittelt — folgendermaßen beschreibt: „Ferner ist über dem Eingangsbogen der genannten Kapelle gemalt, wie der heilige Georg nach der Tötung des Drachens die Königstochter befreit, die man nahe dem Heiligen sieht, in einem langen, der damaligen Mode entsprechenden Kleid. Wunderbar ist darin wiederum die Figur des heiligen Georgs, welcher wie oben gerüstet ist: Bereit, sich wieder auf das Pferd zu schwingen, steht er mit dem Körper und dem Gesicht den Betrachtern zugewandt, einen Fuß im Steigbügel und die Linke am Sattel; man sieht ihn schon fast beim Besteigen des Pferdes, welches das Hinterteil den Betrachtern zugekehrt hat. Alles das sieht man wegen der Verkürzung sehr gut auf engem Raum. Um es kurz zu sagen, kann man dieses mit Zeichenkunst, mit Anmut und außerordentlichem Verständnis geschaffene Werk nur mit grenzenloser Bewunderung, ja Staunen betrachten."5
Fra Marco de' Medici erkennt hier also den Moment des Aufbruchs nach dem siegreichen Kampf, und Vasari korrigiert ihn nicht. Aber ist hier wirklich dieser Augenblick dargestellt? Georg ist tatsächlich dem Betrachter frontal zugewandt, stellt den linken Fuß in den Steigbügel und hält sich mit der linken Hand am Sattelknauf fest — eine Bewegung, die genau in dieser Weise beim Besteigen des Pferdes - also nach dem erfolgten Drachenkampf — vollzogen werden könnte (Abb. 11). Von einer aktiven Befreiung der Prinzessin, die Fra Marco de' Medici hierin sieht, ist indes nichts zu sehen. Der eben geschilderte Bewegungsablauf wäre jedoch auch in der umgekehrten Reihenfolge denkbar: Demzufolge könnte Georg gerade das rechte Bein über die Kruppe des Pferdes geschwungen und auf dem Boden aufgesetzt haben, während die den Absteigevorgang stützende linke Hand noch auf dem Sattelknauf liegt. Die Ambivalenz der Haltung lässt also beides zu. Wie Fra Marco de' Medici richtig beobachtet, hat Georg dem Betrachter das Gesicht zugewandt — doch er blickt ihn nicht an: vielmehr folgt sein Blick einer leichten Nei-
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Giorgio VASARI, Le vite de' più eccellenti pittori scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. von R.. BETTARINI, Bd. III (Testo), Florenz 1971, S. 368: "Sopra L'arco poi di detta cappella è dipinto quando San Giorgio, ucciso il dragone, libera la figliuola di quel re [...] nella qual parte è maravivliosa ancora la figura del medesimo San Giorgio, il quale, armato come di sopra, mentre è per rimontar a cavallo sta vòlto con la persona e con la faccia verso il popolo, e messo un piè nella staffa e la man manca alla sella, si vede quasi in moto di salire sopra il cavallo che ha vòlto la groppa verso il popolo [...]"; die Übersetzung von H.J.-Eberhardt, in: DEGENHART/ SCHMITT, P i s a n e l l o ( w i e A n m . 1) S. 1 9 3 .
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gung seines Kopfes nach rechts, in Richtung des Sees. Auch die Prinzessin, unbeweglich in Profilansicht zwischen Georgs Pferd und dem höfischen Standartenträger, dem zwergenhaften Begleiter Georgs auf seinem anscheinend unruhig scharrenden Pferd, 6 stehend, blickt nicht auf ihren Retter, sondern an ihm vorbei nach links, in Richtung des Sees und darüber hinaus (Abb. 9, 11). Lässt bereits diese veranschaulichte KontaktJosigkeit zwischen den beiden nur räumlich aufeinander bezogenen Protagonisten vermuten, dass es sich nicht um den Moment des Abschieds im Sinne des vermuteten Handlungsablaufes handeln kann, so können weitere Indizien zur Bestimmung des Augenblicks herangezogen werden: Durch die Ansichtigkeit der Tiere und Menschen — frontal, von hinten oder im Profil - legt Pisanello die zentrale Szene mit den beiden Protagonisten der Erzählung streng horizontal an, die Bewegungsrichtung der heransprengenden Pferde sowie die Blickrichtung von Mensch und Tier — wie etwa dem am Ufer stehenden Jagdhund — legen die Leserichtung von rechts nach links fest. Der Betrachter folgt also den Blicken der beiden Protagonisten über den See hinweg zu der Drachenstätte der gegenüberliegenden Seite. Dort sieht er den — mittlerweile nur noch fragmentarisch erhaltenen — Drachen in Erwartung der Prinzessin seinerseits dem gegenüberliegenden Ufer zugewandt. Es ist also der Moment vor dem Drachenkampf dargestellt, der Ankunftsmoment des heiligen Georg, nicht der Augenblick des Aufbruchs nach dem Kampf. 7 So gesehen, sind auch die Bewegungsabläufe stringent dargestellt: der vorauseilende Jagdhund ist bereits am Seeufer angekommen und nimmt schon die Witterung des Ungeheuers auf, während Georg noch vom Pferd absteigt. Die Prinzessin in unheilvoller Erwartung des eigenen Todes — auf ihre Opferrolle spielt der hinter ihr liegende Widder an — verweist in stummer Gefasstheit durch ihre Körper- und Blickrichtung auf das gegenüberliegende Ufer. Die strenge Vertikalität ihrer
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Annegrit Schmitt hat darauf hingewiesen, daß die Darstellung des Hofzwerges als Begleiter der italienischen Fürsten geläufig war; sie erscheinen auch auf zwei Medaillen Pisanellos, die Gianfrancesco I. Gonzaga, Markgraf von Mantua, und Filippo Maria Visconti, Fürst von Mailand, zeigen. SCHMITT, Pisanellos Georgswandbild (wie Anm. 1) S. 132 sowie S. 194 Abb. 2 1 0 und S. 221 Abb. 335. Hier folgt auch Schmitt der Beschreibung Vasaris, wenn sie den Ritterheiligen als „im Begriff, sein K a m p f r o ß zu besteigen" beschreibt. Ebda. S. 1 2 1 . B A U E R EBERHARDT, Per l'iconografia (wie Anm. 3) S. 153, hingegen erkennt und benennt den Moment vor dem Drachenkampf, doch lässt sie keine Ambivalenz der Haltung zu, sondern macht das Aufsitzen zum Hauptanliegen ihrer ikonographischen Untersuchung (S. 157ff.).
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Haltung zeigt an, dass sie als einzige sich in dem Moment davor bereits an diesem Platz befunden hat. Das erhobene linke Vorderbein des begleitenden Pferdes mit dem Hofzwerg ist als Innehalten im Moment der Ankunft zu verstehen, wie auch die nur angeschnittenen heransprengenden Pferde am rechten Bildrand das nun ankommende Gefolge ankündigen. Der Erzähllogik folgend ist das Schiff mit geblähtem Segel als das Transportmittel anzusehen, das die Prinzessin zu der Drachenstätte hinüberbringt, und auch der von Fra Marco de' Medici völlig ignorierte König von Silen mit seinen Begleitern — in Betonung ihrer Ethnizität als .Heiden' gekennzeichnet8 — lässt sich in keiner Weise als der durch die Rettung seiner Tochter erleichterte und christlich bekehrte Vater der Prinzessin ausmachen. Im Gegenteil: auch hier suggerieren die gesenk8
Als Anspielung auf die Welt der Ungläubigen muß der mongolische Bogenschütze verstanden werden, den Pisanello in der Gefolgschaft des heidnischen Königs gemalt hat. Immer wieder hat die Forschung versucht, den Prototypen für den Mongolen ausfindig zu machen und damit auch die Datierung des Freskos abzusichern: einmal könnte er Mongolen im Gefolge des byzantinischen Kaisers Giovanni VIII. Paleologos gesehen haben, als er am 21. Februar 1424 durch Verona nach Pavia zog. Ein anderes Mal werden Mongolen im Gefolge Kaiser Sigismunds gesehen, der sich von Herbst 1431 bis Herbst 1433 in Italien aufhielt. Da Pisanello Zeichnungen von dem Kaiser und von seinem Gefolge ausführte, so argumentierte Bernhard Degenhart, deren Grundzüge dem Kaiser auf dem Veroneser Fresko und einem seiner Höflinge nicht ähnelten, werde er wohl auch den Mongolen bei dieser Gelegenheit gezeichnet haben [SCHMITT, Pisanellos Georgswandbild (wie Anm. 1) S. 157f.]. Mitderweile haben die Forschungen der Historikerin Felicitas Schmieder deutlich gemacht, von welch großem Interesse die Mongolen gerade seit dem 14. Jahrhundert waren, von denen man beispielsweise durch die zahlreichen Reiseberichte der missionierenden Dominikaner zunehmend mehr erfuhr, und daß Venedig als das Tor zum Osten und als Handelsumschlagsplatz zahlreiche Möglichkeiten bot, Mongolen mit dem für die Italiener ungewöhnlichen Physiognomien in Augenschein zu nehmen. Felicitas SCHMIEDER, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert [Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 16), Sigmaringen 1994, S. 214ff.]. Es muß also gar kein unmittelbarer Anlaß die Vorlage für das Fresko geliefert haben, denn es genügt, dass mit dem Thema und mit der Stadt Silen in Lybien natürlich der östliche Mittelmeerraum assoziiert wurden und sich somit Pisanello aus seinem Zeichnungsvorrat die verschiedenen Physiognomien der Bevölkerung, die mit diesem geographischen Raum verbunden wurde, zusammengestellt hat. Es ist bis heute unklar, ob die Menschen in dem Abgebildeten tatsächlich einen Mongolen erkannt haben. Doch werden sie in ihm einen Tartaren erkannt haben, der stellvertretend für die Orientalen und damit für die .Heiden' steht. Die in Silberstift auf Pergament ausgeführte Skizze nach Naturstudien, vereint mit weiteren Kopfstudien (SCHMITT, zit., S. 154 Abb. 171), ist ein Beispiel für Pisanellos Vorgehensweise, aus einem kontinuierlich angelegten Vorrat an Motiven zu schöpfen.
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ten Köpfe und niedergeschlagenen Augen sowie die Nähe zu dem abfahrbereiten Boot, dass es sich um den Moment vor der entscheidenden Tat handelt. Warum aber wählt Pisanello diesen Augenblick? Und warum assoziiert Fra Marco de' Medici, der sich tagtäglich in der Kirche aufgehalten hat, einen anderen Moment mit der Darstellung? Setzen wir noch einmal bei Vasaris Schilderung der Fresken Pisanellos an und folgen dabei Fra Marco de' Medici. Vor der Beschreibung der Georgsszene findet sich ein Abschnitt mit der Wiedergabe weiterer Wandmalereien. Dabei handelt es sich um zwei Standfiguren — den hl. Eustachius und den hl. Georg — die sich, wie Hans-Joachim Eberhardt überzeugend rekonstruiert hat, über dem Fresko mit der Georgslegende befunden haben müssen.9 Vasari schreibt: „Nach der genannten Figur des Eustachius - eine der besten, die dieser Künstler geschaffen hat, und wirklich wunderschön — bemalte er die ganze Außenfassade der genannten Kapelle. Auf der anderen Seite [malte er] einen heiligen Georg in weißer Rüstung und Waffen, die in Silber ausgeführt sind, wie es seinerzeit nicht nur er, sondern alle anderen Maler zu tun pflegten. Dieser heilige Georg ist dargestellt, wie er nach der Tötung des Drachens das Schwert wieder in die Scheide stecken will. Dabei hebt er die rechte Hand, die das Schwert mit der Spitze bereits in die Scheide eingeführt hat, und senkt die linke Hand weiter nach unten, damit ihm der größere Abstand das Einstecken des langen Schwertes erleichtert. Und das macht er mit solcher Anmut und derartiger Eleganz, wie es besser nicht darzustellen ist. Und Michele Sanmicheli, der Veroneser Architekt der erlauchten Signoria von Venedig und ein vorzüglicher Kunstkenner, wurde zu seinen Lebzeiten [1484—1559] mehrfach gesehen, wie er diese Werke Vittores voller Bewunderung betrachtete, worauf er sagte, man könne wenig Besseres sehen als den heiligen Eustachius, den Hund und den oben erwähnten Georg."10 Die beiden stehenden Heiligenfiguren bildeten offenbar den oberen Abschluss der Wandmalereien und wurden zuerst wahrgenommen. 9
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Hans-Joachim EBERHARDT, Zur Rekonstruktion von Pisanellos Wandgemälden in Sant'Anastasia, in: DEGENHART / SCHMITT, Pisanello (wie Anm. 1) S. 1 8 1 - 1 9 1 . VASARI, Le vite (wie Anm. 5) S. 367f.: "[...] dall'altra parte un San Giorgio armato d'armi bianche fatte d'argento, come in quell'età non pur egli ma tutti gl'altri pittori costumavano; il quale S. Giorgo, dopo aver morto il dragone volendo rimettere la spada nel fodero, alza la mano diritta che tien la spada già con la punta nel fodero, et abassando la sinistra acciò che la maggior distanza gli faccia agevolezza a infoderar la spada che è lunga [...]"; die Übersetzung von Eberhardt in: DEGENHART/ SCHMITT, Pisanello (wie Anm. 1) S. 192f.
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Georg, in reicher Rüstung dargestellt, die in beiden Darstellungen dieselbe gewesen sein dürfte — armato come di sopra, wie Vasari angesichts des szenischen Wandbildes einfügt — ist im Begriff, das Schwert nach der Tötung des Drachens in die Schwertscheide zu stecken: hier also ist der Moment der Anspannung vor dem Kampf der nachfolgenden Gelassenheit gewichen, ausgedrückt durch das graziöse Einstecken des Schwertes. Damit ist die Standfigur zugleich in die darunter gegebene Szenerie eingebunden: Nicht der triumphierende Georg ist zu sehen, sondern derjenige, der gerade seine Tat vollbracht hat. Wie bei einem Filmschnitt ist der eigentliche Augenblick des Kampfes unsichtbar geblieben, muss im Kopf des Betrachters rekonstruiert werden.11 Und so geschieht es offensichtlich auch: Geprägt von der omnipräsenten Bildformulierung des über dem getöteten Drachen stehenden Georg nimmt der gelehrte Dominikanerpater und ihm folgend Vasari gar nicht die spannungsgeladene Andeutung der Geschichte wahr, sondern verbindet die szenische Darstellung sogleich mit dem Moment, der über ihr mit dem stehenden Georg dargestellt ist. Der Klimax ist bereits überschritten und die Erzählung selbst wird nur noch als eine Ausschmückung des glücklichen Endes betrachtet. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen scheint derart auf das Erfassen des generellen Themas, gewissermaßen auf die ikonographische Zuordnung ausgerichtet gewesen zu sein, dass die Nuancen der Erzählung unbeachtet blieben.12 Der Umgang mit dem Zeitverlauf der Erzählung, das Andeuten ihres Höhepunktes durch die Erzählstruktur des Bildes — gewissermaßen die Historienmalerei eines Paul Delaroche vorwegnehmend — und die erneute indirekte Thematisierung dieses ,unsichtbaren Augenblicks' mit der Darstellung des heiligen Georg nach dem glücklichen Ausgang des Drachenkampfes in einem benachbarten Wandbild muss als neues Bild-
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Vgl. hierzu Ulrich RAULFF, Der unsichtbare Augenblick, in: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 9), Göttingen 1999, S. 5 0 - 8 4 . BAUER-EBERHARDT, Per l'iconografia (wie Anm. 3) S. 155, thematisiert auch, dass Pisanello nicht den Höhepunkt visualisiert, untersucht dann jedoch eingehend die motivischen Wurzeln für den Bewegungsablauf des Aufsitzens auf dem Pferd und geht nicht näher auf die zeitlichen Aspekte ein.
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RAULFF, Der unsichtbare Augenblick (wie Anm. 11) S. 74-76, zeigt mit dem Beispiel der Umdeutung der Gestik von Michelangelos Moses durch Freud vor den Augen der von ihm versammelten Kunsthistoriker im Sinne einer ,Bildzeit', die auf einen Höhepunkt zuläuft, dass der Blick des geschulten Auges zuweilen ein Erfassen der Nuancen verhindert.
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konzept gewertet werden, das Pisanello in dem Bewusstsein gestalten konnte, dass der Betrachter den Höhepunkt, den Drachenkampf, durch sein Wissen um den Ausgang der Geschichte und die motivischen Konnotationen im Kopf rekonstruieren wird. Neben diesen zeitlichen Aspekten in der narrativen Struktur führt die Bildbeschreibung Vasaris zu weiteren zeitlichen Merkmalen, die mit Heinrich Theissing unter dem Begriff der ,Betrachtungszeit' subsumiert werden können. 13 Wie Annegrit Schmitt zu Recht betont, ist eines der hervorstechendsten Merkmale des Georgsbildes, dass es aus einer Reihung von Einzelgestalten besteht, die selbst in der Fernsicht noch alle formalen Eigengesetzlichkeiten eines Individuums zur Geltung bringen sollen. 14 Unschwer lässt die Beschreibung Vasaris erkennen, dass Georg und die Prinzessin innerhalb der Komposition das Augenmerk auf sich ziehen, zum einen, weil sie bei der die Figuren reihenden Anordnung den Schwerpunkt der Komposition darstellen, zum anderen, weil sie in der höfischen geprägten Welt Oberitaliens im Quattro- und Cinquecento genau die Themenkreise visualisieren, auf die zeitgenössische Betrachter ansprachen: Rüstungen und Mode am Hofe (Abb. 11). Der Betrachter wendet ihnen in besonderem Maße Aufmerksamkeit zu und nimmt sie als Ausgangspunkt der Augenführung, weil sie — neben der Betonung innerhalb der Gesamtkomposition — inhaltlich aktuell waren und in der Ausführung der Details, etwa bei der Rüstung, in größtem Maße die Bewunderung der Zeitgenossen hervorriefen. Wie sorgfaltig Pisanello bei der Gestaltung des Prinzessinnentypus vorgegangen ist, lassen die zahlreichen Formulierungen auf seinen Musterblättern erkennen; der Umgang am Hofe der Gonzaga in Mantua sorgte bei ihm für die intime Kenntnis dessen, was das Publikum bewegte. 15 Uber die naturtreue Zeichnung hinausgehend formulierte Pisanello eine Idee von seinen
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Heinrich THEISSING, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987, S. 26-34. SCHMITT, Pisanellos Georgswandbild (wie Anm. 1) S. 169. Ebda S. 1 4 2 - 1 5 7 u. S. 169f. sowie Abb. 149-160 zu den Zeichnungen sowie DIES., Höfische Werke Pisanellos, in: DEGENHART / SCHMITT, Pisanello (wie Anm. 1) S. 1 9 5 - 2 2 8 zu Pisanellos Tätigkeit für die Gonzaga in Mantua; vgl. hierzu auch: Pisanello alla corte dei Gonzaga. Ausstellungskatalog, Mantua, Palazzo Ducale, hg. v. Giovanni PACCAGNINI in Zusammenarbeit mit Maria FIGLIOLI, Mailand 1972, vor allem jüngst Luke SYSON/ Dillian GORDON, Pisanello. Painter to the Renaissance Court, London 2001. Zu Pisanellos detailgenauer Wiedergabe der Rüstungen und der Herkunft der Motive vgl. ebd. S. 6 3 - 7 4 u. Francesco ROSSI, Pisanello et la représentation des armes: réalité visuelle et valeur symbolique, in: Pisanello. Actes du colloque, Bd. 1 (wie Anm. 1), Paris 1998, S. 297-334.
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Motiven, die er stets in werkvorbereitenden Reinzeichnungen konzipierte und die dem Ideal der höfischen Repräsentation nahekommen: wie bei der Profilstudie einer Dame, so auch bei der Zeichnung eines aufgezäumten und gesattelten rückenansichtigen Pferdes. 16 Sämtliche Einzelfiguren der Wandbilder waren in detailreichen Vorzeichungen geplant — nicht jedoch die Gesamtkomposition des Bildes. Pisanello verdichtet die Figuren zu einer storia, deren einzelne Elemente einem höfischen Roman entnommen sein könnten, wodurch die Handlung wiederum aktualisiert wird.17 Er kalkuliert das Wissen der Zeitgenossen um den Inhalt der Geschichte ebenso — und gestaltet den Erzählverlauf derart, dass der entscheidende Moment im Kopf des Betrachters konstruiert werden muss — wie er bildimmanent bei der Argumentationsstruktur und der Gestaltung der Figuren die kulturell signifikanten Zeichen und Ideale berücksichtigt und damit die ,Betrachtungszeit' dieser Figuren innerhalb der Gesamtkomposition bestimmt. Zeitpunkte innerhalb der Bilderzählung sowie die ,Betrachtungszeit' sind also die Elemente der Zeitlichkeit, über deren Verwendung Pisanello in dem Georgswandbild sowohl die Bildstruktur als auch das Betrachterverhalten konstituiert. Ein weiterer Aspekt von Zeitlichkeit tritt in einer Wandmalerei Pisanellos zutage, die erst 1969 bei Restaurierungsarbeiten entdeckt wurde: es handelt sich um die unvollendet gebliebenen Fresken im Palazzo Ducale in Mantua, in der sogenannten Sala del Pisanello. Auf über 300 qm Wandfläche wurde hier ein Ausschnitt aus der Artussage illustriert (Abb. 12—15).18 Der Mantuaner Freskenzyklus soll, den neuesten Forschungen zufolge, die von Serena Skerl del Conte zusammengefasst und um einige Argumente ergänzt werden, entweder in die Zeit um 1425—1427 oder aber, gemäß den jüngsten Überlegungen Luke Sysons und Dillian Gordons sowie Annegrit Schmitts, in die frühen 1440er
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SCHMITT, Pisanellos Georgswandbild (wie Anm. 1) S. 162ff. Annegtit Schmitt führt das Beispiel des sein Pferd zum Aufbruch besteigenden Ritters als Motiv aus dem höfischen Roman an; ebd. S. 121. Mit der Entdeckung setzten die Veröffentlichungen zu den Fresken ein; zunächst im Rahmen einer Ausstellung: Pisanello alla Corte, hg. von PACCAGNINL/ FLGLIOLI (wie Anm. 15), dann bearbeitete Joanna WOODS-MARSDEN, The Gonzaga of Mantua and Pisanello's Arthurian Frescoes, Princeton 1988 in ihrer Dissertation die inhaltlichen Aspekte der Wandmalereien, während jüngste Ergebnisse zu Ausführung und Konzeption mit der Veröffentlichung der Restaurierungsbefunde einsetzten: Marcello Castrichini, Pisanello, restauri ed interpretazioni, Perugia 1996 und SYSON/ GORDON, Pisanello (wie Anm. 15) S. 43-85.
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Jahre zu datieren sein.19 Obgleich Pisanello in den frühen zwanziger Jahren in Mantua nachgewiesen ist - 1422 ist er urkundlich als dort ansässig erwähnt, und aus einem Eintrag im Kontenbuch des damals dreizehnjährigen Ludovico Gonzaga geht hervor, dass Pisanello 1425 ein Guthaben am Hofe hatte — spricht die Tatsache, dass der Freskenzyklus unvollendet geblieben ist, dafür, ihn in die späten dreißiger Jahre zu datieren, als er wieder im Ausgabenbuch der Gonzaga fassbar wird. 20 Aus welchem Grunde sollte Pisanello ihn unfertig belassen haben, wenn er in den späten Jahren nochmals an den Hof zurückgekehrt ist? 1442 wurde Pisanello von der Republik Venedig das Verbot auferlegt, Mantuaner Gebiet zu betreten, und 1444 stirbt Gianfrancesco Gonzaga, der Auftraggeber und Mäzen Pisanellos — zwei äußere Gründe, die für einen Abbruch der Arbeiten maßgeblich gewesen sein könnten. Schließlich wählt Gianfrancescos Nachfolger Ludovico sehr viel später Andrea Mantegna zum Hofmaler, der mit der Camera degli Sposi ein völlig anderes Thema höfischer Repräsentation gestalten sollte. Pisanellos Fresken zierten den Raum, den Gäste als erstes betraten, wenn sie den piano nobile, die Wohnräume der Gonzaga erreichten. Bereits in einem Briefwechsel zwischen den Gonzaga und den Este 1471 wird der Raum Sala di Pisanello genannt - ein Indiz nicht nur für den Ruhm des Malers in jener Zeit, sondern auch dafür, dass der zu dem Zeitpunkt schon über dreißig Jahre währende unfertige Zustand der Malereien nicht als ein Makel empfunden worden sein kann.21 Nur eine von drei Wänden hat 19
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SKERL DEL CONTE, Pisanello (wie Anm. 1) S. 54—60; diese Datierung wird zeitgleich favorisiert in dem Ausstellungskatalog: Pisanello. Le peintre aux sept vertus. Musée du Louvre, Paris, 6 mai - 5 aoüt 1996, hg. von Dominique CORDELLIER, Paris 1996, S. 96-98. Die Gegenposition vertreten L. VENTURA, Noterelle pisanelliane. Precisazioni sulla data del ciclo cavalleresco di Mantova, in: Civiltà mantovana, ser. 3, n. 2, 27 (1992) S. 19-53; SYSON/ GORDON, Pisanello (wie Anm. 15) S. 48f. und SCHMITT, Höfische Werke Pisanellos (wie Anm. 15) S. 195-201. Die Schwierigkeiten, eine Chronologie innerhalb des Oeuvres von Pisanello aufzustellen und die anhaltenden Kontroversen darüber bestätigen einmal mehr, dass Pisanellos Malweise nicht mit einem teleologischen Entwicklungsmodell zu vereinbaren ist, das eine Gruppierung der erhaltenen Werke in Früh- oder Spätphasen erlaubt. SCHMITT, Höfische Werke Pisanellos (wie Anm. 15) S. 195-198. Zu dem Brief vgl. Andrew MARTINDALE, The Sala di Pisanello at Mantua - a New Reference, in: Burlington Magazine, 116 (1974), S. 101 und Documenti, hg. von CORDELLIER (wie Anm. 1) Dok. 86 S. 176f. Auch Schmitt vermutet, dass Pisanellos Tätigkeit für die Gonzaga Ende 1442, als die Republik Venedig Pisanello aufgrund dessen politischer Einstellung die Rückkehr an den Hof der Gonzaga untersagt, beendet ist — spätestens jedoch mit dem Tode Gianfrancescos; ebda. S. 198 und S. 200f.
Zeit konnte
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das endgültige Stadium der farblichen Gestaltung erreicht; auf zwei weiteren haben sich lediglich die ungewöhnlich detaillierten roten und schwarzen Sinopien, die Vorzeichnungen, erhalten. Sie zeigen das Schloss Brangoire und einen Teil der zum Turnier geladenen Burgfräuleins, tumultartige Kampfszenen und in einer Landschaft weithin verstreute Ritter vor der Kulisse einer Stadt. Die Malereien illustrieren den dritten Teil der mittelalterlichen Artussage, der dem Ritter Lancelot und seinen Taten und Abenteuern auf der Suche nach dem Heiligen Graal gewidmet war. 22 Pisanello gab das Turnier auf Schloss Brangoire wieder, bei dem der Held Bohort, Lancelots Cousin, siegte (Abb. 12, 13). König Brangoire hatte der Sage zufolge über tausend Ritter und Burgfräuleins versammelt; die Sieger im Kampfe durften jeweils eines der edlen Fräuleins zur Gemahlin nehmen, der Tapferste unter ihnen gar die Königstochter. Doch Bohort, der Sieger, erklärte, er für seine Person habe ein Keuschheitsgelübde für die Zeit der Suche nach dem Heiligen Graal abgelegt; die Ritter seines Gefolges seien daran jedoch nicht gebunden. Aus Loyalität und um der ritterlichen Tapferkeit Nachdruck zu verleihen, legten nun aber auch diese ein Keuschheitsgelübde ab. Am Ende allerdings wird Bohort doch von der königlichen Tochter verführt — unter Zuhilfenahme eines magischen Rings.; aus dieser B e g e g n u n g ging der spätere König von Konstantinopel, Helain le Blanc, hervor. Inschriften an Wandabschnitten der Nordost und der NordwestSeite, die nur in Sinopien ausgeführt sind, belegen zweifelsfrei, dass es sich um diese Sage handelt, die in mehreren Handschriftenexemplaren in der Bibliothek der Gonzaga vertreten war. 23 Der konkrete Bezug zu den Gonzaga bleibt allerdings bis heute im Dunkeln; möglicherweise wurde diese Episode ausgewählt, weil die bedeutendste Reliquie in Mantua eine Heiligblutreliquie war und sich damit eine Anspielung auf den Heiligen Graal verband, in dem sich ja das Blut Christi befunden haben soll.24 Die Artussage an sich könnte aber auch auf die Verbindung der Gonzaga 22
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WOODS-MARSDEN, The Gonzaga of Mantua (wie Anm. 18) S. 1 3 - 2 0 undSYSON/ GORDON, Pisanello (wie Anm. 15) S. 52-55. 1407 befanden sich in der Bibliothek der Gonzaga unter den 392 Handschriften 67 französische, wovon wiederum 17 die Artussage enthielten. Auch in der nächsten Generation unter Leonello d'Este am Hofe von Ferrara nahm das Interesse daran nicht ab: er gab beispielsweise Miniaturmalereien für einen Lancelot in Auftrag, und die Tatsache, daß die Artusromane 1447 neu gebunden werden mußten, zeugt von einer häufigen Benutzung. Ebd. S. 2 0 - 3 1 , bes. S. 22. WOODS-MARSDEN, The Gonzaga of Mantua (wie Anm. 18) S. 63f.
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zum englischen Königshaus verweisen, die durch den abschließenden Schmuckfries visualisiert wird: er besteht aus stilisierten Krägen oder Halsbändern mit anhängenden Schwänen und begleitenden s-förmigen Bändern, dem sog. Lancaster-Schwanenorden, der von Heinrich VI. verliehen wurde. 1436 wurde Gianfrancesco Gonzaga von Heinrich VI. ermächtigt, 50 solcher Orden an seine Gefolgsleute zu verleihen. 25 Welche aktuellen Anspielungen auch immer mit diesen Fresken verbunden werden können — in jedem Fall reflektieren sie das höfische Milieu mit dem, was dort gelesen wurde und sind ein Spiegel der ritterlichen Kultur mit den Idealen eines christlichen Ritters und dem Ablauf eines ritterlichen Turniers. Der Themenkreis der Fresken und die detailgetreuen Nachbildungen von höfischen Gewändern und Rüstungen lassen einmal mehr vermuten, dass die Malereien in zeitlicher Nachbarschaft mit dem Veroneser Georgswandbild ausgeführt wurden. 26 Stilistische und qualitative Unterschiede in der Gestaltung der Figuren und Tiere in dem erhaltenen Fresko der Südostwand geben Anlass zu der Vermutung, dass die weithin verbreiteten Motive wie etwa Pferde im Profil und höfische Figuren in der oberen Wandhälfte von Werkstattmitgliedern ausgeführt wurden, während die naturalistische Gestaltung von Physiognomie und Haaren sowie die perspektivisch extrem schwierigen Malereien der fallenden und liegenden Ritter in der unteren Bildhälfte Pisanello zugeschrieben wird (Abb. 12).27 Alle Figuren sind in derselben Größe ausgeführt, ob sie sich im Hintergrund befinden oder vorne vor den Augen des Betrachters; die Pferde und Ritter im oberen Teil des Gemäldes fallen und drücken auf die unteren — ein Mittel, den Betrachter glauben zu machen, er befinde sich mitten im Kampfgetümmel. Zugleich aber schafft Pisanello Momente der Ruhe, des Innehaltens, durch die Vereinzelung von Figuren, die zugleich Blickfang des Wandabschnitts sind: Dies etwa ist der Fall bei der Isolierung einer
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Die Ermächtigung Heinrichs VI. und die Visualisierung des Lancaster-Schwanenordens in den Fresken ist ein gewichtiges Argument mehr für die Spätdatierung der Fresken, wie bereits SCHMITT, Höfische Werke Pisanellos (wie Anm. 15) S. 200f. betont hat. Pisanello achtete auf alle prestigetragenden Details der Rüstung; so erlaubt die pfauenschwanzartige Helmzier eines Ritters auf dem Wandgemälde die Identifikation desselben mit Ludovico Gonzaga. Die Rüstungen wurden mit einem ungewöhnlich hohen Material- und Zeitaufwand gestaltet: Rüstungen, Waffen und Zaumzeug wurden reliefhaft mit eingepreßten Mustern gebildet, ihre Oberflächen versilbert oder vergoldet. SYSON/ G O R D O N , Pisanello (wie A n m . 1 5 ) S. 5 2 .
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Zwei-Figurengruppe vor dunklem Hintergrund (Abb. 13—15). Ein junger Ritter, selbst durch eine Lanze, deren Schaft noch in seinem Rücken steckt, verwundet, wendet sich kniend einem gefallenen Kameraden zu, der mit vom Tode gekennzeichneten Gesicht auf dem Rücken ausgestreckt vor ihm liegt (Abb. 14, 15). Eisenhandschuh und Helm des jungen Ritters liegen zu beiden Seiten neben ihm verstreut, zaghaft erfasst er mit seiner linken Hand den rechten Fuß des Sterbenden. Die Darstellung des angewinkelten rechte Beins lässt in der Schwebe, ob der Tod bereits eingetreten ist — über das Knie dieses Beins hinweg fallt der Blick des jungen Ritters geradewegs auf das unbehelmte Gesichts des Liegenden. Dieser Blick und die schutzlos entblößten Köpfe der beiden Ritter, nicht die offensichtliche Verletzung durch den Lanzenstich, offenbaren schonungslos die Verwundbarkeit der am Kampf Beteiligten. Die Blickachse zwischen den beiden Augenpaaren ist zugleich eine Zeitachse, die in dem erkennenden Verharren des Augenblicks die Ruhe des Todes vorwegnimmt. Die Darstellung des Sterbenden — oder gerade Verstorbenen — auf dem unter ihm ausgebreiteten Wappentuch sowohl in perspektivischer Verkürzung als auch in leichter Aufsicht nimmt die Aufbahrung des Leichnams vorweg. Pisanello veranschaulicht mit dem Motiv der horizontal vor dunklem Grund vereinzelten Ritter den Antagonismus von Leben und Tod. Obgleich diese Szene nur eine kleine Partie der Wand bedeckt, ist sie doch bedeutsam für das Wandbild und zentral für die Blickführung: kreisförmig umgeben die zu Pferde kämpfenden Ritter die beiden Figuren, schaffen einen Ruheraum inmitten des Kampfgeschehens. Formal durch die Horizontale wie inhaltlich durch die Ruhestellung visualisiert das Ritterpaar eine Zeitlichkeit, die dem sie umgebenden Geschehen entgegen steht. Nicht die Bewegung, die von vielen Überschneidungen der Linien gekennzeichneten Kampfeshandlungen, macht diese Zeitlichkeit aus, sondern ein Verharren im Augenblick, ein Stillstand der Zeit im Angesicht des Todes. Die in silber-monochromen Abtönungen gehaltenen Rüstungen bilden eine gewissermaßen farbberuhigte Zone inmitten des Bildes, selbst die Wappendecke des liegenden Ritters ist monochrom. Der scharfe Kontrast zu dem nachtschwarzen Blau des Hintergrunds verdeutlicht auch in dieser Hinsicht den Abstand von der umgebenden Kampfeshandlung. Diese Szene im Bild hat ihre eigene Zeit: eine Bildzeit, die sich aus der Bildformulierung und aus der Struktur des Bildes erschließen lässt. Pisanello tritt mit diesen Wandbildern — mit dem Georgsfresko in Verona wie mit den Mantuaner Turnierszenen — als ein Künstler hervor, für den die
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Formulierung verschiedenster Aspekte von Zeitlichkeit innerhalb seiner narrativen Gemälde ein großes Anliegen gewesen zu sein scheint: Dabei ist der für die Visualisierung gewählte Zeitpunkt innerhalb der Narration nur das offensichtlichste Beispiel für Pisanellos Umgang mit Zeitstrukturen. Die dem Bild immanente .Bildzeit' w i e auch die ,Betrachtungszeit' führen zu einer thematischen Verdichtung weit über das augenfällige Thema hinaus. Ein weiterer Aspekt von ,Zeit im Bild' soll am Beispiel Mantegnas erörtert werden: In dem Gemälde der „Darbringung im Tempel", das zwischen 1453 und 1460 entstanden ist und sich heute in der Gemäldegalerie in Berlin befindet, reicht Maria im Bildvordergrund dem Hohepriester Simon das Wickelkind, wobei die Überschneidungen des steinernen und mit Stuck und Edelsteinen geschmückten Rahmens eindeutig Maria und das Jesuskind dem Betrachter zuführen (Abb. 16). Mantegna erfindet hiermit, wie Jack Greenstein betont, das erste querrechteckige Andachtsbild der Renaissance. In ihm folgt er mit der Konzentradon auf die vier handlungskonstituierenden Personen der Sequenz der biblischen Erzählung: Dass im Lukasevangelium (Lukas2, 22-38) Simeon die handlungstragende Person ist, wird in der Darbringung zum Ausdruck gebracht, indem er die entgegennehmende Bewegung vollzieht, während Maria regungslos bleibt. 28 Die Figurengruppe von Mutter und Kind steht somit ikonengleich vor Augen, zugleich aber zielt sie auf ein Wahrnehmungserlebnis, eine Epiphanie beim Betrachter, wie Klaus Krüger plausibel herausgearbeitet hat: die vom Hohepriester Simeon vollzogene Erkenntnis des Heilands wird durch die anscheinend greifbare Nähe des Jesuskindes zu einer möglichen Erfahrung des Betrachters. 29 Ist die räumliche Distanz durch das Trompe l'oeuil der Bildformulierung, des Spiels mit Rahmen und Bildraum, durchbrochen, so schrumpft die zeitliche Distanz im visionären Erlebnis des Betrachters und kulminiert im Augenblick der Erkenntnis. 30 Diese zeitliche Dimension, die Überbrückung raum-zeitlicher Distanz durch die innere Schau, ist jedoch nicht nur das Ergebnis einer imaginären Kommunikation, sie findet sich im Bild selbst thematisiert: durch die beiden die zentrale Dar-
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Jack M. GREENSTEIN, Mantegna and Painting as Historical Narrative, Chicago 1992, S. 138ff. Klaus KRÜGER, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001, S. 62-70. THEISSING, Zeit im Bild (wie Anm. 13) S. 45ff., hat eingehend dargelegt, dass die Bildzeit stets auch eine räumliche Dimension hat.
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Stellung im Hintergrund abschließenden Personen. Diese beiden - eine weibliche Person links und eine männliche rechts - im Dreiviertelprofil und im Vergleich zu den Heiligen im Vordergrund kleiner gegebenen Personen wurden mit Andrea Mantegna und seiner Frau Nicolosia identifiziert.31 Bleibt der Anlass für ihre Darstellung auch umstritten,32 so wird mit ihnen die Andacht vor dem Bild zugleich mit inszeniert: indem sie der Szene beiwohnen und ihr doch keine Aufmerksamkeit schenken, den Blick gleichwohl in stiller Versenkung auf einen Gegenstand außerhalb des Bildes gerichtet halten. Der Betrachter ist, wie Mantegna und seine Frau, Teilhabender am Geschehen, aus der raum-zeitlichen Distanz, einer stillen Anteilnahme heraus. Zugleich aber wird durch den Blick der beiden in Richtung des Lichteinfalls die Möglichkeit der inneren Erleuchtung, der Erkenntnis, suggeriert. Diese Möglichkeit eröffnet eine zeitliche Dimension, deren Dauer freilich nicht näher bestimmbar ist.33 Die Teilhabe des Betrachters am Bildgeschehen thematisiert Mantegna in extenso in einem seiner berühmtesten Gemälde: dem .Toten Christus' in der Mailänder Pinacoteca di Brera, die im Nachlaß Mantegnas mit Christo in scurto — also „verkürzter Christus" — bezeichnet ist (Abb. 17).34 Es wird einerseits in der Literatur immer noch auf die Jahre zwischen 1464 und 1500 datiert, andererseits in der jüngeren For31
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Mantegna hatte Nicolosia Bellini 1453 geehelicht. Zur Identifizierung der Personen: Wolfram PRINZ, Die Darstellung Christi im Tempel und die Bildnisse des Andrea Mantegna, in: Berliner Museen. Berichte aus den Preußischen Kunstsammlungen 12 (1962), S. 50-54. Ingeborg WALTER, Andrea Mantegnas ,Darbringung Jesu im Tempel'. Ein Bild der Befreiung und des Aufbruchs, in: Städel-Jahrbuch N.F. 12 (1989), S. 59-70, führt aus, daß das Bild anläßlich der Geburt ihres ersten Kindes entstanden sein muß und so etwas wie einen visuellen Schlußpunkt unter Mantegnas Streitigkeiten mit dem Adoptivvater Squarcione setzte. Daniel ARASSE, Signé Mantegna, in: Le sujet dans le tableau. Essais d'iconographie analytique, Paris 1997, S. 31—40, hier S. 37, interpretiert die Präsenz der Figuren als die bloßer .Stifter' anläßlich der Geburt ihres ersten Kindes, betont aber darüber hinaus, dass Mantegna mit dieser Form der Darstellung durchaus die Schwellen zu respektieren weiß, die bei einem Selbstportrait im Rahmen der heiligen Handlung nicht überschritten werden dürfen. Bereits KRÜGER, Bild als Schleier (wie Anm. 29) S. 68, hat angedeutet, dass mit dem Motiv des Sehens und dem signifikanten Lichteinfall die sehende Erkenntnisbildung thematisiert sein könnte, führt es jedoch im Hinblick auf das Mantegna-Paar nicht weiter aus. Zu den Fragen der Datierung vgl. den Überblick bei Ronald LLGHTBOWN, Mantegna. With a Complété Catalogue of the Paintings, Drawings and Prints, Oxford 1986, Nr. 23 S. 421 ff. u. die bei KRÜGER, Bild als Schleier (wie Anm. 29) S. 82 Anm. 204 genannte Literatur.
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schung — von Felix Thürlemann, Daniel Arasse und Robert Betzl — genauer zwischen 1480 und 1484 angesetzt. 35 Die Tatsache, dass es bis zum Tode Mantegnas in dessen Atelier verblieben ist, bezeichnet die außergewöhnliche Position dieses Bildes innerhalb Mantegnas Oeuvres; bis heute sind die Umstände seiner Entstehung sowie der Auftraggeber rätselhaft. Zu sehen ist der Leichnam Christi, aufgebahrt auf einer Steinplatte, deren Farbe und Binnenzeichnung an den insbesondere in Oberitalien — in der Gegend um Verona — abgebauten Marmor erinnert (Abb. 17). Der Betrachter blickt auf den in starker perspektivischer Verkürzung gegebenen Christus aus einer erhöhten Position, er befindet sich außerhalb des Bildausschnitts — zugleich aber suggeriert die Aufsicht auf seine Fußsohlen mit den aufgesprungenen, durch die Nagelung verursachten Wunden eine Blickführung wie mit dem Teleobjektiv in das Bild hinein, von unten an seinen Beinen entlang bis zu den geschlossenen Augen des toten Christus, dessen Kopf leicht erhöht auf einem Kissen ruht. 36 Damit ist auch das obere Bildende erreicht — obgleich der Fluchtpunkt in Verlängerung der Steinplattenkanten darüber liegt —, unweigerlich wird der Blick wieder auf den beleuchteten Körper des Toten zurückgelenkt und, in einem zweiten Augenblick durch die dunklen Locken und den diagonalen Schlagschatten des Kopfes zur linken Bildseite hin geführt. Diese Spannung zwischen Betrachtung aus der Ferne und empathischer Nähe wird durch den Bildausschnitt selbst noch verstärkt: Bildgegenstand ist der tote Christus, auch wenn durch die angeschnittenen Gesichter im Profil auf der linken Seite zugleich das Thema der Beweinung angesprochen wird. Die unmittelbar neben dem Aufgebahrten, ihn fast berührenden Trauerfiguren geben mit ihrer leiblichen Nähe auch die Entfernung an, die der Betrachter einnehmen soll: Er nähert sich dem Toten nicht durch die Trauernden vermittelt, sondern wird selbst zum Trauernden am Fußende des Leichnams. 37 Obgleich das Bild mit seiner unorthodoxen Perspektive die akademischen, von Alberti schriftlich fixierten Gesetze zur perspektivischen Konstruktion ignoriert, bringt es 35
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ARASSE, Signé Mantegna (wie A n m . 32) S. 38, Felix THÜRLEMANN, Mantegnas Mailänder Beweinung. Die Konstitution des Betrachters durch das Bild, Konstanz 1 9 8 9 und Robert BETZL, Zur Bildzeit in Werken Andrea Mantegnas, Wien 1 9 9 8 , S. 202ff. Diesen ,Zoom'-Effekt betont besonders Betzl, Bildzeit (wie Anm. 35) S. 2 0 4 f f . Das Verhältnis zwischen Betrachter und Bildinhalt in extenso beschrieben und gedeutet bei Betzl, Bildzeit (wie A n m . 35) S. 2 0 4 - 2 0 6 ; THÜRLEMANN, Beweinung (wie Anm. 35) S. 1 3 - 2 4 und KRÜGER, Bild als Schleier (wie Anm. 29) S. 8 2 - 8 5 .
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durch das Spiel mit zwei Betrachterperspektiven eine Durchdringung von Bildraum und Betrachterraum, die ein intensives Miterleben ermöglicht. Thematisch verdichtet das Gemälde mehrere Episoden: diejenige der Salbung Jesu vor der Grablegung (die aber nach Johannesi^sMo von Nikodemus und Joseph von Arimathäa ausgeführt wurde), diejenige der Beweinung und diejenige der drei Marien am Grabe, die ja — allen Evangelisten zufolge —, ebenfalls mit Salb- und Weihrauchgefäßen am nunmehr leeren Grabe erscheinen. Auf die - seltener ins Bild gesetzte — Salbung Jesu vor der Grablegung könnten das Salbgefäß und die Steinplatte, die gemeinhin mit einem Salbstein identifiziert wird, anspielen, doch sind weder die Salbung selbst dargestellt noch die dafür in der Bibel ins Spiel gebrachten Personen vorhanden. Die drei angeschnittenen Personen am linken Bildrand suggerieren aufgrund ihrer Anzahl und im Zusammenhang mit dem Salbgefaß das Thema der drei Marien am Grabe: auch hier wäre das Salbgefaß am rechten Platz und würde auf den Zeitpunkt nach der Auferstehung Christi anspielen. Bei genauerer Betrachtung aber erkennt man eindeutig eine jüngere männliche, in Trauer die Hände ringende Person und eine ältere, weinende Frau, wohingegen die dritte Person im Dunkel und unbestimmt bleibt: Unbestritten sind hier Johannes und Maria und damit das Thema der Beweinung dargestellt.38 Darüber hinaus aber fällt auf, dass der Johannes, wie Daniel Arasse es ausdrückt, ,mantegneske' Züge trägt, er möglicherweise sich selbst, wie bei der Beweinung, ins Bild gesetzt hat. Die Figur am hinteren Bildrand ist nicht zu identifizieren, erkennbar ist nur ein zum lauten Schrei geöffneter Mund und ein Gesicht, das im Vergleich zu Maria ohne deutliche Falten wiedergegeben ist. Dieses Gesicht, das bisher in der Forschung — wie noch Felix Thürlemann betont — völlig vernachlässigt wurde, 39 könnte auf eine jüngere Frau verweisen und damit zugleich auf biographische Daten Mantegnas, auf die Daniel Arasse aufmerksam macht. Aufgrund der perspektivischen Konstruktion, die stets mit den sotto-in-su Figuren der Mantuaner Deckenmalerei in der Camera degli Sposi des Palazzo Ducale und mit einer erst in jüngster Zeit Mantegna eigenhändig zugewiesenen Modellstudie in Zusammenhang gebracht
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THÜRLEMANN, Beweinung (wie Anm. 35) S. 2 0 - 2 4 , beschäftigt sich erstmals in der langen Forschungsdiskussion ausführlich mit den drei Klagefiguren am Rande. Ebda. S. 23.
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wird, datiert man den Christo morto inzwischen auf nach 1480. 40 Den Terminus ante quem, also das Eckdatum, bevor das Gemälde ausgeführt worden sein muss, wird auf 1484 angesetzt, da es in Verona ein Gemälde aus jenem Jahr gibt, das diese Form der Christusperspektive zitiert und ohne Mantegnas Vorbild nicht denkbar ist. Diese Daten korrelieren in auffälliger Weise mit Daten, die in Mantegnas Biographie eine große Rolle spielen: 1480 stirbt sein Sohn Federico, 1484 sein begabtester Sohn Girolamo, der offensichtlich ein außerordentliches Talent als Maler besaß. Angesichts dieser die Existenz Mantegnas berührenden Ereignisse erscheint die These von Arasse plausibel, dass der Künsder sich ins Bild setzt — als nahezu untröstlich Klagender um die verlorenen Söhne. Folgt man dieser Deutung, erscheint es auch nicht abwegig, in der Person mit dem zum Schrei aufgerissen Mund eine Anspielung auf seine Frau Nicolosia zu sehen. Damit wäre auch die Frage, warum das Bild bis zu seinem Tod im Atelier verblieben ist, sinnvoll zu beantworten, denn Mantegna hätte damit ein mit sehr persönlichen Erinnerungen verbundenes Andachtsbild geschaffen, das in dieser extremen Form der Bildformulierung und dessen Bilderfindung auf den äußersten persönlichen Schmerz zurückginge. Des weiteren aber erfahrt die an sich schon stringente Bildlogik mit diesen biographischen Dimensionen eine Erweiterung um einen Zeithorizont: Wie in einem Zeittunnel wird der Blick des Betrachters von den Füßen ausgehend zum Kopf des toten Christus gezogen. Der fahle Leichnam und die betont ausgewiesenen Wundmale lassen keinen Zweifel an der Realität des Todes, die der Betrachter mit seiner doppelten Perspektive erfährt: einerseits durch die Aufsicht als Außenstehender, anderseits als in unmittelbarer Beteiligung davor Kniender. Er ist Teil der Beweinung, nimmt durch die angeschnittenen Gesichter der Vermittlungsfiguren unsichtbar Anteil am Geschehen. Die Gewissheit des Todes, auch der eigenen Sterblichkeit angesichts des in anatomischer Realität aufgebahrten Leichnams, ist endgültig. Zugleich aber ist der Kopf Christi beleuchtet und der Lichtquelle des Bildes entgegengeneigt. 41 Den Zusammenhang zwischen dem Licht und der Erkenntnis, der göttlichen endzeitlichen Erleuchtung, hat Klaus Krüger bereits dargelegt; 42 hier korreliert er mit dem Ablauf des 40 41
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ARASSE, Signé Mantegna (wie Anm. 32) S. 37f. Die Bedeutung des Lichts und die damit verbundene Hoffnung auf Erlösung betonen bei Betzl, Bildzeit (wie Anm. 35) S. 2 1 4 f . und THÜRLEMANN, Beweinung (wie Anm. 35) S. 22f. KRÜGER, Bild als Schleier (wie Anm. 29) S. 84.
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ins Bild gesetzten biblischen Geschehens: Zwischen der Beweinung und der durch Salbgefäß und die drei Figuren vorhandenen Anspielung auf die drei Frauen am Grabe liegt die Auferstehung. Der Körper ist tot, doch der einzige richtungsgebende Verweis des Toten ist derjenige zur Lichtquelle. Für den individuellen Gläubigen ist mit der Auferstehung die Aussicht auf ein Leben nach dem Tode verbunden, metaphorisch ein Lichtblick im Moment der unfassbaren Trauer. So verstanden ist Mantegnas ,toter Christus' Zeugnis eines außerordentlichen Schmerzes, ein Werk, das in der Vorstellungskraft des Betrachters den zeitlichen Ablauf des biblischen Geschehens miterleben und nachvollziehen lässt, eine distanzlose Vergegenwärtigung, die auf den Augenblick der Teilhabe an der endzeitlichen Vision gerichtet ist. Der dem Bild immanenten — und von Robert Betzl gründlich erschlossenen — ,Bildzeit' entspricht eine inhaltlich definierte, sich gleichwohl nur durch die Bildstruktur erschließende ,Zeit im Bild'. Die in Pisanellos Wandmalereien aufscheinenden Aspekte von Zeitlichkeit — der unsichtbare Augenblick innerhalb der Erzählung, die ,Bildzeit' und die ,Betrachtungszeit' — und die in Mantegnas Andachtsbild eingeschlossene ,Zeit im Bild' verweisen eindrücklich auf die besondere Relevanz der Zeit als Dimension des künstlerischen Gestaltungsprozesses in der Malerei des Quattrocento.
Hans Körner
Biblische Erzählung und Bildzeiten in Sandro Botticellis Judith- und Holofernes-Darstellungen (mit der Neuzuschreibung einer Laurentiusmarter an Filippino Lippi im Anhang)
Erzürnt darüber, dass die Israeliten es wagten, ihm, seinem Heer und damit König Nebukadnezar Widerstand zu leisten, beschloss Holofernes, der Feldherr der assyrischen Streitkräfte, die völlige Vernichtung des Feindes. In dieser nach menschlichem Ermessen ausweglosen Lage bot sich die schöne jüdische Witwe Judith an, den Feind mit ihren Waffen, den Waffen einer Frau - und dem Beistand Gottes - zu besiegen. Begleitet von einer Dienerin begab sie sich ins gegnerische Lager, heuchelte, dass sie zu den Assyrern übergelaufen sei und wurde schließlich von Holofernes mit eindeutigen Absichten zum Festmahl geladen: „Dann trat Judith ein und ließ sich nieder. Das Herz des Holophernes aber geriet ihretwegen in Erregung und sein Inneres war aufgewühlt. Er begehrte heftig danach, sie zu besitzen. Schon seit dem Tage, da er sie zu sehen bekam, wartete er auf einen günstigen Augenblick, sie zu verführen. Holophernes sprach zu ihr: »Trinke doch und sei mit uns fröhlich!« Da entgegnete Judith: »Ja, ich will trinken, Herr! Denn heute ist mein Leben höher gestiegen als all die Tage seit meiner Geburt.« [...] Da freute sich Holophernes an ihr und trank sehr viel Wein, so viel, wie er noch nie an einem Tag seines Lebens getrunken hatte. [...] Judith aber blieb allein im Zelt zurück. Holophernes war vornüber auf sein Lager gesunken, denn er hatte dem Wein stark zugesprochen. [...] Dann trat sie an den Bettpfosten zu Häupten des Holophernes und nahm von ihm sein Schwert herab. Sie ging nahe an das Bett heran, ergriff sein Haupthaar und sprach: »Stärke mich, Herr, Gott Israels am heutigen Tag!« Sie schlug zweimal mit all ihrer Kraft auf seinen Nacken und schlug ihm sein Haupt ab. [...] Kurz danach ging sie hinaus und übergab ihrer Magd das Haupt des Holophernes. Diese legte es in ihren Brotbeutel. Dann gingen beide nach ihrer Gewohnheit hinaus zum Gebet, durchschritten das Lager, wandten sich jenem Tale zu, stiegen den Berg von Betylus hinan und kamen vor seine Tore. [...] Beim Morgenanbruch hängte man das Haupt des Holophernes an die Stadtmauer; jeder Mann ergriff seine Waffen, und sie zogen scharenweise zu den Bergpässen. Als aber die Assyrer sie erblickten, schickten sie nach ihren Feldherren [...]. Sie trafen sich beim Zelt des Holophernes und sprachen zum Verwalter [...]: »Wecke doch unsern Herrn, denn die Sklaven wagten, zum Kampf gegen uns herabzustei-
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Hans Kömer
gen, um vollends in ihr Verderben zu rennen.« Da trat Bagoas ein und klopfte an den Vorhang des Zeltes. Er vermutete nämlich, daß Holophernes mit Judith schliefe. Niemand aber gab Gehör. Deshalb zog er den Vorhang beiseite, trat ins Schlafgemach ein und fand ihn tot auf dem Fußschemel liegen; er war enthauptet. Da schrie er laut auf mit Weinen, Stöhnen und mächtigem Geschrei und zerriß seine Kleider. Dann ging er in das Zelt, wo Judith gewohnt hatte, fand sie aber nicht. Er sprang unter das Volk hinaus und rief: »Verrat haben die Sklaven geübt; ein einziges Weib der Hebräer hat Schimpf über das Haus des Königs Nabochodonosor gebracht! Seht, Holophernes liegt am Boden, und sein K o p f ist weg!«" (Judith, 12, 16 — 14,
18) Der Tod ihres Anführers versetzte die Assyrer in Panik; sie flohen und wurden von den jüdischen Kriegern niedergemacht. Judith, die Retterin ihres Volkes, wurde verherrlicht und verherrlichte ihrerseits den Gott Israels. Diese biblische Geschichte ist das Thema zweier 31 x 24 und 31 x 25 cm kleiner Holztafeln der Uffizien (Abb. 18, 19), die seit Hermann Ulmanns Botticelli-Monographie von 1893 einmütig dem frühen Botticelli zugeschrieben werden. 1 Botticelli malte nicht den Höhepunkt des Geschehens, sondern die nachfolgenden Szenen, schilderte also nicht die Enthauptung des weintrunkenen assyrischen Feldherrn, sondern zeigte Judith und ihre Dienerin bereits auf dem Weg zurück in die belagerte Stadt Bethulia. Im Gegenstück führte Botticelli dann das Entsetzen der Assyrer vor Augen, die ihren Feldherrn tot auffinden. Die Judith-Geschichte wird in diesen Bildchen außerordentlich lebendig erzählt. Vielfaltig sind die Reaktionen der Assyrer angesichts der Entdeckung des Enthaupteten: stille Trauer, lautes Klagen und Weinen; vielfaltig variierte Botticelli die Körperhaltungen, bis hin zu dem perspektivischen Kunststück, einen der Assyrer sich weit nach vorne über den Toten beugen zu lassen. In keinem späteren Bild wird Botticelli mehr so kühn mit der Verkürzung umgehen, und in keinem späteren Bild wird er mehr so lebendig und so zusammenhängend erzählen. Die Anforderungen, die Leon Battista Alberti in seinem Malereitraktat von 1435 an die Darstellung einer „istoria" gestellt hatte, sind allesamt erfüllt: Die Vielfalt der Figurentypen, der Bewegungsmomente und der dargestellten Affekte bei gemeinsamer Ausrichtung aller Bildfiguren auf ein Eine Übersicht über Zuschreibungen und Datierungen in der Botticelli-Forschung gibt Ronald LlGHTBOWN, Sandro Botticelli, vol. II , Berkeley/ Los Angeles 1 9 7 8 , S. 22.
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dramatisches Ziel — im Sinne der Aristotelischen Dramentheorie — entspricht Albertis Postulat der Einheit in der Mannigfaltigkeit 2 . Und Albertis Warnung, dass in einem Historienbild eine zu große Personenzahl die Einheitlichkeit der Bilderzählung gefährde, wurde von Botticelli genau beherzigt. Alberti hatte empfohlen, eine „istoria" mit nicht mehr als neun oder zehn Figuren zu erzählen: 3 In der Tafel mit der „Auffindung der Leiche des Holofernes" umstehen neun Assyrer ihren toten Feldherrn. Die Bildzeit in Botticellis „Auffindung der Leiche des Holofernes" ist (zunächst) also die erzählte Zeitspanne der „istoria". In anderer Weise lebendig erzählte Botticelli den Gang Judiths und ihrer Dienerin aus dem assyrischen Lager. Noch führt Judith das Schwert des Holofernes mit sich, und so, als ob sie vom Markt kommend einen Obstkorb auf dem Kopf balancieren würde, trägt die Dienerin das abgeschlagene Haupt. Dieser Vergleich ist nicht allzu weit hergeholt. Von Dienerinnen, die durchaus harmlose Dinge auf dem Kopf tragen, leitet sich dieses Motiv in der Tat ab. Im Mittelgrund seines Tondo Pitti (Abb. 20) bereicherte Filippo Lippi die Szene der Mariengeburt durch eine in ein helles antikisches Gewand gekleidete Magd, die im Unterschied zu den gemessenen Bewegungen des übrigen Bildpersonals eiligen Schrittes sich dem Bett der Wöchnerin nähert, wobei sie mit der Rechten den auf dem Kopf getragenen Korb stützt. In Bildwerken von Donatello, Ghiberti 4 und Agostino di Duccio und eben in Fra Filippo Lippis Gemälde treten diese bewegten schönen jungen Frauen auf, die dann im Judith-Bild von Fra Filippo Lippis Schüler Sandro Botticelli zu Hauptfiguren aufsteigen (unmittelbares Vorbild für die Dienerin dürfte Donatellos verlorene, aber durch Nachahmungen dokumentierte Statue der Dovizia gewesen sein5). Und immer stellt sich bei diesen schönen,
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Vgl. Hans KÖRNER, A u f der Suche nach der „wahren Einheit". Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und Kunstliteratur vom mitderen 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert, München 1988, S. 14ff. Leon Battista ALBERTI, De Pictura/ Die Malkunst, in: DERS., De Statua, De Pictura, Elementa picturae/ Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, hgg., eingel., übers, u. komm, von Oskar BÄTSCHMANN und Christoph SCHÄUBLIN unter Mitarbeit v. Kristine PATZ, Darmstadt 2000, S. 266f. Der für die Bildgeschichte der „Nymphe" wichtige Beitrag Ghibertis in einer der Nischen im Rahmen der „Paradiestür" ist bezeichnenderweise eine JudithDarstellung. Paul JOANNIDES, Titian's „Judith" and its context. The iconography of decapitation, Apollo, 135 (1992), S. 166.
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reich bewegten, antikischen Frauenfiguren der Eindruck ein, als sei ein im Wortsinne frischer Wind ins Bild gefahren. Aby Warburg erkannte hinter solchen, gelegentlich ganz unmotiviert bewegten jungen Frauen antike Vorbilder: antike Dienerinnen, antike Mänaden oder antike Nymphen. 6 Er bezeichnete solche Figuren in der Frührenaissance denn auch insgesamt als „Nymphen" — bezugnehmend auf die „Nymphen" im poetischen Liebesdiskurs im Florenz Lorenzos des Prächtigen — und sah in diesen Antikenzitaten ein Mittel, Bewegung und Ausdruck im Bild zu verstärken. Pathosformel nannte Warburg dieses Mittel der Steigerung von Lebendigkeit, von Spannung durch Einfügung des antiken Nymphentypus. 7 Hinter Warburgs Interpretationsansatz steht der Versuch, in neuer Weise die Entdeckung der Antike in der Frührenaissance zu beschreiben, und es steht der Versuch dahinter, über eine Kunstgeschichte der konventionalisierten Ausdrucksformen die kollektive Erinnerung der Menschheit zu rekonstruieren und zu beschreiben, wie von diesem kollektiven Bilderschatz wieder Rückwirkungen auf die Psyche erfolgen. Zunächst und zuvörderst aber stiftet dieser Rückgriff auf die antike Figurenformel Schönheit, die davon dispensiert ist, sich an das Regelwerk der gesellschaftlichen Konvenienz zu halten, ein Dispens, der bezüglich der Umstände und des Faktums der Tötung eines Mannes angeraten schien. 8 Das Nymphenmotiv steigert Judith und ihre Dienerin zu moralisch transgressiven Exempla weiblicher Schönheit. Auch diese Frauen zeigen wie die anderen „Nymphen" der Frührenaissance eine Beweglichkeit, die nicht ganz motiviert im flatternden Gewand sich manifestiert. Zur Bewegtheit des Gewandes kommt bei Judith das frei fallende, kunstvoll frisierte Haar hinzu, das in der Renaissance in allen Schilderungen idealer Frauenschönheit ein wesentliches Kriterium ist, 6
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Vgl. Jerry A. D O B R I C K , Botticelli's Visual and Stylistic Sources: Antique and Contemporary (Wisconsin 1977), v. a. S. 25ff. und S. 56ff. Zum Verhältnis von Botticellis Judith-Tafel zur antiken „Nymphe": Ebda S. 30f. Vgl. Inga F R A N S S O N , Some Aspects on the Use of Antique Elements, especially Human Figures in Quattrocento Art, in: Kunstgeschichtliche Studien zur Florentiner Renaissance, I, hgg. von Lars Olof L A R S S O n / Götz P O C H A T , Stockholm 1980, S. 300ff. In diesem Zusammenhang verdient Erwähnung, dass 1504 der Vorschlag, die JudithStatue Donatellos durch den David des Michelangelo zu ersetzen, auch mit dem Argument begründet wurde, es sei „nicht gut, dass die Frau einen Mann tötet" („Non sta bene che donna uccide l'homo"). Horst BREDEKAMP, Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem (Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, Themenbd. 61), München 1995, S. 22 und S. 71.
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trotzdem oder gerade weil solche ungebändigt freien Frauenhaare gegen die gesellschaftliche Konvenienz verstießen. Auch hier gilt Warburgs Bestimmung der „Nymphe" als in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitende Figur: ,,[D]ie Antike hat's erlaubt". 9 Die „Nymphe" macht die Tafel mit der „Rückkehr der Judith und ihrer Dienerin nach Bethulia" in ihrer Zeitstruktur komplex: Die Bilderzählung wird von einem historisierenden Rückgriff auf eine antike Bildformel überlagert; diese antike Bildformel verlebendigt die „istoria", und mit dieser Überlagerung und Verlebendigung korrespondiert ein erzählerischer Anachronismus: Obwohl die biblische Heroin erst auf dem Weg nach Bethulia ist, hat sich im Hintergrund das Stadttor von Bethulia schon geöffnet; Bewaffnete strömen aus der Stadt, und das Unterpfand des Sieges, das abgeschlagene Haupt des Holofernes, wird über den Zinnen der Stadtmauer bereits vorgezeigt. Dieser Anachronismus (und die Störung, die die „Nymphe" in die „istoria" einführt) kann nur angemessen diskutiert werden, wenn man in die Diskussion die Funktion der Bilder einbezieht. Aufgrund des sehr kleinen Formates waren die Bildtafeln für die nahsichtige Betrachtung bestimmt. Private Bilder also. 10 Die beiden Täfelchen der Uffizien sind Pendants. Holofernes ist nicht nur Beiwerk für die Darstellung der biblischen Heldin, sondern Hauptfigur neben Judith. Und es spricht einiges dafür, dass der geköpfte assyrische Feldherr in Botticellis Bild keineswegs so negativ charakterisiert ist wie im biblischen „Buch Judith". Bezeichnend schon, dass der Leichnam des Holofernes
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Zit. nach Ernst H. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie (1970 engl.), Hamburg 1992, S. 158. Hierzu ausführlicher ein Aufsatzmanuskript des Verfassers: Metamorphosen der „Weibermacht". Aby Warburgs Nymphe und das Hybridporträt in der italienischen Renaissance. Allgemein zum Judith-Stoff im Rahmen der Weibermacht-Thematik: Mira FRIEDMAN, The Metamorphosis of Judith, Jewish Art, vol. 12/13 (1986/87), S. 239ff., Annie MAVRAKIS, ,,OÚ commence le Diable": Judith ä la rencontre de Salomé, Storia dell'arte, 71 (1991), S. 128ff., Hans HOFSTÄTTER, Frauen im Alten Testament: Judith und Holofernes (2), Das Münster, Heft 2 (1991), S. 143. Allein des Formates wegen verbietet sich die Annahme einer politischen Ikonographie, wie sie beispielsweise mit Rückverweis auf Donatellos David-Figuren von Boskovits vertreten wird, der die kleinen Tafeln „als symbolisch sinnfälliger Ausdruck des politischen Selbstverständnisses der herrschenden Familie" deutete und ihren Funktion darin sah, „Saalschmuck eines der prächtigen Paläste" gewesen zu sein. Miklós BOSKOVITS, Botticelli, Leipzig/ Budapest 1964, S. 12.
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ein nach Maßgabe antiker Akte gestalteter Körper ist.11 Das Motiv der schönen grausamen Frau ist nicht erst ein Lieblingsmotiv der Decadence des späten 19. Jahrhunderts. Es ist gegenwärtig in den Sonetten Petrarcas, und in den „Rime" des Boccaccio vergleicht sich der Liebende mit dem unglücklich liebenden Holofernes.12 John Shearman brachte diese literarische Tradition vor dem JudithBild Giorgiones ins Gespräch und schlug vor, in dem Haupt des Holofernes, auf das Judith in Giorgiones Gemälde der St. Petersburger Eremitage tritt, auf das sie freilich nicht triumphierend, sondern besinnlich herabblickt, ein Selbstporträt des Künstlers zu erkennen.13 Dass gerade im Florenz der Frührenaissance der Judith-Stoff in dieser Weise ausgelegt werden konnte, bestätigen zwei runde Kupferstiche aus der Gruppe der nach einem Sammler des 18. Jahrhunderts so genannten Otto-Drucke (Abb. 21), die jeweils die alttestamentarische Heldin mit dem Schwert in der Rechten und dem abgeschlagenen Haupt des assyrischen Feldherrn in der Linken zeigen. Solche Graphiken im Rundformat waren zur bildlichen Ausstattung von Schachteln bestimmt, die als Verlobungs- oder als Hochzeitsgeschenke vergeben wurden.14 Holofernes als der exemplarisch Liebende, diese Lektüre des biblischen Stoffes er11
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Vgl. Jacques LASSAIGNE und Giulio Carlo ARGAN, Das fünfzehnte Jahrhundert. Von Van Eyck bis Botticelli (Die großen Jahrhunderte der Malerei, Bd. 7), Genf/ Paris/ New York 1955, S. 138. Giovanni BOCCACCIO, Rime. Caccia di Diana, hg. von Vittore BRANCA (Padua 1958), S. 99 (Rime, I, LXXXII). Vgl. John SHEARMAN, Only connect ... Art and the Spectator in the Italian Renaissance. The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts 1988 (Bollingen Series XXXV, 37), Washington 1992, S. 26. Shearman stellte dem das nur in einer Graphik Wenceslaus Hollars überlieferte Brustbild Davids mit dem Haupt des Goliath zur Seite. Die seit Vasari übliche Identifizierung des Davidbildes als allegorisches Selbstporträt Giorgiones dürfte in der Umkehrung Sinn machen. Die Ähnlichkeit mit dem Haupt des Holofernes in Giorgiones Judith gibt Shearmans Deutung, beide abgeschlagenen Köpfe seien Stellvertretungen des unglücklichen Liebhabers, Gewicht. SHEARMAN, Only connect (wie Anm. 12) S. 25f. Aby WARBURG, Delle „Imprese Amorose" nelle più antiche incisioni fiorentine (1905), in: Aby WARBURG, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance (Aby Warburg, Gesammelte Schriften, I, hg. von Gertrud BING, Leipzig 1932) Reprint Nendeln/ Liechtenstein 1969, S. 79f., Arthur, M. HIND, Early Italian Engravings. A Critical Catalogue with Complete Reproduction of all the Prints Described, Part I: Florentine Engravings and Anonymous Prints of other Schools, Vol. I: Catalogue, London 1938, S. 86. Arthur M. HIND, A History of Engraving & Etching from the 15th Century to the Year 1914 (1923), New York 1963, S. 46. Luke SYSON/ Dora THORNTON, Objects of Virtue. Art in Renaissance Italy, London 2001, S. 61 f.
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klärt auch die Themenwahl von Botticellis Judith- und HolofernesDarstellungen. Sie feiern eine schöne Frau, eine verführerische Frau, aber eben eine keusche, tugendhafte und tapfere Frau. Sie müssen für den Verehrer einer Frau oder für eine Frau gemalt worden sein15, deren Schönheit und Tugendhaftigkeit man mit bildlichem Verweis auf die biblische Heldin rühmte, und sie werben entgegen der Intention der biblischen Erzählung aber im Sinne des petrarcistischen Liebesdiskurses um Verständnis für Holofernes, der solcher Schönheit verfiel und deshalb seinen Kopf im Wortsinne verlor. Die beiden kleinen Bildtafeln sind keineswegs nur zwei distinkte Episoden eines biblischen Stoffes, sie sind dialogisch aufeinander bezogen. Judith blickt zurück, ähnlich besinnlich, wie Giorgione später seine Judith auf das Haupt des Holofernes herunterblicken ließ. Diesem besinnlichen (melancholischen) Zurückblicken der Judith antwortet im Gegenstück die klaffende Wunde des Halsstumpfes, die Botticelli geradezu obszön nach außen wendete. 16 Trauert Judith dem toten Feldherrn nach? Und verbirgt sich hinter dieser Trauer das Bedauern der geliebten Frau über die ihrer Tugend geschuldete Zurückweisung des Liebhabers? In Raffaelo Borghinis „II Riposo" (1584) werden die beiden Bilder erstmals erwähnt. Borghini berichtete, der Kunstsammler und Amateurkünstler Ridolfo Sirigatti habe diese „operetta" Botticellis der Großherzogin Bianca Cappello geschenkt, damit dieses Virtuosenstück mit den Gemälden und Skulpturen in ihrem Studiolo sich messen solle. Wie die Einzahl („operetta") nahelegt und wie spätere Quellen explizit machen, waren die Bilder gemeinsam einem Holzrahmen eingefügt. 17 Wie waren sie einander zugeordnet? Die Mehrzahl der Reproduktionen in der Fachliteratur stellen Judiths Rückkehr links vom Pendant dar. Borghini und einige der späteren Quellen erwähnen dagegen zuerst das Entdekken der Leiche („nell'uno") und erst an zweiter Stelle („nell'altro") die Rückkehr Judiths nach Bethulia. Das legt sehr nahe, dass Bianca Cappello die Bilder in dieser Reihenfolge auch betrachtete, womit zwar noch kein abschließender Beweis dafür geliefert ist, wie Botticelli oder sein Auftraggeber / seine Auftraggeberin die Bilder zusammensehen 15
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Nicht auszuschließen ist, dass solche Bildchen schon für einen Kunstsammler gemalt wurden, der diesen Liebesdiskurs distanziert genießen konnte. Vgl. Georges DlDI-HUBERMAN, Ouvrir Vénus. Nudité, rêve, cruauté, Paris 1999, S.62. LlGHTBOWN, Sandro Botticelli, II (1978) (wie Anm. 1) S. 21.
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wollten, womit zumindest aber eine plausible Begründung für das melancholische Zurückblicken der Judith gewonnen wäre. Paarweise betrachtet und zwar in der von Borghini angedeuteten Reihenfolge, fallt der Rückblick der Judith auf den blutenden Halsstumpf des Mannes, der ihretwegen den Kopf verlor. Diese plausible Reihenfolge der beiden kleinen Bilder Botticellis mit der Judith-Geschichte ist allerdings nicht die Reihenfolge, die der biblische Text vorgibt. Erst nachdem Judith und ihre Dienerin, „den Berg von Betylus hinan(gestiegen)" waren, erst als man in der belagerten Stadt „das Haupt des Holofernes an die Stadtmauer" gehängt hatte, erst als die jüdischen Krieger „scharenweise zu den Bergpässen" gezogen waren, beschlossen die Assyrer ihren Feldherrn zu wecken. Die Zeit der Bilder ist eine andere als die der biblischen Erzählung. Mit Grund, denn die biblische Zeit verschränkt sich in Botticellis Tafeln mit der Gegenwart (des 15. Jahrhunderts): Bei genauerer Betrachtung der Bilder wird eine Unstimmigkeit offensichtlich. Der Kopf des Holofernes im Brotbeutel ist der eines reifen Mannes, und dieser stimmt nicht so recht zu dem jugendlichen Körper des Enthaupteten. 18 Auffällig andererseits — man vergleiche die Gesichtszüge, die Haupt- und Barthaare — die Ähnlichkeit des abgeschlagenen Kopfes mit dem Trauernden im Bild der „Entdeckung des toten Holofernes", der durch Kleidung und durch seine Stellung in der Komposition als der vornehmste (Bagoas?) ausgewiesen ist. Sollen wir diese Bilder Botticellis folglich über Kreuz lesen? Ist der Kopf des Grauhaarigen und Bärtigen das Porträt des Auftraggebers / Liebhabers, dessen Einigkeit mit dem jugendlich schönen Körper durch die Tugend der Geliebten so empfindlich gestört wurde? Die Ikonographie von Botticellis kleinen Tafeln mit der Geschichte von Judith und Holofernes ist in beiden Fällen ungewöhnlich. Für die Darstellung der „Entdeckung der Leiche des Holofernes" gibt es keine Voraussetzungen, und auch für die raren Darstellungen, die Judith und ihre Dienerin schon auf dem Weg nach Bethulia zeigen, ist Botticellis
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Die Unstimmigkeit fiel bereits Jamet auf, dessen Erklärung, Botticelli habe den Widerspruch zugelassen, um seinem antiken Schönheitsideal treu zu bleiben (Christian JAMET, Botticelli. Le sacre et le profane, Paris 1996, S. 27), freilich keine zureichende Erklärung ist, da Botticelli schließlich bildgeschichtlich nicht gezwungen war, das abgeschlagene Haupt derart altern zu lassen.
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Tafel der Prototyp. 19 Die 1489 datierte kleinformatige Darstellung Domenico Ghirlandaios (44.5, x 31,3 cm) (Abb. 22) 20 setzt Botticellis Bilderfindung voraus. Hier schreitet die Dienerin lebhaft aus (die Lebhaftigkeit ist entsprechend dem Konzept der „Nymphe" im Gewand noch gesteigert), doch Judith hält inne, stemmt in der Pose der Dominanz die Linke in die Hüfte und blickt zurück auf das Haupt des Holofernes. Dieses Anhalten des Bewegungsablaufs, die die Erzählung von der Rückkehr Judiths und ihrer Dienerin nach Bethulia mit dem Motiv der Reflexion der Judith über die Tat zusammenbringt, wird hinterfangen von einer im Vergleich mit Botticellis Behandlung des Themas sehr anderen Örtlichkeit — einem kostbar mit antikischen Reliefs ausgestatteten Palastraum. Dieser Ort der Geschichte kann nicht einem bestimmten Zeitpunkt der biblischen Erzählung zugeordnet werden. Eine solche zeitliche Zuordnung war wohl auch nicht intendiert. Die Bildarchitektur des Bildes begleitet nicht die biblische Erzählung, sondern kommentiert sie. Prächtigkeit des architektonischen Rahmens und der Antikenbezug, beides sind Kommentare zur Schönheit und zur „Virtus" der Heldin. Insofern erfahrt die zeitliche Unbestimmtheit von Botticellis „Gang Judiths und ihrer Dienerin nach Bethulia" in der architektonischen Grundierung von Domenico Ghirlandaios Version des Themas eine - wenn man es so nennen darf - Konkretisierung des Unbestimmten. Der (zeitlich) nächste Künstler, der das seltene Thema der Rückkehr Judiths und ihrer Dienerin nach Bethulia behandelte, war Michelangelo. In einem der beiden östlichen Pendentiffresken der Sixtinischen Decke (Abb. 23) stellte er — als Entsprechung zum Sieg Davids über Goliath im gegenüberliegenden Pendentiffeld — die beiden Frauen noch ganz nah Für Mittelalter und Renaissance ist für die Ikonographie der Rückkehr der Judith nach Bethulia bei Pigler neben Botticellis Gemälde nur das des Domenico Ghirlandaio verzeichnet. Andreas P L G L E R , Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts, I, Budapest/ Berlin 1956, S. 191. Zur Diskussion über die Zuschreibung des Bildes an Domenico und / oder David Ghirlandaio: Gemäldegalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Berlin. Katalog der ausgestellten Gemälde des 13.-18. Jahrhunderts, Berlin, 1975, S. 169. Jean K. C A D O G A N (Domenico Ghirlandaio. Artist and Artisan, New Häven/ London 2000, S. 261) insistiert mit Nachdruck auf der Attribution an Domenico Ghirlandaio und auf der Qualität des Bildes, wohingegen Ronald G. K E C K S (Domenico Ghirlandaio und die Malerei der Florentiner Renaissance (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, hg. von Max S E I D E L , Vierte Folge, Bd. II, Berlin 2000) das Berliner Gemälde nicht einmal diskutiert.
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dem blutigen Geschehen dar. Judith blickt auf ihr Opfer zurück, und auch hier, wie vier Jahrzehnte vorher bei Botticelli, ist der Kontrast zwischen dem jugendlich-kraftvollen (kopflosen) Körper auf dem Bett und dem abgeschlagenen Kopf evident. Der Kopf des Holofernes in diesem Fresko der Sixtina ist augenscheinlich ein Selbstporträt Michelangelos. Dieses Selbstporträt Michelangelos als Holofernes ist eine Parallele zu Giorgiones Privatisierung' des Themas, weist voraus auf Christoforo Alloris Version der biblischen Geschichte (um 1609), in der Judith vermutlich ein Porträt von Alloris schöner Geliebter „La Mazzafirra" ist, für die Allori sein Vermögen verschleuderte, die ihn Qualen der Eifersucht leiden ließ — die Dienerin Judiths in Alloris Gemälde trägt dementsprechend die Gesichtszüge der Mutter seiner Geliebten und ist motivgeschichtlich als Kupplerin charakterisiert; im abgeschlagenen Haupt des Holofernes porträtierte sich Allori selbst - 2 1 , und es weist zurück auf die Differenz, die auch zwischen Botticellis Holoferneshaupt und dem kopflosen Körper ist. Dafür, eine Selbstthematisierung auch des Künstlers Botticellis anzunehmen, gibt es keinen Anlass. Eine Aktualisierung des biblischen Stoffes ist, wie Darstellungsweise, Format und Kontext weiterer Judith-Darstellungen des Quattrocento bestätigen, in jedem Fall gegeben. Eine im Format (30 x 18 cm) den Judith- und Holofernes-Bildern Botticellis verwandte, kleine Holztafel Andrea Mantegnas (Abb. 24) stellt ebenfalls eine Judith dar, hier kurz nach der Tat und gerade im Begriff, das abgeschlagene Haupt des Holofernes in den von der Dienerin geöffneten Beutel zu tun. Judith wendet den Kopf ab und blickt versonnen ins Unbestimmte. Es ist nicht der Blick der triumphierenden Retterin ihres Volkes, sondern erneut ein von Melancholie überschatteter. Das Judith-Bildchen Mantegnas ist im 1492 nach dem Tod Lorenzo il Magníficos erstellten Inventar aufgeführt. Lorenzo dürfte es Anfang der 1480er Jahre erworben haben. 22 Als Wert für das kleine Bild sind 25 Florin im Inventar eingetragen, ein bemerkenswert hoher Preis 23 . Das kostbare kleine Bild Mantegnas war, wie das Inventar des weiteren fest-
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FRIEDMAN, The Metamorphosis of Judith (wie Anm. 9) S. 240. II Giardino di San Marco. Maestri e compagni del giovane Michelangelo, hg. von Paola BAROCCHI, Katalog der Ausstellung, Florenz, Casa Buonarroti 1992, Florenz 1992, S. 40. II Giardino di San Marco (wie Anm. 22) S. 41.
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hält, „in einer Kassette" aufbewahrt. 2 4 Darf man von daher mit Lightbown rückschließen, Botticellis Judith- und Holofernes-Tafeln seien ebenfalls in einem Kästchen oder einem Lederetui aufbewahrt worden? 25 Eine Präsentationsweise, die, wie für das 16. Jahrhundert überliefert, beide Bilder in einen narrativen Zusammenhang bringt, wenn auch keinen, der der biblischen Geschichte folgt, ist wahrscheinlicher. In jedem Fall war der Kontext der Bilder kein religiöser. Zumindest als Vermutung sei geäußert, dass Botticellis kleine Tafeln nicht nur allgemein auf den petrarcistischen Liebesdiskurs zurückzuführen sind, sondern wie das Bildchen Mantegnas Teil jenes am höfischen Minnedienst orientierten Kultes von Schönheit, von Liebesglück und Liebesleid im Kreis um Lorenzo il Magnifico waren. 26 Anzuschließen ist eine weitere Judith-Darstellung, jetzt wieder ein Werk Botticellis (Abb. 25), das in das letzte Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zu datieren ist. Das kleine Format (36 x 27 cm, an den Rändern allerdings beschnitten) verbindet dieses Bildchen des Amsterdamer Rijksmuseums über die gemeinsame Ikonographie hinaus mit den älteren Judith-Bildern Botticellis, mit Ghirlandaios Judith und mit Mantegnas Bild aus der Sammlung des Lorenzo de' Medici. Hier nun blickt die biblische Heldin dem überwundenen Feind ins Gesicht, doch auch dieser Blick gerät zugeneigter als es die Lektüre des Bibeltextes nahe legt. 27 Zum Bestand an kleinformatigen Judith-Bildern des Quattrocento gehört schließlich die beidseitig bemalte Tafel des Cincinnati Art Museums (Abb. 26), die dank Roberto Longhis Zuschreibung an Botticelli angekauft wurde. Als Otto Mündler 1867 das Gemälde erstmals als in einem neapolitanischen Palazzo befindlich erwähnte, erkannte er in dieser „zierliche(n) Wiederholung" (von Botticellis „Judith" der Uffizien)
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„in una cassetta". Zit. nach Eugène MÜNTZ, Les collections des Médicis au X V e siècle, Paris/ London 1888, S. 78. Vgl. II Giardino di San Marco (wie Anm. 22) S. 40. Ronald LIGHTBOWN, Sandro Botticelli. Leben und Werk (1989 engl.), München 1989, S. 32. Zu diesem Liebesdiskurs: Charles DEMPSEY, The Portrayal of Love. Botticelli's „Primavera" and Humanist Culture at the Time of Lorenzo the Magnificent, Oxford 1992, passim. Für die „republikanischen, anti-tyrannischen Implikationen", die Olson aus Haltung und Gesichtsausdruck der Judith im Amsterdamer Bild herausliest (Roberta Jeanne Marie OLSON, Studies in the later works of Sandro Botticelli, Phil. Diss. Princeton, Anne Arbor 1975, S. 302f.), gibt es keine anschauliche Entsprechung.
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die Hand Filippino Lippis. 2 8 Trotz Longhis Zuschreibung und Lightbowns engagiertem Plädoyer, im Gemälde des Cincinnati Art Museums Botticellis erste Version des Themas zu sehen 29 , hat die alte und inzwischen mehrheitlich wieder angenommene Zuschreibung an den jungen Filippino Lippi 30 und d. h. die Annahme, der Schüler und Mitarbeiter habe ein erfolgreiches Bild des Meisters wiederholt, den Vorteil, nicht nur die evidenten Zusammenhänge zwischen den JudithDarstellungen in Cinicinnati und Florenz, sondern auch die stilistischen Abweichungen und die gleichwohl hohe Qualität des Bildes in Cincinnati erklären zu können. 31 Unabhängig von der Diskussion um die Zuschreibung bestätigt die kleinformatige Judith-Darstellung in Cincinnati den Zusammenhang von Thematik und intimem Format, und sie bekräftigt die These, dass in der Rezeption solcher Bilder die grausam enttäuschte Liebe des Holofernes und die Grausamkeit der Judith zuerst und zunächst Metaphern im galanten Diskurs waren, denn die rückseitige Tierdarstellung (zwei lagernde Hirsche und zwei Affen) (Abb. 27) ist in keiner Weise durch die biblische Erzählung begründet. Bei dieser Tierdarstellung wird es sich um eine Tugendallegorie handeln, die die Judith der Vorderseite auf eine historische Frau bezieht ,32 Botticellis Judith- und Holofernes-Darstellungen sind Historienbilder, die die Theorie der Historienmalerei (Alberti) in die Praxis der Malerei umsetzen. Zugleich dokumentieren diese „istorie" Weisen der Verzeitlichung, die quer zur nacherzählten biblischen „istoria" verlaufen können, die zurückverweisen und aktualisieren. Erzählstrukturen, die wie in den beschriebenen Bildern chronologische Unbestimmtheiten und Anachronismen zulassen, sind eben diejenigen, in denen Allusionen und Konnotationen sich festsetzen können. 28
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Otto MÜNDLER, Rezension zu: J. A . C R O W E / G . B. CAVALCASELLE, A new History of Painting in Italy, etc., vol. III, London 1966, Zeitschrift für Bildende Kunst, II (1967), S. 279. LlGHTBOWN, Sandro Botticelli, II (1978) (wie Anm. 1) S. 21. Vgl. den Überblick über die Zuschreibung des Bildes bei Roberto SALVINI (Botticelli e Filippino, in: Saggi su Filippino Lippi (Celebrazioni di Filippo Lippi nel V° centenario della nascita, Florenz 1957, S. 61 f.) u. Fiametta GAMBA (Filippino Lippi nella storia della critica, Florenz 1 9 5 8 , S. 90). A u c h die neuere Publikation v o n Luciano BERTI/ Umberto BALDINI (Filippino Lippi (Collana „La Specola", Florenz 1 9 9 1 , S.167) bekräftigt die Zuschreibung der Judith in Cincinnati an Filippino Lippi. Bezeichnend dafür die Abweichungen v o m Vorbild. Dazu SALVINI, Botticelli e Filippino (wie Anm. 30) S. 62. Angelica DOLBERG, Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990, S. 290.
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Beschränkt man sich nicht nur auf Botticellis Bildtafeln mit dem Judith- und Holofernes-Thema und bezieht Bilder im Bild mit ein, dann sind weitere Darstellungen hier zu nennen: Allein drei in der „Verleumdung des Apelles" (Abb. 28), ein Gemälde Botticellis aus der Mitte der 1490er Jahre, das eine antike Bildbeschreibung, die Ekphrasis des Lukian nach einem Bild des Apelles, wieder zurückübersetzt in ein Bild. 33 In der Nische hinter dem König, den die Einflüsterungen der Allegorien der Unwissenheit und des Verrats in seine Eselsohren geneigt gemacht haben, der Allegorie der Bosheit und in deren Gefolge der Verleumdung, die den unschuldig Verdächtigen an den Haaren zum Thron zieht, zu vertrauen, ragt eine ernst blickende Judith-Statue auf, die Zeugin der Ungerechtigkeit wird. 34 Nicht, wie gelegentlich in der BotticelliForschung unternommen, in den oben besprochenen Judith-Bildern, aber hier macht es Sinn, die in Florenz seit Donatellos Bronzestatue die mit Judith (wie mit David) verbundene politische Ikonographie — Judith und David als Repräsentanten der gerechten Sache gegen übermächtig scheinende ungerechte Herrschaft —, in die Interpretation einzubeziehen. In diesem Kontext stehen zunächst auch die beiden anderen JudithSzenen, die oberhalb und unterhalb der Judith-Statue als Reliefbilder dargestellt sind. 35 Das als vergoldet vorzustellende Relief in der Frieszone zeigt in der linken Reliefhälfte unter dem Zeltdach den kopflosen Leichnam des Holofernes auf dem Bett liegen. Der Darstellungskonvention folgend sind Judith und ihre Magd dem Bett noch nahe und versenken das abgeschlagene Haupt im Beutel. In Hinblick auf die Frage nach der Zeitstruktur folgt dieses Relief der Zeitstruktur der „istoria". Komplizierter wird der bildgeschichtliche Sachverhalt, wenn man einrechnet, dass diese Judith-Bilderzählung die Darstellung einer Darstellung ist, nämlich die Darstellung einer als antik von Botticelli ausgegebenen Darstellung. Die Zeitstruktur der „istoria" wird im historisierenden Rückgriff gebrochen. Zum erzählten Zeitablauf im Medium des Bildes, kommt hinzu die Zeit des Mediums selber, das als antikes Bildmedium die Bilderzählung überblendet, zeidich entrückt. Diese Entrückung ist aber zugleich eine Aktualisierung in Hinblick auf denjenigen, der dies alles ins Werk setzte. Botticellis Zeitgenosse Ugolino Veri rühmte 1488 33
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Zur komplexen Textüberlieferungsgeschichte von Lukians Bildbeschreibung und zur Geschichte der bildlichen Rekonstruktionen ausführlich: Jean-Michel MASSING, Du texte à l'image. La calomnie d'Apelle et son iconographie, Straßburg 1990. OLSON, Studies (wie Anm. 27) S. 299. Zu diesen Reliefs v. a. OLSON, Studies (wie Anm. 27) S. 300.
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Sandro Botticelli als neuen Apelles 35 ein topisches Lob gewiss, das Botticelli aber sehr wohl ernst nahm, so ernst, dass er mit seinem Gemälde der „Verleumdung des Apelles" sich an die Stelle des berühmtesten antiken Malers setzte und dessen Meisterwerk wieder beleben und/ oder übertreffen wollte. Dass ihm dies auch gelungen war, unterstrich der Besitzer des Bildes, der Humanist Fabio Segne, dessen Epigramm das Bild Botticellis dem antiken Meisterwerk gleichrangig an die Seite stellte.37 Bezüglich des künstlerischen Anspruchs, den Botticelli mit seinem Gemälde der „Verleumdung des Apelles" manifestierte, und bezüglich der Zeitstruktur der als Reliefs dargestellten Darstellungen vielleicht noch komplexer ist das Relief, über dem sich die Nische mit der JudithStatue erhebt. Teilweise verdeckt von der Allegorie des Verrats zeigt das Relief die Rückkehr Judiths und ihrer Dienerin nach Bethulia, also jene ikonographisch voraussetzungslose Bilderfindung Botticellis in der kleinen Tafel der Uffizien. Selbst in der Seitenverkehrung, in der das Thema im fingierten Relief erscheint, ist die Anspielung Botticellis auf sein eigenes Bild unverkennbar. Botticelli historisierte somit in konkreter Form seine eigene Kunst, so, wie er ebenfalls die von ihm entworfenen Darstellungen von Boccaccios schauriger Geschichte des Nastagio degli Onesti in drei Reliefs der Kassetten der Tonnenwölbung des linken Bogens der „Verleumdung" memorierte. Diese Historisierung der eigenen Kunst, ihre Verortung in einen Zusammenhang, in dem sie mit allgemein als antik charakterisierten Reliefs, aber auch mit bestimmten, literarisch tradierten antiken Gemälden — die berühmte Kentaurenfamilie des Zeuxis im seitlichen, dem Betrachter zugewandten Relief des Thronunterbaus 38 — zusammenkommt, steht als Metazeit, als die vergangene und wieder belebte Zeit der Kunst, über der erzählten Zeit. Sollten 36
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Creighton E. GILBERT, Italian Art 1400-1500. Sources and Documents (1980), Evanstone 1992, S. 193. Vgl. u. a. Emst H. GOMBRICH, Apollonio di Giovanni. A Fiorentine Cassone Workshop seen through the Eyes of a Humanist Poet, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, vol. XVIII, 1/2 (1955), S. 30ff., LLGHTBOWN, Sandro Botticelli. Leben und Werk (wie Anm. 25) S. 235 und S. 237. Giorgio VASARI, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567, Bd. 2, 2. Theil (Dt. von Ludwig Schorn) (1568 ital.), (Stuttgart/ Tübingen 1839), Repr. hg. von Julian KLIEMANN, Worms 1983, S. 250. Vgl. MASSING, Du Texte à l'Image (wie Anm. 33) S. 63 und S. 256. Zum Strozzi-Cameo und zu einem Sarkophagrelief, von denen Botticelli möglicherweise neben Lukians Ekphrasis sich hatte anregen lassen: Antonio GIULIANI, La famiglia dei centauri. Ricerca su un tema iconografico, in: Studi di storia dell'arte in onore di Valerio Mariani, Neapel 1971, S. 125.
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sich hinter Botticellis „Verleumdung des Apelles" zudem, wie gelegentlich vertreten, noch konkrete private oder geschichdiche Anspielungen verbergen, die Rechtfertigung Botticellis gegen die Anklage wegen Homosexualität 39 oder Botticellis Kritik an der Verleumdung und ungerechten Verurteilung Savonarolas 40 , wird man diese bei der Analyse der Zeitstruktur der Narrationen in den Reliefs mitzubedenken haben. Wie im Gemälde der „Verleumdung des Apelles" stellte Botticelü die „Geschichten der Lukrezia" (um 1500) (Abb. 29) vor einer symmetrisch das Bild ordnenden Bildarchitektur dar, in die das Bildthema schmükkende und kommentierende Darstellungen als Reliefs eingelassen sind. Das vermutlich als Wandbild im Rahmen einer Wandvertäfelung gemalte Bild folgt, was die Erzählstruktur anbelangt, der von Franz Wickhoff so bezeichneten „kontinuierenden Erzählung" 41 einem narrativen Modus, bei dem im selben Bildfeld dieselben Protagonisten in mehreren zeitlich auf einander folgenden Handlungen begriffen sind: In dem von der Bildarchitektur am linken Bildrand eröffneten Raum nötigt Tarquinius die tugendhafte Lucrezia mit dem Dolch und reißt ihr das Gewand herunter; unter dem Bogen am rechten Bildrand sinkt Lukrezia vor Scham 42 oder bereits tödlich verwundet 43 vor ihrem Ehemann, ihrem Vater, Publius Valerius und vor Brutus zusammen; in der Hauptszene des Bildes, vor dem Triumphbogen in der Bildmitte, ruft Brutus über dem geöffneten Sarg der Lucrezia zur Rache an der Tyrannis auf. Hinter Brutus, ihn, seinen Schwur verstärkend, ragt eine kostbare Rotmarmorsäule mit der Statue der Judith empor. Präsent ist die Judith-Geschichte zudem auch hier im Medium des fingierten antikisierenden Reliefs. Das breit gelagerte Reliefbild des linken Gebäudes (Abb. 30) zeigt links die Szene, in der Judith und ihre Dienerin das Haupt des Holofernes in den Beutel tun und im Anschluss rechts — nun fast als Kopie des Bildchens in den Uffizien — die Rückkehr der Heldin nach Bethulia. Es ist nur fast eine Kopie nach der kleinen 39 40
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LIGHTBOWN, Sandro Botticelli. Leben und Werk (wie Anm. 25) S. 235. So die Deutung Landsbergers. Franz LANDSBERGER, Trauer um den Tod Savonarolas. Zur Deutung des Derelitta-Bildes, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 2 (1933), S.277. Franz WICKHOFF, Römische Kunst (Die Wiener Genesis) (1895), in: Ders., Die Schriften Franz Wickhoffs, hg. von Max D V O R A K , 3. Bd., Berlin 1 9 1 2 , v. a. S. 9ff. und S. 123ff. LIGHTBOWN, Sandro Botticelli, II (1978) (wie Anm. 1) S. 103. Herbert P. HÖRNE, Allessandro Filipepi commonly called Sandro Botticelli Painter of Florence (London 1908), Reprint Florenz 1986, S. 285.
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Tafel der Uffizien, da Judith hier nicht zurückblickt, sondern der Begrüßung am Stadttor von Bethulia bereits entgegensieht. 44 Die temporale Komplexität des kleinen Bildes der Uffizien, wird also einerseits zurückgenommen — die Rückkehr der Judith und ihrer Dienerin nach Bethulia wird als Ankunft in Bethulia präzisiert, damit anders als in der anachronistischen Darstellung der Rückkehr Judiths und ihrer Dienerin in den Uffizien auf einen historischen Moment festgelegt (anachronistisch hier allerdings wieder die Reiter im Hintergrund). Andererseits bricht der „kontinuierende" Stil der Darstellung, der der „kontinuierenden" Darstellung der Bostoner Bildtafel insgesamt analog ist, die Einheit der Zeit der Erzählung wieder auf. Das Prinzip der „kontinuierenden" Erzählung im Quattrocento wurde von der Kunstgeschichte als retardierendes, im Kern mittelalterliches Prinzip der Bilderzählung beschrieben, das sich dem kunstgeschichtlichen Telos der einheitlichen „distinguierenden" (Wickhoff) also „monoszenischen" Bilderzählungen noch, vergeblich, entgegenstemme. Die Forschungen von Lew Andrews haben deutlich machen können, dass die „kontinuierende" Erzählung ein Modus der Darstellung war, den Künsder des 15. Jahrhunderts nachweislich häufiger wählten als Künstler des 14. Jahrhunderts 45 , dass die „distinguierende" Erzählung also nicht eine von der zentralperspektivischen Vereinheitlichung des Handlungsraums notwendig erzwungene war. Die gedehnte Handlungszeit der „kontinuierenden Erzählung" hatte in der Frührenaissance sogar ihren Höhepunkt — die Christus- und Moseshistorien der von Sixtus IV. in Auftrag gegebenen Wandfresken der Sixtinischen Kapelle (1481-1483) sind dafür gleichermaßen programmatische wie prominente Beispiele.46 Für den oft vor Sandro Botticellis Spätwerk in die Diskussion eingeführten „Archaismus", die (häufig von Savonarolas Einfluß) abgeleitete Rückwendung des Künstlers zu traditionellen Formen religiöser Bildkunst, sollte man insofern den „kontinuierenden" Erzählstil der „Geschichten der Lukrezia" im allgemeinen, den der Judith- und Holofer44 45
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Hierzu v. a. OLSON, Studies (wie Anm. 27) S. 300. Lew ANDREWS, Story and Space in Renaissance Art. The Rebirth of Continous Narrative, Cambridge 1995, S. 8ff. und passim. Zur Erzählzeit in den Sixtina-Fresken des Quattrocento: Leopold D. ETTLINGER, The Sistine Chapel before Michelangelo. Reügious Imagery and Papal Primacy, Oxford 1965, S. 35ff., Marilyn Aronberg LAVIN, The Place of the Narrative. Mural Decoration in Italian Churches 1 4 3 1 - 1 6 0 0 , Chicago/ London 1990, S. 196ff.; Carol F. LEWINE, The Sistine Walls and the Roman Liturgy, Pennsylvania 1993, S. 106ff.
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nes-Reliefs im besonderen nicht in die Waagschale werfen. Es genügt der Verweis auf Franz Wickhoffs bedeutende Studie über die „Wiener Genesis" und der Verweis darauf, dass für Wickhoff der „kontinuierende" Erzählstil eine genuin antike (antik-römische) Weise der Geschichtsdarstellung war. Darf man so weit gehen - angesichts Botticellis nachweislicher Kenntnis antiker und frühchristlicher Sarkophagbilder darf man weit gehen —, die Erzählzeit des fingierten Judith-Reliefs in den „Geschichten der Lucrezia" ihrerseits als Signum der Zuwendung zur (römischen) Antike zu verstehen? Die Zeitstruktur des Bildes entspräche in diesem Fall modal dem historisierenden Rückgriff, und Zeit im Bild wäre sogesehen nicht allein eine Kategorie des Ins-Bild-Setzen, sondern auch Gegenstand von Darstellung, damit Träger von Bildsinn. Wie in der „Verleumdung des Apelles" rückt die Historisierung die Reliefs in zeitliche Ferne. Lukrezia-Geschichte und Judith-Geschichte stehen im Verhältnis von Bild und Bild im Bild, damit im Verhältnis von Darstellung im Präsens zur Darstellung in der Vergangenheitsform. Historisch trifft diese chronologische Differenzierung nicht zu: sollte die Judith-Geschichte eine historische Grundlage haben, dann datiert sie in jedem Fall erheblich später als der mit der Vergewaltigung der Lucrezia verbundene Sturz des Tarquinius Superbus; kunsthistorisch gesehen ist zudem die architektonische Ausrüstung des Bildes mit Triumphbogen für den Anfang der römischen Republik anachronistisch. Diese Anachronismen können, müssen Botticelli aber nicht bewusst gewesen sein; dass in der Reliefausstattung antik-römischer Architektur freilich keine biblischen Themen Platz haben, wusste Botticelli mit Sicherheit. Botticelli inszenierte das historisch Unmögliche, um auch hier das Geschäft der Analogisierung, Alludierung - insgesamt der Verstärkung — betreiben zu können.
Anhang Nicht thematisch, aber stilistisch in engem Zusammenhang mit den Judith- und Holofernes-Darstellungen der Uffizien (und des Cincinnati Art Museums) steht eine von der Forschung unbeachtete und unpubliziert gebliebene Tafel der Galleria dell'Accademia in Florenz (Abb. 31). 47 Die erste Erwähnung in einem Bestandskatalog der Accademia erst 1999 mit der Zuweisung an einen „Ignoto fiorentino del secolo XV" und der Datierung „c. 1480". Galleria dell'Accademia. Guida ufficiale. Tutte le opere, Florenz 1999, S. 48, Nr. 7.
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Dieses kleinformatige Gemälde, das im unteren Teil vor einer Mauer den hl. Laurentius auf dem Rost, gequält von drei Schergen, und in der oberen Bildhälfte bereits in einer von zwei Engeln emporgetragenen Glorie zeigt, hat die Missachtung in der kunsthistorischen Literatur nicht verdient. Die Erzählung des Martyriums gab Anlass, einen schönen jugendlichen Körper dazustellen, der sich durchaus mit dem Körper des Holofernes vergleichen lässt, wenn auch die Einzeichnung der anatomischen Einzelheiten weicher, unbestimmter geraten sind, und auch im Gemälde der Accademia beugt sich der Scherge mit dem Blasebalg nach vorne — sehr ähnlich dem Assyrer auf dem Bild der Entdeckung der Leiche des Holofernes — auch hier eine Gelegenheit, um die Meisterschaft in der kunstvollen Verkürzung unter Beweis zu stellen. Eng binden anderseits die lebhaften bewegten Engel, die die Glorie tragen, mit ihren flatternden Gewändern an das Paar Judith-Dienerin an. Auffällig auch die physiognomische Nähe des rechten Engels mit der Judith der kleinen Bilder in Florenz und Cincinnati. Mit dem Oeuvre des Biagio d'Antonio mit dem das Bild in Beziehung gebracht wird48, hat es allein seiner die Möglichkeiten des Biagio d'Antonio weit übersteigenden Qualität nichts gemein. 49 Wenn eine andere Hand als die Botticellis in Erwägung gezogen werden muss, dann die des Filippino Lippi der Jahre, in denen er als Schüler und Mitarbeiter in der Werkstatt Botticellis tätig war. Fra Filippo Lippis Tod in Spoleto im Oktober 1469 ließ den Sohn, den ihm die entführte Nonne Lucrezia Buti geboren hatte, als Halbwaisen zurück. Lippis Mitarbeiter und Ordensbruder Fra Diamante wird sich um Filippino solange gekümmert haben, bis er ihn als Lehrling in einer Werkstatt versorgt wusste. Im Juni des Jahres 1472 ist in das „rote Buch" der für die Florentiner Maler zuständigen Lukas-Bruderschaft eingetragen, dass „Filippi di Filippo da Prato" als Maler bei Sandro Botticelli beschäftigt sei.50 Als Botticelli vermutlich im Juli 1481 nach Rom reiste, um in Auftrag des Papstes Sixtus IV. seinen Beitrag zur Ausmalung der später nach dem Auftraggeber benannten Sixtinischen Kapelle zu leisten, war Filippino Lippi
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Beschriftung im Museum. In Roberta Bartolis Katalog der Werke des Biagio d'Antonio (Roberta BARTOLI, Biagio d'Antonio, Mailand 1999, ist die Laurentiusmarter der Accademia zu Recht nicht aufgenommen worden. The Drawings o f Filippino Lippi and His Circle, hgg. von George R. GOLDNER/ Carmen C. BAMBACH, Katalog der Ausstellung New York, Metropolitan Museum of A r t 1997/98, New York 1997, S. 3.
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nicht dabei. Am 1. Mai des Vorjahres hatte Filippino Lippi den Mitvertrag für ein Haus in der Via Palazzuolo in Florenz unterschrieben. Das Ausbildungs- und Mitarbeiterverhältnis zu Botticelli wird also zu diesem Zeitpunkt bereits gelöst gewesen sein.51 Stilistische Bezüge lassen sich zu Filippino Lippis heute auf das Musée Condé in Chantilly, das Museo Hörne, Florenz, das Musée du Louvre, Paris, die Galleria Pallavicini, Rom und die Liechtensteinsche Gemäldegalerie in Vaduz verteilten ehemaligen Cassone-Tafeln mit der „Geschichte der Esther" herstellen: jeweils die gegenüber Botticelli eher noch geschmeidigere, im Umriss weichere und in der Binnenzeichnung unbestimmtere Figurenbildung, das lichtere und hinsichtlich der Modellierung ,weichere' Kolorit. Physiognomische Ähnlichkeiten sind ebenfalls unverkennbar: Die für den jungen Filippino Lippi charakteristische, immer etwas arrogant wirkende Mimik der jungen Männer, hier der beiden, die in der Begegnung von Esther und Ahasver nahe dem mitderen Pfeilerpaar stehen oder kauern, findet sich wieder im verherrlichten Laurentius der Accademia-Tafel. Verwandte Gesichtszüge begegnen uns auch in der Londoner „Anbetung der Könige", ein Gemeinschaftswerk Sandro Botticellis und seines Meisterschülers Filippino Lippi. Im vordersten der zum heiligen Geschehen eilenden Hirten am rechten Bildrand finden wir eine Entsprechung auch für das Schrittmotiv des mittleren Schergen in der Laurentiusmarter. Was die Größenverhältnisse von Figuren und Bildarchitekturen betrifft, neigte der junge Filippino zu für seine Zeit ungewöhnlich dominanten Bildarchitekturen, die wiederum dem pittoresken Motiv großflächiger Mauerstrukturen viel Platz im Bild verschafften. Letztere Vorliebe war vorbereitet im Oeuvre des Vaters Fiüppo Lippi und des nach dem Tod des Vaters väterlichen Beschützers Fra Diamante (Fiüppo Lippis Fresko der „Geburt Christi" in Spoleto oder Fra Diamantes Darstellung des gleichen Themas im Louvre). Wie, und wie anders dann doch wieder Filippino Lippi mit diesem Motiv umging, zeigen Filippino Lippis „Anbetung der Könige" in der National Gallery, London und jene merkwürdige Darstellung der (inzwischen als „Weinender Mordechai vor dem Palast des Ahasver" identifizierte 52 und in die Rekonstruktion der 51 52
Ebda. S. 3f. Zuerst Edgar WIND, The Subject of Botticelli's „Derelitta", Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, IV ( 1 9 4 0 - 1 9 4 1 ) , S. 1 1 4 - 1 1 7 . Vgl. LlGHTBOWN, Sandro Botticelli, II (1978) (wie Anm. 1) S. 209f.
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Cassone-Darstellungen mit der „Geschichte Esthers" mitaufgenommene 53 ) vormals so genannten „Derelitta", aber eben auch die einförmiger geratene Mauer, vor der sich in der kleinen Tafel der Accademia das Martyrium des hl. Laurentius vollzieht. Das, was jene Werke, die Berenson dem von ihm so getauften „Amico di Sandro" zuwies und die seit längerem als Arbeiten des jungen Filippino akzeptiert sind 54 , trotz aller Nähe vom Werk des Lehrers Botticelli dann doch unterscheidet, lässt sich auch in der Darstellung der Marter und der Verherrlichung des hl. Laurentius der Florentiner Accademia aufweisen. In Hinblick auf die Ähnlichkeiten mit den um 1470 von Botticelli geschaffenen Judith- und Holofernes-Tafeln der Uffizien, die von Botticelli gemeinsam mit Filippino Lippi gemalte langrechteckige „Anbetung der Könige" (um 1470-75), in Hinblick auch auf die stilistische Nähe zur „Geschichte der Esther" und zur Londoner „Anbetung der Könige" die Luciano Berti und Umberto Baldini in die Jahre kurz vor 1480, Fiametta Gamba freilich schon in die mittleren 1470er Jahre datieren 55 , darf man für das in diesem Beitrag Filippino Lippi zugeschriebene Gemälde eine Entstehung in den mittleren 1470er Jahren für wahrscheinlich halten.
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Carlo GAMBA, Filippino Lippi e l'amico di Sandro, in: Miscellanee di storia dell'arte in onore di Igino Benvenuto Supino, Florenz 1933, S. 467ff. (nach einer Mitteilung von Herbert P. HÖRNE). Vgl. LLGHTBOWN, Sandro Botticelli, II (1978) (wie Anm.l) S. 209 u. BERTI/ BALDINI, Filippino Lippi (wie Anm. 30) S. 155. Zum Verhältnis Filippino Lippis zu Berensons „Amico di Sandro": GAMBA (wie Anm. 53). BERTI/ BALDINI, Filippino Lippi (wie Anm. 30) S. 42, S. 154f. und S. 158.
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Zeitaspekte der Skulptur Die strukturelle Zeit in plastischen Bildwerken
Mit dem Aufkommen der klassizistischen Kunsttheorien, die sich in Frankreich, England und Deutschland seit Beginn des 18. Jahrhunderts immer stärker durchsetzten, erlebten Malerei und Skulptur eine bis zu diesem Zeitpunkt wohl nicht gekannte Einschränkung hinsichtlich der Wahl ihrer Themen. Von theoretischer Seite aus zielte man dabei mit dem Hinweis auf die notwendige Einheit des Werks besonders auf den Ausschluss zeitlicher Prozesse in der Darstellung. Forderungen, wie sie Le Brun noch im 17. Jahrhundert an die Malerei gestellt hatte, dass diese, eben weil sie nur über einen einzigen Zeitpunkt der Darstellung verfüge, nicht allein das aktuelle Ereignis, sondern auch auf das dem Ereignis zeitlich Vorausgegangene verweisen muss, damit die Darstellung verständlich sei1, wurden ebenso undenkbar, wie die von den französischen Akademikern an der Figur des Laokoon vollzogene Analyse einer zeitlichen Abfolge von Reaktionen auf den Angriff der Schlangen, die sie in dieser Figur vereinigt sahen.2 Die nicht erst in Lessings „Laokoon" formulierte Trennung der Künste in Raum- und Zeitkünste3 sollte sich als derart prägend erweisen, dass selbst bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von vielen Wissenschaftlern an dieser Trennung festgehalten wurde, die die Wahrnehmung
Siehe dazu Le Bruns Ausführungen in der sechsten Conférence über Poussins „Mannalese". Der Text ist vollständig abgedruckt und übersetzt in: Jutta HELD, Französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und der absolutistische Staat. Le Brun und die ersten acht Vorlesungen an der königlichen Akademie, Berlin 2001, S. 339-367. Uber die Darstellung vorangegangener Handlungen siehe besonders die Seiten 366f. Siehe dazu die dritte Conférence an der Pariser Kunstakademie über die Figur des Laokoon. Ebenfalls vollständig abgedruckt und übersetzt in: HELD Französische Kunsttheorie (wie Anm. 1) S. 295-306. Die entscheidenden Stellen über die Verbindung mehrerer zeitlich aufeinander folgender Reaktionen finden sich auf den Seiten 302f. Siehe dazu Ernst H. GoMBRICH, Der fruchtbare Moment. Vom Zeitelement in der bildenden Kunst, in: Ders., Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1984, S. 42f.
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von Malerei und Skulptur bestimmt hat: Zeit gehörte nicht mehr zum Wesen der bildenden Kunst.4 Ausnahmen bestätigen die Regel: So muss in diesem Zusammenhang ebenso darauf hingewiesen werden, dass schon 1798 mit Goethes Aufsatz „Über Laokoon " eine theoretische Gegenposition gegen den Ausschluss von Zeit aus den bildenden Künsten formuliert wurde, die im 19. Jahrhundert bei Archäologen und Kunstwissenschaftlern wie Anselm Feuerbach, Carl Prien oder Jakob Burckhardt auf fruchtbaren Boden fiel.5 Obwohl sich die klassizistischen Theoretiker insgesamt gegen die Darstellung zeitlicher Prozesse und das Wirken von Zeit in den bildenden Künsten aussprachen, räumten einige von ihnen der Malerei einen Spielraum hinsichtlich der Visualisierung sukzessiver Handlungsabfolgen ein — auch wenn diese sehr verkürzt zu sein hatten.6 Die Darstellungs4
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Neben Ernst H. Gombrich widmete sich Lorenz Dittmann ausführlicher einer Kritik an der »Zeit-Vergessenheit« in den Geisteswissenschaften und besonders in der Kunstgeschichte. Siehe dazu Lorenz D I T T M A N N , Raum und Zeit als Darstellungsformen bildender Kunst. Ein Beitrag zur Erörterung des kunsthistorischen Raum- und Zeitbegriffes, in: Stadt und Landschaft — Raum und Zeit (Festschrift für Erich Kühn), hgg. von Alfred C. B O E T T G E R / Wolfram P F L U G , Köln 1969, S. 43-55. Siehe dazu Anselm F E U E R B A C H , Der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch ästhetischer Betrachtungen, Nürnberg 1833. Carl P R I E N , Über die Laokoon-Gruppe. Ein Werk der rhodischen Schule, Lübeck 1856. Jacob Burckhardt äußerte über die Gruppe des Laokoon in seinem „Cicerone": „Das erste, worüber man genau ins klare kommen muss, ist der Moment, dessen Wahl und Bezeichnung an sich schon ihresgleichen nicht mehr hat. Man wird finden, dass derselbe aus einem unvergleichlichen Zusammenwirken einer Anzahl Momente verschiedenen Grades besteht. In und mit diesen entwickeln sich die Charaktere zu einem Ausdruck, welcher in dem Kopfe des Vaters seinen höchsten Gipfelpunkt erreicht" (Jacob B U R C K H A R D T , Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, Neudruck der Urausgabe (Basel 1855), Stuttgart 1986, S. 476f.). Nicht erst Goethe empfahl in seinem Aufsatz „Über Laokoon" die Wahl eines dramatischen Wendepunktes, damit in der aktuellen Darstellung die Spuren eines vorausgegangenen Zustandes im Jetzt einen zeitlichen Rückverweis sichtbar werden lassen, wodurch die zeitlich Abfolge einer Handlung verbildlicht werden kann. Schon bei Shaftesbury und Diderot sind diese Möglichkeiten angelegt: Anthony Ashley Cooper S H A F T E S B U R Y , Das Urteil des Herkules, Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Briefe, hgg., übers, und komment. von Wolfram B E N D A / Wolfgang L O T T E S / Friedrich A. U E H L E I N und Erwin W O L F F , StuttgartBad Cannstatt 2001, S. 83ff; Denis D I D E R O T , Komposition in der Malerei (1754), in: Ders., Ästhetische Schriften, Bd. 1, hg. von Friedrich B A S S E N G E , Berlin 1984, S. 151. Im Unterschied zu Shaftesbury und Diderot entwickelte Goethe mit dem „pathetischen Ausdruck" ein Modell, das den Werken der bildenden Kunst eine mediale Autonomie gegenüber den ihnen zugrunde liegenden ikonographischen Vorlagen verschaffen sollte. Die dramatische Erzählung der bildenden Kunst sollte nicht
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grenzen der Skulptur wurden diesbezüglich noch einmal enger gesteckt. Ein Argument waren dabei unter anderem die gattungsspezifischen Grenzen der Plastik, die nach Meinung der Theoretiker keinen größeren erzählerischen Kontext zuließen. Zum Paradigma der Skulptur wurde das einzelne Standbild, die Statue, dessen zentrale Aufgabe es sein sollte, die schöne Form zur Anschauung zu bringen. 7 Die gattungsspezifische Beschränkung der Skulptur führte zu einem nochmals strengeren Gebot bezüglich der Wahl der darzustellenden Handlungsmomente und der darin zur Anschauung kommenden Zeitformen. 8 Darüber hinaus wurde mit dem Verweis auf die etymologische Wurzel des Begriffes Standbild — der zugleich auch einen Verweis auf den antiken Ursprung der Skulptur beinhaltet - und mit Betonung der besonderen Eigenschaften des Bildträgers, der in der Skulptur verarbeiteten Materialien, für den notwendigen Verzicht der Darstellung zeitlicher Prozesse in der Skulptur argumentiert. Berühmt ist in diesem Zusammenhang Giambattista Passeris Kritik an Francesco Mochis Skulptur der hl. Veronika in St. Peter in Rom (Abb. 32) ,9 Die Skulptur der aufgeregt vorwärts laufenden Heiligen wurde von Passeri dahingehend kritisiert, dass die Darstellung des Laufens unpassend wäre, da dies doch ein Standbild (statua) sei und statua besäße die etymologischen Wurzeln in den lateinischen Begriffen sto und stas, die bewegungslos, festgestellt (esser fermo), fest, stabil, beständig (stabile) und mit beiden Füßen stehend (in piedi) bedeuten würden. 10 Denis Diderot und Friedrich Basilius von Rahmdohr begründeten ihrerseits die Ablehnung der Darstellung von Bewegung und der damit
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mehr durch die sprachliche Vorlage zustande kommen, sondern durch die Sprachmöglichkeiten bzw. Ausdrucksmöglichkeiten der bildenden Kunst selbst. A m klarsten ist dieser Gedanke formuliert in Wilhelm HEINSE, Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787), hg. von Max L. BAEMER, Stuttgart 1998, S. 175. Siehe dazu auch: Christian Garve's Anzeige von Lessings Laokoon (1769), in: Lessings Laokoon, hg. und erläut. von Hugo BLÜMNER, Berlin 1880, S. 699ff. Siehe dazu: Denis DIDEROT, Bemerkungen über die Skulptur und Bouchardon (1763) und Aus dem Salon von 1765, Skulptur - Einleitung, in: DIDEROT, Ästhetische Schriften (wie Anm. 6) S. 4 8 5 ^ 9 2 und S. 6 1 0 - 6 1 7 . Rudolf PREIMESBERGER, Skulpturale Mimesis. Zu Mochis Heiliger Veronika, in: Artistic Exchange (Acts of the XXXVIIIth International Congress of History of Art), Bd. 2, Berlin 1992/1993, S. 475, äußert über die Entstehungsgeschichte der Skulptur: „Francesco Mochis Hl. Veronika, Ende 1629 in Planung, im November 1631 im Modell abgeschlossen, am 8. Februar 1632 an Ort und Stelle offiziell besichtigt, ab 1635 in Marmor ausgeführt [...]." Giambattista PASSERI, Vite de' pittori, scultori ed architetti che hanno lavorato in Roma. Morti dal 1641. fino al 1673, Roma 1772, S. 118.
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verbundenen Visualisierung von Zeit in der Skulptur mit dem Verweis auf die Materialeigenschaften der Bildträger Marmor und Erz. Beide Autoren betonten, dass die Schwere und Festigkeit der Materialien nur ruhende, unbewegliche und damit zeitlose Figurendarstellungen erlaube. Diderot bemerkte dazu: „Im allgemeinen gefallen uns ruhende Gegenstände in Erz und Marmor besser, bewegte Gegenstände dagegen besser in Farben und auf der Leinwand. Die Verschiedenheit des Materials macht hierbei etwas aus. Ein Marmorblock vermag nicht zu laufen." 11 Und Friedrich Basilius von Rahmdor äußerte in seiner groß angelegten Abhandlung „Charis oder Ueber das Schöne und die Schönheit in den nachbildenden Künsten" aus dem Jahr 1793 im Zusammenhang einer Bestimmung möglicher Stellungen in der Skulptur: „Die Stellung muß nicht nach den Regeln eingerichtet seyn, welche der Tanzmeister seinen Eleven zur Wohlgestalt einer höchst abwechselnden Bewegung gibt. Denn diese kontrastirt mit dem Wesen eines harten schwerfalligen Stoffes, der zu einem ewigen Anblick geschaffen ist." 12 In den Ausführungen Passeris, Diderots und Rahmdors ist Zeit an die dargestellten Bewegungen gebunden. Im Unterschied dazu soll im weiteren gerade nicht dieser Aspekt der in Kunstwerken dargestellten Zeit ins Zentrum des Interesses gerückt werden, wie es jene Aussagen über den Ausschluss transitorischer Handlungen aus dem Bereich der Skulptur nahe legen würden. Im Zentrum der Darlegungen steht das Phänomen der strukturellen oder immanenten Zeit in der Gattung Skulptur. 13
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Denis DIDEROT, AUS den Besprechungen zur bildenden Kunst. Auszug aus einem englischen Werk über Malerei, in: DIDEROT, Ästhetische Schriften (wie Anm. 6) S.482. Friedrich Basilius von RAHMDOR, Charis oder Ueber das Schöne und die Schönheit in den nachbildenden Künsten, Zweyter Theil, Leipzig 1793, S. 236f. Untersuchungen zur strukturellen Zeit von Skulptur sind in der kunsthistorischen Forschung bisher sehr randständig behandelt worden. Wichtige Ansätze finden sich bei Heinrich THEISSING, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987, S. 65ff. Die strukturelle Bildzeit wird von Etienne Souriau auch „intrinsic time of art" und von Brigitte Scheer „intrinsische Bildzeit" genannt. Siehe dazu Etienne SOURIAU, Time in the Plastic Arts, Journal of Aesthetics and Art Criticism, 7 (1949), S. 294—307. Brigitte SCHEER, Zur Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung in den bildenden Künsten, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 46/2 (2001/ 2002), S. 255-269. Neben der dargestellten und der strukturellen Zeit ist die Entstehungszeit von Kunstwerken ein dritter Zeitaspekt, der unter die Kategorie der Zeitstruktur von Kunstwerken fällt. Ausführlicher dazu Lorenz DLTTMANN, Überlegungen und Be-
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Die anschließenden Analysen werden zeigen, dass die strukturelle und die dargestellte Zeit nicht als unabhängige Kategorien im Kunstwerk auftreten. Im Gegenteil wird deutlich werden, welchen Einfluss die strukturelle Zeit auf die dargestellte Zeit nimmt und inwieweit beide zusammen die Bildzeit des Werks bestimmen. Dieser Zugang zur Skulptur, die Frage nach der Bedeutung der strukturellen Zeit für die Bildzeit der Plastik, ermöglicht nicht zuletzt auch neue Einsichten in so manche altbekannten Werke.
Die strukturelle oder immanente Bildzeit In seinem Aufsatz „Die Organisation des Raum-Zeit-Kontinuums im Kunstwerk" stellte der russische Kunsthistoriker Saparow über die strukturelle Zeit in Kunstwerken fest: „Sprechen wir von der Zeit des Kunstwerks, so meinen wir keine in bezug auf das Werk 'äußerliche', metrische Zeit (Minuten, Stunden, Jahre), die wie Kagan zu Recht bemerkt, 'das Sein einer Statue oder eines Gebäudes nur als das physikalische Objekt, der Zerstörung unterliegender Objekte berührt', sondern die eigene immanente Zeit des Kunstwerks als eines ästhetischen Phänomens, die weder mit der in ihm dargestellten (modellierten) Zeit noch mit der Zeit der Wahrnehmung identisch ist."14
Und weiter äußerte Saporow über das Phänomen der strukturellen Zeit, daß diese durch die „innere Gliederung und Organisation" des Kunstwerks bestimmt ist.15 Von Bedeutung ist dabei, wie Victor von Weizsäcker in allgemeiner Weise für das Verhältnis von Gestalt und Zeit
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obachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes, Neue Hefte für Philosophie, H. 18/19 (1980), S. 133f. Heinrich THEISSING, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987, S. 18ff. M. SAPAROW, Die Organisation des Raum-Zeit-Kontinuums im Kunstwerk, in: Kunst und Literatur (1976), S. 198. In historischer Perspektive kommt Etienne Souriau das Verdienst zu, die Existenz und Bedeutung der strukturellen Zeit für die Werke der bildenden Kunst nachdrücklich betont zu haben: „There is no longer a question of a simple psychological time of contemplation, but of an artistic time inherent in the texture itself of a picture or a statue, in their composition, in their aesthetic arrangement. Methodologically the distinction is basic, and we come here (notably with Rodin's remark) to what we must call the intrinsic time of the work of art." [SOURIAU, Time (wie Anm. 13) S. 296f.] Ein Problem des Aufsatzes von Souriau besteht jedoch darin, dass in den Beschreibungen die Elemente, die die dargestellte Zeit ausprägen, nicht immer sauber von denen getrennt werden, die die strukturelle (intrinsische) Zeit bedingen. Ebda. S. 198.
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in seinem gleichnamigen Buch „Gestalt und Zeit" ausführte, dass eine Gestalt (in unserem Sinne die gestaltete, gegliederte Skulptur) „nicht in der Zeit" entsteht oder besteht, „sondern Zeit in der Gestalt entsteht und vergeht, als Anfang und Ende, als Dauern und Vergehen. Die Zeitgestalt also eines Phänomens in der Wahrnehmung empfängt ihr Gesta/tetsein aus der Gestaltetheit dessen, was erscheint (wenn immer dies Zugrundeliegende überhaupt gestaltet ist, Gestalt besitzt)."16 An diese allgemeine Feststellung von Weizsäckers aus dem Jahr 1960 lassen sich die jüngsten Ausführungen der Frankfurter Philosophin Brigitte Scheer über die strukturelle Zeit in Werken der bildenden Kunst anscheinend bestens anknüpfen. In ihrem Aufsatz „Zur Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung in der bildenden Kunst" betont Scheer, dass in der künstlerischen Produktion Sinnbildungen geschaffen werden, „deren Zeitigungsverfahren mitgegeben sind".17 In Werken der bildenden Kunst wird der „Zeithorizont mitgestaltet, nicht nur das in ihm Erscheinende".18 Als die Mittel, welche maßgeblich an der Generierung des Zeithorizontes im Kunstwerk beteiligt sind, nennt Brigitte Scheer Farbe, Linie, Fläche und Hell-Dunkel. Diese Grundelemente bildnerischen Gestaltens tragen zur Strukturierung der immanenten Zeit eines Bildwerks bei.19 Sie erzeugen, so Scheer, „in ihrer Interaktion das Eigenzeitliche ihrer Erscheinung."20 Das Kunstwerk ist also nicht nur ein abgeschlossenes, feststehendes Gebilde, sondern zugleich ein wandlungsreiches Spannungsgefüge. „Das Präsentische, das durch die Gleichgegenwärtigkeit aller Bildelemente der herrschende Zeitmodus zu sein scheint, das BildSein also, wird immer schon konterkariert von dem Bild- Werden, das heißt dem innerbildlichen Verweisungsgeschehen, durch das sich überhaupt erst das Bedeutungshafte des Bildlichen vollzieht."21 16 17
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21
Zit. nach DlTTMANN, Überlegungen und Beobachtungen (wie Anm. 13) S. 137. SCHEER, Zur Zeitgestaltung (wie Anm. 13) S. 265. Ebda. S. 265. Ausführlicher da2u THEISSING, Die Zeit (wie Anm. 13). SCHEER, Zur Zeitgestalt (wie Anm. 13) S. 266. Schon 1 7 8 5 wies Philipp Gang in seiner Ästhetik darauf hin, dass die „Lebhaftigkeit" eines Kunstwerks mit „Licht, Glanz, Farben, Schatten, Finsterniß" zusammenhinge (Philipp GANG, Aesthetik oder allgemeine Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, Salzburg 1785, S. 224.). Implizit enthält der Hinweis Gängs auf die Lebendigkeit des Kunstwerks, die durch die genannten Mittel erzeugt wird, den Verweis auf eine in der Lebendigkeit sich ausdrückende Zeitlichkeit der Werke, die aber nicht weiter exemplifiziert wird. SCHEER, Zur Zeitgestalt (wie Anm. 13) S. 266.
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In etwas anderer Form, doch mit unmittelbar vergleichbarer Aussage, beschreibt Heinrich Theissing in seinem Buch „Die Zeit im Bild" die Bedingung für das Entstehen der strukturellen Bildzeit. Theissing spricht in diesem Zusammenhang von Qualitätsänderungen, die die immanente Zeit des Kunstwerks erzeugen: „Je mehr Qualitätsänderungen innerhalb seiner Strukturelemente und untereinander gegeben sind, um so mehr wird im Bild Zeit als Ablauf sichtbar. Denn konsistente Formen haben einigende Kraft. Je einfacher eine Form ist, desto mehr löst sie sich aus der Umgebung; alle Zeiterfahrung aber ist als Ablauf geknüpft an das Ineinander und die Verschmelzung der Formen, d.h. an ihren Wechsel. Er bestimmt die Erlebniszeit: »Die Gestaltpsychologie ist zu dem einleuchtenden Ergebnis gekommen, daß die Dauer der Wahrnehmung prägnanter Gestalten kürzer sei als für komplizierte [...].« Wo also eine geringe Fülle von Veränderungen auftritt, dehnt sie sich, und Dauer wird erfahren; wo aber eine große Fülle von Veränderungen auftritt, verkürzt sie sich, und Temporalität wird erfahren." 22 Welche Bedeutung der strukturellen Zeit für die Sinnstiftung eines Kunstwerks zukommt, bringt Brigitte Scheer am Beispiel des Historienbildes auf den Punkt. Hierzu bemerkt sie: „Auch im Historienbild ist die eigentliche Bildzeit diejenige Struktur des Bildes selbst, die erst in der Lage ist, die historische Zeit zur bildlichen Erscheinung zu bringen. Der strukturelle Bildprozess beziehungsweise die strukturelle Zeit ist das Fundament der Darstellung jeder spezifischen Zeitgestalt. Das Bild ist der Ort genuiner Zeitigung imaginierter Erscheinungen." 23 Brigitte Scheer soll an dieser Stelle nicht grundsätzlich widersprochen werden, doch gilt es über ihre Feststellung hinaus zu beachten, dass es im Kunstwerk immer zu einer Interaktion zwischen der dargestellten Zeit und der strukturellen Zeit kommt, woraus als Folge die jeweilige
22
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THEISSING, Die Zeit (wie Anm. 13) S. 58. Gottfried Boehm beschreibt das Entstehen der strukturellen Zeit im Kunstwerk als ein Phänomen, das durch Kontraste entsteht, die eine Relation der Elemente hervorrufen: Gottfried BOEHM, Bild und Zeit, in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. von Hannelore PAFLIK, Weinheim 1987, S. 7ff. SCHEER, Zur Zeitgestalt (wie Anm. 13) S. 267.
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Bildzeit des Kunstwerks resultiert, die sich als ein Geflecht aus beiden erweist.24
Die Flächenzeit: Die Binnenmodellierung plastischer Körper „So wie in einer anhebenden Bewegung des Meeres die zuvor stille Fläche in einer lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächst, wo eine von der anderen Verschlungen, und aus derselben wiederum hervorgewälzet wird: eben so sanft aufgeschwellet und schwebend gezogen, fließet hier eine Muskel in die andre, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken scheinet, verlieret sich in jene, und unser Blick wird gleichsam mit verschlungen."25 Diese Beschreibung des Torso vom Belvedere (Abb. 33) von Johann Joachim Winckelmanns zeigt geradezu mustergültig, welche Bedeutung der Gestaltung von Flächen an einer Skulptur in Form der Oberflächenmodellierung eines Körpers für die strukturelle Zeit der Plastik zukommt. Indem Winckelmann am Torso vom Belvedere das sanfte Auf- und Abschwellen der Muskeln mit der fließenden Bewegung von Wellen auf einem Meer vergleicht, beschreibt er eine bestimmte Rhythmisierung der Oberfläche. 26 In der Lebendigkeit der Oberfläche, die Winckelmann dem Leser vor Augen stellen will, prägt sich zugleich eine bestimmte Zeitform aus. Es ist keine monotone, unbewegte, leblose, sondern eine sanft bewegte Oberfläche. Das heißt: eine mit Zeit erfüllte Oberfläche. In der Erscheinung der Oberfläche manifestiert sich das potentielle Vorhandensein der strukturellen Zeit. In der metaphorischen Umschreibung der Oberfläche, dem sanften Auf-und-Ab der Wellen, teilt sich die ruhig fließende, an- und abschwellende Zeit mit, die an der Oberfläche des Torso die Wahrnehmung des Betrachters leitet. ,,[U]nser Blick wird gleichsam mit verschlungen" sagt Winckelmann, wenn wir 24
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Auf diesen Aspekt wies auch Lorenz D L T T M A N N , Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Farbgestaltung in Werken der Malerei, Tübingen 1977, S. 95 hin. Johann Joachim W I N C K E L M A N N , Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom (Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1759), in: Johann Joachim W I N C K E L M A N N , Kunsttheoretische Schriften X., Kleinere Schriften (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 349), Baden-Baden 1971, S. 37. Die Bedeutung konkaver und konvexer Oberflächenwerte und die von diesen hervorgerufene Rhythmisierung der Oberfläche plastischer Körper sind wichtige Aspekte im Zusammenhang von Kurt Badts Wesensbestimmung der Plastik [Kurt B A D T , Wesen der Plastik ( 1 9 6 2 ) , in: D E R S . , Raumphantasien und Raumillusionen. Wesen der Plastik, Köln 1963, o.S.].
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beobachten, wie die fließenden Wellen ineinander gleiten und sich vermischen. 27 Gegen das gerade Ausgeführte ließe sich einwenden, dass die Gestaltung der Oberfläche immer nur in Abhängigkeit zu der von einer Figur veranschaulichten Bewegung oder Handlung entsteht, somit die spezifische Rhythmisierung der Flächen des Skulpturenkörpers von der dargestellten Handlung abhängt und deswegen kein davon unabhängiges Strukturelement darstellt, das frei von der symbolisierten Zeit eine eigene Zeitstruktur des Werks mitbegründet. Ein Vergleich zwischen der Flächenmodellierung am Körper des Samson in Giambolognas Gruppe „Samson erschlägt einen Philister" (Abb. 34) von 1561/62 und der Flächengestaltung am Körper des Theseus in Antonio Canovas „Theseus und der Kentaur" (Abb. 35), zwischen 1805 und 1819 entstanden, veranschaulicht, dass, obwohl beide Figuren im Bereich des Oberkörpers in einer fast gleichartigen Stellung ausgeführt sind, eine deutliche Unterscheidung in der Flächenmodellierung gerade im Bereich der Oberkörper zu erkennen ist. Der Oberkörper des Theseus ist in großen, annähernd symmetrischen Flächen aufgeteilt. Dagegen ist der Oberkörper des Samson wesentlich kleinteiliger strukturiert. Obwohl beide Figuren auf dem dramatischen Höhepunkt eines Kampfes dargestellt sind, entsteht durch die großteilige, symmetrische und weniger bewegte Flächengestaltung am Oberkörper des Theseus eine zeitliche Ballung oder Stauung. Dagegen erzeugt die Flächenmodellierung am Körper des Samson eine rasch abfließende Zeitlichkeit.28
Die Materialzeit: Licht u n d Farbe In der Skulptur müssen neben der Flächengestaltung - in Form der Binnengliederung einer Figur — auch die Materialität des Werks und die 27 28
WlNCKELMANN, Beschreibung (wie Anm. 25) S. 37. Siehe dazu BADT, Wesen der Plastik (wie A n m . 25) o.S., der in allgemeiner Form davon spricht, dass die Oberflächengestaltung einer Plastik durch die spezifische Modellierung konkaver und konvexer Formen zur Darstellung „sammelnder, quellender, fließender Kräfte" führt. Da Badt in diesem Zusammenhang ebenfalls v o n der spezifischen Rhythmisierung der Oberfläche plastischer Bildwerke spricht, impliziert seine Aussage über die Formen der K r ä f t e zugleich den Hinweis auf die entsprechenden Zeitformen, die sich darin ausdrücken. Vgl. dazu weiterhin die Ausführungen von Heinrich Theissing über die Erkenntnisse der Gestaltpsychologie auf der Seite 71 dieses Textes.
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damit einhergehenden Färb- und Lichtwirkungen als weitere Kriterien berücksichtigt werden, auf die sich die strukturelle Zeit der Skulptur gründen. Ein Beispiel, an dem sich die von der Materialität und der Wirkung der Oberfläche abhängigen Zeitstrukturen darstellen lassen, ist der Vergleich der marmornen Kopie der antiken Laokoon-Gruppe von Baccio Bandinelli (Abb. 36) mit der in Bronze ausgeführten Kopie derselben Gruppe, die unter der Leitung von Francesco Primaticcio 1542 bis 1543 erstellt wurde (Abb. 37). Gerade die Tatsache, dass ein Kunstwerk in verschiedenen Materialausführungen vorliegt, kann die Auswirkung des Materials und der Oberflächenbehandlung auf die Zeitstruktur der beiden Skulpturengruppen besonders deutlich machen. Alle drei Figuren sind nebeneinander aufgereiht. Laokoon ist durch seine Größe als Zentrum der Darstellung von den beiden Söhnen geschieden, woraus die pyramidale Staffelung der Gruppe resultiert. Auf Frontalansicht angelegt, führt die Reihung der Figuren dazu, dass jede einzeln zur Anschauung gelangt. Besonders in der marmornen Gruppe wird dieser Aspekt mittels der Materialität pointiert. Obwohl die Gesten der Figuren und die Windungen der Schlangenleiber eine formale Verbindung unter den Figuren leisten, führt die großflächigere Bündelung des Lichts auf der marmornen Oberfläche der einzelnen Körper dazu, dass diese jeweils länger für sich wirken. Die großflächigen Lichtpartien bedingen, dass das Auge des Betrachters länger auf jeder einzelnen Figur verweilt. Zudem weist die Oberfläche der Schlangenkörper weniger intensive Lichtpartien auf, wodurch Vater und Söhne — obwohl die Schlangen sie formal verbinden — optisch voneinander gelöst werden, wodurch sie zeitlich nacheinander und einzeln zeitlich länger wahrgenommen werden. Im Unterschied dazu ist die Lichtführung auf der Oberfläche der Bronze-Kopie wesentlich unruhiger. Das Licht wird hier nicht auf den einzelnen Partien der Körper zu größeren Flächen gebündelt. Das Licht fließt rascher, in mannigfaltiger Streuung über die Oberfläche. Hierdurch wird die Wahrnehmung der einzelnen Figuren und der Gruppe immer wieder umgelenkt. Daraus folgt, dass sich die einzelnen Figuren und die Gruppe als Ganzes in kürzere Zeitphasen und in diskontinuierliche Zeitabschnitte gliedern. Zudem führt das unruhige Lichtspiel auf den die Figuren verkettenden Schlangenleibern dazu, dass die Einzelfiguren zeitlich weniger ausgedehnt zur Geltung kommen. In der Bronzekopie
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unterstützen die Schlangen aufgrund der spezifischen Materialwirkung nachdrücklicher die zeitliche Verdichtung der Szene.29 Im Unterschied zu der marmornen Gruppe bedingt der dunkle Ton der Bronze in der Kopie Primaticcios des weiteren eine optisch dichtere Verknüpfung der Figuren. Die Erscheinung der Gruppe ist von silhouettenhaftem Charakter, wodurch die einzelnen Formen stärker gebündelt werden. Die Figuren scheinen optisch dichter aneinander zustehen, was ihre zeitliche Einzelwirkung gegenüber der marmornen Gruppe ebenfalls verkürzt, zudem ihr Zusammenspiel untereinander zeitlich rafft: Die Szene erscheint optisch und damit auch zeitlich verdichtet. Die strukturelle Zeit der bronzenen Gruppe ist momenthafter und flüchtiger. Dagegen ist die innere Zeitstruktur der marmornen Gruppe ausgedehnt. Die Wirkung des Marmors unterstützt die zeitliche Ausbreitung, Auseinanderlegung, Auseinanderfaltung des Geschehens. Die Wirkung der Bronze bedingt, dass die innere Zeit der Gruppe verschlungener verläuft und sich die Dramaturgie in kurze, wechselhafte Zeitabschnitte gliedert. Weitere Beispiele, die die Bedeutung der Materialwirkung und der Oberflächengestaltung für die strukturelle Zeitdeminsion von Skulptur besonders anschaulich werden lassen, sind der „Herkules Pomarius" von Adriaen de Vries von 1626/27 (Abb. 38) und dessen „Ringergruppe" von 1625 (Abb. 39). Selbstbewusst, sich in der Hüfte wiegend, schreitet de Vries „Herkules Pomarius" mit großem Schritt nach vorne aus. Nicht nur der rückwärtige linke Fuß, der lediglich mit den Zehen und einem Teil des Ballens auf der Erde ruht, auch die fließenden Konturen des Körperbaus veranschaulichen den transitorischen Prozess des wiegenden Schreitens wirkungsvoll. Auf ideale Weise wird dieser transitorische Prozess durch die fließend modellierte Oberfläche und das gleißend über die Figur strömende Licht 'grundiert'. Nur der Bronzeguss ermöglicht eine derart weiche Modellierung. Zudem lässt der farbige Kontrast der dunklen schwarz-braunen Bronze und der weißen Lichtpartien das helle Aufleuchten des Lichts verstärkt hervortreten, womit das Strömen des Lichts auf dem Körper der Figur nachdrücklich zur Geltung gelangt. 29
Zu beachten ist diesbezüglich natürlich, dass die Fotografien der Gruppen jeweils eine eigene Lichtinszenierung durch den Fotografen implizieren. Dennoch spricht dieser Aspekt nicht gegen die jeweils vom Künstler erzeugte Oberflächenwirkung einer Skulptur. Würde man beide Gruppen der selben Lichtsituation aussetzen, dann kämen die Unterschiede ebenfalls zum Vorschein. Darüber hinaus unterliegt die Präsentation von Skulpturen immer einer Inszenierung.
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Das Fließen der Oberfläche und das Strömen des Lichts erzeugen im Zusammenspiel eine sich rasch wandelnde immanente Zeitstruktur, die den transitorischen Akt des imaginierten Gehens bestens 'fundiert'. Auch in der 1625 entstandenen „Ringergruppe" wird die transitorische Handlung des Ringens, die hier in einen Moment gebündelt ist, ideal von der durch das Material hervorgerufenen Zeitstruktur 'grundiert'. In diesen Figuren ist es ebenfalls die weich fließende Bewegung der Konturen, die weich fließende Modellierung der Oberfläche und das gleißend über die Körper strömende Licht, die ein eigenes zeitliches Gerüst schaffen, in das der dargestellte Moment eingebettet ist. Wagt man einmal das gedankliche Experiment und stellt sich das Ringerpaar in Gips gefertigt vor, wird die Bedeutung das Materials und seiner Behandlung für die Zeitstruktur der Plastik noch einmal deutlicher. Die stumpfe Oberfläche des Gipses, der damit einhergehende Verlust eines reichen, wie auch immer gearteten Lichtspiels, ob impressionistisch punktuell oder eher in Bahnen fließend, würde den dargestellten Moment der transitorischen Handlung des Ringens einfrieren oder verfestigen. Das Fließen der Zeit, wie es in der Oberfläche des „Herkules Pomarius" und der „Ringergruppe" zur Anschauung kommt, würde durch die Materialität des Gipses gestoppt — der pulsierende Rhythmus der strukturellen Zeitdimension der Skulpturen würde aufgehoben werden. Ein Blick auf das Gipsmodell von Giambologna zum „Raub der Sabinerin" (Abb. 40) mag das gerade beschriebene noch einmal verdeutlichen. An der Oberfläche der Körper scheint die spiralförmige Bewegung und die sich in den Gesten der Figuren ausdrückende Zeit eingefroren, auf Ewigkeit feststehend. In diesem Zusammenhang ist die im 17. und 18. Jahrhundert häufiger geäußerte, anschaulich unmittelbar nachvollziehbare Kritik an der Materialität des Gipses, der im Vergleich zum Marmor eine Skulptur tot erscheinen lasse, während Marmor den Anschein von Lebendigkeit erzeuge, von Wert. 30 Eine tote Sache ist zugleich der konkreten Zeitlichkeit enthoben. Es ist die dem Material Gips
30
Gleichzeitig entwickelte sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert aber auch eine besondere „Ästhetik des Steinemen". Die tote, leblose Oberfläche der Skulptur wurde dabei zu einer besonderen Qualität von Skulptur. Siehe dazu Hans KÖRNER, Versteinerte Skulpturen. Oberflächenwerte der Skulptur von Gianlorenzo Bernini bis zu Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen, in: Sinne und Verstand. Ästhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800, hgg. von Caroline WELSCH/ Christina DONGOWSKL/ Susanna LULE, W ü r z b u r g 2 0 0 1 , S. 1 0 3 - 1 2 6 .
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eigene Wirkung, die den Eindruck des Leblosen und damit einer unendlichen Dauer — der unendlichen Zeit — hervorruft. Das mit der Kritik an dem spezifischen Materialcharakter des Gipses einhergehende Lob der Lebendigkeit des Marmors impliziert eine in der Lebendigkeit des Materials zur Anschauung gelangende potentielle Zeitlichkeit, die jedoch nicht näher bestimmt ist. Ein Eintrag Goethes vom 25. Dezember 1786 aus der „Italienischen Reise" kann abschließend das Gesagte noch einmal illustrieren: „Der Marmor ist ein seltsames Material, deswegen ist Apoll vom Belvedere im Urbilde so grenzenlos erfreulich, denn der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreien, ewig jungen Wesens verschwindet gleich im besten Gipsabguß. Gegen uns über im Palast Rondanini steht eine Medusenmaske, wo in einer hohen und schönen Gesichtsform über Lebensgröße das ängstliche Starren des Todes unsäglich trefflich ausgedrückt ist. Ich besitze schon einen guten Abguß, aber der Zauber des Marmors ist nicht übriggeblieben. Das edle Halbdurchsichtige des gelblichen, der Fleischfarbe sich nähernden Steins ist verschwunden. Der Gips sieht immer dagegen kreidenhaft und tot."31
Bekanntlich ist im Klassizismus ein deutlicher Wandel in der Gestaltung skulpturaler Oberflächen wahrzunehmen. Das Postulat, dass der Skulptur als Raumkunst lediglich die Darstellung eines Moments zustehende und dieser Moment idealerweise so gewählt sein solle, dass darin eine zeitliche Verzögerung, ein zeitliches Stocken, mithin eben kein transitorischer Prozess zur Anschauung kommt, spiegelt sich nicht nur in vielen von den Bildhauern gewählten Momenten, sondern auch in der Gestaltung der Oberflächen ihrer Werke. Eine monotone Einheitlichkeit lässt sich in den Werken nicht feststellen. Zu unterschiedlich sind bei genauer Betrachtung die Oberflächenerscheinungen an marmornen Skulpturen eines Antonio Canova (Abb. 35) oder Bertel Thorvaldsen (Abb. 41). Dennoch zeichnen sich die Oberflächen ihrer Werke gegenüber denen manieristischer oder barocker Skulpturen durch ein stärkeres Gleichmaß aus. Diese Tendenz manifestiert sich in der Zurücknahme der plastischen Oberflächenmodellierung in Form konkaver und konvexer Formenvielfalt. Zudem äußert sie sich in der Wahl matterer Oberflächen, der Zurücknahme von Färb- und Lichtschimmer. 32 Besonders in den 31
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Johann Wolfgang GOETHE, Italienische Reise (Hamburger Ausgabe), hg. und komment. von Herbert VON EINEM, München 1999, S. 151. Siehe dazu auch KÖRNER, Versteinerte Skulpturen (wie Anm. 28) S. 106ff.
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Werken Thorvaldsens ist die Bevorzugung einer stumpfen, matten Oberfläche augenfällig, die den Fluss der Zeit verlangsamt, Zeit staut. Stumpferes Material — dies wurde mit dem Verweis auf die Wirkung von Gips in einer negativen Weise bereits belegt — ist weniger lichthaltig, somit weniger direkt und unmittelbar. Je gleichförmiger und stumpfer das Material ist, desto gleichförmiger, dauerhafter und gedehnter ist die dadurch vermittelte Zeitlichkeit. In diesen Werken sind die theoretischen Forderungen der klassizistischen Ästhetik nicht nur in der Wahl der dargestellten Handlung, sondern auch in der Gestaltung der Oberflächen manifest. Der geforderte Ausschluss von Zeit in Form rasch dahin fließender Zeitlichkeit bzw. die Forderung der Darstellung einer ewigen Dauer oder zumindest einer Annäherung daran wird auch durch die Materialzeit vermittelt. In der gleichförmigen, großflächigen, ebenen und mattierten Oberfläche drückt sich ein ruhiges zeitliches Gleichmaß aus, keine flüchtige oder schnell verrinnende Zeit.
Das raum-zeitliche Verhältnis von Figuren in der kompositorischen Anordnung Auch die räumliche Zuordnung von Figuren in einer Paar- oder Gruppendarstellung besitzt eine Auswirkung auf die Innerzeitlichkeit des Kunstwerks. Dabei kann die aus der strukturellen Disposition entspringende Zeitform zugleich auch eine Auswirkung auf die mimetische Zeitdarstellung der gewählten Handlung besitzen: strukturelle und dargestellte Zeit vermischen sich miteinander. Je nachdem, welchen räumlichen Abstand bei einem Figurenpaar oder einer Gruppe die einzelnen Figuren voneinander besitzen, kann nicht nur der szenische Charakter der Darstellung verstärkt oder abschwächt werden, auch die zeitliche Struktur der Darstellung kann variieren. So können, trotz der Wahl desselben Moments aus einer ikonographischen Vorlage oder eines vergleichbaren Moments aus unterschiedlichen Vorlagen, in zwei Kunstwerken deutlich voneinander abweichende Zeitformen auftreten. Stehen beispielsweise in einem der Werke die Figuren weiter auseinander, so hat dies eine Auswirkung auf die strukturelle Zeit, obwohl die Figuren dasselbe oder ein vergleichbares Thema darstellen. Die Vereinzelung der Skulpturen, die durch die größere räumliche Trennung herbeigeführt wird, bedingt, dass jede einzelne Figur länger zur Geltung gelangt: Jede einzelne Skulptur innerhalb
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des szenischen Ensembles enthält somit ein Mehr an potentieller Zeit. Die Ausdehnung des zwischen den Figuren befindlichen Raums bewirkt zudem eine Dehnung der inneren Zeitstruktur des Kunstwerks: So kann die dramatisch verkürzte Ereignishaftigkeit einer bestimmten Szene, die sich durch die Haltung und Gesten der Figuren vermittelt, zugleich von einer ausgedehnteren Raum-Zeit-Struktur umhüllt sein. Ein Beispiel für das gerade Beschriebene bietet die Aufstellung der drei einzeln, in einem deutlichen Abstand nebeneinander stehenden Figuren der „Hinrichtung des Täufers" am Florentiner Baptisterium, ein Werk Vincenzo Dantis aus der Zeit um 1568/1569 (Abb. 42). 33 Vergleicht man mit dieser Aufstellung die Szene der „Hinrichtung des Hl. Paulus" in S. Paolo Maggiore in Bologna von Alessandro Algardi aus den Jahren 1634 bis 1644 (Abb. 43), dann ist die Hinrichtungsszene in Bologna räumlich kompakter, wodurch der szenische Charakter wesentlich stärker hervortritt. In Florenz wirken die Figuren weniger stark im Verbund, sondern einzeln für sich. Obwohl beide Henker den Arm zum Schlag erhoben haben, müsste der Henker in Florenz noch wenigstens einen, wenn nicht sogar zwei Schritte auf Johannes zugehen, um den Schwerthieb richtig zu platzieren. Durch die räumliche Spanne erfahrt die Florentiner Hinrichtungsszene eine zeitliche Dehnung. Dagegen ist die Bologneser Darstellung aufgrund der Dichte der Figuren zeitlich gerafft. Eine Auswirkung auf die zeitliche Struktur beider Werke besitzt auch deren unmittelbare räumliche Umgebung. In Florenz tragen die architektonischen und dekorativen Vorgaben an der Außenwand des Florentiner Baptisteriums und die zentrale Ädikula als Rahmen um Johannes weiterhin zu einer von der Darstellung in Bologna abweichenden Zeitstruktur bei. Im Unterschied zu der räumlichen Situation in Florenz, wo alle drei Figuren einzeln gerahmt sind, ist die Szene in Bologna von einer einzigen Rahmenarchitektur umschlossen. Obwohl in beiden Darstellungen der gleiche Moment — der letzte Moment vor dem Niederführen des Schwerts — geschildert ist, bedingen die Zusammenstellung der Figuren, die Dichte der Aufstellung bzw. der bestehende Abstand zwischen ihnen sowie die unmittelbare räumliche Umgebung abweichende Zeitformen.
Zur Datierung des Werks siehe Joachim PoESCHKE, Die Skulptur der Renaissance in Italien. Michelangelo und seine Zeit, München 1992, S. 231.
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Im Kontext einer Zeitanalyse von Algardis Szene der „Enthauptung des Paulus" ist es wichtig über das bisher Gesagte hinausgehend zu betonen, dass die zeitliche Raffung, die die Szene im Vergleich mit Dantis Werk prägt, im Zusammenhang eines Vergleiches mit Barockskulptur wiederum an Tempo verliert.34 Dieser Verlust ist jedoch keinesfalls negativ, sondern positiv zu konnotieren, denn die Zweiteilung des Werks und die daraus resultierende räumliche Trennung der Figuren — auch wenn diese nicht so groß ist wie in Dantis Werk in Florenz — bedingt als Gegengewicht zu der Temporalität der Szene eine zeitliche Aufladung der einzelnen Figuren und damit eine zeitliche Ausweitung des Ereignisses — in Form einer zeitlichen Verzögerung. 35 Die im Vergleich zu Dantis Hinrichtungsszene geraffte Darstellung der Hinrichtung des Paulus erlangt durch den Zusatz der zeitlichen Dehnung ihre besondere Eindringlichkeit: Dramatik, erzeugt durch die Temporalität, und Pathos, mittels der zeitlichen Dehnung bewirkt, verbinden sich zu dem eindrücklichen Charakter der Szene. Zudem führt die Kombination der beiden Zeitformen dazu, dass die Protagonisten nicht dem dramatischen Szenario unterliegen. Darüber hinaus bedingt das besondere Zusammenspiel aus Temporalität und Dehnung in Algardis Werk, dass der Aufschub des anstehenden Moments der Hinrichtung für den Betrachter 34
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Ein prägender Unterschied, der die Barockskulptur von der manieristischen Skulptur scheidet, ist die zeitliche Unmittelbarkeit der dargestellten Ereignisse in der Barockskulptur. Barockskulptur ist allgemein durch ein hohes Maß an Momentaneität gekennzeichnet, was die Werke stärker mit der Quattrocento-Skulptur als mit der Cinquecento-Skulptur verbindet. In der manieristischen Skulptur erhält dagegen der Moment einen zugleich der konkreten Zeit enthobenen Charakter, scheint Teil einer ewigen Dauer zu sein. Diese paradoxe Zeitstruktur erwächst im Manierismus durch die größere Artifizialität der Werke, wie sie sich beispielsweise in der figura serpentinata als spiralförmiges Kompositionsprinzip ausdrückt. Vergleicht man Algardis Szene mit einem anderen Werk der Barockzeit, beispielsweise mit Gianlorenzo Berninis „Apoll und Daphne" (1622/25), dann wird deutlich, wie stark sich in Algardis Werk die räumliche Trennung der Skulpturen und die separaten Basen gegenüber der physischen Dichte der Figuren in Berninis Skulptur auf die Zeitstruktur auswirken. Die Raschheit und das Plötzliche des Ereignisses wird in Berninis Werk maßgeblich durch die ungebrochene Dichte der Figuren getragen. Auf die Bedeutung des Freiraums zwischen den beiden Figuren für die zeitliche Dimension des Werks von Algardi wies bereits Bruce Boucher hin (Bruce BOUCHER, Italian Baroque Sculpture, London 1998, S. 56). Obwohl die Feststellung von Boucher richtig ist, ist seine Analyse des Phänomens äusserst dürftig. Allgemein gilt, dass innerhalb eines szenischen Kontextes die Vereinzelung von Figuren, die durch separate Marmorblöcke und eigene Sockel bedingt sein können, zu einem Stocken des Zeitflusses, einem Zeitriss oder einer Dehnung der Zeit führen kann.
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das Wissen um das Kommende (wie in einem Thriller) noch unerträglicher macht. Ein weiteres Beispiel, das die Differenzierung zeitlicher Strukturen in plastischen Kunstwerken aufgrund der räumlichen Beziehungen der vorhandenen Figuren eindrücklich veranschaulicht, ist der Vergleich der Laokoon-Gruppe von Adriaen de Vries (Abb. 44) mit dem antiken Vorbild (Abb. 45). Adriaen de Vries schuf 1623 die Gruppe „Laokoon und seine Söhne". Im Unterschied zu dem antiken Vorbild hat de Vries die Figuren nicht nebeneinander, sondern ineinander verschlungen und kandelaberartig übereinander getürmt in die Höhe angeordnet. Hierdurch wird die zeitliche Verknüpfung über die Form viel enger als in der antiken Gruppe. In dem antiken Vorbild werden die horizontal nebeneinander aufgereihten Figuren einzeln für sich wahrgenommen. Die Schlangen leisten zwar eine räumliche und zeidiche Verkettung der Figuren, doch wird aufgrund der waagerechten Reihung von Vater und Söhnen in einzelnen Schritten eine Chronologie der zeitlichen Abfolge geschaffen. (Diese Tatsache führte dazu, dass Goethe in seiner Analyse der Gruppe von der Gestaltung eines skulpturalen Dramas in drei Akten sprechen konnte). In der antiken Gruppe besitzt jede Figur über den verknüpfenden Akt des Angriffes der Schlangen hinaus ihre eigene Zeitlichkeit, die zu der recht großen Zeitspanne innerhalb der Gruppe beiträgt: von dem eingetretenen Tod des jüngsten Sohnes über den letzten verzweifelten Versuch des Vaters, dem tödlichen Biss der Schlange zu entfliehen, hin zu dem die Tat bisher noch unbeschadet beobachtenden Sohn links. Die horizontale Reihung der Figuren unterstützt, oder besser: trägt die zeitliche Abfolge, die mittels der Schlangen zu einer raumzeitlichen Einheit verknüpft wird, ohne dass dabei die Chronologie, die durch die Anordnung der Gruppe geschaffen ist, aufgelöst wird. Im Unterschied dazu trägt die stark abgewandelte Komposition der Gruppe bei de Vries zu einer zeitlichen Verdichtung und zur Auflösung der gleichförmigen zeitlichen Abfolge des Vorgangs bei. Und dies, obwohl de Vries, wie Lars Olof Larsson zurecht betont, „in sehr viel stärkerem Maße als unmittelbar ersichtlich an die Charaktere, Haltungen und Bewegungsschemata der antiken Figuren angeknüpft hat." 36 In de
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Lars Olof LARSSON, Imitatio und Aemulatio. Adriaen de Vries und die antike Skulptur, in: Ausstellungskatalog Adriaen de Vries 1556—1626. Augsburgs Glanz — Europas Ruhm, Augsburg 2000, S. 69.
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Guido Bluter
Vries' Komposition sind die Figuren ineinander geschoben und knäuelartig ineinander verwickelt. Die dichte Verkettung der Leiber, die durch die Windung der Schlange nochmals pointiert wird, verkürzt im Werk von de Vries die Dauer der Szene: spitzt sie dramatisch zu, macht sie momenthafter. In der durch die Disposition der Figuren generierten strukturellen Zeit ist der zeitliche Fokus nicht so sehr auf jede einzelne Figur und deren individuelles Schicksal und die damit verbundene individuelle zeitliche Dimension gelenkt, sondern auf das zeitgleiche aktuelle Schicksal aller Beteiligten: deren zeitgleiche 'Verwicklung' in das Drama. In dem Werk „Laokoon und seine Söhne" wird die eingangs des Textes geäußerte These noch einmal nachdrücklich manifest, dass sich die strukturelle Zeit mit der dargestellten Zeit verbindet und dieser dabei ihren zeitlichen Rahmen steckt, und aus dieser Konstellation die jeweilige Bildzeit eines Werks hervorgeht. Da sich de Vries in der Darstellung seiner Figuren deutlich an der antiken Gruppe orientierte, ist die dargestellte Zeit in beiden Gruppen sehr ähnlich: der Tod des jüngeren Sohnes, die noch offenere Situation des älteren Sohnes sowie der Tod bringende Angriff der Schlange auf Laokoon selbst. Doch anders als in der antiken Gruppe ist der zeitliche Rahmen durch die abgewandelte immanente Zeitstruktur des Werks gerafft und wesentlich stärker momenthaft zugespitzt. Entgegen der von den klassizistischen Theoretikern verfochtenen und bis heute verbreiteten Auffassung, dass die bildende Kunst eine Raum- und keine Zeitkunst sei, dürfte sich durch die vollzogenen Analysen erwiesen haben, dass Zeit eine zentrale Kategorie von Bildhauerei ist. Die wissenschaftliche Wahrnehmung der Skulptur scheint allerdings immer noch besonders nachhaltig durch das Diktum der klassizistischen Kunstauffassung bestimmt zu sein. Dieser Umstand spiegelt sich nicht zuletzt in der geringen Anzahl kunsthistorischer Forschungsarbeiten über das Phänomen von Zeit in der Skulptur wider. 37 Eine Kunstge37
Eine wichtige Arbeit zu diesem Themengebiet ist das Buch von Berthold SCHMITT, Giovanni Lorenzo Bernini. Figur und Raum (Saarbrücker Hochschulschriften, 29), Röhrig 1997. Anders als es der Titel vermuten lässt, widmet sich Schmitt ausführlich dem Zusammenhang von Raum und Zeit und deren Bedeutung für die Skulpturen von Bernini. Als Studien, die sich entweder unter anderem dem Phänomen von Zeit in der Skulptur widmen oder das Phänomen der Zeit auf interessante Weise in die Analyse von Skulpturen einfließen lassen, seien in Auswahl genannt: Götz POCHAT, Bild - Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit, Wien/ Köln/ Weimar 1996. Frank, BROMMER, Die Wahl des Augenblicks in der griechischen Kunst, München 1969. Klaus HERDING, Pierre
Zeitaspekte der Skulptur
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schichte, die sich zukünftig der Aufarbeitung dieses Residuums in der Forschung widmet, sollte dabei stets berücksichtigen, dass die Bildzeit der Skulptur nicht singulär aus der dargestellten oder der strukturellen Zeit geschlossen werden kann, sondern immer nur aus deren beider Zusammenwirken.
Puget. Das bildhauerische Werk, Berlin 1970; Rudolf: KUHN, Die Dreiansichtigkeit der Skulpturen des Gian Lorenzo Bernini und des Ignaz Günther, in: Festschrift für Wilhelm Messerer zum 60. Geburtstag, hg. von Klaus ERTZ, Köln 1980, S. 231-249; Rudolf PREIMESBERGER, ZU Berninis Borghese-Skulpturen, in: Antikenrezeption im Hochbarock, hgg. von Herbert BECK/ Sabine SCHULZE, Berlin 1989, S. 109-127. Der Verfasser arbeitet zur Zeit an einer Habilitationsschrift, die sich dem Phänomen der Zeitlichkeit in der Skulptur widmet.
Tanja Michalsky
Landschaft beleben Z u r Ins2enierung des Wetters im Dienst des holländischen Realismus
Einen Aufsatz über Landschaftsmalerei in einem Band über „Bilderzählungen" zu finden, wird auf den ersten Blick überraschen, steht doch die Landschaftsmalerei gerade für jene Bilder, die nicht erzählen, sondern darstellen bzw. beschreiben, wie Svedana Alpers es genannt hat.1 Insbesondere die holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts wird in einem verwandten Sinn als 'realistisch' bezeichnet. Als ihre besondere Qualität gilt die Wiedergabe eines Landstriches, in dem ganz im Gegensatz zu der vorherrschenden Historienmalerei gerade nichts besonderes passiert, sondern das möglichst genau und unprätentiös wiedergegebene Land allein der Betrachtung anheimgestellt wird. Ein Blick auf Philips Könincks „Panoramalandschaft" (Abb. 46) bestätigt, dass dort jegliche menschliche Handlung auf miniaturhafte Größe geschrumpft ist, dass nicht einmal die im Mittelgrund platzierte, bis heute nicht identifizierte Stadt zur Protagonistin erklärt werden kann und dass statt dessen eine lockere Ansammlung von Bauernhäusern an einer Straße liegt, die unseren Blick in die Tiefe lenkt, wo er von den mäandernden Ufern diverser Gewässer aufgenommen wird. Unhinterfragt neigen wir dazu, ein derart die Landschaft präsentierendes Bild als Realistisch' einzustufen, weil sein Sinn weder in einer Erzählung zu suchen sein kann, noch in der Evokation einer besonderen Sensation, wie wir sie etwa aus der romantischen Landschaftsmalerei kennen, und ebenso wenig in der Autonomie der Kunst selbst, die sich erst später durchsetzt. Der Sinn muss — so denken wir — wenn er nicht in einer im 17. Jahrhundert häufig anzutreffenden verborgenen Botschaft liegt, wie es von Ikonologen immer wieder beteuert wird, 2 im Bezug auf die dargestellte Rea1
2
Svetlana ALPERS, The A r t o f Desribing. Dutch A r t in the Seventeenth Century, Chicago 1983, zit. nach der dt. Ausgabe, Kunst als Beschreibung, Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1988. Vgl. als Vertreter einer ikonologischen Lesart der holländischen Landschaftsmalerei: Wilfried WlEGAND, Ruisdael Studien: Ein Versuch zur Ikonologie der Landschaftsmalerei, Hamburg 1 9 7 1 ; Hans Joachim RAUPP, Zur Bedeutung v o n Thema und Symbol für die holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, Jahrbuch der
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lität liegen, die hier im Bild zur Erscheinung kommt. Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, den nunmehr Jahrzehnte andauernden Streit zwischen Ikonologen und Anhängern der Alpers-Schule erneut aufzurollen. Mein Anliegen ist vielmehr, denjenigen bildlichen Strukturen und Strategien, die hartnäckig den Eindruck von Realismus hervorrufen, ein Stück weit näher zu kommen. Und obgleich ich erst nach einem Umweg über verschiedene Definitionen des Realismus anhand von Beispielen meine These begründen werde, möchte ich sie vorab formulieren: Der Modus der Zeidichkeit, der in den Landschaften des 17. Jahrhunderts mit einer neuen Inszenierung des Wetters vorgetragen wird, hat entscheidenden Anteil an dem Rezeptionserlebnis, in dem die Betrachter vermeinen, sich in eine raum-zeitliche Realität einzuschreiben, deren ästhetische Grenze geschickt vertuscht wird. In diesem Sinn ist der Titel des Beitrages zu verstehen. Die holländischen Landschaftsbilder beziehen ihre den Realismus generierende Stärke unter anderem daraus, dass sie einen kontingent wirkenden Ausschnitt des alltäglichen Lebens zeigen, den ihre Betrachter in der Aneignung selbst beleben können. Wie ,Realismus' mit der in dieser These anklingenden Rezeptionsästhetik in Einklang zu bringen ist, gilt es vorab zu klären. Es versteht sich, dass .Realismus' hier nicht als Epochenbezeichnung des 19. Jahrhunderts verwendet wird, sondern als ein Repräsentationsmodus, der Bildern verschiedener Zeiten zugesprochen werden kann und mit deren Wirklichkeitskonzeption einhergeht. 3 Diesen Modus zu definieren und methodisch in den Griff zu bekommen, stellt sich als ausnehmend schwierig heraus, will man sich nicht auf den Zirkel einlassen, ein Bild
3
Staatlichen Kunstsammlung in Baden Württemberg 17 (1980), S. 85-110; DERS, Ansätze zu einer Theorie der Genremalerei in den Niederlanden, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46 (1983) S. 401-418; Jan BlALOSTOCKl, Einfache Nachahmung der Natur oder symbolische Weltschau. Zu den Deutungsproblemen der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 47 (1987) S. 421-438; Josua BRUYN, Toward a Scriptual Reading of Seventeenth-Century Dutch Landscape Paintings, in: Masters of Seventeenth Century Dutch Landscape Painting, Kat. Ausst. Amsterdam-Boston-Philadelphia, hg. von Peter SUTTON, 1987/88, S. 84-120; Eddi DE JONGH, Die Sprachlichkeit der niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert, in: Leselust. Kat. Ausst. Frankfurt 1993, hg. von Sabine Schulze, Stuttgart 1993, S.23-33, bes. S. 28. Vgl. Art. .Realismus', Historisches Wörterbuch der Philosophie, 8 (1992), Sp. 1 4 8 - 1 7 8 , bes. zu Literatur und K u n s t , Sp. 1 6 9 - 1 7 8 . K l a u s HERDING, Mimesis
und Innovation. Überlegungen zum Begriff des Realismus in der bildenden Kunst, in: Zeichen und Realität (Akten des 3. Semiotischen Kolloquiums der Deutschen Gesellschaft für Semiotik), hg. von Klaus OEKLER, Tübingen 1984, S. 83-113.
Landschaft beleben
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sei dann realistisch, wenn es der Realität entspreche, oder sie, wie es metaphorisch oft heißt .spiegele'. Wie beharrlich dieser Zirkelschluss sich hält, lässt sich an dem betreffenden Eintrag im Dictionary of Art von 1996 zeigen, der unter „realism" folgendes vermerkt: „Movement in mid- to late 19th century art, in which an attempt was made to create objective representations of the external world based on the impartial observation of contemporary life". 4 Sämtliche Vorurteile eines letztlich unkritischen Umgangs mit dem Begriff 'Realismus' sind hier nämlich noch immer versammelt: Obgleich der Autor von einem Versuch spricht, so hält er die Versuchsanordnung doch für sinnvoll — die Versuchsanordnung nämlich, ein Künsder suche bzw. schaffe eine objektive Darstellung der äußeren Welt, die auf einer unvoreingenommenen Beobachtung des zeitgenössischen Lebens basiere. Die prekären Prämissen liegen in der Annahme einer für sich existierenden, äußeren Welt und der Möglichkeit ihrer unvoreingenommenen Beobachtung — die in einem zweiten Schritt in deren Darstellung überführt werden könne. Gleiches gilt bezeichnenderweise auch für das Stichwort „naturalism" — einem Begriff, der auch in der deutschen Kunstgeschichtsschreibung häufig synonym mit .Realismus' verwendet wird, wo es heißt: „It implies a style in which the artist tries to observe and then faithfully record the subject before him without deliberate idealization or stylization". 5 Der Autor dieses Artikels räumt zwar ebenfalls ein, dass der Naturalismus etwa eines Caravaggio sehr wohl mit allegorischen Absichten einhergehen könne, er betont jedoch, dass die holländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts hier eine Ausnahme machte. 6 Trotz verschiedener turns in den Kulturwissenschaften, vom "linguistic-" über den „pictorial-" bzw. „iconic"- bis zu dem zuletzt ausgerufenen „spatial-turn", die allesamt mit unterschiedlichen Akzenten und fachspezifischen Vorlieben die Strukturierung und Zeichenhaftigkeit der nur im Diskurs zugänglichen Welt betont haben, 7 scheint die Macht des 4
5
' 7
James H. RUBIN, Art. .Realism', Dictionary of, Art, Bd. 26 (1996), S. 52-57, hier S.52. Gerald NEEDHAM, Art. Naturalism', Dictionary of Art, Bd. 22 (1996), S. 685-689, hier S. 685. Ebda. S. 686. Man kann sich kaum so schnell drehen, wie die turns ausgerufen werden. Der lingustic turn, der die Welt zum Text erklärt hatte, war gefolgt vom pictorial turn, wobei vor allem die erst seit kurzem aus diesem Diskurs erwachsenen Bildwissenschaften unter dem Eindruck neuer Medien die Macht der Bilder in der Vorstellungswelt betont haben. Der spatial tum (so genannt von Denis COSGROVE, Mapping Meaning, in:
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Realismus doch so groß zu sein, dass er, basierend auf einem dualistischen Prinzip, immer wieder als das Produkt von Beobachtung der Welt und 'treuer' Erinnerung im Medium der Malerei begriffen werden kann. Es scheint mir daher nötig, explizit vorwegzuschicken, dass ich hier — unter Berufung auf die jüngere kulturwissenschaftliche Diskussion — unter 'Realität' eine je kulturell kodierte Mischung aus Texten, Bildern und Räumen verstehe, die sich der kollektiven Imagination in immer neuen Versionen einschreibt. Realismus als Qualität eines Bildes kann demzufolge nur eine historisch-konventionelle, von Malern und Betrachtern gemeinsam etablierte Darstellungsform dieser Realität sein, einer Realität, die ihrerseits zu einem nicht unbeträchtlichen Teil bereits bildhaft ist. Auch in der Kunstgeschichte ist diese Einschätzung keineswegs neu, allerdings variieren die Vorstellungen davon, wie Realismus generiert wird. Verständlicherweise hat gerade die Forschung zur Landschaftsmalerei hierzu einige Thesen vorgebracht, die vor dem Hintergrund von zwei Bildbeispielen kurz referiert werden sollen. Bei den Beispielen handelt es sich um Jacob von Ruisdaels „Hügellandschaft mit Eiche" (1652/55) 8 aus dem Herzog-Anton-Ullrich Museum in Braunschweig (Abb. 47) und Philips Könincks bereits erwähnte Panorama-Landschaft Mapping, hg. v. DEMS., London 1999, S. 1-23, hier S. 7), dessen Verfechtern zufolge der Aufbau historischer und sozialer Welt sich nicht zuletzt einem dynamischen, von Kommunikation besummten Raum verdankt, ist meines Wissens die jüngste (für das hier verhandelte Argument relevante) Wendung, weshalb nur dazu einige Literaturangaben folgen: Zum Begriff des Raums in den Kulturwissenschaften schon früh: Jaques FONTANILLE, Les espaces subjetifs, Introduction ä la semiotique de l'observateur (discour-peinture-cinema), Paris 1989; Bernhard JAHN, Raumkonzepte der Frühen Neuzeit: Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen, Frankfurt u.a. 1993; Räume des Wissens, Repräsentation, Codierung, Spur, hgg. von Hans-Jörg RHEINBERGER/ Bettina WAHRIG-SCHMIDT/ Michael HAGNER, Berlin 1997. Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, hg. von Jan A. AERTSEN, Berlin/ New York 1998; Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt M. 2001; Politische Räume, hg. von Cornelia JÖCHNER, Berlin 2003. Zuletzt fanden eine Reihe von Veranstaltungen statt, deren Akten im Druck sind: „Andere Räume der Moderne - Topographien", Tagung am Zentrum für Literaturforschung in Berlin im Oktober 2002, "Verklärung, Vernichtung, Verdichtung: Raum als Kategorie einer Kommunikationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts", Tagung des Arbeitskreises Geschichte und Theorie in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut, Essen im Februar 2003. 106 x 138 cm, vgl. dazu zuletzt: Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft, Kat. Ausst. Hamburger Kunsthalle, hg. von Martina SLTT u.a., Zwolle 2002, Kat. Nr. 32, S. 112f.; Seymour SLIVE, Jacob van Ruisdael. A Complete Catalogue of His Paintings, Drawings, Etchings, New Häven 2001, Kat. Nr. 84, S. 114f. mit Lit.
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aus dem Rijksmuseum in Amsterdam (1655) 9 (Abb. 46). Beide Werke sind späte, der Experimentierphase längst enthobene Produkte, die für einen Markt gemalt wurden, auf dem sie ihres Publikums sicher sein konnten. 10 Während Ruisdael quasi trotz aller realistischen Elemente eine heroische und symbolisch aufgeladene Variante bietet, steht Köninck gemeinhin für die lapidare, 'unvoreingenommene' Version des in seiner langweiligen Flachheit erfassten Landes. Ich habe diese beiden Bilder ausgewählt, weil sie sich für die Argumente verschiedener Fraktionen gut eignen — es soll an dieser Stelle jedoch nicht um eine regelrechte Interpretation der Bilder gehen. 1983 erschien nicht nur Alpers Buch „The Art of Describing", in dem sie die These einer holländischen Sehkultur entfaltete und die "Beschreibung" zur Haupteigenschaft der Bilder erklärte, sondern auch Norman Brysons „The Logic of the Gaze". Erstaunlicherweise vertraten die beiden Herausgeber von representations, wie in ihren Buchtiteln bereits anklingt, völlig unterschiedliche Haltungen im Umgang mit Realismus. Alpers spricht zwar im oben angeklungenen Sinn vom „picturing" als einem Bilder-Machen', das nicht nur Künstlern vorbehalten, sondern eine kollektive Angelegenheit nicht zuletzt auch der Wissenschaft sei — dennoch transportiert ihre Hauptkategorie, nämlich jene des Beschreibens, das bereits erwähnte Problem, dass der Akt des Beschreibens Subjekt und Objekt habe, und dass sich das Gelingen der möglichst unvoreingenommenen, rein visuellen Beschreibung an ihrem Bezug zum Dargestellten bemesse. Sie sagt ausdrücklich: „Tatsächlich kann man viele Werke als .beschreibend' kennzeichnen, die wir sonst häufig Realistisch' nennen". 11 Beschreibend bzw. realistisch sind Bilder nach Alpers dann, wenn sie nur das Gesehene oder Gemessene wiedergeben, wenn sie, wie etwa in der Optik der Zeit verhandelt, das Netzhautbild auf
9
133 x 167,6 cm, vgl. dazu Masters of 17 th -Century Dutch Landscape Painting, Kat. Ausst. Amsterdam, Bosten u. Philadelphia, hg. von Peter C. SUTTON, Boston 1987, Kat. Nr. 53, S. 3 6 7 - 3 6 9 . Zu Köninck s. noch immer die Monographie von Horst GERSON, Philips Köninck, Berlin 1935; eine kurios aufgemachte, aber eine Reihe von interessanten Beobachtungen und Material bietende Studie über Könincks Landschaft im Museum Boymans Van Beuningen in Rotterdam ist: Kees VOLLEMANS, Het raadsel van de zichtbare wereld. Philis Köninck, of een landschap in de vorm van een traktaat, Amsterdam 1998
10
Vgl. den jüngsten Sammelband zum Thema mit weiterführender Literatur: Kunst voor de markt, 1 5 0 0 - 1 7 0 0 / Art for the Market 1500-1700, hgg. von Reindert FALKENBURG u.a., Zwolle 2000 [Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 50, 1999]. ALPERS, Describing (wie Anm. 1) S. 27.
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Papier oder Leinwand bringen, oder die Daten der Landvermessung in die Fläche projizieren. Die Kunst des Beschreibens gehört bei ihr in den größeren Kontext einer Engführung von Kunst und Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert, die auch schon Kenneth Clark 1949 in seinem Kapitel "The landscape of fact" unter Hinweis auf Christian Huyghens und „the age of Observation" angedeutet hatte. 12 Philips Köninck gilt bei Alpers in diesem Sinne als Beispiel der kartenartigen und damit (quasi neutral) beschreibenden Wiedergabe von Landschaft, in der (wie in der zeitgenössischen Kartographie) lediglich die Oberfläche des Landes wiedergegeben werde. 13 Die besondere Faktur des Bildes und seine immersionsfördernde Komposition werden zugunsten der Gemeinsamkeiten mit der Karte ausgeblendet. Um es ganz deutlich zu sagen: Der Ansatz von Alpers, das „Bildermachen" in Kunst und Wissenschaft als eine kollektive, historische Anstrengung der Weltkonzeption zu erklären, war höchst fruchtbar und hat viele neue Einsichten in die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts befördert. 14 Das Problem besteht meines Erachtens in dem Terminus „Beschreibung", der ihr eigenes Hauptargument, nämlich die historische Konzeptionalisierung der Welt, eher verschleiert als klärt. Durch die Parallelisierung von Landschaftsbildern mit Produkten der zeitgenössischen Kartographie, wird die Malerei gleichsam als wissenschaftlich nobilitiert. Der historische Versuch vorurteilsfreier Beobachtung und Beschreibung wird so methodisch auf eine Stufe mit dem Realismus der Malerei gestellt - die spezifischen Strategien der Maler, die sie in Absetzung von Kartographen unternehmen, um ihre Werke besonders wirklichkeitsnah und realistisch im Sinne einer erfahrbaren Wirklichkeit zu gestalten, geraten dabei allerdings aus dem Blick. 15 12
Kenneth CLARK, Landscape into Art, London 1949, zit. nach der Ausgabe von 1997, S. 60.
13
Vgl. ALPERS, Describing (wie A n m . 1) S. 2 5 3 .
14
Stellvertretend für die zahlreichen auf Alpers aufbauenden Studien sei hier lediglich ein Sammelband genannt, der die relevanten Fragen zur holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts vorführt: Looking at Seventeenth-Century Dutch Art. Realism Reconsidered, hg. von Wayne FRANITS, Cambridge 1997. Vgl. zum Verhältnis von Bildern in Wissenschaft und Kunst: Picturing Knowledge. Historical and Philosophical Problems Concerning the Use of Art in Science, hg. von Brian S. BAIGRIE, Toronto u.a. 1996; Picturing Science, Producing Art, hgg. von Caroline A. JONES/ Peter GALISON, New York/ London 1998. Vgl. die Kritik bei David FREEDBERG, Science, Commerce, and Art. Neclected Topics at the function of History and Art History, in: Art in History. History in Art, hgg. von DEMS./Jan de VRIES, Santa Monica 1991, S. 377-428, bes. S. 4 1 2 ^ 1 5 .
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Norman Bryson verwehrte sich, wenngleich in anderem Zusammenhang, ausdrücklich gegen die Vorstellung einer „essentiellen Kopie", derzufolge die Malerei eine Fortschrittsgeschichte wäre, in der sie sich dem Vorbild, also der Welt, immer weiter annähern würde oder sie kopieren könnte. Ihm zufolge führt die Trennung von Maler und Welt methodisch nicht weiter — sondern er stellt fest, dass der Wirklichkeitseffekt dadurch zustande komme, dass das realistische Bild besonders viele Informationen mit sich führe, die mit den Aufgaben der Bedeutungserzeugung und Erzählung nicht direkt zu tun haben. 16 Auf Könincks Landschaft bezogen könnte man sagen, dass es die Vielzahl von Farbnuancen und Formen, die hintereinander gestaffelten, gerade nicht mit einem einzigen Blick zu erfassenden Details sind, die den Eindruck erwecken, dass wir es hier mit einem .realistischen' Bild zu tun haben — einem realistischen Bild, das nicht auf eine Erzählung oder Bedeutung zugespitzt ist, sondern vorgeblich alles, was dort zu sehen ist, auch abbildet. Um den Unterschied deutlich zu machen: Alpers erklärt Landschaften wie die Könincks mit dem in der Kartographie entwickelten Aufzeichnungssystem, das möglichst viele Daten aufzunehmen trachtet, und bewertet dies als historisches Phänomen der Landbeschreibung. Bryson hingegen betont die Art der gemalten Darstellung, die auch ohne Bezug auf konkrete Daten den Eindruck von Realismus befördert. 1987 formulierte Peter Sutton in der Einleitung zum Bostoner Katalog zur holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts „we no longer rest easy with uncomplicated notions of a naive Dutch realism chronicling the countryside with the literalness of a camera lens" und benannte damit das oben geschilderte Problem. 17 Er plädierte in seinem materialreichen, wie vor allem auch theoretisch fundierten Überblick dafür, die Bilder als Uberformungen der Natur zu interpretieren, denen im Gegensatz zum 16. Jahrhundert nicht nur nationale Geschichte eingeschrieben war, sondern ebenfalls das als rekreativ bewertete Vergnügen des Städters mit der längst als Gegensatz begriffenen Natur des Landes. Könincks Panoramalandschaften sind in seinem Blick keines16
17
Norman BRYSON, Vision and Painting, The Logic of the Gaze, London 1983, zit. nach der dt. Ausgabe, Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks, München 2001, S. 90 und S. 84. SUTTON, Introduction, in: Masters (wie Anm. 2) S. 1 - 6 3 , hier S. 1. Die Einleitung Suttons in die holländische Landschaftsmalerei ist bis heute der grundlegende Text für eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Thema. Er bietet nicht nur einen fundierten Überblick über das chronologisch aufgearbeitete Material, sondern darüber hinaus vielfache Anregungen und Nebenwege.
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wegs beschreibend und kartenartig, sondern evozieren durch ihre Größe und den winzigen Maßstab der Figuren Ehrfurcht und Absorption zugleich.18 Ebenfalls 1987 wollte Jan Bialostocki in Reaktion auf Alpers die beiden Interpretationspole von Nachahmung und symbolischer Weltschau als gleichberechtigte Varianten pluraler Deutungsmöglichkeiten etablieren.19 Und tatsächlich macht es angesichts vieler Bilder eines Ruisdael wenig Sinn, speculum mundi und speculum morale gegeneinander auszuspielen, wissenschaftliches Beobachten und moralisches Deuten strikt zu trennen. Denn ebenso wie Ruisdael eine wahrscheinliche, aber topographisch nicht korrekte Landschaft aus der Gegend um Bentheim zeigt, so gibt es dort auch die prominente Eiche mit ihrer angestrahlten Wunde - so gibt es die rastende Frau und die Wanderer und so gehört zu der dargestellten Realität schließlich nicht nur die Oberfläche dessen, was man sieht, sondern ebenfalls unzählige Konnotationen von Natur, Leben und Wanderschaft. Wie Lawrence Goedde es 1989 in seiner Arbeit über die holländischen Bilder von Schiffbrüchen ausgeführt und 1997 nochmals gebündelt hat: Bezeichnend ist die Kombination von Selektion und Vielfalt der Bezugnahme, über die wir vor lauter ,Realismus' schnell geneigt sind, hinwegzusehen.20 Sowohl für Köninck wie für Ruisdael gilt, dass Landschaften mit besonderen Qualitäten, Flachheit oder Hügeligkeit, fernsichtiger Flusslandschaft oder nahsichtigen Bäumen, in einem sorgsam gewählten Ausschnitt, mit einer eigens zurechtgelegten Perspektive etc. — nicht zuletzt zu einem bestimmten Moment gezeigt werden, die jeweils einen anderen Betrachter im Bild etablieren,21 um dessen Imagination von Realität es letztendlich geht. Gerade in der Fiktion des Unmittelbaren liegt, um nochmals Goedde zu zitieren, eine Kunst, die sich im höchsten Maße ihrer eigenen Mittel bewusst ist,22 und die sich gerade nicht in den Dienst der Beschreibung stellt, sondern — ihre eigenen Methoden vertuschend — Blicke und Bilder besonders eindrücklich etabliert. is 19 20
21
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Ebda S. 49. BIALOSTOCKI, Einfache Nachahmung (wie Anm. 2). Lawrence Otto GOEDDE, Tempest and Shipwreck in Dutch and Flemish Art, University Park/ London 1989, XVII, und DERS., Naturalism as Convention. Subject, Style and Artistic Self-Conciousness in Dutch Landscape, in: FRANITS, SeventeenthCentury Dutch Art (wie Anm. 14) S. 1 2 9 - 1 4 3 , hier S. 131. Wolfgang KEMP, Der Betrachter ist im Bild. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983. GOEDDE, Naturalism (wie Anm. 20) S. 143.
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Nach den Arbeiten von Catherine Levesque über „Journey through Landscape" (1994) und Walter Gibsons „Pleasant Places" (2000),23 die beide die ästhetischen Strategien beschrieben und erneut den Stolz der Holländer auf Prosperität und Freizeit herausgestrichen haben, kann es heute als Stand der Forschung gelten, dass sich hinter dem Phänomen der realistischen Landschaft ideologische Implikationen verbergen, die sich nicht allein durch ikonologische Methoden oder Wissenschaftsdiskurse auflösen lassen, sondern in der Form des realistischen Bildes selbst verankert sind. Darüber hinaus dürfte selbst in der hier stark verkürzten Darstellung klar geworden sein, dass Realismus per se keine neutrale Angelegenheit ist, und dass Realismus weniger im Bezug auf eine vorgefundene Wirklichkeit als in der durch Konventionen bestimmten Relation von Bild und Betrachter konstituiert wird, einem Betrachter, der offensichtlich im Nordeuropa der Frühen Neuzeit gelernt hat, eine kontingent scheinende Ansammlung von visuellen Daten für die unmittelbar sich zeigende Realität zu halten. Um es noch einmal an unseren Beispielen festzumachen: Auf Anhieb sind wir als moderne Betrachter und mit Alpers eher gewillt, der Fassung von Köninck das Label einer realistischen, richtigen, exakten oder objektiven Beschreibung zuzugestehen, während wir bei Ruisdael mit Panofsky und den späteren Verfechtern der Ikonologie eine versteckte Botschaft wittern. Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass Ruisdael seine Versatzstücke dramatischer komponiert und die Einzelteile in ihrer Besonderheit über sich hinauszuweisen scheinen, während Köninck mit seinem höchst artifiziellen Farbauftrag zwar keineswegs den Gegebenheiten der einzelnen Objekte gerecht wird, dafür aber einen Gesamteindruck schafft, der es anscheinend dem Betrachter überlässt, Bedeutung zu generieren, oder negativ formuliert: der jede über die DarCatherine LEVESQUE, Journey through Landscape in Seventeenth-Century Holland. The Haarlem Print Series and Dutch Identity, University Park 1994; DIES., Landscape, Politics, and the Prosperous Peace, in: Natuur en landschap, hgg. von Reindert FALKENBURG u.a. [Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 48 (1998)] S. 2 2 3 - 2 5 7 ; Walter S. GIBSON, Pleasant Places. The Rustic Landscape from Bruegel to Ruisdael, Berkeley 2000. Vgl. auch Julie BERGER HOCHSTRASSER, Inroads to SeventeenthCentury Dutch Landscape Painting, [Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 48 (1997)] S. 1 9 3 - 2 2 1 ; sie konnte herausarbeiten, dass die Landstraßen der holländischen Landschaftsmalerei wohl schon von Zeitgenossen nicht als das alltägliche Verkehrsnetz, das Städte verband, angesehen wurden (dieses wurde durch ein System von erheblich preiswerteren Fähren organisiert), sondern vielmehr als ein Zeichen für die ländliche Idylle, in die sich auch die städtische Bevölkerung im 17. Jahrhundert mit zunehmender Begeisterung begab.
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Stellung hinaus weisende Bedeutung geradezu von sich weist. Mit unterschiedlichen Akzenten bieten allerdings beide Bilder die Fiktion, die dargestellte Landschaft, in der nichts Aufsehenerregendes passiert, in der es also keine Handlung im engeren Sinn gibt, sei ganz so wie es auch für die Wirklichkeit gelten soll nur für den Betrachter da, und könne von ihm nach seinem Belieben durchmessen werden. Konstitutiv für diese Wahrnehmung - und darauf kommt es in unserem Zusammenhang an — ist nicht zuletzt der Modus der Zeitlichkeit, der hier zwischen der Angabe eines durch Wetter und bewegte Staffagefiguren definierten Momentes und der auf Dauer angelegten Rezeption changiert. Gerade weil keine Handlung geschildert wird, ist der Betrachter selbst zum Ergreifen der dargestellten Natur aufgefordert. Er wird zum Handelnden, wenn er sich in diese Landschaft einschreibt, deren .realistisch' anmutende Einzigartigkeit nur partiell durch die räumlichen oder lokalen Bedingungen gegeben ist und die zu einem guten Teil auch durch das Wetter bestimmt wird, also einer Größe, die per Definition mit dem Wandel in der Zeit zusammenhängt. Peter Sutton hatte darauf ganz beiläufig hingewiesen, als er bemerkte: „Im Holland des 17. Jahrhunderts wurde die menschliche Ordnung von den unkultivierten und zufälligen Elementen der Natur dominiert; anstelle der Variationen von Jahreszeiten, blenden Effekte des Wetters Sonnenlicht und Schatten über die Strukturen der Kultur. Die Zufälligkeit ist immer kunstvoll kalkuliert, der unheroische Aspekt sehr selektiv konzipiert." 24 Meine darauf aufbauende These zum Verhältnis von Realismus und Zeitlichkeit lautet: Das Wetter, verstanden als die atmosphärische Beschaffenheit eines Ortes zu einem distinkten Zeitpunkt, 25 übernimmt bei einem Großteil der holländischen Landschaftsmalerei nicht nur die Funktion der Stimmungsträgerin, sondern verstärkt jenen Eindruck von Kontingenz, der seinerseits, wie Bryson zu recht beobachtet hat, dem Wirklichkeitseffekt zuarbeitet. Erst durch das Wetter wird der landschaftliche Raum zu einem Ort, der auch zeitlich definiert ist, der also in seiner atmosphärischen Erlebbarkeit eine Geschichte bekommt, an der der Betrachter wie an einer raum-zeitlichen Realität teilhaben kann.
24 25
SUTTON, Introduction (wie Anm. 17) S. 57. Wetter wird in der Brockhausausgabe in 24 Bänden v o n 1 9 9 6 definiert als der „physikalische Zustand der Atmosphäre zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort".
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Stellen wir in einem gewagten, weil leicht aufgrund der dazwischen liegenden Zeitspanne und der unterschiedlichen Darstellungsintention angreifbaren Vergleich das Herbstbild aus Pieter Bruegels Jahreszeitenzyklus (Abb. 49) neben die Ansicht Könincks: 26 Das 1565 entstandene Bild muss selbstverständlich vor dem Hintergrund des Zyklus von ehemals insgesamt sechs Bildern gesehen werden, in dem es gerade nicht um die Darstellung eines Ortes, sondern um die Darstellung der Natur in ihrem zyklischen Verlauf ging. Der exemplarische Anspruch manifestiert sich in der Überschaulandschaft ebenso wie in der für den Herbst typischen Szene der zurückkehrenden Herde.27 Worauf es bei dem Vergleich ankommt, ist der Unterschied in der Rhetorik des Wetters, das ja auch für Bruegels Bild von großer Bedeutung ist, weil nicht zuletzt das Wetter zu den bestimmenden Eigenschaften einer Jahreszeit gehört. Immer wieder hervorgehoben wird die Stimmungshaftigkeit von Bruegels Jahreszeiten, die sich vor allem in der reduzierten Farbwahl und -mischung äußert, die ihrerseits hier als Folge des herbstlichen, verhängenden Himmels zu verstehen ist. Zudem fährt Bruegel eine Reihe von düsteren, hoch am Himmel hängenden Wolken auf, und ganz generell muss man davon ausgehen, dass seiner Darstellung eine recht genaue
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Vgl. zum Zyklus der Jahreszeiten: Hans J. VAN MLEGROT, The '12 months' reconsidered: how a drawing by Pieter Stevens clarifies a Bruegel enigma, Simiolus, 16 (1986) S. 29-35; Iain BUCHANAN, The collection of Niclaes Jongelick: II. The 'Months' by Pieter Bruegel the Elder, Burlington Magazine 132 (1990), S. 541-550 mit ält. Lit.; Walter S. GIBSON, Mirror of the Earth, The World Landscape in 16th Century Flemish Painting, Princeton 1989, S. 71 ff. Tanja MICHALSKY, Imitation und Imagination. Die Landschaft Pieter Bruegels im Blick der Humanisten, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit, hg. von Hartmut LAUFHÜTTE (9. Treffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung, 30. Juli - 2. August 1997) Wiesbaden 2000, S. 383-405; DIES., L'atelier des songes. Die Landschaften Pieter Bruegels d.Ä. als Räume subjektiver Erfahrung, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit (Int. Tagung, Frankfurt 14.-16. Juni 1997) hgg. von Klaus KRÜGER/ Alessandro NOVA, Mainz 2000, S. 123-137. Zum Begriff der Überschaulandschaft vgl. Justus MÜLLER HOFSTEDE, Zur Interpretation von Bruegels Landschaft. Ästhetischer Landschaftsbegriff und Stoische Weltbetrachtung, in: Pieter Bruegel und seine Welt. Ein Colloquium des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität Berlin und dem Kupferstichkabinett, hgg. von Otto VON SLMSON/ Matthias WINNER, Berlin 1979, S. 73-142. Müller Hofstede setzte sie von der „Weltlandschaft" ab - s. dazu: Detlef ZLNKE, Patinirs ,Weltlandschaft'. Studien und Materialien zur Landschaftsmalerei im 16. Jahrhundert, Frankfurt u.a. 1977; GIBSON, Mirror (wie Anm. 26).
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Beobachtung von Wetterphänomenen vorausgegangen ist. 28 Der Unterschied zu Könincks Landschaft besteht nun aber nicht nur darin, dass er dem Himmel aufgrund des zugrunde liegenden Raumschemas weniger Raum zubilligt, sondern vielmehr darin, dass die Wolken nur eine globale Verdunkelung des Hintergrundes nach sich ziehen, dass auf punktuelle Lichtphänomene jedoch zugunsten der umgreifenden Atmosphäre verzichtet wird. Dies gilt nicht nur für das Herbstbild, sondern ebenso für den Frühling, 29 wo von einem mit wenigen Wolken bestückten Himmel die Sonne auf eine hügelige Landschaft herunterscheint, in der Bauern energisch der Heuernte nachgehen — oder für die Kornernte, 30 in der das heiß-schwüle Klima sich wiederum in dem dominanten Gelb und dem fahlen Himmelsblau wie auch den rastenden Arbeitern niederschlägt. So schwierig es ist, aufgrund der dargestellten Handlung der Ernte in Bruegels Bild nicht auch einen Moment zu sehen — so dürfte doch im Unterschied zu Könincks Landschaft deutlich werden, dass der Akzent nicht auf dem Moment sondern auf der Tätigkeit in einer von der Jahreszeit bestimmten Atmosphäre liegt. Bei Köninck hingegen ist zwar kein Moment im Sinne einer Handlung zugespitzt, die vielen Wolken, die fast zu einer Decke zusammengeballt sind, lassen jedoch das Licht nur an wenigen Stellen hindurch und strukturieren das Land. Ganz im Gegensatz zu Bruegels Fassung fällt die jahreszeitliche Bestimmung schwer — der Eindruck, dass die Landschaft im nächsten Augenblick schon wieder etwas anders aussehen würde, ist jedoch präsent. Anders gesagt: es gehört zu dieser Landschaft, dass sich ihr Anblick ändert, wir haben scheinbar zufällig diese Variante vor Augen — und durch diese Rhetorik des zufälligen Moments scheint die Vermittlung und Konzeption durch den Maler eliminiert. 28
29 30
Das Lob von Bruegels Zyklus in der Forschungsliteratur aufzuführen, wäre uferlos. Exemplarisch sei verwiesen auf die einfühlsamen Beschreibungen in der älteren Forschung: Max J. FRIEDLÄNDER, Pieter Bruegel, Berlin 1921, S. 134; Charles DE TOLNAY, Pieter Bruegel l'ancien, Brüssel 1935, S. 37-41; Fritz NOVOTNY, Die Monatsbilder Pieter Bruegels d.Ä., Wien 1948 passim; sowie: CLARK, Landscape (wie Anm. 12) S. 56f.; Erich STEINGRÄBER, 2000 Jahre Europäische Landschaftsmalerei, München 1985, S. 147f. Gina CRANDELL, Nature Pictorialized. The ,View' in Landscape History, Baltimore 1993, S. 90f. Die genaue Beobachtung von natürlichen wie kulturellen Phänomenen wurde von Volkskundlern hervorgehoben s. Arthur HABERLANDT, Das ,Herbstbild' oder ,Die Heimkehr der Herde' Pieter Bruegels d.Ä., Beiträge zur Volkskunde Tirols, Festschrift für Hermann Wopfner, 2 Bde., hg. von R. von KLEBELSBERG, Innsbruck 1947/48, S. 8 9 - 1 0 0 . 1 1 4 x 158 cm, Prag, Närodni Galerie. 1 1 8 x 160,7 cm, New York, Metropolitan Museum of Art.
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Nehmen wir als deutlicheres Beispiel Jacob van Ruisdaels „Weizenfelder" in New York von 1670 (Abb. 48) .31 Über die ganze Breite des Vordergrundes führen die Furchen eines Weges in die sonnenbeschienene Mitte des Bildes, wo eine Frau mit Kind steht, der demnächst jener Mann begegnen wird, der von rechts den Weg entlangläuft. Kompositorisch höchst geschickt und die ansonsten wohl ehre lapidare Begegnung dramatisierend türmen sich über dem stark in die Tiefe ziehenden dunklen Weg inmitten der hellgelben Felder hohe Kumuluswolken. Licht und Schatten teilen das Bildfeld in deutlich getrennte Kompartimente. Ihr scharfes Aneinandergrenzen sowie die quellenden Formen am Himmel indizieren das schnelle Ziehen der Wolken, wodurch der Eindruck einer Momentaufnahme in der Bewegung noch unterstrichen wird. Wären wir auf eine erzählerische oder moralische Bedeutung des Bildes aus (eine Lesart, der man sich meist nur schwer entziehen kann, weil wir an erzählende Bilder gewöhnt sind), würden wir Sonne und Wolken als Kommentar zur menschlichen Begegnung lesen. Je nach dem von Ikonologen ausgewählten Emblem ginge das mehr oder weniger zugunsten des Paares aus. 32 Lassen wir uns auf den nicht zuletzt für uns angelegten Weg ein, so ist die ästhetische Grenze ungewöhnlich leicht zu überschreiten. Sofort umfängt uns die Klammer der schattenspendenden Wolken und des dunklen Vordergrundes. Leicht ist vorzustellen, wie die Wolken aus dem Bild über unseren Kopf hinwegziehen. Kaum zu widerstehen ist dem Wunsch, dem Weg zu folgen oder sich nach rechts oder links in die Felder zu schlagen. Eine geradezu immersive Kraft geht von dem Bild aus und sie ist selbstverständlich der Komposition und Farbgebung zu 31
32
100 x 130,2 cm, New York, Metropolitan Museum of Art, vgl. SLIVE, Ruisdael (wie Anm. 8) Kat. Nr. 101, S. 125 mit Lit. Vgl. zur ikonologischen Deutungsmöglichkeit von Ruisdaels Bildern insbesondere WlEGAND, Ruisdael Studien (wie Anm. 2); RAUPP, Thema und Symbol (wie Anm. 2). In späteren Arbeiten wurde die ikonologische Methode meist nur noch unter Abwägung weiterer Interpretationsmöglichkeiten angewendet, s. E. John WALFORD, Jacob Ruisdael and the Perception of Landscape, New Häven 1991; Ulrike WEGENER, Zur Landschaftskonzeption Jacob van Ruisdaels. Bilderfindung und Naturbeobachtung, Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, 36 (1997) S. 1 1 3 - 1 2 5 ; Jochen BECKER, 'Een heuchelyk vermaak [...] maar ook een heldre baak'. Zu verschiedenen Möglichkeiten, holländische Landschaften zu betrachten, Kat. Ausst. Jacob van Ruisdael, 2002 (wie Anm. 8) S. 145-152; Tanja MlCHALSKY, Zeit und Zeitlichkeit. Annäherungen an Jacob van Ruisdaels spätes Werk „Der Sonnenstrahl", in: Die Methodik der Bildinterpretation, 2 Bde., hgg. von Andrea VON HÜLSEN-ESCH/ JeanClaude SCHMITT, Göttingen 2002, Bd. I, S. 1 1 7 - 1 5 5 .
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verdanken. Der Eindruck arretierter Bewegung, der durch Lichtspiel und Wolken hervorgerufen wird, ist konstitutiv für die Wahrnehmung des Augenblicks, in dessen Betrachtung man sich verlieren kann. - Hier stellt sich nun die berechtigte Frage, ob diese Wirkung allein von der Komposition hervorgerufen wird, oder ob nicht doch die alltäglichen Erfahrungen des Betrachters in die Betrachtung eingehen, weil er weiß, wie Wolken ziehen, wie Wind und Sonne sich anfühlen — oder anders gesagt, weil seine Erfahrung von Landschaft mit der auf dem Bild gezeigten kompatibel ist. Ganz im Sinne von Alpers sollte man fragen, welches Bild hier von einer sommerlichen Landschaft entworfen wird — und ich möchte dafür plädieren, dass die Komposition diverser, gut beobachteter Phänomene hier die Aktualität eigenen Erlebens sowohl vorführt als auch ermöglicht. Die räumliche Disposition des Tiefenzuges und die im Lichtspiel eingefangene Momentaneität involvieren den Betrachter derart, dass die ästhetische Grenze minimiert wird. Es handelt sich nicht um eine rein ästhetische Spielerei mit der Tiefenräumlichkeit und Lichteffekten, um keine vorurteilsfreie Beobachtung der Natur, sondern um eine Komposition, die im Akt des Betrachtens zu einer Erlebnislandschaft verdichtet werden kann. Protagonisten der scheinbar zufällig agierenden Natur sind die Wolken, deren Bildmacht schon häufig betont wurde. 33 Gerade sie scheinen in Formation und Bewegung Realistisch' erfasst, bei einem Vergleich mit modernen meteorologischen Daten wird man jedoch enttäuscht. Eben dies wurde in den letzten Jahren immer wieder versucht, und führte zu dem aus anderen Bereichen der Landschaftsmalerei bekannten Ergebnis, dass die Maler zwar recht gut beobachtet und genau wiedergegeben haben, dass sie jedoch im Atelier einzelne Elemente zu einem nach heu33
Vgl. Ank C. ESMIJER, Cloudscapes in Theory and Practice, Simiolus 9 (1977) S.123-148; John WALSH, Skies and Reality in Dutch Landscape, Art in History, History in Art, hgg. v. David FREEDBERG/ Jan de VRIES, Santa Monica 1 9 9 1 , S.95—117; mehrere Beiträge, in: Wolken - Malerei - Klima in Geschichte und Gegenwart, hg. von der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, Berlin 1997; und jüngst die erneute Frage nach der Relevanz meteorologischer Beobachtungen für die Landschaftsmalerei in: Die „Kleine Eiszeit". Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert. Kat. Ausst. Berlin 2001. Zur Nomenklatur der Wolken und ihrer naturwissenschaftlichen Erfassung zuletzt Richard HAMBLYN, Die Erfindung der Wolken. Wie ein unbekannter Meteorologe die Sprache des Himmels erforschte, Frankfurt am Main/ Leipzig 2001, zuerst: The Invention of Clouds, London 2001. Ein größerer Teil der kunsthistorischen Literatur beschäftigt sich mit den Wetterphänomenen, die seit dem 18. Jahrhundert zum Gegenstand der Malerei wurden, s. dazu Kurt BADT, Wolkenbilder und Wolkengedichte der Romantik, Berlin 1960.
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tigen meteorologischen Wissen unwahrscheinlichen Ganzen zusammengefügt haben. In dem Band „Wolken, Malerei, Klima in Geschichte und Gegenwart", den die deutsche meteorologische Gesellschaft 1997 unter Mitarbeit von Kunsthistorikern herausgegeben hat, werden moderne Fotografien als Beleg dafür angeführt, dass sich „die Darstellung von Wolken in der Fotografie [...] im Vergleich mit der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts [...] als diametral entgegenstehend" erweist. 34 Auch wenn ein solcher Vergleich wieder neue Probleme mit sich bringt, weil er das fotografische Bild an die Stelle der Realität setzt, lässt sich durch eine materialgesättigte Untersuchung doch zumindest zeigen, dass Wolkenformationen am natürlichen Himmel für unseren an Fotografie orientierten Blick anders aussehen als jene auf den zur Rede stehenden Bildern. Ich möchte in unserem Zusammenhang darauf hinaus, dass das Wetter im 17. Jahrhundert zwar als landschaftsbestimmender Faktor wahrgenommen und rhetorisch geschickt eingesetzt wurde, dass es jedoch nicht um die Erkenntnis und das korrekte Beschreiben der Phänomene ging so wie es im 18. Jahrhundert der Fall war. Wolken konnten, wie schon häufig beobachtet, sowohl zur Komposition des Raumes als auch zur Dramatisierung eingesetzt werden. 35 Das Wetter, von dem die Wolken ja nur die quasi greifbarste Form sind, scheint aber darüber hinaus auch und gerade in den weniger spektakulären Landschaften wie denen von Philips Köninck routiniert als Indikator von Zeitlichkeit eingesetzt worden zu sein, die jenen realistischen Eindruck des Spezifischen im Alltäglichen hervorruft, der hier zur Diskussion steht. Für ein historisch-kritisches Verständnis der Bilder und der ihnen angemessenen Rezeption ist es unerlässlich zu fragen, ob das Wetter im 17. Jahrhundert tatsächlich einen anderen Status bekommen hat als es ihn in jahrhundertlanger Tradition als Teil des des zyklischen Jahreslaufes und der von Gott gesandten Katastrophen wie Sturm, Sintflut oder Dürre hatte, und darüber hinaus, ob die Künsder sich nun explizit mit dem Problem der Wetterdarstellung beschäftigt haben. Wie immer ist der Austausch zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Diskurs
34
35
Nathalie NEUMANN/ Franz OSSING, Der Himmel in der holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts und in der modernen Meteorologie, in: Wolken Malerei - Klima (wie Anm. 33) S. 3 9 - 5 8 , hier S. 54. Vgl. z. B. Werner BUSCH, Himmelsdarstellung in der Malerei vor 1800, in: Wolken Malerei - Klima (wie Anm. 33) S. 7 3 - 9 7 .
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nur auf Umwegen festzumachen, erste Überlegungen dazu sollen hier dennoch vorgestellt werden. Die Meteorologie wurde erst am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer regelrechten Wissenschaft, die sich nicht mehr allein auf die antike Größe Aristoteles und dessen Elementenlehre bezog. 36 Besonders eindrücklich lässt sich dies gerade an der - trotz aller künstlerischen Darstellungen - erst sehr spät von der Wissenschaft unternommenen Beschreibung und Einordnung der Wolken zeigen. Bekanntlich war es erst Luke Howard, der 1803 in einem bald darauf veröffentlichten Vortrag jene Klassifikation von Wolken vornahm, die wir bis heute zu benutzen gewöhnt sind.37 Es bedurfte seiner, damals völlig innovativen Terminologie, um die drei grundlegenden Wolkentypen Cumulus, Cirrus und Stratus kategorial voneinander zu unterscheiden und so überhaupt eine Ordnung in die sich ständig ändernden und ineinander übergehenden Formationen bringen zu können. Interessanterweise hatten die diversen Wolkenformationen der holländischen Landschaftsmalerei demnach kein begriffliches Korrelat und konnten nicht zuletzt deswegen in der von Kunsthistorikern beobachteten ,Fehlerhaftigkeit' kombiniert und kompositorisch,missbraucht' werden. Die ersten Schritte zur Aufzeichnung und zum Verständnis von Wetter wurden von der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts nicht mit visuellen Daten unternommen, sondern - dem neuen Glauben an die exakte Empirie folgend, mit Messungen von Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit, deren Zusammenhängen man allerdings erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts besser erklären konnte. Thermometer, Barometer und Hygrometer waren die entscheidenden Erfindungen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die in regem Austausch zwischen der Florentiner Accademia de/ Cimento mit französischen und niederländischen Gelehrten ermöglicht wurden. Ihr flächendeckender Einsatz und daraus resultierende Beobachtungsnetze, die vergleichbare Daten lieferten, sind erst ab den 1670er Jahren überliefert. 38 Stellvertretend für eine avancier36
37
Zur Geschichte der Meteorologie s. Simeon K. HENINGER, A Handbook of Renaissance Meteorology, Durham 1960; H. Howard FRISINGER, The History of Meteorology: to 1800, New York 1977. Hans Günther KÖRBER, V o m Wetteraberglauben zur Wetterforschung, Leipzig 1987. Luke HOWARD, On the Modifications of Clouds, London 1804; erste deutsche Übersetzung: Über die Modification der Wolken, Annalen der Physik, 10 (1805), S.137—159.
38
V g l . KÖRBER, W e t t e r a b e r g l a u b e n (wie A n m . 3 6 ) S. 1 0 3 - 1 3 5 ; FRISINGER, H i s t o r y (wie
Anm. 36) S. 47-98. Um die Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten, war insbe-
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te, zeitgenössische Vorstellung vom Wetter ist René Descartes' dem in Leiden publizierten "Discour de la méthode" angegliederter Text über die „Météores" von 1637, in dem er unter anderem die Theorie der aufsteigenden Wassertröpfchen entwickelte. Eine Abbildung, die dem zweiten discour über die „vapeurs et exhalaisons" entnommen ist (Abb. 51), illustriert die Veränderung der Aggregatzustände von Wasser. 39 Wie Brian S. Baigrie herausgearbeitet hat, nutzte Descartes, der zwar die Empirie unterstützte jedoch dem direkten Erkenntnisgewinn sinnlicher Erscheinungen gegenüber skeptisch blieb, Abbildungen in seinen Werken dazu, die mechanischen, den Sinnen gerade nicht direkt zugänglichen Voraussetzungen darzustellen. 40 Dies lässt sich in unserem Beispiel gut nachvollziehen, denn der Nachdruck wird nicht etwa auf die Wolkenformationen gelegt, sondern vielmehr auf die überall vorhandenen Partikel in der Atmosphäre, die sich nur unter bestimmten Voraussetzungen zu Wolken verbinden, oder aber wieder in Regen übergehen. Ausgehend von der Beobachtung, dass Menschen dazu neigen, das zu bewundern, was sich oberhalb der Erde befindet, und in den Wolken den Sitz der Götter vermuten, versuchte Descartes, damit ausdrücklich seinem mechanistischen Weltbild folgend, "die Natur hier auf eine Weise zu erklären, dass man nicht mehr Gelegenheit habe, etwas von dem zu bewundern, was man in [den Wolken] sieht oder was daraus herabkommt". 41
sondere vonnöten, eine gemeinsame Skala und zuverlässige Instrumente einzusetzen. Einen guten Überblick über die z.B. in der Glasherstellung benötigte Technik bietet die Sammlung des Istituto e Museo di Storia della scienza in Florenz, in der unter anderem die ersten filigranen Thermometer und Barometer ausgestellt sind. 39 40
41
René DESCARTES, Discours de la methode, Leiden 1637, S. 244. Brian S. BAIGRIE, Descartes's Scientific Illustrations and ,1a grande mécanique de la nature', in: Picturing Knowledge (wie Anm. 14) S. 8 6 - 1 3 4 . „Nous avons naturellement plus d'admiration pour les choses qui sont au dessus de nous que pour celles qui sont a pareille hauteur, ou au dessous. Et quoy que les nues n'excedent gueres les sommets de quelques montaignes, et qu'on en voye mesme souvent de plus basse que les pointes de nos clochers, toutefois a cause qu'il faut tourner les yeux vers le ciel pour les regarder, nous les imaginons si relevées, que mesme les Poètes et les Peintres en composent les throsne de Dieu, et font que l'á il employe ses propres mains a ouvrir et fermer les portes des vens, a verser la rozée sur les fleurs, et a lancer la foudre sur le rochers. Ce qui me fait esperer que si j'explique icy leur nature, en telle sorte, qu'on n'ait plus occasion d'admirer rien de ce qui s'y voit, ou qui en descent, on croyra facilment qu'il est possible en même façon de trouver les causes de tout ce qu'il a y se plus admirable dessus la terre." DESCARTES, Discours (wie Anm. 39) S. 231.
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Während derartige Schaubilder und Messdaten wohl nur in einem überschaubaren Zirkel von Wissenschaftlern kursierten, stellte sich die weiter verbreitete Vorstellung vom Wetter höchstwahrscheinlich noch immer als eine Mischung aus dem tradierten Wissen der Bauernregeln und einer Elementenlehre dar, deren populäres Bild sich vielleicht am besten in einem Piktogramm aus Johannes Comenius „Orbis sensualium pictus" von 1658 vorführen lässt (Abb. 50). 42 In diesem, erstmals aus mnemotechnischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen heraus Illustrationen einsetzenden Lateinwörterbuch, werden unter dem Stichwort Wolken sowohl der Wasserkreislauf als auch diverse davon unabhängige Wetterphänomene dargestellt. Um es kurz zu machen: Wetter galt als eine Erscheinungsform der Natur, deren Mechanismen man auf der Spur war, die allerdings vorrangig mit der ständigen und noch immer unberechenbaren Veränderung der Elemente — insbesondere des Wassers verknüpft war. Nichtsdestotrotz darf man wohl annehmen, dass mit dem Beginn der Erforschung des Wetters ein neues Sensorium seiner alltäglichen Formen einherging, auch wenn sich dies vorerst nicht in einer verbindlichen Nomenklatur niederschlug, wie wir sie von den nicht enden wollenden Wetterberichten unserer neuen Medien kennen. Wahrnehmung und Darstellung des Wetters befanden sich offensichtlich noch in einer Experimentierphase, zu der künsderische Versionen ebenfalls ihren Beitrag lieferten. Die Kunsttraktate und Illuminierbücher vom 16. bis zum 18. Jahrhundert sind bereits mehrfach auf der Suche nach Wetter- und Wolkenvorgaben durchsucht worden. Grundlegend ist bis heute der Aufsatz von Ank Esmeijer zu „Cloudscapes in theory and practice" von 1977. 43 Aus den bereits erwähnten Gründen verständlicherweise ist sein Hauptaugenmerk wie auch das vieler anderer Kunsthistoriker der Moderne eher auf eine Epochenschwelle am Ende des 18. Jahrhunderts ausgerichtet. Seine Lektüre der Texte hebt darauf ab, dass von dem Illumi42
43
Johannes Amos COMENIUS, Orbis sensualium pictus, Nürnberg 1658. Die Abbildung ist der englischen Ausgabe von 1672 entnommen, die im Faksimile von James BOWEN, Sydney 1967 herausgegeben wurde. Ank ESMEIJER, Cloudscapes in theory and practice, Simiolos 9 (1977), S. 1 2 3 - 1 4 8 . Reindert FALKENBURG interpretiert den Einsatz von Wetter insbesondere durch Jan van Goyen als Antwort auf die Innovationsforderungen des Marktes: ,Schilderachtig weer' bij Jan van Goyen, in: Jan van Goyen, Kat. Ausst. Stedelijk Museum de Lakenhai, Leiden, hg. von Christiaan VOGELAAR, Zwolle 1996, S. 6 0 - 6 9 ; DERS.: Onweer bij Jan van Goyen. Artistieke wedijver en de markt voor het Hollandse landschap in de 17de eeuw, in: Natuur en landschap (wie Anm. 23) S. 116—161.
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nierbuch des Valentin Boltz von Rufach (1549)44 über van Mander (1604)45 und Hoogstraten46 bis hin zu Goeree und Roger de Piles (1708), zwar unterschiedlich detailliertere Angaben entweder zur Maltechnik oder zu einzelnen Phänomenen gemacht werden, dass es sich letztlich — von wenigen Ausnahmen, wie dem im Freien zeichnenden Willem van de Velde, abgesehen — jedoch um eine überschaubare Tradition lediglich kompilierten Wissens handelt. Die eigene Naturbeobachtung werde dort zwar immer wieder betont - in der Breite kam es jedoch erst dann dazu, als gerade diese Literatur ausgedient hatte. Auf der Suche nach einer rhetorischen Inszenierung des Wetters im Sinne des Realismus lesen sich die Texte anders — und auch wenn man es in diesem Rahmen nicht in seiner Entwicklung darlegen kann, so sei wenigstens auf folgendes hingewiesen: Van Mander unterscheidet, darin ganz im Schatten Pieter Bruegels d.Ä. und der flämischen Landschafter stehend, 1604 noch verschieden gestimmte Landschaften, sieht etwa das Unwetter wie „aus der Hand des obersten Gottes geflogen kommen", 47 und mahnt seine Landsleute, wenigstens zwischendurch auch schönes Wetter darzustellen, weil das Vorurteil bestehe, die Niederländer würden „Apoll nur einen kleinen Raum gönnen". 48 Willem Goeree differenziert in seiner „Einleitung in die allgemeine Zeichenkunst" von 1670 erheblich mehr Varianten von Wetterdarstellungen mit Hilfe der Farben und Wolken des Himmels.49 Dies ist nicht nur auf die praktische Orientierung seines Textes zurückzuführen, sondern ebenfalls auf eine Auseinandersetzung mit dem täglichen Wetter, das — wie bei Descartes gesehen — nicht mehr grundsätzlich symbolisch aufgeladen war. Nicht umsonst
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Valentinus BOLTZ VON RUFACH, Illuminirbuch. Wie man allerlei Farben bereiten, mischen und auftragen soll, Basel 1549. Karel VAN MANDER, Den Grondt der edel vry schilder-const, Harlem 1604. Vgl. die kritische Ausgabe in 2 Bänden von Hessel MlEDEMA, Utrecht 1973; hier wie im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung von Rudolf HOECKER, D e n H a a g 1916. Samuel VAN HOOGSTRATEN, Inleyding tot de H o o g e Schoole der Schilder-Konst anders de zichtbaere werelt, Rotterdam 1678. Vgl. dazu Celeste BRUSATI, Artifice & Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago/ L o n d o n 1995; Hans-Jörg CZECH, Im Geleit der Musen. Studien zu Samuel van Hoogstratens Malereitraktat „Inleyding tot de H o o g e Schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt" (Rotterdam 1678), Münster/ Berlin 2002. Van MANDER, D e n Grandt (wie Anm. 45) § 13, S. 201 Ebda. § 1 5 , S. 203 Willem GOEREE, Inleyding tot de allgemeene teeken-konst, (2. erw. Auflage), Middelburg 1670.
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verhandelt er das Thema unter der Kapitelüberschrift „Wie man den Himmel nach der Beschaffenheit des Wetters anlegen und kolorieren soll". 50 Bei Roger de Piles 1708 schließlich geht es ausdrücklich um Lichteffekte, die sich nach Jahres- und Tageszeiten zu richten haben. 51 Interessanterweise bezieht er sich auf flämische Landschaftsmaler, wenn er den Trick benennt, das Sonnenlicht in einem Strahl zu konzentrieren, die Wolken dementsprechend anzuordnen und in den dunklen Bereich ein auffälliges Detail zu setzen. — Diese kurzen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate bieten keine Grundlage, um die Inszenierung des Wetters im 17. Jahrhundert eindeutig mit der Wahrnehmung von Zeit kurzzuschließen. Dennoch stützen sie den zuvor aus den Bildern abgeleiteten Eindruck, dass Wetter als das Spezielle im Alltäglichen eingesetzt wurde und sich daher für die Fiktion einer .realistischen Landschaft' besonders gut eignete. Der Sinn dieser Realistischen' Landschaft, die Bedeutung ihrer Imagination lässt sich nur bedingt mit den wissenschaftlichen Errungenschaften eines „Zeitalters der Beobachtung" erklären. Vielmehr hängt er mit einer neuen Erfahrung, Darstellung und Bestimmung der eigenen Umwelt, des politischen und sozialen Raumes nämlich, und der eigenen Historizität zusammen. Diese konnte sich in einem Land durchsetzen, das sich nicht nur als prosperierend sondern auch als modern definierte - einem Land, dessen Bilder suggerieren, es stünde jedem frei, sich darin zu bewegen. 52 Es ist die zeitliche Definition eines Ortes, die die holländischen Landschaften realistisch erscheinen lässt, und diese Struktur ermöglicht es den Betrachtern, eigene Erzählungen in den dargestellten Raum hineinzuprojizieren.
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Ebda. Teil II Verlichteriekunde of regt gebryk der water verwen, niewlijks vermeert door W. Goeree, S. 4 f f „Hoemen allerhande Lochten na de Getempertheydt des Weders anleggen, handelen en coloren sol", vgl. ESMEIJER, Cloudscapes (wie Anm. 43) S. 128. Roger DE PlLES, Cour de peinture par principes, Paris 1708; vgl. die Übersetzung des Textes in: Landschaftsmalerei, (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, 3), hg. v. Werner BUSCH, Berlin 1997, S. 164. vgl. ESMEIJER, Cloudscapes (wie Anm. 43) S. 130f. Vgl. Karsten MÜLLER: Politische Bildräume: Stadt - Land - Nation in der niederländischen Druckgraphik um 1600, in: JÖCHNER, Politische Räume (wie Anm. 7) S. 2 3 - 4 4 , mit weiterer hist. Lit. Zu der Instrumentalisierung der Landschaftsmalerei s. Tanja MlCHALSKY, Natur der Nation. Überlegungen zur Landschaftsmalerei als Ausdruck nationaler Identität, in: Europa - Mythos, Bilder und Konzepte im 17. Jh., hgg. von Klaus BUßMANN/ Elke WERNER, Stuttgart 2003, im Druck.
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Historizität und Realistisch' fingierte Vogelschau prägen auch eine Karte bzw. Ansicht oder Aufsicht von Amsterdam, die Jan Christianszoon Micker in den 1640er Jahren nach dem Stadtplan von Cornelis Anthonisz angefertigt hat (Abb. 52).53 Lange vor der tatsächlich einnehmbaren Vogelperspektive auf Amsterdam, wie sie erst mit den Ballonfahrten möglich wurde, orientiert sich Micker an einer bereits existierenden Karte und gibt seinerseits nicht nur den Straßen, Häusern und Schiffen Farbe, sondern versieht sein Bild darüber hinaus mit den Schatten von Wolken. Auch diese Wolkenschatten kann man als bildliches Zeichen des Hier und Jetzt lesen — als Indizien für einen Repräsentationsmodus, der die Stadt in ihrer topographischen und historischen Eigenheit zeigt. Von Realismus in dem oben besprochenen Sinn kann hier keine Rede sein - ist man doch eher irritiert von diesem Anblick, der mit der bildlichen Tauschung spielt, wenn er sogar die Legende noch einen Schatten werfen lässt. Bezeichnend ist allerdings, dass Zeitlichkeit durch ein Wetterphänomen zum Ausdruck gebracht wird, dass also ein Element der Landschaftsmalerei sich soweit verselbständigt hat, dass es einer Karte zu ihrer zeitlichen Fixierung verhelfen konnte. Aus der lediglich vermessenen, topographisch exakt wiedergegebenen Stadt wird so ein scheinbar erlebbarer Zeit-Raum.
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ALPERS, Describing (wie Anm. 1) S. 271: Sie interpretiert die Karte als „Spiegel"; vgl. in der Nachfolge Edward S. CASF.Y, Representing Places. Landscape Painting & Maps, Minneapolis/ London 2002, S. 161. In der jüngeren Diskussion um Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei werden die Grenzen zwischen den Medien zunehmend durchlässiger, denn in der historischen Bild- und Kartenproduktion sind ebenso weitreichende Übereinstimmungen zu konstatieren, wie auch im Gegenzug dazu selbstreferentielle Markierungen, vgl. dazu insbesondere CASEY, (S.O.) p assim; Nils BÜTTNER, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000; Tanja MLCHALSKY, Hic est mundi punctus et materia gloriae nostrae. Der Blick auf die Landschaft als Komplement ihrer kartographischen Eroberung, in: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne, hgg. von Gisela ENGEL/ Brita RANG/ Klaus REICHERT/ Heide WUNDER in Zusammenarbeit mit Jonathan ELUKIN (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, 6) Frankfurt a. M. 2002, S. 436-453; DIES., Medien der Beschreibung. Zum Verhältnis von Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Frühen Neuzeit, in: Text-Bild-Karte. Kartographie der Vormoderne, hgg. von Jürg GLAUSER/ Christian KLENING Freiburg 2003, im Druck; David GUGERLI/. Daniel SPEICH, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002.
Sergiusz Michalski
Narration, Gebärdensprache und Mimik im „Dariuszelt" des Charles Le Brun Zu einem Leitbild des „grand goût"
I m S o m m e r 1 6 6 1 , das ist k u r z n a c h seiner „prise de p o u v o i r " , hat L u d w i g X I V . d e n M a l e r C h a r l e s L e B r u n n a c h F o n t a i n e b l e a u einbestellt. D o r t b e g a n n d e r M a l e r g e m ä ß einer S u g g e s t i o n des K ö n i g s , d e r i h m nahegelegt hatte „ q u e l q u e sujet" aus d e r A l e x a n d e r g e s c h i c h t e zu m a l e n , m i t d e r A r b e i t an e i n e m g r o ß e n Historienbild. L u d w i g interessierte sich s e h r f ü r d e n F o r t g a n g d e r A r b e i t „[...] (il) v e n o i t le v o i r dans les m o m e n t s i n o p i n é s lorsqu'il tenoit le pinceau à la main". 1 N a c h einigen M o n a t e n w a r das Bild b e e n d e t , u n d i m n ä c h s t e n J a h r e r n a n n t e der z u f r i e d e n e M o n a r c h L e B r u n z u m H o f m a l e r : F r a n k r e i c h w a r u m ein S t a n d a r d w e r k d e r Historienmalerei, das b e r ü h m t e „Les Reines d e P e r s e aux pieds d ' A l e x a n d r e o u la tente d e D a r i u s " (Versailles, M u s é e du C h a t e a u , A b b . 53) reicher g e w o r d e n . 2 D a s Urteil eines b e d e u t e n d e n f r a n z ö s i s c h e n 1 2
Le Mercure Galant, Février 1690, S. 261. Öl auf Leinwand, 2,98 x 4,53m. Im 19. Jahrhundert im Louvre, seit 1934 im Schloß von Versailles. Die Farbigkeit des Bildes hat unter den häufigen Restaurierungen gelitten. Trotz seiner Berühmtheit ist dem Bild bislang keine einzige monographische Studie gewidmet worden. Die Bibliographie bis 1963 in: Charles Le Brun 1619-1690. Peintre et Dessinateur, hg. von Jacques THUILLIER, Ausstellungskat. Versailles 1963, S. 71-73.; Neuere Literatur: Norman BRYSON, Word and Image. French Painting of the Ancien Régime, Cambridge 1981, S. 52f.; Robert W. HARTLE, Louis XIV. and the Mirror of Antiquity, in: The Sun King. Louis XIV. and the New World, Ausstellungskat. New Orleans/ Washington 1984/85, S. 109f.; Chantal GRELL/ Christian MICHEL, L'École des Princes ou Alexandre Disgracié. Essai sur la mythologie monarchique de la France absolutiste, Paris 1988, S.109f; Hans KÖRNER, Der „Neue Alexander" und die Spieler. Zur Ikonologie der „Chambre de Mars" in Versailles, Münchner Jahrbuch für Bildende Kunst, XL (1989), S. 141-152.; Lars Olof LARSSON, Der Maler als Erzähler. Gebärdensprache und Mimik in der französischen Malerei und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts am Beispiel Charles Le Bruns, in: Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit, hg. von Volker KAPP, Marburg 1990, S. 73-189; Lydia BEAUVAIS, Les dessins de Le Brun pour „L'histoire d'Alexandre", Revue du Louvre (1990), S. 285-295; Ekkehard MAI, Poussin, Félibien und Le Brun. Zur Formierung der französischen Historienmalerei an der Académie Royale de Peinture et de Sculpture in Paris, in: Historienmalerei in Europa, hg. von DEMS., Mainz 1990, S. 22f.; Michel GAREAU, Charles Le Brun. Premier peintre du Roi Louis XIV., Paris 1992, S. 79 und S. 196-198; Inke ANDERS, „Das Zelt des Darius", in: Die Inszenierung des Absolu-
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Kunsthistorikers klingt hier sehr kategorisch: „Et c'est devant cette composition que les peintres français, deux siècles durant, vinrent étudier les ressources de leur art". 3 Die dargestellte Szene geht auf die Alexanderviten des Quintus Curtius und des Valerius Maximus, teilweise auch auf die des Plutarch zurück. 4 Nach der Schlacht von Issos soll Alexander der Große in Begleitung seines Freundes Hephaistion das Zelt der persischen Königsfamilie im eroberten persischen Feldlager betreten haben. Als sie Alexander und sein Gefolge erblickte, fiel Sisygambis, die alte Mutter des Perserkönigs vor dem mazedonischen Herrscher auf die Knie, Gnade für sich und ihre Familie erbittend. Dabei unterlief ihr ein besonderer Fehler: In ihrer Aufregung hatte sie nämlich den Hephaistion, der ähnlich wie Alexander gekleidet war und ihn um einen Kopf überragte, für den Mazedonierherrscher selber gehalten. Sofort wurde sie durch die Eunuchen über die möglicherweise folgenschwere — unter Umständen konnte dies sogar als „crimen laesae maiestatis" aufgefasst werden — Verwechslung aufgeklärt. Doch Alexander gab sich zufrieden — „denn dieser Mann ist auch Alexander" (Quintus Curaus, 111,12). Obwohl ihn die Schönheit der jungen Stateira, der Tochter des Darius, tief beeindruckte, achtete Alexander ihre Würde und machte sie nicht — obwohl dies zu den Prärogativen des Siegers gehörte - zu seiner Mätresse. Erst Jahre später sollte er sie zur Ehefrau nehmen.
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tismus. Politische Begründung und künstlerische Gestaltung höfischer Feste im Frankreich Ludwigs XIV., hg. von Fritz RECKOW, Erlangen 1992, S. 1 4 1 - 1 5 1 . ; Alexandra BETTAG, Die Kunstpolitik Jean-Baptiste Colberts unter besonderer Berücksichtigung der Académie Royale de Peinture et de Sculpture, Weimar 1 9 9 8 , S. 2 3 4 - 2 4 5 ; Linda W A L S H , Charles Le Brun, „art dictator of France", in: Académies, Museums and Canons o f Art. hgg. von Gill PERRY/ Colin CUNNINGHAM, New Häven/ London 1999, S. 8 6 - 1 2 4 ; Thomas KIRCHNER, Der epische Held. Historienpolitik und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 2 0 0 1 , S. 2 7 7 - 2 8 5 ; Thomas A. BIRKENHOLZ, Die Alexander-Geschichte von Charles Le Brun, Frankfurt a.M. 2002, bes. S. 5 6 - 1 0 1 (konfus). THUILLIER, Charles Le Brun (wie Anm. 2) S. 71 Quintus CURTIUS, III, 12; Valerius MAXIMUS, IV; 7 (Factorum et dictorum memorabilium); PLUTARCH X X I (ohne die Verwechslungsepisode). In einer zweiten Version - die für die bildlich-narrative Gestaltung ohne Belang war - irrten sich alle Perserinnen, und der Sisygambis war es beschieden, Alexander in ihrem Namen um Vergebung zu bitten.
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Das Gemälde übertrug in kaum verdeckter Form den Alexanderkult auf den jungen französischen Monarchen. 5 Der Rekurs auf den großen Mazedonier sollte für die erste Phase des Kultes um den Sonnenkönig eine geradezu leitmotivische Rolle spielen. Unter Hinweis auf das Scipioähnliche Verhalten des großen Eroberers beförderte Le Bruns Werk die Ideale der monarchischen Selbstbeherrschung der Gefühle und der Selbstüberwindung. Eine Inschrift auf einem späteren Reproduktionsstich des Gemäldes (von Edelinck) lieferte dazu den passenden Kommentar. „II est d'un Roy de se vaincre soy-mesme". An diesem Ideal wollte auch Ludwig XIV. als der „Nouveau Alexandre" gemessen werden. Vielleicht könnte dies auch bedeuten, dass Ludwig nicht nur — wie es die Überlieferung will — das Rahmenthema, sondern auch die konkrete Szene selbst dem Maler vorgegeben hatte. Die Frage, inwieweit das Bild in der Figur des treuen Hephaistion auch eine Anspielung an den kurz vorher verstorbenen Kardinal Mazarin enthalten könnte, muß hier ausgeklammert werden. 6 Auch gehörte „Das Zelt des Darius" im eigentlichen Sinne nicht zu der berühmten Reihe der vier Alexanderschlachten, die Le Brun einige Jahre später zu entwerfen begann. 7
M i m i k , Gestik, Zeitlichkeit Das Bild entstand in einer Zeit, in der Le Brun schon sehr intensiv über die Formulierung seiner Theorie der „expression des passions" nachdachte. In den 60er Jahren vollzog er — teilweise unter dem Einfluss von Descartes — den Schritt zu einer neuen Auffassung der Leidenschaften, das psychisch expressive Mienenspiel wurde für ihn zu einem entscheidenden Ausdrucksfaktor. Aus zeichenhaft anmutenden Linienstrichen konzipierte Le Brun ein Gesichtslinienschema, das den jeweiligen psychischen Zustand oder Gemütsbewegung anzeigen sollte. Im Effekt entstand ein rigides System klassifizierter Leidenschaften, das nur wenige Variationen ermöglichte und ein kategoriell bestimmbares Schema der Mimik voraussetzte. Die größte Bedeutung maß Le Brun den Augen5
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Zu dieser Gleichsetzung vgl. HARTLE, Louis X I V . (wie Anm. 2); GRELL/ MICHEL, L'Ecole des Princes (wie Anm. 2); u. Donald POSNER, Charles Lebrun's Triumphs of Alexander, Art Bulletin XLI (1959), S. 2 3 9 - 2 6 1 . Dazu vor allem KÖRNER, Der „Neue Alexander" (wie Anm. 2) S. 151. siehe dazu POSNER, Charles Lebrun's Triumphs (wie Anm. 5) u. die sehr umfangreiche (doch o f t naive) Darstellung bei BIRKENHOLZ, Die Alexander-Geschichte (wie Anm. 2) passim.
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brauen zu, eine wichtige Rolle spielten auch die Bewegungen des Mundes. Über die Rolle der Gestik äußerte sich Le Brun sehr zurückhaltend. Das bedachte, differenzierte Spektrum von Affekten, die das qui pro quo um Hephaistion und Alexander sowie danach die Erkenntnis der Gnade des Siegers ausdrücken sollte, verlieh dem Bild den Rang eines Lehrstücks der Methode. Die eigentliche Theorie sollte aber einige Jahre später folgen: 1668 oder unmittelbar danach umriß Le Brun in einer Conférence der Académie (der weitere folgten) sein System der Affekte. Doch seine — übrigens unvollständig erhaltene — Conférence nebst den berühmten Illustrationen der Leidenschaften ist erst in den Jahren der Jahrhundertwende (1696—98) veröffentlicht worden. 8 Im „Zelt des Darius" wird also der Übergang von einer poussinesken Gestik und einem konventionellen Schönheitskanon der Gesichter — die noch Le Bruns „Eherne Schlange" (1647, Bristol) geprägt hatten — zu einem abgestuften System der „expression des passions" vollzogen. Nunmehr zeigt Le Brun, wie es scheint in sehr demonstrativer Form, im Versailler Bild die relative Bedeutungslosigkeit der unveränderlichen physiognomischen Details, die nur sehr wenig zur Erhellung und Erklärung des Geschehens beitragen können. So verzichtet er bei der Erfassung der Physiognomie Alexanders — dessen expressives, „leonines" Profil einst im Italien des späten Quattrocento die ersten physiognomischen Charakterisierungsversuche begleitet hatte — auf prägnantere Gesichtszüge. Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Mitteilung des gut informierten Abbé Du Bos gesehen werden: „[...] on avoit donné à M.Le Brun pour la teste d'Alexandre une teste de Minerve qui étoit sur une médaille, au revers de laquelle on lisoit le nom d'Alexandre. Ce Prince, contre la vérité qui nous et connue, paroit donc beau comme une femme dans le tableau. Mais M. Le Brun se corrigea dès qu'il eut été averti de sa méprise, et il nous a donné la veritable teste d'Alexandre dans le tableau du Passage de Granique et dans celui de son Entrée à Babylone".9
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Siehe dazu Jennifer MONTAGU, The Expression of the Passions. The Origin and Influence of Charles Le Brun's Conférence sur l'expression générale et particulière, New Haven/ London 1994, bes. S. 1 0 9 - 1 8 8 Abbé Du Bos, Refléxions critiques sur la poesie et sur la peinture, Paris 1 7 1 9 (zit. nach der Ausg. Paris 1770) Bd. I, S. 2 7 4 - 2 7 5 ; Erskine SCHWARZENBERG, From the Allessandro Morrente to the Alexandre Richelieu. The Portraiture of Alexander the Great in Seventeenth-Century Italy and France, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 32 (1969), S. 403f.; BEAUVAIS, Les Dessins (wie Anm. 2) S. 288.
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Es scheint dies aber eher ein nachträglicher Versuch zu sein, einen bewussten Traditionsbruch mit einem ikonographischen Missverständnis zu exkulpieren. Wie dem auch sei, die Bemerkung des Abbé Du Bos vermittelt die damaligen Empfindungen, die Le Bruns Verzicht auf eine Heroisierung der Physiognomik hervorgerufen hatte. Doch im Gegensatz zu den Schlachtenbildern arbeitete Le Brun mit einem komplizierten Schema von Posen und Gesten. Prägnantere physiognomische Züge hätten sich bei der angestrebten Bedeutungssetzung hinderlich ausgewirkt. Alexanders Charakter und sein Rang wird durch die Gestik, Pose und besondere Pondération des Körpers ausgedrückt, doch ihre Bedeutung ergibt sich vornehmlich aus dem narrativen Kontext. Denn es ist Hephaistion, der näher an den Betrachter platziert ist, somit scheinbar einen in bildhierarchischer Hinsicht wichtigeren Platz einnimmt und sogar einen rötlichen Mantel (normalerweise ja ein monarchisches Prärogativ) trägt. Und erst jetzt, nachdem der Betrachter seine Aufmerksamkeit von der Pose und Haltung beider Protagonisten auf die Details ihrer Kleidung gewendet hat, ist er in der Lage, einen verdeckten Hinweis zu erfassen und im Kontext der Handlung zu interpretieren: Der Mantel Hephaistions ist mit einer Art Agraffe versehen, auf der der Kopf Alexanders zu erkennen ist. Es wäre natürlich in symbolischer Hinsicht sinnlos, dass Alexander ein Bildnis seiner selbst tragen würde. Dies sind alles Zeichen, die vom Betrachter gedeutet werden sollen. Auf hervorstechende physiognomische und mimische Effekte bei der Charakterisierung der Gesichter beider Mazedonier hat Le Brun verzichtet. Auch bei den jungen Perserinnen verzichtet er auf allzu charakteristische physiognomische Züge; um so differenzierter ist dagegen ihr Mienenspiel, um so unterschiedlicher gestalten sich ihre Posen. Bei genauerer Betrachtung der Pose der Sisygambis fällt der entscheidende Punkt der Darstellung auf. Sisygambis ist zwar mit dem Kopf noch immer auf Hephaistion ausgerichtet doch suggeriert die Position der halbverdeckten rechten Hand, dass sie im Begriff sei, die Füße Alexanders zu umklammern — ein an sich legitimer Eindruck, der aber nicht unbedingt der faktischen Bewegung der Linken der alten Königen entspricht. Diese bewusste Ambivalenz wirkt aber paradoxerweise als Agens oder, wenn man es anders bezeichnen will, als Knotenpunkt der ganzen Darstellung denn sie erst ermöglicht eine Auffächerung der Handlung in mehrere, in zeitlicher Hinsicht abgehobene Momente — den Erkennungsfehler der Sisygambis, den darauffolgenden Versuch der Königsmutter den Verstoß gegen die Etikette zu korrigieren, den aus der Beinstellung ersichtli-
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chen Versuch Alexanders mit dem Zurückziehen des linken Fußes der Geste der Sisygambis auszuweichen, den Verweis Alexanders auf Hephaistion, der — wie wir wissen — auch gleich um die Zusage der Sicherheit für den persischen Hof ergänzt wird. Der Verweis Alexanders auf Hephaistion hat etwas vages, durch unser Vorwissen impliziertes und ist den Erfordernissen der kompositioneilen Dynamik der Figurengruppe untergeordnet. Dies bezeugt sehr deutlich der Vergleich mit der in der Albertina aufbewahrten Vorskizze Le Bruns (Abb. 54), wo die in gestischer Hinsicht zwar deutlich ablesbare, doch sehr ungeschickte Parallelisierung von Alexander und Hephaistion auffällt. Das ausgeführte Bild hat die Mängel des Entwurfs behoben und vor allem zu einer Verbindung handlungslogischer Art zwischen den beiden mazedonischen Feldherrn und der Gruppe des persischen Hofes geführt. Wichtig für die im Bild präsentierte höfische Ideologie ist die visuelle Erfassung des sehr diskret dargestellten Verweises der Frau des Darius auf die Sysigambis. Anstatt für sich und ihr Kind um Gnade zu bitten — dies wäre einer Königin nicht würdig — bittet sie um Nachsicht für den Fehler der alten Frau, ihrer Schwiegermutter und empfiehlt sie der Gnade der Mazedonier. Eine zentrale Rolle in der dargestellten Handlung spielt die Figur des Hephaistion. Für die besondere Handgeste Hephaistions, eine Art erstaunter Abwehr lieferte nämlich die Figur des am linken Bildrand stehenden, erstaunt innehaltenden Mannes auf der „Mannalese" (Abb. 55) von Poussin die entscheidende Vorlage. Dies geschah bezeichnenderweise durch die Zwischenstufe seines „Mucius Scaevola" (1643, Mäcon) wo die Anleihe bei Poussin noch deutlicher ausfiel. In seiner 1667 gehaltenen Conférence über die Mannalese hat Poussin die Gestik dieses die Gruppe der „Caritas Romana" betrachtenden Mannes als die Haltung eines Menschen beschrieben, der vom Staunen (admiration) ergriffen wird. 10 Felix Thürlemann hat den Mann als eine Art „Vermittlungsfigur" zwischen Betrachter und Bild und als Vertreter des staunenden Bildbetrachters zugleich bezeichnet und auch auf die ehrwürdigen kunsttheoretischen Wurzeln dieser Bildfigur hingewiesen. 11 Poussins Charles LE BRUN, Les Israélites Recueillant la Manne dans le Désert, in: Conférences de l'Académie Royale de Peinture et de Sculpture, hg. von Henry JOUIN, Paris 1883, S. 57; Wilhelm SCHLINK, Ein Bild ist kein Tatsachenbericht. Le Bruns Akademierede von 1667 über Poussins „Mannawunder", Freiburg i. Br. 1996, S. 18 Felix THÜRLEMANN, Nicolas Poussin, Die Mannalese. Staunen als Leidenschaft des Sehens, in: DERS., Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwis-
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Bildfigur trug einen rötlichen Umhang, der Hephaistion Le Bruns erhält durch das Tragen des rötlichen Umhanges eine semantische Ambivalenz, die zwar anfänglich für den Betrachter die Erkenntnis der Handlung kompliziert, doch letztlich aber den Fehler der Sisygambis zu erklären hilft. Die ingeniöse Verbindung von Handlungsfigur und Vermittlungsfigur soll die Erkenntnis des Handlungsablaufes befördern und etwas von dem „Staunen" dieser Bildfigur dem Betrachter vermitteln — zweifellos ist dies eines der ambitioniertesten Kunstgriffe dieser Art in der Historienmalerei. Mit dem Problem der Einheit von Zeit und Handlung hat sich Le Brun bekanntlich sechs Jahre nach der Entstehung des „Dariuszeltes" in der soeben erwähnten Conférence der Académie über die „Mannalese", der eine Diskussion folgte, auseinandergesetzt. Auf den Vorwurf antwortend, dass Poussin mehrere Stadien des Ereignisses zeige stellte Le Brun fest, dass „le peintre n'ayant qu'un instant dans lequel il doit prendre la chose qu'il veut figurer". Wenn aber der ausgewählte Moment nicht ausreichen würde, um die dargestellte Geschichte zu beleuchten, müsse man eben versuchen, auch die unmittelbar davor erfolgten Ereignisse zu zeigen — genauso wie dies Poussin in seiner „Mannalese" getan habe. „Ces différents états et ces diverses actions lui tenant lieu de discours et de paroles pour faire entendre sa pensée, et puis que la peinture n'a point d'autre langage ni d'autres caractères que ces sortes d'expressions". 12 Damit wird die Darstellung der Leidenschaften als das entscheidende narrative Mittel, das darüber hinaus auch die Identifikation der einzelnen Bildfiguren ermögliche, bezeichnet. Dass die Darstellung unterschiedlicher Leidenschaften unter Umständen eine zeitliche Uneinheitlichkeit der Darstellung zur Folge haben könnte, hat Le Brun ohne größere Bedenken akzeptiert, mehr noch, er war geneigt, darin eher einen Vorteil zu sehen. Ein Diskutant — der von Félibien redigierte Bericht führt hier keine Namen an — versuchte Le Brun mit dem sehr bezeichnenden Argument zu unterstützen, dass ja auch das Theater Aktionen, die zu verschiedenen Zeitpunkten stattgefunden hätten, in eine einzige Handlung zusammenlegen würde — um so mehr müsse die Malerei so verfahren. Vielleicht war dies ein ironischer Seitenhieb gegen die rigide Auslegung der Einheitenregel durch den späten
senschaft, Köln 1990, S. 1 1 8 u. SCHLINK, Ein Bild ist kein Tatsachenbericht (wie Anm. 10) S. 66 Beide Zitate hier nach der Ausg. bei JOUIN, Conférences (wie Anm. 10) S. 62f.
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Corneille. Diese Debatte ist, wie schon gesagt, sechs Jahre nach der Entstehung des „Dariuszeltes" geführt worden doch dabei muss Le Brun gewiss stetig an die Bedeutung des von Poussin erarbeiteten Schemas für sein eigenes Bild gedacht haben. Er selber hatte in seinem Frühwerk („Eherne Schlange",1647, Bristol) versucht die Figurengestaltung der „Mannalese" zu variieren doch die Andeutung einer Zeitabfolge ist ihm in diesen frühen Werk nicht gelungen — diese Aufgabe sollte das „Dariuszelt" lösen. Und in der Tat hat die „Mannalese" in der ein breites, vor allem gestisch gestaltetes Spektrum der Leidenschaften die anfanglich gegebenen, unterschiedlichen Erkennungsstadien des Wunders demonstriert einen wichtigen Impuls für die Zeitstruktur des „Dariuszeltes" geliefert. Doch Le Brun — wie wir das schon ausgeführt haben — hat hier doppelgleisig prozediert: in der Gruppe um Alexander erfolgt die Andeutung einer Zeitabfolge vor allem durch die Gestik und die Posenstellungen, bei den Figuren hinter der Sisygambis geschieht dies vornehmlich durch die Mimik, die durch Gesten des Bittens, Hinweisens und Erstaunens ergänzt wird. Indem er sich aber am Herrscherbild der großen Dramen orientierte wählte Le Brun einen völlig anderen Themenkreis als in den biblischen Bildern. Unterschiedlich ist im Vergleich zur „Mannalese" auch die Grundanlage der Komposition, die dem Schema des Zuzuges einer Personenreihe zum Herrscher oder Herrscherthron verpflichtet ist — dies entgegen der thematischen Vorgabe, dass eigentlich Alexander derjenige ist, der den Vorplatz des Zeltes betreten sollte. Poussins Bild hat somit Le Brun nur den methodischen Ansatzpunkt und die Vorlage für eine einzige — wenn auch wichtige — Figur geliefert. Die konkreten Anleihen führen zu anderen Bildern Poussins und seines Umkreises. Beginnen wir jedoch mit den themengleichen Werken: In der Disposition der Alexander-Hephaistion-Sisygambis Gruppe lassen sich gewisse Ähnlichkeiten mit Sodomas „Dariuszelt" (1512, Farnesina, Rom) erkennen, keine dagegen mit der berühmten „Familie des Darius vor Alexander" des Veronese (um 1575, London) ein Werk, das Le Brun anscheinend nicht gekannt hat. 13 Doch um so mehr treten die Bezüge und Anleihen des Malers zu Werken der 1640-er Jahre, die in Rom von 13
Ein Vergleich bei J. P. R I C H T E R , The „Family of Darius" by Paolo Veronese, Burlington Magazine, LXIII (1933), S.181; Cecil GOULD, The „Family of Darius before Alexander" by Paolo Veronese, London 1977, S. 9. Auch Veronese zeigt die Hephaistion-Episode — doch hat selbst der präzise beobachtende G O E T H E die Personen verwechselt (Italienische Reise, 8. Oktober 1786).
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der Generation seiner Lehrer geschaffen wurden, auf. Die Pose Alexanders und der Bedeutsamkeit erheischende Handgestus ist dem Gemälde „Aeneas und die Sibylle" (um 1646, Warschau, Abb. 56) seines Lehrers François Perrier entliehen; es sei hierbei bemerkt, dass der Gestus dort in einer völlig anderen Konfiguration auftritt und eine Erwartungshaltung ausdrückt. 14 Doch wichtiger sind die Anklänge an Poussins „Coriolan" (Les Andelys, 1646-1650, Abb. 57), das ist an ein Werk, das schon Le Bruns frühere „Eherne Schlange" (um 1647) beeinflusst haben könnte. 15 Auch im „Coriolan" bildet das Zusammentreffen der Krieger mit den Gnade und Verschonung erbittenden Frauen das entscheidende Bildmotiv. Die Reihe der knienden römischen Frauen besticht durch ihre ausdrucksvolle, wenngleich repetitive Gestik. Den „Coriolan" kann man nicht zu den großen Werken Poussins rechnen. Die schematische Gegenüberstellung der Pallas Athene als Personifikation der Roma und der den anderen Bildteil beherrschenden Figur des Coriolan — diese Bildidee mutet so etwas wie eine Vorwegnahme in nuce der Davidschen 'Konfliktbilder' in der Art des „Brutus" an — konstituiert eine allzu didaktisch-allegorische wirkende binäre Bildstruktur und beraubt das Werk eines psychologisch fundierten Grundtones. Es lassen sich aber deutliche Anleihen Le Bruns bei der Gestaltung der Posen der hinter der Sisygambis knienden Frauen feststellen. Jeweils eine Frauenfigur entnahm Le Brun auch der 1647 entstandenen „Auffindung Mosis" (Louvre) und dem 1649 gemalten „Quellwunder Mosis" (St.Petersburg). Sehr ähnliche, isokephalische Kompositionsformeln gibt es auch auf Poussins „Moses, auf der Pharaokrone trampelnd" (1645, Woburn Abbey) und auf dem „Urteil des Salomo" (1649, Louvre). Dass alle diese Anleihen sich — mit Ausnahme der „Mannalese" — auf Werke der zweiten Hälfte der 40er Jahren beschränkten, ist in gewisser Hinsicht folge-
14
Pierre ROSENBERG, Un Perrier à Varsovie, in: Ars Auro Prior. Studia Ioanni Bialostocki Sexagenario Dicata, Warszawa 1981, S.423-436. Zu den Beziehungen zwischen Perrier und Le Brun vgl. R.. LE BLANT, Collaborateurs de Charles Le Brun, in: La Normandie, Études archéologiques. Actes du 105e Congrès National des Sociétés Savantes, Caen 1983, S. 3 6 1 - 3 7 4 . Doch hat Le Brun die Beinstellung und die Geste der zurückweichenden rechten Hand selbständig erarbeitet - vgl. die „Étude pour Alexandre nu", Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv. 28010. in: L. BEAUVAIS, L e s D e s s i n s (wie A n m . 2 ) S. 2 8 7 .
15
Der Verweis auf den „Coriolan" schon bei J. THUILLIER, Charles Le Brun (wie Anm. 2) S. 73 und einer Reihe weiterer Publikationen u.a. MONTAGU, The Expression (wie Anm. 8) S. 42, was KIRCHNER, Der epische Held (wie Anm. 2) S. 279 übersehen hat.
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richtig: Die Darstellung der Affekte in den Werken Poussins dieser Periode entsprach mehr, als dies bei den früheren Werken - natürlich mit Ausnahme der „Mannalese" — und den nach 1650 entstandenen Bildern der Fall war, dem Anliegen Le Bruns. Andererseits waren diese konkreten Übernahmen auch durch Le Bruns Aufenthalt in Rom (bis 1646) und seine dortigen Kontakte mit Poussin bedingt; er muss dort entweder Bilderstudien oder in Vorbereitung befindliche Bilder gesehen haben. Auch eine nachträgliche Inspiration durch aus Paris angeforderte Nachzeichnungen erscheint möglich. Zufallig ist diese, bisher nicht als solche erkannte, Häufung der Bezüge gewiss nicht. Doch diese Anlehnungen und Rückgriffe betrafen weder die Kompositionsstruktur noch die Raumerfassung. Im „Dariuszelt" wird der schroffen Gegenpoligkeit und Kontrastierung Poussins ein abgestuftes System des gestischen und mimischen Ausdrucks gegenübergestellt. Deutlich ist die Intention des Künstlers, dass die Andeutung einer vorangegangenen zeidichen Abfolge der Handlung nicht die drei Einheiten beeinträchtigen sollte. Auch wirken — im Gegensatz zu Poussin — die Bildfiguren Le Bruns keinesfalls raumbildend: Somit verliert der Bildraum seine handlungssetzende Funktion und wird zur Folie des Geschehens. Der Erfolg des „Dariuszeltes" war immens und wurde noch durch seine Rolle als Demonstrationsbild für die Konzeption Le Bruns gesteigert. Vier Einzelstudien, von Le Brun selbst ausgewählt, fanden ihren Weg in die berühmten Ausgaben seiner „Conference sur l'expression" (1698, 1702,1713) 16 die den Ruhm seines Systems in ganz Europa verbreiteten. In Henri Testelins „Sentimens des plus habiles peintres" dessen zweite, illustrierte Ausgabe 17 zwei Jahre vor der Erstausgabe des Le Brunschen Traktates erschien (1696), sind es auch vier Frauenköpfe aus dem „Dariuszelt", die die Leidenschaften illustrieren sollen. Testelins Ausgabe — eine Art Le Brun-Verschnitt, dessen genaue Bezüge zu den von Le Brun hinterlassenen Aufzeichnungen noch zu untersuchen wären — zeigt zwei identische Kopfstudien mit gleichen Bezeichnungen 16
17
Vgl. die Ausgabe von 1702: Méthode pour apprendre à dessiner les passions, proposée dans une conférence sur l'expression générale et particulière, Amsterdam 1702, Fig. 7 , 1 7 , 1 8 , 22 Henri T E S T E L I N , Sentimens des plus habiles peintres sur la pratique de la peinture et de la sculpture mis en table de précepts, Paris 1696, S. 1 9 - 2 6 (Die erste Ausgabe Paris 1680 enthält keine Illustrationen). Zu den Problemen bezüglich der Authentizität des Le Brunschen Materials bei Testelin siehe u.a. H. W. V A N H E L S D I N G E N , Testeün's Sentimens, 1696: een onoplosbaar probleem?, Leids Kunsthistorisch Jaarboek, V - V I (1986/87), S. 2 0 3 - 2 1 5
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(Darstellungen von „la crainte", „l'abattement"), verzichtet auf eine Kopfstudie (le ravissement) und bringt l'etonnement, — ein unverhohlenes Poussin-Derivat, was vielleicht sein Fehlen zwei Jahre später erklären mag. Was bei Testelin aber 1696 als ,,1'inquiétitude" auftritt, wird bei der Le Brun-Ausgabe als ,,1'espérance" bezeichnet. Zwar basiert diese Umbenennung auf einer großzügigen Auslegung der psychologischen Kategorien des Le Brun-Textes, doch zeigt sie auch die Dehnbarkeit seiner Ausdrucksschemata, und dies schon in den Anfängen selbst, im „Dariuszelt". Die zwei in beiden Ausgaben identisch bezeichneten Frauenköpfe des „Dariuszeltes" („la crainte", „l'abattement") basieren im Grunde genommen auf physiognomischen („la crainte") und posenhaften („l'abattement") Pathosformeln des Barock, sind also für die Zielsetzungen Le Bruns nicht von zentraler Bedeutung.
André Félibien und Charles Perrault zu Problemen der Narration Für die damalige Kunstkritik zählte vor allem die enge Verbindung von Theorie und Ausführung, aber natürlich auch die besonders im panegyrischen Sinne hervorgehobene Mitwirkung des Königs am Entstehungsprozess dieses Werkes. So waren es André Félibien und Charles Perrault, deren teilweise eulogische Beschreibungen und Analysen die Position des „Dariuszeltes" als zentrales Referenzwerk und Vorbild für den „grand goût" auch im nächsten Jahrhundert bestimmen sollten. Als erste erschien André Félibiens Abhandlung „Les Reines de Perse aux pieds d'Alexandre. Peinture du cabinet du Roy" (1663), eine Schrift, die im letzten Drittel des 17. Jahrhundert mehrere Ausgaben erlebte und 1703 eine englische Übersetzung erhielt.18 Als Sekretär der Akademie war
Erste Ausgabe Paris 1663. Danach abgedruckt im Rahmen Félibienscher Sammelbände (1671, 1689, 1696). Hier im folgenden zitiert nach der Veröffentlichung in: André FÉLIBIEN; Recueil de descriptions de peintures et d'autres ouvrages faits pour le Roy, Paris 1689. Englische Ausgabe: The Tent of Darius Explained, London 1703. Unsere Analyse des Textes unterscheidet sich von den Analysen bei René DEMORIS, Peinture et histoire: Félibien et la stratégie du récit historique au siècle de Louis XIV: (d'après: Les reines de Perse aux pieds d'Alexandre), in: Récit et Histoire, hg. von Jean BESSIÈRE, Paris 1984, S. 2 3 - 3 5 u. Stefan GERMER, Kunst-Macht-Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien, München 1997, S. 2 0 8 - 2 1 8 .
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Félibien in den 60er Jahren einer der engsten Mitarbeiter („le singe de Le Brun") des Hofmalers. 19 Erst 1668 sollte sie ein Konflikt entzweien, der sich zwar vordergründig an der Redaktionsweise der von Félibien herausgebenden „Conférences" entzünden sollte, doch zweifellos auch durch divergierende kunsttheoretische Ansichten bedingt war. In „Les Reines" trifft man Partien, in denen Le Bruns Ansichten wiedergegeben werden und Fragmente, in denen sich erste, inhaltliche Divergenzen bemerkbar machen. In den 70er Jahren scheint Félibien enger mit Charles Perrault zusammengearbeitet zu haben, doch erstreckt sich diese Feststellung nicht auf eine eventuelle Übereinstimmung ihrer kunsttheoretischen Ansichten. Félibien begann mit einer panegyrischen Huldigung an den Roi Soleil: „Le peintre ne pouvoit exposer aux yeux du plus grand Roy du monde, une action plus célèbre & plus signalée, puisque l'histoire la rapporte comme une des plus glorieuses qu'Alexandre ait jamais faites, à cause de la clémence & de la modération que ce Prince fit paroistre en cette rencontre, car en ce surmontant soy-mesme, il surmonta, non pas de peuples barbares, mais le Vainqueur de toutes les Nations"20 Das hier eingefügte Plutarch-Zitat soll noch stärker den Ruhm hervortreten lassen, denn der Vergleich mit Alexander, so Félibien ein wenig später, habe nur eine bedingte Aussagekraft, in Wirklichkeit übertreffe Ludwig Alexander. Damit sind am Beginn der Regierungszeit Ludwigs und vor den Eroberungskriegen die Leitlinien für die propagandistische Rolle des Bildes gezogen worden. Danach ging Félibien zur Analyse der Leidenschaften über: „Ce sont ces expressions que je prétens de remaquer plus particulièrement en faisant voir combien des passions différentes paroissent sur les visages & dans les mouvemens de toutes les Figures qui remplissent ce tableau". 21 So hat der Maler in der Figur Alexanders zwar „[...] sur le visage d'Alexandre sa jeunesse, la douceur de son temperament, sa valeur [...]" erfasst, doch wichtiger als diese sehr
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So bezeichnete ihn der Comte de Brienne - vgl. Jaques THUILLIER, Pour André Félibien (Annexe: Bibliographie d'André Félibien), Dix-Septième Siècle, 138 (1983), S. 67-93. Die Darstellungen des Konfliktes zwischen Le Brun u. Félibien bei Bernard TEYSSÈDRE, Roger de Piles et les débats sur le coloris au siècle de Louis XIV., Paris 1965, S. 1 2 1 - 1 2 6 u. GERMER, Kunst-Macht-Diskurs (wie Anm. 18) S.379-381 behandeln vor allem die institutionellen Aspekte. Zit. nach der Ausg. FÉLIBIEN, Recueil (wie Anm. 18) S. 30f. FÉLIBIEN, Recueil (wie Anm. 18) S. 35.
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