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German Pages 678 [683] Year 2017
Andreas Peglau
Unpolitische Wissenschaft?
Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus
Peglau: Unpolitische Wissenschaft?
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Psychosozial-Verlag
Andreas Peglau Unpolitische Wissenschaft?
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as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft sowie als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, Siegfried Bernfeld, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Bezüge vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Die Psychoanalyse steht in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Als das ambitionierteste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Verfahren zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt.
Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth
Andreas Peglau
Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus Mit einem Vorwort von Helmut Dahmer
Psychosozial-Verlag
Die vorliegende Studie wurde von der Medizinischen Fakultät Charité – Universitätsmedizin Berlin im September 2012 als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde das Manuskript überarbeitet und ergänzt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 3., durchgesehene, korrigierte und erweiterte Auflage 2017 © der Originalausgabe 2013 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78- 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Foto der Berggasse 19 in Wien (Wohn- und Arbeitsstätte Sigmund Freuds vor seiner Emigration nach London) zur Zeit der NS-Herrschaft Umschlaggestaltung & Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2637-8 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-7289-4
Inhalt
Vorwort zur dritten und erweiterten Auflage 2017
11
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
15
Vorwort von Helmut Dahmer
Einleitung
23
1
Vorspiele
45
1.1
Frühe Prägungen
45
1.2
Reich in Wien
1.2.1
Psychoanalyse
1.2.2
Politik
46 46 58
1.3
Sexualerregung
1.3.1
Bilaterale Beziehungen
1.3.2
»Schundkampf«
1.3.3
Sieg in erster Instanz: Das Verfahren vor der Berliner Prüfstelle
1.3.4
Niederlage in Leipzig: Die Verhandlung vor der »Oberprüfstelle«
1.3.5
Psychoanalyse und Sexualwissenschaft
1.3.6
Unerwarteter Beistand
70 72 74 78 81 84 86
5
Inhalt
1.4
Reich in Deutschland 1930 bis 1933
1.4.1
Gegen den Paragrafen 218
1.4.2
Die Marxistische Arbeiterschule MASCH
1.4.3
Die Massenorganisationen der KPD
1.4.4
Die Einheitsverbände für proletarische Sexualreform und Mutterschutz
1.4.5
Weitere EV-Aktivitäten: Sexualberatung und die Warte
1.4.6
Massenorganisation oder »kleine Splittergruppe«?
1.4.7
Parteiinterne Spannungsfelder
88 95 99 106
1.4.15 Diffamierungen von »rechts«
108 121 126 133 136 142 146 149 157 161 166 178
1.5
Ein letztes Mal Wien
181
2
Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
189
1.4.8
Der sexuelle Kampf der Jugend
1.4.9
Der Einbruch der Sexualmoral
1.4.10 Für und wider den Todestrieb 1.4.11 Der Masochismus-Artikel: Reichs Freud-Widerlegung 1.4.12 Freud und der Kommunismus 1.4.13 Psychoanalyse in der Sowjetunion 1.4.14 Eskalation in der KPD
2.1
Bücherverbrennung
2.1.1
Die »Feuersprüche«
2.1.2
Mögliche Inspiratoren
2.1.3
Der 10. Mai 1933
2.1.4
Reichs möglicherweise verbrannte Bücher
189 191 193 196 202
2.2.2
Die Kriterien und ihre Anwendung
2.2.3
Opfer
2.2.4
Umsetzung
204 204 211 218 226
2.3
Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«
229
2.2
Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
2.2.1
Zensoren
6
Inhalt
2.4
Publikationsverbote III: Weitere Zensurinstanzen
236
2.5
Hauptbetroffene der NS-Bücherverfolgung
238
2.6
Reichs verbotene Schriften
240
2.7
Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten? Eine Suche
246
2.8
Die Massenpsychologie des Faschismus
2.8.1
Vorerfahrungen
2.8.2
Inhalt
2.8.3
Reaktionen
266 266 272 284
2.9
Trennung von der Psychoanalyseorganisation
2.9.1
Gefährdetes Exil
2.9.2
Der Luzerner IPV-Kongress
2.9.3
Reichs biologische Experimente
2.9.4
Diagnose als Waffe
2.9.5
Allmähliches Ausblenden
293 293 295 299 302 306
2.10
Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939
311
2.11
Das Ende der Sex-Pol-Bewegung
322
2.12
Ausweisung, Observierung
328
2.13
Ausbürgerung
329
2.14
Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«
338
2.15
Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
2.15.1 Was ist (noch) Psychoanalyse? 2.15.2 Veröffentlichungen von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern 2.15.3 Das Zentralblatt für Psychotherapie 2.15.4 Das Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 2.15.5 Zwei medizinische Wochenschriften 2.15.6 Der Völkische Beobachter und weitere Publiationen
345 346 350 391 404 407 410
7
Inhalt
3
Wilhelm Reich nach 1945
413
3.1
Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA
413
3.2
Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich im Kontext der Psychoanalyse
3.2.1
Diffamierung
3.2.2
Abwertung
3.2.3
Beschweigen
428 428 432 434
4
Einordnungen und Erklärungen
437
4.1
NS-Funktionäre und Psychoanalyse
438
4.2
Freud über den Faschismus
445
4.3
Antifaschistisches Engagement
451
4.4
Das 1933er Memorandum
456
4.5
Hauptakteure, Protegés
459
4.6
»Neue deutsche Seelenheilkunde«
468
4.7
»Arisierung«
474
4.8
Zuarbeiten zur »Eugenik«
476
4.9
Tiefenpsychologische Kriegsführung
481
4.10
Geheimhaltung und Medienlenkung
484
4.11
Wissenschaftspolitik
487
4.12
Kulturrichtlinien
490
4.13
Sexualität im Dritten Reich
494
4.14
Die (nachlassende) Reflexion der Psychoanalyse
508
4.15
Das lange Schweigen der Analytiker
513
8
Inhalt
4.16.3 Wiederhoungen
520 520 528 533
5
537
4.16
Unpolitische Psychoanalyse?
4.16.1 Psychoanalytiker und US-Geheimdienste 4.16.2 Freud und die Soziopolitik
Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
Anhang Dokumente und Abbildungen
557
Die wichtigsten Abkürzungen
609
Quellen und Literatur 1
Quellen
611 611
2
Literatur inklusive Nachschlagewerken und Texten von Webseiten
624
Personenregister
659
Vorschläge für Weiterführungen
673
Pressestimmen zur ersten und zweiten Auflage
677
9
Vorwort zur dritten und erweiterten Auflage 2017
Die Vorarbeiten zu diesem Buch begannen 2007, im Jahr von Wilhelm Reichs 110. Geburts- und 50. Todestag. An Reichs Berliner Wohnhaus – das mit Fug und Recht als »Geburtshaus der Körperpsychotherapie« angesehen werden kann – wurde damals eine Gedenktafel eingeweiht.1 Dabei kam ich mit Lore Rubin Reich, Psychoanalytikerin und jüngere Tochter Reichs, in Kontakt, was sowohl einen lebendigen Austausch als auch eine Verabredung zum Theaterbesuch nach sich zog. Denn in der Probebühne der Staatsoper wurde gerade – glückliche Fügung! – ein 1946 entstandener Text ihres Vaters in dramatisierter Fassung gegeben: Rede an den kleinen Mann. Vor Veranstaltungsbeginn zeigte ich Lore Rubin Reich den vom Aufführungsort nur wenige hundert Meter entfernten Bebelplatz gegenüber der Humboldt-Universität: Hier wurden am 10. Mai 1933 tausende mit nationalsozialistischen Auffassungen unvereinbare Schriften verbrannt. Nur vier den Initiatoren der Vernichtungsaktion offenbar besonders verhasste Psychoanalytiker waren, soweit bekannt, davon betroffen. Lore Rubin Reichs Vater war einer von ihnen. Dieses Zusammentreffen verstärkte meinen Wunsch, zu erfahren, wie überhaupt im faschistischen Deutschland mit analytischen Schriften umgegangen wurde. Erstaunlicherweise lagen dazu jedoch keine gründlichen Ausarbeitungen vor. Ich entschloss mich, selbst zu recherchieren – ohne zu ahnen, dass daraus eine siebenjährige Suche in unzähligen Dokumenten, diversen Archiven und Institutionen werden sollte, bei der sich die zu beantwortenden Fragen immer mehr ausweiteten. Was ich dabei entdeckte, widersprach vielfach meinen Erwartungen. Der pauschale Vernichtungswille, der sich bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 noch demonstrativ in einem eigenen »Feuerspruch« für die 1
Siehe Abb. S. 608.
11
Vorwort zur dritten und erweiterten Auflage 2017
»Freud’sche Schule« artikuliert hatte, wurde von der NS-Administration nicht umgesetzt. Entgegen tradierter Behauptungen unterlag die Psychoanalyse im Hitler-Staat keiner umfassenden Unterdrückung, sondern fand, von Sozialkritik »bereinigt«, weitgehende Anerkennung im Gesundheitswesen, wurde später zur Aufrechterhaltung der »Wehrbereitschaft« und für die psychologische Kriegsführung genutzt. Nur ein kleiner Teil der psychoanalytischen Literatur war im »Dritten Reich« verboten; kein einziger Analytiker wurde verfolgt, weil er Analytiker war. In den tausenden psychoanalytischen Publikationen, die weltweit zwischen 1933 und 1940 erschienen, wurde der Faschismus so gut wie gar nicht thematisiert, ab 1941 gab es vereinzelte Gegenbeispiele. Wo ich mit Konfrontation gerechnet hatte, fand ich im Wesentlichen Anpassung, Schweigen, Kollaboration. Der einzige Psychoanalytiker, der vor 1941 öffentlich eine Psychoanalyse des Faschismus und gegen den Faschismus betrieb, war Wilhelm Reich – der nicht zuletzt wegen seines antifaschistischen Engagements von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zunehmend geächtet wurde. Während ich mühsam begriff, in welchem Umfang ich die real existierende Psychoanalyse idealisiert hatte, wuchs mein Respekt für Reich. In der psychoanalytischen Geschichtsschreibung meist totgeschwiegen, diffamiert oder zumindest marginalisiert, war er in Wirklichkeit einer der bekanntesten Psychoanalytiker – und ist einer der wichtigsten geblieben. Neben Erich Fromm hat er den sozialkritischen Gehalt der Freud’schen Theorie am konsequentesten und ertragreichsten weiterentwickelt, mit der Originalfassung seiner Massenpsychologie des Faschismus 1933 eines der bedeutsamsten psychoanalytischen Werke verfasst, das je erschienen ist. Heute, da von einem europäischen »Rechtsruck« gesprochen werden muss, sich in Deutschland per AfD und PEGIDA eine »enthemmte Mitte« (Decker et al. 2016) immer lauter artikuliert, nimmt die Brisanz dieser Schrift wieder zu. Reich mithilfe meines Buches ein Stück seiner verdienten Popularität zurückzugeben, sollte daher, so hoffte ich, auch dazu beitragen, dass sich die Psychoanalyse endlich wieder ihrer gesellschaftlichen Verantwortung besinnt und ihr vorgeblich »unpolitisches« Image aufgibt: eine dringende Forderung in einer Welt, in der sich unverstandene psychosoziale Konflikte zwischen Menschengruppen und Völkern häufen. Zu Reichs 120. Geburtstag am 24. März 2017 erscheint Unpolitische Wissenschaft? nun in dritter Auflage. Hat sich zehn Jahre nach dem Zusammentreffen mit Lore Rubin Reich und vier Jahre nach Veröffentlichung der Erstauflage tatsächlich etwas geändert in der Bewertung Wilhelm Reichs? 12
Vorwort zur dritten und erweiterten Auflage 2017
Ich denke: ja. Nicht nur haben zwei bereits verkaufte Auflagen interessierte Leserinnen und Leser gefunden, ich hatte auch Gelegenheit, wesentliche Inhalte des Buches in diversen Artikeln, Vorträgen und Diskussionen darzustellen sowie durch zusätzliche Forschungsergebnisse auf meiner Internetseite zu ergänzen. 2 Zusätzlich gab es eine ganze Reihe positiver Rezensionen in wichtigen deutschen Psychoanalyse-Periodika sowie in anderen Zeitschriften und Zeitungen.3 Deshalb ist wohl die folgende Einschätzung nicht übertrieben: Wilhelm Reich ist wieder deutlich fester in der Historiografie der Psychoanalyse verankert. Insbesondere wer zu den Entwicklungen bis 1934 seriöse Forschung betreiben will, wird unweigerlich auf ihn stoßen. Wer ihn ausspart, kann die Geschichte der Freud’schen Lehre ohnehin nicht schlüssig erzählen. Dieser Erfolg ist freilich nicht damit gleichzusetzen, dass Reich wieder den gebührenden Platz in Theorie und Praxis der Psychoanalyse eingenommen hätte. Ich kann bislang wenig Anzeichen dafür entdecken, dass sich der analytische »Hauptstrom« der Herausforderung (und Chance!) stellen wollte, die eine ReIntegration Reichs mit sich brächte.4 Viele Einsichten Wilhelm Reichs sind jedoch über den Rahmen der Psychoanalyse hinaus bedeutsam.5 Wer die wachsende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und die zunehmende Destruktivität in den internationalen Beziehungen begreifen will, findet bei ihm Erklärungen, die weit über das hinausgehen, was üblicherweise in der Tiefenpsychologie oder andernorts dazu angeboten wird.6 Wer nach sinnvollen Alternativen, nach einem realitätsnahen Menschen-
2 3 4
5
6
andreas-peglau-psychoanalyse.de/category/geschichte-reich/ (Stand: 22.09.2016). Siehe Auszüge auf S. 677f. Dass ich meine Forschungsergebnisse 2014 der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und 2015 auf der Frühjahrstagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung vorstellen konnte oder dass die Psyche ein ausführliches Essay abdruckte, in dem Bernd Nitzschke (2014) sich anerkennend zu meinem Buch äußerte, lässt sich allerdings schon als positive Reaktionen dieses »Hauptstroms« einordnen. Die spannende Frage ist, ob daraus noch etwas folgt. Daher war ich sehr erfreut, als mich Samuel Salzborn 2013 bat, in dem von ihm herausgegebenen Band 100 Klassiker der Sozialwissenschaften Reichs Massenpsychologie des Faschismus zu portraitieren (Peglau 2016a). Dass Kurt Pätzold (2015) einige wichtige Stellen aus Reichs Büchern in seine Sammlung von »Faschismusdiagnosen« aufnahm, nährt die Hoffnung, Reich könnte auch unter »Linken« endlich wieder mehr Aufmerksamkeit gezollt werden, ebenso, dass ich 2015 eingeladen wurde, über Reich auf der Internationalen WilliMünzenberg-Konferenz in Berlin zu sprechen (Peglau i.V.). Siehe dazu auch Andreas Peglau: Anregungen zu einer Psychoanalyse des europäischen »Rechtsrucks«, andreas-peglau-psychoanalyse.de/anregungen-zu-einer-psychoanalysedes-europaeischen-rechtsrucks/#more-281 (Stand: 22.09.2016).
13
Vorwort zur dritten und erweiterten Auflage 2017
und Weltbild als Basis für ein friedliches Miteinander sucht, wird ebenfalls fündig. Insbesondere jene Sätze, die Reich im Nachwort zur zweiten Auflage seiner Massenpsychologie formulierte, halte ich für einen Schlüssel nachhaltiger psychosozialer Umwälzungen: »Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann« (Reich 1934b, S. 283). Aber auch wer wissen will, welche Erfahrungen ein anderer bei dem Versuch gemacht hat, gegen den Druck entfremdender Normen, repressiver Institutionen und autoritärer Sozialstrukturen eigene Wege zu gehen, sich nicht zu verlieren in einer Welt, die es schwer macht, authentisch zu sein, kann von der Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich profitieren. In dieser dritten Auflage war es nun möglich, in größerem Umfang einzuarbeiten, was sich seit 2013 an ergänzenden Informationen und Korrekturen ergeben hat. Erfreulicherweise war nur eine erwähnenswerte Streichung vorzunehmen.7 Hinzugekommen sind dagegen zahlreiche, oft auf neuen Dokumentenfunden beruhende Details und Präzisierungen. Das Bild der unauflöslichen Beziehung zwischen Psychoanalyse und Politik hat zusätzliche Facetten bekommen. Auch bei der Arbeit an dieser dritten Auflage habe ich vielfältige Unterstützung und wertvolle Anregungen erhalten. Ich danke insbesondere Werner Abel, Jairus Banaji, Philip Bennett, Hanna Eggerath, Karl Fallend, Bastian Fleermann, Florian Fossel, Winfried R. Garscha, Gerhard Hanloser, Gabriella Hauch, Hans Hautmann, Bert Hoppe, Galina Hristeva, Mario Keßler, Bernd A. Laska, Benedikt Mauer, Anne Mommertz, Knuth Müller, Ulrike May, Dieter Nelles, Gudrun Peters, Ute Räuber, Karl Heinz Roth, Hartmut Rübner, Detlef Siegfried und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Psychosozial-Verlags. Andreas Peglau, Berlin im März 2017
7
14
Ernst Bornemanns Mitteilungen zu Reich müssen mittlerweile als Erfindung gelten, sie tauchen daher nur noch in Fußnoten auf.
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
Sigmund Freud, der der jüdischen Minderheit im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie angehörte, hatte sich vorgesetzt, auf dem Feld der naturwissenschaftlich orientierten Medizin seiner Zeit zur Lösung der »Welträtsel« beizutragen. Diese präsentierten sich dem jungen Arzt in Gestalt von eigentümlichen Leiden – Hysterien und Zwangsneurosen –, für die es im Rahmen der Physiologie und Neurologie seiner Lehrer weder eine Erklärung noch eine Therapie gab. Im Verein mit Joseph Breuer fand er heraus, dass es sich bei den Psychoneurosen nicht um Erscheinungsformen einer verborgenen organischen Erkrankung handelt, sondern um »soziale Leiden«, nämlich um Nachwirkungen von in früher Kindheit erworbenen und in der späteren Lebensgeschichte erneuerten Traumen (»Kränkungen«), die sich, unbewältigt und unbewältigbar, weil aus der Erinnerung verbannt, in Gestalt befremdlicher Symptome – in Privat- oder Körpersprache formuliert – geltend machen. Breuer und Freud sprengten den Rahmen der naturwissenschaftlich-technischen Medizin ihrer Zeit, indem sie die befremdlichen hysterischen Phänomene (somatische Leiden ohne organischen Befund) nicht als »Simulationen« abtaten, sondern ihre Patientinnen (wie Bertha Pappenheim und Anna von Lieben) und Patienten als Partner und Auskunftsgeber ernst nahmen und sich auf einen anamnestischen Dialog mit ihnen einließen. Freud wurde darüber, wie vor allem seine Briefe an Wilhelm Fließ zeigen, von einem Objekt- zu einem Subjektwissenschaftler, genauer: zu einem Kritiker der »zweiten« oder Pseudonatur der lebens- und der sozialgeschichtlich konstituierten Institutionen. Mit der Entdeckung, dass die Übermacht der neurotischen Produktionen (oder »Privatreligionen«) der von der Domestizierungs-Kultur überforderten Individuen ebenso wie diejenige der kulturellen Institutionen vom Typus der etablierten Kollektiv-Religionen darauf beruht, dass deren Bildungsge15
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
schichte vergessen (oder »verdrängt«) worden ist, wurde die Psychoanalyse zur Sozialwissenschaft. Der Naturwissenschaft entwachsen, machte sie als Kritik von Pseudonatur Furore. Freud beharrte freilich darauf, auch (und gerade) das von ihm entwickelte Verfahren, das Rätsel von Institutionen zu lösen, die die (vergesellschafteten) Individuen einschränken und niederhalten, statt ihre Potenziale zur Entfaltung zu bringen, gehöre zur Naturwissenschaft. Dabei griff er auf einen umfassenden Begriff von »Naturwissenschaft« zurück, wie er sich etwa bei dem Renaissancephilosophen Francis Bacon findet, der (1620) schrieb, die Voraussetzung aller Naturforschung zum Wohl der Menschheit sei eine Kritik der »Idole«. Der Zusammenhang der Therapie, die darauf abzielt, »Neurotiker« wieder zu Autoren ihrer Lebensgeschichte zu machen, mit der in der Traumdeutung entwickelten neuartigen Psychologie des Unbewussten (also der »Metapsychologie«) und mit der Suche nach einer »Kultur, die keinen mehr erdrückt«, erschien den freudianisch orientierten Ärzten und Psychologen, die sich als Therapeuten in zunftmäßig organisierten Vereinen zusammengefunden hatten, alsbald wenig plausibel. Vor allem das Junktim von Therapie und Kulturkritik (das Verständnis der Therapie als einer praktischen Kulturkritik) galt ihnen – in der Ära der totalitären Bewegungen und Regime – als ein politisches Risiko und wurde stillschweigend fallengelassen. Die Therapie, als »Technik« verstanden – und als solche vermeintlich für die unterschiedlichsten »Zwecke« einsetzbar –, verselbstständigte sich allmählich gegenüber der sie fundierenden Freudschen Trieb- und Sprachtheorie. Freud selbst versuchte, die Psychoanalyse (als Theorie und Organisation) durch Neutralisierung aus dem europäischen Bürgerkrieg herauszuhalten. In den Jahren 1932/33 betonte er zum einen – in der letzten seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse – neuerlich deren antiideologisch-naturwissenschaftlichen Charakter und leitete zum andern den Ausschluss von Wilhelm Reich, dem Exponenten der »Freudschen Linken«, in die Wege. Dessen »Bolschewismus« (Freud) bestand im Wesentlichen darin, die Freudsche Kritik der Massenbindung und der religiösen »Rechtfertigung« sozialer Ungleichheit sowie Freuds Diagnose, die Menschengattung tendiere infolge von Trieb-Entmischung zu Genozid und Selbstauslöschung, »sexualpolitisch« zu reformulieren und mit einem entsprechenden Aktionsprogramm in den Kampf gegen die faschistische Massenbewegung einzugreifen. Soziologisch orientierte Reich sich am zeitgenössischen Partei-Marxismus, praktisch versuchte er, zeitweilig mit beträchtlichem Erfolg, die sozialistisch-kommunistische Jugendbewegung für sein »sexualrevolutionäres« Programm zu gewinnen. Gegenüber diesem Projekt, aus der Psychoanalyse politische Konsequenzen zu ziehen bzw. die Psychoanalyse zu politisieren, machte Freud Front, weil er darin (zu Recht) eine Gefahr für die bestehenden psychoanalytischen Organisationen 16
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
sah. Gegen Reich (und dessen Anhänger und Sympathisanten) verbündete er sich mit Repräsentanten der DPG- und IPV-Mehrheit, die – wie in Deutschland Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig – ihrem psychologistischen Verständnis der Psychoanalyse und ihrer politischen Orientierung nach der psychoanalytischen »Rechten« oder (wie Heinz Hartmann ) dem (orthodoxen) »Zentrum« der Bewegung angehörten. Im Hinblick auf die DPG glaubte Freud 1933 (und auch noch in den Folgejahren) an die – von Reich ausgeschlossene – Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen der nun als unpolitische Naturwissenschaft firmierenden und alsbald »arisierten« Psychoanalyse mit dem terrorgestützten, rassistischen Führerstaat und dessen humantechnischen Programm. Ideologen wie C. Müller-Braunschweig beeilten sich, um der Rettung der PsychoanalytikerOrganisation willen ihre therapeutische Technik in den Dienst der »nationalsozialistischen Erhebung« zu stellen. Vor dem kampflosen Sieg der Hitlerbewegung, der in den Folgejahren sowohl die psychoanalytische als auch die (revolutionäre) Arbeiterbewegung zum Stillstand brachte, hatten sich die Freudianer als eine liberale, philanthropische, sozialpädagogisch-pazifistische, therapeutisch aktive Interpretationsgemeinschaft verstanden und sich im Parteienspektrum am ehesten der reformistischen Mehrheits-Sozialdemokratie nahe gefühlt. Die kulturkritische Grundtendenz, der wissenschaftstheoretische Status und der politische Gehalt der Freudschen Therapeutik wurden ihnen erst gegen Ende der Weimarer Republik zum Problem. Die Stilisierung zu einer »Naturwissenschaft« (wie andere) und die Reklamierung politischer Neutralität ging zu Lasten der sozialistischen Minderheit der Organisation. Fortan galt die »soziologische Interpretation psychoanalytischer Befunde« (Ernest Jones, 1949) als Ketzerei und die politische Aktivität in »linken« Organisationen als unstatthaft, weil sie den Bestand der psychoanalytischen Vereine gefährde. Nahmen freudianische Therapeuten den Antiautoritarismus der »freien Assoziation« – des »Abbaus« des Über-Ichs (Ferenczi) – ernst und wollten ihm auch außerhalb der psychoanalytischen Kur Geltung verschaffen, wandten sie sich also gegen den politischen Status quo, dann drohte ihnen (wie Reich) Isolierung und Ausschluss. Kooperierten sie hingegen mit Instanzen des totalitären Staats und fanden sie sich bereit, ihr ärztliches Wissen zur Heilung von Funktionären, zur Bekämpfung von Regimegegnern (oder gar zur Eliminierung von Missliebigen) zur Verfügung zu stellen, dann verstanden sie sich als Spezialisten und glaubten, sie seien weder für die jeweiligen Zwecke, für die ihre Technik eingesetzt wurde, verantwortlich, noch für das humantechnische Rahmenprogramm des faschistischen Menschenfresser-Staats, der sie tolerierte, sofern sie auf Kritik und Widerstand verzichteten, der Freudschen Aufklärung abschworen und sich um ihre verjagten oder umgebrachten Kolleginnen und Kollegen nicht weiter bekümmerten. Die Auflösung des Zusammenhangs von Kulturreform, Metapsychologie und Therapie 17
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
hatte die Isolierung der psychoanalytischen »Technik« und deren nachfolgende Indienstnahme durch den faschistischen Terrorstaat möglich gemacht; im Zuge des »Aufschwungs« der »arisierten« Psychotherapie(n) in den Vorkriegs- und Kriegsjahren wurde die »Medizinalisierung« (Paul Parin) der Psychoanalyse zum verschwiegenen Programm der Psychoanalytiker. Freuds Theorie der Kultur und der Massen richtete sich unverkennbar gegen totalitäre Bewegungen und Regime. Seine Metapsychologie galt vielen als ein Spezialjargon, dessen Termini man ersetzen oder (mithilfe von Neologismen) »eindeutschen« konnte. Die Freudsche Neurosentherapie aber war auch notleidenden Parteigenossen von Nutzen. Ziel der Untersuchung von Andreas Peglau ist es, das zweideutig-zwielichtige Verhältnis der organisierten Psychoanalytiker (und ihrer Verbands-Ideologen) zur Politik zu klären. Sein Resultat: Die organisierte Psychoanalyse war nie unpolitisch (oder »neutral«). Was deren Sprecher als »politischen Missbrauch der Psychoanalyse« verfemten, war stets nur die politische Theorie und Praxis, die sich gegen den Status quo richtete, sich also – dem Freudschen Programm getreu – für die Überwindung einer Kultur der Kriege, der Massaker und des Aberglaubens engagierte. Die Politik im Dienste des Status quo (und der jeweils »stärkeren Bataillone«) hingegen – auch die Politikberatung der US-Regierung und des FBI nach dem Kriegseintritt der USA und später in den Jahren des »Kalten Krieges« – wurde von den psychoanalytischen Praktikern und ihren Funktionären gar nicht als »Politik« wahrgenommen (und darum stillschweigend akzeptiert bzw. vom psychoanalytischen Establishment gern gesehen). Wie die meisten Freudianer seiner Generation verstand auch der revolutionäre Arzt Wilhelm Reich die Psychoanalyse als eine Naturwissenschaft im engeren Sinn, als eine Version des biologischen Materialismus; auch er sah in der psychoanalytischen Psychotherapie in erster Linie eine »Technik«. In der naturalisierten und technifizierten Version von Psychoanalyse, die Reich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren entwickelte, war seine spätere, anti-psychologisch und anti-politisch orientierte »Orgonomie« bereits vorgebildet. In den Jahren 1927 bis 1937 ersetzte er die Freudsche Kulturkritik, das Komplement der Neurosentherapie, zunächst durch eine (vereinfachte) historisch-materialistische Geschichtstheorie sowie durch eine – zuerst »naturdialektisch« genannte, später als »funktionalistisch« bezeichnete – allgemeine Theorie des Menschen und der Natur, die sowohl die Psychoanalyse als auch die (marxistische) Soziologie umgreifen sollte. Im Rahmen dieses Versuchs, Elemente der Freudschen mit solchen der Marxschen Theorie zu koppeln – also, wie Ulrich Sonnemann schrieb, »beider Blindheiten« zu addieren statt sie durch Gegeneinanderführung ihrer Perspektiven zu berichtigen –, gelang es Reich gleichwohl, mit seiner (im Oktober 1933 erschienenen) Massenpsychologie 18
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
des Faschismus den – von Freuds eigenen Arbeiten abgesehen – einzig relevanten, psychoanalytisch orientierten Versuch einer Deutung der NS-Massenbewegung und ihres Triumphs zu veröffentlichen, dem bis zu Beginn des Krieges nur wenige, diesem Thema gewidmete Artikel (oder auch nur Bemerkungen) von Freudianern korrespondierten (Ernst Simmel, 1932; Heinrich Löwenfeld, 1933 und 1935/37; Gustav Bally, 1934; Erich Fromm, 1939). Unwille und Unfähigkeit der in Deutschland verbliebenen, der ins Ausland geflohenen und der französischen und angelsächsischen Psychoanalytiker, sich mit dem deutschen Behemoth, der sie alle zu verschlingen drohte, theoretisch auseinanderzusetzen, waren die Folge der selbstauferlegten Neutralisierung der Psychoanalyse. Ihr Schweigen war für die psychoanalytischen Therapeuten von Vorteil: Blieb der politische Kontext ihres therapeutischen Handelns außer Betracht, schien die »Unschuld« ihrer beruflichen Praxis gewahrt und sie boten keinen Anlass für Kritik und Verfolgung. Was immer von der fantastischen Naturwissenschaft »Orgonomie«, die Reich später in den Vereinigten Staaten entwickelte, und was von seiner Drei-Schichten-Theorie der menschlichen Persönlichkeit (die der Autor dieses Buches favorisiert) zu halten ist: Wie nur wenige seiner Kollegen hat er versucht, sich und den Zeitgenossen verständlich zu machen, warum sich Millionen Menschen für den Faschismus begeisterten, und er hat als einziger Psychoanalytiker die »braunen Kolonnen« und ihr Programm öffentlich attackiert. Die faschistisch indoktrinierten und organisierten Zwischenschichten, die Hitler ihre Stimmen und Fäuste liehen, verwirklichten den Umschlag der (auf Ungleichheit und Aberglauben beruhenden) »Kultur« in Barbarei, vor dem Freud seit den zwanziger Jahren gewarnt hatte. Am 17. März 1933 schrieb Reich an den Psychoanalytischen Verlag: »Der soziologische, kulturpolitische Charakter der Psychoanalyse läßt sich nicht aus der Welt schaffen und auch nicht verbergen. Das könnte nur der wissenschaftlichen Arbeit schaden, doch nie die reaktionären politischen Mächte hindern, die Gefahr zu wittern, wo sie sich zeigt.« Seine Mahnung verhallte ungehört. Jahrzehntelang hielten die Sprecher der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung später an der Vereinslegende fest, Reich habe sich 1934 selbst aus ihrer Organisation ausgeschlossen. Und noch 1997 wirkte es sensationell, dass Ernst Federn sich in Wien anlässlich der Präsentation des (von Karl Fallend und Bernd Nitzschke herausgegebenen) Bandes Der »Fall« Wilhelm Reich zu Wort meldete und als Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung erklärte: »Natürlich gehört Wilhelm Reich zu uns!« Die ideologische Weichenstellung der frühen dreißiger Jahre – Neutralisierung der Psychoanalyse als »Naturwissenschaft«, Primat der therapeutischen »Technik«, Verpönung des politischen Engagements von Psychoanalytikern, sofern es sich gegen den Status quo richtet – hat in der Geschichte der organisierten Psychoanalyse Schule gemacht. Was zunächst eine Notmaßregel in schwieriger Zeit 19
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zu sein schien, verfestigte sich alsbald zu einer institutionellen Norm. Vor dem Hintergrund der unverstandenen und unbewältigten Vertreibung der jüdischen und sozialistischen Psychoanalytiker aus ihren Bildungszentren Berlin, Wien und Budapest, der Diskriminierung und Marginalisierung der Psychoanalyse in der stalinistischen Sowjetunion (und ihren Satellitenstaaten) sowie der (späteren) Verfolgung von Psychoanalytikern in lateinamerikanischen Folter-Regimen hat diese innerverbandliche Normierung direkt und indirekt die Auswahl und die Ausbildung der nachfolgenden Generationen von Psychoanalytikern bestimmt. So bildete sich der heute vorherrschende Typus des politisch abstinenten, timiden Psychoanalytikers heraus, der mit den bestehenden Verhältnissen seinen Frieden gemacht hat und »brennenden Zeitproblemen«, so gut es immer geht, ausweicht. Heutzutage umfasst die freudianische Fraktion der Intelligenzija nicht mehr bloß ein paar hundert, sondern viele Tausende von Therapeuten, doch in den politischen Kämpfen der Zeit haben sie keine Stimme. Die Geschichte der nicht-jüdischen deutschen Psychoanalytiker, die zum größten Teil »Mitläufer« waren, zu einem kleineren Teil überzeugte Nazis, und unter denen sich auch einige wenige Widerständler fanden, wird noch immer von allerlei Legenden verdeckt. Dass sich die konformistischen Psychoanalytiker nach 1945 wie die Mehrheit ihrer deutschen Landsleute in die Derealisierung flüchteten, ihre Spuren zu verwischen suchten und sich über »Belastendes« hinwegschwindelten, ist für Freudianer, die sich im Wesentlichen mit dem Vergessen und der Erinnerung beschäftigen, beschämend, verrät aber auch ein schlechtes Gewissen, eine Ahnung von dem, was versäumt wurde und was verloren ging. Peglau ist es mithilfe von ausgedehnten und überaus sorgfältigen Recherchen gelungen, einen Teil der seit 1933 und dann, in einem zweiten Schub, nach 1945 erfundenen und verbreiteten Märchen über die Situation der Psychoanalyse im »Dritten Reich« als solche zu entlarven. Zusammenfassend schreibt er im Hinblick auf die zwölf Jahre der NS-Diktatur: »Von ›verboten‹ oder gar ›ausgerottet‹ kann weder bezüglich der Psychoanalyse insgesamt, noch in Bezug auf ihr Vokabular oder ihre Schriften die Rede sein.« Von formeller Ausbürgerung, Verbrennung und Beschlagnahme ihrer Schriften und umfassendem Publikationsverbot waren nur einige wenige (jüdische und sozialistische) Psychoanalytiker betroffen. Die kooperationsbereiten Psychoanalytiker, die Freud, dem genialen Iatrophilosophen, alles verdankten und sich angestrengt bemühten, seine Kultur- und Massen-Theorie zu vergessen, wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur »richtigen« Rasse und wegen der von ihnen erwarteten therapeutischen Ertüchtigung kränkelnder Zellen des Volkskörpers toleriert. In der »Arbeitsgruppe A« des Berliner Göring-Instituts fanden sie auf dem breiten Rücken des Leviathans, der von einem europäischen »killing field« und »bloodland« zum anderen stampfte, ein halbwegs sicheres Plätzchen. 20
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Peglau plädiert für eine (längst überfällige) Rehabilitierung Wilhelm Reichs und für die Aufnahme seiner sozialpsychologischen Schriften in das Curriculum heutiger Adepten der Psychoanalyse. In jahrelangen Recherchen hat er Mosaikstein um Mosaikstein zusammengetragen, um zum einen das Bild, das in der bisherigen Literatur von Reichs Theorien und von seinen politischen Aktivitäten gezeichnet wurde, zu differenzieren und zu korrigieren, zum andern aber das Wissen über die (ideologische) Situation der Psychoanalytiker im »Dritten Reich« zu vermehren und vor allem die erstaunliche Präsenz der Psychoanalyse in Büchern und Zeitschriften, die trotz der NS-Zensur vor und während des Zweiten Weltkriegs erschienen sind, zu Bewusstsein zu bringen. Er zeigt, dass die Verfallsgeschichte der Psychoanalyse als einer »Kritischen Theorie« mit dem opportunistischen Ausschluss des Repräsentanten der (damaligen) Freudschen Linken, Wilhelm Reich, begann, und hofft, das nicht nur die »freudianischen« Geistes- und Sozialwissenschaftler, sondern eines Tages auch die Psychoanalytiker Freuds verhängnisvolle Fehlentscheidungen von 1932/33 revidieren. Wien, im Juni 2013 Helmut Dahmer
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Ausgangspunkte Die Psychoanalyse ist, vor allem aber war weit mehr als eine Psychotherapiemethode. Von der Krankenbehandlung ausgehend, entwickelte sich Sigmund Freuds Lehre in wenigen Jahren zu einer spezifischen Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen – und zu verändern. 1917 definierte Freud in seinen Vorlesungen, Psychoanalyse lasse sich »auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden […] wie auf die Neurosenlehre« – Themen, denen er sich auch selbst zuwandte. Er setzte fort, die Psychoanalyse »beabsichtigt und leistet nichts anderes, als die Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben« (Freud 1916–17a, S. 403f.). In der Therapie ließ diese Aufdeckung die Patienten neue Möglichkeiten des Handelns erkennen – und neue Notwendigkeiten. Um sich ihre gewachsene psychische Gesundheit zu erhalten, mussten sie weitere Veränderungen, auch in ihrem Umfeld, in Erwägung ziehen. Sich für solche Veränderungen einzusetzen, dafür waren sie durch die Behandlung nun besser gerüstet (Freud 1895d, S. 311f.).8 Doch auch aufseiten der Therapeuten »geht die konsequente psychoanalytische Therapie in Sozialkritik über« (Dahmer 2012f, S. 211). Freud schrieb 1910: »Die Gesellschaft muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat« (Freud 1910d, S. 111). 8
Ähnliches lässt sich sagen über die Wirkung der Publikationen Freuds und anderer analytischer Autoren. Auch sie sollten ihre Leser für bislang unbewusste Probleme und Lösungsmöglichkeiten sensibilisieren, somit einen therapeutischen Effekt erzielen.
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Heute ist von diesem Anspruch der Psychoanalyse nur noch wenig zu spüren. Der Psychoanalytiker Johannes Cremerius urteilte: Die Funktionen, die der Psychoanalyse »einmal Sinn gaben – eine aufklärerische, gesellschaftskritische Wissenschaft am Leben zu erhalten – übt sie nicht mehr aus. Sie ist anachron geworden« (Cremerius 1995, S. 14). Helmut Dahmer, Soziologe und langjähriger Redakteur der Zeitschrift Psyche, sieht als »vorherrschende[n] Typus des Psychoanalytikers« nicht mehr den des »Kulturkritikers, sondern de[n] des gut verdienenden Kassenarztes, der die Öffentlichkeit meidet, sich vom politischen Leben und von theoretischen Debatten fernhält« (Dahmer 2009f, S. 334f.). Auch Horst-Eberhard Richter, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Leitfigur der BRD-Friedensbewegung und einer der wenigen Analytiker, die die Psychoanalyse offensiv in politische Zusammenhänge einbrachten, kritisierte die zunehmende »Medizinalisierung« der Psychoanalyse, einschließlich deren weitgehende Reduktion auf Therapie (Richter 2003, S. 33–39, 65–76). Der Mitbegründer der Ethnopsychoanalyse Paul Parin fragte sogar, »ob die Psychoanalyse, so beschädigt, wie sie sei, überhaupt noch in unsere Welt passe« (Cremerius 1995, S. 43).9 Eine ganz andere Bewertung prägt die 2011 erschienene offizielle Selbstdarstellung der IPV, Hundert Jahre Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Die weltweite Analytikerorganisation findet vorwiegend Gründe, die bisherige Entwicklung zu feiern (Hanly 2011, S. XXX, Loewenberg/Thompson 2011a, S. 5). Auch die IPV zeichnet das Bild einer Psychoanalyse ohne gesellschaftskritische Ambition – sie sieht dies jedoch offenbar nicht als Mangel.10 9
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Vgl. auch Parin 1996, S. 31–40. Auf diese Einschätzungen und Zitate werde ich am Ende meines Buches noch einmal zurückkommen. Eine in wichtigen Punkten ähnliche Kritik findet sich zum Beispiel in Jülich (1991, S. 76f.) und Vogt (1986, S. 900f.). Aus einer weit konservativeren Haltung heraus als H.-E. Richter und ohne Sympathien für eine sozialkritische Psychoanalyse (vgl. Dahmer 2009l), wenden sich auch Chasseguet-Smirgel und Grunberger vehement gegen die Medizinalisierung (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 12– 16). Ohne einer Medizinalisierung das Wort zu reden, lehnt zum Beispiel Reimut Reiche die Auffassung von einer aufklärerischen Verantwortung der Psychoanalyse als überzogen ab (Reiche 1995). Im IPV-Newsletter vom September 2012 finden sich allerdings drei kurze Beiträge, die auf relativ aktuelle politische Themen eingehen. Im Editorial des Newsletters heißt es dazu: »Vamik Volkan weist darauf hin, daß zwar viele Psychoanalytiker – angefangen mit Freud – über soziale, politische und religiöse Prozesse geschrieben haben, es jedoch nur relativ wenige gibt, die sich in solchen Prozessen auch persönlich engagiert und dadurch den Beitrag der Psychoanalyse zum Verständnis dieser Prozesse und deren individuellen wie kollektiven Folgen weiterentwickelt haben. Somit liegt ein riesiges Gebiet vor uns, das hinsichtlich der Psychologie und der Dynamik von Großgruppen speziell in Krisensituationen
Der bisherige Forschungsstand
Wie kam es dazu, dass sich die Psychoanalyse derartig weit von so wesentlichen ihrer Ausgangspositionen entfernt hat? Die nachhaltigsten Weichenstellungen hin zum Image einer angeblich »unpolitischen« Psychoanalyse erfolgten in der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Sie waren eng verbunden mit Freuds widersprüchlicher Haltung zu gesellschaftsveränderndem Engagement, mit der Medizinfixierung insbesondere der US-amerikanischen Psychoanalytiker, aber auch mit dem Versuch der internationalen Analytikerorganisation, Konfrontationen mit den entstehenden oder erstarkenden autoritären Regimes, insbesondere dem NSStaat, zu vermeiden. Dass die Alternative einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse nach 1933 weiterhin bestand, lässt sich anhand des Wirkens des 1933/34 aus den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossenen Psychoanalytikers Wilhelm Reich nachweisen. Während der Fokus meiner Darstellung zwischen seinem Schicksal und den Entwicklungen im psychoanalytischen Hauptstrom pendelt, werde ich Antworten auf die Frage sammeln, ob die Psychoanalyse – wie verschiedene ihrer Vertreter behaupten11– eine unpolitische Wissenschaft12 war bzw. ist.
Der bisherige Forschungsstand Zum Verhältnis von Psychoanalytikern und Drittem Reich13 liegt eine größere Zahl von Arbeiten vor, so von – um nur einige zu nennen – Karen Brecht, Geoffrey C. Cocks, Helmut Dahmer, Ludger M. Hermanns, Karl Fallend, Regine Lockot, Ulrike May, Elke Mühlleitner, Bernd Nitzschke, Johannes Reichmayr,
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noch weitgehend unerforscht geblieben ist« (www.ipa.org.uk/de/Newsletters/Editorial_ September.aspx). Dass sich nur relativ wenige Analytiker in politischen Prozessen persönlich engagiert hätten, geht allerdings unter anderem an der später zu thematisierenden umfangreichen Kooperation von Analytikern mit US-Geheimdiensten vorbei. Ob dieser Newsletter eine Trendwende zu mehr offener Auseinandersetzung der IPV mit politischen Zusammenhängen einleitet, bleibt abzuwarten. Beispiele dafür finden sich im weiteren Text. Den Begriff politische Wissenschaft verwende ich hier nicht, um die Psychoanalyse von Natur- und Geisteswissenschaften abzugrenzen. Schon gar nicht verstehe ich ihn in der im Dritten Reich üblich gewordenen Betrachtungsweise als Etikett einer »an der ›Front‹ politischer Kämpfe« (Botsch 2006, S. 22) stehenden, sich mit dem Herrschaftssystem identifizierenden Wissenschaft. Stattdessen geht es um die Frage, ob sich die Psychoanalyse aus politischen Zusammenhängen heraushalten konnte bzw. kann. Bei diesem und anderen Begriffen werde ich in meiner Arbeit auf Anführungszeichen verzichten, um die Lesbarkeit des viele Zitate und Verweise enthaltenden Textes nicht zusätzlich zu erschweren.
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Michael Schröter und Gudrun Zapp. Darauf konnte ich aufbauen. Zum Umgang mit Druckschriften im Nationalsozialismus14 existiert ebenfalls eine umfangreiche Forschungsliteratur. Hervorheben will ich an dieser Stelle die außerordentlich gründliche Aufarbeitung des NS-Literaturbetriebes durch Jan-Pieter Barbian und die detailreichen Forschungsbeiträge von Werner Treß zu Bücherverbrennung und -verboten, an die ich des Öfteren anknüpfen konnte. Über das Schicksal psychoanalytischer Schriften im Dritten Reich hingegen gibt es keine ausführlichen wissenschaftlichen Studien.15 Doch gerade die Einbeziehung dieses Themenkreises ermöglichte mir, den bisherigen Wissensstand über die Rolle von Psychoanalytikern und Psychoanalyse im Nationalsozialismus zu ergänzen – und zu korrigieren. Nicht nur die gebräuchlichste Version, in der jener »Feuerspruch« wiedergegeben wird, mit dem die Psychoanalyse bei der Bücherverbrennung am 10.5.1933 geächtet wurde, erwies sich bei meinen Recherchen als fehlerbehaftet.16 Auch einige der Verabsolutierungen, die vielfach über 14
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Zu der Schwierigkeit, Faschismus und Nationalsozialismus inhaltlich klar voneinander abzugrenzen, vgl. Breuer 2005; Bauerkämpfer 2006, hier insbesondere S. 13–46; Nolte 2008, S. 97–111. Ich werde die Begriffe »Nationalsozialismus« und »deutscher Faschismus« synonym verwenden, wenn es um das Dritte Reich geht. Darüber hinaus werden sich auch Bezüge zu jenen internationalen politischen Tendenzen ergeben (zum Beispiel im damaligen Italien oder in Österreich), die schon Zeitgenossen unter dem Begriff »Faschismus« zusammenfassten. In dem von Karen Brecht und anderen 1985 herausgegebenen Ausstellungskatalog Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland finden sich eine unvollständige Auflistung verbotener analytischer Literatur und Auszüge aus einigen damaligen Publikationen. Benannt werden hier ohne Angabe des Verbotszeitpunktes 30 Autoren und 44 Schriften sowie »Sämtliche Schriften« von Sigmund und Anna Freud, außerdem der Almanach der Psychoanalyse, die Imago-Buchreihe und die Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung (Brecht et al. 1985, S. 91). Im Jahrbuch der Psychoanalyse von 1989 schlägt Ludger M. Hermanns für die Erfassung von analytischen Publikationen dieser Zeit drei Kategorien vor und nennt einzelne Schriften (Hermanns 1989, S. 33–35). Knappe Bemerkungen zum Thema finden sich in Wolfgang Benz’ 2006 veröffentlichten Beitrag über Sigmund Freud auf dem Scheiterhaufen. Einige Anknüpfungspunkte liefern Thomas Köhlers Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute (1996), der von Johannes Cremerius herausgegebene Band Die Rezeption der Psychoanalyse (1981) und, bezüglich österreichischer Veröffentlichungen, Freud in der Presse von Marina Tichy und Sylvia Zwettler-Otte (1999) sowie Lydia Marinellis Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag (2009). Außergewöhnlich ist es allerdings, wenn der Psychoanalytiker Gerhard Maetze in seinem Beitrag über Psychoanalyse in Deutschland nicht nur bezüglich des Umgangs mit der analytischen Literatur falsche Mitteilungen macht, sondern auch bezüglich Ort und Jahr der Bücherverbrennung: »[D]as nationalsozialistische Regime [hatte] bei [!] der im Berliner Lustgarten [sic] inszenierten großen Bücherverbrennung im Mai 1934 [sic] auch die Werke
Der bisherige Forschungsstand
die Unterdrückung der Psychoanalyse und ihrer Schriften im Hitler-Faschismus getroffen werden, stellten sich bei genauem Hinsehen als unzutreffend heraus. Nachgewiesen ist, dass Freud und seine Lehre über den »Feuerspruch« hinaus teils hasserfüllt wirkenden Verbalattacken ausgesetzt waren (Brecht et al. 1985, S. 86–90, 103).17 Belegt ist zudem, dass das Weiterbestehen der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft im ersten Jahr der NS-Diktatur bedroht war (Brecht et al. 1985, S. 103ff.) und dass C.G. Jung sich beeilte, gegen die angeblich jüdische Psychoanalyse öffentlich Front zu machen (Zentralblatt für Psychotherapie, 1933, Bd. 6, S. 139, 1934, Bd. 7, S. 9). Der Psychiater und ausgewiesene Psychoanalysegegner Oswald Bumke setzte seine grundsätzliche, doch im sachlichen Ton gehaltene
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Freuds und seiner Schüler nicht nur symbolisch vernichtet, sondern aus dem Handel gezogen [sic] und ihre Verbreitung unter Strafe verboten [sic]« (Maetze 1982, S. 411). So am 14.5.1933, also vier Tage nach der Berliner Bücherverbrennung, ausführlich in der Berliner Börsenzeitung. Unter der Überschrift »Wider die Psychoanalyse« hieß es dort unter anderem, die »Ärmlichkeit« der Freudschen Auffassung drücke sich insbesondere in ihrer falschen, herabwürdigenden »Einstellung gegenüber dem religiösen Erleben aus«. In der Deutschen Volksgesundheit aus Blut und Boden vom August/September 1933 konnte man auf Seite 15 über Die Psychoanalyse des Juden Freud lesen, sie nehme den Patienten den letzten ethischen Halt und stoße sie hinab »in die asiatische Weltanschauung ›Genieße, denn morgen bist du tot!‹«. Freud reihe sich, hieß es weiter, würdig ein in »die anderen jüdischen Bestrebungen, die nordische Rasse an ihrem empfindlichsten Punkt, dem Geschlechtsleben, zu treffen«, er habe eine »schmutzige Fantasie«, deute Sexualität »schon in die Kinderseele« hinein, habe das Konzept des Unbewussten nur erdacht, »um die Stimme des Gewissens, die sich bei Onanie und außerehelichem Verkehr im nordischen Menschen regt, zu töten«. Ebenfalls 1933 behauptete der NS-Pathologe Martin Staemmler, später unter anderem Referent im »Rassenpolitischen Amt« (Essner 2002, S. 74), die Psychoanalyse ziehe »jede geistige Regung, jede Ungezogenheit des Kindes mit in die sexuelle Sphäre« hinein. Zustimmend zitierte er den Chemnitzer Kinderarzt Kurt Oxenius (persönliche Information von Thomas Lennert, 20.5.2014) mit der Behauptung, für Psychoanalytiker bestehe der Mensch »nur noch aus einem Geschlechtsorgan […], um das herum der Körper vegetiert« (Staemmler 1933, S. 207). In der Deutschen Volksgesundheit aus Blut und Boden vom Juli 1934 (S. 10–11) diffamierte ein Dr. Horst W. Raensch in dem Artikel »Die Rolle des Juden in der Medizin. Jude und Onanie« ausführlich Magnus Hirschfeld und Max Hodann, zählte dann auch Freud (»der die Onanie beim Säugling für möglich, ja natürlich hält«), Stefan Zweig, Otto Weininger, Ernst Toller, Leonard Frank, Georg Manes auf, die »mit dazu beitragen, die Jugend unseres Volkes zu verderben«. Für den im Dritten Reich (und in der BRD) angesehenen Theologen und Experten für Jugendsexualität, Heinz Hunger, war die Psychoanalyse 1938 »nichts anderes als die Vergewaltigung der abendländischen Kultur« (zitiert in Herzog 2005, S. 30). »Psychoanalytiker und Ärzte – ›meist jüdischer Herkunft‹ – die für die Rechte von Homosexuellen eintraten, wurden als ›Zuhälter unter wissenschaftlichem Deckmantel‹ bezeichnet, von der Psychoanalyse beeinflusste Fachleute für Sexualerziehung zu ›jüdischen Sexualverbrechern‹ erklärt«, ergänzt die Historikerin Dagmar Herzog (ebd.).
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Kritik an Freud, C.G. Jung und Alfred Adler nach 1933 fort (z.B. Bumke 1938; 1941, S. 205–221). Andere Ärzte scheinen die Hoffnung, Freuds Werk oder zumindest dessen angeblich jüdische Bestandteile dem Vergessen überantworten zu können, nicht aufgegeben zu haben (siehe Brecht et al. 1985, S. 172).18 Gemessen daran, dass es hier um einen Zeitraum von immerhin zwölf Jahren geht und dass die Psychoanalyse nach allgemeinem Verständnis zu den Feindbildern des Faschismus gehörte, werden in psychoanalysehistorischen Beiträgen jedoch nur relativ wenige, zumeist aus den Anfangsjahren des Dritten Reichs stammende öffentliche Diffamierungen der Psychoanalyse benannt.19 Für keine dieser Diffamierungen zeichnete ein höherer NS-Funktionär als Autor verantwortlich. Dennoch wird bis heute auch in Fachkreisen vielfach die Meinung vertreten, Freuds Name, seine Erkenntnisse und die von ihm kreierten Begriffe durften in Deutschland zwischen 1933 und 1945 grundsätzlich nur noch in herabwürdigender Weise öffentlich erwähnt werden. So schrieb 2010 die prominente französische Psychoanalytikerin und Historikerin Elisabeth Roudinesco, das analytische Vokabular wurde im Dritten Reich »ausgerottet: Die Wörter der Psychoanalyse werden noch vor der Anwendung des Programms der Endlösung gewissermaßen ›vernichtet‹« (Roudinesco 2011, S. 29, Fn 26). Sechs Jahre zuvor hatten sie und 18
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Tilmann J. Elliger zitiert auch eine – vor Kriegsende letztmalige – Erwähnung der Psychoanalyse auf einem Kongress deutscher Psychologen. Wenn Erich Jaensch in der Eröffnungsrede dieses Kongresses 1938 »manche psychologische Schulen« attackierte, die »in ›wissenschaftlichem‹ Gewand auftretende Äußerungen des Kulturbolschewismus« gewesen seien (Elliger 1986, S. 57), dürfte sich das allerdings nicht nur gegen die Psychoanalyse, sondern auch gegen Adlers Individualpsychologie gerichtet haben. Jaensch erwähnt auch eine »psychologisch zergliedernde Literaturgattung, eine sog. ›Dichtung‹« (ebd., S. 57). Damit dürfte er die psychoanalytisch inspirierte Belletristik, zum Beispiel von Thomas Mann, gemeint haben. Um den Umgang mit Psychoanalyse im NS-Staat durch Originalquellen zu belegen, wird oftmals auf die (zu Teilen schon in Zapp 1980 genannten) in Brecht et al. (1985, insbesondere S. 86–90) abgebildeten Dokumente verwiesen, so in Cocks (1997); Goggin/Goggin (2001); Lockot (2002, S. 138ff.); Roudinesco/Plon (2004, S. 712f.); Herzog (2005, S. 30); Zaretsky (2006, S. 323). Eine umfassende wissenschaftliche Arbeit zur öffentlichen Rezeption der Psychoanalyse im Dritten Reich ist mir nicht bekannt. Die von Johannes Cremerius 1981 herausgegebene Untersuchung über Die Rezeption der Psychoanalyse im deutschen Sprachraum endet für Deutschland im Wesentlichen 1933, für Österreich 1938. Dass die Psychoanalyse nach dem 10.5.1933, als ihr noch ein eigener »Feuerspruch« gewidmet wurde, für »erledigt« und nicht mehr erwähnenswert gehalten wurde, kann ausgeschlossen werden. Es ginge beispielsweise daran vorbei, dass Freuds Schule in Österreich nach wie vor öffentlichkeitswirksam tätig war und die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft bis 1938 offiziell weiter existierte und wirkte.
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Michel Plon im Wörterbuch der Psychoanalyse behauptet, dass der Nationalsozialismus »in seinem Programm« – es bleibt unklar, was gemeint ist – »die radikale Vernichtung der Psychoanalyse bzw. ihrer Begriffe, Werke, Institutionen, Bewegung und Therapeuten vorsah«, ein »Vernichtungsprogramm der Psychoanalyse« sei durchgeführt worden (Roudinesco/Plon 2004, S. 712). Lothar Bayer und Hans-Martin Lohmann meinten im 2006 erschienenen FreudHandbuch, die Freud-Rezeption sei in Deutschland »durch den ›Kulturbruch‹, den der Sieg des Nationalsozialismus bedeutete, seit 1933 faktisch zum Stillstand gekommen« (Lohmann/Pfeiffer 2006, S. 277). Tilmann J. Elliger sprach 1986 sogar von einem »praktischen Verbot jeglicher psychoanalytischer Publizierung«. »Fortan«20 sei es nicht mehr möglich gewesen, »psychoanalytische Arbeiten zu zitieren – es sei denn in kritischem und ablehnendem Sinne. Entsprechend sistierte die Rezensionstätigkeit über Freudsche Arbeiten in den deutschen Zeitschriften 1933 schlagartig, verschwanden die psychoanalytischen Arbeiten vom deutschen Buchmarkt« (Elliger 1986, S. 145).
Regine Lockot urteilte 1985 im – 2002 wieder aufgelegten – Standardwerk Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus: »Die psychoanalytische Terminologie durfte nicht mehr verwandt werden« (Lockot 2002, S. 8). 1976 vertraten die einflussreiche französische Analytikerin Janine Chasseguet-Smirgel und ihr Kollege Béla Grunberger die Ansicht, »in totalitären Systemen, seien sie nun rechts- oder linksgerichtet«, werde »die Ausübung und Verbreitung der Psychoanalyse verboten« (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 60f.). Schon 1963 hatte Helmut Thomä, später Mitautor eines in zehn Sprachen übersetzten mehrbändigen Psychoanalyselehrbuchs, geschrieben, dass »psychoanalytische Publikationen 1933 aufhörten« und »Autoren […], die in Berlin verblieben waren, […] Freuds Ansichten nicht mehr öffentlich vertreten [konnten]. Die psychoanalytische Terminologie war verpönt« (Thomä 1963a, S. 44f.). Ausgangspunkt derartiger Betrachtungsweisen, für die sich viele weitere Beispiele finden lassen, dürften Überlieferungen von Analytikern sein, die selbst in die Geschehnisse im Dritten Reich involviert gewesen waren. Werner Kemper war einer von ihnen. Obwohl er es besser gewusst haben muss, verknappte er den angeblich abgelaufenen Prozess im Nachhinein so: »Dann kam 1933. Dann 1939. Und schließlich 1945. Erst ›Gleichschaltung‹, der auch die Psychoanalyse zum 20
Er legt sich nicht auf ein konkretes Datum fest. Aber seine hier zitierten Aussagen stimmen für keinen Zeitpunkt.
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Opfer fiel, dann der Krieg« (Kemper 1958, S. 202).21 Felix Boehm, 1933 zum Vorsitzenden der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) gewählt, berichtete in der Rückschau: »Da Freud – wenn überhaupt – nur kritisch zitiert werden durfte«, habe er sich notgedrungen behelfen müssen mit der Wendung »wie ein Freund von mir einmal sagte« (zitiert in Lockot 2002, S. 117). Und ein anderer Hauptakteur jener Zeit, der langjährige Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung Ernest Jones, bezeichnete 1957 »die ›Liquidierung‹ der Psychoanalyse im Deutschen Reich« als »eine der wenigen Taten, die Hitler vollständig gelungen sind. Rückblickend muß man staunen, wie es möglich war, das in Deutschland so verbreitete Wissen von Freud und seinem Werk derartig vollständig auszulöschen« ( Jones 1984, Bd. 3, S. 222). Bernd Nitzschke vermerkt dazu: »Hätte Jones mit seiner Darstellung recht, so wäre es nicht mehr nötig, nach der Politik gegenüber dem NS-Regime zu fragen, die die Vertreter der Psychoanalyse nach 1934 betrieben haben. Denn es hätte ja gar keine Psychoanalyse mehr gegeben« (Nitzschke 2013, S. 117).22 Auch Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer urteilten, dass »die Verleugnung in manchen Darstellungen« so weit gehe, »die Psychoanalyse in der Nazizeit für tot zu erklären, um nicht sehen zu müssen, wie sehr sie sich in den Dienst der herrschenden Ideologie gestellt hatte« (Brainin/Kaminer 1982, S. 1001).23 Ob nun absichtlich oder unabsichtlich, in der Tat erschweren all die zitierten Verabsolutierungen über die Unterdrückung der Analyse den Blick auf die NS-Zeit. Denn sie gehen an der Realität vorbei. Richtig ist: Obwohl die Psychoanalyse für viele Nationalsozialisten zu den Feindbildern zählte, wurde sie – wenn auch mit Abstrichen – therapeutisch weiter angewandt und per Ausbildung weitergegeben. Der US-amerikanische Historiker Geoffrey Cocks hat diesen Sachverhalt ausführlich beschrieben (Cocks 1983, 21
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Widersprüchlich formuliert dagegen Käthe Dräger, eine andere Zeitzeugin, zunächst, dass die Psychoanalyse »vernichtet« wurde, dann, dass sie »verschüttet, aber […] nicht völlig tot« gewesen sei (Dräger 1994, S. 43, 52; vgl. auch Bräutigam 1984, S. 907–912). Bereits der Zeitzeuge und Analytiker Franz Baumeyer hat Jones’ Aussage widersprochen und darauf verwiesen, dass die Psychoanalyse in ihrer Anwendung behindert, aber nicht liquidiert wurde. Wenn er allerdings pauschal urteilt, die Psychoanalyse sei »in Deutschland erhalten geblieben« und damit »das kompromißbereite Vorgehen der DPG« als »gerechtfertigt« einstuft, ist das diskussionswürdig (Baumeyer 1971, S. 205ff., 216). Walter Bräutigam, Ausbildungskandidat in Berlin ab 1942, widerspricht aufgrund seiner, wie er selbst sagt, »subjektive[n] Erfahrung« der These von der In-Dienst-Stellung der Analyse (Bräutigam 1984, S. 911). Wie wir sehen werden, sprechen jedoch zahlreiche Befunde für die These von Brainin und Kaminer. Zuzustimmen ist Bräutigam aber in jedem Fall, wenn er fordert, zur Beurteilung dieses Sachverhaltes zu klären, »was die eigentliche Verkörperung psychoanalytischer Tradition […] ist« (ebd.). Auch dazu später.
Der bisherige Forschungsstand
1997, 2010). Schon 1982 hat Ludger M. Hermanns Details dazu mitgeteilt (Hermanns 1982, S. 166f.). 1985 haben dann Karen Brecht, Volker Friedrich, Ludger M. Hermanns, Isidor J. Kaminer und Dierk H. Juelich in einer noch immer einzigartig dastehenden Dokumentation über die Psychoanalyse im Dritten Reich belegt und benannt: »Es gab keine gesetzlichen Maßnahmen, die sich direkt gegen die Psychoanalyse richteten. Weder die Lehre, noch die Berufsausübung als Psychoanalytiker waren verboten. […] Arische Psychoanalytiker arbeiteten, wenn auch unter dem Druck möglicher drohender Maßnahmen, weiter« (Brecht et al. 1985, S. 88, 92).24 Das heißt, sie konnten in ihren Praxen letztlich weiterhin unbehelligt psychoanalytische Therapie anbieten und anwenden.25 DPG-Mitglied Gustav Hans Graber, bis 1943 in Stuttgart als Psychoanalytiker in einer Privatpraxis wirkend,26 ist einer der wenigen Zeitzeugen, die dies mit ihren Erinnerungen bestätigen. 1979 reflektierte er, dass er »als Psychoanalytiker keine nennenswerten Schwierigkeiten in der Berufsausübung erfahren mußte«27 und dass die »verbreitete Annahme, daß die Psychoanalyse damals verboten war, […] ein Irrtum« gewesen sei: »[v]erboten waren Behandlungen von Juden« (Schröter 2000a, S. 18). Doch selbst wenn Graber schrieb, er könne sich für die Zeit bis 1943 dafür »verbürgen, daß die in Deutschland verbliebenen Analytiker der
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Dem Analytiker Carl Müller-Braunschweig wurde nicht einmal, nachdem er 1938 aus politischen Gründen Lehrverbot erhalten hatte, die weitere psychoanalytische Tätigkeit in seiner Privatpraxis verboten (H. Müller-Braunschweig 2012, S. 147). Auch Ewald Roellenbleck, der 1933 als Direktor einer Beratungsstelle für volkstümliches Buchwesen wegen seines »Engagements für die SPD […] rasch aus dem Staatsdienst entlassen« wurde und sich danach zum Psychoanalytiker ausbilden ließ, konnte unbehelligt eine analytische Praxis führen. L.M. Hermanns schreibt daher in Bezug auf ihn von dem »Paradox, daß jemand, der in seinem Grundberuf von den Nazis als politisch unzuverlässig entlassen, gerade ab 1933 als Psychoanalytiker freiberuflich arbeiten […] konnte« (Hermanns 1991, S. 116; vgl. auch ebd., S. 114–118). Auch Christiane Ludwig-Körner stellt etliche Beispiele dar, wie psychoanalytische Lehre und Berufsausbildung im Dritten Reich weitergeführt wurden (Ludwig-Körner 1999), spricht dann aber dessen ungeachtet von der Psychoanalyse als »verbotene Wissenschaft« (ebd., S. 238). Die gleiche Aussage lässt sich treffen über die therapeutische Tätigkeit des einzigen in Wien nach dem »Anschluss« an Deutschland weiter praktizierenden Analytikers August Aichhorn. Auch hier wurde – in Abstimmung mit dem Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie – in begrenztem Maße die psychoanalytische Ausbildung fortgeführt (Johler 2012, insbesondere S. 181–222; Aichhorn, A., 2012). 1943 ging Graber, der schweizerischer Staatsbürger war, zurück in die Schweiz. Grund dafür war zum einen, dass sein Haus zweimal ausgebombt worden war, zum anderen, dass ihm seine Wiederverheiratung durch Forderung eines »Ariernachweises« erschwert wurde (Schröter 2000a, S. 17). Für ihn mag sich allerdings die Schweizer Staatsbürgerschaft günstig ausgewirkt haben.
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Einleitung
Lehre Freuds ›in Wort, Schrifttum und Praxis‹ treu geblieben seien« (ebd.), war das zwar deutlich überzogen – aber auch keine bloße Schönfärberei (vgl. Baumeyer 1971, S. 205–216). 1981 wies Johannes Cremerius darauf hin, dass sogar manche außerhalb von Psychotherapie und Psychiatrie tätige deutsche Ärzte im Dritten Reich auf psychoanalytische Erkenntnisse nicht verzichten wollten. Er konkretisierte dies aber nur am Beispiel des Internisten Richard Siebeck, 1934 bis 1941 Direktor der I. Medizinischen Klinik der Charité, der 1939 im Lehrbuch der Inneren Medizin geschrieben habe: »Wir haben durch Freuds geniale Arbeit die Bedeutung der Erlebnisse aus der frühen Kindheit kennengelernt.« »Unbeirrt«, so ergänzt Cremerius, habe Siebeck »die Freudsche Terminologie: Ödipuskomplex, Libido, Mutterbindung, Vaterhaß weiter [benutzt]« (Cremerius 1981, S. 20). 1989 stellte Ludger M. Hermanns fest, dass es »entgegen landläufiger Meinungen« eine erstaunliche Zahl von Veröffentlichungen deutscher Psychoanalytiker im Dritten Reich gab, und zwar »in Tageszeitungen, kulturellen und Fachzeitschriften, Büchern, Broschüren und Denkschriften«. Als Beispiele nannte er ein Zeitungsinterview Carl Müller-Braunschweigs von 1939, einen Beitrag Harald Schultz-Henckes zu einer »populären Aufklärungsschrift« von 1937, ein Sonderheft des Zentralblattes für Psychotherapie über »Vorläufer der Psychotherapie« sowie – ausführlicher – die Publikationen Alexander Mettes (Hermanns 1989, S. 34–47).28 1997 konstatierte Bernd Nitzschke: »Mindestens bis 1939 erschienen Bücher in Deutschland, in denen psychoanalytische Termini und Konzepte dargestellt wurden.« Er verwies an dieser Stelle (Nitzschke 1997, S. 73f., Fn 12) aber nur auf das 1939 erschienene Buch Selbstmord und Erziehung des vielseitig interessierten Dermatologen und Schriftstellers Aloys Greither.29 2007 berichtete Regine Lockot, dass der Psychoanalytiker Wilhelm Bitter 1940 in seiner vom Direktor der Psychiatrischen Klinik der Charité, Max de Crinis (vgl. Klee 2003, S. 97), betreuten Dissertation »ausführlich psychoanalytische Zusammenhänge [referierte], ohne die psychoanalytische Terminologie – Verdrängung, Unbewusstes, Ödipuskomplex, Triebregungen u.a. – auszusparen. In seinem Literaturverzeichnis sind alle damals verfügbaren zwölf Bände des Freudschen Werkes angeführt« (Lockot 2007, S. 21). 2009 urteilte auch Lydia Marinelli, die umfangreiche Forschungen zu Aspekten der analytischen Publikationsgeschichte anstellte: »So kann auch nicht, wie oft in 28 29
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Mit Ausnahme des Schultz-Hencke-Beitrages werde ich mich damit im Weiteren ebenfalls befassen. Mit dem Untertitel Eine kulturphilosophische, psychologische und pädagogische Studie 1939 im Münchner Meiner Verlag erschienen.
Der bisherige Forschungsstand
historischen Darstellungen zur Psychoanalyse pauschal die Rede ist, davon gesprochen werden, dass Freuds Werk und psychoanalytische Literatur in Deutschland von den Nationalsozialisten sofort und ausnahmslos verboten wurden.« Dies begründete sie jedoch ausschließlich mit »chaotischen Einzelmaßnahmen« und regional unterschiedlichen Verordnungen und sie vertiefte es auch nicht (Marinelli 2009, S. 82). Um hier zu umfassenderen Erkenntnissen zu gelangen, habe ich eine Vielzahl von Dokumenten aus deutschen Archiven30 einbezogen. Zudem wertete ich – offenbar als einer der ersten europäischen Forscher – den erst 2007 geöffneten Nachlass Wilhelm Reichs aus. Er ist Bestandteil der Materialien der Archives of the Orgone Institute (im Weiteren mit AOI abgekürzt) und lagert in der Bostoner Harvard University. Im Januar 2012 sichtete ich dort sämtliche Dokumente, die für mich erkennbar in Bezug zu Reichs Zeit in Berlin, zur Psychoanalyse und zu seinen bis 1946 entstandenen faschismuskritischen Publikationen standen. Darüber hinaus habe ich insbesondere auf zeitgenössische psychotherapeutische Fachliteratur, diverse Biografien und geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur zugegriffen. Ein wesentlicher Teil all dieser Quellen ist meines Wissens bislang überhaupt noch nicht ausgewertet worden oder zumindest nicht im Zusammenhang mit der Psychoanalysegeschichte. Diese Quellen belegen unter anderem, dass die Integration psychoanalytischer Schriften und ihres Vokabulars und damit auch die Integration deutscher nichtjüdischer Psychoanalytiker ins Dritte Reich über das hinausgingen, was dazu bekannt ist. Der einzige Psychoanalytiker, der seine Kollegen öffentlich davor warnte, sich mit dem NS-Staat einzulassen, war Wilhelm Reich. Ende 1930 war er von Wien nach Berlin gezogen. Hier schloss er sich umgehend der KPD an und rückte alsbald in ein Leitungsgremium einer KPD-nahen sexualpolitischen Massenorganisation auf. Anfang März 1933, wenige Wochen nach Hitlers »Machtergreifung«, musste Reich aus Deutschland fliehen. Die veröffentlichten Mitteilungen über seine Aktivitäten in den dazwischenliegenden zweieinhalb Jahren sind ausgesprochen lücken-, oft auch fehlerhaft. Zumeist 30
So unter anderem aus dem Bundesarchiv Berlin und dem im Bundesarchiv Koblenz lagernden Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse. Weitere in meiner Arbeit verwendete Dokumente entstammen dem Landesarchiv Berlin, dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, dem Hausarchiv der Deutschen Bücherei Leipzig, dem Willy-BrandtArchiv in Bonn, dem Archiv der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP, dem Archiv der Gedenkstätte deutscher Widerstand, dem Berliner Bertolt-Brecht-Archiv, dem Landeshauptarchiv Brandenburg sowie mehreren Privatarchiven (siehe Anhang).
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Einleitung
sind weder »Freudianer« noch »Reichianer« sonderlich interessiert an dieser Phase seines Wirkens. Bei Ersteren häufen sich Beschweigen,31 Abwerten (z.B. in Jones 1984) oder gar Diffamieren (z.B. in Hartmann/Zepf 1997) dessen, was Reich ab 1930 tat und veröffentlichte. Wird er als Pionier der Therapiemethodik noch gelegentlich gewürdigt (z. B. in Wälder 1934; Loewenberg/Thompson 2011b), werden seine Erkenntnisse über psychosoziale Zusammenhänge jedoch fast völlig ausgeblendet.32 Für einen Großteil der »Reichianer« wiederum fängt – Reichs 31
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Vgl. dazu auch Büntig (1982, S. 254–280); Sharaf (1996, S. 228f.); Freudl (2001). Die mit Abstand wichtigste, gegen dieses Beschweigen gerichtete Arbeit haben Karl Fallend und Bernd Nitzschke herausgegeben (Fallend/Nitzschke 1997, verändert neu aufgelegt 2002). Dieses Buch, an dem neben weiteren Autoren auch mehrere Psychoanalytiker mitwirkten, beinhaltet nicht nur kontroverse Sichtweisen auf Reich, es hat in der Tat auch zu Kontroversen geführt (Schröter 1998; Fallend/Nitzschke 1999; Schröter 1999; Lothane 2001; Fallend/Nitzschke 2002a; eine spätere Reaktion z.B. in Ash 2012b, S. 25, Fn 78). Bernd A. Laska zählt etwa 50 Rezensionen oder andere Veröffentlichungen auf, in denen darauf reagiert wurde (www.lsr-projekt.de/wrfall.html). Ein Umdenken im institutionalisierten Hauptstrom der Psychoanalyse bezüglich Reichs hat es offenkundig nicht eingeleitet (siehe Fallend/Nitzschke 2002a, S. 13–28). Hier einige der wenigen Beispiele für eine Erwähnung dieser Erkenntnisse durch Psychoanalytiker: Im Freud-Handbuch von 2006 würdigen Hans-Martin Lohmann und der Psychoanalytiker Lothar Bayer Aspekte Reichs massenpsychologischer Forschungen von 1933 in äußerst knapper Form (Lohmann/Pfeiffer 2006, S. 278). Positiv äußern sich auch Horst-Eberhard Richter (2003, S. 37, 40), Johannes Cremerius (1997, S. 160), Karl Landauer (in Horkheimer 1980, Bd. 3, S. 106f.), Ernst Federn (in Nitzschke 1995) und Ulrike Körbitz (1997, S. 257f.) jeweils in einem oder wenigen Sätzen. Ausführlicher werden Reichs Einsichten in psychosoziale Zusammenhänge von Bernd Nitzschke (1997a) und Emilio Modena (1997, 2001) behandelt. Größeren Platz widmen auch Grunberger und Chasseguet-Smirgel diesem Thema; allerdings in der erklärten Absicht, »die Differenz zwischen ihm [Reich] und dem Freudismus als ein Werk seiner [Reichs – A.P.] Psychose zu verstehen« (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 82). Dementsprechend dient das Eingehen auf Reichs Theorien auch in erster Linie dessen Pathologisierung. Das Niveau, auf dem hier oftmals argumentiert wird, lässt sich daran ablesen, wenn die Autoren über Reichs biologische Forschungen schlicht konstatieren: »[D]ass auch Gelehrte zu den Anhängern dieser Entdeckungen gehören, beweist einmal mehr die Schwäche des menschlichen Geistes« (ebd., S. 75). Das Anliegen an sich, »das Phänomen des Faschismus auf psychoanalytische Weise zu deuten«, begrüßen sie jedoch immerhin (ebd., S. 134). Fritz Erik Hoevels Arbeit ist der bislang umfassendste Versuch eines Psychoanalytikers, Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse – so der Buchtitel – positiv zu würdigen. Dabei bezieht er auch dessen Engagement auf psychosozialem Gebiet ein (insbesondere Hoevels 2001, S. 265–324). Der Kommunist Hoevels steht allerdings nicht nur fernab des Psychoanalysehauptstroms, sondern wird von diesem offensichtlich auch kaum reflektiert. Juliet Mitchell stand noch vor der Analyseausbildung (Benewick/Green 1998, S. 229), als sie Reichs 1946er Massenpsychologie würdigte, ihn selbst jedoch als einen mit Intuition begabten »Soziologen« einordnete, der als »Theoretiker […] wenig beizutragen«, teils »inadäquat[e]« und »unsinnig[e]« Thesen vertreten habe (Mitchell 1976, S. 237, 242–250). Wil-
Der bisherige Forschungsstand
eigenen späteren Darstellungen folgend (vgl. Reich 1995, S. 16; 1997, S. 11–35; 1967, S. XV) – dessen wirklich bedeutsamer Lebensabschnitt erst mit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre an, als er sich von Psychoanalyse und Kommunismus distanzierte und ab 1939 die Erforschung von »Orgon« genannter Lebensenergie zunehmend zu seinem Arbeitsschwerpunkt machte. Alles andere wird in dieser Sichtweise oft zum mehr oder weniger notwendigen Vorspiel degradiert. Reichs Tagebücher aus der Zeit zwischen 1922 und 1934 sind, so schreibt seine Nachlassverwalterin Mary Boyd Higgins, »während des Durcheinanders nach Reichs Tod« gestohlen worden und bis heute verschwunden (Reich 1997a, S. 10). Seine wichtigsten Biografen bieten zu seinen in Deutschland verbrachten Jahren nur knappe Überblicke (Ollendorff-Reich 1975, S. 42–47; Laska 2008, S. 70ff.), konzentrieren sich auf seine psychoanalytische Tätigkeit und sein Privatleben (Boadella 1988, S. 81–112; Sharaf 1996, S. 207–245) oder geben zu anderen Aspekten vor allem Reichs eigene Darstellung wieder (Sharaf 1996, S. 190–206).33 Aber diese Darstellung (vor allem in Reich 1995, S. 147–229; 1934c, S. 247–252; 1934f; 1935a, b)34 ist sehr verkürzt, stellenweise inkorrekt. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass Reich bei seiner Flucht einen Teil seiner Aufzeichnungen zurücklassen musste (Reich 1933b, S. 10). Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass er später selbst daran interessiert war, sein vormaliges Wirken in Deutschland nicht zu detailliert darzustellen: ein möglicher Akt des Selbstschutzes in den kommunismusfeindlichen USA.35
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helm Burian hatte seine analytische Ausbildung ebenfalls noch nicht begonnen (persönliche Mitteilung 13.5.2013), als er sich, insbesondere aus marxistischer Sicht, ausführlich mit Reichs Gesamtwerk auseinandersetzte (Burian 1985). 2009 knüpfte er daran an und attestierte Reich erneut, dass sein Menschenbild und seine Gesellschaftsutopie im Gegensatz zu denen von Marx und Freud stünden und somit naiv seien (Diercks/Schlüter 2009, S. 191–203). Peter Bahnen, der weiteres biografisches Material zu Reich gelesen hat, bescheinigt auch dessen Autoren, dass sie ebenfalls »nur Reichs eigene Angaben« übernehmen (Bahnen 1986, S. 9). Grunberger und Chasseguet-Smirgel (1979) halten sich dagegen vor allem an Ilse Ollendorff-Reich und ergänzen deren Angaben vor allem durch eigene Spekulationen und Fehldarstellungen. Peters (1992, S. 363–375) fügt ebenfalls nichts Wesentliches hinzu, berichtet oft oberflächlich und teils verfälschend. Es lässt sich mit Sicherheit davon ausgehen, dass diese drei ohne Autorenangabe veröffentlichten Artikel von Reich verfasst wurden, unter anderem, weil bestimmte dort getroffene Einschätzungen nur von ihm selbst vorgenommen werden konnten. In einer FBI-Vernehmung gab er Ende 1941 an, er sei bereits 1932 aus der Kommunistischen Partei ausgetreten (Bennett 2010, S. 56). Das ist falsch. In seinen eigenen Angaben über Rezensionen seiner Werke lässt er zudem eine von ihm archivierte Buchbesprechung (AOI, Orgone Institute, Box 35, Opinions on »Der sexuelle Kampf der Jugend«) aus: ausgerechnet die im Geschäftsanzeiger für Groß-Berlin, der Ersatzpublikation des KPD-Zentralorgans Rote Fahne, publizierte.
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Einleitung
Am besten erforscht ist Reichs Konflikt mit dem psychoanalytischen Establishment zwischen 1932 und 1934 (siehe insbesondere Fallend/Nitzschke 1997; Sharaf 1996, S. 207–226). Reichs politischen Aktivitäten in Berlin sind meines Wissens nur Peter Bahnen (1986, 1988) und Marc Rackelmann (1992, 1993) gezielt nachgegangen. Bahnens Schilderungen leiden unter seiner deutlichen Voreingenommenheit gegen Reich (siehe insbesondere Bahnen 1986, S. 56–64). Dennoch hat er, mehrfach als Erster, wichtige Details recherchiert und Fragen zu Reichs Biografie aufgeworfen, auf die ich eingehen werde. Rackelmann hat sich auf das sexualreformerische Engagement Reichs im Umfeld der KPD konzentriert, dessen Tätigkeit im »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« – später von Reich unter dem Begriff »Sex-Pol« subsumiert – einer ausführlichen kritischen Würdigung unterzogen, die allerdings einige zu korrigierende Fehldarstellungen beinhaltet und sich in vielerlei Hinsicht ergänzen lässt.36
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Atina Grossmann nahm 1995 ebenfalls Bezug auf Reichs sexualreformerisches Engagement – jedoch im Wesentlichen, indem sie dieses abwertete oder negierte (Grossman 1995, insbesondere S. 124–127). Ulrike Körbitz und Anna Bergmann beschränkten sich 1997 darauf, einige Detailaspekte Reichs sexualpolitischer Betätigung und dieser zugrunde liegende Annahmen zu diskutieren bzw. zu kritisieren (siehe Körbitz 1997; Bergmann 1997). Zusatzinformationen finden sich in Elke Mühlleitners Fenichel-Biografie (Mühlleitner 2008, S. 123–219). Karl Fallends Arbeit über Wilhelm Reich in Wien endet mit Verweisen auf Reichs Berliner Zeit (Fallend 1988, S. 220–225). Auch Fritz E. Hoevels macht dazu biografische Angaben (Hoevels 2001, S. 58–81), die aber in manchen bemerkenswerten Aussagen nicht belegt sind – wie der Behauptung, Hitler habe »einen Preis« auf Reichs Kopf ausgesetzt (ebd., S. 76). Die bislang letzte größere biografische Arbeit zu Reich, Christopher Turners Adventures in the Orgasmatron, erschienen 2011, fügt Reichs eigenen Darstellungen zu seiner Zeit in Deutschland kaum etwas tatsächlich Belegtes hinzu (siehe insbesondere Turner 2011, S. 123–144), ist außerdem oftmals ausgesprochen unklar, oberflächlich und fehlerhaft und hat zudem den Schwerpunkt in späteren Lebensphasen Reichs. Ole Thyssen veröffentlichte 1973 das Buch Wilhelm Reich 1927–1939. Between Freud and Marx. Da es nur auf Dänisch vorliegt, konnte ich es nicht lesen. Ole Thyssen teilte mir jedoch am 6.11.2011 mit, dass sein Buch keine biografische Aufarbeitung darstellt, sondern vor allem eine Auseinandersetzung mit Reichs freudo-marxistischen Gedanken, speziell während seiner Zeit in Dänemark und Schweden 1933/34. Fuechtner (2011), Makari (2001, S. 471–474), und Zaretsky (2006, S. 320f.), bieten diesbezüglich ebenfalls keine zusätzlichen Informationen, Letzterer aber eine Reihe von Ungenauigkeiten und Fehlern wie die Behauptung, Reichs Massenpsychologie des Faschismus sei bereits 1930 veröffentlicht worden. Ohne Neuigkeitswert und mit krassen Fehlern durchsetzt – so die Behauptung, Reich wäre 1933 aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen worden (Steiner 2011, S. 92) – sind auch die Angaben zu Reich in Steiner (2011). Dieser Beitrag ist ohnehin gekennzeichnet durch eine erstaunliche Häufung von Sachfehlern sowohl in allgemeineren historischen, als auch in speziell psychoanalysehistorischen Zusammenhängen.
Anmerkungen zu meiner Herangehensweise
Auch darüber hinaus ermöglichen meine Recherchen eine Neubewertung Wilhelm Reichs. Nicht nur mit seinem öffentlichen antifaschistischen Engagement und seiner Gesellschaftsanalyse, wie er sie in der 1933 erschienenen Massenpsychologie des Faschismus formulierte, nahm er unter den Anhängern Freuds eine Sonderstellung ein. Hätten sich die Psychoanalytiker mit Reichs Erkenntnissen und Fragen konstruktiv auseinandergesetzt statt ihn auszugrenzen, hätte dies, so wird sich zeigen, die Chancen beträchtlich vergrößert, eine weiterhin aufklärerische Psychoanalyse zu betreiben.
Anmerkungen zu meiner Herangehensweise Obwohl ich mich damit auf ein Gebiet wage, für das ich über keine wissenschaftliche Ausbildung verfüge – ich bin Psychologe und Psychoanalytiker –, habe ich für mein Buch einen vor allem geschichtswissenschaftlichen Zugang gewählt. Das erschien mir jedoch als der einzig passende Weg, da es mir in erster Linie um die Darstellung historischer Sachverhalte geht. Diese werde ich allerdings durch psychoanalytische Erkenntnisse ergänzen.37 So halte ich die Existenz unbewusster seelischer Vorgänge für so hinreichend bewiesen, dass ich sie als selbstverständlich voraussetze und in meine Erklärungen einbeziehe.38 Psychoanalytisch ist mein Vorgehen auch insofern, als ich nicht nur unbekannte, sondern auch verdrängte historische Fakten und Zusammenhänge aufdecken bzw. rekonstruieren, also (wieder) bewusst machen will. Darauf, die Motive meiner Pro37
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Ohnehin glaube auch ich, dass sich Psychologie, Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft sinnvoll ergänzen können. Argumente für die – vielfach kontrovers diskutierte (vgl. Wehler 1974a; Loewenstein 1992; Wippermann 1992, S. 267–270; Rüsen/Straub 1998; Wildt 2003, S. 26, 28f.; Raphael 2010, S. 72, 84, 170; Dörr 2010, S. 1) – Nutzung der Psychoanalyse durch die Geschichtswissenschaft finden sich in Wehler (1974b, S. 22), Straub (1998b, S. 25), Loewenberg (1998, S. 129f.), Evans (1999, S. 40f.), Opgenoorth/Schulz (2001, S. 230f.) sowie bei Thomas Nipperdey, zitiert in Dörr (2010, S. 4). Auch Peter Longerich diskutierte mit Psychoanalytikern »ausführlich über die Persönlichkeit der Hauptfigur« seiner Goebbels-Biografie (Longerich 2010, S. 693, siehe auch ebd., S. 12). Da mir die menschliche Geschichte als ein Prozess mit offenem Ausgang erscheint, den wir umso sinnvoller gestalten können, je mehr wir uns unserer individuellen und gesellschaftlichen Vergangenheit bewusst sind, sehe ich zudem bemerkenswerte Überschneidungen zwischen Psychoanalyse und Geschichtsforschung – und eine gemeinsame Verantwortung beider Wissenschaften. Wie sollte sich auch »[d]as methodische Ziel der Geschichtswissenschaft […], Aussagen und Handlungsmotive zu verstehen und Ereignisse und Prozesse zu erklären« (Sellin 2008, S. 14), ohne Einbeziehung unbewusster seelischer Vorgänge erreichen lassen?
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Einleitung
tagonisten psychoanalytisch auszudeuten, werde ich jedoch weitgehend verzichten. Für die Hauptperson meiner Darstellung, Wilhelm Reich, trage ich freilich der Tatsache Rechnung, dass unser Handeln als Erwachsene hochgradig durch unsere Lebensgeschichte geprägt wird: Ich werde die wichtigsten Ereignisse aus Reichs Kindheit und Jugend zusammenfassen, um einige wahrscheinlich zentrale Motive seines Handelns einfühlbarer zu machen.39 Auch in wissenschaftliche Darlegungen fließen subjektive Faktoren ein. Das gilt erst recht, wenn es darum geht, Ereignisse und Aspekte einer Vergangenheit zu schildern, deren Auswirkungen bis in die eigene Lebensgeschichte reichen. Das ist bei mir auf mindestens zweierlei Weise gegeben. Zum Zeitpunkt meiner Geburt hatte das Dritte Reich zwar seit zwölf Jahren aufgehört zu existieren, doch natürlich beeinflusst(e) es die gesellschaftlichen Entwicklungen in DDR40 und BRD41 und damit auch mein Leben (vgl. Peglau 2000d). Zudem ist die Psychoanalyse seit über 30 Jahren eines meiner zentralen Themen – als Student, Journalist, Vorsitzender eines Vereins zur Förderung der Psychoanalyse, Patient, Therapeut und Privatperson (vgl. Peglau 2001). Daher berührt mich vieles von dem, was ich mitzuteilen habe, auch emotional. Doch auch in der Geschichtswissenschaft wird »Subjektivität aus dem Erkenntnisprozeß« nicht ausgeklammert und emotionsgeladenes Interesse, sogar »Leidenschaft« als Triebkraft des Forschens akzeptiert (Sellin 2008, S. 214f.). Statt eine gar nicht einlösbare »Objektivität« zu suggerieren, werde ich ausdrücklich auf Stellen hinweisen, an denen meine spezifische Sichtweise auf die Psychoanalyse und das Menschen- und Weltbild, das ich mir in all der Zeit erarbeitet habe, in starkem Maße in den Text einfließen.
Danksagung Ohne die Hilfe von vielen anderen wäre mir die Abfassung der vorliegenden Schrift – für deren eventuelle Fehler ich natürlich allein verantwortlich bin – 39
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Volker Sellin bestätigt, dass »das einfühlende Verstehen als ›Nachvollzug seelischer Vorgänge‹« auch für den Historiker eine wichtige Rolle spielt (Sellin 2008, S. 104). Speziell für die geschichtswissenschaftliche Erforschung des Nationalsozialismus betont Christian Ingrao die Notwendigkeit, »Emotionen, […] Inbrunst und Angst, […] Utopien, Verzweiflung und Hass« der handelnden Personen einzubeziehen (Ingrao 2012, S. 10). Ich war bis 1990 DDR-Bürger. Dass unsere nationalsozialistische Vergangenheit noch immer nicht »bewältigt« ist, haben die 2011 bekannt gewordenen Morde des sogenannten NSU-Trios auf erschreckende Weise verdeutlicht.
Danksagung
nicht möglich gewesen. Den größten Einfluss auf den Inhalt und die Entstehung des Buches nahmen – in alphabetischer Reihenfolge – Philip Bennett, Helmut Dahmer, Bernd A. Laska, Knuth Müller, Bernd Nitzschke, Michael Schröter und Werner Treß. Philip Bennett korrespondierte mit mir intensiv über Aspekte des Reichschen Gesamtwerkes und stellte mir aus seinem Privatarchiv vielfach Dokumente zur Verfügung, ermöglichte oder erleichterte mir Kontakte mit englischsprachigen Fachleuten, begleitete und unterstützte mich bei meiner Recherche im Bostoner Reich-Archiv und nahm mich in diesen Tagen zudem gastlich in seinem Haus in Hamden, Connecticut auf. Helmut Dahmer hat nach überaus gründlichem Durcharbeiten meines Manuskriptes so zahlreiche und wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht, dass der mir schon als fast fertig erschienene Text noch einmal einen deutlichen Qualitätssprung machen konnte, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Seine Ermunterung hatte zuvor bereits den Ausschlag gegeben, dass ich mich mit diesem Projekt um eine Promotion bemühte. Seine Schriften und insbesondere seine Charakterisierung der Freudschen Schöpfung als »unnatürliche Wissenschaft« ermöglichten mir, mein Verständnis von Psychoanalyse zu präzisieren. Mit Bernd A. Laska habe ich über längere Zeit in einem für mich in vielerlei Hinsicht förderlichen Austausch gestanden, der auch mein Wissen über Reichs Leben und Wirken sowie über die – vor allem westdeutsche – Reich-Rezeption nach 1968 erweiterte. Er half mir mehrfach, Dokumente in Reichs Biografie einzuordnen und zu übersetzen und gab mir nach der Lektüre des Manuskriptes zahlreiche wertvolle Hinweise zu Inhalt und Formulierung, die ich mit großem Gewinn eingearbeitet habe. Knuth Müller hat nicht nur das Manuskript gelesen und mit mir diskutiert, sondern mich auch mit wesentlichen Hinweisen auf aktuelle englischsprachige Literatur versorgt. Seine detaillierten Forschungen zu den Beziehungen zwischen Psychoanalytikern und US-Geheimdiensten einbeziehen zu können, hat meinen Text klar bereichert. Dass wir zeitgleich an miteinander verbundenen Tabu-Themen der Psychoanalysegeschichte arbeiteten, war ermutigend für mich. Bernd Nitzschke hat schon ganz am Anfang meiner Recherchen durch Zuspruch und Unterstützung dafür gesorgt, dass ich diese überhaupt fortgeführt habe. Er betätigte sich auch danach wiederholt als wichtiger »Geburtshelfer« des Projektes und gut informierter Ansprechpartner und Kontaktvermittler, las das Manuskript und bereicherte es durch verschiedentliche Hinweise, unter anderem auf zusätzliche Quellen und Texte. Schließlich verdanke ich ihm auch die entscheidende Anregung für den Titel, den dieses Buch nun trägt. Michael Schröter unterstützte mein Projekt in sehr engagierter Weise – und das, 39
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obwohl er wusste, dass manche meiner Bewertungen konträr zu seinen Sichtweisen stehen würden: eine Haltung, die ich ausgesprochen schätzenswert finde. Ich habe nicht nur von seinem profunden psychoanalysehistorischen Wissen profitiert, sondern gerade auch von unseren ausführlichen (Streit-)Gesprächen. Auch er hat das Manuskript gründlich gelesen und sich viel Zeit genommen, um mich auf Quellen, weiteres Material, Unstimmigkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten hinzuweisen. Schon als ich noch am Anfang meiner Recherchen zu psychoanalytischer Literatur im Dritten Reich stand, hat mir Werner Treß die Beteiligung an einem von ihm mitverantworteten Buchprojekt angeboten. In der sich daraus entwickelnden Zusammenarbeit habe ich geschichtswissenschaftliche Arbeit erst richtig kennen und schätzen gelernt, konnte mich dabei oftmals an seinen diesbezüglich angelegten Maßstäben orientieren. Er schlug mir als erster vor, zu überdenken, ob ich das Thema nicht zu einer Promotion ausbauen wolle. Von ihm erhielt ich überdies wichtige Hinweise auf mir zuvor unbekannte historische Zusammenhänge und Quellen. Jan-Pieter Barbian gab mir Auskunft zu einigen wichtigen Aspekten der NS-Literaturzensur. Almuth Bruder-Bezzel vermehrte mein Wissen über das Schicksal der Individualpsychologie und ihrer Autoren in der NS-Zeit. Jens Dobler unterstützte mich unter anderem mit Literatur und Informationen zu Reichs Rechtsanwalt Fritz Flato , zum Schmutz- und Schundgesetz und zur Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich. Wertvolle Rückmeldungen zum Gesamtmanuskript bekam ich von John Erpenbeck. Karl Fallend verschaffte mir zusätzliche Einblicke in Reichs Wirken in Wien. Rainer Funk unterrichtete mich über wenig bekannte Details aus Erich Fromms Leben und erlaubte mir, Fromms digitalisiertes Gesamtwerk zu durchsuchen. Mit Michael Geyer konnte ich einen hilfreichen Dialog über die Rolle und moralische Verantwortung von Psychotherapeuten führen. Von Andreas Herbst erhielt ich diverse biografische Informationen zu kommunistischen und anderen »linken« Mitstreitern oder Kontrahenten Reichs. Mit Ludger M. Hermanns, der mich auch auf zusätzliche Quellen und Texte hinwies und mir ermöglichte, Dokumente aus seinem Privatarchiv und aus dem Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse zu nutzen, konnte ich ausgewählte strittige Thesen diskutieren. Rainer Herrn erläuterte mir im Zusammenhang mit dem Institut für Sexualwissenschaft in Berlin stehende Geschehnisse. Manfred Herzer verhalf mir zu einem besseren Verständnis der Auffassungen von Magnus Hirschfeld. Gerhard Keiper war mir ein kompetenter Ansprechpartner im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. Gertrud Lenz stellte mir vorab Teile ihrer Dissertation zur Verfügung und sensibilisierte mich für das Beziehungsgeflecht zwischen Wilhelm Reich, Willy Brandt und Gertrud Meyer. Regine Lockot ermunterte mich 2007 zur Beteiligung an der Gedenktafeleinweihung für Wilhelm und 40
Danksagung
Annie Reich in Berlin, gab mir wichtige Literaturempfehlungen und stellte mir neben weiteren Quellen die aufschlussreichen Tagebücher des in NS-Deutschland publizierenden Psychoanalytikers Alexander Mette zur Verfügung. Thomas Mueller informierte mich unter anderem über Details aus dem Leben von Henry Lowenfeld. Heinz Peter las und kommentierte das Buchmanuskript und gab mir die Möglichkeit, eine der offenbar ganz wenigen noch existierenden Tarnausgaben von Reichs Massenpsychologie des Faschismus zu sichten und zu fotografieren. Steffen Theilemann brachte mir das Werk Harald Schultz-Henckes näher und lieh mir rare Publikationen über ihn. Von Urban Zerfaß’ umfangreichem Wissen über psychoanalytische Veröffentlichungen einschließlich deren Entstehung und Verbreitung profitierte ich mehrfach. Er verschaffte mir auch Originalausgaben hier abgehandelter Schriften. Dankbar hervorheben möchte ich zudem, dass mir Marc Rackelmann gestattete, sein Privatarchiv zu Reichs Wirken in Berlin zu nutzen. Marianne Baeumler sandte mir Informationen über ihren verstorbenen Mann, Alfred Baeumler, und nahm sich Zeit für zwei längere Telefonate. Mit Gregor von Kursell konnte ich mich mehrmals über seinen Großvater, Otto von Kursell, verständigen, mit Wolff-Dietrich Webler über seinen Vater Heinrich Webler. Lore Rubin Reich gab mir in persönlichen Gesprächen und im E-Mail-Austausch die Chance, ihren Vater Wilhelm Reich aus einer zusätzlichen Perspektive wahrzunehmen. Mehrere Begegnungen mit ihr im Jahr 2007 waren zudem eine entscheidende Inspiration für mich, das Thema Wilhelm Reich in Berlin systematisch anzugehen. Nellie Thompson verhalf mir zu dem im Anhang abgebildeten Foto von Wilhelm Reich, Simone Faxa und Peter Nöemaier unterstützten mich bei der Suche nach einem passenden Freud-Foto. Christian T. Flierl, Grit Sündermann und Melanie Fehr waren mir kompetente und jederzeit ansprechbare Partner und Lektoren bei der Kooperation mit dem Psychosozial-Verlag. Dessen Leiter Hans-Jürgen Wirth habe ich ohnehin für einen inzwischen langjährigen konstruktiven Kontakt zu danken und für seine Geduld und Unterstützung beim langwierigen Entstehungsprozess dieses Buches. Dem Betreuer meiner Dissertation Volker Hess und seiner Sekretärin Stefanie Voth möchte ich ebenfalls für ihre Hilfe beim Erarbeiten der dieser Publikation zugrunde liegenden Promotionsschrift Dank sagen. Jan Petzold danke ich dafür, dass er mit viel Engagement und Können den Dokumenten-Anhang des Buches gestaltet hat. Für unterschiedlichste Unterstützung bedanke ich mich ferner bei Sigrun Anselm, Henry Biebaß, Bernd Bocian, Volker Böhnigk, Michael B. Buchholz, James DeMeo, Klaus Dörner, Ralf Dose, David J. Fisher, Michael Giefer, Hans Hautmann, Roland Kaufhold, Frank Thomas Koch, Carsten Krinn, Michael Kohlstruck, 41
Einleitung
Hermann Kurzke, Harald Jenner, Michael Laschke, Wolfgang Leuschner, Einhart Lorenz, Marie Luniak, Hans-Joachim Maaz, Wolfgang Maderthaner, Angela Mai, Ulrike May, Anneros Meischner-Metge, Peter Nasselstein, Annegret Neupert, Gerda Pagel, Ernst Piper, Ute Räuber, Johannes Reichmayr, Steffie Richter, Volker Roelcke, Bernd Rother, Gerhard Sauder, Hans-Rudolf Schiesser, Andreas Schmeling, Melanie Scholz, Bettina Schröder, Hubert Speidel und Sybille Steinbacher. Nicht zuletzt danke ich für gute Zusammenarbeit dem Wilhelm Reich Infant Trust, Rangeley, Maine (USA), insbesondere dessen Vorstandsmitgliedern Mary Boyd Higgins, Kevin Hinchey und James Strick. Hilfe erhielt ich auch von den freundlichen Archivaren der Countway Library of Medicine an der Bostoner Harvard University, wo der Reich-Nachlass lagert. Im Berliner Forum zur Geschichte der Psychoanalyse hatte ich die Möglichkeit, Teile der Arbeit vorab zu diskutieren und von dem in diesem Kreis angesammelten Wissen wesentlich zu profitieren. Mein besonderer Dank gilt meiner Partnerin Gudrun Peters. Andreas Peglau, Berlin im Juni 2013
42
»Die Psychoanalyse ist selbstverständlich ›unpolitisch‹. Sie […] ist […] eine naturwissenschaftliche Disziplin, die schon durch ihr Forschungsobjekt in die großen sozialen Fragen nur als unparteiliche, der Wahrheit dienende Instanz einzutreten vermag.« Felix Schottlaender (1931, S. 387) »Der Wissenschaftler, der glaubt, durch Vorsicht und ›Unpolitischsein‹ seine Existenz zu retten und durch die Verjagung und Einkerkerung auch der Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernst genommen zu werden und später einmal am wirklichen Neubau der Gesellschaft mitzuwirken.« Wilhelm Reich (1933b, S. 9) »Unsere [ärztliche – A.P.] Gesellschaft sieht es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, den Ärzten, den Pädagogen, überhaupt allen Volksgenossen, die sich mit Menschenführung befassen, nicht zuletzt auch in der Wehrmacht und in der Wirtschaft, zuzurufen: Vergeßt das Unbewußte nicht! Glaubt doch nicht den Menschen als Ganzes zu erfassen, wenn ihr vor dem Unbewußten die Augen schließt!« Matthias Heinrich Göring (1940, zitiert in Bilz 1941, S. 8) »Seit der letzte [psychoanalytische – A.P.] Kongreß vor elf Jahren stattfand, haben große und furchtbare Ereignisse die Welt erschüttert. […] Natürlich ist die Versuchung groß, neben denjenigen Faktoren, denen unser spezielles Interesse gilt, auch noch sozio-politische Faktoren zu berücksichtigen und unsere Ergebnisse soziologisch zu reformulieren. Doch können wir stolz darauf sein, dieser Versuchung – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – energisch widerstanden zu haben.« Ernest Jones (1949, zitiert in Dahmer 2009g, S. 352)
1
Vorspiele
1.1
Frühe Prägungen
Wilhelm Reich kam am 24.3.1897 in Galizien, im östlichen Teil des damaligen Österreich-Ungarn, zur Welt. Seine Kindheit war bestimmt durch die für diese Epoche typischen, autoritär-gefühlsunterdrückenden Normen und Familienverhältnisse, deren Studium er sich später so intensiv widmen sollte. Reichs Vater, Gutsbesitzer jüdischer Abstammung, dominierte die Familie nach patriarchalischem Muster. »Streng erzogen«, musste Reich »immer mehr leisten als die anderen, um den Ehrgeiz seines Vaters […] zu befriedigen, hing seit frühester Kindheit mit großer Zärtlichkeit an der Mutter, die ihn oft vor den tätlichen Ausschreitungen des Vaters schützte« (Reich 1997c, S. 79f.).42 Die familiären Konflikte in Reichs Familie sollten sich in dramatischer Weise zuspitzen. Als 13-Jähriger ertappte Wilhelm seine Mutter beim Ehebruch mit einem Hauslehrer: »Ich hörte Küsse, Flüstern, die fürchterlichen Geräusche des Bettes und darin lag meine Mutter. Und drei Meter dahinter stand ihr Kind und hörte ihre Schande. […] [M]it wilden Phantasien im Hirn schlich ich in mein Bett zurück, am Frohsinn geschädigt, im Innersten zerrissen für mein ganzes Leben!« (Reich 1994, S. 44).
Bald darauf bahnte sich Ähnliches mit einem neuen Hauslehrer an. Der diesmal Verdacht schöpfende Vater nötigte Wilhelm und dessen jüngeren Bruder, alles mitzuteilen, was ihnen über die Untreue der Mutter bekannt sei. Nun gestand 42
Zur Einordnung des Artikels als Selbstanalyse Reichs vgl. Sharaf 1996, S. 61f.
45
1 Vorspiele
Wilhelm, was er zuvor wahrgenommen hatte. Die Mutter, vom Vater daraufhin verbal attackiert und mehrfach schwer misshandelt, nahm sich das Leben. Der bald danach offenbar depressiv werdende Vater folgte ihr 1914 in den Tod – unter Umständen, die ebenfalls Selbstmordabsichten vermuten lassen (Reich 1994, S. 43–69; Sharaf 1996, S. 61–73). Diese Ereignisse beeinflussten Reichs Leben weitreichend. Noch 1944 schrieb er im Tagebuch von seinem »Verbrechen« und vom »Verrat«, den er an der Mutter begangen habe, notierte aber auch: »Mag mein Lebenswerk meine Missetat wieder gutmachen« (Reich 1994, S. 48, Fn). Nach dem Tod seines Vaters übernahm Wilhelm – 17-jährig und noch Gymnasiast – die Leitung des elterlichen Gutes. Bald darauf begann der Erste Weltkrieg, und er floh, nachdem sein Dorf in die Kriegswirren hineingezogen worden war. Heimatlos geworden, meldete er sich 1915 freiwillig zum Militärdienst und wurde Leutnant: »Ich war ein im Sinne des Militarismus ›tüchtiger Mann‹. […] Man war einfach auf die Unterwerfung unter die Kriegsmaschine und ihre Ideologie von Kindheit an vorbereitet« (ebd., S. 80f.). Zweijährige Fronterfahrungen ließen ihn umdenken. Um den Kriegsereignissen den Rücken zu kehren, machte er im August 1918 von der Möglichkeit Gebrauch, in Wien einen dreimonatigen Studienurlaub zu absolvieren. Während dieses Urlaubs endete der Krieg, und die österreichische Monarchie fiel in sich zusammen.
1.2
Reich in Wien
1.2.1
Psychoanalyse
1919 war der ehemals wohlsituierte Gutsbesitzersohn Wilhelm Reich ein völlig mittelloser, gelegentlich von einem Onkel unterstützter, oftmals hungernder Student der Medizin geworden.43 Während des Studiums stieß er auf die Lehre Sigmund Freuds. Der Arzt Sigmund Freud, am 6.5.1856 im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Freiberg als Kind jüdischer Eltern geboren, hatte in den 1890er Jahren die Psychoanalyse entwickelt. 1920 hatte er damit bereits internationale Bekanntheit erlangt und eine wachsende Schar von Mitstreitern um sich gesammelt. Reich stand der Psychoanalyse zunächst ambivalent gegenüber. Dass er jedoch bald immer mehr Anknüpfungspunkte entdeckte, lässt sich seinem Tagebucheintrag vom 1.3.1919 entnehmen. Er sei ja bereits, heißt es dort, 43
46
Zuvor hatte er sich für ein Jurastudium eingeschrieben, aber schnell gemerkt, dass es ihn langweilte (Sharaf 1996, S. 75).
1.2 Reich in Wien
»aus eigener Erfahrung, aus Beobachtungen bei mir und anderen zur Überzeugung gekommen […], daß die Sexualität der Mittelpunkt ist, um den herum das ganze soziale Leben wie die innere Geisteswelt des Einzelnen, bald in direktem, bald mittelbarem Zusammenhang mit jenem Mittelpunkt, sich abspielt« (Reich 1994, S. 103).
Schon als Kind habe er »in jedem Blick, in jeder Gebärde, überhaupt in allem, das mir verdächtig vorkam, Sexualität« vermutet (ebd., S. 103f.). Dass Freud meinte, er könne an »kein menschliches Seelenleben glauben, an dessen Aufbau nicht das sexuelle Begehren im weitesten Sinne, die Libido ihren Anteil hätte« (Freud 1910c, S. 172),44 musste Reich also anziehen. Offenbar übernahm er auch Freuds Anschauung, Liebe sei im Grunde nur zielgehemmte Sexualität. Diese hatte Freud unter anderem so beschrieben:45 »Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet natürlich […] die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe, andererseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und allgemeine Menschenliebe […] alle diese Strebungen [sind] Ausdruck der nämlichen Triebregungen, die zwischen den Geschlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hindrängen, […] von diesem sexuellen Ziel abgedrängt oder in der Erreichung desselben aufgehalten werden« (Freud 1921c, S. 98).
Noch 1919 entschied sich Reich, Analytiker zu werden, und traf Freud erstmals persönlich. Sofort war er von ihm eingenommen: 44
45
Bernd Nitzschke, der dieses Freud-Zitat anführt, urteilt über »Freuds Konzept der Sexualität«, dass dieser »im strengen Sinne alle psychischen Erscheinungen unter einem sexuellen Aspekt (wenngleich nicht nur unter einem solchen) begreift« (Nitzschke 1982, S. 364). Dass hierfür auch bei Freud frühe Prägungen hineinspielten, legen Details aus seiner Biografie nahe (vgl. Gay 1999, S. 12–23; Appignanesie/Forrester 1992, S. 23–34; Kollbrunner 2001, S. 86–115). Die psychoanalytische Untersuchung zeige, schrieb Freud noch 1925, dass alle zärtlichen Gefühlsregungen »ursprünglich vollsexuelle Strebungen waren, die dann ›zielgehemmt‹ oder ›sublimiert‹ worden sind« (Freud 1925d, S. 64). In den 1920er Jahren weitete er den Sexual- zwar zum Lebenstrieb aus, welcher »immer mehr lebende Substanz zu größeren Einheiten zusammenballen« wolle (Freud 1933a, S. 114). Ein tiefgründiges Konzept zu Liebesbeziehungen, wie es Fromm entwickelt hat, hat Freud jedoch nie vorgelegt (vgl. Fromm 1989d, insbesondere S. 461; Nitzschke 1982, S. 367, 392ff.). Auch Reich stellte offenbar erst in seinem Spätwerk Der Christusmord einige weitergehende Überlegungen über die Liebe als an sich beachtenswertes Phänomen an. Sie kreisten aber noch immer um die »genitale Liebe« (Reich 1997b, S. 57–67, 77–80).
47
1 Vorspiele
»Die anderen spielten im Gehaben irgendeine Rolle, den Professor, den großen Menschenkenner, den distinguierten Wissenschaftler. Freud sprach mit mir wie ein ganz gewöhnlicher Mensch und hatte brennend kluge Augen. Sie durchdrangen nicht die Augen des andern in seherischer Pose, sondern schauten nur echt und wahrhaft in die Welt« (Reich 1987, S. 36).
Im September desselben Jahres, im Alter von 22 Jahren, begann Reich, psychoanalytisch zu behandeln (Reich 1994, S. 124). Im Oktober 1920 wurde er in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) aufgenommen (Reich 1987, S. 44f.). Im November 1920 starb eine der ersten Patientinnen Reichs an einer Sepsis, die laut Reich auf ein »gefährliches Fieber mit Gelenkrheumatismus« zurückging (Reich 1994, S. 155). Er hatte mit ihr, nach Abschluss ihrer Behandlung, ein Verhältnis begonnen: keine Seltenheit unter den damaligen Analytikern.46 Die Mutter der jungen Frau warf Reich vor, er habe sie ermordet, da sie als Todesursache eine missglückte Abtreibung vermutete. Wenig später beging die Mutter Selbstmord. Reichs Schuldgefühle intensivierten sich: »Ich mußte mir sagen, daß ich der Mörder einer ganzen Familie bin, die Tatsache steht fest: Ohne meinen Eintritt in ihr Haus lebten beide! Und ich gehe mit diesem Bewußtsein weiter […] – spiele Komödie, während die Menschen um mich und durch mich sterben! Starb meine Mutter nicht, besser, nahm sie sich nicht das Leben, weil ich alles erzählt hatte?« (ebd., S. 175f.).
Kurz zuvor hatte er notiert, er habe sich »intensivst mit Psychoanalyse« beschäftigt, »nicht nur aus objektivem Interesse für diese neue Wissenschaft, sondern auch aus dem unbestimmten Gefühl heraus, durch sie in manche dunkle Region meines Ichs zu gelangen« (ebd., S. 160). Anfang Januar 1921 vermerkte er »zwei von Freud persönlich geschickte zahlende Patienten!« (ebd., S. 178) – seine finanzielle Situation begann sich zu verbessern. Am 12.3.1921 schrieb er: »Solange der letzte Bettler nicht von der Gasse verschwunden, die letzte Wöchnerin eines Mittagessens entbehrt, die letzte Laus in einem Nachtasyl noch Blut saugt, der letzte Fünfjährige […] mit schwerer Holzlast, gebeugt, ungewaschen, hungrig […] euch 46
48
Beispiele für sexuelle Kontakte und/oder Eheschließungen bekannter Analytiker mit ehemaligen oder späteren Patientinnen bzw. Patienten sind Bernfeld, Fenichel, Ferenczi (Sharaf 1996, S. 131ff.), Radó (Freud/Eitingon 2004, Bd. 1, S. 491, Fn 4), C.G. Jung (Bair 2007, S. 284ff.), Frieda Reichmann, die 1926 ihren vormaligen Freund und Analysanden Erich Fromm ehelichte (Funk 1998, S. 51). Vgl. auch Krutzenbichler/Essers 1991.
1.2 Reich in Wien
begegnet – solange, sage ich, dürft ihr, wenn ihr konsequent seid, keine Bücher kaufen, […] keine Musik hören, kein Theater besuchen, kein zweites Frühstück und zum Nachtmahl nicht mehr als Brot essen, ja nicht mal studieren, denn euer Studium kostet […] und da ihr nicht verdient, muss es ein anderer für euch tun, und es ist vollkommen gleichgültig, ob euer Onkel oder Vater […] dem Arbeiter das Blut auspresst oder ihr es selber tut!« (ebd., S. 192).47
Das Interesse an sozialen Problemen sollte ihm erhalten bleiben. Im Frühjahr 1922 heiratete er Annie Pink, eine andere seiner ehemaligen Patientinnen. Auch hier hatten beide zunächst einige Zeit nach Therapieende verstreichen lassen, bis sie sich auf eine intime Beziehung einließen. Annie sollte einige Zeit später ebenfalls ein Medizinstudium abschließen und Psychoanalytikerin werden. Im Sommer 1922 wurde Reich zum Doktor der Medizin promoviert (ebd., S. 212) und begann als Sekundararzt am neu gegründeten WPV-Ambulatorium zu arbeiten. 1924 wurde er Leiter des ausbildungstechnischen Seminars der WPV, sodass ihm »mitzuverdanken [ist], daß die therapeutische Technik der Psychoanalyse zu einer systematischen lehr- und lernbaren Methode wurde« (Büntig 1982, S. 254).48 Richard Sterba, von Reich ausgebildeter und später mit ihm befreundeter Analytiker, beschreibt Reich als »eindrucksvolle Persönlichkeit, voll jugendlicher Intensität. Er war kraftvoll als Sprecher, und er drückte sich klar und bestimmt aus. Er hatte eine ungewöhnliche Begabung, sich in das seelische Kräftespiel in Patienten einzufühlen. […] Unter seiner Leitung wurde das technische Seminar zu einer so hervorragenden Stätte des Lernens, daß selbst ältere Mitglieder regelmäßig daran teilnahmen« (Sterba 1985, S. 37).
Die Analytikerin Edith Jacobssohn erinnert sich: »Er war wirklich der erste, der über die Abwehrmechanismen sprechen wollte. Und das war schon bald, nachdem [1923] Freuds Das Ich und das Es erschienen war. Bis dahin ging es hauptsächlich um die Widerstände; eine Ich-Psychologie gab es noch 47
48
Vielleicht hatte er zuvor gerade Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten gelesen. Dort findet sich ein in Manchem ähnlich klingender Passus über die Notwendigkeit sozialer Veränderungen (Freud 1905c, S. 121). Vgl. auch Fallend 1997, S. 23f.; Makari 2011, S. 458–471. Protokolle einiger Sitzungen dieses Seminars, die auch belegen, wie selbstbewusst Reich gegenüber älteren Analytikern auftrat, in Lobner 1978.
49
1 Vorspiele
nicht […]. Anna Freud […] wurde sehr stark von Reich beeinflusst« (zitiert in May/ Mühlleitner 2005, S. 252f.).
1925 wurde Reich Lehranalytiker (Mühlleitner 1992, S. 257) und veröffentlichte sein erstes Buch: Der triebhafte Charakter. Eine psychoanalytische Studie zur Pathologie des Ich. In einem Brief49 an Reich hatte Freud das Manuskript als »wichtigen Fortschritt in der Erkenntnis der Krankheitsformen« bezeichnet (zitiert in Danto 2011, S. 169). Gegenüber Paul Federn äußerte Freud, Reichs Erstlingswerk sei »reich an wertvollem Inhalt« (Sharaf 1996, S. 93).50 Am Ende der Schrift reflektierte Reich die Situation psychisch Kranker, die zu dieser Zeit noch vielfach in geschlossenen Anstalten vor sich hin vegetierten: »Die Psychoanalyse hat zeigen können, wie sehr Milieu, materielle Misere, Unverstand und Rohheit der Eltern, eine konfliktschwangere Kinderstube, gewiß auch Veranlagung, Kinder zu dissozialen, kranken und verzerrten Menschen macht. Die Menschheit schützt sich vor ihnen durch Internierung, die unter heutigen Bedingungen immer verschlechternd wirkt. Sollte aber ›das Gewissen der Menschheit einmal erwachen‹51, […] dann wird die Psychoanalyse gewiß in allererster Linie dazu berufen sein, unter besseren Bedingungen als heute an der Befreiung vom neurotischen Elend mitzuwirken« (Reich 1997c, S. 340).
Zu Freuds 70. Geburtstag am 6.5.1926 überreichte ihm Reich das Manuskript seines nächsten Buches, Die Funktion des Orgasmus. Auch Freud hatte lange den Standpunkt vertreten, »der Kernpunkt der Psychoanalyse« sei, dass »hinter den Neurosen« die Sexualität stecke (Freud/Abraham 2009, Bd. 1, S. 355). 1905 schrieb er, seine frühere Lehre, von der er sich nun allerdings bereits zu Teilen distanzierte, »gipfelte in dem Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmöglich« (Freud 1906a, S. 153). Reich definierte jetzt, 21 Jahre später, »die Fähigkeit zur sexuellen Befriedigung« sowie die »Herstellung der orgastischen Potenz« und der »vollen Liebesfähigkeit« als Kriterium psychischer Gesund49 50
51
50
Vom 14.12.1924. Manches spricht dafür, dass Reich hier auch eigene Erfahrungen und Probleme verarbeitete (Sharaf 1996, S. 90ff.). Nichts Seltenes innerhalb der Psychoanalyse: Schon Freud hatte in der Traumdeutung vielfach auf eigene Träume zurückgegriffen und dies ebenfalls nicht durchweg benannt. Philipp Bennett machte mich am 26.1.2014 darauf aufmerksam, dass ein ähnlicher Ausdruck in Freud 1919a, S. 192 zu finden ist – allerdings spricht Freud dort von »Gesellschaft« statt »Menschheit«. Dennoch liegt die Vermutung nahe, Reich habe hier Freud zitieren wollen.
1.2 Reich in Wien
heit (Reich 1927, S. 192f.). Bald darauf beschrieb ihn Freud in einem Brief an die Schriftstellerin und Analytikerin Lou Andreas-Salomé als »einen braven, aber impetuösen [=ungestümen – A.P.] jungen passionierten Steckenpferdreiter, der jetzt im genitalen Orgasmus das Gegengift jeder Neurose verehrt« (zitiert in Fallend 1988, S. 198). Reich gegenüber kritisierte er den zu großen Umfang und die unzureichende Übersichtlichkeit der Darstellung, meinte aber dennoch: »Ich finde die Arbeit wertvoll, reich an Beobachtungsmaterial und Gedankeninhalt.« Sie habe für ihn »besonderes Interesse«, da sie sich mit »lange vernachlässigten« Fragen befasse. Er stehe Reichs Versuch, Neurasthenie darauf zurückzuführen, dass die genitalen Impulse sich nicht angemessen entfalten können, »keinesfalls ablehnend gegenüber« (zitiert in Danto 2011, S. 171). Seit Mitte der 1920er Jahre wurde es für Reich immer deutlicher, wie tief seelische Störungen im gesellschaftlichen Umfeld verankert sind. Hier konnte er ebenfalls an Freud anknüpfen, der, wie schon erwähnt, ebenfalls betont hatte, dass die Gesellschaft »an der Verursachung der Neurosen […] einen großen Anteil hat« (Freud 1910d, S. 111). Reich bemühte sich, soziale Aspekte auch in seine Veröffentlichungen einzubeziehen, zunächst mit Ergebnissen, die ihm später wenig zufriedenstellend erschienen: »Ich produzierte […] harmlose Belanglosigkeiten«, welche die »übliche Mischung aus Halbwahrheiten und völligen Unrichtigkeiten« enthielten (Reich 1995, S. 30). Doch wie immer, wenn er etwas wichtig fand, wandte er sich dem mit großer Intensität zu: »Ich begann, Ethnologie und Soziologie zu studieren« (ebd., S. 32). Bei Karl Marx entdeckte er die seine therapeutischen Erfahrungen ergänzende Gesellschaftstheorie. Später schrieb er dazu: »Die Marxsche Wirtschaftslehre bedeutete zweifellos für die Ökonomie dasselbe wie die Freudsche Theorie des unbewussten Lebens für die Psychologie. Beide setzen eine bestimmte, auf Tatsachen gegründete Anschauung über die Gesetze voraus, die das heutige menschliche Leben lenken« (ebd., S. 74).
Als »Kern der Marxschen Wirtschaftslehre« betrachtete er den »fundamentalen Unterschied zwischen der lebendigen und der toten Produktivkraft«, zwischen kreativer menschlicher Arbeit und leblosem Kapital – also eine »biosoziale« Problematik (ebd., S. 63, 73).52 Im Folgenden engagierte er sich sowohl für die Weiter52
In Reichs persönlicher Bibliothek, die Philip Bennett erforscht hat, befinden sich allein von Marx und Engels folgende Werke in vor 1933 erschienenen Ausgaben: Marx/Engels: Gesamtausgabe (4 Bde., Berlin 1929–1931), Marx/Engels: Über Historischen Materialismus (2 Bde., Berlin 1930). Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (Berlin 1927), Briefe an Kugelmann (Berlin 1927), Der Historische Materialismus (2 Bde., Leipzig 1932), Das Kapital
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1 Vorspiele
entwicklung der Psychoanalyse als auch für die Veränderung sozialer Strukturen, die seiner Meinung nach psychische Störungen hervorriefen und unterhielten. Dass er mit Letzterem in Konflikt zu Freud geraten musste, war abzusehen. Denn Freud gelangte immer mehr zu der Auffassung, menschliches Leiden sei maßgeblich durch einen angeborenen Destruktions- oder Todestrieb bedingt, durch den der Mensch, so sollte er es 1929 formulieren, eine »wilde Bestie« sei, »der die Schonung der eigenen Art fremd ist« (Freud 1930, S. 471). Als Gegenmittel setzte Freud vor allem auf die Stärkung des Lebenstriebes Eros, betonte aber auch die Bedeutung der »Sublimierung« als Möglichkeit, Triebe wenigstens teilweise in gesellschaftlich anerkannten Ersatzbefriedigungen auszuleben – den Sexualtrieb insbesondere in Form von Wissenschaft und Kunst.53 Allerdings war ihm klar, dass dieser Weg »nur wenigen Menschen zugänglich« ist und »besondere, im wirksamen Ausmaß nicht gerade häufige Anlagen und Begabungen« voraussetzt. Für die Masse der Menschen konnte er daher keine schlüssigen Lösungen anbieten (ebd., S. 438 inkl. Fn, S. 478–481). Auch Reich schrieb in Die Funktion des Orgasmus noch, Sexualbefriedigung und Sublimierung seien »die zwei allein vollwertigen Auswege aus der Neurose«, und schlug vor, den – von ihm hier also noch akzeptierten – Destruktionstrieb durch sexuelle Befriedigung zu »binden« (Reich 1927, S. 196f.).54 Doch im Vergleich zu Freud tendierte Reich zu einem optimistischeren Menschenbild. Er
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54
52
(3 Bde., Hamburg 1922), Das Kapital (in einem Band, Berlin/Stuttgart 1923), Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Stuttgart 1922). Engels: Der Deutsche Bauernkrieg (Berlin 1930), Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft (Stuttgart 1919), Die Lage der arbeitenden Klasse in England (Stuttgart 1892), Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie (Wien/Berlin 1927), Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (Stuttgart 1922). Darüber hinaus enthält Reichs Sammlung zahlreiche weitere marxistische und sozialistische Schriften aus dieser Zeit, unter anderem von Max Adler, Nikolai Bucharin, Heinrich Cunow, Leo Trotzki (hier allein sieben Bücher), Karl Kautsky, Gustav Landauer, Lenin (16 Bücher sowie Sämtliche Werke, 1927–1929 erschienen), Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Georgi Plechanow, Karl Radek, Otto Rühle, Kurt Sauerland, Karl August Wittfogel (Bennett 2012). Ich halte es für wahrscheinlich, dass Reich sich diese Bücher auch vor 1933 zugelegt hat, da dies zum einen die Zeit seines intensivsten Interesses am Marxismus war und es andererseits seine späteren Lebensumstände zunehmend schwerer gemacht haben dürften, sich deutschsprachige marxistische Schriften zu verschaffen. Für den Destruktionstrieb beschrieb Freud jedoch die Möglichkeit, dessen Energie zur Stärkung des Über-Ichs zu nutzen, als wesentlicher (Freud 1930, S. 482–493). Zur Entwicklung von Freuds »Kultur-Theorie« siehe auch Nitzschke 2010b, S. 225–277, zu Freuds Triebtheorien Dahmer 1994c. In weiten Teilen des Buches wird der Destruktionstrieb als Tatsache dargestellt. Als Begründung gab Reich später an, er habe »nicht aus der Reihe springen« wollen (Reich 1987, S. 120).
1.2 Reich in Wien
sah zunehmend die Chance, die menschliche (Trieb-)Natur zu befreien – statt sie beherrschen zu müssen. Um auch den gesellschaftlichen Rahmen dafür mitzugestalten, wurde Reich 1927 zunächst Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SDAP), im Juli 1927 zusätzlich der österreichischen kommunistischen Partei – allerdings nur im Geheimen.55 Zur gleichen Zeit wurde er in den Vorstand der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aufgenommen. Am 27.7.1927 ging Freud in einem Brief an Reich auf dessen Leitung des ausbildungstechnischen Seminars ein: »Ich habe die volle Schätzung für Ihren Enthusiasmus, Ihre Energie u[nd] Ihre Arbeit […]. Auch dass Sie ein ›Neuerer‹ sind oder sein wollen, kann Ihnen in meinen Augen nicht schaden […]. Sie sind mit der Aufgabe betraut, die analytischen Kindlein in der Ausübung der Analyse zu unterrichten. Das allgemeine Urteil dazu lautet niemand in Wien kann es besser machen« (zitiert in Fallend 1988, S. 198f.).
Allerdings, so Freud weiter, konzentriere sich Reich zu sehr auf seine eigenen Auslegungen, sodass Freud mahnte, »dass Sie Ihre persönliche Arbeit und Ihren Unterricht auseinanderhalten und den Jungen das geben, was bereits Gemeingut ist, u[nd] sie noch nicht für Ihre Neuigkeiten engagieren« (ebd.). Reich war jedoch daran interessiert, seine eigenständiger werdenden Ideen auch anderen mitzuteilen. 1928 gründete er mit einigen politisch Gleichgesinnten die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung, in deren Beratungsstellen insbesondere Psychoanalytiker56 und Ärzte mitwirkten (Fallend 1988, S. 115– 121). Im selben Jahr wurde er zusätzlich zu seinen bisherigen Aufgaben stellvertretender Leiter des Ambulatoriums der analytischen Vereinigung (Mühlleitner 1992, S. 257). Spätestens seit 1926 vorhandene Spannungen zwischen Reich und einem Teil seiner Kollegen, insbesondere seinem vormaligen Lehranalytiker Paul Federn,57 verstärkten sich nun. Im November 1928 verteidigte Freud Reich ge55
56 57
Diesen von mir nicht erwarteten Tatbestand habe ich erst am 1.6.2016 anhand eines Kominterndokumentes vom September 1930 nachweisen können. Ich komme im Abschnitt 1.2.2 ausführlich darauf zu sprechen. Annie Angel, Edmund Bergler, Edith Buxbaum, Eduard Kronengold, Annie Reich (Fallend 1988, S. 118–121). Schon am 12.2.1926 schrieb Reich einen sachlichen Brief, in dem er Kritik am Verhalten des Vorstandes der WPV ihm gegenüber übte. Der Brief wurde aber offenbar nicht abge-
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1 Vorspiele
genüber Vorwürfen Federns: »Die Kritik, die Sie und andere Kollegen gegen ihn [Reich – A.P.] erheben, wird aufgewogen durch seine großen Verdienste um das intellektuelle Leben der Vereinigung. Er ist wirklich ziemlich gut« (zitiert in Sharaf 1996, S. 186). Offenbar in dem Gefühl, dass Freud es akzeptieren oder gar begrüßen würde, wenn er weiterhin auf Schwachstellen der Psychoanalyse aufmerksam machte (vgl. Reich/Eissler 1972, S. 72; Sharaf 1996, S. 184), wagte sich Reich nun an ein weit zentraleres psychoanalytisches Konstrukt als den »Todestrieb« heran. 1920 hatte Freud geschrieben: »Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist […]. Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen […]; seine Anerkennung ist das Schiboleth [= Kennwort – A. P.] geworden, welches die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern unterscheidet« (Freud 1905d, S. 127f., Fn 2).
Auch wenn Freud weitere solche Kennwörter benannte,58 bezüglich der Bedeutung des Ödipuskomplexes machte er keine Abstriche. 1929 veröffentlichte Reich in der auf russisch und deutsch erscheinenden wichtigsten Theoriezeitschrift der Komintern, Unter dem Banner des Marxismus, den Beitrag Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (Reich 1929b).59 Im Herbst 192960 erschien ein Abschnitt daraus auch im Almanach der Psychoanalyse. Dort schrieb Reich: »Wir haben gesehen, daß die Psychoanalyse alle seelischen Prozesse […] dialektisch auffasst, nur der Ödipuskomplex scheint in ihrer Theorie ein Ruhepunkt mitten in den bewegten Erscheinungen zu sein. […] Diese Auffassung61 ist zweifellos idealistisch und metaphysisch, denn die heute entdeckten Beziehungen des Kindes zu Vater und
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54
sendet. Einen weiteren nicht abgeschickten Brief, in dem sich Reich speziell über Federn beschwerte, schrieb er am 18.4.1928 an Freud (Reich/Eissler 1972, S. 148–154). So bezeichnete er beispielsweise 1914 den Traum als »Schiboleth der Psychoanalyse« (Freud 1914d, S. 101). Verfasst hatte er ihn bereits 1927/28, so schreibt er im Vorwort des 1934 unverändert (d. h. nur mit zusätzlichen Anmerkungen versehen) auch als Broschüre veröffentlichten Textes. Zu den weiteren Diskussionen, die der Artikel nach sich zog, siehe Gente (1972) und Bernfeld et al. (1970). Laut IPV-Korrespondenzblatt waren September oder Oktober die üblichen Erscheinungstermine für den Almanach, siehe z.B. IPV-Korrespondenzblatt 1925/11, S. 400. Als (Stell-)Vertreter dieser »unhistorischen« Sichtweise benennt er hier aber zunächst nur Jones – nicht Freud.
1.2 Reich in Wien
Mutter als ewige, in jeder Gesellschaft gleichbleibende hinzustellen, ist nur mit der Auffassung von der Unabänderlichkeit des gesellschaftlichen Seins vereinbar […]. Vom marxistischen Standpunkt muß der Ödipuskomplex in der sozialistischen Gesellschaft untergehen, weil seine gesellschaftliche Grundlage, die patriarchalische Familie, untergeht […]. Freud […] faßt den Ödipuskomplex als Ursache der Sexualverdrängung auf. Dabei kommt aber die Betrachtung der mutterrechtlichen Gesellschaft zu kurz. Vom Standpunkt der Bachofen-Morgan-Engelsschen [Matriarchats-]Forschung zeigen sich Möglichkeiten, umgekehrt den Ödipuskomplex […] als Folge der […] Sexualverdrängung aufzufassen« (Reich 1929d, S. 250f.).
Reich oder der verantwortliche Redakteur hatten hier (ohne es auszuweisen) gegenüber der Originalfassung eine Formulierung verändert. Hieß es ursprünglich: »Der Ödipuskomplex muß in einer sozialistischen Gesellschaft untergehen« (Bernfeld et al. 1970, S. 177), wurde nun eingeschränkt: »Vom marxistischen Standpunkt muss der Ödipuskomplex in der sozialistischen Gesellschaft untergehen«. Dennoch war das Resultat eine so grundsätzliche, Freud direkt kritisierende öffentliche Gegenpositionierung – zumal in Freuds eigenem Revier, einer Publikation des Wiener Internationalen Psychoanalytischen Verlages –, wie sie sich sonst kein damaliger Psychoanalytiker erlaubte.62 Am 6.11.192963 referierte Reich bei einem der von Freud initiierten wissenschaftlichen Treffen über die Vorbeugung seelischer Störungen (Reich 1987, S. 46–157). Dabei ging er von der gleichen Erkenntnis aus, die Freud 1909 so formuliert hatte: »Aus der therapeutischen Ohnmacht muß Prophylaxe der Neurosen hervorgehen« (Hale 1971, S. 352). 1910 schrieb Freud, die »Aufklärung der Masse« sei die »gründlichste Prophylaxe der neurotischen Erkrankungen«, und forderte die Analytiker auf, durch ihre Therapie daran mitzuwirken (Freud 1910d, S. 115). 19 Jahre später konkretisierte nun Reich, der beste Schutz vor Neurosen und der sich aus ihnen ergebenden gesellschaftlichen Pathologie sei es, 62 63
Auch Melanie Klein griff einige von Freuds Grundpositionen an, wandte sich aber öffentlich vor allem gegen Anna Freud (Grosskurth 1993, S. 201–226). Philip Bennett machte mich darauf aufmerksam, dass Reichs Angabe, dieser Vortrag habe am 12.12.1929 stattgefunden (Reich 1987, S. 146–157), falsch sein muss. Das IPV-Korrespondenzblatt (1930, S. 281) weist für das vierte Quartal 1929 nur dieses eine Referat Reichs nach: »6. November 1929. Vortrag Dr. Wilhelm Reich: Die Stellung der Psychoanalyse in der Sowjetunion. Diskussion: Prinzessin Bonaparte […], Federn, Kris, Frau Reich, Storfer, Wälder.« Am 12.12.1929 – der zumal als Donnerstag ein unüblicher Termin für diese Zusammenkünfte gewesen wäre – fand kein Treffen statt. Dass Freud nicht als Diskutant benannt wurde, war üblich.
55
1 Vorspiele
die Verhältnisse in Ehe, Familie, Gesellschaft so zu verändern, dass der Sexualunterdrückung dauerhaft der soziale Nährboden entzogen würde. Auf dieses Treffen bezieht sich wohl auch Richard Sterba (1978, S. 212f.), der berichtet, Reich habe den in der Sowjetunion gemachten Versuch gewürdigt, Kinder in Gruppen und getrennt von den Eltern zu erziehen. Denn dadurch werde, so Reich, das Entstehen des Ödipuskomplexes und der sich aus ihm ergebenden Neurosen vermieden. In der Diskussion habe Freud diese Auffassung als Vorschlag karikiert, Verdauungsbeschwerden zu therapieren, indem man »dem Patienten das Essen verbietet und einen Stöpsel in den Anus steckt«. Die Familie, so Freud, sei nun einmal »biologisch begründet«. Reichs Erwartung, dass »die Massenneurose« radikal geändert werden könne, sei zudem »völlig unpsychologisch«, auch das Sowjetsystem sei kein Weg, »die Gesellschaft von der Neurose freizuhalten«. Alle Reformvorschläge bezüglich der Sexualität »schlagen fehl«. Reichs therapeutischer Ehrgeiz sei zu stark. Nur ein »Dr. Eisenbart« – also ein, wie Sterba erläutert, »prahlerischer Quacksalber« – könne nach Ansicht Freuds in Angriff nehmen, »die Neurose radikal [zu] beseitigen« (ebd.). Besonders aufgebracht habe Freud bei einem weiteren Treffen, dass Reich auf seiner Meinung beharrte, sodass ihm Freud – ein für ihn äußerst ungewöhnliches Verhalten (vgl. Nunberg/Federn 1976–1981) – das Wort verbot (Sterba 1978, S. 212f.). Der sachliche Kern dessen, was Reich hier von Freud entgegengehalten wurde, deckte sich mit Argumentationslinien, wie sie Freud in dem im selben Jahr verfassten Buch Das Unbehagen in der Kultur verwendete. Das konstatierte auch Reich: »An den Abenden, die der Neurosenprophylaxe und der Kulturfrage gewidmet waren, wurden von Freud zum ersten Male klar die Ansichten geäußert, die in Das Unbehagen in der Kultur 1930 publiziert wurden« (Reich 1987, S. 148).64 Diese Schrift, die bald zu einer von Freuds populärsten werden sollte, nahm, so Reich, sogar eindeutig Bezug auf ihre Kontroversen. Sie sei nämlich, »zur Abwehr meiner aufblühenden Arbeit und der von ihr ausgehenden ›Gefahr‹« entstanden, schreibt Reich (1987, S. 157; vgl. auch S. 158–170). Eine bloße Anti-Reich-Schrift war das Unbehagen zwar sicher nicht – dazu war der inhaltliche Bogen, den Freud spannte, viel zu weit (vgl. Gay 1999, S. 611–622). Aber auch wenn der Name Reich hier nicht ein einziges Mal fällt:65 Die Ausein64
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Schon Ende Dezember erhielten ausgewählte Personen von Freud Exemplare des Buches. Abgeschlossen hatte er das Manuskript am 28.7.1929, in Druck gegeben wurde es am 29.10.1929 (Jones 1984, Bd. 3, S. 179f. und 519; Freud/Eitingon 2004, Bd. 2, S. 664 Fn; Gay 1999, S. 612). Dass Freud Gedanken anderer verarbeitete, ohne deren Autorenschaft zu benennen, war allerdings keine Seltenheit (vgl. Sulloway 1982, S. 634–646; Makari 2011, S. 324; Freud/ Ferenczi 1993, S. 208).
1.2 Reich in Wien
andersetzung mit ihm dürfte in der Tat eines der zentralen Themen der Schrift gewesen sein.66 Schließlich vertrat kein anderer von Freuds Psychoanalytikerkollegen so explizit und öffentlichkeitswirksam wie Reich Auffassungen, wie sie Freud hier wiederholt kritisierte: den Glauben an die Möglichkeit anhaltender Bedürfnisbefriedigung, das In-den-Mittelpunkt-Stellen sexuellen Lustgewinns, die Ansicht, auf unterdrückende Erziehung, Über-Ich-Erzeugung, Sublimierung verzichten, die sozialen Institutionen grundlegend verbessern zu können sowie die Überzeugung von der Nichtexistenz des Todestriebes (Freud 1930, S. 433ff., 444f., 454–457, 460ff., 470f.). Wenn sich Freud kritisch dazu äußert, dass aus Entdeckungsreisen zu »primitiven Völkern und Stämmen« geschlossen worden sei, diese würden »ein einfaches, bedürfnisarmes, glückliches Leben […] führen, wie es den kulturell überlegenen Besuchern unerreichbar war« (Freud 1930, S. 445f.), dürfte das – zumindest auch – auf Reich und den von ihm hochgeschätzten Ethnologen Malinowski abzielen. Auch wenn Freud »die Kommunisten« dafür rügte, dass sie naiverweise glaubten, in der These »[d]er Mensch ist eindeutig gut« »den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben« (ebd., S. 472), muss er seinen jüngeren Kontrahenten mit im Sinn gehabt haben. Am Ende des Buches finden sich zwei weitere Sätze, die auf Reich gemünzt zu sein scheinen: »[W]as hülfe die zutreffendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen? Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwarten, daß jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen wird«(ebd., S. 505).
Vielleicht ließen schon diese Formulierungen bei Reich das Gefühl aufkommen, dass Freud seine Intentionen – bald sollte er sich in der Massenpsychologie des Faschismus tatsächlich der Pathologie einer kulturellen Gemeinschaft widmen – doch nicht rundweg ablehnte. Dadurch, dass Freud im Abschlusssatz des Buches67 die Bändigung des »Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb[es]« zur 66
67
Diese Auffassung teilt auch Makari (2011, S. 470f.). Dass Reichs Thesen bei Freud aufwändige Gegenreaktionen auslösen konnten, wird sich auch später beim Behandeln von Reichs Masochismus-Artikel zeigen. Freuds eigene Begründung, er habe das ihm »sehr überflüssig« vorkommende Unbehagen aus Langeweile geschrieben, wirkt ohnehin wenig überzeugend: »Was sollte ich aber tun? Man kann nicht den ganzen Tag rauchen und Karten spielen […]. Ich schrieb und die Zeit verging mir dabei ganz angenehm. Ich habe die banalsten Wahrheiten während dieser Arbeit entdeckt« (zitiert in Jones 1984, Bd. 3, S. 519). Ganz anders urteilt Peter Gay, dass Freud hier eine »psychoanalytische Theorie der Politik« versucht habe (Gay 1999, S. 615). Erst 1931 fügte Freud dem noch einen Fragesatz hinzu.
57
1 Vorspiele
»Schicksalsfrage der Menschenart« erhob und die Hoffnung äußerte, der Lebenstrieb »Eros« werde nun »eine Anstrengung machen«, um sich im Kampf mit dem Todestrieb zu behaupten, sah sich Reich jedenfalls indirekt bestätigt: »›Eros‹ setzt volle Sexualfähigkeit voraus. Und Sexualfähigkeit setzt allgemeine Lebensbejahung und gesellschaftliche Fürsorge voraus. Freud schien mir 1930 nach den schweren Konflikten und Debatten im geheimen Glück zu meinem Unternehmen zu wünschen. Er drückte sich dunkel aus, doch die sehr materiellen Waffen waren gefunden, die einmal helfen würden, diese Hoffnungen zu erfüllen: Nur die Entbindung der natürlichen Liebesfähigkeit des Menschen kann ihre sadistische Destruktivität meistern« (Reich 1987, S. 170).68
1.2.2
Politik69
Reichs Desillusionierung über die Sozialdemokratische Partei setzte noch im selben Jahr ein, in dem er deren Mitglied geworden war. Am 15. und 16.7.1927 wurde er Zeuge, wie im Wiener Stadtzentrum ein Aufstand blutig unterdrückt wurde, ohne dass die SDAP-Führung versuchte, die Arbeiter zu schützen (Reich 1995, S. 36–45). Dieser Aufstand war durch den Freispruch von Mitgliedern der monarcho-faschistischen »Frontkämpfervereinigung« ausgelöst worden, die zwei Teilnehmer eines sozialdemokratischen Demonstrationszuges ermordet hatten. Nachdem einige der Aufständischen den Wiener Justizpalast in Brand gesteckt hatten, setzte die Polizei Schusswaffen ein. 85 Arbeiter und vier Polizisten wurden getötet (Garscha 1989, S. 102–117). Offenbar zog Reich daraus umgehend zwei Konsequenzen: Zum einen trat er am selben Tag der KPÖ bei, zum anderen verließ er bald darauf die Reihen der SDAP. Mit Datum vom 15.9.1927 wurde dem Arzt, Psychoanalytiker und Sozialdemokraten Josef Karl Friedjung durch den Obmann der Vereinigung sozialistischer Ärzte in Wien mitgeteilt, »dass der Assistent Dr. Wilhelm Reich am Psychoanalytischen Ambulatorium, Neuthorgasse 8, seinen Austritt aus der Partei vollzogen hat unter der Begründung, dass ihm [sic] die Vorfälle am 15. und 16. Juli dazu zwingen. Wir haben diese
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Auch 1934 äußerte Reich die Vermutung, sich in bestimmten Aspekten seines Tuns mit unausgesprochenen Wünschen Freuds in Übereinstimmung zu befinden (Fenichel 1998, Bd. 1., S. 72). Ausführlicher dazu: Peglau 2016c.
1.2 Reich in Wien
Austrittsmeldung zur Kenntnis genommen und benachrichtigen Sie hievon. Mit Parteigruss (Unterschrift, unleserlich)«70
Da aber eindeutig belegt ist, dass ihn die SDAP 1930 ausschloss, ist wohl nur ein Schluss möglich: Reich trat irgendwann nach dem September 1927 erneut bei den Sozialdemokraten ein. Warum allerdings sollte er das getan haben? Denkbar ist, dass er von KPÖ-Genossen gebeten wurde, ihnen Erkenntnisse über die Arbeit der Sozialdemokraten zu verschaffen. Dazu will freilich nicht recht passen, dass er sich vor Dezember 1929 in der SDAP in keiner Weise hervortat,71 was nötig gewesen sein dürfte, um Zugang zu brisanten Informationen zu erlangen. Und auch im Dezember 1930 ging die Initiative zur Gründung der Revolutionären Sozialdemokraten nicht von ihm aus, wie sich erweisen wird. Festzuhalten bleibt ferner: Reich hat nicht von vornherein eine Doppelmitgliedschaft in zwei Parteien angestrebt, und offensichtlich hatte er seinen KPÖ-Eintritt geheim gehalten.72 Über die Entwicklung ab Sommer 1927 schrieb er rückblickend: »Nach der tiefen moralischen Niederlage vom 15. Juli ging es mit der mächtigen österreichischen Sozialdemokratie langsam aber sicher bergab« (Reich 1995, S. 89). Auch Karl Fallend charakterisiert das weitere Vorgehen der SDAP als durch diverse Niederlagen, Rückzüge und Kompromisse gekennzeichnet. Zudem »wurde immer deutlicher, dass […] die Vormachtstellung der Sozialisten« keine »politische Sicherheit für die junge parlamentarische Demokratie« bot (Fallend 2007, S. 51–54). Diese war insbesondere durch die Stärkung der von Benito Mussolini massiv unterstützten faschistoid-militanten »Heimwehr«73 bedroht. Der Faschismus, gegen den sich Reich zunächst vor allem wandte, war also der von Italien aus Österreich infiltrierende und nicht die sich in wichtigen Punkten unterscheidende Ideologie von Hitlers NSDAP oder deren kleinem österreichischen Ableger, der eher in Konkurrenz zur Heimwehr stand. 70 71
72
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Bernd Laska ermöglichte mir am 10.6.2016 Einblick in dieses Dokument. Das Originaldokument befindet sich im Besitz der Sigmund-Freud-Privatstiftung Wien. Die Auskünfte und Archivdokumente, die Philip Bennett und ich 2011/12 vom Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung Wien erhielten, enthalten keinen Hinweis darauf, dass Reich vor Dezember 1929 Spuren in der SDAP hinterließ. Auch Josef Frey beschrieb Reich in dem hier später zitierten Brief an Trotzki vom 7.1.1930 als jemanden, der bislang parteipolitisch überhaupt nicht in Erscheinung trat (Bennett i.V.). Weitere Sätze der Autobiografie unterstreichen, dass Reich – der ja bereits Ende 1930 nach Berlin ging – wohl nicht erst 1930 zur KPÖ kam: »Drei [!] Jahre arbeitete ich aktiv in der österreichischen Kommunistischen Partei« (Reich 1995, S. 57, siehe auch ebd., S. 92ff., 98, 116). de.wikipedia.org/wiki/Heimwehr (Stand: 22.9.2016).
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1 Vorspiele
Wie aus später bekannt gewordenen Dokumenten hervorgeht, hatten sich Führer der Heimwehr schon im August 1929 schriftlich verpflichtet, »die entscheidende Aktion zur Änderung der österreichischen Staatsverfassung« – also einen Staatsstreich – spätestens »zwischen 15. Februar und 15. März [1930] durchzuführen«, aber »mit allen Kräften [zu] trachten, die Aktion bereits im Herbst dieses Jahres zu unternehmen« (Garscha 1989, S. 142). Nicht zuletzt um eine solche Entwicklung zu verhindern, stimmte die SDAP-Führung einer von der Heimwehr angestrebten Verfassungsänderung zu, die jedoch weiterer Entdemokratisierung Vorschub leistete (Berchtold 1998, S. 562–572). Das führte auch unter SDAP-Parteigängern zu wachsender Empörung. Resultat war u.a. die durch Wilhelm Reich mitgestaltete Gründung eines »Komitees revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter«. 1.500 Wienerinnen und Wiener folgten am 13.12.1929 dessen Aufruf zu einer Protestkundgebung. Reich, der sowohl SDAP- als auch KPÖ-Anhänger eingeladen hatte, bezahlte Saalmiete, Flugblätter sowie Plakatierung und hielt das Hauptreferat. Darin geißelte er mit scharfen Worten das Versagen der SDAP-Führung, benannte als »unsere Forderungen«: »1. Die Faschisten hinaus aus allen Betrieben. 2. Zurückziehung des Aufmarschverbotes für Wien. 3. Offensiver Kampf gegen die Faschisten. […] 4. Rede- und Kritikfreiheit innerhalb der Partei.« Ein Stenogramm seiner Rede hält auch diese Aussagen fest: »Der Bürgerkrieg ist unvermeidlich, weil der Gegner dazu entschlossen ist und wir […] nicht mit der Waffe des Geistes seine Maschinengewehre bestürmen können. […] Wir sind bereit zum Kampf mit allen Mitteln, auch mit denen der Gewalt.« Auf die mit »stürmischem Beifall« aufgenommene Rede folgten erregte Diskussionen und der Auszug der meisten Sozialdemokraten (Fallend 2007, S. 59–66; Reich 1995, S. 127f.). Die Wiener KPÖ-Zeitung Rote Fahne widmete der Versammlung ihre Titelseite, die SDAP-Arbeiterzeitung versuchte, die Initiatoren als »kommunistische Schwindler« verächtlich zu machen, die bürgerliche Presse witterte »eine Spaltung der Sozialdemokratie«, die Polizei berichtete dem Bundeskanzler, das Komitee rufe »eine lebhafte Bewegung in der Arbeiterschaft« hervor (Fallend 1988, S. 179, 183, 187). Da Reich insbesondere durch sein Bekenntnis, nötigenfalls Gewalt einsetzen zu wollen, die offizielle SDAP-Linie verließ und sich KP-Auslegungen näherte, distanzierten sich zwei Komiteegründer umgehend von ihm – sodass Reichs Gewicht innerhalb des Komitees wohl noch zunahm. Diesem informellen Zusammenschluss, der weder Statut noch feste Mitgliedschaften hatte, gehörten bald mehrere hundert Menschen an.74 74
60
Für die Versammlung am Abend des 6.3.1930 werden 1000 Anwesende genannt, für die am 15.4.1930 600.
1.2 Reich in Wien
Noch am 14.12.1929 gab die deutsche Rote Fahne (S. 14) die Wertung des Komintern-Organs Internationale Pressekorrespondenz (Inprekorr) wieder, dass jetzt innerhalb der SDAP eine »Arbeiteropposition« existiere. Dem folgte, diesmal schon auf Seite 3, am 17.12.1929 eine ausführliche Mitteilung der deutschen Roten Fahne über die Gründung des Komitees, das »ein verheißungsvolles Symptom der Loslösung breiter Massen« vom »Einfluß der sozialfaschistischen [= sozialdemokratischen, A.P.] Führer« sei. Statt überschwänglich ging es dann jedoch mahnend weiter: »Das bedeutet aber noch nicht, dass diese Massen sich jetzt ohne weiteres der Kommunistischen Partei zuwenden. Jede Bildung von Splittergruppen aus den von der Sozialdemokratie sich lösenden Massen würde aber die revolutionäre Entwicklung des österreichischen Proletariats hemmen. Es kann keine Partei zwischen den Sozialfaschisten und der Kommunistischen Partei geben.«
Damit brachte die deutsche Rote Fahne auch die Haltung des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) zum Ausdruck: Die Schwächung der SDAP war höchst erwünscht, als Alternative durfte es jedoch ausschließlich die KPÖ geben. Das Auftauchen eigenständiger, von der KP unabhängiger »linker« Gruppierungen wurde deshalb als umgehend zu bekämpfendes Risiko gesehen und nicht etwa als Chance. Am 3.1.1930 erschien die erste von letztlich nur drei Ausgaben der von Reich gegründeten75 und wohl auch finanzierten (Fallend 1988, S. 188) Zeitung Der Revolutionäre Sozialdemokrat. Dort warnte Reich vor der heranrückenden »Aufrichtung der faschistischen Diktatur«76 und fragte: »Wie konnte es geschehen, daß im ›demokratischen‹ Österreich, in dem die relativ größte sozialdemokratische Partei der Welt besteht, die noch dazu von Wahl zu Wahl in den letzten Jahren gewachsen ist, der Faschismus immer mehr an Boden gewinnt?«77 Darauf fand er allerdings noch keine psychosozialen, sondern rein politische Antworten. Am 16.1.1930 wurde Reich durch ein Schiedsgericht wegen parteischädigenden Verhaltens aus der SDAP ausgeschlossen (ebd.). Er setzte jedoch seine Aktivitäten mit den Revolutionären Sozialdemokraten fort. Am 25.2.1930 kündigte
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76 77
Philip Bennett entdeckte die Angaben zur Zahl der Ausgaben als auch zu Reichs Rolle als Gründer der Zeitung in AOI P/T, Box 13, Unpublished English draft translation of »Vorgeschichte der Orgonomie« 1900–1930. Bernd A. Laska verwies mich auf diesen Artikel und ermöglichte mir, Einblick darin zu nehmen. Siehe www.lsr-projekt.de/wrb/revsozdem.html (Stand: 22.9.2016).
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1 Vorspiele
die Inprekorr an, »die Revolutionären Sozialdemokraten«, die »Opposition der Sozialdemokratischen Arbeiter«, würden am 6.3.1930 am von der Komintern ausgerufenen »Internationalen Kampftag für Arbeit und Brot« teilnehmen.78 Über diese Kundgebung berichtete am 7.3.1930 die Wiener Rote Fahne, Reich habe dort neben Mitgliedern des KPÖ-ZK und dem KPD-Reichstagsabgeordneten Eduard Alexander vor »10.000 Demonstranten« gesprochen, die sich nach »Hungermärschen durch die Innenstadt am Freiheitsplatz versammelten« (Fallend 1988, S. 188–191).79 Diese Kooperation mit der KP könnte vermuten lassen, dass die Komintern das von Reich (mit-)geleitete Komitee nun doch als erhaltenswert einstufte. Aber weit gefehlt. Seit Januar 1930 schlugen sich die Wiener Vorgänge in den Dokumenten der »Politischen Kommission des Politsekretariats« des EKKI nieder. In den folgenden Wochen diskutierten Kominternsekretäre mehrfach und kontrovers, was zu tun sei; Regierungschef Molotow, späterer sowjetischer Außenminister, war einbezogen.80 Am 17.3.1930 lag dann auf Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch die endgültige Fassung einer »vertraulichen« Instruktion für das KPÖ-ZK vor (RGASPI 495-4-17, Bild 34–45).81 Deren erster Satz lautete: »Das Z.K. hat unverzüglich Massnahmen zur Liquidierung des bestehenden Komitees oppositioneller sozialdemokratischer Arbeiter zu ergreifen.« Innerhalb dieses Komitees sei »eine Initiativgruppe zu schaffen, die eine Kampagne für einen neuen Kurs des Komitees und der Zeitung […] einleiten soll«, nämlich: »Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei, Eintritt in die Kommunistische Partei«. Gleichzeitig solle »das Z.K. unverzügliche Massnahmen zur Aenderung der Linie der Zeitung ›Der revolutionäre Sozialdemokrat‹ im Geiste der Weisungen des Polsekretariats ergreifen«. Sollte Letzteres misslingen, müsse »das Z.K. einen entschiedenen Kampf gegen diese Zeitung führen« und Befürworter eines Weiterbestehens der Revolutionären Sozialdemokraten als »Agenten« des damaligen SDAP-Cheftheoretikers Otto Bauer »entlarven« – im Klartext: denunzieren. Der herbeizuführende KPÖÜbertritt könne »in öffentlichen Versammlungen geschehen« und sei u.a. durch die Wiener Rote Fahne »agitatorisch auszunutzen«, um – mit Verweis auf »den 78 79
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AOI, Correspondence, Box 4, Psa. Die deutsche Rote Fahne schrieb, ebenso wie die Inprekorr, von 7000 Beteiligten. Am selben Abend referierte Reich im Wiener Gasthaus Bachlechner vor 1000 Versammelten (vgl. www.lsr-projekt.de/wrb/revsozdem.html, Stand: 22.9.2016). Siehe RGASPI 495-4-11, S. 1, Bild 6, 495-4-15, Bild 31, 495-4-16, Bild 32, 495-4-17, Bild 24, 32–33, 46–47. Dieses Dokument stellte mir am 15.5.2016 Werner Abel mit einem Konvolut weiterer Kopien zur Verfügung und schuf damit erst die Basis für die weiteren Recherchen.
1.2 Reich in Wien
täglichen Verrat durch den Sozialfaschismus« – »möglichst grosse Massen von Arbeitern aus der Sozialdemokratischen Partei herauszureissen«. Am 15.4.1930 verkündete Wilhelm Reich als Repräsentant der Revolutionären Sozialdemokraten bei einer öffentlichen Veranstaltung deren Übertritt zur KPÖ. Dem schlossen sich umgehend 90 Sozialdemokraten an. Das ließ sich, verbunden mit mehrfacher Nennung Reichs, am nächsten Tag auf Titelblatt und Seite 2 der Wiener Roten Fahne entnehmen. Als Anlass des Parteienwechsels wurde auf das am 5.4.1930 von der SDAP mitbeschlossene »Antiterrorgesetz« verwiesen, das unter anderem Lohnkämpfe erschwerte (Berchtold 1998, S. 575). Wegen dieses Gesetzes sei es für die Revolutionären Sozialdemokraten, so wurde Reich zitiert, »Ehrensache, jetzt, nach dem großen Verrat der Sozialdemokratie«, zur KPÖ zu wechseln. Damit, hieß es weiter, habe auch die Zeitung Der revolutionäre Sozialdemokrat, »deren Auflage in letzter Zeit besonders angestiegen ist, […] ihr Erscheinen eingestellt«. Die Redaktion der Wiener Roten Fahne kommentierte: »Ehrliche und revolutionäre Arbeiter« könnten »zwischen SP und KP nicht herumschwanken und auf Dauer Opposition spielen«. Die ebenfalls am 15.4.1930 informierende deutsche Rote Fahne (S. 7) verwies auf »Massenveranstaltungen«, bei denen die Gründe für den KPÖ-Übertritt öffentlich dargelegt würden. Mehr als ein Dutzend dieser Veranstaltungen fanden – von der Wiener Roten Fahne propagiert – im April und Mai 1930 inner- und außerhalb Wiens statt. Reich war vielfach beteiligt. Laut interner Mitteilungen (RGASPI 495-35-10, S. 81f.) kam es auf diese Weise immerhin zu 800 Übertritten; bei einer Gesamtzahl von kaum mehr als 3.000 KPÖ-Mitgliedern82 also ein enormer Zuwachs. Daran, dass die KPÖ im Vergleich zur SDAP zumindest quantitativ kaum ins Gewicht fiel – die österreichischen Kommunisten hatten bei der Wahl von 1927 gerade einmal 16.000 Stimmen bekommen, die SDAP mehr als anderthalb Millionen – änderte dies jedoch nichts: Die SDAP holte sich einen erheblichen Teil der Überläufer durch individuelle Gespräche wieder zurück (ebd., S. 100), »Säuberungen« reduzierten die KPÖ-Mitgliederzahl zusätzlich (Fallend 1988, S. 170, 192). Auch die sozialdemokratische Wiener Arbeiterzeitung (AZ) reagierte auf die Übertritte. Am 17.4.1930 spielte sie auf Seite 1 und 2 die Vorgänge um die Revolutionären Sozialdemokraten unter der Überschrift »Amtliche Kommunistenförderung« herunter: »Der ganze Vorfall hat an sich keine Bedeutung, es handelt sich nur um ein paar Dutzend junge Leute, die Herr Dr. Reich mit pikanten 82
Anson Rabinbach nennt, so teilte mir Philip Bennett mit, für 1927 3.000 KPÖ-Mitglieder, 1933 waren es dann 4.000 (www.wien-konkret.at/politik/kpoe/, Stand: 22.9.2016). Auch Reich (1995, S. 92) spricht von 3000 Mitgliedern.
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1 Vorspiele
Vorträgen über – sexuelle Fragen an sich gelockt hat.« Reich sei mit ihnen nun einfach zur Kommunistischen Partei »zurückgekehrt«. Insbesondere gegen die – zutreffende, aber von der AZ offenbar nicht belegbare – Behauptung, Reich habe bereits früher der KPÖ angehört, wandte sich dieser in einer Gegendarstellung, die die Zeitung am 9.5.1930 auf Seite 3 abdruckte. Es ist zu vermuten, dass seine Wiener Berufskollegen schon zuvor von Reichs politischen Aktivitäten im Umfeld der KPÖ gehört hatten. Spätestens durch die AZ-Artikel müssen sie davon erfahren haben. Im Juli 1930 sollte Willi Schlamm – dem Reich gut bekannt war83 – in der KPD(O)-Zeitschrift Gegen den Strom rückblickend von der österreichischen »Gruppe linker Sozialdemokraten« berichten, »über die in der gesamten Presse der Komintern in den vergangenen Monaten so viel geschrieben wurde. Man hörte da von ›Massenübertritten zur KP.‹, ›Massenflucht aus der SDAP‹, ›Spaltung der SDAP‹« (Schlamm 1930, S. 429). Doch konnte Schlamm diese Erwartungen bereits mit einer im Mai 1930 vom Exekutivkomitee der Komintern getroffenen Einschätzung kontrastieren: »Die mit der Organisierung von oppositionellen Arbeitergruppen im Rahmen der Sozialdemokratie gemachten Erfahrungen (Herausgabe der Zeitung ›Der revolutionäre Sozialdemokrat‹, Versammlungen oppositioneller sozialdemokratischer Arbeiter, Beteiligung von Parteivertretern im Komitee der sozialdemokratischen Arbeiteropposition sowie der Schaffung lokaler Sektionen dieses Komitees) haben gezeigt, dass diese Methode der Eroberung sozialdemokratischer Arbeiter gänzlich ergebnislos war« (ebd., S. 430).
Was Schlamm kannte, war freilich nur die offizielle Auslegung. Angesichts der EKKI-Instruktion vom März 1930 ist davon auszugehen, dass es von vornherein die Absicht der Komintern war, diese »Methode« so bald als möglich für gescheitert zu erklären. Wie zu zeigen sein wird, fiel zudem noch im September 1930 die Komintern-interne Bilanz bezüglich der Revolutionären Sozialdemokraten weit positiver aus.
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Willi Schlamm (1904–1978) war in den 1920er Jahren eng mit Reich befreundet. Er hatte in der KPÖ Karriere gemacht, u.a. als Redakteur der Wiener Roten Fahne. 1929 wurde er als »Rechtsabweichler« aus der Partei ausgeschlossen und wechselte zur KPD(O), wo er erneut in die Zeitungsarbeit einstieg (vgl. de.wikipedia.org/wiki/William_S._Schlamm, Stand: 22.9.2016).
1.2 Reich in Wien
Bis auf die Tatsache, dass die Zeitschrift Der revolutionäre Sozialdemokrat wohl nicht die Komintern-Kriterien für eine Weiterführung erfüllte, war also genau geschehen, was sich das EKKI gewünscht hatte. Das dürfte nicht zuletzt dadurch zu erklären sein, dass hier das inoffizielle KPÖ-Mitglied84 Wilhelm Reich entsprechend Einfluss nahm. Seine bereits länger bestehende Mitgliedschaft85 belegt das Protokoll der »Sitzung des Mitteleuropäischen Ländersekretariats des EKKI« (RGASPI 495-35-10; 495-35-11). Bei dieser vom 23. bis 25.9.1930 stattfindenden, ausschließlich Österreich gewidmeten Zusammenkunft des Mitteleuropäischen Ländersekretariats war u.a. EKKI-Sekretär Dmitri Manuilski zugegen. Den Auftakt machte KPÖ-ZKSekretär Richard Schüller mit einem »Bericht über die allgemeine Lage in Oesterreich«. Man könne jetzt erstmals Zeichen für einen »Umschwung« bei den Arbeitern erkennen, teilte er mit. Den Beweis dafür liefere insbesondere »die Tatsache, daß die Gruppe der revolutionären Sozialdemokraten zu uns übergetreten ist. Diese Strömung […] innerhalb der S.P.[Ö] wurde nicht von unserer Partei erfunden oder ausgedacht, sondern sie ist wirklich selbst entstanden. […] In einem proletarischen Bezirk […], wo die […] Elite der sozialdemokratischen Arbeiterschaft 84
85
Dass diese Geheimhaltung funktionierte, wird auch daran deutlich, dass auch beim SDAPParteiverfahren gegen Reich vom Januar 1930 keine KPÖ-Mitgliedschaft erwähnt wird (Georg Spitaler stellte mir im August 2016 das Protokoll zur Verfügung), dieser Fakt also den Sozialdemokraten bis zum Ausschluss verborgen blieb. Es ist durchaus möglich, dass er noch früher deren Mitglied wurde. Zumindest hatte er 1927 offenbar längst intensiven Kontakt zur KPÖ hergestellt. Denn er berichtet, wie sich die österreichischen Kommunisten vor dem 15.7.1927 ausgemalt hatten, wie sie auf einen solchen Aufstand reagieren würden: »Ich hatte in den vielen illegalen Sitzungen gelernt, daß die Partei in solchen Stunden ›als Führerin den Kampf lenken‹, ›zusammenfassen‹, ›zu bestmöglichen Erfolgen führen‹ müsse« (Reich 1995, S. 41). Dass Reich von »illegalen Sitzungen« schreibt, bezieht sich allerdings nicht darauf, dass die KPÖ verboten gewesen wäre: Das war zwischen 1925 und 1930 nie der Fall (persönliche Information von Hans Hautmann am 15.6.2016). Doch war auch der KPÖ illegale Aktivität nicht fremd. Winfried R. Garscha (1989, S. 88) schreibt, dass sie ab 1924 »Erfahrungen in der illegalen Arbeit […] sammelte«, während sie Georgi Dimitroff unterstützte, von Österreich aus die verbotenen kommunistischen Parteien der Balkanländer zu koordinieren. Er setzt fort: »Die Solidarität mit dem Kampf der Balkanvölker hatte aber noch einen weiteren Effekt: Viele bürgerliche Intellektuelle, vor allem humanistische gesinnte Ärzte [!] und Künstler, die bereit waren, sich gegen den Faschismus zu engagieren, kamen auf diese Weise mit der KPÖ in Kontakt, lernten den opfervollen Kampf der Kommunisten schätzen und trugen so – in bescheidenem Maße – bei, die Isolierung der Partei zu überwinden.« Hans Hautmann bestätigte mir ebenfalls, dass die KPÖ in Einzelfällen interessierte Intellektuelle, die keine Parteimitglieder waren, bei Zusammenkünften zuließ. Der Gedanke, Reich wäre einer dieser »humanistisch gesinnten Ärzte« gewesen, liegt nahe.
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1 Vorspiele
ist, sind nach der Verfassungsänderung diese Strömungen entstanden, und da sind die einzelnen Funktionäre nicht an unsere Partei herangetreten, sondern an den Gen. Reich, der früher in der Sozialdemokratischen Partei war, gleichzeitig aber auch bei uns,86 und sie haben von ihm verlangt, ihnen bei der Organisierung dieser Opposition zu helfen« (RGASPI 495-35-11, S. 25f.).
In der späteren Diskussion ergänzte Schüller: »Im Anfang dieser Opposition war dort nur ein einziger Genosse, der Gen. Reich, der gleichzeitig Mitglied der KP war, das war sozusagen eine Keimzelle.87 Die Oppositionellen waren wirklich sozialdemokratische Mitglieder, die in ihrem ersten Stadium in ihrer großen Masse noch nichts von der Komm. Partei wissen wollten« (RGASPI 495-35-10, S. 82).88
Der frühe KPÖ-Eintritt Reichs macht auch verständlicher, wie es dazu kam, dass Reich 1929 in der Kominternzeitschrift Unter dem Banner des Marxismus seinen Beitrag Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse publizieren konnte – SDAP-Mitglieder gehörten dort meines Wissens 1929 nicht zum Autorenkreis. Schon diese – ja noch im selben Heft mit teils schroffen Zurückweisungen sowjetischer Philosophen gekoppelte – Veröffentlichung hatte freilich gezeigt, wo die Grenzen des Interesses an Reich verliefen: Schützenhilfe für die Komintern-Linie durch einen Prominenten war willkommen, dessen eigenständige, gar kritische Sichtweisen nicht. Entsprechendes zeigte sich auch im Protokoll der Ländersekretariatssitzung vom September 1930: Weder Reichs psychoanalytische Sichtweisen noch seine sexualreformerischen Aktivitäten klingen an. Dass er auch mit Letzteren bei den österreichischen Kommunisten wenig Begeisterung auslöste, legt ein Beitrag nahe, den die Vertreterin der KPÖFrauenabteilung Grünberg zu dieser Sitzung beisteuerte. Dort berichtete sie, »in den letzten Monaten sind die kommunistischen Ärzte« – zu denen Reich mit Sicherheit zählte – »an das Politbüro herangetreten, eine Kampagne gegen den Abtreibungsparagraphen durchzuführen« und dafür eine Organisation zu schaffen. Die Frauenabteilung habe jedoch festgestellt, »daß es jetzt nicht die Zeit ist« für derartige Aktivitäten. Vonnöten sei vielmehr, auch in Österreich 86 87 88
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Hervorhebung von mir – A.P. Hervorhebung von mir – A.P. Die gesamte »österreichische Frage« wurde nach der Sitzung des Länderausschusses »an die Politkommission« des EKKI weitergereicht und taucht dort in weiteren Dokumenten auf, ohne dass Reichs Name erneut fällt.
1.2 Reich in Wien
eine für Frauen zugängliche Variante des Rotfrontkämpferbundes zu gründen. Vermehrte Aufklärung sei ebenfalls erforderlich, und zwar über die Sowjetunion (RGASPI 495-35-10, S. 159f.). Wann auch immer Reich zur KPÖ stieß, es bleibt festzuhalten: Bis zum Sommer 1930 hatte er bewiesen, dass er für diese Partei wirken, mit öffentlichen Auftritten Massen begeistern und Organisationen führen konnte.89 Erst auf diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich ihm alsbald auch in der deutschen KP-Organisation nahezu umgehend mehrere Türen öffnen sollten.
89
Ist Reich damit nun als »Stalinist« einzuordnen? Joseph Frey, Führer der Wiener Trotzkisten, die Anhänger in das Komitee der Revolutionären Sozialdemokraten eingeschleust hatten, schrieb schon am 7.1.1930 an Leo Trotzki: »Der Initiator Reich ist in Wirklichkeit ein Instrument des Stalin ZK, welches versucht, eine oppositionelle Bewegung in der SP[Ö] mittels Geld zu organisieren« (Fallend 1988, S. 187). Wie bereits gezeigt, irrte Frey hier mehrfach, nicht nur bezüglich der Initiierung, sondern auch bezüglich der Finanzierung der Revolutionären Sozialdemokraten. Aus der erwähnten EKKI-Instruktion geht zudem hervor, dass sich die Komintern noch im März 1930 keinesfalls sicher war, diese Gruppierung und deren Zeitung nach Gutdünken lenken zu können. Was 1929/30 innerhalb von KPÖ und Komintern vertreten wurde, ließ sich auch noch nicht auf das Attribut »stalinistisch« reduzieren. Doch es gibt eine weit solidere Basis, von der aus sich die Frage, ob Reich Stalinist war, mit einem klaren Nein beantworten lässt – indem man sich zunächst eine andere Frage vorlegt: Was ist Stalinismus? Der Historiker Werner Abel beschreibt die stalinistische Ideologie als »unmarxistisch, antidemokratisch, antirevolutionär, nationalistisch, antisemitisch, auf Zerstörung der Arbeiterbewegung und Herrschaft einer kleinen Clique oder einer Person ausgerichtet, prinzipienlos – d.h. nur am Machterhalt interessiert –, Gewalt und Terror an die Stelle von Argumentation setzend und mit quasi-religiösen Versatzstücken (›Personenkult‹) versehen« (persönliche Mitteilung vom 16.1.2016). Andernorts werden als Merkmale des Stalinismus hervorgehoben: Terrorherrschaft über die eigene Bevölkerung/Ausschaltung demokratischer Entscheidungsfindung/Dogmatisierung und Schematisierung des Marxismus-Leninismus/extreme Überbetonung der Rolle des Kollektivs gegenüber dem Schicksal des Einzelnen (www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Stalinismus, Stand: 22.9.2016). Nichts davon hat Reich jemals vertreten. Eine Lobpreisung Stalins – Kernstück des Stalinismus – haben weder ich noch Bernd A. Laska oder Philip Bennett bei all unseren Forschungen in Reichs Werken und sonstigen Äußerungen entdeckt (persönliche Mitteilungen vom 7.6.2016). Bei aller Kritik an der SDAP-Führung verstieg er sich auch nie zu einer Übernahme der Sozialfaschismus-These: Für ihn blieben Heimwehr und andere »rechte« Kräfte die Hauptfeinde. Zudem hatte Reich zur selben Zeit, in der er durch sein parteipolitisches Tun zu Teilen Stalins Zielen nützte, in seinen psychoanalytisch-sexualreformerischen Aktivitäten und Publikationen durch die Betonung von Individualität, Psyche, Unbewusstem, Sexualität, Kindheit und angeborener Prosozialität längst Positionen bezogen, die mit Stalinismus unvereinbar waren. Diese Unvereinbarkeit scheint ihm allerdings erst bewusst geworden zu sein, als er ab Ende 1932 von den kommunistischen Organisationen zunehmend geächtet wurde.
67
1 Vorspiele
Während Reich sich in Wien immer offensiver in politische Belange einbrachte, wuchs in ihm auch die Überzeugung, ein sowohl naturwissenschaftliches wie auch soziologisches Verständnis von Psychoanalyse, wie er es vertrete, sei das einzig angemessene. Die Konflikte des selbstbewusst auftretenden90 Reich mit seinen Kollegen verhärteten sich.91 Richard Sterba spricht hinsichtlich des Ausgangs der 1920er Jahre von »charakterologischen Schwierigkeiten« Reichs: »Seine technischen Regeln wurden immer rigider […]. Die Zahl der Mitglieder und Lehrkandidaten, die sich genötigt sahen, ihm zu widersprechen, nahm ständig zu. Dies erbitterte Reich und steigerte die Heftigkeit seiner kämpferischen Ablehnung jedes Gegenargumentes« (Sterba 1985, S. 88f.; vgl. auch Sterba 1978, S. 211–214). Myron Sharaf sollte später über die »polarisierende Art« Reichs (Sharaf 1996, S. 182) schreiben. War diese bei Reich schon 1930 stark ausgeprägt? Im Weiteren zitierte Briefe Reichs, die er während seiner Konflikte mit der IPV und der deutschen KP schrieb,92 werden zeigen, dass er in der Lage war, sogar bei sehr wesentlichen Auseinandersetzungen sachlich und wertschätzend auf die Positionen der Gegenseite einzugehen. Meist allerdings ohne ein ebensolches Echo zu ernten. Im September 193093 beteiligte sich Reich – ebenso wie die Analytiker Paul Federn, Eduard Hitschmann und Fritz Wittels – am Wiener Kongress der Weltliga für Sexualreform. Er hielt eine Rede über »Die Sexualnot der Werktätigen«94. Ein Komitee der Weltliga – zu dem Reich neben drei weiteren Mitgliedern selbst zählte – beauftragte ihn anschließend, eine »sexualpolitische Plattform« für die weitere Tätigkeit der Liga zu verfassen (Reich 1934, S. 262). Diese Plattform sollte ihm alsbald in seinen KPD-Aktivitäten in Deutschland von Nutzen sein. Ebenfalls im September 1930 trafen Reich und Freud letztmalig zusammen.95 Reich berichtet, dass dieses Unter-vier-Augen-Gespräch die schärfste Ausein90 91
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In seinen Tagebüchern, in denen allerdings von 1923 bis 1933 eine Lücke klafft, ist dagegen vielfach von Selbstzweifeln die Rede. Speziell mit Paul Federn begannen Konflikte spätestens 1926. in einem – nicht abgeschickten – Brief an Federn vom 12.2.1926 wies Reich offenbar von Federn gemachte Anschuldigungen zurück, er wäre »aggressiv, paranoisch und ehrgeizig« (Reich/Eissler 1972, S. 149). Siehe zum Beispiel den später im Text zitierten Brief an die Leitung des Internationalen Verlags vom 17.1.1933 zur Kündigung des Vertrages über die Herausgabe der Charakteranalyse. Der Kongress fand von 16. bis 23.9.1930 statt. Friedjung et al. 1931, S. 72–87. Wittels' Vortrag wurde »infolge Zeitmangel nicht gehalten«, aber im Kongressband – den mir Philip Bennett zugänglich machte – veröffentlicht. Bereits am 9. August hatte Anna Freud von Freuds Sommeraufenthalt am Grundlsee an Reich geschrieben: »Mein Vater wird sich freuen, Sie an einem der nächsten Tage um ½ 7 abends bei sich zu sehen« (AOI Correspondence, Box 4, Psa., 1935-»EP«, 1935–1954).
1.2 Reich in Wien
andersetzung war, die sie hatten. Ein ausgesprochen wütender Freud habe ihm vorgeworfen, dass er mit seinen politischen Aktivitäten »den mittleren Weg der Psychoanalyse« verlasse, und gemeint, es sei nicht ihrer beider Aufgabe, die Welt zu retten.96 »Wir wussten, dass wir uns trennen mussten«, fasste Reich später zusammen (Reich/Eissler 1972, S. 51–54; vgl. Sharaf 1996, S. 185). Vielleicht gelangten beide in dieser Situation zu der Lösung, Reich solle seinen Wohn- und Arbeitsort wechseln. Oder Reich war schon zuvor dazu entschlossen. Jedenfalls schrieb Freud am 10.10.1930 an Reich: »Wir haben in unserer Unterhaltung ausgemacht, dass Ihre zeitweise Übersiedlung nach Berlin nicht den Verlust Ihrer Stellungen in Wien zur Folge haben soll, und das meine ich, sollten wir festhalten« (zitiert in Fallend 1988, S. 201).97 Am selben Tag formulierte Freud gegenüber Paul Federn allerdings dezent abgewandelt, dass Reich »bei einer eventuellen Rückkehr seine Stellung zurückerhielte und daß wir geneigt seien, uns an diese Abmachung zu halten«.98 Und er fügte hinzu: »Wenn er sich bis dahin nicht unmöglich gemacht hat« (Sharaf 1996, S. 186). Genau das jedoch sollte aus Sicht Freuds eintreten. Dass Reich bei seinem politischen Engagement blieb, konnte man am 19.10.1930 sogar der Wiener Roten Fahne auf Seite eins entnehmen: Er hatte sich als einer der KPÖ-Kandidaten für die österreichische Nationalratswahl aufstellen lassen.99 Als »Reich, Wilhelm, Arzt« folgte er auf Listenplatz drei der Wiener Region Rudolfsheim/Ottakring/Hernals, zwei Plätze hinter Johann Koplenig, dem späteren langjährigen KPÖ-Vorsitzenden. Aufgrund der geringen Mitglieder- und Wählerzahlen bestand freilich für keinen kommunistischen Kandidaten eine Chance, in den Nationalrat gewählt zu werden.100 Da dies auch Reich klar »It’s not our purpose, or the purpose of our existence, to save the world« (Reich/Eissler 1972, S. 52). 97 Dafür, dass sich dies auf ihr Septembergespräch bezieht, spricht nicht nur Reichs Einordnung desselben als letztes Zusammentreffen, sondern auch, dass Freud bezüglich des Zeitpunktes der getroffenen Verabredung von »damals« schreibt. 98 Hervorhebung von mir – A. P. Dennoch halte ich aufgrund von Freuds Stellungnahme für unwahrscheinlich, was der Wiener Psychoanalytiker Eduard Hitschmann später mutmaßte: Freud habe Reich bereits bei dem Gespräch im September nahegelegt, aus der analytischen Organisation auszutreten (Interview von K. R. Eissler mit E. Hitschmann am 6.3.1953, s. Freud Papers, Library of Congress). Auf diese Quelle und diesen Sachverhalt hat mich am 27.11.2011 Michael Schröter hingewiesen. 99 Den ersten Hinweis auf diese Kandidatur fand ich in dem später angeführten Dokument der NS-Behörden über Reichs Ausbürgerung. Philip Bennett und ich sind dem daraufhin, unter anderem mithilfe von Sanna Stegmaier, weiter nachgegangen. 100 Persönliche Mitteilung von Wolfgang Maderthaner, 9.1.2012. 96
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1 Vorspiele
gewesen sein muss, war seine Kandidatur wohl in erster Linie eine weitere Möglichkeit, seinen politischen Standpunkt zu bekunden. Dass die Nachricht über dieses erneute Parteiengagement umgehend auch seine Wiener Fachkollegen erreicht hat, scheint mir sicher.101 Die KPÖ schnitt bei den Wahlen am 9.11.1930 ausgesprochen schlecht ab: Mit knapp 21.000 erhielt sie gerade einmal 0,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und wurde erstmals sogar von den österreichischen Nationalsozialisten übertrumpft (Fallend 1988, S. 170). Im November 1930 übersiedelte Reich nach Berlin.102 Schon bevor er dort eintraf, hatte eines seiner Bücher in Deutschland Dispute ausgelöst.
1.3
Sexualerregung
1929 erschien im Münster-Verlag die erste von der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung herausgegebene Schrift: Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung. Der schmale Band hatte ganze 66 Seiten im A5-Format. Er habe hier, schreibt Reich, »das Problem der Sexualität des Jugendlichen zum erstenmal so gestellt, daß es nicht bloß das unbedingte Recht des Jugendlichen ist, zu einem geordneten und befriedigenden Sexualleben zu gelangen, sondern daß dies eine der Voraussetzungen für die günstige Entwicklung und für die Arbeitsfähigkeit der proletarischen Jugend bedeutet« (Reich 1976, S. 5).
Jugendliche und junge Erwachsene waren wohl auch die Hauptzielgruppe des Buches. Im ersten Teil resümierte Reich, sich klar als Psychoanalytiker (z.B.
101 Vermutlich bezieht sich auch Paul Federns Sohn Ernst darauf, wenn er von einem Wutausbruch Reichs berichtet, den dieser während einer Veranstaltung, in der er sich als kommunistischer Kandidat für den Wiener Stadtrat präsentierte, gehabt habe (Federn 1990, S. 253). Die Wahlen zum Wiener Stadtrat erfolgten alle fünf Jahre, so auch 1927 und 1932 (persönliche Information von Wolfgang Maderthaner, 24.11.2011). Beim ersten Termin war Reich höchstwahrscheinlich noch kein KPÖ-Mitglied, beim zweiten lebte er in Berlin. Federn dürfte sich daher auf die Nationalratswahl von 1930 beziehen. Auf den Text von Ernst Federn machte mich Philip Bennett aufmerksam. 102 So teilt es Reich selbst in seinem Brief an die »Kollegen in Opposition und im Konflikt mit Freud« vom 16.12.34 mit (Reich/Eissler 1972, S. 195). Da er als KPÖ-Kandidat fungierte, sicherlich also auch als solcher öffentlich auftreten wollte, lässt sich annehmen, dass er erst nach der Wahl in Österreich, also nach dem 9.11.1930, dauerhaft nach Berlin übersiedelte.
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1.3 Sexualerregung
Reich 1929a, S. 13f., 24f., 35, 39, 53, 55, 60) und Marxist (z.B. Reich 1929a, S. 3–10, 16, 45) einordnend, Zusammenhänge zwischen bürgerlich-patriarchalen Normen, reaktionärer (Sexual-)Wissenschaft, gefühlstötender, religiöser Erziehung und daraus resultierenden Störungen der Liebes- und Orgasmusfähigkeit. Er schrieb detailliert über sexuelle Erregung und den Geschlechtsakt sowie über die Anwendung von Verhütungsmitteln. Es folgten Antworten auf 50 Fragen, wie sie Reich bei seiner Sexualberatung, zumeist von Jugendlichen, gestellt wurden. Zum Beispiel: »1. Ist Onanie schädlich? Die Onanie selbst ist unschädlich, wenn sie ungestört, das heißt ohne Schuldgefühl und ohne nachträgliche Reue erfolgt […]. Was man der Onanie selbst an bösen Folgen zuschreibt, ist ein Ergebnis der (meist unbewußten) Phantasien und der Gewissensbisse, die den Reizablauf stören. Die Kirche verurteilt jeden Samenverlust, der nicht zur Kinderzeugung erfolgt. Sie stellt daher die Onanie als schwere Sünde hin. Auch die bürgerlichen Wissenschaftler […] pflegen sie als Laster hinzustellen« (Reich 1929a, S. 33).
Das, so Reich weiter, führe zu schweren Konflikten und seelischen und psychosomatischen Schädigungen bei den Pubertierenden. Diese onanierten ja nur deshalb, weil ihnen in der bürgerlichen Gesellschaft – im Gegensatz zu den Naturvölkern – keine Möglichkeit zu altersangemessener sexueller Betätigung gegeben werde: »Die Onanie des Jugendlichen ist bei uns nur ein Ersatz des Geschlechtsverkehrs« (ebd., S. 34).103 Weit davon entfernt, oberflächliche »Sex-Tipps« zu geben, wies Reich dabei immer wieder darauf hin, dass bloßer Sexualaufklärung Grenzen gesetzt seien: »Es gibt, wie die psychoanalytische Behandlung von Onanisten zeigt, auch unbewußte Schuldgefühle, unbewußte Vorstellungen von ihrer Schädlichkeit. […] Auch wenn sich der Jugendliche bewußt von den falschen Anschauungen freigemacht hat, über die unbewußten, das heißt aus der Kindheit stammenden und verdrängten Vorstellungen, die man erst in einer psychoanalytischen Behandlung bewußt bekommt, hat er keine Macht« (ebd., S. 35).
Außerdem behindere die bürgerliche Gesellschaft das Entstehen einer »selbstbewußte[n] Jugend«. Diese wäre »eine allzugroße Gefahr für den Be103 Dass Onanie an sich etwas Wichtiges, Gesundes und Lustvolles sein kann – zumal sie ja meist weit vor der Geschlechtsreife einsetzt –, scheint er damals nicht angenommen zu haben.
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1 Vorspiele
stand der bürgerlichen Sitte und Ordnung […]. Eine solche Jugend, früh reif und selbständig, könnte leichter auf Gedanken über die bestehende Gesellschaftsordnung kommen, die der herrschenden Klasse nicht passen« (ebd., S. 16). Innerhalb eines Jahres wurden drei Auflagen der Schrift gedruckt – laut Reichs eigener Auflistung 10.000 Exemplare (Reich 1953, S. 15)104 –, eine Übersetzung ins Ungarische105 folgte (ebd.). Damit dürfte Sexualerregung und Sexualbefriedigung eine derjenigen Schriften Reichs gewesen sein, die zu seinen Lebzeiten die größte Verbreitung fanden, vielleicht sogar die Schrift, die am meisten verbreitet war.106 Dass diese Broschüre auch in Deutschland wahrgenommen wurde, war nicht nur wegen ihrer Auflagenhöhe wahrscheinlich.
1.3.1
Bilaterale Beziehungen
Wien und Berlin, die zwei kulturellen Metropolen im deutschsprachigen Raum, befruchteten sich in solchem Maße, dass »Stefan Zweig keine Grenzscheide zwischen Österreich und Deutschland, zwischen Wien und Berlin sehen mochte« (Mühlleitner 2008, S. 121). Alfred Polgar schrieb: »Es sind jetzt viele Wiener in Berlin. Karawanen streben aus der österreichischen Wüste in die […] oasengrüne Stadt« (ebd., S. 98). Und speziell zwischen den Wiener Psychoanalytikern und der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft bestand ein engmaschiges Netz aus beruflichen und privaten Beziehungen, aus Briefen, Telegrammen, Besuchen, Überweisungen von Patienten und Lehranalysanden, Vortragsreisen und gemeinsamen Projekten (Lockot 2002, S. 39ff.). Darüber hinaus hatte die Psychoanalyse im Berlin der späten 1920er Jahre vor allem in intellektuellen Kreisen und bei Angehörigen heilender und helfender Berufe Resonanz gefunden. 1926 war der 70. Geburtstag Freuds auch hier unter Beteiligung einer prominenten Gruppe von »Schriftstellern, Künstlern, Kunstmäzenen, Wissenschaftlern, aber auch Politikern und Behördenvertretern« gefeiert worden (Lockot 2011, S. 85). Am Berliner Psychoanalytischen Institut wurden zahlreiche Ärzte, Sozialbeamte, Juristen, Pädagogen, Seelsorger, Krankenschwestern, Fürsorgerinnen, Geistliche, Berufsberater, Ingenieure, Grafologen und Polizeibe104 Siehe auch Peter Nasselsteins Bibliography on Orgonomy (www.orgonomie.net). 105 Im Verlag Márton Stern. Philip Bennett ermöglichte mir einen Blick auf das Buchcover. 106 Leider gibt Reich keine weiteren Auflagenhöhen an. Sie scheinen auch ansonsten nicht bekannt zu sein.
72
1.3 Sexualerregung
amte aus- bzw. weitergebildet (Mueller 2004, S. 65ff.). Ein im Kino gezeigter Film über analytische Therapie fand ein interessiertes Publikum, eine Vielzahl analytischer Publikationen in Artikel-, Zeitschriften- oder Buchform zu Kunst, Kultur, Politik, Geschichte und Therapie kursierte (Zerfaß/Linke o.J.). Mit »zunehmender Verbreitung von Freuds Gedanken« entstand allerdings auch »ein beachtliches Korpus von gegen die Psychoanalyse gerichteter Literatur« (Köhler 1996, S. 12; Fallend et al. 1985, S. 119ff.; Schröter 2010, S. 729f.). Johannes Cremerius zählt übliche Diffamierungen auf: »Die Psychoanalyse sei Altweiberpsychiatrie, paranoisches Geschwätz, Hexenwahn, seelische Masturbation, talmudistische Spitzfindigkeit« (Cremerius 1981, S. 9). Von psychologischer und soziologischer Seite wurde ihr mangelnde Wissenschaftlichkeit vorgeworfen, von Theologen Religionsfeindlichkeit und Verstöße gegen christliche Ethik, von national-völkischen Kreisen ihr aufklärerischer, rationaler Geist; lagerübergreifende Empörung riefen Freuds Thesen zur frühkindlichen Sexualität hervor (ebd., S. 8–20). Staatlicher Reglementierung oder gar Verfolgung waren psychoanalytische Schriften jedoch während der Weimarer Republik nicht ausgesetzt. Wilhelm Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung sollte die einzige Ausnahme bilden. Schon die Tatsache, dass Reich sich in Wien einen Namen gemacht hatte, dürfte erklären, dass er auch in Berlin bzw. in Deutschland 1929 kein Unbekannter mehr war. Zudem hatte Reich bereits produktive Kontakte zu dem Berliner Arzt Max Hodann geknüpft, der an Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft in Berlin arbeitete (Fallend 1988, S. 85ff.). Diese Kontakte waren wohl auch die Basis dafür, dass Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung mit Publikationen der weithin bekannten Autoren Hodann und Hirschfeld gemeinsam beworben wurde (ebd., S. 127). Popularität verschafften der Schrift zudem diverse Rezensionen (Reich 1953, S. 81ff.). In der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse urteilte Otto Fenichel, Reich ziehe »in mustergültiger Weise die psychoanalytischen Erkenntnisse als die in Sexualfragen grundlegenden« heran (IZP 3/4 1930, S. 522). Weitere, im Wesentlichen positive Besprechungen erschienen im Sozialistischen Arzt, in der Kommunistischen Arbeiterzeitung,107 in der Arbeiterpolitik108 – die bereits 107 Am 2.11.1929, anonym (Reich 1953, S. 81). Gemeint ist hier vermutlich die Berlin-Brandenburger Ausgabe der Kommunistischen Arbeiterzeitung. 108 Untertitel der Tageszeitung der kommunistischen Opposition Deutschlands, d.h. der KPD-Abspaltung um H. Brandler und A. Thalheimer, die sich unter anderem vom »Sozialfaschismus«-Kurs der KPD abgrenzte. Die Rezension erschien am 27.2.1930 und ist einsehbar in der Bibliothek des Bundesarchivs in Berlin. Rezensent D.F. bewertet hier positiv, dass Sexualität »in enge und richtig gesehene Verbindung mit der herrschenden Ge-
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1 Vorspiele
am 8.1.1930 über Reichs »Sexualberatung und ihre Bedeutung für Arbeiter und Angestellte« informiert hatte – sowie in der Tageszeitung Berlin am Morgen. Das belegt, dass Reichs Schrift in einem breiten, über die KPD-Anhängerschaft hinausgehenden »linken« Spektrum mit Interesse und weitgehender Zustimmung wahrgenommen wurde. Berlin am Morgen, Bestandteil des KPD-nahen, von Willi Münzenberg geleiteten Medien-»Konzerns«,109 war erst 1929 gegründet worden und »schlagartig zu einer der meistgelesenen Zeitungen der Stadt« geworden. 1932 erschien sie in einer Auflagenhöhe von 80.000 Exemplaren (Surmann 1983, S. 190, 192, Fn 293). Herausgegeben wurde sie von dem bekannten Journalisten Bruno Frei,110 einem direkten Nachfahren Heinrich Heines. Am 8.9.1929 besprach Frei Sexualerregung und Sexualbefriedigung in der Sonntagsausgabe. Er schrieb unter anderem: »Ein ganz kleines und auffallend bescheidenes Buch, dem aber größere Bedeutung zukommt als manchem dicken Wälzer. Ein sehr heikles Gebiet […] wird hier in einer einwandfrei wissenschaftlichen und zugleich wahrhaft volkstümlichen Weise behandelt. Der Verfasser dieser Schrift, Dr. Wilhelm Reich, ist Leiter und Begründer der Sexualberatungsstelle in Wien […]. Reich führt in einer zwingenden Gedankenkette die herrschenden sexualmoralischen Vorstellungen auf die herrschende Gesellschaftsordnung zurück und gibt in einer ausgezeichneten, knappen Analyse aller Geschlechtsprobleme der Gegenwart zugleich deren soziologische Fundierung.«
Eine ganz andere Bewertung sollte Reichs Buch im westfälischen Münster erfahren.
1.3.2
»Schundkampf«
Bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gab es Bestrebungen, sogenannte »Schund- und Schmutzliteratur« zu verbieten. Dazu wurden, je nach Ausle-
sellschaftsordnung« gebracht werde, kritisiert aber den »Rezept«-Charakter des zweiten Teiles. 109 Den Begriff »Konzern« hat Münzenberg selbst akzeptiert. Gegründet wurde dieses Medienunternehmen von der KP-nahen Massenorganisation Internationale Arbeiterhilfe (IAH) (Surmann 1983, S. 9f.). 110 Autobiografische Informationen siehe B. Frei 1972.
74
1.3 Sexualerregung
gung, diverse »Groschenhefte« ebenso gerechnet wie Courths-Mahler-Romane, Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten und Karl Mays Gesamtwerk – insbesondere aber Publikationen, die sich über die offiziellen bürgerlichen Sexualnormen hinwegsetzten (Dobler 2008, S. 493–526; Jung/Weber 1926). Schon frühzeitig waren diese Aktivitäten mit nationalistischen und antisemitischen Tendenzen verbunden (Steinbacher 2011, S. 33f.). In der politisch eher konservativ, stark katholisch geprägten Region um Münster fand der »Schundkampf« – so ein von den Akteuren selbst verwendeter Begriff – engagierte Mitstreiter. 1926 betätigte sich der katholische Sozialwissenschaftler Heinrich Weber – der unter anderem führende Funktionäre der westfälischen Jugendämter ausbildete111 – als Mitherausgeber der Schrift Schund und Schmutz als sozialpathologische Erscheinung. »Im Auftrag des westfälischen Provinzialverbandes« artikulierten sich hier katholische, evangelische und sozialdemokratische Autoren – und lieferten unter anderem folgenden Definitionsversuch: Literarisch minderwertige Lektüre, die »noch dazu eine sittliche Gefährdung in sich« schließt, »besonders durch geschäftliche Ausnutzung der Pubertätserscheinungen«, »bezeichnen wir […] als Schundliteratur, und wenn es sich um aufdringlich unzüchtige Darstellungen handelt, sprechen wir von Schmutzliteratur« (Benter 1926, S. 13). Auch die westfälischen »Schundkämpfer« bekamen Aufwind, nachdem am 18.12.1926 das »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzliteratur« beschlossen worden war. Kurt Tucholsky bezeichnete es in der »Weltbühne« als »schärfste[n] Angriff auf die geistige Freiheit Deutschlands, der seit Jahrzehnten verübt worden ist« (zitiert in Treß 2003, S. 35). Die KPD sah, so hieß es 1927 auf deren elften Parteitag, dieses Gesetz als Teil eines »brutale[n] Feldzug[s] gegen Autoren, Verleger, Darsteller« an, der »den ernsten Willen der Bourgeoisie« zeige, »den revolutionären Geist der Arbeiterklasse und insbesondere der Jugend mit Gewalt zu ersticken« (zitiert in Surmann 1983, S. 67f.). Speziell die Massenorganisation Internationale Arbeiterhilfe (IAH), Trägerin der meisten KP-nahen Publikationen, unterstützte in der Zeit »den Kampf gegen die Zensur, insbesondere das ›Schund- und Schmutz-Gesetz‹« (ebd., S. 71). Auch der seit 1925 in Berlin tätige Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld wandte sich gegen das »Schund- und Schmutz«-Gesetz. So schrieb er für die Zeitschrift Literarische Welt den Beitrag Das Kind braucht keinen Schutz vor Schund, es 111 Zu H. Weber siehe Biografisch-bibliografisches Kirchenlexikon (www.bbkl.de/w/weber_ hei.shtml).
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1 Vorspiele
schützt sich selbst!, in dem er darlegte, dass »die Erwachsenen nicht in der Lage« seien »zu entscheiden, was für die kindliche Psyche förderlich bzw. schädlich ist«. Dagegen sprach er Kindern »eigene Fähigkeiten der Verarbeitung jedweder Literatur zu« (Erich 1992, S. 174). Auf welch fruchtbaren Boden die Zensurbestrebungen dieses Gesetzes fielen, berichtet der Historiker Jens Dobler: »Im ganzen Land wurden ›Schundkampfstellen‹ eingerichtet, getragen von Organisationen wie der ›Reichsschundkampfstelle der evangelischen Jungmännerverbände Deutschlands‹, der ›Evangelischen Hauptstelle gegen Schund und Schmutz‹, dem ›Ostdeutschen Jünglingsbund‹, dem ›Zentralausschuss der Deutschen Katholiken zur Förderung der öffentlichen Sittlichkeit‹, dem ›Volkswart-Bund‹112 oder der ›Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung‹ […]. Es wurden Zeitschriften herausgegeben wie die Schundabwehr – Nachrichtenblatt der Schundabwehrstelle der Jugend […]. Die Schundkampfstellen organisierten ›Schundkampftreffen‹ und ›Schundkampfwochen‹ und forderten dazu auf, ›Schund- und Schmutzliteratur‹ zu sammeln, damit sie auf den regelmäßigen Treffen oder auch öffentlich verbrannt werden konnte. Im Mai 1927 werden auf dem ›Schundkampftag‹ des Evangelischen Jugendrings in [Berlin-]Pankow öffentlich Bücher verbrannt« (Dobler 2008, S. 515).
In Berlin und München wurden »Prüfstellen« eingerichtet, in Leipzig die »Oberprüfstelle«. Zuständig für die Beantragung der Verfahren waren die Ministerien, teilweise – wie in Westfalen – die Landesjugendämter. 1929 wurden auch im Landesjugendamt Westfalen eine »staatliche Zentralstelle für literarische Jugendpflege und Schundbekämpfung« eingerichtet und »Kampfstellen in […] allen Städten und Landgemeinden« (Zeitschrift Westfälische Jugend, Jg. 1928/29, S. 216) initiiert. Zumindest eine der Kampfstellen konnte alsbald Feindberührung melden: » [D]ie Schrift von Dr. med. Wilhelm Reich ›Sexualerregung und Sexualbefriedigung‹ […] wurde in einem Orte von Westfalen in mehreren Exemplaren aufgegriffen [!] und, da der Verleger seinen Wohnsitz außerhalb von Deutschland hat, durch das Landesjugendamt Westfalen zum Gegenstand eines Antrages gemacht an die Prüfstelle für Schund und Schmutz« (ebd., Jg. 1929/30, S. 200).
Dieser am 11.6.1930 gestellte Antrag wurde unter anderem so begründet: Die Schrift enthalte
112 Speziell zu den Aktivitäten des Volkswart-Bundes: Steinbacher 2011, S. 37–42.
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1.3 Sexualerregung
»Fragen und Antworten über geschlechtliche Dinge, die geeignet sind, auf Jugendliche befleckend, unsauber und schmutzig zu wirken. Die Gefährdung besteht besonders darin, daß […] bei Jugendlichen die Vorstellung erweckt wird, als sei die Forderung der Triebbeschränkung ein veralteter, ja unmoralischer Standpunkt« (zitiert in Reich 1976, S. 3).
Diese Beurteilung wird nachvollziehbarer durch einen Vergleich. So enthielt der ebenfalls 1929 erschienene katholische Ratgeber für die praktische Erziehung folgenden Aufklärungstipp: »Sind es Fragen, die heikle Gegenstände berühren, zum Beispiel das Geschlechtsleben der Tiere, Fragen nach der Herkunft des Menschen, so gehe man über diese Fragen leicht hinweg […]. Da fragt zum Beispiel ein Kind (nach der Besichtigung eines Stalles), wozu man den Eber braucht? Ablenkungsantwort: Hat der Eber zwei große Hauer gehabt? Was hast du im Stalle sonst noch gesehen?« ( J. Weber 1929, S. 77).113
Zur Onanie vermerkt der Ratgeber: Sie ist »selbstverständlich […] sündhaft«, wird verursacht unter anderem durch »Müßiggang, […] Darmkrankheiten, Würmer« und lässt sich bezwingen unter anderem durch »Diät«, »Pflege der Reinlichkeit«, »Übungen in der Selbstbeherrschung […] und vor allem die religiösen Gnadenmittel (Gebet, Sakramentenempfang); Beitritt zu den Marianischen Kongregationen« (ebd., S. 141f.). Selbst unter Reichs psychoanalytischen Kollegen fielen die Meinungen zu Onanie und Wichtigkeit sexueller Befriedigung sehr unterschiedlich aus (vgl. Lütkehaus 1992, S. 233–282). Die diesbezügliche Ambivalenz Paul Federns, einer der wichtigsten Mitstreiter Freuds, schlug sich beispielsweise in einem 1928 veröffentlichten Artikel über Körperliche Hygiene des Geschlechtslebens nieder. Dort wies er zwar darauf hin, dass die Selbstbefriedigung an sich keine körperlichen Schäden hervorruft. Er sah sich aber genötigt, gute Ratschläge zu geben, wie »wirkliche Enthaltsamkeit« auch bezüglich der Onanie bewerkstelligt werden könne. Dabei gehe es vor allem um »tunlichstes Vermeiden äußerer Reizungen«. Dies würde erleichtert, »wenn man gewürzte Kost und Alkohol völlig meidet, wenig Eier, Fleisch und Milch, namentlich abends, zu sich nimmt, viel Sport und körperliche Tätigkeit treibt und ein 113 Der Autor Josef Weber ist nicht identisch mit dem später im Text auftauchenden gleichnamigen Jugendamtsdirektor. Natürlich gab es in der Weimarer Republik auch weit tolerantere und freizügigere Sichtweisen auf Sexualität als die Webersche.
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1 Vorspiele
geregeltes, inhaltvolles Leben führt. […] Kühles, nicht zu hartes und nicht zu weiches Bett ist nützlich. Sexuelle Erregung kann durch kaltes Baden und Schwimmen herabgesetzt, wirkliche Reizzustände und Schlafstörungen können auch durch Arzneimittel bekämpft werden. Die spontane Erektion, die den Anlaß zur Onanie gibt und die das Einschlafen hindert, hört auf, wenn man solange als möglich den Atem anhält und dies einige Male wiederholt« (Federn/Meng 1928, Bd. 1, S. 277).
Zuvor hatte der übrigens sozialistisch orientierte Federn über die »Morgenerektion« ausgesagt, diese sei »meist von sexuellem Verlangen begleitet und verführe zu sexuellen Phantasien und zur Morgenonanie«. Sein Rat: »Wer des Morgens mit sexuellem Gedankeninhalt wacht, gewöhne sich an sofortiges Aufstehen« (ebd., S. 269). Solche Vorschläge waren Freuds Sache nicht. Doch aufgrund der vermeintlich kulturfeindlichen Natur des Sexualtriebes richtete auch er sich dagegen, diesen auszuleben. 1923 schrieb er in »Psychoanalyse« und »Libidotheorie«: »Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom ›freien Ausleben‹ der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, dass die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit« (Freud 1923a, S. 227f.).
1.3.3
Sieg in erster Instanz: Das Verfahren vor der Berliner Prüfstelle
Am 1.7.1930 wurde der Antrag des Landesjugendamtes Westfalen in Berlin verhandelt. Die dabei aufeinandertreffenden Hauptpersonen standen in mehrfacher Hinsicht in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. Wilhelm Reich war nicht persönlich erschienen. Vielleicht war er schon damals der Ansicht, wie er sie 1955 in den USA in dem gegen ihn angestrengten Prozess vertreten sollte, dass »wissenschaftliche Fragen […] nicht im Gericht entschieden werden« dürfen (Sharaf 1996, S. 530; Greenfield 1995, S. 222ff.). Er hatte jedoch eine Stellungnahme verfasst, die vor der Prüfstelle in Berlin verlesen wurde. Darin konterte er unter anderem: »Ist das Landesjugendamt der Ansicht, daß man den Jugendlichen verbieten kann, über diese Dinge nachzudenken, die sie im Pubertätsalter am meisten beschäftigen? Wenn sie
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1.3 Sexualerregung
aber fragen, gebietet das primitivste Gebot der Sittlichkeit, daß man nicht lügt, sondern ihnen die Wahrheit sagt. Die Sittenlosigkeit wird niemals durch die wissenschaftliche Kenntnis des Sexuellen, sondern immer nur durch die Behinderung dieses Wissens erzeugt« (Reich 1976, S. 4).
Reichs Vertretung hatte der Berliner Rechtsanwalt Fritz Flato114 übernommen. Seit etwa 1923 juristisch tätig, hatte Flato bereits Erfahrungen mit derartigen Verfahren. So hatte er 1927 den Berliner Radszuweit-Verlag vertreten, als dessen Lesbenzeitschrift Die Freundin indiziert werden sollte. Flato, selbst homosexuell, setzte sich für die Rechte von Homosexuellen sowohl vor Gericht ein – auch noch nach der NS-»Machtergreifung« –, als auch als Vorstandsmitglied des von Magnus Hirschfeld gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitees. Offenbar war er auch KPD-Mitglied oder stand der KPD zumindest nahe.115 Am 26.6.1930 wandte sich Flato brieflich an Reich, teilte diesem mit, dass er von Max Hodann darüber informiert worden sei, dass gegen Reichs Schrift vorgegangen werden solle, bot Reich für ein Honorar von 100 Mark seine Dienste an und bat um ein Exemplar des Buches, »damit ich mich über den Inhalt orientieren kann« (AOI).116 Manches an diesem Inhalt dürfte Flato auch persönlich als wichtig empfunden haben. Konstatierte hier doch ein bekannter Psychoanalytiker eine allgemeine, durch bürgerliche und kirchliche Normen verursachte »Sexualnot«, beklagte, dass »unsere Sexualerziehung […] den Menschen von Kindheit auf zwingt, seine Sexualität als etwas ganz Böses und Verbrecherisches zu betrachten« (Reich 1929a, S. 25), attackierte das Dogma von der »Ehe als der einzig erlaubten Sexualform« (ebd., S. 4f.) und sprach sich gegen die herrschende Auffassung aus, dass »der Geschlechtsakt […] nur der Zeugung von Kindern zu dienen habe«: »Der Geschlechtsakt wird, was nur für die Kirche und ihre Gesinnungsgenossen eine Neuigkeit sein kann, fast ausschließlich um der Lust willen, die er bietet, begehrt und ausgeführt, wegen der Befriedigung und seelischen Ruhe, die er verschafft« (ebd., S. 17). Auch zur Homosexualität äußerte sich Reich, dabei weitgehend in Übereinstimmung mit Freuds entsprechenden Auffassungen: »Jeder Mensch ist von vornherein 114 Die biografischen Informationen zu Flato stammen aus Dobler (2011), siehe auch ders.: Der Briefwechsel Hiller – Ida und Fritz Flato (www.hiller-gesellschaft.de). 115 Vermutlich weil er im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, entzogen die Nationalsozialisten dem Juden Flato erst 1935 die Zulassung. Später wurde sein Hab und Gut beschlagnahmt. 1936 emigrierte er nach New York. Dort beendete er 1949, in bitterstem Elend, sein Leben 54-jährig durch Suizid (Dobler 2011, S. 35). Am 14.11.2011 wurde in Berlin eine Gedenktafel für Flato eingeweiht. Aus den Briefen von Flato zitiere ich mit freundlicher Genehmigung von Frank Thomas Koch, Berlin. 116 AOI, Correspondence, Box 1, General, Fritz Flato.
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bisexuell, unter normalen Umständen wendet er sich aber dem anderen Geschlecht zu«, »Die Mehrzahl der Homosexuellen sind Menschen, die Entwicklungsstörungen der Liebe zum anderen Geschlecht erfahren haben. Jedenfalls sind sie Kranke und nicht Verbrecher«, und: »Homosexualität ist prinzipiell heilbar […]. Wer sich nicht heilen lassen will, den kann und soll man nicht zwingen, nicht nur, weil man kein Recht dazu hat, sondern auch, weil eine erzwungene Behandlung keinen Erfolg hat. Die homosexuelle Betätigung schadet niemandem« (ebd., S. 58ff.).
Nicht nur bezüglich der notwendigen Entkriminalisierung von Homosexualität gab es hier erwähnenswerte Überschneidungen mit Annahmen Hirschfelds und vieler anderer Homosexueller der damaligen Zeit (Herzer 2001, S. 175). Um Homosexuellen zu helfen, sich »in der Welt der Heterosexuellen zu behaupten«, setzte auch Hirschfeld psychotherapeutische Mittel ein (ebd., S. 130f.). Und 1917 war auch er vorübergehend der Meinung, Homosexualität könne »geheilt« werden. Da er jedoch an eine biologische »Verursachung« glaubte, hatte er dabei andere Mittel im Sinn als Reich (ebd., S. 28, 98, 132). Es erscheint deshalb nicht zwingend, dass Fritz Flato Reichs Auffassungen über die Homosexualität und deren »Heilung« strikt abgelehnt haben sollte. Offenbar (Dobler 2011, S. 31) galt allerdings auch für Flato, was Hirschfeld-Biograf Manfred Herzer schreibt, dass es nämlich für »die Homosexuellen […] zu den elementarsten Doktrinen [gehörte], dass die Natur selbst […] die gleichgeschlechtliche Liebe hervorbringt, dass […] Einflüsse in Jugend und Natur gar nichts daran ändern können« (Herzer 2001, S. 15). Von daher dürfte Flato Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung ambivalent gegenübergestanden haben. Gegner von Reich und Flato war der Direktor des Landesjugendamtes Westfalen, Josef Weber. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Antrag vor der Prüfstelle persönlich zu vertreten. Josef Weber hatte unter anderem Psychologie, Philosophie und Pädagogik studiert, 1908 über Untersuchungen zur Psychologie des Gedächtnisses promoviert und war anschließend in den »höheren Schuldienst« eingetreten. Seit 1921 – und bis 1945 – war er Direktor des Landesjugendamtes in Münster und Leiter des »Institutes für praktische Psychologie«. Nachdem er sein Fachwissen in den Dienst des NS-Staates gestellt hatte,117 sollte er später in Nordrhein-Westfalen unter anderem Sozialminister werden und 1956 das Große Bundesverdienstkreuz erhalten. 117 1933 schrieb der »gläubige Katholik«, der zuvor auch reformpädagogische Konzepte berücksichtigt hatte: »Wer sich als nicht erziehbar erweist […], muß zu seiner Pflege oder zur
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1.3 Sexualerregung
1930, vor der Berliner Prüfstelle, führte Josef Weber aus, man habe sich diesen Antrag »sehr überlegt, da ein Arzt als Verfasser der beanstandeten Schrift zeichne und diese von einer großen Partei [sic] herausgegeben werde. Trotzdem stelle die Schrift eine solche Entgleisung dar, daß die Stellung des Antrages nicht zweifelhaft sei […]. [Es] komme dem Verfasser […] geradezu darauf an, mit einer zynischen Sachlichkeit die bisherigen moralischen Anschauungen in ihr Gegenteil zu verkehren. Man könne geradezu von einer medizinischen Pornografie sprechen« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 17203, Protokoll vom 1.7.1930, S. 1).
Die Prüfstelle schloss sich jedoch Flatos und Reichs Argumentation an und wies den Antrag ab: »Es handelt sich um eine populärwissenschaftliche Arbeit, die von einem nicht zu verkennenden Idealismus getragen ist, […] eine mit tiefem Ernst und Verantwortungsgefühl für die Not breiter Volkskreise geschriebene Broschüre« (ebd., S. 3). Dies war aber zumindest nicht durchweg eine speziell zur Beurteilung von Reichs Buch gefundene Formulierung. In der Ablehnung des Verbotsantrages für Emil Hoelleins Buch Gegen den Gebärzwang durch die Leipziger Oberprüfstelle am 6.11.1928 ist zu lesen: »Sie ist mit Ernst und tiefem Mitgefühl für die Not breiter Volkskreise geschrieben« (Hoellein 1931, S. 280).
1.3.4
Niederlage in Leipzig: Die Verhandlung vor der »Oberprüfstelle«
Da der Antrag in Berlin gescheitert war, wandte sich das Landesjugendamt Westfalen am 12.7.1930 mit einer Beschwerde an die nächste Instanz: die »Oberprüfstelle« in Leipzig. In dem entsprechenden Schriftstück hieß es unter anderem, die Jugendgefährdung sei dadurch zusätzlich erhöht, dass
Sicherung der Allgemeinheit verwahrt, und wenn er gleichzeitig schwer erbkrank ist, an der Schädigung der Gemeinschaft wirksam gehindert werden« (J. Weber 1933, S. 153ff.). Als »Kräfte der gesunden Jugend« empfahl er nun »Hitlerjugend, SA, Arbeitsdienst usw.« (ebd.). Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte Weber seine psychologischen Kenntnisse ein, um an einer »heerespsychologischen Personalprüfstelle« der Wehrmacht die »möglichst effektive Kriegsverwendung« von Rekruten sicherzustellen. Biografische Informationen zu J. Weber aus Köster, ergänzt aus www.wikipedia.de.
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»die Abhandlungen in einem kleinen, volkstuemlich geschriebenen Heftchen geschrieben sind, das wegen seines niedrigen Verkaufspreises von 0,75 R[eichs-] M[ark] Jugendlichen leicht zugänglich ist. Tatsächlich ist auch, wie das Staedtische Jugendamt in Hamm mitteilt, die Schrift, die in der Geschaeftsstelle des ›Westfaelischen Kaempfers‹118 in Hamm in zahlreichen Exemplaren im Fenster ausliegt, einem 17-jaehrigen Gymnasiasten ohne weiteres verkauft worden. Auch einem 14-jaehrigen Gymnasiasten ist das Buch in der Verkaufsstelle ausgehaendigt worden, nachdem er auf eine entsprechende Frage geantwortet haette, es sei für seinen Bruder« (AOI).119
In Leipzig wurde am 25.9.1930 verhandelt. Wieder ließ sich der abwesende Reich von Flato vertreten. Und wieder war Josef Weber persönlich angereist. Nicht umsonst: Diesmal sollte sich sein Standpunkt durchsetzen. »Die Verhandlung war sehr ausführlich und dauerte bis 3 Uhr nachmittags«, teilte Flato Reich brieflich mit (AOI).120 Nachdem die Parteien ihre Argumentationen wiederholt hatten, fasste das Gremium seinen Beschluss. Bereits im ersten, allgemeineren Teil der Broschüre sei zwar »einiges Bedenkliche enthalten«, das könne aber kein Verbot rechtfertigen. Dagegen »begegnet die Art, wie im 2. Teil geschlechtliche Aufklärung für Jugendliche betrieben wird, schwersten Bedenken […]. Die aufdringliche Häufung der Behandlung höchst persönlicher intimster Fragen des geschlechtlichen Lebens vor breitester Öffentlichkeit […] muß […], in der vorliegenden Form an urteilslose, unreife, noch in der geschlechtlichen Entwicklung stehende Jugendliche gebracht, auf diese unbedingt in sittlicher Hinsicht gefährdend wirken […]. Nach alledem lässt sich die Aufnahme der vorliegenden Schrift in die Liste der Schund- und Schmutzschriften nicht vermeiden, wobei dahingestellt sein kann, ob sie außer als Schmutzschrift auch als Schundschrift bezeichnet werden kann« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 17203, Protokoll vom 25.9.1930, S. 2ff.).
Laut Gesetzestext bedeutete dieses Urteil, dass Reichs Schrift ab sofort »weder feilgehalten, angeboten, angekündigt oder bestellt werden, […] öffentlich nicht angepriesen und an Personen unter 18 Jahren nicht verkauft […], in Bibliothe118 Gemeint ist vermutlich die gleichnamige Zeitung, Organ der KPD im Bezirk Ruhrgebiet, die bis 1929 unter diesem Namen erschien, danach als Rote Fahne Westfalens. 119 AOI, Correspondence, Box 1, General, German censorship of WR literature. 120 AOI, Correspondence, Box 1, General, Fritz Flato.
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1.3 Sexualerregung
ken oder öffentlichen Einrichtungen unter 18-Jährigen nicht zugänglich gemacht werden« durfte (Dobler 2008, S. 517). Auch dieses Urteil wurde publiziert und kommentiert. Die Westfälische Jugend verfasste eine ausführliche Meldung über »das erfolgreiche Bemühen, die Schrift von Dr. med. Wilhelm Reich […] auf die Liste der Schund- und Schmutzschriften zu bringen […]. Wir freuen uns, daß das Jugendamt damit erfolgreich den Kampf gegen die üble Aufklärungsliteratur, die unsere heranwachsende Jugend vergiftet, aufgenommen hat. Dieser Erfolg ist gleichzeitig ein empfindlicher Schlag für die Wiener Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung. Es ist traurig, daß eine solche Gesellschaft zur Vermehrung der Schund- und Schmutzschriften beiträgt« (Westfälische Jugend, Jg. 1929/30, S. 200f.).
Die Zeitschrift Westfälische Wohlfahrtspflege (20.12.1930, S. 182–189) druckte sogar die Protokolle beider Verhandlungen vollständig ab – mit der Begründung, sie hätten »grundsätzliche Bedeutung«. Was war damit gemeint? Offenbar hatten die »Schundkämpfer« bei »Groschenheften« unterschiedlicher Couleur und bei Zeitschriften für Homosexuelle relativ leichtes Spiel121 – jedoch war der erwünschte Zugriff auf unliebsame sexualwissenschaftliche Literatur bislang erfolglos geblieben. So fand sich Ende 1929 in der Monatsschrift Westfälische Jugend, S. 213, folgender Stoßseufzer eines frustrierten Tugendwächters: »Man braucht ja nur ein halbwissenschaftliches Mäntelchen für eine solche Schmutzschrift, […] man macht ein bisschen in ›Weltanschauung‹ – will sagen Nacktkultur, Ehereform, Sexualreform usw. – und ist dann vor einem Verbot sicher.« Beispielsweise war das 1928 für Emil Hoelleins Aufklärungsschrift Gegen den Gebärzwang beantragte Verbot in beiden Instanzen abgelehnt worden (Hoellein 1931, S. 279f.). Vermutlich machte es die zunehmende »Rechts«-Orientierung der deutschen Gesellschaft nun, 1930, möglich, an Reichs Schrift erstmals ein Exempel für das Verbot sexualwissenschaftlicher Schriften zu statuieren. Dass es um ein solches Exempel ging, sah auch Flato so, der vor der ersten Instanz argumentiert hatte, »die Entscheidung sei von prinzipieller Bedeutung. Wenn diese Schrift auf die Liste gesetzt werde, gebe es kein Halten mehr, dann könne jedes sexualwissenschaftliche 121 Siehe »Sammlung von Beschlüssen der Oberprüfstelle Leipzig und der Prüfstelle Berlin für Schund- und Schmutzschriften«, BA Berlin, Aktenzeichen R 181. Das Material wurde mir von Jens Dobler zur Verfügung gestellt.
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1 Vorspiele
Werk ebenso beanstandet werden. Aber die Zeiten sind vorbei, wo Sexualwissenschaft als Schweinerei angesehen wurde« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 17203, Protokoll vom 25.9.1930, S. 2).
An Reich schrieb er, als er ihm am 30.9.1930 das Verbot mitteilte: »Ich halte das Urteil geradezu für einen Skandal. Es scheint mir das erste Mal zu sein, daß ein wertvoller wissenschaftlicher literarischer Beitrag auf die Liste der Schund- und Schmutzschriften gesetzt ist […]. Einige Pressevertreter, die ich bei der Gelegenheit sprach, sind ebenfalls über das Urteil empört. Ich hatte Sie schon durch Brief vom 4. Juli 1930 gebeten, mir freundlichst einige Exemplare übersenden zu wollen. […] Falls Sie meiner Bitte entsprechen können, würde ich die Presse für die Sache interessieren, was ich für überaus wichtig und bedeutungsvoll halte« (AOI).122
Reichs Antwortbrief ist anscheinend nicht erhalten, unbekannt ist bislang auch, welche Pressevertreter sich für sein Buch engagieren wollten und ob es tatsächlich dazu kam. Bis Januar 1933 gelang es den »Schundkämpfern« übrigens lediglich, 188 Schriften verbieten zu lassen (Barbian 1993, S. 49) – entsprechende Anträge waren fast für die doppelte Zahl gestellt worden (Dobler 2008, S. 518). Reich war nicht nur mit Sicherheit eines der prominentesten Opfer,123 sondern, wie bereits erwähnt, auch der einzige von diesen Maßnahmen betroffene Psychoanalytiker. Betraf die Indizierung also vielleicht nur den Sexualwissenschaftler, nicht auch den Psychoanalytiker Reich?
1.3.5
Psychoanalyse und Sexualwissenschaft
Tatsächlich nahmen Antragsteller und Oberprüfstelle keinen Bezug auf Reichs psychoanalytischen Hintergrund. Und Freud, der das Triebausleben als kulturgefährdend ansah, hätten die Zensoren auch kaum vorwerfen können, er halte die Forderung nach Triebbeschränkung für veraltet und unmoralisch. Freuds Zielgruppe waren zudem nicht speziell die Heranwachsenden. 122 AOI, Correspondence, Box 1, General, Fritz Flato. 123 Vgl. Sammlung von Beschlüssen der Oberprüfstelle Leipzig und der Prüfstelle Berlin für Schund- und Schmutzschriften, BA Berlin, Aktenzeichen R 181.
84
1.3 Sexualerregung
Dennoch würde ich nicht schließen, dass hier gar keine antianalytische Haltung mit im Spiel war. Zum einen war Freud ja selbst ein »Pionier der Sexualwissenschaft« und hat wahrscheinlich sogar als erster den Begriff »Sexualwissenschaft« verwendet (Sigusch 2008, S. 59ff.). Zum anderen wurde auch der Psychoanalyse immer wieder gerade die öffentliche, tabuverletzende Thematisierung des Geschlechtslebens zum Vorwurf gemacht. Schon 1910 schrieb beispielsweise Kurt Mendel, einer der führenden Nervenärzte dieser Zeit, in dem von ihm selbst herausgegebenen Neurologischen Zentralblatt: »Freudianer! […] Zieht nicht unsere heiligsten Gefühle, unsere Liebe und unsere Verehrung zu unseren Eltern, die uns beglückende Liebe unserer Kinder in den Schmutz Eurer Phantasien hinab durch die fortwährende Unterschiebung widerlicher sexueller Motive!« (zitiert in Köhler 1996, S. 94f.).124 Drei Jahre später kam es in Berlin zu einem Zensurakt, der auch psychoanalytische Interessen berührte: Ein Gericht ordnete die Beschlagnahmung der von Freud unterstützten und als »unersetzliches Quellenwerk für alles, was das Geschlechtsleben der Völker betrifft«, hochgeschätzten Publikationsreihe Anthropophyteia an. Deren Herausgeber und Initiator Friedrich S. Krauss wiederum war nicht nur gern gesehener Gast im Freud-Kreis – in seinen Publikationen argumentierte er auch oftmals psychoanalytisch (Reichmayr 1994, S. 29–51).125 Knapp 20 Jahre später, 1931, zog in den Süddeutschen Monatsheften zum Beispiel Siegfried Placek in einer Weise »Gegen Psychoanalyse« (so das Thema des Heftes) ins Feld, die den fast zeitgleich gegen Reich vorgebrachten Argumenten der »Schundkämpfer« recht nahe kam. Da war von der »Ungeheuerlichkeit des provozierenden, erotisch aufpeitschenden Verfahrens« der Psychoanalyse die Rede, von Freuds »unausrottbarer Neigung, hinter allen Vorstellungen des Traumes sexuelle Wünsche zu finden«. An anderer Stelle hieß es: »Was solch eine Spürmethode, die auch beim Kinde in jeder Lebensäußerung sexuelle Triebregungen zu finden vermeint, für Unheil an der kindlichen, noch unberührten Phantasie ausrichten kann, bedarf keines Beweises. Wie leicht können hierdurch wertvolle seelische, insbesondere Gemütswerte ins Wanken kommen!«
Und: »Was diese Ausdeutungen bei Jugendlichen anzurichten vermögen, […] braucht nicht erst erläutert zu werden« (Placek 1931, S. 785ff.).
124 Im Originaltext offenbar insgesamt durch Fettdruck vom restlichen Text abgehoben. 125 1933 sollten auch seine sämtlichen Werke zum Verbot vorgeschlagen werden.
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1 Vorspiele
In den Feindbildern von Psychoanalysegegnern und »Schundkämpfern« gab es also deutliche Überlappungen. Personelle Überschneidungen in beiden Personenkreisen sind mir nicht bekannt, erscheinen mir aber gut möglich.126 Insofern könnte die Tatsache, dass Reich Analytiker war, durchaus ein zusätzlicher Grund gewesen sein, seine Schrift als indizierungswürdig anzusehen. Hätten die deutschen »Schundkämpfer« sich schon 1930 bessere Chancen ausgerechnet, wären vielleicht für weitere analytische Schriften wie Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie aus dem Jahre 1905 Verbote beantragt worden. Die sexualwissenschaftsfeindlichen Tendenzen im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik dürften jedenfalls einen wichtigen Vorlauf für die nationalsozialistische Verfolgung mancher psychoanalytischen Schrift dargestellt haben.
1.3.6
Unerwarteter Beistand
1931 sollte die öffentliche Diskussion um Reichs Schrift Sexualerregung und Sexualbefriedigung noch einmal eine bemerkenswerte Fortsetzung finden. Heinrich Webler, einer der »Väter der Jugendhilfe« und führenden Jugendrechtler in Deutschland,127 widmete im April 1931 im Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, das er selbst herausgab, dem Verbot von Reichs Schrift eine ausführliche Stellungnahme (Webler 1931). Obwohl Webler das »Schund«-Gesetz vehement befürwortete und, wie er schrieb, Reichs Broschüre weltanschaulich ablehnte, bekräftigte er die Einschätzung, dass diese Broschüre »mit tiefem Ernst und Verantwortungsgefühl für die Not breiter Volkskreise« geschrieben sei. Er wertete das Leipziger Urteil als »Fehlentscheidung« und begründete dies unter anderem so: »Solange man bei uns die Literatur des weltanschaulichen Gegners als Literatur minderen Wertes zu charakterisieren pflegt und sie von seiten der Sozialisten mit dem Prädikat ›Volksverdummung‹, von seiten der Konfessionen mit dem des ›seichten Aufklärichts‹ belegt, solange völkische Kreise mit dem Gesetz ›volksfremde Elemente‹ überhaupt treffen wollen, […] besteht die Gefahr des Missbrauchs. Die 126 Der auch literarisch tätige Psychiater und Psychoanalysegegner Alfred Hoche veröffentlichte immerhin am 13.3.1942 in der Kölnischen Zeitung den Artikel »Was ist Kitsch?«, zu dem H. Schülling (1971, S. 20) vermerkt: »Unterscheidung zwischen unecht und kitschig, Schund und Kitsch«. In der einzigen ausführlicheren biografischen Abhandlung zu Hoche (Müller-Seidel 1999) finden sich aber keine Hinweise auf eine vorhergehende Beteiligung Hoches am »Schundkampf«. 127 Biografische Informationen zu H. Webler aus Jenner 2007.
86
1.3 Sexualerregung
bereits zutage getretenen Versuche, das Gesetz als willkommenes Werkzeug eines Kulturkampfes zu benutzen, sind allzu deutlich« (ebd., S. 13).128
Reich muss von Weblers Artikel erfahren haben: Sein Archiv enthält eine maschinengeschriebene Kopie der wesentlichen Abschnitte (AOI).129 Webler könnte übrigens außer juristischen noch weitere Motive gehabt haben, sich für Reichs Schrift zu engagieren. So dürfte seine frühere Mitgliedschaft im »Alt-Wandervogel«130 eine Rolle gespielt haben. Auch wenn die »Jugendbewegung« insgesamt wohl eher asketisch ausgerichtet war (Linse 1985, S. 262ff.), gab es Exponenten, die sich für freiere Sexualität einsetzten (ebd. sowie S. 269ff.). Und einige von diesen, wie Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel, waren mit der Psychoanalyse verbunden.131 Daher könnte Webler hier sowohl analytische als auch sexualreformerische Ideen kennengelernt haben. Sein jüngster Sohn erinnert sich jedenfalls, dass sich Webler intensiv mit Freud, Adler und Jung auseinandersetzte.132 Im späteren Berufsleben sah sich Webler, wie viele andere Ex-»Wandervögel«, als »Vollstrecker der Jugendbewegung«, der unter anderem »die eigenständigen Rechte« der Jugend betonen wollte ( Jenner 2007, S. 111). Sollte er dazu auch die sexuelle Selbstbestimmung gerechnet haben, wäre er sich hierin mit Reich einig gewesen. Übereinstimmung zwischen beiden lag eindeutig vor, was die Notwendigkeit der Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern betraf. Auch Weblers These, fürsorgebedürftige Jugendliche seien »keinesfalls nur, ja nicht einmal vorwiegend geistig-leiblich Kranke, sondern [die] gesellschaftlich kranke Jugend« (Webler 1974, S. 1518), könnte es ihm erleichtert haben, Reichs Ausführungen über soziale Ursachen psychischer Fehlentwicklungen zu akzeptieren. Weblers 1932 getroffene Einschätzung, dass in Deutschland die »gesellschaftliche […] Ordnung […] immer fragwürdiger wird« (ebd., S. 1517), hat auch Reich geteilt. Webler beteiligte sich dann allerdings daran, rechts-autoritäre Lösungen für dieses Problem zu finden. 1933 wurde er NSDAP-Mitglied, 1939 begann er als Sturmbannführer der SS eine Kooperation mit Heinrich Himmlers »Lebensborn«, 1943 wurde er SS-Obersturmbannführer ( Jenner 2007, S. 142ff.). 128 Detlev Peukert hat bereits 1986 auf Weblers Artikel und dessen Fürsprache für Reich hingewiesen, sich dabei auch auf das dort erwähnte Urteil gegen Reich bezogen (Peukert 1986, S. 190). 129 AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol 2. 130 Mitteilung von Susanne Rappe-Weber, Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; siehe auch www.burgludwigstein.de. 131 Auch Reich suchte 1919 nach Möglichkeiten, Anschluss an den Wiener »Jung-Wandervogel« zu finden (Sharaf 1996, S. 83; Bahnen 1986, S. 11). 132 Persönliche Mitteilung von Wolff-Dietrich Webler, 6.4.2010.
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1 Vorspiele
1.4
Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Ein wesentliches Motiv für Reichs Übersiedlung nach Deutschland war, wie erwähnt, seine Hoffnung, in Berlin ein politisch und wissenschaftlich günstigeres Umfeld für seine therapeutische Arbeit und sein gesellschaftliches Engagement zu finden. Die deutschen Psychoanalytiker, schreibt Reich, »waren in sozialen Fragen weit fortschrittlicher als die Wiener. Die Jugend atmete freier« (Reich 1995, S. 149). Er erhielt auch hier berufliche Anerkennung, wurde erneut Lehranalytiker, außerdem Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). Insbesondere der Kreis »linker« Analytiker um Otto Fenichel, zu dem auch Edith Jacobssohn und – zeitweise – Erich Fromm gehörten, ermöglichte ihm den Meinungsaustausch unter weitgehend Gleichgesinnten. 1931 stieß Annie Reich, die mit den beiden gemeinsamen Töchtern Eva (geboren 1924) und Lore (geboren 1928) nach Berlin nachgekommen war, hinzu (Reich 1995, S. 149ff.; vgl. May 2005a, May 2005b, S. 56–67, 77–84, 104–115; Schröter 2005a, S. 42–46; Mühlleitner 2008, S. 179–216). Reichs Ruf als potenzieller Querulant, der die Aufrechterhaltung des erwünschten psychoanalytischen Images gefährdet, war ihm auch nach Berlin vorausgeeilt. Dafür dürfte unter anderem der enge Kontakt zwischen Freud und Max Eitingon gesorgt haben. Letzterer war zu dieser Zeit der »starke Mann« in Berlin und übte einige der wichtigsten psychoanalytischen Posten aus: Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, wichtiger Geldgeber und Gesellschafter des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, DPG-Vorsitzender, Direktor des Berliner Instituts (Schröter 2004, S. 18). Reich berichtet über Eitingons Begrüßung: »Ich hatte in der [kommunistischen – A.P.] Partei volle Freiheit, Kurse über psychoanalytische Psychologie zu halten. Dagegen war ich vom Vorsitzenden der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung [sic]133 gleich bei meiner Ankunft in Berlin aufgefordert worden, in der Fachorganisation keine soziologischen Themen zu bringen« (Reich 1995, S. 202).
Konflikte waren also bereits programmiert. Wenige Wochen bevor Reich in Deutschland eintraf, hatte es dort zudem einen »politischen Erdrutsch« gegeben: Bei der Reichstagswahl vom 14.9.1930 war die NSDAP »von einer Splittergruppe […] zur zweitstärksten Partei« geworden 133 Die Berliner Psychoanalytische Gesellschaft hatte sich bereits 1926 in Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft umbenannt. Eine Psychoanalytische Vereinigung entstand in Deutschland erst 1950.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
(Moeller 2008, S. 210). Damit kündigte sich jene politische Entwicklung an, die einen entscheidenden Anteil daran hatte, dass Reichs Neuanfang scheitern sollte. Zunächst jedoch gelang es ihm, in bemerkenswert kurzer Zeit einen Platz im politisch-kulturellen Leben Berlins zu finden. Zu seiner Bekanntheit trug sicher die öffentliche Diskussion um seine Schrift Sexualerregung und Sexualbefriedigung ebenso bei wie seine beruflichen Kontakte. Bereits 1929 war Reich Mitglied des von dem Psychoanalytiker Ernst Simmel geleiteten Vereins sozialistischer Ärzte134 geworden (Der sozialistische Arzt 3/1929, S. 142). In der von Simmel mitherausgegebenen Zeitschrift Der sozialistische Arzt hatte Reich im selben Jahr über Erfahrungen und Probleme der Sexualberatungsstellen für Arbeiter und Angestellte in Wien geschrieben (ebd., S. 98–102). Diese Zeitschrift machte nun auch darauf aufmerksam, dass Reich am 16.1.1931 einen Vortrag über Die seelischen Erkrankungen als soziales Problem halten würde. Über diese Veranstaltung erfuhren die Leser anschließend, dass sie »besonders gut besucht« gewesen sei. »Gen. Wilh. Reich« habe »unter großer Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft« referiert. An der »sehr regen Diskussion, die fast bis Mitternacht sich ausdehnte, beteiligten sich die Gen. Leo Friedmann, [Barbara] Lantos, [Ernst] Simmel, Allemann, [Otto] Fenichel, Fritz Weiß, Karfunkel und Rudin« (Der sozialistische Arzt 2/1932, S. 58).135 Außer Reich waren hier also mindestens drei weitere »linke« Analytiker zugegen: Simmel, Lantos und Fenichel. In den beiden folgenden Ausgaben des Sozialistischen Arztes wurde dann Reichs Vortrag vollständig abgedruckt (Der sozialistische Arzt 4, 5/6 1931). Offenbar wurde Reich unverzüglich nach seiner Ankunft KPD-Mitglied136. Zu seiner kommunistischen »Zelle« in der Berliner Künstler-Kolonie, in deren Nähe er bald wohnen sollte, gehörten die Schriftsteller Alfred Kantorowicz (Leiter der Zelle), Arthur Koestler (Agit-Prop-Leiter) und Gustav Regler, der Philosoph 134 Schon 1911 war Simmel Mitbegründer des sozialdemokratischen Ärztevereins, später Präsident des Vereins Sozialistischer Ärzte – der »wohl wichtigste[n] oppositionelle[n] Gesundheitsbewegung« der Weimarer Republik (Lockot 2002, S. 325 mit Verweis auf L. M. Hermanns). 135 Bei »Friedmann« könnte es sich um den im Verlauf der vorliegenden Arbeit noch mehrmals auftauchenden Arzt Leo Friedländer handeln. Bei »Allemann« und den beiden Letztgenannten konnte ich keine Vornamen finden. 136 Vielleicht finden sich keine Hinweise auf das Datum seines KPD-Eintritts, weil seine KPÖMitgliedschaft »überführt« wurde. Bei KPD-Angehörigen, die später in die SU emigrierten, kam jedenfalls die Überführung in die KPDSU zur Anwendung. Ob schon zuvor in der Komintern analog verfahren wurde, konnte ich nicht klären. KP-Mitglieder, die dauerhaft in ein anderes Land wechselten, hatten sich allerdings der dortigen kommunistischen Partei anzuschließen (persönliche Information von Werner Abel vom 29.5.2016).
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Ernst Bloch, die Architektin und Publizistin Karola Piotrowska (spätere Bloch), der Dichter Erich Weinert, der Sänger und Schauspieler Ernst Busch sowie der Kunstgeschichtler Max Schroeder (Boadella 1988, S. 83; Kantorowicz 1995, S. 26). Vermutlich war es auch seine KP-Mitgliedschaft, durch die Reich schnell ins Visier der »Sicherheitsorgane« geriet: Ein Teil der von mir im Weiteren verwerteten Dokumente entstammt Materialsammlungen des Polizeipräsidiums zur Überwachung potenzieller Staatsfeinde. Hier taucht Reich ab Januar 1931 auf.137 Der NSDAP dürfte er ebenfalls schnell ins Auge gefallen sein, zumal diese schon 1928 begonnen hatte, systematisch Informationen über Gegner zu erfassen (Longerich 2008, S. 99f., 135f.) und Reich sich auch in Berlin alsbald als solcher zu erkennen gab. Reichs umgehend einsetzende politische Aktivitäten auf der einen und Freuds zunehmende Verurteilung dieser Aktivitäten auf der anderen Seite verschärften die Spannungen zwischen Reich und der psychoanalytischen Organisation (Sharaf 1996, S. 190–206, 216–218). Hinzu kam ein weiterer Faktor: Reichs anwachsender Bekanntheitsgrad. Seine Resonanz bei jungen deutschen Intellektuellen schildert der an der Psychoanalyse interessierte Schriftsteller Franz Jung: »[D]ie Studenten, die sich Ende der 20er Jahre [sic] in Berlin um Wilhelm Reich als dem Lehrer, dem Wegweiser und dem Arzt – in ihren […] politischen, sozialen und moralischen Nöten geschart haben … diese habe ich gesehen und ich erinnere mich ihrer sehr lebhaft als einer brodelnden unausgegorenen Masse, die aber bereit war einzustehen für dasjenige, was den Weg zur inneren Freiheit bedeutet haben würde« (F. Jung 1982, S. 40).
Insbesondere durch seine Einbindung in die KPD konnte Reich bald eine weit größere Zahl von Menschen erreichen, als ihm seine bloße Zugehörigkeit zum Zirkel der Analytiker138 erlaubt hätte. Die Besonderheit der Allianz zwischen 137 Schon hier zeigt sich, wie weit Atina Grossmanns Einschätzung der Bedeutung Reichs in der deutschen Sexualreformbewegung an der Realität vorbeigeht. So behauptet sie beispielsweise, Reich sei weder in Bezug auf die Wolf/Kienle-Aktionen (dazu später Näheres) noch in irgendwelchen Polizeiakten erwähnt worden (Grossmann 1995, S. 124). Beides ist nachweislich (siehe spätere Abschnitte dieses Buches) ebenso falsch wie Grossmanns Ansicht, Reich habe im »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« (EV) nur eine vergleichsweise unwichtige Rolle gespielt oder sei in der EV-Zeitschrift Die Warte nie aufgetaucht. 138 Im Herbst 1930 verzeichnete die DPG 50 ordentliche und außerordentliche, die IPV weltweit weniger als 400 Mitglieder (IZP-Korrespondenzblatt 1930/16, S. 549–560).
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Reich und der KPD unterstreicht auch ein Vergleich der Wiener Psychoanalytikerin Marie Langer, die vermerkte, dass es zeitgleich in Österreich »keinerlei Beziehung zwischen Psychoanalyse und Politik gab, wie sie sich in Deutschland zwischen Wilhelm Reich, der kommunistischen Partei und der Linken entwickelt hatte« (Langer 1986, S. 91).139 Die Grenze von Reichs offizieller Anerkennung und Popularität innerhalb der kommunistischen »Linken« wird allerdings dadurch deutlich, dass Max Hodann mehrmals in der AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung), einem Flaggschiff des Münzenberg-Konzerns (Surmann 1983, S. 100– 110), veröffentlichte – Reich hingegen offenbar nie.140 Die KPD war in den 1920er Jahren eine Massenpartei geworden. Nachdem sie 1923 schon einmal über 200.000 Mitglieder verfügt hatte, war es ihr zwischen 1930 und 1932 gelungen, die Zahl ihrer Mitglieder wieder von 120.000 auf 287.000 zu steigern. Bei den Wahlen im November 1932 konnte sie 16,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, womit sie nur etwas mehr als drei Prozentpunkte hinter der SPD lag (Krinn 2007, S. 62, 66). Den KPD-nahen Massenorganisationen dürften bis zu einer Million Menschen angehört haben. Die deutschen Kommunisten waren nicht nur integriert in die internationale Organisationsstruktur der Komintern. Sie hatten auch einen nationalen Apparat installiert, durch den Agitation und Propaganda »nicht nur zunehmend ausgebaut, sondern auch professionalisiert« wurden (ebd., S. 132). Hierzu dienten auch mehrere eigene bzw. assoziierte Verlage, diverse Zeitungen, Zeitschriften, der Universum-Buchklub, zahlreiche Bibliotheken (ebd., S. 200f.) sowie ein Schulungssystem, »das an der Parteibasis mit dem politischen Schulungstag in den [Partei-]Zellen anfing und bis zu mehrmonatigen Reichsparteischulen reichte«, das also »eine Ausdehnung und einen Kurstakt« besaß, »wie er in der damaligen politischen Landschaft einzigartig war« (ebd., S. 569). Zugleich erfolgte, oftmals in immensen Auflagenhöhen, die Weitergabe von Literatur: »Wurde die Auflage kommunistischer Schriften […] 1923 noch als ›lächerlich gering‹ bezeichnet, so gelang es der KPD seit Ende der 20er Jahre, die Auflagen kommunistischer Publikationen beachtlich zu steigern und sie zu einem wichtigen 139 Im Wien der 1920er Jahre spielte aber auch Adlers Individualpsychologie in der sozialdemokratischen Politik eine wesentliche Rolle (Bruder-Bezzel 2009, S. 15ff.). Auf einen Vorläufer der Annäherung von Psychoanalyse und Staatskommunismus in Ungarn werde ich später zu sprechen kommen. 140 Jedenfalls habe ich bei Durchsicht der AIZ für die Zeit zwischen Ende 1930 bis Anfang 1933 nichts Derartiges gefunden. Auch Reich selbst führt nichts dergleichen auf (vgl. Reich 1953).
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Element kommunistischer Gegenöffentlichkeit zu machen. So konnte der ›Verlag für Literatur und Politik‹ beispielsweise seine Produktion von 400.000 Exemplaren 1924 […] auf über 4.000.000 im Jahr 1932 steigern. Bei der VIVA141 konnte laut der ›Roten Fahne‹ vom Dezember 1932 die Buchproduktion von durchschnittlich 30.000 Exemplaren auf 1 Million pro Monat im Berichtsjahr gesteigert werden« (ebd., S. 201f.).
Hierzu zählten auch zahlreiche Werke aus Weltliteratur und Populärwissenschaft, darunter sexualreformerische Bücher. Zu deren Verbreitung hatte beispielsweise der KP-nahe Neue Deutsche Verlag die Reihe »Wissenschaftliche Elementarbücher« geschaffen. Bis 1928 waren hier vier Broschüren erschienen: Fritz Brupbachers Kindersegen, Fruchtverhütung, Fruchtabtreibung und Wo ist der Sitz der Seele?, Felix Boenheims Die Biochemie des Menschen und Empfängnisverhütung sowie Mittel und Methoden von Magnus Hirschfeld und Richard Linsert. Die erstgenannte Publikation wurde innerhalb von zwei Jahren 150.000 Mal aufgelegt (Surmann 1983, S. 88–100, Fn 160, S. 252). Dieses Umfeld verhalf offenbar auch Reich zu bemerkenswerten Absatzzahlen. Dass diese für einen Psychoanalytiker ungewöhnlich hoch waren, legen die folgenden Vergleiche nahe: Die Publikation Freuds, die bis 1933 kommerziell den größten Erfolg gehabt hatte, waren seine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Zwischen 1917 und 1930 wurden davon 45.000 Stück gedruckt.142 Andere Bücher Freuds erbrachten Auflagenhöhen um die 27.000 Stück, dem Unbehagen in der Kultur gelang dies schon nach zwei Jahren. Allerdings waren nicht alle Schriften Freuds derartig erfolgreich – das Spektrum der Verkaufszahlen reicht hinab bis zu wenigen hundert Exemplaren (Marinelli 2009, S. 95–105). Lydia Marinelli benennt Wilhelm Stekel als zweiten ungewöhnlich erfolgreichen analytischen Autor mit 5.000 bis 10.000 gedruckten Exemplaren der Erstausgaben einiger seiner Werke.143 Das betraf letztmalig Stekels Werk Die moderne Ehe, von dem 1931 5.000 Stück hergestellt wurden. Sämtliche anderen Analytiker, die im Internationalen Psychoanalytischen Verlag schrieben, lagen, so Marinelli, weit darunter (ebd., S. 101 inkl. Fn, S. 105). Aber außerhalb dieses Verlages gab es zumindest einen weiteren Bestseller: Von Ernest Jones’ englischsprachigem Buch
141 Die ebenfalls KPD-geleitete Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten. 142 1933 wurden noch einmal 40.000 Exemplare gedruckt, die der Verlag Kiepenheuer und Witsch aber aufgrund der NS-Machtübernahme nicht mehr verkaufen konnte (Marinelli 2009, S. 104). 143 Bernd Nitzschke schreibt, Stekel »wurde der wortgewaltigste Propagandist der neuen Wissenschaft Psychoanalyse« (Nitzschke 2012).
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Psycho-Analysis (1928) wurden, so berichtete Max Eitingon, bis 1932 45.000 Stück abgesetzt (IZP-Korrespondenzblatt 1933/19, S. 258).144 Wie fällt hier der Vergleich mit Wilhelm Reich aus? Aus einem Schreiben des Internationalen Psychoanalytischen Verlages vom 27.9.1930 geht hervor, dass von Reichs 1927 erschienenen Buch Die Funktion des Orgasmus 1.650 Stück in der Erstauflage gedruckt wurden, davon 1.500 für den Verkauf. 1930 waren davon 1.390 Exemplare abgesetzt worden (AOI).145 Mit einigen seiner nächsten Bücher sollte er noch weit erfolgreicher sein. Wie schon mitgeteilt hält Reich fest, dass 1930 – also noch ohne KPD-Unterstützung – von den ersten drei Auflagen von Sexualerregung und Sexualbefriedigung 10.000 Exemplare sowie eine Übersetzung ins Ungarische veröffentlicht wurden. 1932 gingen, so Reich, von Der sexuelle Kampf der Jugend allein innerhalb der ersten sechs Wochen »4000 Stück […] weg« (Reich 1995, S. 168); bis Ende 1932 verbreiteten »Organisationen der kommunistischen, sozialdemokratischen und bürgerlichen Jugend« seine Schriften »zu Tausenden« (ebd., S. 187). Auch Anna Freud sollte später davon sprechen, dass Reichs Auffassungen 1932 »in maßloser propagandistischer Weise in vielen Zehntausenden von Broschüren, Schriften etc.« verteilt worden sind (zitiert in Friedrich 1990, S. 164). Das erscheint mir aufgrund seiner Möglichkeit, die KPD-Infrastruktur zu nutzen, als durchaus glaubhaft. Diese Kooperation nahm spätestens im Juni 1931 konkrete Formen an: Für Reichs Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral wurde in der in 100.000 Exemplaren hergestellten (BA RY1/14/13/5, Bl. 14) Broschüre Liebe verboten geworben. Diese Broschüre, die inhaltlich von Reich mitbestimmt wurde, war vom KPD-nahen Verlag für Arbeiterkultur produziert worden, bei dem laut Werbeanzeige Reichs Buch nun auch bezogen werden konnte. Aus all dem lässt sich ableiten: Reich dürfte nach Freud, vermutlich noch vor Stekel, der erfolgreichste analytische Autor im deutschen Sprachraum zwischen 1930 und 1933 gewesen sein.
144 Da ich nicht über umfassende Angaben zu Büchern verfüge, die außerhalb des Internationalen Verlages erschienen sind, kann ich nicht ausschließen, dass sich noch mehr dieser Bücher ähnlich gut verkauften. Allerdings stellt Eitingon Jones’ Erfolg deutlich als Ausnahme heraus und er benennt an dieser Stelle auch keine weiteren so erfolgreichen Schriften. Im IPV-Korrespondenzblatt (1922/8, S. 396) habe ich die – offenbar wieder als besonders herausstellenswert empfundene – Information gefunden, dass Hermine Hug-Hellmuths Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens im selben Jahr in dritter Auflage erschienen ist: »6. bis 10. Tausend«. Auch Lydia Marinelli bezeichnet diesen Erfolg als Ausnahme (Marinelli 2009, S. 105). Bestseller-Potential dürfte auch das Psychoanalytische Volksbuch von Meng und Federn gehabt haben, das bis 1928 in zwei Auflagen erschienen ist. Ich habe aber keine Informationen zur Höhe dieser Auflagen gefunden. 145 AOI, Corresondence, Box 1, General, Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
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Bekannt wurde Reich, wie später noch genauer zu berichten sein wird, auch bei seinen »rechten« politischen Gegnern. Am 15.2.1935 sollte das Geheime Staatspolizeiamt in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße dem Auswärtigen Amt mitteilen, dass Reich »vor der nationalsozialistischen Revolution im Kampf für den Kommunismus Deutschland mit einer Menge von Schmutzliteratur überschwemmt« habe (AAA R 99578). Der DPG-Vorsitzende Felix Boehm berichtete, dass im Frühjahr 1933 »in öffentlichen Anlagen und Straßen Zehntausende von Zetteln verteilt und angeklebt worden sind mit dem Inhalt: ›Schützt unsere Jugend vor der Reichschen Kulturschande!‹« (zitiert in Schröter 2005, S. 162). Die 1933 um die Akzeptanz des NS-Staates bemühten Analytiker sahen sich daher gezwungen, zunächst »von Reich’s in Berlin bekanntgewordenen Ansichten deutlich abzurücken«, um Gehör zu finden (Brecht et al. 1985, S. 105). Felix Boehm konstatierte: »Bekanntlich war Reich häufig öffentlich als Kommunist und Psychoanalytiker aufgetreten, wobei er seine Ansichten als Ergebnis der Psychoanalyse hingestellt hatte. In unzähligen Flugschriften war in Berlin vor Reich gewarnt worden. Gegen dieses Vorurteil hatte ich zu kämpfen« (ebd., S. 102).
1933 äußerte Sigmund Freud gegenüber seiner Tochter: »Wenn die Psychoanalyse verboten wird, soll sie als Psa. [Psychoanalyse] verboten werden, aber nicht als das Gemisch von Analyse und Politik, das Reich vertritt« (zitiert in Friedrich 1990, S. 164).146 Auch diese Formulierung ergab nur Sinn, wenn Freud eine reale Gefahr sah, die Nationalsozialisten könnten die Psychoanalyse mit Reichs Auffassungen identifizieren. Bei einem nur mäßig bekannten Analytiker wären solche Befürchtungen gegenstandslos gewesen. Wenn NS-Angehörige die Psychoanalyse als »jüdisch-marxistische Schweinerei« oder »typisch jüdisch marxistische[s] Produkt« (Brecht et al. 1995, S. 102; Füchtner 2003, S. 173, Fn) einordneten, dürften ebenfalls Reichs Bemühungen, Psychoanalyse und Marxismus zu verbinden, im Hintergrund gestanden haben.147 Die Analyse als Ganzes war weit davon entfernt, marxistisch zu sein. In den seltenen Fällen, in denen sich 146 Darauf, dass auch Boehm und die IPV-Führung genau diese Befürchtung hatten, weist schon Nitzschke (1997, S. 115) hin. 147 Vielleicht trägt das auch dazu bei zu erklären, warum sich die Individualpsychologie insgesamt noch besser ins NS-System integriert zu haben scheint als die Psychoanalyse (Bruder-Bezzel 1999, S. 244, dort sind auch weitere Hintergründe dieser Integration benannt). Als »jüdisch« galten beide Schulen. Aber die Individualpsychologie stand traditionell politisch viel »linker« als die Analyse und hätte daher eigentlich noch mehr Feindschaft auf sich ziehen müssen (vgl. Peglau 2014a).
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Freud zum Marxismus äußerte, tat er dies vor allem kritisch. Allerdings war auch er dennoch schon zuvor als angeblicher Vertreter »linker« Ideologien angefeindet worden.148 Schauen wir uns nun die wichtigsten Stationen von Reichs Wirken in Deutschland genauer an.
1.4.1
Gegen den Paragrafen 218
1928/29 hatten von den Frauen, die Beratungsstellen der Berliner Krankenkassen aufsuchten, »42% eine Schwangerschaftsunterbrechung, 12,2% dagegen fünf oder mehr Unterbrechungen erfahren«. Diese Unterbrechungen waren – bis auf eine geringe Zahl anerkannter »medizinischer Indikationen« – illegal und konnten mit Gefängnis- oder Zuchthausstrafen geahndet werden. Die Aborte wurden oft von den betroffenen Frauen selbst oder anderen Laien auf riskante Weise eingeleitet, indem mittels »Stricknadeln, Katheter, Spritzen« oder »Chemikalien (meist Säuren) Blutungen herbeigeführt wurden, welche wiederum einen ärztlichen Eingriff erforderlich machten« (Göckenjan 1989, S. 101). Ärzte rechneten 1931 mit einer Million illegaler Abtreibungen in Deutschland, von denen 44.000 tödlich endeten (Schneider 1975, S. 63). Seit 1929 existierte in der Weimarer Republik eine breite Bewegung gegen den Abtreibungsparagrafen 218. Am 31.12.1930 veröffentlichte Papst Pius XI. die 54-seitige Enzyklika Casti connubii mit dem Untertitel Über die christliche Ehe im Hinblick auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen und Bedürfnisse von Familie und Gesellschaft und auf die diesbezüglich bestehenden Irrtümer und Missbräuche. Sie enthielt unter anderem folgende Botschaften: Hauptzweck der Ehe sei die ungehinderte Vermehrung, der Mann sei das Haupt der Familie, Frau und Kinder hätten ihm Gehorsam zu leisten, jede bewusste Schwangerschaftsverhütung sei ein Verbrechen und daher verboten, jede Abtreibung sei Mord (ebd., S. 97f.). Hier lag der Papst auch auf einer Linie mit der NSDAP. Kamen von dieser 148 So hatte Wilhelm Schmidt, katholischer Priester und berühmter Völkerkundler, im November 1928 in Wien den Vortrag »Der Ödipuskomplex der Freudschen Psychoanalyse und die Ehegestaltung des Bolschewismus« gehalten (Yerushalmi 1992, S. 50f.). In diesem Vortrag, der 1929 in der Berliner Zeitschrift Nationalökonomie veröffentlicht wurde, urteilte Schmidt, »es gehe Freud und den Bolschewiken um dasselbe, nämlich um die Zerstörung der Familie. […] [D]ie Freudsche These von Religion sei lediglich eine Variante des Marxschen Dogmas von Religion als Opium fürs Volk. Zwischen Freudismus und Bolschewismus bestehe eine ›Entente cordiale‹« – ein herzliches Einverständnis (ebd., S. 51).
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ansonsten teils heftige Angriffe gegen die katholische Kirche, bestand beim Kampf gegen die Abtreibung »eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Wünschen des Papstes und den Forderungen der NSDAP« – so hieß es in der Goebbels-Zeitschrift Der Angriff vom 14.1.1931 unter der Überschrift »Voraussetzungen politischer Erfolge: Ehe, Geburtenregelung und NSDAP« (s. auch Schneider 1975, S. 98–104). Der Protest gegen diese Enzyklika und deren abzusehende Konsequenzen verstärkte sich, nachdem im Februar 1931 die Ärztin Elsa Kienle und der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf wegen illegaler Abtreibungen verhaftet wurden (ebd., S. 7, 64ff.). Am 25.3.1931 fanden in Berlin zwei Veranstaltungen statt, an denen »über 8000 Menschen« teilnahmen (»Der Massenansturm gegen den §218«, in Die Welt am Abend, Berlin, 26.3.1931). Initiator war die Zeitung Die Welt am Abend, seit 1928 wohl »die größte Abendzeitung Deutschlands«, für die für 1929 eine Auflagenhöhe von 230.000 genannt wird (Surmann 1983, S. 124, 190). Diese Zeitung kündigte mehrfach – so unter anderem am 24. und 25.3.1931 auf der Titelseite – an: »Es sprechen bekannte Politiker, Ärzte, Ärztinnen, Schriftsteller und Künstler.« Am Veranstaltungstag nannte Die Welt am Abend 19 der beteiligten Referenten, unter ihnen der Schriftsteller Erich Weinert, der Jurist Felix Halle und »Dr. Reich«. Reich sprach dann auf der Veranstaltung in den »Pharus-Sälen« in Berlin-Wedding – offenbar mit großer Resonanz, wie Die Welt am Abend tags darauf berichtete: »Dr. Reich ließ den Papst […] regelrecht Spießruten laufen. Temperamentvoll und mit Witz zerpflückte er die Enzyklika, und die zahlreichen Zwischenrufe und Anfragen zeigten, wie die Versammelten mitgingen. Nach Schluß der Versammlung wurde er von vielen Versammlungsbesuchern umringt, die ihn um Material […] baten. Verständlich, daß die ausgelegten Kampfbroschüren […] einen gewaltigen Absatz fanden.«
Zu dem Material, das er ihnen anbot, dürfte Sexualerregung und Sexualbefriedigung gehört haben. Von einer anderen »Massenversammlung […] in einem westlichen Bezirk Berlins«149 berichtet Reich, 1.800 Besucher seien gekommen, um sowohl kirch149 Reich nennt kein Datum. Der Inhalt des Treffens legt aber nahe, dass es ebenfalls in diesem Zeitraum stattgefunden hat. Falls, wie eingangs erwähnt, Reichs frühere Geliebte tatsächlich an einer Abtreibung gestorben war, hätte er auch einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Problem gehabt.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
lichen als auch kommunistischen Vertretern zuzuhören, die ihre Sicht zum Abtreibungsparagrafen darstellten. Er habe als Hauptreferent der Kommunisten deren Standpunkt so zusammengefasst: »1. Die Kirche behauptet, dass die Anwendung von Verhütungsmitteln gegen die Natur sei […]. Wenn die Natur so streng und weise ist, warum hat sie dann einen Sexualapparat geschaffen, der nicht nur so oft zum Geschlechtsverkehr drängt, wie man Kinder zeugen will, sondern durchschnittlich 2–3000 mal im Leben? 2. Die anwesenden Vertreter der [evangelischen – A.P.] Kirche sollten offen zugeben, ob sie Geschlechtsbefriedigung nur dann herbeiführten, wenn sie Kinder zeugen wollen. […] 3. Warum hat Gott im Geschlechtsapparat zweierlei Drüsen geschaffen, eine für die Sexualerregung und eine für die Fortpflanzung? 4. Warum entwickelten schon die Kleinkinder eine Sexualität, lange bevor die Fortpflanzungsfunktion einsetzt? Die verlegenen Antworten der kirchlichen Vertreter lösten Stürme von Gelächter aus« (Reich 1933b, S. 186f.).
In der bereits angeführten Ankündigung der Welt am Abend wie auch in allen übrigen zeitgenössischen KP-nahen Publikationen, die mir zugänglich waren, unterblieben allerdings eindeutige Hinweise auf Reichs Tätigkeit als Psychoanalytiker. Dass Reich in KPD-nahen Publikationen seinen Beruf verheimlichen wollte, ist unwahrscheinlich, da er in verschiedenen noch zu behandelnden Schriften, die durch die KPD verteilt wurden, deutlich auf diesen hinwies. War also die Psychoanalyse für die KPD-nahe Presse suspekt? Zumindest nicht in der Weise, dass dieses Wort gar nicht verwendet werden durfte: Wie wir noch sehen werden, warb sogar die Rote Fahne für Reichs Veranstaltungen über »Psychoanalyse und Marxismus«. Reich gehörte dann auch zusammen mit Bertolt Brecht, Max Hodann, Käthe Kollwitz, Anna Seghers, Helene Stöcker, Ernst Toller und weiteren prominenten Intellektuellen zu dem im Frühjahr 1932 gegründeten deutschen Initiativkomitee für die Vorbereitung eines internationalen Antikriegskongresses (Schumann 1985, S. 58f.), über den in der KPD-Presse vielfach informiert wurde. Am 14.8.1932 fand sich auf Seite 14 der Roten Fahne ein kurzer Artikel mit der Überschrift »Prof. Freud für den Anti-Kriegskongress«: »Wie wir erfahren, ist der Aufruf an die Aerzte aller Länder, der zur Unterstützung Ïdes von Henri Barbusse150 veröffentlichten Aufrufs zum Weltkongress gegen den Krieg herausgegeben wurde, auch von dem bekannten Wiener Professor Dr. Sigmund 150 Französischer Schriftsteller, 1873–1935.
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Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, unterzeichnet worden. Mit der Unterzeichnung dieses Aufrufes hat Sigmund Freud sich u.a. zu folgenden Sätzen bekannt: ›[…] Trotz der fortdauernden Vernichtung von Kulturwerten durch den Krieg und obwohl die Greuel des Weltkrieges nicht unvergessen bleiben, sind schon wieder Kräfte am Werke, die den Ausweg aus der Wirtschaftskrise in einem neuen Krieg sehen wollen … Bedroht ist in erster Linie die Sowjetunion. Ein Angriff auf dieses Land, das den friedlichen Aufbau will, bedeutet einen neuen Weltkrieg.«151
Als mit der Sowjetunion solidarischer Weltfriedensaktivist war also auch Freud – der hier indirekt mit Reich kooperierte – und dessen Psychoanalyse einer positiven Erwähnung wert. Und in einer der letzten Ausgaben der Roten Fahne lässt sich zumindest der Anflug psychoanalytischen Denkens wahrnehmen: Am 4.2.1933 veröffentlichte der Soziologe, Sinologe und Mitarbeiter des Frankfurter Institutes für Sozialforschung Karl August Wittfogel den Beitrag Adolf Hitlers wahre »Größe«. Versuch eines sozialpsychologischen Porträts. Dabei thematisierte der auch von Reich geschätzte Wittfogel152 Hitlers Herkunft und führte eines von Hitlers »Leitmotiven« – »Etwas Besseres zu sein, etwas ›Höheres‹ zu werden« – auf die entsprechende Einstellung seiner Eltern zurück.153 Für die ansonsten eher ablehnende Haltung der KPD spricht, dass in der – nicht vollständigen – Sammlung von Rote-Fahne-Feuilletons (Brauneck 1973) zwischen 1918 und 1933 Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie überhaupt nicht auftauchen.154 Der Name Freud fällt nur ein einziges Mal155 – und dies eindeutig abwertend: In Otto Bihas Beitrag Der Tod des Spießers. Dreimal Flucht aus der Wirklichkeit vom 12.9.1931 wurden Franz Werfel, Gottfried Benn und Alfred Döblin156 als »beweiskräftige Zeugen der Zersetzung,157 der Angst und Ziellosigkeit der kapitalistischen Ideologien« vorgeführt (ebd., S. 430). Speziell über Benn 151 Ernest Jones lässt in seinem knappen Hinweis zu Freuds Unterschrift unter diesem Appell die Sätze über die Sowjetunion weg, teilt aber mit, dass auch C.G. Jung unterzeichnet hatte (Jones 1984, Bd. 3, S. 205). 152 Reich schreibt: »der kluge und wissenschaftlich so produktive Karl August Wittfogel« (Reich 1995, S. 158, vgl. auch S. 160). Beide dürften sich unter anderem durch ihre Arbeit an der MASCH kennengelernt haben. 153 Auf S. 10 dieser Ausgabe der Roten Fahne. 154 In Brauns 1981, S. 115–124 ist dokumentiert, dass auch August Thalheimer, vor 1929 zeitweise ein führender KPD-Funktionär, der Psychoanalyse sehr kritisch gegenüberstand. 155 Siehe dazu das Inhalts- sowie das Namens- und Sachverzeichnis bei Brauneck (1973, S. 495–513). Auch meine eigenen Recherchen in den Ausgaben der Jahrgänge 1930–33 haben kein anderes Ergebnis erbracht. 156 Und damit drei auch von psychoanalytischen Gedanken inspirierte Dichter (vgl. Anz 1997). 157 Offenbar also kein Wort, das die »Rechten« gepachtet hatten.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
erfuhr man, seine Philosophie sei ein »dilettantischer Streifzug durch sämtliche Wissenszweige, ein Totentanz mystischer und metaphysischer Glaubenssätze, die Freud, Kretzschmer,158 Heidegger, Planck, Einstein – und Nietzsche zu ihrem Urheber haben« (ebd., S. 433). Auch die Argumentationen im späteren Konflikt zwischen Reich und den KPD-Funktionären belegen, wie ausgeprägt die Ablehnung der Freudschen Lehre in diesen Kreisen war. In der Psychoanalysevariante, die Reich ihnen vorlegte, scheinen zumindest Teile von ihnen diese Ablehnung anfangs hintangestellt zu haben.159 Nachdem zunächst Friedrich Wolf und Ende März auch Elsa Kienle aus der Haft entlassen wurden, verebbte der Massenprotest gegen den Abtreibungsparagrafen. Aber da hatten sich Reich bereits umfassendere Wirkungsmöglichkeiten eröffnet.
1.4.2
Die Marxistische Arbeiterschule MASCH
1925/26 von der KPD in Berlin initiiert, nahm mit der Gründung der MASCH ein in mancher Hinsicht wohl einmaliges, zu Unrecht fast vergessenes Bildungsprojekt seinen Anfang.160 Ziel der MASCH war es, Arbeitern Bildung zu vermitteln, vor allem Grundkenntnisse des Marxismus, für den auch hier ein Unfehlbarkeitsanspruch angemeldet wurde: »Keine soziale Frage, die nicht der Marxismus beantwortet, […] keine politische Situation, die nicht der Marxismus aufzuhellen vermöchte« (Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 73). Als Gegner bzw. Konkurrenten sah man »die bürgerlichen und sozialistischen sogenannten ›Hochschulen‹«. Offenbar war die MASCH im Vergleich zu diesen recht erfolgreich, zumindest die SPD-nahen Hochschulen wurden wohl nicht in gleichem Maße von der Berliner Bevölkerung genutzt (Glaessner 1989, S. 267)161 – was Vertretern der bis 1930 in Deutschland, 158 Hier ist sicherlich der Psychiater Ernst Kretschmer (1888–1964) gemeint. 159 Auch die Marxistische Arbeiterschule scheint in dieser Hinsicht keine Vorbehalte gehabt zu haben. Sie kündigte mehrfach Kurse zu »Psychoanalyse und Marxismus« an. 160 Eine Fülle von Informationen dazu hat insbesondere Gabriele Gerhard-Sonnenberg herausgearbeitet. Auch wenn ihr 1976 im DKP-nahen Pahl-Rugenstein-Verlag erschienenes Buch vielleicht ein teilweise zu schönes Bild zeichnet, halte ich die oben getroffene Einschätzung der MASCH für gerechtfertigt. Vieles, was die Autorin beschreibt, lässt sich zudem anhand der archivierten Vorlesungsverzeichnisse nachvollziehen und wurde inzwischen auch von anderen Autoren bestätigt (z. B. Krinn 2007, S. 456–469). 161 Glaessner ignoriert die MASCH allerdings so gut wie ganz bzw. beschränkt sich darauf, sie abzuwerten: »Die KPD hatte es da leichter. Sie berauschte sich und ihre Anhänger am
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1 Vorspiele
bis 1932 in Preußen Regierungsverantwortung (mit-)tragenden Sozialdemokratie negativ aufstieß: »Beunruhigt über die ›rein zahlenmäßigen Erfolge‹ der MASCH empfahl Leo Friedjung in der Monatsschrift des Reichsausschusses für Sozialistische Bildungsarbeit, ›die nötigen Schlüsse für […] die eigene Schulung der Parteigenossen und der mit der Bewegung Sympathisierenden zu ziehen‹, denn ›tausende junge Arbeiter gehen durch die Kurse der MASCH und werden dort im Sinne der Anweisungen der Komintern dressiert, tausende neuer Propagandisten werden hier gezüchtet‹« (Wollenberg o. J.).
Die Marxistische Arbeiterschule ging aber in der praktischen Arbeit offenbar recht undogmatisch vor. Schon im Untertitel bezeichnete sie sich als »Die Hochschule der Werktätigen«. Sie wurde auch von Angehörigen anderer sozialer Gruppen wie der »Intelligenz« intensiv genutzt, und es wurde offenbar niemand ausgeschlossen, weil er zur »Bourgeoisie« gehörte (Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 81, 154). Teilweise wurden sogar »Vertreter gegnerischer Auffassungen« gezielt eingeladen. Ein »interner Bericht« von 1927/28 gab an, dass drei Viertel der Hörer parteilos seien (Krinn 2007, S. 459). Schnell weitete sich das MASCH-Konzept zu einer »linken« Volksuniversität aus; die Anzahl der Hörer stieg von 25 (1925) auf mehr als 5.000 (1931/32) pro Quartal, die Zahl der Dozenten auf 160 (Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 80f.). Teilweise kamen 700 Hörer zu einer einzigen Abendveranstaltung. Allein im Wintersemester 1929/30 fanden 613 Abendvorlesungen statt, 1932 gab es etwa 2.000 Kurse. Sowohl das technische Personal als auch die Lehrkräfte arbeiteten unentgeltlich (ebd., S. 76f.). Da die MASCH, so Gabriele Gerhard-Sonnenberg, weder von Staat, Stadt noch KPD Geld bekam,162 musste sie ihre Arbeit durch die Beiträge derjenigen finanzieren, die ihre Lehrveranstaltungen besuchten.163 Ein Teil der Dozenten war weder KPD-Mitglied noch sonst irgendwie parteilich gebunden. Zum entscheidenden Kriterium für die Aufnahme als MASCH-Lehrer sei immer mehr geworden: »Bist auch du gegen den Faschismus?« (ebd., S. 154).
Leitbild des kämpfenden Proletariers und schaffte es auch, viele bedeutende Intellektuelle für sich zu gewinnen« (Glaessner 1989, S. 267). 162 Carsten Krinn ergänzt, »dass ihre Lehrer, von denen viele hauptamtliche Funktionäre der KPD waren, unentgeltlich für die Schule arbeiteten. Also zahlte die Partei zumindest indirekt die Schule, denn die Lehrtätigkeit war keine Privattätigkeit« (Krinn 2007, S. 459). 163 0,15 Reichsmark pro Unterrichtsstunde, für Arbeitslose 0,10 Reichsmark. Zum Vergleich: In diesen Jahren kostete ein Kilo Brot 0,40 Reichsmark.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Auf der 1932er Januarausgabe der MASCH-Zeitschrift Der Marxist prangte der Spruch: »Gegen die Nazi-Theorien!«164 Als Dozenten betätigten sich zum Beispiel die Architekten Bruno Taut, Walter Gropius, der Regisseur Erwin Piscator, die Schauspielerin Helene Weigel, der Fotokünstler John Heartfield, die Schriftsteller Egon Erwin Kisch, Erich Weinert, Ludwig Renn und Anna Seghers, der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, der Komponist Hanns Eisler, der Physiker Albert Einstein, der Jurist Felix Halle, der Soziologe Karl August Wittfogel sowie prominente Theoretiker und Praktiker kommunistischer Politik wie Franz Dahlem, Hermann Duncker, Fritz Heckert, Edwin Hörnle, Alfred Kurella, Jürgen Kuczynski, Willi Münzenberg, Theodor Neubauer und Ernst Schneller. Die Psychotherapeuten waren zusätzlich zu Wilhelm Reich unter anderem vertreten durch zwei weitere »Links-Freudianer« – Barbara Lantos und Annie Reich –, durch den späteren »Vater« der Gestalttherapie Fritz Perls und den Kommunisten und Individualpsychologen Manès Sperber (Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 195f.; Bocian 2007, S. 276ff.; Patka/Stančić 2005, S. 52f., 186). Künstler wie Bertolt Brecht und Kurt Weill unterstützten die MASCH, indem sie ihre Wohnungen zur Verfügung stellten, nachdem die SA 1931 mehrere Vorlesungsräume zerstört hatte (GerhardSonnenberg 1976, S. 75). Direktor der MASCH war der Ehemann von Anna Seghers, Johann-Lorenz Schmidt. Zu den vielfältigen Kursthemen gehörten neben dem Marxismus Sozial- und Kommunalpolitik, Recht, Kultur, Künste, Literatur, Film, Radio, Fotografie, Theater, Musik, Naturwissenschaften (Einstein sprach darüber, »Was der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen muss«), Medizin, Sport, Sexualität, Kinder, Erziehung, die Sowjetunion, Fremdsprachen (einschließlich Chinesisch, Japanisch und Esperanto), Psychoanalyse und Individualpsychologie, Rhetorik, Bibliothekswesen, Maschinenschreiben, Orthografie und Grammatik, Rechnen sowie Probleme von Frauen und Jugendlichen. Auch der Faschismus in seiner italienischen und deutschen Ausprägung wurde immer wieder analysiert (ebd., S. 124, 136, 172). Diavorführungen, Touren durch Museen, Ausstellungen, Fabriken oder durch Magnus Hirschfelds Institut für Sexualforschung ergänzten das Angebot. In diesen Kontext passte Reich mit seiner Sexualökonomie gut hinein. Bei Gabriele Gerhard-Sonnenberg (ebd., S. 127) erfährt man dazu: 164 Auch das spricht für eine gewisse Unabhängigkeit von der KPD-Führung, die zu diesem Zeitpunkt ja nicht etwa vom »Sozialfaschismus«-Kurs abgerückt war. Dass die MASCHLeitung dennoch sehr genau darauf achtete, wen sie als Dozenten gewann, belegt ein Schriftwechsel des MASCH-Direktors mit der »Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen« ARSO (RY1/14/11/4, Bl. 11 und 19).
101
1 Vorspiele
»Im Bereich Naturwissenschaften und Medizin konnte der bekannte marxistische Psychoanalytiker Wilhelm Reich für die Kurse ›Marxismus und Psychologie‹ und ›Die Geschichte der Sexualmoral‹ gewonnen werden. Außerdem leitete er eine Arbeitsgemeinschaft zur Ausbildung von Referenten für marxistische Sexualpolitik, wozu jedoch die Teilnahme an marxistischen Grundkursen notwendig war.«
Wie schnell Reich auch hier Anschluss fand, belegen Mitteilungen in KPD- bzw. KPD-nahen Zeitungen. Am 8.3.1931 wies das KPD-Zentralorgan Rote Fahne auf den an der MASCH fortgesetzten (!) Kurs »Psychoanalyse und Marxismus: Dr. Reich« hin. Gleiches war am 9.3.1931 in der Welt am Abend zu lesen. Am 11.4.1931 kündigte die Rote Fahne unter der Überschrift »Marxistische Sexualpolitik« an: »Dr. Wilhelm Reich, der Verfasser zahlreicher sexualtheoretischer Schriften, der gewesene Leiter der Wiener Sexualberatungsstelle, beginnt am Montag, den 13. April, abends, Punkt 20 Uhr, im Zentralschullokal der Marxistischen Arbeiterschule, Gartenstraße 25, am Stettiner Bahnhof, seine Vortragsreihe über marxistische Sexualökonomie und Sexualpolitik. Heute, wo der Kampf um den §218, im Zusammenhang mit der Verhaftung und empörenden Behandlung von Dr. Friedrich Wolf und Frau Dr. Kienle, aktueller und notwendiger als je zuvor sind, werden die Vorträge von Dr. Wilhelm Reich bestimmt ein besonderes Interesse erwecken. Hörgebühr Mitglieder proletarischer Organisationen 30 Pf. [Pfennig], Erwerbslose 20 Pf., sonst 50 Pf.«
Möglicherweise enthält diese Ankündigung die erste öffentliche Erwähnung der Reichschen Wortschöpfung »Sexualökonomie« im Sinne einer vom ihm entwickelten, Aspekte von Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem verbindenden Theorie. Parallel dazu verwandte er aber den Begriff auch weiter im Freudschen Sinne. Dieser hatte vielfach von »ökonomischen« Verhältnissen in der Seele gesprochen und damit die energetischen Wechselwirkungen seelischer Instanzen wie Ich, Es, Über-Ich (vgl. Nagera 1974, S. 348–354) gemeint. Am 13.4.1931 war von Reich als »Verfasser zahlreicher bekannter Werke« die Rede, als das KPD-Zentralorgan erneut auf seine Veranstaltungsreihe in der MASCH hinwies.165 165 Dies ist belegt durch einen entsprechend zugeordneten Zeitungsausriss (BA R 1501– 20678, Blatt 378). In den digitalisierten Ausgaben der Roten Fahne (zefys.staatsbibliothekberlin.de) konnte ich den dort dokumentierten Text jedoch nicht finden, sondern nur einen kürzeren Verweis auf Reichs MASCH-Veranstaltungen. Vielleicht stammt der Ausriss also aus einer anderen Zeitung?
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Die von der Roten Fahne geäußerte Erwartung, Reichs Kurs dürfte auf besonderes Interesse stoßen, scheint berechtigt gewesen zu sein. Reich schrieb (und das ist auch schon fast alles, was man bei ihm selbst über seine MASCH-Aktivitäten erfährt): »Die Marxistische Arbeiterschule […] veranstaltete Kurse über die Themen ›Marxismus und Psychologie‹ und ›Sexuologie‹. Im Sommersemester 1931 hielt ich in einer Schule in der Gartenstraße den ersten, im Herbst den zweiten Kurs ab. Die Teilnehmerzahl stieg von Stunde zu Stunde. Im Sexuologiekurs erreichte sie die Höhe von 250 Hörern aus allen Schichten. Im ersten Kurs, der schwieriger war, saßen politische Funktionäre, Studenten, Lehrer etc. Es waren ungefähr 80 bis 100. Meine Schriften wurden durch den Apparat der MASCH ins ganze Reich geleitet« (Reich 1995, S. 153).
Im MASCH-Programmheft für das Wintertrimester 1931/32 wurde Reichs »Geschichte der Sexualmoral« (vermutlich die Fortführung des »Sexuologiekurses«) mit einer Dauer von vier Doppelstunden ausgewiesen. Auch der »schwierigere« Kurs scheint weitergeführt worden zu sein: Das Programm verzeichnete elf von Reich geleitete Doppelstunden innerhalb der »Arbeitsgemeinschaft zur Ausbildung von Referenten für marxistische Sexualpolitik«. Dafür war als »Vorbedingung« die »Teilnahme an marxistischen Grundkursen« verlangt (MASCH-Programmheft 1931/32, S. 15f., in LA A Pr.Br.Rep. 030/95/21756). Da auch für andere MASCH-Kurse ähnlich hohe Hörerzahlen angegeben werden (Kinner/Müller 1976, S. 5; Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 125, 173), erscheinen Reichs obige Mitteilungen dazu glaubhaft. Und was den landesweit wirkenden »Apparat der MASCH« betrifft: Auch diese Formulierung ist nicht übertrieben. MASCH-Lehrräume waren über ganz Berlin verstreut, ab 1932 befand sich nicht nur die MASCH-Zentrale mitten in der Berliner Innenstadt, im repräsentativen Schickler-Gebäude, sondern auch die zwei große Räume umfassende Bibliothek, die intensiv genutzt wurde (ebd., S. 116). Fernkurse wurden eingerichtet, Lehrmaterial zum Selbststudium herausgegeben und verschickt (ebd., S. 112). Und das MASCH-Konzept weitete sich schnell aus: 1932 gab es von der Berliner MASCH koordinierte und angeleitete MASCH-Ableger in 36 großen deutschen Städten sowie zahlreiche Filialen in Kleinstädten. MASCH-Neugründungen in Zürich, Wien und Amsterdam waren erfolgt, Vorbereitungen unter anderem für London getroffen (ebd., S. 95; Kinner/Müller 1976, S. 10f.). Dass hier also eine effektive Weitergabe Reichscher Schriften an aufnahmebereite Leserinnen und Leser erfolgte, ist plausibel. Dabei dürfte es sich unter anderem 103
1 Vorspiele
um jene Schriften gehandelt haben, welche auch die KPD in ihren internen Vertrieb aufnahm: Der Einbruch der Sexualmoral, Der sexuelle Kampf der Jugend, Sexualerregung und Sexualbefriedigung sowie Annie Reichs Wenn dein Kind dich fragt und Das Kreidedreieck, ebenfalls eine – wohl kollektiv erarbeitete – Aufklärungsbroschüre (Reich 1995, S. 167f.). Bereits 1931 wurde Reich zu den »besten Lehrkräften« der MASCH gezählt (Der Marxist 1971, erste Umschlagseite) und ins Redaktionsgremium der MASCH-Publikation Der Marxist aufgenommen, an der unter anderem Hermann Duncker, Felix Halle und Jürgen Kuczynski mitarbeiteten. Dass Reich größere Zuhörermengen anzog und fesselte, dürfte der Grund gewesen sein, ihn im 700 Gäste fassenden, großen Vortragssaal der MASCH166 einen der seltenen »Diskussionsabende« gestalten zu lassen, zu denen »auch die Vertreter der gegnerischen Anschauungen eingeladen« wurden. Am 4.3.1932 sollte er hier zum Thema »Kapitalistische und sozialistische Sexualpolitik« sprechen (MASCHProgrammheft 1931/32, S. 21) – was dann jedoch wegen »Verhinderung des Referenten auf April verschoben« wurde (Berlin am Morgen, 4.3.1932). Da Reich zumindest bis November 1932 an der MASCH lehrte (noch am 31.10.1932 begann er einen auf fünf Doppelstunden angelegten Kurs »Marxismus und Psychoanalyse«),167 konnte er hier insgesamt sicherlich mehreren Tausend Menschen aus dem »links«-demokratischen Spektrum, darunter etlichen »Multiplikatoren«, seine Standpunkte ausführlich darlegen und einer noch größeren Zahl in gedruckter Form zugänglich machen. Die freundschaftliche Beziehung, die zwischen ihm und dem ebenfalls als MASCH-Dozent tätigen Manès Sperber entstand,168 ermöglichte Reich zusätzliche öffentliche Wirksamkeit: Im Rahmen der KPD-nahen »Arbeitsgemeinschaft marxistischer Sozialarbeiter« diskutierten beide am 18.1. und 1.2.1933, möglicherweise aber auch schon zuvor, vor 300 bzw. 400 Zuhörern über »Die sexuelle Frage in der bürgerlichen Gesellschaft«.169 166 »Schlaraffia-Säle«, Enckestr. 4, vgl. Kinner/Müller 1976, S. 5. 167 Programmheft Oktober-Dezember 1932 in Marxistische Arbeiterschule MASCH, die Hochschule der Werktätigen; Kurse und Arbeitsgemeinschaften für Anfänger und Fortgeschrittene, Berlin o.J., Peuvag, BA, Signatur 52/849. 168 Zwischen ihm und Reich entwickelte sich, so berichtet Sperber, »ein Einverständnis, das eher freundschaftlich als sachlich war, denn wir stimmten in zu vielen Fragen gar nicht überein« (Sperber 1983, S. 465). 169 Darauf machte mich am 29.6.2012 Hans-Rudolf Schiesser vom Berliner Manès-Sperber-Archiv aufmerksam. Er nannte mir auch die Quellen dieser Information: Die Weltbühne (Jg. 29/ 1933, Nr. 2, S. 79 und Nr. 5, S. 190), wo jeweils der folgende Mittwoch benannt wird und der Ort: Haverlands Festsäle, Neue Friedrichstr. 35/Ecke Rochstr. H.-R. Schiesser wies mich
104
1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Es ist zu anzunehmen, dass Reichs Konflikte mit der KPD-Führung spätestens im Januar 1933 seiner Lehrtätigkeit ein Ende setzten. Im Februar 1933, in einem der letzten MASCH-Programmhefte, war er dann nicht mehr als Dozent verzeichnet.170 Schon 1932 war die MASCH zunehmend Ziel staatlicher Repressionen geworden. Am 25.11.1932 wurde das Zentralgebäude von »Schupo« und »Politischer Polizei« besetzt, mehrere Personen verhaftet, das Lehrerverzeichnis beschlagnahmt. Hausdurchsuchungen bei Dozenten folgten (Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 141). Im Frühjahr 1933 lösten die Nationalsozialisten die Marxistischen Arbeiterschulen auf. Wahrscheinlich gehörte auch Bertolt Brecht zu Reichs MASCH-Hörern. Schon 1930 hatte Brecht Reichs Aufsatz Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse durchgearbeitet (dokumentiert in Johler 2007, S. 170). In Berlin angekommen, besuchte Brecht MASCH-Kurse. 1932 gehörte er, wie erwähnt, zusammen mit Reich zum deutschen Initiativkomitee zur Vorbereitung des Amsterdamer Weltfriedenskongresses. Nach 1933 standen er und seine Partnerin Helene Weigel mit einigen Mitgliedern von Reichs skandinavischer SexPol-Gruppe in losem Kontakt (Rothländer 2010, S. 117f.). 1942, längst im (inzwischen US-amerikanischen) Exil, erinnerte sich Brecht an Reich: In seinem eigenen Typoskript der Flüchtlingsgespräche nahm er noch einmal Bezug auf ihn. Unter den wohl auf die Psychoanalyse abzielenden Satz »Eine Zeit lang waren die Intellektuellen auch froh, gegenüber den stark langweiligen Nachzudem darauf hin, dass in Grossmann (1995, S. 132 Fn 114/115) noch ein weiterer Termin für eine solche Diskussion mitgeteilt wird: 8.12.1932. Dort werden für die späteren Zusammenkünfte auch die Polizeiangaben genannt, laut denen 300 bzw. 400 Hörer registriert wurden. Grossmann irrt sich allerdings offenbar in der Angabe des ersten Januartermins, der nicht übereinstimmt mit den Angaben in der Weltbühne. Außerdem behauptet sie über ein Sperber-Zitat, dies wären Sätze, die Sperber Reich vor dem ersten dieser Diskussionsabende entgegengehalten hätte. Davon schreibt Sperber jedoch kein Wort, sondern ordnet es völlig anders ein (Sperber 1983, S. 462). 170 Für den Januar 1933 konnte ich kein Programm finden. Dass Reich – ebenso wie seine Frau Annie – am 20.9.1932 gebeten wurde, sich bei der MASCH-Leitung zu melden, da über seine »Mitwirkung an unserer Schule […] dringend« gesprochen werden müsse, dürfte zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht mit diesen Konflikten zu tun gehabt haben, sondern eher mit notwendigen Klärungen für den nächsten Lehrplan (LA A Pr.Br.Rep. 030/95/21756, Blatt 116 bzw. 182). Zeitgleich wurden gleichlautende Briefe an andere Dozenten versandt. Zu den Absichten der MASCH für das zweite Quartal 1933 siehe auch Rote Fahne vom 22.1.1933, S. 11.
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1 Vorspiele
weisen der Marxisten, dass das Ekonomische171 alles bestimmt, eine Konkurrenztheorie zu haben, nachdem das Geschlechtliche alles bestimmt«, schrieb Brecht mit der Hand: »W. Reich Vaterkomplex der S. P. D.«172 (Brecht-Archiv Berlin 161/25). Dies bezog sich vielleicht auf eine Überlegung, die sich auch bei Ossip Flechtheim findet: »Ja, wie in der Familie die Tochter (und noch öfter der Sohn!) zwar gegen Mutter oder Vater rebelliert, dabei aber doch Zeit ihres Lebens, wenn auch negativ, von dem Elternteil, gegen den sie sich auflehnt, bestimmt bleibt, so kommt auch die spätere KPD nie ganz vom ›Vater- oder Mutterkomplex‹ los« (Flechtheim 1976, S. 289).
Da aber nicht nur die KPD 1919 aus der SPD hervorgegangen war, sondern die SPD selbst wiederum im 19. Jahrhundert aus einer Bewegung herauswuchs, die »ursprünglich sich selbst als kommunistisch bezeichnete« (ebd., S. 77), gab es hier vielfältige »Eltern-Kind«-Verstrickungen. Möglicherweise hatte ja auch Reich in seinen MASCH-Vorlesungen auf Ähnliches hingewiesen. Noch weit größeres Gewicht als in der MASCH sollte Reich jedoch in einer anderen KP-nahen Organisation erlangen.
1.4.3
Die Massenorganisationen der KPD
Durch die Schaffung von Massenorganisationen versuchte die KPD ab 1924, breitere Bevölkerungskreise zu erreichen und sie, insbesondere nachdem sich 1928 der »Sozialfaschismus«-Kurs durchgesetzt hatte, gleichzeitig der SPD abspenstig zu machen. Mit dieser Zielsetzung entstanden beispielsweise die »Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger«, die »Arbeitermandolinisten« oder der »Verband Proletarischer Freidenker Deutschlands« (Wunderer 1980, S. 129–133). Das ging nicht immer einher mit großen Mitgliederzahlen. Wohl auch um diesbezüglich besser dazustehen, wurden die häufigen Mehrfachmitgliedschaften grundsätzlich beim Auszählen nicht berücksichtigt. Dennoch 171 Das ist vermutlich kein unbewusst unterlaufener Rechtschreibfehler. Wie mir Silvia Schlenstedt am 7.12.2010 mitteilte, hielt Brecht sich in seinen handschriftlichen Notierungen nicht immer ans exakte Deutsch, er verwendete auch in seinen Notizbüchern (Bd. 7, S. 228) das Wort »ekonomisch«. 172 Im Original in Klammern gesetzt.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
verfügten diese Organisationen in ihrer Gesamtheit über eine beeindruckende Anhängerschaft. So wurden für die Freidenker 1932 immerhin 170.000 Mitglieder, für den Roten Frontkämpferbund zwischen 100.000 und 250.000 und für die Rote Hilfe Deutschlands 1933 sogar 530.000 Mitglieder angegeben bzw. geschätzt. Der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) gehörten »im März 1931 602 Vereine und Organisationen mit 1.225.000 Mitgliedern an«. An Einzelmitgliedern, also »natürlichen Personen«, hatte aber auch die IAH wohl nur einige Zehntausend (ebd., S. 88, 108, 156).173 Bei anderen Massenorganisationen bestanden ebenfalls »korporative Mitgliedschaften«, traten also weitere Vereine als Mitglieder ein174 – was die Mitgliederzahlen auf dem Papier emporschnellen ließ. Die Massenorganisationen verstanden sich insofern als »überparteilich«, als sie meinten, die Interessen der gesamten Arbeiterklasse zu vertreten (Rackelmann 1992, S. 38 inkl. Fn). Und tatsächlich war oft auch der Anteil von Kommunisten eher gering. So setzte sich die Internationale Arbeiterhilfe zusammen aus zwölf Prozent KPD-, acht Prozent SPD-Mitgliedern – aber 80 Prozent Parteilosen (Wunderer 1980, S. 109). Die Leitung dieser Organisationen lag allerdings grundsätzlich in den Händen von KPD-Funktionären (Krinn 2007, S. 470–480). Als »Koordinationsinstanz für die im Umkreis der KPD entfalteten soziopolitischen Aktivitäten« – also insbesondere die der Massenorganisationen – entstand 1927/28 die »Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen« ARSO (ebd., S. 169), die somit für mehr als eine Million Mitglieder zuständig gewesen sein muss. Einer ihrer Leiter war ab 1930 der ehemalige Angehörige des Zentralkomitees der KPD und langjährige Reichstagsabgeordnete Johannes Schröter175 (Weber/ Herbst 2008, S. 834). Auch das ARSO-Statut machte klar, dass hier – inklusive der Diffamierung der Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten«176 – dieselben politischen Richtlinien galten wie in der KPD. 173 Siehe auch de.wikipedia.org/wiki/Rote_Hilfe_Deutschlands#Gliederung_und_Statistik. 174 So war die IFA zugleich Mitglied der ARSO, die KPD mit ihren ca. 300.000 Mitgliedern ebenfalls (vgl. Wunderer 1980, S. 166–169). Auch die Rote Hilfe hatte »korporative Mitgliedschaften«. 175 Teils auch Johann Schröter oder Hans Schröter benannt – siehe Klockner 1987. 176 Hier sollte allerdings auch berücksichtigt werden, dass die sozialdemokratische Regierung schon 1919 unter Zuhilfenahme rechtsextremer Freikorps Entwicklungen in Richtung Räterepublik wie in München blutig niederschlug und auch in den Folgejahren kommunistische Aktivitäten oftmals behinderte und, teils brutal, verfolgte (vgl. Haffner 1994). Auch wurden die SPD-nahen Arbeiterorganisationen von der deutschen Regierung in der Zeit der Weimarer Republik zumeist finanziell weit besser gefördert als die kommunistischen (siehe Dierker 1987). Der sich 1933 so dramatisch auswirkende Bruderzwist SPD-KPD wurde keinesfalls nur von den Kommunisten am Leben gehalten.
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1 Vorspiele
1929 wurde nach gleichem Muster (und als Gegenentwurf sowohl zum sozialdemokratischen Sozialistischen Kulturbund als auch zum nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur) die Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur IFA gebildet. Zu ihr gehörte neben diversen anderen Organisationen auch die MASCH (Wunderer 1980, S. 165ff., 169f.). Für Reich sollten insbesondere die beiden Leiter der IFA, Rudolf Schneider und Fritz Bischoff, wichtig werden, mit denen gemeinsam er alsbald zur »Reichsleitung« jener KP-nahen Sexualreformorganisation gehören sollte, die er später als Sexpol bezeichnete. Bischoff war auch Vorsitzender des Freidenkerverbandes, der wiederum als zahlenmäßig größte Unterorganisation gleichzeitig »das organisatorische Rückgrat« der IFA darstellte (ebd., S. 167). Die wichtigsten Aufgaben der vor allem antikirchlich ausgerichteten Freidenker bestanden in der Initiierung von »kollektiven Kirchenaustritten«, der Etablierung atheistischer Rituale zu Geburt, Jugendweihe und Begräbnis, im »Kampf gegen die Papstenzyklika« bzw. für die Abschaffung des Paragrafen 218 (ebd., S. 157). Dass, wer solche Ziele hatte, auf Reich aufmerksam wurde, ist plausibel. Ebenso, dass Reich hier Anknüpfungspunkte für seine sexualökonomischen Intentionen sah. Wie die erste Kontaktaufnahme zwischen ihm und der KPD allerdings ablief, ist bislang noch ebenso unbekannt wie das Datum seines Parteieintritts.
1.4.4
Die Einheitsverbände für proletarische Sexualreform und Mutterschutz
Die KPD-nahe Massenorganisation ARSO veranstaltete Ende November 1930 in Berlin und Dresden zwei Tagungen, an denen die größten deutschen Sexualreformverbände teilnahmen. Ziel der ARSO war die Gründung eines – durch die Kommunisten geführten – deutschlandweiten Sexualreformverbandes (Rackelmann 1992, S. 46). An den weiteren Gründungsaktivitäten war bald auch Wilhelm Reich beteiligt. Wie erwähnt, hatte ihn im September 1930 das Komitee der Weltliga für Sexualreform beauftragt, eine »sexualpolitische Plattform« für einen internationalen sexualreformerischen Zusammenschluss zu erstellen. Er erarbeitete daraufhin ein detailliertes Konzept mit theoretischer Grundlegung und praktischem Forderungskatalog. Diese Weltliga-Plattform legte er allerdings, wie er schreibt, als Erstes nicht der Weltliga vor, sondern dem Zentralkomitee der KPD bzw. dessen Agit-Prop-Abteilung.177 Das ZK gab sie weiter an die kommunistische 177 In Reich 1934f ist von »der Agit-Prop im ZK« die Rede, also wohl der Agit-Prop-Abteilung der KPD.
108
1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Ärztefraktion der KPD. Nachdem diese das Papier für gut befunden und Reich sich mit »einige[n] kleine[n] Abänderungen« einverstanden erklärt hatte, sei es auch vom ZK178 akzeptiert worden. Der Vorstand der Weltliga für Sexualreform lehnte die Plattform hingegen als »kommunistisch« ab. Reich sei nun mit der Absicht, einen »Einheitsverband für proletarische Sexualreform«179 aufzubauen, an die KPD-Leitung herangetreten (Reich 1934, S. 262f., 1995, S. 164). Damit dürfte er im Prinzip offene Türen eingerannt haben. Spätestens seit Frühjahr 1931180 erschien in Düsseldorf das Sexualreformblatt Die Warte. Kampforgan für Geburtenregelung, Mutterschutz und Geschlechtsethik, herausgegeben vom KPD-nahen181 Bund bewußter Sexualreformer. Hier wurde Reichs »sexualpolitische Plattform« unter dem Titel Vorschläge für den Arbeitsplan der Arbeitsgemeinschaften der WLSR (Weltliga für Sexualreform) auf drei Zeitungsseiten veröffentlicht.182 Dazu hieß es einleitend vonseiten der Warte-Redaktion: »Zurzeit steht im Vordergrund des Interesses die Frage der Vereinheitlichung der verschiedenen sexualpolitischen Organisationen im nationalen und internationalen Maßstabe. […] Deshalb bringen wir gerne als eine Diskussionsgrundlage den Entwurf von Richtlinien, die der Genosse Dr. R. ausgearbeitet hat. Wir sind der Meinung, daß dieser Entwurf eine brauchbare Grundlage für die Diskussion zu einem Aktionsprogramm auf unserem Gebiet ist« (Die Warte April/Mai 1931, S. 5).
Auf die Formulierung, dass Reichs Plattform als Diskussionsgrundlage für ein »Aktionsprogramm« dienen solle, wird in Kürze zurückzukommen sein. Ausgehend von der These, dass die »sexuelle Not der Massen« ein notwendiges Produkt der kapitalistischen Gesellschaft sei und daher nur mit dieser zusammen verschwinden könne, beschrieb Reich eingangs in seiner Plattform 178 In Reich (1995, S. 162) benennt er konkret den »Kulturreferenten im ZK«. Ich habe nicht feststellen können, um wen es sich dabei handelte. 179 Unklar ist, ob er genau diesen Namen im Sinn hatte. In seinem später zu behandelndem Entwurf für die Arbeit in den Sexualorganisationen verwendet er die Bezeichnung »Deutscher Reichsverband« für proletarische Sexualpolitik. 180 Frühere Ausgaben habe ich nicht entdecken können. Da in der Ausgabe vom April/ Mai 1931 jedoch jeder Hinweis darauf fehlt, dass es sich um die erste Ausgabe handelte, nehme ich an, dass sie bereits zuvor erschienen war. 181 Siehe Lebenslauf von Luise Dornemann (BA NY4278). 182 Auf den Seiten 5–7. Wilhelm Reich berichtet: »Ein reformerischer Sexualverband in Düsseldorf hatte die Plattform abgedruckt und sofort viel Aufmerksamkeit darauf gelenkt. So ergab es sich von selbst, dass die Arbeit in Westdeutschland begann« (Reich 1995, S. 164). Dass »der Bezirk Niederrhein […] ein Kerngebiet der kommunistischen Bewegung« darstellte (Fleermann 2010, S. 12), dürfte mindestens genauso wichtig gewesen sein.
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»die Grundelemente der sexuellen Misere in ihrem Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung«. Zur »Abtreibungsfrage« hielt er fest, dass die Abschaffung des Paragrafen 218 nur sinnvoll sei, »wenn gleichzeitig an seine Stelle die gesellschaftliche Befürsorgung tritt, staatliche Schwangerschaftsunterbrechung, Propaganda und kostenlose Ausgabe der Verhütungsmittel, ausgiebige Säuglings- und Mütterfürsorge«. Zur »Wohnungsfrage« vermerkte er, dass ein »[h] ygienisches Sexualleben […] zumindest Alleinseinkönnen der Sexualpartner« voraussetze. Das profitorientierte Wohnungsgewerbe mache dies jedoch für die Massen unmöglich und trage so zur Verrohung von deren Sexualleben bei. Über die Prostitution urteilte er, dass nicht die Prostituierten bekämpft werden müssten, sondern die Basis von deren Elend: Arbeitslosigkeit und bürgerliche Moral. Den längsten Abschnitt widmete er dann »Neurosen und sexuellen Störungen«. Diese »durchseuchen die Massen der Werktätigen […] zu etwa 60% bei Männern und 90% bei Frauen«, seien »unmittelbare Folgen der bürgerlichen Sexualerziehung des Kindes, die sich in die verderbliche asketische Beeinflussung der Jugend und die Misere des späteren Ehelebens fortsetzt. […] In den Massen wuchern sie aufgrund des Konfliktes zwischen proletarischem Sexualleben und der ihnen aufgepfropften bürgerlichen Moral.« Die notwendige, im Kapitalismus aber unmögliche »Massenprophylaxe« habe die Beseitigung aller neuroseproduzierenden Institutionen zur Vorbedingung, also auch von »Eheleben und Familienerziehung«, da die Familie die »Ideologiefabrik« des Kapitalismus sei. Als »Hauptsache« müsse man »die Sexualfrage vollständig politisieren«, müsse also verdeutlichen, dass es sich hier um weit mehr handele als nur individuelle oder ärztliche Belange. Wiederholt wies er darauf hin, dass in Sowjetrussland erfolgreich damit begonnen worden sei, diese Probleme zu lösen, obschon »die Neurosenfrage in der Sowjetunion auch noch nicht voll zur Diskussion gestellt« worden sei. Unterzeichnet war der Beitrag mit »W. R.«. Erstaunlich ist, dass nach der Abstimmung mit ZK und Ärztefraktion noch immer all diese Aussagen im Konzept erhalten geblieben waren und nun von der Warte so abgedruckt wurden. Sätze wie die über die sexuelle und neurotische Gestörtheit der »Massen der Werktätigen« – nicht also etwa nur der Bourgeoisie –, über die dem Proletariat »aufgepfropfte bürgerliche Moral« oder die Rolle der Familie als »Ideologiefabrik« sollten jedenfalls ab Ende 1932 als Begründungen für Reichs angeblich konterrevolutionäres Verhalten herangezogen werden. Am 2.5.1931 wurde dann, ebenfalls in Düsseldorf, der niederrheinische »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« – im weiteren EV abgekürzt – gegründet. Am 30.4.1931 hatte die KPD-Zeitung Freiheit (Nr. 101, Ausgabe Hagen, S. 12) dazu mitgeteilt:
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»Die Konferenz der sexualreformerischen Organisationen findet […] am Samstag, dem 2. Mai […] im Lokal Lettmann, […] Kölner Straße (Worringer Platz) [statt]. Sie beginnt pünktlich abends 7 Uhr. Als Referent zum ersten Punkt der Tagesordnung spricht Dr. Reich, Wien«183
Dieser selbst war allerdings keinesfalls die von KPD und Reich angestrebte sexualpolitische Massenorganisation. Denn es ging, wie auch der EV verlautbaren ließ, um die Aufhebung der »bisherige[n] Zersplitterung der Sexualreformbewegung«, um die Herstellung einer »Massenbewegung unter einheitlicher, revolutionärer Führung« (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 7). Oder, wie Reich es in seinen Erinnerungen als eigene Zielsetzung formulierte: Die diversen deutschen Sexualorganisationen sollten »durch Anschluß an die Kommunistische Partei […] zu einem einheitlichen sexualpolitischen Verband zusammengeschmolzen werden« (Reich 1995, S. 164). Der Düsseldorfer Einheitsverband war also nur ein erster Schritt auf dem Weg zum eigentlich Angezielten. Vielleicht erhielt er bei seiner Gründung auch deshalb eine zunächst nur als »provisorisch« bezeichnete Leitung. Diese war über Luise Dornemann zu erreichen, eine KPD-Multifunktionärin: Reichsleitungsmitglied des Freidenkerverbandes, Geschäftsführerin des Reichsverbandes für Dissidentische Fürsorge, ARSO-Funktionärin und Redakteurin der nun zur EV-Zeitschrift avanvierten Warte (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 5f.)184. Aus späteren Mitteilungen der poli183 Diesen Zeitungsausschnitt erhielt ich vom Institut für Zeitungsgeschichte der Stadt Dortmund. Die Freiheit wies hier zugleich auf den einen Tag später in Düsseldorf stattfindenden ARSO-Kongress hin, bei dem Johannes Schröter (später mehr zu ihm) als Hauptredner auftrat. Der Leiter des Stadtarchivs Düsseldorf, Benedikt Mauer, konnte eruieren, wo genau am 2.5.1931 die Konferenz stattfand: im »Ball- und Konzerthaus Lettmann«, Kölner Str. 84. Veranstaltungen des »linken« Spektrums gab es hier offenbar des Öfteren. Ein Dokument im Düsseldorfer Stadtarchiv (STAD, 5-4-01276) belegt, dass die »Gaststätte Lettmann« 1932 für eine KPD-Veranstaltung mit Willy Leow, dem Zweiten Vorsitzenden des Rotfrontkämpferbundes, genutzt wurde. Da im 2. Weltkrieg die Kölner Straße massiven Zerstörungen ausgesetzt war, die 1943/44 auch den »Lettmann« betrafen, und zu Beginn der 1960er Jahre beim Verbreitern der Kölner Straße diese Straßenseite komplett abgerissen wurde, existieren heute keine architektonischen Zeugen von Wilhelm Reichs Wirken in Düsseldorf mehr (siehe auch Peglau 2016a). 184 Vgl. Weber/Herbst 2008, S. 194. Luise Dornemann (1901–1992) war mit dem »Sekretär der Gemeinschaft proletarischer Freidenker« Johannes (Hans) Dornemann verheiratet. Er wurde im März 1933 in Düsseldorf durch SA-Angehörige ermordet (ebd.). Luise Dornemann emigrierte 1936 nach Großbritannien, kehrte 1947 nach Deutschland zurück, übernahm in der DDR u. a. Funktionen im Vorstand des Demokratischen Frauenbundes Deutschland und war dann als Schriftstellerin (u. a. Biografien von Jenny Marx, Clara Zetkin) tätig (siehe auch de.wikipedia.org/wiki/Luise_Dornemann).
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zeilichen Überwacher geht hervor, dass Reich nicht zu diesem Gremium gehörte (BA R 1501–20679, S. 27). Inhaltlich wurde die Gründungskonferenz jedoch von ihm dominiert. Sie wurde eingeleitet »durch ein groß angelegtes Referat des Genossen Dr. Reich, des bekannten Wiener Sexualberaters, der den Zusammenhang zwischen der sexuellen Not unserer Zeit mit dem kapitalistischen System aufwies und die Wege zeigte, die die sexualpolitische Bewegung zu gehen hat« (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 6).185
Der ausführlichen Warte-Zusammenfassung von Reichs Referat – sie nahm mehr als die Hälfte der Kongressberichterstattung auf Seite sechs ein – lässt sich entnehmen, dass er seine sexualpolitischen Thesen und Forderungen aus der Weltliga-Plattform zumindest in wesentlichen Teilen wiederholte. Auch Reich berichtet, er habe im Referat nur ausgeführt, was schon »die Plattform in knapper 185 Dass in der Warte Worte wie »Einigungskongreß« und »Landeskonferenz« gelegentlich synonym für ein und dieselbe Veranstaltung verwendet wurden, erschwert die Zuordnung. Dennoch kann ich nicht nachvollziehen, warum Marc Rackelmann dieses Referat dem für den 14.6.1931 geplanten nächsten Kongress zuordnet, zu dem in dieser Warte-Ausgabe erst eingeladen wurde: »Der nächste Schritt: Am 14. Juni: Einigungskongreß für den Bezirk Niederrhein«, »Als Tagungsort ist Barmen vorgesehen. Ueber das Tagungslokal geht euch noch Nachricht zu« (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 5). Dass die Zeitschrift zu einer Tagung einlädt, die nicht nur bereits stattgefunden hatte, sondern in eben dieser Zeitschrift sogar schon ausgewertet worden war, wäre absurd. Der Bericht, in dem Reichs Referat wiedergegeben wird, enthält zwar keine Angabe zu Ort oder Datum, an keiner Stelle wird dort jedoch behauptet, dass dieses Referat später oder in Barmen gehalten wurde. Zudem befindet er sich inmitten weiterer Materialien, die sich eindeutig auf den Gründungskongress vom 2.5.1931 beziehen (ebd., S. 5–7). Da Rackelmann dies falsch zuordnet, kommt er zu falschen Aussagen über das Treffen vom 14.6.1931, dem er nun sowohl die EV-Gründung zuschreibt wie auch all das, was ansonsten in der Warte, S. 6 über den Inhalt der Veranstaltung vom 2.5. steht (Rackelmann 1992, S. 49f.). Aufgrund dieses Irrtums schließt er außerdem, dass Reich sich irre, wenn er vom Gründungskongress in Düsseldorf spricht (Rackelmann 1993, S. 85). So schafft er, wenn auch sicherlich unabsichtlich, einen weiteren angeblichen »Beleg« für die Unzuverlässigkeit der Mitteilungen von Wilhelm Reich. Zutreffend ist zwar, dass Reich sich 1934 – wie schon Bahnen (1986, S. 84) vermerkt – täuschte, wenn er vom EV-Gründungskongress im »Herbst 1931« schrieb. Dieser Fehler ist aber in Reich 1995 bzw. in dessen 1982er Ausgabe, auf die Rackelmann sich bezieht, bereits korrigiert. Wenn Reich hier schreibt: »1931 fand in Düsseldorf der erste westdeutsche Kongress statt« (Reich 1995, S. 164), ist das völlig korrekt. Aber genau diesen Satz lässt Rackelmann weg, vermischt stattdessen Reichs diesbezügliche Aussage von 1934 – ohne das anzugeben – mit dem Text von Reich 1995 bzw. 1982 (Rackelmann 1992, S. 46) – und »entdeckt« dann später diesbezüglich einen angeblich von Reich verschuldeten Widerspruch, der von Rackelmann jedoch selbst produziert wurde.
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Weise zusammenfasste« (Reich 1995, S. 164).186 Seiner Rede folgte laut Warte »starker Beifall der Delegierten«.187 Dass im weiteren Verlauf die Reichsche Plattform, die ja schon in der WarteVeröffentlichung vom April als Basis eines Aktionsprogramms bezeichnet worden war, diskutiert und akzeptiert wurde, bestätigt die Kongressberichterstattung der Warte ebenfalls: »Der Kongreß begrüßt […] die revolutionäre Politisierung der sexuellen Frage. […] Der Kongreß begrüßt die vorgelegte Aktionsplattform als Diskussionsgrundlage für die Schaffung eines Programms der einheitlichen proletarischen Sexualreformbewegung« (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 7; Hervorhebung von mir – A.P.). Weitere Punkte aus der auf dem Düsseldorfer Treffen beschlossenen »Resolution« dürften sich ebenfalls auf Forderungen Reichs in dieser Plattform beziehen: »Gegen die kapitalistische Unterdrückung des Sexuallebens, gegen die sexuale Verdummung, […] für sexuelle Wohnungshygiene, für hygienisch-sexuelle Erziehung der Jugend« (ebd.).
Der auf dieser Konferenz bei der provisorischen EV-Leitung in Auftrag gegebene und dann in der Warte Mai/Juni 1931, S. 9f. abgedruckte Entwurf des EV-Statuts enthält jedoch nur wenige von Reichs Forderungen. Und zwar vor allem jene, die ohnehin von den meisten »linken« Sexualreformern geteilt wurden: kostenlose Verteilung der Empfängnisverhütungsmittel, Aufklärung über Verhütung, Abschaffung des Paragrafen 218, kostenlose Schwangerschaftsunterbrechung, Mutter- und Säuglingsfürsorge, freie sexuelle Jugendaufklärung und -erziehung sowie ein neues Ehe- und Sexualrecht. Reich-spezifischer war wohl nur die eben186 Allerdings hatte er die Plattform in Vorbereitung auf den Kongress offenbar schon überarbeitet. Er vermerkte später als Stichpunkte: »Ifa organisiert 1. Kongress in Düsseldorf […] aufgrund […] von Reich verfasster und zum Kongress ergänzter Plattform« (AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol sowie ausformuliert in Reich 1934, S. 262f.). 187 Über die Tagung vom 2.5.1931 wurde nicht nur in der Warte berichtet, sondern auch in der regionalen KPD-Zeitung Freiheit. Auch in Letzterer erfuhren die Leserinnen und Leser zugleich von der ARSO-Veranstaltung: »Düsseldorf 4. Mai. Am Sonnabend und Sonntag fanden in Düsseldorf zwei bedeutsame Tagungen der Sexualreformverbände und der [der] Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen (ARSO) angeschlossenen Organisationen statt. An der Tagung der Sexualreformverbände nahmen die Vertreter aller sexualpolitischer [sic] Organisationen des Bezirkes Niederrhein teil. […] Das Referat des Genossen Dr. Wilhelm Reich (Wien) [sic] […] wurde von allen Delegierten mit großem Beifall aufgenommen.« Dass beim ARSO-Kongress laut Freiheit »66 Sexualreformer« zugegen waren, lässt vermuten, dass sich auch Reich unter ihnen befand und sich an der »sehr regen Diskussion« beteiligte.
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falls übernommene Forderung nach ausreichendem Wohnraum »für die Massen zur Sicherung eines hygienischen Sexuallebens« (ebd., S. 9).188 Sollte der bereits mit seinem detaillierten Konzept hervorgetretene, den Gründungskongress eröffnende Reich die Arbeitsgrundlage des niederreinischen EV nur marginal mitbestimmt haben? Schon in der ersten Zeile zum Verbandszweck stand jedoch im Statutenentwurf,189 dieser Zweck bestehe in der »Herbeiführung einer grundsätzlichen Aenderung der Sexualpolitik nach dem vorliegenden Aktionsprogramm« (ebd.; Hervorhebung von mir – A.P.). Neben dem Statut war also eine weitergehende, programmatische Arbeitsgrundlage vorhanden und wohl auch beschlossen worden. Dass dafür die Reichsche Weltliga-Plattform herangezogen worden war, halte ich nach Lage der Dinge für zwingend. Warum dann aber der Verzicht auf weitergehende Anleihen daraus im Text des Statutes? Am wahrscheinlichsten erscheint mir, dass man in der Außendarstellung – der ja auch das Statut diente – nicht mit Reichs radikalen Ideen identifiziert werden wollte, vermutlich unter anderem, um die in puncto Sexualität eher kleinbürgerlich empfindenden Arbeiter-»Massen« nicht abzustoßen. Als interne Arbeitsgrundlage scheint man Reichs Ausarbeitungen jedoch zunächst akzeptiert zu haben. Vielleicht drückte sich hier auch schon der Widerspruch zwischen dem offenbar eher konventionell-parteipolitischen EV-Gründungskreis aus der Region um Düsseldorf – der anscheinend das Statut erarbeitete – und Reich aus, dessen Auffassungen in Berlin auf weit fruchtbareren Boden fallen sollten als am Niederrhein (BA NY 42781, Bl. 1).190 188 Reich hat nie behauptet, den Inhalt des EV-Statuts bestimmt zu haben. Wenn er schreibt, seine Plattform-Ausarbeitung sei mit »einige[n] kleine[n] Abänderungen« vom ZK akzeptiert worden, bezieht sich das eindeutig auf die Weltliga-Vorschläge (Reich 1934, S. 263). Ebenso, wenn er davon spricht, dass seine Plattform von einem reformerischen Sexualverband abgedruckt worden war – den er klar vom EV trennt. Dies bezog sich offenkundig auf den Bund bewusster Sexualreformer, der Reichs Weltliga-Plattform in der Warte April/ Mai 1931 veröffentlichte. Reich gibt den Sitz dieses Sexualreformerverbandes zwar irrtümlich mit Düsseldorf an und nicht korrekt mit dem nahe gelegenen Hagen (Reich 1995, S. 164). Aber schon als die Warte noch dessen Vereinsblatt war, erschien sie in Düsseldorf, was er verwechselt haben könnte. Sowohl Bahnen (1986, S. 96, Fn 1) als auch Rackelmann (1992, S. 54) irren also, wenn sie Reich hier eine Übertreibung seines Einflusses unterstellen – vermutlich, weil beiden Autoren die Veröffentlichung von Reichs Weltliga-Plattform in der Warte April/Mai 1931 nicht bekannt war. 189 Das Statut wurde später offenbar unverändert so beschlossen und zur offiziellen Vereinsgrundlage gemacht. Die zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon bestätigte Fassung enthält der Polizeibericht vom 15.2.1932 (BA R 1501/20979, Bl. 28–31). 190 Diese regionale Polarisierung beschreibt auch Rackelmann.
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In der ARSO-Zeitschrift Proletarische Sozialpolitik vom Juni 1931 (Klockner 1987, S. 169f.) wurde unter der Überschrift »Sexualverbände, an die Front!« die EV-Gründung gelobt und deutlich gemacht, dass man diese vor allem als Keimzelle für das nächste, größere Ziel, die – unter kommunistischer Führung – herzustellende gesamtdeutsche Vereinigung aller proletarischen Sexualverbände, schätzte: »Die ARSO und die hinter ihr stehenden sozialpolitischen Massenorganisationen haben immer wieder ihre Bereitwilligkeit zum Ausdruck gebracht, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften die Vereinigung zu fördern. Sie fordert auch jetzt ihre Mitgliedschaften zur tatkräftigen Mitarbeit auf. Darüber hinaus hat auch die IFA mit dem großen Verband proletarischer Freidenker an der Spitze seine Mitgliedschaften zur Mitarbeit in den Sexualverbänden aufgefordert. Der Aufbau des neuen Reichsverbandes findet also weitgehendste Unterstützung bei allen Massenorganisationen des revolutionären Proletariats. Der Reichsverband wird entstehen […], er muß zu einer mächtigen Waffe des Proletariats werden im Kampfe gegen Kultur- und Sozialreaktion« (ebd., S. 170).
Schon in der Warte vom Mai/Juni 1931 war daher für den 14.6.1931 zu einem weiteren »Einheitskongress für den Bezirk Niederrhein« eingeladen worden, der in Barmen stattfinden sollte (Die Warte 5/6 1931, S. 5). Anscheinend sollte auch hierfür wieder ein Konzept Reichs als inhaltliche Grundlage dienen. Am 9.6.1931 verteilte die IFA einen von Reich verfassten »Entwurf für unsere Arbeit in den Sexualorganisationen«, in dem er seine Plattform auf die Belange eines »Deutschen Reichsverbandes für proletarische Sexualpolitik« zurechtgeschnitten hatte – also der angezielten gesamtdeutschen Organisation. Für den »Entwurf« hatte Reich die Weltliga-Plattform sowohl gekürzt wie ergänzt, konkretisiert und in manchen Formulierungen auch verschärft. So hieß es nun beispielsweise zusätzlich: »Die sexuelle Unterdrückung […] stützt die Familien- und Eheordnung, welche zu ihrem Bestande Verkümmerung der Sexualität erfordert«, sie mache »die Kinder und Jugendlichen den Eltern und auf diese Weise später die Erwachsenen der staatlichen Autorität und dem Kapital hörig, indem sie in den Unterdrückten autoritäre Ängstlichkeit hervorruft« (ebd.). Hier fand sich auch ein weit ausführlicherer Forderungskatalog: »Aufhebung aller Zwangsbestimmungen über Eheschließung und -trennung, […] Aufhebung jedes rechtlichen und weiteren Unterschiedes zwischen ehelich und unehelich, Beseitigung aller Bestimmungen über Ehebruch, Konkubinat etc., […] Beseitigung der Prostitution durch Kampf gegen ihre Ursachen, die Arbeitslosigkeit,
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doppelte Geschlechtsmoral und Keuschheitsideologie; […] Ausrottung der Geschlechtskrankheiten durch Massenaufklärung, Massenprophylaxe und hauptsächlich sexualökonomische Regelung der Beziehung der Geschlechter, […] Verhütung von Neurosen und sexuellen Störungen durch entsprechende sexualbefürsorgende Erziehung; […] Ausbildung der Ärzte, Pädagogen und Fürsorger in allen Fragen des sexuellen Seins, […] von der Empfängnisverhütung bis zur Sexualpsychologie, […] Aufhebung aller Bestimmungen und Strafen über den Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten, […] Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Verführung und Vergewaltigung durch Erwachsene, […] vollständige Politisierung der Sexualfrage, […] Streichung […] des Homosexuellenparagraphen, […] Abschaffung aller Gesetze, die die sexuelle Belehrung unter Strafe stellen« (BA RY1/4 4/13/3).191
Dass sich die Zuständigen in KPD und EV zu diesem Zeitpunkt noch hinter Reich und seine Plattform stellten, belegt auch das Folgende: Um die Idee des geplanten reichsweiten Zusammenschlusses und den schon vorhandenen Düsseldorfer EV zu popularisieren, wurde im Juni 1931 (Nasselstein)192 vom KP-nahen Verlag für Arbeiterkultur in einer ersten, bereits nach vier Wochen vergriffenen Auflage von 100.000 Stück die Broschüre Liebe verboten hergestellt und zum Preis von 10 Pfennig verteilt (BA RY1/14/13/5, Bl. 14). Dieses Heft enthielt längere Passagen, die entweder von Reich verfasst oder zumindest hochgradig von ihm beeinflusst wurden: Im Abschnitt »Was ist der Wille der Natur?« wird recht sexualökonomisch zum Sexualtrieb argumentiert, in »Die Sowjetunion hat das Sexualproblem gelöst« tauchen Reich-typische Wertungen auf. Darüber hinaus fand sich hier eine Kurzfassung wesentlicher Forderungen aus Reichs Weltliga-Plattform wie: »Abschaffung aller bürgerlich-kapitalistischen Bestimmungen über Eheschließung« und aller »Strafen für sexuelle Verirrungen«, »[G]esellschaftliche Erziehung« der Kinder, »[r]estlose sexuelle Aufklärung der Jugend« und »gründliche Ausbildung« aller Ärzte in Sexualwissenschaft und Sexualpsychologie. Hier wurden also Reichsche Gedanken weit umfassender vertreten als im EV-Statut. Wie sehr Reich bereits in IFA und ARSO akzeptiert wurde, ging außerdem aus der Tatsache hervor, dass auf den letzten Seiten der Broschüre für sein Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral geworben wurde, »zu beziehen durch: Verlag für Arbeiterkultur«.193 Das heißt, dieser Verlag hatte bereits Verkaufs- und Werbeaufgaben für zumindest diese Publikation Reichs übernommen. 191 Letzteres dürfte sich auch auf das »Schund- und Schmutz«-Gesetz bezogen haben. 192 www.orgonomie.net/hdobiblio.htm#1931. 193 Neben weiteren Autoren wurde dort auch Ist Abtreibung schädlich? von Annie Reich und Marie Frischauf beworben.
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Auch späterhin wurden Nachauflagen von Liebe verboten beworben bzw. bekannt gemacht. So hieß es in der Warte vom Dezember 1931 in einer Anzeige: »Sorgt für Massenvertrieb [!] der Broschüre ›Liebe verboten‹«, in weiteren Ausgaben wurde diese ebenfalls als empfehlenswerte Literatur benannt. Am 23.12.1931 wies die IFA-Reichsfraktion in einem Schreiben an alle Bezirksfraktionen sowie an alle KPD-Bezirksleitungen auf die Wichtigkeit der Broschüre hin (BA RY1/14/11/3, Bl. 293). Von Liebe verboten entstand schließlich sogar ein Lichtbildstreifen, den – so hieß es noch im Dezember 1932 – »jede proletarische, sexualpolitische Organisation vorführen muß« (Die Warte Dezember 1932, S. 16).194 Die positive Aufnahme Reichs wird auch illustriert durch die Tatsache, dass die IFA-Reichsleitung zur Diskussion seines »Entwurfs« zum 17.6.1931 in ihre zentralen Räume in der Münzstraße in Berlin-Mitte eingeladen hatte (BA RY1/14/13/3).195 Hier befanden sich zugleich der Sitz des »Vorbereitenden Einheitskomitees für die Einheit aller sexualpolitischen Organisationen« sowie der Verlag für Arbeiterkultur, das Sekretariat des Freidenkerbundes und die Geschäftsstelle des Fichte-Sportbundes (Rote Fahne, 17.3.1931, S. 14, 20.11.1932, S. 19). Auch nach diesem Treffen bezog man sich auf Reichs Entwurf: Die IFA-Leitung lud die ARSO-Chefs Schröter und Rädel196 für den 17.7.1931 zu einer Aussprache über die »sexualpolitische Plattform« ein (BA RY1/14/11/3, Bl. 267). Reich wurde auch direkt in die IFA-Arbeit einbezogen: Ein nicht vor September 1931 entstandener IFA-Bericht benannte ihn als einen von zwei Bearbeitern des benötigten »Referentenmaterials« zu »Ehe, Familie« (BA RY1/14/13/5, Bl. 15). Im Freidenkermaterial »Kampagnenplan und Richtlinien für die Arbeit in den sexualpolitischen Organisationen«, entstanden nicht vor Juli 1931, wird auf für diese Ziele wesentliche Literatur hingewiesen. Reich ist sowohl mit Sexualerregung und Sexualbefriedigung als auch mit Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral vertreten. Erneut wird zudem Liebe verboten aufgeführt. Diese Schriften waren allesamt über den Verlag für Arbeiterkultur zu beziehen (BA RY1/14/11, Bl. 125). Reich bestimmte also von Anbeginn der EV-Arbeit in erheblichem Maß deren 194 Im »Bezirk Niederrhein« war dies u. a. zu Beginn des Jahres 1932 geschehen, als im Düsseldorfer Stadtteil Wersten eine neue Ortsgruppe gegründet wurde (Die Warte Nr. 3 1932, S. 14). 195 Eine handschriftliche Korrektur auf der Einladung legt nahe, dass es auf den 26.6. verschoben wurde. Der Text des Entwurfes findet sich auch in Reich 1934. Reichs Unterlagen beinhalten eine Stellungnahme, in der diese Plattform als unmarxistisch kritisiert wurde (AOI, Orgone Institute, Box 5, German sexpol 1930–32). Leider fehlen Verweise auf Autor und Entstehungsdatum. Es ist auch nicht völlig auszuschließen, dass sich diese Kritik gegen die Weltliga-Plattform richtete. 196 Siegfried Rädel (1893–1943), siehe Weber/Herbst 2008, S. 696f.
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inhaltliche Ausrichtung mit und wirkte mit seinen Konzepten über die Grenzen dieses Vereins hinaus. Seine eigenen Schilderungen legen dies ohnehin nahe: »Alle waren über die Brauchbarkeit meiner Plattform einer Meinung, man erwartete sich viel davon.« Auch bei der KPD-Leitung habe er sich »großer Anerkennung« erfreut (Reich 1995, S. 164). Möglicherweise war damit u. a. Theodor Neubauer (1890–1945) gemeint. Er hatte von 1924 bis 1930 in Düsseldorf als Chefredakteur der Freiheit und niederrheinischer Bezirksleiter der KPD gewirkt, war dann im KP-Zentralkomitee zuständig für Auslandspolitik, zeitweise auch für Soziales (vgl. Weber/Herbst 2008, S. 631f.; Krinn 2007, S. 294–300). Reich hat ihn in seinen autobiografischen Aufzeichnungen als »Freund« bezeichnet – eine Aussage, die mir 2015 der Enkel Neubauers bestätigen konnte. Reich (1995, S. 160) verweist auf die Übereinstimmung zwischen ihm und Neubauer bezüglich der Beurteilung dogmatischer KP-Funktionäre: »Mein Freund Neugebauer [sic], der Reichstagsabgeordneter der kommunistischen Fraktion und ein glänzender, wissenschaftlich geschulter Soziologe und ein anständiger Kerl war, sagte mir einmal: ›Was soll man denn tun? Hinauswerfen müsste man sie eigentlich, doch kommt Besseres nach? Uns fehlt die geschulte Intelligenz. Vorläufig bleibt nichts anderes, als die Zähne zusammenzubeißen.‹«197
Welche Rolle spielte aber die »Reichsleitung«, die Reich im Zusammenhang mit dem EV erwähnt und zu der auch er gehörte (Reich 1995, S. 164)? Laut Reich bestand dieses Gremium aus sechs Personen, allesamt Kommunisten. Da waren seinen Worten zufolge zunächst er selbst als »sexualpolitischer Leiter« sowie zwei weitere Ärzte: der wie erwähnt wohl schon im Verein sozialistischer Ärzte mit Reich zusammengetroffene Leo Friedländer und Henriette (Reni) Begun, beide auch als MASCH-Dozenten tätig (Gerhard-Sonnenberg 1976, S. 195). Hinzu kamen laut Reich als »organisatorische und politische« Leiter die IFAVorsitzenden Schneider und Bischoff. Sogar die Dachorganisation ARSO war hochrangig vertreten: durch deren Chef Johannes Schröter.198 Da Schröter auch 197 Im Sommer 1932 hatte Neubauer auch mit Wilhelm und Annie Reich ein Wochenende an der Ostsee verbracht. Am 10.7.1932 schrieb Neubauer dazu an seine Frau Elisabeth: »Mit Reichs war ich an der Ostsee. Ich fuhr Ihnen mit der Bahn nach, weil ich am Nachmittag noch ein paar Stunden zu arbeiten hatte, traf sie in Ducherow vor Anklam, wo sie mich am Bahnhof erwarteten, und war den nächsten Tag mit ihnen zusammen: Swinemünde, Bansin, Zinowitz. Leider keine Sonne. Aber gebadet haben wir doch« (BA NY 4041, Nachlass Theodor Neubauer, Korrespondenzen). 198 Reich schreibt in den Archivdokumenten zwar »Schröder«, benennt aber zugleich eben einen KPD-Reichstagsabgeordneten als sechste Person. Einen KPD-Reichstagsabgeordne-
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Ehemann von Henriette Begun war (Weber/Herbst 2008, S. 834), lässt sich sagen: Die »Reichsleitung« war gekennzeichnet durch eine konfliktträchtige Verschachtelung von Kompetenzen und Beziehungen. Die auffallende Konzentration höherer Funktionäre belegt zugleich, dass von KP-Seite diesem Gremium und dessen Verantwortungsbereich Bedeutung beigemessen wurde. Im Statut des Düsseldorfer EV ist eine solche überregionale Führungsinstanz allerdings gar nicht vorgesehen. Sie ist auch nicht gleichzusetzen mit einem neu gewählten Vereinsvorstand, der die provisorische Leitung ersetzt hätte: Der Verein wurde Zeit seines Bestehens von Düsseldorf aus geleitet.199 Was war dann aber die »Reichsleitung«? Hier ist zunächst einmal wichtig: Es blieb nicht beim Düsseldorfer EV. Möglicherweise weil die gesamtdeutsche Sexualreformorganisation auf sich warten ließ, wurden mit offenbar identischem Titel in anderen Regionen weitere Vereine gegründet. So entstand für die Region Ruhrgebiet ein eigener »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« mit Sitz in Essen.200 Dessen Statut stimmte mit dem des niederrheinischen EV – den Reich übrigens meist als »Westdeutschen Verband« vom Rest der Organisation abgrenzte – auch nicht völlig überein. Die gravierendste inhaltliche Abweichung war, dass nicht auf Reichs »Aktionsprogramm« ten Schröder hat es jedoch nicht gegeben. Auch keinen anderen Schröter. Auch Begun schreibt Reich anders: »Beguhn«. Und Schneider gibt er den Vornamen Fritz. Dies scheint mir jedoch – Jahre danach und im Exil, teils aus der Erinnerung geschrieben – verständlich. Friedländers Vorname taucht bei Reich nicht auf, auf Leo (und nur auf ihn) passen aber die anderen Details (siehe Weber/Herbst 2008, S. 117f., 267, 834). Auch der vor allem publizistisch tätige Paul Friedländer (ebd., S. 267f.) taucht im Zusammenhang mit Reich auf: als Redakteur des Marxist und MASCH-Dozent. 199 Noch neun Monate nach Vereinsgründung, am 15.2.1932, notierte die gut informierte Polizei: »Geleitet wird die Vereinigung von Frau Luise Dornemann, Düsseldorf, Immermannstraße 24. Diese, der Kassierer Alfred Manisch, Düsseldorf, Nordstraße 73, und der Schriftführer Otto Illinger, Düsseldorf, Immermannstraße 24, bilden den Vorstand« (BA R 1501/20979, Bl. 27). Damit waren zugleich alle wesentlichen, im Statut benannten Leitungsposten erfasst – ohne dass ein Mitglied der »Reichsleitung« genannt worden war. Und noch während der am 26.5.1933 erfolgten Beschlagnahme des Eigentums des Düsseldorfer EV durch den NS-Staat wurde im Protokoll »Richard Beck, Düsseldorf, Bahnstraße 70«, als Vereinsleiter bezeichnet, versehen mit dem Zusatz »z.Zt. Konzentrationslager Börgermoor« (von Soden 1988, S. 150). Weitere Informationen über Beck ebd., S. 155. 2015 an Düsseldorfer Archive gerichtete Anfragen brachten keine zusätzlichen Informationen über die EV-Leitungsmitglieder zutage. 200 Als Adresse wird angegeben: »Landesleitung Ruhrgebiet, Essen, Friedrich-Ebert-Strasse 69«.
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hingewiesen wurde.201 Weitere dieser EVs mit eigenen Leitungen entstanden, so kann man aus der Warte schließen, zumindest in Sachsen sowie in den Regionen Halle-Merseburg, Mittelrhein und Berlin. Diese verschiedenen EVs verstanden sich aber offenkundig als zusammenwirkende Einheit, über deren Regionalverbände auch in der Warte berichtet wurde. Ich werde daher im Weiteren vom Gesamt-EV sprechen, wenn ich diese überregionale Einheit meine. Schon die Existenz dieser formal voneinander unabhängigen Vereine, erst recht der angestrebte noch größere Zusammenschluss erforderte eine koordinierende Instanz. Dem diente augenscheinlich das schon erwähnte »Vorbereitende Einheitskomitee für die Einheit aller sexualpolitischen Organisationen«. Und genau das war die »Reichsleitung«.202 Die von Reich benannten ärztlichen Leitungs- bzw. Komiteemitglieder einschließlich ihm selbst scheinen dabei das fachliche Expertenteam gewesen zu sein, das die politischen Leiter – Bischoff und Schneider – beraten und unterstützen sollte.203 Vielleicht stand die gesamte Gruppe auch bereit, um die Führung der erst zu schaffenden, übergreifenden Einheitsorganisation zu übernehmen. Die Komiteemitglieder traten allerdings bereits öffentlich in Erscheinung und beteiligten sich an der Arbeit des Gesamt-EV. In der Warte wurde als Kontaktadresse des Komitees genannt: »(Zimmer 162) Berlin C2, Burgstraße 28 V«. Nicht nur für Bischoff und Schneider, sondern auch für Reich weist die Warte Auftritte bei Versammlungen nach. So konnte man im Dezember 1931 unter der Überschrift »Sexualnot und ihr Ausweg« lesen: »Zu diesem Thema sprach im Bezirk Niederrhein Dr. Reich, Berlin, in vier Veranstaltungen. Der Referent verstand es, alle die Fragen, die auf der Mehrzahl der Menschen lasten und die infolge der heutigen Sexualerziehung nie ausgesprochen werden, klar und einfach zu behandeln und die Hemmungen seiner Zuhörer zu lösen.«
Reich berichtet, er sei mehrfach in die ursprüngliche EV-Gründungsregion um Düsseldorf gereist,204 er und andere Mitstreiter, also vielleicht auch Komiteemit201 Die Satzung dieses EV wurde mir am 4.6.2012 vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt. 202 Das wird u. a. dadurch belegt, dass beide Bezeichnung synonym verwendet wurden. So ist ein Statement in der Warte Nr. 6/1932, S. 14 unterschrieben mit »Vorbereitendes Einheitskomitee, Reichsleitung«. In der Warte Nr. 7/1932, S. 13 ist von Fritz Bischoff als »Reichsleiter des Vorbereitenden Einheitskomitees« die Rede. 203 Dafür, dass Reich innerhalb dieses Komitees in erster Linie informelle Aufgaben hatte, spricht auch seine Mitteilung, dass er in Deutschland »nie ein offizielles Amt bekleidet« habe (Reich 1995, S. 198). 204 In Reich (1995, S. 165) erwähnt er einen Aufenthalt im Ruhrgebiet.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
glieder, seien außerdem im Auftrag des EV nach »Oranienburg, Jüterbog, Dresden, Frankfurt, Steglitz, Stettin u.s.f.« gereist (Reich 1934c, S. 251). Spätestens205 ab der Ausgabe vom November 1931 trat das Komitee zudem als Herausgeber der Warte auf, sowohl Reni Begun wie auch Reich veröffentlichten dort wiederholt.
1.4.5
Weitere EV-Aktivitäten: Sexualberatung und die Warte
Schon am 2.5.1931 war vom neu gegründeten Düsseldorfer EV beschlossen worden, die zuvor vom Bund bewußter Sexualreformer herausgegebene Warte zur Vereinszeitschrift zu machen (Die Warte 5/6 1931, S. 5). Nun hatte sie den Untertitel Kampforgan für proletarische Sexualpolitik und für die Herstellung der Einheit aller sexualpolitischen Organisationen.206 Für die Warte wurden 1931 IFA-intern Auflagenhöhen angegeben, die von 4.000 im Mai auf 8.500 im August stiegen (BA RY1/14/13/5, Bl. 14).207 Damit lag sie weit über den Auflagenzahlen psychoanalytischer Zeitschriften: Das Zentralblatt für Psychoanalyse startete 1911 mit einer Abonnentenzahl von 100, die innerhalb eines Jahres auf 350 stieg (IPV-Korrespondenzblatt 2/1912, S. 235). Für das 1920 gegründete International Journal of Psychoanalysis benannte Eitingon 1932 eine Auflagenhöhe von 500 (IZP-Korrespondenzblatt 1933/19, S. 258).208 Inhaltlich war die Warte so angelegt, dass ein weiter Kreis von Leserinnen und Lesern angesprochen wurde. Auflagenhöhe und Wirksamkeit dürften auch deshalb 205 Die Ausgaben der Warte vom Juli bis Oktober 1931 waren in den von mir genutzten Archiven nicht vorhanden. Weitere Recherchen ergaben auch keine anderen Orte, an denen ich sie hätte einsehen können. Gesichtet habe ich die Ausgaben 4/5 (unvollständig), 5/6, 11, 12 von 1931, 1 (unvollständig) und 2 (unvollständig), 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 von 1932. Die meisten dieser Ausgaben befinden sich im Bibliotheksbestand des Bundesarchivs in Berlin, Auszüge aus anderen stellte mir Marc Rackelmann zur Verfügung. 206 Gedruckt wurde die Warte ebenfalls in Düsseldorf: in den Westdeutschen Buchwerkstätten, Kölner Str. 44, einem Zentrum kommunistischer Aktivitäten. Hier befanden sich Parteizentrale und Bezirksleitung Niederrhein der KPD, hatten u. a. Kommunistischer Jugendverband und Kampfbund gegen den Faschismus ihren Sitz. Auch die KP-Zeitung Freiheit wurde hier im Freien Verlag Düsseldorf hergestellt (Fladung 1986, S. 104; Fleermann 2010, S. 13). 207 An einer anderen Stelle im selben Dokument ist allerdings von Juni bis September ein Anstieg von 6.000 auf 7.900 vermerkt (ebd., Bl. 20). 208 Zu anderen psychoanalytischen Periodika habe ich diesbezüglich keine Informationen gefunden, ich kann mir aber schwer vorstellen, dass sie so weit darüber lagen, dass sie den Stand der Warte erreicht hätten.
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weiter gestiegen sein, weil die Verbreitung der Warte durch entsprechende Beschlüsse innerhalb des Gesamt-EV gefördert wurde. Am 20.9.1932 war beispielsweise in einem – vermutlich von der Berliner EV-Sektion verfassten – Rundschreiben zu lesen, dass der November zum »Werbemonat« ausgerufen sei. 50.000 Exemplare eines Werbeflugblatts sollten gedruckt, die Warte »in mit uns sympathesierenden [sic] Lokalen« ausgehängt werden. Jedes Mitglied oder zumindest jeder Funktionär »muss Zeitungen und kleine Broschüren stets bei sich tragen und sie Bekannte [sic] anbieten. Gemeint sind Strassen- oder Hausbekannte, Betriebskollegen(ginnen) [sic]. […] Verkauf der Warte vor Betriebe [sic] besonders Frauenbetriebe organisieren und einen ständigen Leserkreis schaffen« (AOI).209
Die Psychoanalytiker bzw. Psychoanalytikerinnen, die in der Warte schrieben – Annie Reich,210 Edith Jacobssohn,211 Wilhelm Reich – konnten somit eine recht große Zahl von Leserinnen und Lesern erreichen. Allerdings nur mit relativ kurzen, meist auf lebenspraktische Fragen ausgerichteten Beiträgen. Wilhelm Reich veröffentlichte hier mehrere Artikel: in der Ausgabe vom April/ Mai 1931, wie erwähnt, seine sexualpolitische Plattform für die Weltliga, außerdem Das bewußte sexuelle Leiden als Hebel der sozialen Revolution,212 Auflösung der Familie?,213 Die Sexualstörungen der Frau sowie Das Wesen der Homosexualität (Die Warte 5/6 und 12/1931, 2/1932). Bei den beiden Letzteren handelte es sich um Auszüge aus Reichs Schrift Der sexuelle Kampf der Jugend aus dem Jahr 1932.214 Mehrere nicht namentlich gekennzeichnete Beiträge dürften, so legen spezifische Formulierungen nahe, darüber hinaus von ihm verfasst oder zumindest mitverfasst worden sein – wie z.B. Fragen und Antworten, Aus den Beratungsstellen: Nervöse Angst vor Schutzmitteln, Aus der Beratungsstelle Wedding sowie eine Antwort in der Rubrik »Unser Arzt antwortet« (Die Warte 12/1931, 1, 2 und 12/1932).215 AOI, Orgone Institute, Box 5, German sexpol 1930–32. Kläre dein Kind auf!, in Die Warte 3/1932. Warum fällt es der Mutter schwer, ihr Kind sexuell aufzuklären?, in Die Warte 8/1932. Unter dem für Reich auch später gebräuchlichen Pseudonym »Ernst Roner«. Gezeichnet mit »Dr. W. R.«. In Der sexuelle Kampf der Jugend handelt es sich dann um die Seiten 52–56 (»Die Sexualstörungen der Frau«) bzw. 72–77 (»Das Wesen der Homosexualität«). Geringfügige Abweichungen zwischen Artikel- und Buchfassung, wie das Ansprechen von »Frauen« in der Warte statt »Mädels« im Buch, könnten sowohl etwas mit den unterschiedlichen Zielgruppen zu tun haben als auch Resultat weiterer Arbeit am Text sein. 215 Auch der Beitrag Bürgerliche Sexualmoral/Ein Fall aus der Praxis (Die Warte 6/1932) klingt sehr nach Reich, ist allerdings unterzeichnet mit »Dr. L.H.«. Da mir aber kein »L.H.« in diesem Zusammenhang geläufig ist und man in der Warte offenbar großzügigen Gebrauch 209 210 211 212 213 214
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Auch auf die Psychoanalyse wurde hier mehrmals verwiesen. Im letztgenannten Beitrag las man zum Beispiel erneut – wie schon in Reichs »Plattformen« –, dass »60 Prozent aller Männer und 90 Prozent aller Frauen« sexuell gestört seien und allgemeine Heilung nur durch Veränderung der Gesellschaftsordnung möglich sei. Nur in Einzelfällen – auch das eine für Reich typische Formulierung – könnten schon jetzt solche Störungen »durch langwierige psychoanalytische Behandlung behoben oder geheilt werden« (ebd., S. 7). Sicher erscheint mir Reichs Autorenschaft aufgrund von Inhalt und Wortwahl auch bei Was ist Psychoanalyse?.216 Diesen Artikel beenden die Sätze: »Die Psychoanalyse ist die einzige wirkliche naturwissenschaftliche Lehre vom Seelenleben. Sie fußt auf Tatsachen und Beobachtungen. Sie erst hat uns das Verständnis der seelischen Vorgänge im Menschen erschlossen« (Die Warte 1/1932, S. 13). Dass gerade dieser Beitrag nicht namentlich gezeichnet war, könnte erneut darauf hinweisen, dass nicht allzu deutlich werden sollte, dass sich nun ein Psychoanalytiker führend an einer der KPD-Massenorganisationen beteiligte. Ebenfalls ohne Nennung seines Namens wurden in der Warte 2/1932, S. 3f. einige der radikaleren Forderungen Reichs wiedergegeben: »Abschaffung aller bürgerlich-kapitalistischen Bestimmungen über Eheschließung und -trennung«, gesellschaftliche Kindererziehung, Wohnverhältnisse, die »ein hygienisches Sexualleben« ermöglichen (»Erster Schritt: Enteignung des Haus- und Grundbesitzes«), Beendigung der Verfolgung von Prostituierten und »restlose sexuelle Aufklärung der Jugend« im »naturwissenschaftlichen« Schulunterricht. Dass hier auf die angebliche Autorenschaft des »Vorbereitenden Einheitskomitees« verwiesen wurde, belegt zusätzlich Reichs Zugehörigkeit zu diesem Gremium. Andere Warte-Beiträge dürften aufgrund von Vorschlägen Reichs aufgenommen worden sein, so der Malinowski-Auszug »Das Geschlechtsleben der Wilden« und ein Abschnitt aus Engels’ Der Ursprung der Familie (Die Warte 2/1932). Beides war Literatur, mit der sich Reich gerade in dieser Zeit intensiv auseinandersetzte. Reich war jedenfalls auch in der Warte recht aktiv und scheint auf deren Inhalt größeren Einfluss genommen zu haben als alle anderen dort identifizierbaren Autoren. Dass seine Ideen bei der Leserschaft dieser Zeitschrift auf Resonanz stießen, belegt wohl auch eine Diskussion, die Ende 1932 dort wiedergegeben wurde. In der Novemberausgabe hatte der Arzt Wilhelm Swienty217 in teils psychoanalytivon unterschiedlichsten Pseudonymen machte, will ich nicht ausschließen, dass auch hier Reich der Autor war. 216 Erstmals macht wohl Bahnen auf Reichs Urheberschaft und in diesem Zusammenhang auf die Warte aufmerksam (Bahnen 1986, S. 97, Fn 1 und Bahnen 1988, S. 7). 217 W. Swienty (24.11.1900 –?), Sohn des gleichnamigen Schwiegersohnes von Wilhelm Lieb-
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scher Weise über die »Gefühlskälte« von Frauen geurteilt und neben biologischen Gründen vor allem Erfahrungen der frühen Kindheit dafür als Ursache angegeben (Die Warte 11/1932, S. 6f.). In der Dezemberausgabe teilte ein Kreis »von Funktionären der Bezirke Ruhrgebiet, Niederrhein und Mittelrhein« unter Verwendung sehr nach Reich klingender Argumente mit, Swientys Begründungen gingen am Kern der Sache vorbei, da sie Sexualerziehung, Umgang der Geschlechter untereinander sowie häusliche und wirtschaftliche Lebensverhältnisse außer Acht ließen (Die Warte 12/1932, S. 14).218 Reichs Bekanntheit und dem Absatz seiner Bücher muss auch genutzt haben, dass in der Warte für seine Schriften geworben wurde. Als »Bücher, die wir empfehlen!« wurden im November 1931 benannt: Sexualerregung und Sexualbefriedigung und Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral von Wilhelm Reich sowie Ist Abtreibung schädlich? von Annie Reich und Marie Frischauf (ebd. 11/1931, S. 6). In der Rubrik »Literatur, die du brauchst!« tauchten im Oktober 1932 auf: Der Einbruch der Sexualmoral und Der sexuelle Kampf der Jugend sowie Annie Reichs Wenn dein Kind dich fragt (ebd. 10/1932, S. 12).219 Dazu war in dieser Anzeige vermerkt: »Zu haben bei allen Funktionären oder direkt beim Verlag für Sexualpolitik und Sozialhygiene, F.C. Richter, Leipzig O 27, Lochmannstraße 2« – also bei jenem Verlag, der seit Herbst 1932220 auch die Warte herausbrachte. Diese unbürokratische Weitergabe der empfohlenen Literatur dürfte dazu beigetragen haben, dass Reich über das Buch seiner Frau festhalten konnte, es »wurde uns buchstäblich aus den Händen gerissen. Tausende Exemplare gingen ab« (Reich 1995, S. 168). Schon wegen der KP-Anbindung, erst recht wegen ihrer breiten Resonanz, dürfte die Warte frühzeitig unter Polizeikontrolle gestanden haben. Es verwundert daher nicht, dass es in Düsseldorf zumindest einmal zu einem Verbot der Zeitschrift kam. Zur Begründung wurde offenbar der Paragraph 184 des Reichsstrafgesetzbuches herangezogen, der sich gegen die Verbreitung pornografischer Schriften und Darstellungen richtetet und als Strafe Gefängnis bis zu einem Jahr, knecht, Mitglied der Liga für Mutterschutz, Vorsitzender der KPD-Ärztefraktion im Reichstag, 1933 als KPD-Bezirksverordneter aufgestellt und im März 1933 tatsächlich auch gewählt. Er veröffentlichte mehrfach Artikel in der Roten Fahne zu sozialen Themen. Später galt er als Trotzkist (Grundmann 2004, S. 650). 218 Darauf macht auch Marc Rackelmann (1992, S. 60) aufmerksam. 219 Hier fälschlich als »Wie sag ichs meinem Kinde« bezeichnet. 220 Zuvor war der Westdeutsche Arbeiterverlag in Düsseldorf angegeben, dessen Sitz sich zunächst in der Immermannstraße 24, dann Charlottenstraße 53, später Charlottenstraße 9 befand.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Geldstrafe bis zu 1.000 Mark, den Verlust bürgerlicher Ehrenrechte und Polizeiaufsicht androhte. Ausgelöst wurde diese Sanktion durch den in der JanuarAusgabe von 1932 erschienenen Beitrag »Nervöse Angst vor Schutzmitteln« – der ja, wie erwähnt, offenkundig von Reich verfasst worden war. Damit war nach Sexualerregung und Sexualbefriedigung zum zweiten Mal ein Text Reichs in Deutschland verboten worden.221 Reich gründete und leitete auch mehrere Berliner Sexualberatungsstellen. Über sie wurde wiederholt in der Warte Mitteilung gemacht. Erstmals hieß es in der Novemberausgabe 1931: »Das Einheitskomitee für proletarische Sexualreform hat im Oktober in Berlin drei Sexualberatungsstellen, die von geschulten Ärzten geleitet werden, eröffnet […]: Norden: Dienstag, 6–8 Uhr, Müllerstraße 143a, 1 Treppe Osten: Dienstag, 6–7.30 Uhr, Kadiner Straße 17. (Lokal ›Welt am Abend‹.222) Zentrum: 6–8 Uhr, Kronprinzenufer 23, parterre links« (Die Warte 11/1931, S. 10).
Im März 1932 wurden – zusätzlich zur Müllerstraße – zwei andere Adressen angegeben: »Lichtenberg, Friedrich-Karl-Straße 23, Freitags, 7–9 Uhr« und »Mitte, Friedrichstraße 121, 3 Treppen rechts, Mittwochs von 5–7 Uhr« (ebd. 3/1932, S. 16).223 Auch die Psychoanalytikerin Edith Jacobssohn beteiligte sich 221 In der Warte 6/1932, S. 14 wurde mitgeteilt, dass sowohl der Verleger der Warte als auch Redakteurin Luise Dornemann einen entsprechenden Strafbefehl erhalten hatten, gegen den sie »sofort Einspruch erhoben«. Wie das Verfahren ausging, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Auch dieser Vorgang könnte die Spannungen zwischen Dornemann und Reich verstärkt haben. 222 Möglicherweise ein Hinweis auf eine Kooperation zwischen dem Berliner EV und der Zeitung Welt am Abend. 223 Die »Charlottenburger Schloßstraße«, in der Ernest Bornemann meint, beraten zu haben, wird in den von mir durchgesehenen Warte-Ausgaben nie aufgeführt. Auch Marc Rackelmann fand sie dort nicht (Rackelmann 1992, S. 57f.). Borneman hat darüber hinaus mitgeteilt, er habe Anfang der 1930er Jahre – 16-jährig – in dieser Beratungsstelle mitgearbeitet. Daran knüpfte er mehrere kritische Aussagen über Reichs Charakter, behauptete, er habe mit ihm auch später kooperiert, Reich habe 1934 bei der Broschüre Was ist Klassenbewusstsein? Bornemans Anteil unterschlagen. Detlef Siegfrieds 2015 veröffentlichte Borneman-Biografie (Siegfried 2015) fordert eine Neubewertung dieser Aussagen. Siegfried, der ohnehin vielfach von Bornemans fragwürdiger Selbstinszenierung, von seiner Hochstapelei, erfundenen Kontakten und Qualifikationen zu berichten hat, stellte fest: Nachweislich begann Borneman 1971, Reichs Bücher intensiv zu studieren. In Bornemans diversen, auch autobiografisch gefärbten Veröffentlichungen vor 1977 ist nie von Kontakten zu Reich die Rede. Erst als er sich nach Jazz und Film nun der Sexualforschung zuwandte
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an der Beratungstätigkeit (Sharaf 1996, S. 165). Der Arzt und Sexualreformer Hans Lehfeldt berichtete 1932: »Die Beratungsstellen des Einheitsverbandes in Berlin, die von Dr. Reich gegründet wurden, haben die psychoanalytische Behandlung von Sexualkonflikten zu ihrer besonderen Aufgabe gemacht« (Lehfeld 1932, S. 70). Insofern könnten sich hier – wie schon in Wien – auch noch andere, vor allem wohl »linke« Psychoanalytiker beteiligt haben. Da die Einheitsverbände in mehreren deutschen Regionen Beratungsstellen aufbauten, Verhütungsmittel verteilten und Veranstaltungen organisierten, scheint es glaubwürdig, wenn die ARSO-Leitung Ende 1931 wohl bezüglich des Düsseldorfer EV in einem Brief festhielt, dieser habe »in der letzten Zeit einen gewaltigen Aufschwung erlebt« (BA RY1/14/11/4, Bl. 29). Aber wie viele Menschen schlossen sich dem Gesamt-EV tatsächlich an?
1.4.6
Massenorganisation oder »kleine Splittergruppe«?
Reich schreibt 1934, der erste EV-Kongress oder der Verein selbst – seine Formulierung ist hier noch nicht eindeutig – »erfasste mit einem Schlage rund 20.000 Mitglieder« (Reich 1934, S. 263). In Menschen im Staat, später geschrieben und noch später überarbeitet, wird er konkreter. Hier heißt es nun, der erste EV-Kongress habe »etwa 20.000 Mitglieder in zusammen etwa acht Verbänden erfasst« (Reich 1995, S. 164). Im Laufe eines Jahres seien »Einheitsorganisationen auch in Leipzig, Dresden, Stettin etc.« entstanden – womit er sich auf weitere Gründungen von EVs oder von EV-Ortsverbänden bezogen haben dürfte. Die »Bewegung«, so Reich weiter, habe »rasch um sich« gegriffen: »Innerhalb weniger Monate zählte sie bereits das Doppelte, etwa 40.000 Mitglieder« (ebd.). Peter Bahnen hat diese Zahlen angezweifelt (Bahnen 1986, S. 83–90) und sie, und Wert darauf legte, hier ebenfalls als Autorität zu gelten (wohl auch der Grund, warum er sich eine Lehranalyse bei Géza Róheim erdichtete; ebd., S. 301), »hat Borneman seine angebliche Beziehung zu Wilhelm Reich ausführlich geschildert«. Da Siegfried zudem für keine einzige der Angaben, die Borneman über diese Beziehung machte, Belege fand, schließt er: »Wer weiß, […] ob es sie überhaupt gegeben hat. Borneman selbst gab einen Hinweis auf den fiktiven Charakter seiner Darstellung, indem er mögliche Widersprüche zu Reich-Biografien mit Erinnerungslücken erklärte und einräumte, in einem solchen Falle ›vermag ich auch nicht zu sagen, wer hier recht oder unrecht hat‹. Seine Darstellung sei geschrieben auf die Gefahr hin, ›Deckerinnerungen‹ zu veröffentlichen« (ebd., S. 269). Auf Aussagen Bornemans werde ich daher im Folgenden nur noch in einigen Fußnoten kurz verweisen.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
zusammen mit weiteren, angeblich oder tatsächlich falschen quantitativen Angaben Reichs genutzt, um ihn zu pathologisieren: Der »Zug, alles zu übertreiben und zu dramatisieren, der in Reichs freigiebigem Umgang mit Zahlenangaben zum Ausdruck kommt, in Verbindung mit dem […] ans Wahnhafte streifenden Drang, die Größe und Bedeutung des eigenen Wissens aufzublähen, macht sich gerade bei Angaben über seine Organisationen bemerkbar« (ebd., S. 86f.).
In einem späteren Beitrag hat sich Bahnen sogar – diesmal ohne jegliche Begründung oder Quelle – recht genau festgelegt: »Der KPD-Verband blieb eine kleine Splittergruppe mit etwa 3000 Mitgliedern. Alle höheren Zahlenangaben […] entbehren jeder Grundlage und sind Ausdruck jener Größenphantasien, die Reich in seinen autobiographischen Schriften publizierte« (Bahnen 1988, S. 8). Auch Marc Rackelmann suchte vergeblich nach Belegen für die von Reich angegebenen Zahlen und hielt es daher für möglich, dass Reich hier übertrieben hat. Rackelmann veranschlagte die reale Größe des EV – er wie auch Bahnen haben die Existenz mehrerer EVs nicht eruiert – »zumindest 1931« auf »deutlich unter 10.000« (Rackelmann 1992, S. 54). Dafür gab er eine schlüssige Begründung: Wenn im August 1931 nur 8.500 Exemplare der Vereinszeitschrift Die Warte gedruckt wurden, dürfte es wohl zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als 8.500 Mitglieder gegeben haben – denn jedes Mitglied sollte doch sicher ein Exemplar erhalten.224 Da es hier sowohl um die tatsächliche Wirksamkeit des Gesamt-EV als auch um die Glaubwürdigkeit Wilhelm Reichs geht, will ich darauf näher eingehen. Zur deutschen Sexualreformbewegung insgesamt gibt es teils übereinstimmende, teils sich widersprechende Zahlenangaben.225 In der Broschüre Liebe verboten, 224 Wahrscheinlich wurden sogar mehr Zeitungen gedruckt, als es Mitglieder gab: Man nutzte die Warte ja auch zur Popularisierung der eigenen Ideen. Allerdings gab es Exemplare, die als Mitgliederausgabe gekennzeichnet waren, und solche ohne diesen Vermerk. Inhaltlich scheinen sie sich nicht unterschieden zu haben. Ob beide Kategorien in der Zahl 8.500 erfasst waren, kann ich nicht sagen. 225 Das 2010 erschienene Buch von Katharina Gröning über Entwickungslinien pädagogischer Beratungsarbeit thematisiert zwar die Sexualreformbewegung, enthält hierzu aber so krasse Fehldarstellungen, dass ich nicht weiter darauf eingehe. Nur einige Beispiele: Nachdem der Düsseldorfer EV erwähnt wurde, werden im nächsten Unterkapitel sowohl EVBeratungsstellen wie auch die Warte – ohne Quellenangabe – der in Wirklichkeit gänzlich vom EV getrennten Gesellschaft für Sexualreform (Gesex) zugeschlagen. Die Gesex wird
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S. 16 ist von 300.000 Mitgliedern der Sexualreform- und Geburtenregelungsvereine die Rede. Diese Personengruppe hatte sicherlich auch Reich vor Augen, wenn er schrieb: »Deutschland umfasste 1930 etwa achtzig verschieden aufgebaute, gesondert geführte und gegeneinander oft feindliche sexualpolitische Organisationen mit zusammen etwa 350.000 Mitgliedern« (Reich 1995, S. 163).226 Einem Polizeibericht vom 13.4.1931 lässt sich die damalige Einschätzung der IFA-Leitung entnehmen: »In Deutschland existieren in allen Bezirken derartige [Sexual-]Organisationen, die wie Pilze aus der Erde schiessen und in ihren Reihen hunderttausende von Mitgliedern haben. In Berlin zählt die Organisation ca. 70.000 Mitglieder« (BA R1501/20678, Bl. 395). In Liebe verboten, S. 19 werden die Mitglieder der reinen Sexualreformverbände in Gesamtdeutschland (also ohne die Geburtenregelungsvereine) noch einmal gesondert mit 150.000 beziffert. Diese Zahl nennt auch ein Polizeibericht vom 15.8.1931 (BA R1501/20678, Bl. 428). Atina Grossmann betont ebenfalls, dass gerade diese Mitgliederzahl oft mitgeteilt wurde (Grossmann 1995, S. 14, Fn 4). Hans Lehfeldt verweist in seinem Artikel von 1932 auf »ungefähr 113.000« von den Verbänden insgesamt angegebene Mitglieder, ergänzt jedoch: »Die tatsächliche Zahl ist aber wesentlich höher, einmal weil mehrere Splitterorganisationen unberücksichtigt geblieben sind, vor allem aber weil bei einigen Verbänden die Ehefrauen der Mitglieder, die sich oft besonders aktiv in der Bewegung betätigen, wohl nicht berücksichtigt werden« (Lehfeldt 1932, S. 85). Aus Lehfeldts Artikel stammt ebenfalls die mit keiner Zeitangabe verbundene Einschätzung, der EV habe 3.000 bis 5.000 Mitglieder. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf den niederrheinischen EV (Lehfeld 1932, S. 86). Die Proletarische Sozialpolitik meldete allerdings schon im Juli 1931, zu diesem Einheitsverband gehörten »mehr als 10.000 Mitglieder« (Klockner 1987, S. 223). Eine aus Propagandagründen überhöhte Angabe? Wenn ja, hielt sich die Übertreibung in Grenzen. Polizeiakten bescheinigen dem niederrheinischen EV am 15.2.1932 zum einen, dass er der einzige der von der KPD unterstützten »Sexualverbände« dann plötzlich auch noch mit »der gesamte[n] Sexualreformbewegung« identifiziert. Von der letzteren, also der ganzen in sich zerstrittenen, ideologisch vielgestaltigen, weit mehr christlich oder sozialdemokratisch als kommunistisch orientierten Bewegung wird dann auch noch behauptet, sie sei »von der KPD funktionalisiert« worden. All das scheint ohne jegliches tieferes Verständnis zusammengeschrieben worden zu sein aus einer digitalen Version von Rackelmann 1992 oder 1993, auf die kurz zuvor im Text, allerdings nur in Bezug auf eine Aussage von Ernest Bornemann, verwiesen wird (Gröning 2010, S. 87f.). 226 Er fährt dann fort: »also mehr als irgendeine der großen Parteien«. Damit lag er tatsächlich falsch: Die SPD hatte zu dieser Zeit etwa eine Million Mitglieder. Das ist einer der von Bahnen angegebenen Belege für Reichs angeblich grundsätzliche Unglaubwürdigkeit.
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sei, dem es geglückt sei, »größere Erfolge zu erzielen und z.B. in Düsseldorf die Ortsgruppe der Liga für Mutterschutz zum größten Teil aufzusaugen«. Er »zählt zur Zeit etwa 8000 Mitglieder, davon 1000 in Düsseldorf« (BA R1501/20979, Bl. 27). Aber auch die später gegründeten weiteren EVs warben erfolgreich um Mitglieder. Am 28.6.1932 vermerkte die eine EV-Konferenz der Region Ruhrgebiet227 vom April auswertende Polizei: »Dem Geschäftsbericht nach veränderte sich der Mitgliederbestand vom Ende November 1931, wo in 18 Ortsgruppen 3055 abgerechnete Mitglieder gezählt wurden, auf 6010 Mitglieder in 40 Ortsgruppen am 15. April 1932« (ebd., Bl. 27, 54). Allein im Ruhrgebiet gab es also im April 1932 über 6.000 Mitglieder. In den mir vorliegenden Ausgaben der Warte konnte ich keine Angaben zu Mitgliederzahlen finden. Allerdings werden Angaben zu Ortsgruppen des EV gemacht. Im März 1932 werden für das Ruhrgebiet 33 Ortsgruppen erwähnt,228 im Juli zehn für die Region Niederrhein und im Oktober 22 für Berlin, insgesamt also 65. Doch das sind keine Auflistungen aller Ortsgruppen, sondern nur Informationen darüber, welche von ihnen Veranstaltungen, Beratungen, Verhütungsmittelausgaben oder Ähnliches durchführten. Zudem gab es mindestens in den Unterbezirken Sachsen, Mittelrhein (Die Warte 10/1932, S. 16) sowie Halle-Merseburg (ebd. 12/1932, S. 14) weitere Aktivitäten und somit wohl auch weitere Ortsgruppen. Dass es auch in Berlin nicht bei den 22 Gruppen blieb, belegt ein weiteres Dokument: der Rundbrief der Berliner EV-Bezirksleitung vom Januar 1933. Hatten im Juni 1932 noch 17 Berliner Ortsgruppen 882 Mitglieder, so gab es, hieß es hier, im Dezember bereits 28 Ortsgruppen mit 1.512 Mitgliedern (AOI).229 Das ist, zumal »Ehepaare nur als 1 Mitglied gezählt« wurden, ein Anstieg von fast 80 Prozent in sieben Monaten. Zählen wir die vorliegenden Zahlen zusammen, kommen wir für Ende 1932 auf mindestens 8.000 (Region um Düsseldorf ) plus 6.000 (Ruhrgebiet) plus 1.500 (Berlin), also insgesamt 15.500 durch Dokumente abgesicherte EV-Mitglieder. Da es weitere EVs gab und die Mitgliederzahlen vermutlich insgesamt wuchsen, dürfte die Anzahl für den Gesamt-EV deutlich darüber gelegen haben. Spätestens mit seiner Festlegung auf höchstens 3.000 Mitglieder hat Bahnen sich daher diskreditiert. Rackelmann hingegen dürfte mit seiner Schätzung, dass es 1931 weniger als 10.000 Mitglieder waren, recht haben. Möglicherweise war das sogar noch im Frühjahr 1932 der Stand. 227 Zu diesem als Landeskonferenz bezeichneten Treffen, das am 16. und 17.4.1932 in Essen stattfand, wurde in der Warte 4/1932, S. 15 eingeladen. Bereits am 27.2.1932 führte auch die Region Niederrhein eine Landeskonferenz durch (Die Warte 2/1932, S. 14). 228 Was gut dazu passt, dass es im April 1932 hier 40 Ortsgruppen gegeben haben soll. 229 AOI, Correspondence, Box 5, German sexpol 1930–32.
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Reich sprach freilich schon für 1931 von 40.000 »Erfassten«. Hat er also doch übertrieben? Für möglich halte ich, dass sich die angeführten Zahlenangaben nur auf Einzelmitglieder bezogen und dass sich – in für KPD-Massenorganisationen üblicher Weise – »korporative Mitglieder«, also andere Vereine, den Abteilungen des Gesamt-EV anschlossen.230 Sowohl ARSO wie auch IFA hatten ja ihre nicht zuletzt aus anderen Massenorganisationen bestehenden »Mitgliedschaften zur tatkräftigen Mitarbeit« aufgefordert. Sollte es also auch bei den EVs zu diesem Verfahren gekommen sein, hätte dies die Zahlen explodieren lassen. Aber diese Zahlen ernst zu nehmen, wäre reine Augenwischerei gewesen. Als mögliche Begründung dafür, dass Reich diesbezüglich nicht übertrieben hat, halte ich etwas anderes, das weder Bahnen noch Rackelmann in Betracht ziehen, für weit schlüssiger: Reich sprach hier weder über den ursprünglichen Düsseldorfer Verein noch über den Gesamt-EV. Während Reichs Äußerungen von 1934 noch verschieden ausdeutbar sind, hält er später, wie schon zitiert, fest, der EV-Gründungskongress – also jener am 2.5.1931 in Düsseldorf – habe »etwa 20.000 Mitglieder in zusammen etwa acht Verbänden erfasst« (Reich 1995, S. 164).231 Die Zahl 20.000 bezieht sich somit eindeutig nicht auf den Düsseldorfer EV selbst, sondern auf den von diesem veranstalteten Kongress und die Mitglieder jener etwa acht Sexualreformvereine, die sich daran beteiligten. Das dürften unter anderem gewesen sein: der Verband für Sexualhygiene und Mutterschutz, von dem einzelne Ortsgruppen bald darauf in den dortigen EV übertraten (Die Warte 5/6 1931, S. 7), sowie die Liga für Mutterschutz, deren regionale Fraktion dieser EV ja laut späterem Polizeibericht »zum größten Teil aufzusaugen« vermochte. Auch der Bund bewußter Sexualreformer trat am 17.5.1931 geschlossen bei. Da im Juli 1931 allein für die Liga für Mutterschutz eine Mitgliederzahl von 21.900 angegeben wird (Klockner 1987, S. 223), vertraten die am 2.5.1931 versammelten Delegierten tatsächlich weitaus mehr als 20.000 Mitglieder. Der Düsseldorfer EV und seine Parallelorganisationen sahen sich auch später nicht als in sich geschlossene Einheiten, sondern als Sammelbecken für alle anderen deutschen Sexualreformverbände, deren Ortsgruppen oder Mitglieder, 230 In den mir bekannten EV-Statuten wurden »korporative Mitgliedschaften« nicht thematisiert, aber auch nicht ausgeschlossen (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 9f.; BA R1501/20979, Bl. 28–31; Landesarchiv NRW). 231 In der Bahnen und Rackelmann vorliegenden 1982er Version des Buches wurde dieser Sachverhalt auf S. 134f. in genau derselben Weise dargestellt.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
soweit diese dazu bereit waren, sich den EV-Zielstellungen anzuschließen. So wandte sich Luise Dornemann in Vorbereitung des Kongresses vom 14.6.1931 auch weiterhin an »alle Sexualreformer-Gruppen im Bezirk-Niederrhein« und an die »Ortsgruppen aus allen sexualpolitischen Organisationen« (Die Warte 5/6 1931, S. 5). Soweit diese anderen Organisationen mit den Einheitsverbänden kooperierten, wurde auch über ihre Aktivitäten informiert. Nicht nur durch die Warte, sondern insbesondere durch die Verhütungsmittelausgabe und Sexualberatungsstellen sowie die zahlreichen lokalen und regionalen Veranstaltungsangebote wurden mit Sicherheit weit mehr Menschen angesprochen oder »erfasst«, als der Gesamt-EV Mitglieder hatte. Und darauf, so meine ich, dürfte Reich sich bezogen haben, wenn er schrieb, die »Bewegung« habe innerhalb einiger Monate 40.000 Mitglieder umfasst. Er behauptet auch nirgendwo, der Einheitsverband habe diese hohe Mitgliederzahl gehabt. Es ging ihm, denke ich, nie um etwas so Formales wie einen eingetragenen Verein, sondern eben um eine Bewegung, also um all jene Menschen, die sich hinter die Ziele stellten, die zunächst der Düsseldorfer, dann der Gesamt-EV vertrat. Eine weitere, von Reich ganz sicher unabhängige Quelle bekräftigt diese Sichtweise: Luise Dornemann berichtet rückblickend, der GesamtEV habe »mehrere Zehntausende von Frauen erfasst« (BA NY 4278/1, Bl. 1). Zählt man die Männer auch nur in gleicher Zahl hinzu, ergibt sich ebenfalls die von Reich angegebene Größenordnung. Es gibt also keinerlei Grund, Reich bescheinigen zu müssen, in den von ihm angeführten Zahlenangaben kämen wahnhafte Züge zum Ausdruck. Übrigens hielt auch die Polizei einen Zusammenschluss der Sexualreformorganisationen durchaus für möglich. In der am 29.4.1932 erstellten Abschrift eines wohl früher verfassten Berichtes heißt es: »Gegenwärtig sind Bestrebungen im Gange, einen Reichsverband für Sexualreform zu gründen. Versuche sind bisher gescheitert, werden aber sicher noch zum Ziele führen.« Anschließend wird auf Gründung und Programmatik des Düsseldorfer EV verwiesen (BA R1501/20979, Bl. 51). In Wirklichkeit wurde jedoch auch der Gesamt-EV nie zum »Deutschen Reichsverband für proletarische Sexualpolitik«.232 Schon im Juli 1931 teilte die Proletarische Sozialpolitik das Scheitern einer ersten, mit Delegierten anderer Sexualreformvereine veranstalteten »Vereinigungskonferenz« mit. Da man sich dort nicht habe darauf verständigen können, »auf dem Boden des Klassenkampfes zu marschieren«, müssten nun die einzelnen Mitglieder dem Beispiel des EV folgen und die Einheit »von unten« herstellen (Klockner 1987, S. 223). 232 Was wohl der Grund dafür ist, dass alles Suchen nach einem Verein dieses Namens – zum Beispiel durch die Journalistin Kristine von Soden (Bahnen 1986, S. 88) – zwangsläufig scheitern musste (siehe auch Reich 1995, S. 166f.; Rackelmann 1992, S. 51f.).
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1 Vorspiele
An diesen letztlich erfolglosen Bemühungen wirkte auch Reich weiter mit. Noch am 12.2.1932 war er der Hauptredner einer Berliner Veranstaltung, zu der unter dem Motto »Wer erkämpft Dein Recht auf sexuelle Gesundheit?« auch prominente Sexualreformer eingeladen waren, die die EV-Vorgaben bislang abgelehnt hatten (BA RY1/14/11/3, Bl. 267). Der Gesamt-EV war aber immerhin bekannt genug, um nicht nur der dokumentierungsfreudigen Polizei aufzufallen. Auch andere politische Gegner verstanden, welche KP-nahen Gruppierungen da an einem Seil zogen. Am 11.5.1932 berichtet die Rote Fahne unter der Überschrift »Frecher kulturfaschistischer Vorstoß der Deutschnationalen«, dass »die deutschnationale Reichstagsfraktion im Reichstag einen Antrag eingebracht [hat], die Reichsregierung zu ersuchen, auf Grund der letzten Hindenburg-Notverordnung auch den ›Arbeitsverbund [sic] für proletarische Sexualreform und Mutterschutz‹, die Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur (IFA) und den ›Deutschen Freidenkerverband‹ zu verbieten« (BA R 1501–20679, S. 74).
Dieser Wunsch sollte sich erst im folgenden Jahr erfüllen. Am 17.5.1933 forderte der Preußische Minister des Inneren – nun Hermann Göring – die deutschen Landespolizeibehörden auf, »die in ihrem Bezirk vorhandenen kulturbolschewistischen Bestrebungen dienenden Organisationen für Geburtenregelung und Sozialhygiene […] sofort aufzulösen und ihr Vermögen einzuziehen«. Eine der aufgeführten 13 Organisationen war der Düsseldorfer EV.233 Darüber hinaus 233 Dessen Besitz wurde daraufhin am 26.5.1933 durch den Düsseldorfer Polizeipräsidenten beschlagnahmt (Dokumente dazu in von Soden 1988, S. 150f.). Über das Schicksal zweier Mitglieder des niederrheinischen EV ist Näheres bekannt. Bereits am 3.3.1933 war Eugen Eggerath aus Neuss verhaftet worden, weil er KPD-Mitglied war und einen politischen Flüchtling versteckt hatte. Zur Last gelegt wurde ihm zudem, dass er als »Funktionär« des EV tätig war, vermutlich in Düsseldorf. Auch seiner Frau Mathilde wurde nach ihrer Inhaftierung am 13.3.1933 u. a. vorgeworfen, dass sie – wohl ebenfalls in Düsseldorf – als Beraterin des EV tätig gewesen war. Hinzu kam u. a., dass bei ihrer zehnjährigen Tochter eine Aufklärungsbroschüre des EV gefunden wurde, was als »Gefährdung« des Kindes ausgelegt wurde. Mathilde Eggerath wurde im September 1933 aus der Haft entlassen. Ihr Mann, zwischenzeitlich ins KZ Börgermoor verlegt, kam im November frei, konnte seine Tätigkeit als Theatermeister nicht fortführen. Beide hatten zudem ihre Wohnung verloren (Eggerath 2010, S. 52f.; 90f.; 137). Noch 1936 wurden in Düsseldorf zwei Frauen zu Haftstrafen verurteilt, weil sie 1931/32 für den Düsseldorfer EV Abtreibungen vermittelt bzw. durchgeführt hatten (Sparing 1995, S. 16). Über Georg Bethke aus Solingen wird in Gestapo-Akten zu seiner Verurteilung wegen Vorbereitung zum Hochverrat aus dem Jahr 1937 erwähnt, er habe sich »für die kom-
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
»ersuchte« der als Göring-Stellvertreter unterzeichnende deutschnationale Staatssekretär Ludwig Grauert (Kershaw 1998, Bd. 1, S. 581) das »Geheime Staatspolizeiamt«, die Periodika dieser Vereine zu verbieten – so auch die Warte (BA R 1501–20679, S. 138ff.). Am 30.9.1933 hält eine andere staatliche Stelle234 rückblickend fest: »Der ›Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz‹ war eine kommunistische Nebenorganisation. Die Tätigkeit als beratender Arzt in einer von diesem Verband eingerichteten Eheberatungsstelle ist daher als Betätigung im kommunistischen Sinne zu bewerten« (BA R 1501–20679, S. 137).
Ob diese Zuordnung in direktem Zusammenhang mit Reich stand, ist unklar. Zumindest ergänzte diese ja auch für ihn geltende Formulierung die Liste seiner Vergehen im Sinne des NS-Staates. Die weiteren Sätze im zitierten Dokument machten noch einmal klar, dass der Düsseldorfer EV auch für die Nationalsozialisten nicht nur ein Verband unter vielen war. Bezüglich der am 17.5.1933 ergangenen Verbotsfestlegung Hermann Görings hieß es hier abschließend: »Insbesondere kam für diese Massnahme in Betracht u.a. der Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz in Düsseldorf« (ebd.). Doch noch einmal zurück ins Jahr 1931. Bei seiner Annäherung an die KPD scheint Reich einiges übersehen, nicht gewusst oder verdrängt zu haben.
1.4.7
Parteiinterne Spannungsfelder
Zunächst einmal ging es den in Fragen der Sexualität offenbar keinesfalls besonders progressiven KP-Oberen weniger um Sexualreformen als vielmehr darum, den Sozialdemokraten dieses wahlstimmenträchtige Gebiet nicht zu überlassen (Rackelmann 1992, S. 47f.). Zudem war die KPD-Führung kaum an grundsätzlich neuen, gar »abweichlerischen« Ideen oder Trägern solcher Ideen interessiert. Intellektuelle waren wohl auch deshalb »an der Parteibasis rare Erscheimunistische Organisation ‚Verein für Mutterschutz und Sexualreform« aktiv eingesetzt und deren Flugschriften verbreitet (Landesarchivs NRW/Abteilung Rheinland, RW 58 Nr. 60507, Abb. 32 u. 36). Auch dabei dürfte es sich um den Düsseldorfer EV handeln. Gegen den die Kölner EV-Beratungsstelle leitenden Dr. med. Ferdinand Zeigan wurde 1935 wegen dieser Tätigkeit ermittelt und ein Gerichtsverfahren eröffnet (LAV NRW W, Q211a, 6010, Bl. 51f.). 234 Im Dokument ist vermerkt, dass es von der »Nachrichtensammelstelle« der »Abteilung IIa ergebenst vorgelegt« wurde.
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1 Vorspiele
nungen«: 1927 hatten 0,9 Prozent der Mitglieder eine Hochschule, 2,4 Prozent eine Mittelschule besucht.235 Im Führungskorps machten die Intellektuellen allerdings immerhin 18 Prozent aus (Mallmann 1996, S. 101, 142). Auch jene Altersgruppe, deren Interessen Reich besonders betonte, war unterrepräsentiert: »Bei der KPD handelte es sich keineswegs um eine besonders jugendliche Organisation: Die Altersklasse zwischen 18 und 25 Jahren war 1927 mit 12,3% […] am schwächsten vertreten«,236 und auch der Nachwuchs »tröpfelte« bestenfalls (ebd., S. 106ff.). Ungünstig für die Aufnahme von Reichs Thesen zur Gleichberechtigung der Geschlechter dürfte auch gewesen sein, dass die KPD (wie auch die SPD) »ein Männerbund« war, dem 1929 nur 16,5 Prozent Frauen angehörten – von denen wiederum nur sehr wenige, wie z.B. Ruth Fischer, vorübergehend in höhere Führungspositionen aufstiegen (ebd., S. 131f.)237. Längst grassierte zudem unter führenden deutschen Kommunisten das Leitbild, »daß alle Glieder der Partei, Menschen wie Institutionen, wie Glieder eines Körpers auf einmal zu wirken fähig sind«, da »die völlige Unterordnung eines jeden Einzelnen zur Schicksalsfrage der Revolution geworden ist« (Georg Lukács, zitiert in ebd., S. 77). Und auch einen eigenen, um Ernst Thälmann zentrierten »Führer-Kult« hatte man Ende der 1920er Jahre bereits installiert (Hoppe 2007, S. 337f.). Der Historiker Klaus-Michael Mallmann urteilt: »Es bedurfte nicht Stalins, um die KPD zu ›stalinisieren‹. Die Parteiführung […] verpaßte sich zunächst völlig selbstständig und autonom einen bolschewistischen Zuschnitt mit allen darin implizierten Konsequenzen für das Selbst- und Feindbild, […] die Geburt der Parteidisziplin, des Feindes in den eigenen Reihen, der überall lauernden opportunistischen Gefahr, der notwendigen ›Säuberung‹ – all dies war bereits lange vor Stalins Machtantritt geschehen« (Mallmann 1996, S. 67).
Allerdings konnte die von der KP-Leitung gewünschte Folgsamkeit nie wirklich bis hinunter zur Basis durchgesetzt werden. Auch in den Führungsetagen herrschte ein Machtgerangel, das nach Thälmanns Machtantritt nicht wirklich 235 Berlins KPD-Mitglieder hatten 1927 einen »Kopfarbeiter«-Anteil von 6,4 Prozent, Hamburgs von 4,2 (Mallmann 1996, S. 100). 236 Was aber etwa dem Anteil in der Gesamtbevölkerung entsprach (Köster 2005, S. 72). 237 Silvia Kontos überschrieb ihre Untersuchung der KPD-Frauenpolitik in der Weimarer Republik mit dem bezeichnenden Sinowjew-Zitat »Die Partei kämpft wie ein Mann«. Sie rekapituliert, dass Reichs »absolut ungewöhnlich[e]«, »überraschend realistische« KPD-Kritik »gerade für die kommunistische Frauenbewegung bedeutsam war«, jedoch »von dieser in keiner Weise rezipiert« wurde, da hier »Fragen der Ehe, Sexualität und Sexualpolitik immer mehr ausgeklammert« wurden (Kontos 1979, S. 234f.).
134
1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
endete (Hoppe 2007, S. 329–337). Schon die Tatsache, dass jemandem wie Reich überhaupt so schnell eine relativ einflussreiche Position zugestanden wurde – obwohl ihn einige KPD-Funktionäre offenbar bald suspekt fanden238 –, spricht für eine gewisse Meinungsvielfalt. Und immerhin war und blieb Reich mit Theodor Neubauer auch ein einflussreicher Genosse, KPD-Reichstagsabgeordneter und an Reformpädagogik interessierter Lehrer in Freundschaft verbunden. Auf den stärksten Widerstand stieß Reich zunächst bei den zwei EV»Reichsleitungsmitgliedern« Schneider und Bischoff. Für damalige KPD-Verhältnisse offenbar typisch, waren beide Multifunktionäre. Rudolf Schneider, geboren 1900, war seit 1924 KPD-Mitglied, leitetet seit 1930 die Anzeigenabteilung der Roten Fahne und war neben seiner Tätigkeit als IFA-Leiter Geschäftsführer des Verlages für Arbeiterkultur sowie Mitglied der Reichsleitung des proletarischen Freidenkerverbandes.239 Fritz Bischoff, ebenfalls 1900 geboren, war 1918/19 KPDGründungsmitglied, später nicht nur ebenfalls IFA-Leiter, sondern, wie erwähnt, unter anderem auch Vorsitzender des Freidenkerverbandes.240 Am 2.2.1932 schrieb Reich einen sechsseitigen Brief an die »Politische Leitung des Einheitsverbands für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« (AOI).241 Zunächst erinnerte Reich daran, dass er »schon vor vielen Monaten« Kritik daran geübt habe, wie Bischoff und Schneider an die sexualpolitische Arbeit des Einheitsverbandes herangingen. Diesmal warf er ihnen vor, Meinungsstreit durch Drohungen mit Parteistrafen beenden zu wollen, statt inhaltlich zu argumentieren. Darüber hinaus beklagte er, dass »die bisherige Fühlung der organisatorischen Leitung mit der sexualpolitischen Leitung […] völlig unzureichend« sei, konstatierte, dass bezüglich der Sexualpolitik »die Partei bisher mit Ausnahme der Frage der Geburtenregelung keine offizielle Linie aufgestellt hat«, und monierte, dass die »Politische Leitung« kritische Briefe von ihm bzw. der »Sexualpolitischen 238 Siehe die später im Text erwähnte Ablehnung von Reichs ersten Entwürfen zur Massenpsychologie als »psychologisch« im Jahre 1931. 239 Er kam 1933 ins KZ und wurde Ende 1933 wieder entlassen. Nach 1945 war er SED-Mitglied sowie zeitweise Werkleiter in Plauen und Greiz. Er starb 1972. Diese und die obigen, aus dem Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz (Bestand 33226 Nr. V 160) stammenden Informationen übermittelte mir Andreas Herbst am 9.5.2011 (siehe auch Weber/Herbst 2013, S. 222). 240 Ab 1933 war Bischoff daran beteiligt, den kommunistischen Widerstand gegen Hitler zu organisieren. 1934 verhaftet, kam er erst ins Zuchthaus, dann in verschiedene KZs. Im April 1945 wurden er und tausende andere Häftlinge des KZ Neuengamme zur Lübecker Bucht getrieben und dort auf die Cap Arcona verladen. Bei deren Beschuss durch britische Flugzeuge kamen die meisten Häftlinge ums Leben, so auch Bischoff (Weber/Herbst 2008, S. 117f.). 241 AOI, Orgone Institute, Box 4, German Sexpol.
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1 Vorspiele
Leitung« – geschrieben zum Beispiel »nach dem Artikel des Gen. Thälmann«242 – nicht wie gefordert an das Zentralkomitee der Partei weiterleite. Reichs erste, in Berlin entstandene Bücher ließen die Fronten innerhalb der EV-»Reichsleitung« rasch noch schärfer hervortreten.
1.4.8
Der sexuelle Kampf der Jugend
Offenbar schon Anfang 1931 sei »von allen Seiten«, so Reich, an ihn das Verlangen gerichtet worden, »ein Buch für die Jugend zu schreiben. Ich verfaßte in einigen Wochen ein Manuskript und ließ es kursieren« (Reich 1995, S. 167). Auf diese Weise wurde diese Schrift, so hieß es später in Reichs Vorwort, »von Vertretern verschiedener Jugendorganisationen gelesen, kritisiert und ergänzt, sie gibt also nicht nur meine Meinung wieder. […] Die endgültige Grundlinie in der Sexualpolitik der Jugend muß kollektiv erarbeitet werden, und zwar von der Jugend selbst« (Reich 1932a, S. VIII).243 Das Manuskript schloss er in der ersten Jahreshälfte 1931 ab. Wie schon in Sexualerregung und Sexualbefriedigung bot Reich auch hier zunächst ebenso detaillierte wie nachvollziehbare Aufklärung mit mehreren Abbildungen. Ohne immer explizit die Psychoanalyse zu benennen, argumentierte er vielfach erkennbar auf deren Boden. So schrieb er zum Beispiel zur Homosexualität, noch immer auf Freuds Konzept der angeborenen Bisexualität fußend: »So werden zum Beispiel männliche Kinder leicht offen homosexuell, wenn sie an ihrer strengen, harten Mutter zu starke Liebesenttäuschungen erfahren haben. […] Diese frühen Enttäuschungen sind in der Regel verdrängt. Die Betreffenden wissen als Erwachsene nichts mehr davon und erinnern sich dann, wenn sie durch eine besondere Art seelischer Behandlung, die Psychoanalyse, jene frühe Zeit der Entwicklung wieder erleben« (ebd., S. 74).
Im zweiten Teil des Buches kam er auf die kapitalismustypischen gesellschaftlichen Hindernisse für die Entfaltung von Sexualität zu sprechen: 242 Das könnte sich auf den Artikel »Einige Fehler in unserer theoretischen und praktischen Arbeit und der Weg zu ihrer Überwindung« beziehen, den Thälmann in der November/ Dezember-Ausgabe von 1931 der KP-Zeitschrift Die Internationale veröffentlicht hatte. Dort hatte er unter anderem Schwächen im Kampf gegen die Nationalsozialisten benannt. Der Artikel war in der KPD breit diskutiert worden (Krinn 2007, S. 506f.). 243 Im Buch bat er dann die Leser um weitere kritische Rückmeldungen, hing dafür auch einen Fragebogen an (Reich 1932a, S. VIII, 151).
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
»Familie und Schule sind heute, politisch gesehen, nichts anderes als Werkstätten der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zur Erzeugung braver, gehorsamer Untertanen. Der Vater in seiner üblichen Gestalt ist der Vertreter der bürgerlichen Obrigkeit und Staatsautorität in der Familie« (ebd., S. 98).
Daher rebelliere die »in sexuellen Dingen klarer denkende Jugend, die meist aus dem Proletariat stammt«, offen gegen Elternhaus, Schule und Kirche (ebd.). Grundsätzlich, also nicht nur bezüglich der bürgerlichen Klasse, kritisierte Reich auch den Umgang der Geschlechter untereinander: Von »Kameradschaft zwischen Junge und Mädel« könne üblicherweise keine Rede sein, immer bleibe der Mann der »Nutznießer der weiblichen Sexualität«, der Geschlechtsakt werde so zu »einer Erniedrigung der Frau, zu etwas Gewalttätigem«, einer »Schmach«. So sei die Frau, die »nicht von Natur aus im Vergleich zum Manne minderwertig ist, […] durch Jahrtausende alte Unterdrückung im Wirtschaftlichen und Sexuellen zu wirklicher Minderwertigkeit gebracht« worden. Doch da »die soziale Revolution die politische und sexuelle Versklavung der Frau aufhebt, begründet sie auch die völlige geistige Kameradschaft der Geschlechter« (ebd., S. 78–83). Der aktuellen Situation in Deutschland setzte Reich im Buch immer wieder die – von ihm teilweise idealisierten, in der Realität ja schon längst nicht mehr so revolutionären – sexualpolitischen Verhältnisse in der Sowjetunion entgegen. Die Lösung der sexuellen Frage sei aber auch in deutschen Landen untrennbar mit der Lösung der sozialen Probleme verknüpft, man müsse den Jugendlichen beweisen, »daß es keinen anderen Weg der sexuellen Befreiung der Jugend gibt als den der Revolution« (ebd., S. 121). Umgekehrt könne die KPD nur durch aktiven Einsatz auch für die Linderung der sexuellen Nöte Heranwachsender die proletarische Jugend dauerhaft für den politischen Kampf gewinnen. Aber hier »müssen [wir] wahre Selbstkritik an uns üben, […] uns fragen, warum wir gerade in dieser Angelegenheit bisher so sehr im Dunkeln gehockt haben« (ebd., S. 123). Dieser Selbstkritik widmete Reich die abschließenden 28 Seiten des Buches. Als wesentlichsten Grund für das bisherige Versagen der KPD in der Sexualpolitik gab er an: Die bürgerliche Sexualmoral, deren wesentlichstes Stück es sei, Scheu und Angst vor natürlicher Sexualität zu erzeugen, »steckt uns Kommunisten viel tiefer in den Knochen, als wir alle glauben«. Es komme »auf die sexuellen Verbauungen an, die jeder von uns aufgrund der Sexualunterdrückung in sich trägt, die mit unbewußten, verdrängten Einstellungen zusammenhängen« (ebd., S. 127). Dies habe auch negative Konsequenzen für die politische Arbeit im Allgemeinen. Speziell jener kommunistische Funktionär, der »gar kein Sexualleben führt und 137
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sich mit allen seinen Kräften der Parteiarbeit verschrieben hat«, könne »nur für beschränkte Zeit« ein guter Funktionär sein, da er »seine persönlichen Schwierigkeiten zunächst in Arbeit zu ersticken suchte, um dann später doch irgendwie zusammenzuklappen«. Auch jene Funktionäre, Genossen und Genossinnen, »die ständig in Konflikt« zwischen Parteiarbeit und Privat- bzw. Liebesleben seien, hätten sich zumeist »von einer gewissen bürgerlichen Kompliziertheit des Geschlechtslebens nicht freigemacht«, sie litten oft an »sexuellen Störungen in irgendeiner Form«. Und hier wäre nun »guter Rat teuer, denn bürgerliche Verbauungen und sexuelle Störungen lassen sich nur im Einzelfall durch langwierige seelenärztliche Behandlung beseitigen, was für die Masse nicht in Betracht kommt« (ebd., S. 133ff.). Anders gesagt: Die auch unter den Kommunisten und deren Führung massenhaft verbreiteten psychosexuellen Störungen gefährdeten erheblich den Erfolg der sozialistischen Revolution – und ließen sich allenfalls durch ebenso massenhafte Psychoanalyse beseitigen. Wofür jedoch jede Grundlage fehle. Als Ausweg aus diesem Dilemma fiel auch Reich nicht viel ein: »Wir dürfen aber nicht skeptisch werden und müssen uns darauf einstellen, daß wir durch Schaffung einer offeneren und freieren sexuellen Atmosphäre auch vielen von diesen Genossen helfen werden, aus ihren Schwierigkeiten herauszufinden und ihren Parteiaufgaben besser gerecht zu werden« (ebd., S. 135).
Nicht nur Reichs erneute offene Sexualaufklärung, sondern gerade diese Passagen mussten es vielen KP-Funktionären schwer machen, sich mit dem Buch anzufreunden.244 Seine Forderung, die Jugend selbst müsse die für sie zutreffende Sexualpolitik erarbeiten, dürfte ihnen ebenfalls suspekt gewesen sein. Reich scheint jedoch zunächst nicht befürchtet zu haben, auf Ablehnung zu stoßen. Im Sommer 1931 übergab er das fertiggestellte Manuskript dem JugendZK. Diese aus jüngeren Genossen bestehende, für die proletarische Jugend zuständige KPD-Institution fasste gelegentlich in bestimmten Grenzen eigenständige Beschlüsse (Köster 2005, S. 122–127). Das Jugend-ZK – so teilte auch Bischoff später rückblickend mit – beurteilte das Buch positiv und reichte es weiter an das Moskauer Jugendexekutivkomitee der Komintern, damit es im dortigen Jugendverlag gedruckt werde. Stattdessen sei jedoch aus Moskau die Einschätzung gekommen, das Buch sei »gut«, aber »es wäre besser, sich damit nicht zu belasten«; es solle nun im Arbeiterkulturverlag erscheinen, der »weni244 So urteilte auch schon Marc Rackelmann (1992, S. 63ff.).
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
ger offiziell war« (Reich 1995, S. 167).245 Inzwischen hatte es den Arbeitstitel Sexuelle Lebensfreude – ein Recht der Jugend. So jedenfalls kündigt Reich es an, als er in der Warte vom Februar 1932 den Auszug »Das Wesen der Homosexualität« veröffentlichte. Doch auch der Arbeiterkulturverlag rührte sich nicht – Reich meinte später, es seien Bischoff und Schneider gewesen, die »hinter den Kulissen« erfolgreich das Erscheinen des Buches sabotiert hätten (Reich 1934f, S. 14). Da Schneider den Verlag leitete, ist dies gut möglich. Etwa zeitgleich mit dem Erscheinen des Auszugs in der Warte scheint Reich daher schon die Weichen für die Gründung seines eigenen Verlages für Sexualpolitik gestellt zu haben.246 Wohl im Juni 1932247 brachte er das Buch – es hieß nun Der sexuelle Kampf der Jugend – dort heraus, mit Erfolg: »4000 Stück waren binnen 6 Wochen weg« (Reich 1995, S. 168). Auch hier erfolgten positive Rezensionen. Die mit Abstand wichtigste dürfte jene gewesen sein, die offensichtlich für die Rote Fahne verfasst worden war. Diese Tageszeitung war mit einer Gesamtauflage von 130.000 Exemplaren im Jahr 1932 und aufgrund ihrer Aufgabe als »Zentralorgan« der KPD das für die kommunistische Politik entscheidende deutsche Blatt. Dass hier eine positive Stellungnahme zu Reichs Buch veröffentlicht werden sollte, war daher ausgesprochen bedeutungsvoll. Dass dies dann nicht wie geplant geschah, lag wohl daran, dass am 26.8.1932 einmal mehr das Erscheinen des Blattes für einige Zeit durch den Polizeipräsidenten verboten wurde (siehe Rote Fahne vom 26.8.1932).248 Doch die Publikation wurde nicht wirklich komplett eingestellt. Wie unter diesen Umständen üblich,249 produzierte und verteilte die KPD stattdessen Ersatzpublikationen, unter ihnen den Geschäftsanzeiger für Groß-Berlin. Und in diesem war dann am 28.8.1932 zu lesen, was sicher eigentlich im Original, also in der Roten Fahne, hätte stehen sollen: 245 Reichs Archiv enthält allerdings auch einen undatierten Brief an den Verlag der Jugendinternationale, in dem der Verfasser das Buch als unmarxistisch ablehnt und sich daher gegen eine Veröffentlichung ausspricht. Unterzeichnet ist es von einem bislang nicht identifizierbaren »Felix« (AOI, Orgone Institute, Box 35, Opinions on »Der sexuelle Kampf der Jugend«). 246 In einem Schreiben an Reich vom 29.4.1932 wird als Adresse des Verlages für Sexualpolitik genannt: Berlin-Wilmersdorf, Kreuznacher Str. 38. In den ersten Publikationen werden als Verlagsorte genannt: Berlin, Leipzig, Wien. 247 Siehe die später im Text angesprochene Rezension von Der Sexuelle Kampf in Berlin am Morgen. 248 Diesmal erstreckte sich das Verbot auf acht Tage. Digital einsehbar ist die Rote Fahne unter zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/24352111/0/ – allerdings ohne deren Ersatzpublikationen. 249 Zur Verbotsgeschichte der Roten Fahne vgl. Brauneck (1973, S. 9–19).
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»›Der sexuelle Kampf der Jugend‹ (Dr. Wilhelm Reich, Verlag für Sexualpolitik, Berlin-Wien-Leipzig.) In den bewegten Tagen, in denen wir uns gegenwärtig befinden, in den Tagen, wo die Klassengegensätze aufs Äußerste zugespitzt sind, wo man mitten im schärfsten Kampf gegen den Faschismus steht, steht die sexuelle Frage jedenfalls nicht im Vordergrund. Trotzdem ist die Schrift von Reich eine Notwendigkeit. Sie setzt sich mit der sexuellen Frage auseinander, weist nach, daß sie im engsten Zusammenhang mit der ökonomischen Frage steht, daß das, was man sexuelle Not der Jugend nennt, seine endgültige Lösung nur innerhalb der sozialistischen Gesellschaftsordnung finden kann. Sie weist nach, daß allein in der Sowjetunion die Ketten der bürgerlichen Moral, die zu einer Verkrüppelung der Arbeiterjugend in seelischer und körperlicher Hinsicht führt, gesprengt worden sind.«
Gerade diese von Reich auch als Zeitungsausriss archivierte Rezension250 fehlt allerdings in der 1953 von ihm erstellten Auflistung seiner Publikationen und ihrer Rezensionen (Reich 1953). Wie eingangs schon erwähnt, könnte er in den kommunismusfeindlichen USA Wert darauf gelegt haben, seine Kooperation mit der KPD nicht zu sehr herauszustellen. Die Rote Fahne war nicht das einzige kommunistische bzw. KP-nahe Blatt, das positiv reagierte. Berlin am Morgen (BaM) hatte sich schon am 3.7.1932 zustimmend geäußert: »Das Buch für uns. Unter dieser Rubrik bringt das BaM-Kollektiv Besprechungen wichtiger Bücher. Als erstes weisen wir auf das neue Buch von Wilhelm Reich hin: ›Der sexuelle Kampf der Jugend‹. Ein kurzer Überblick soll unsere Freunde veranlassen, selber ohne Scheu über sexuelle Fragen an uns zu schreiben. Wir schließen uns der Meinung von Wilhelm Reich an, daß die Klärung der sexuellen Dinge notwendig ist, um den Kopf für politische Aufgaben frei zu bekommen« (ebd.).251
250 AOI, Orgone Institute, Box 35, Opinions on »Der sexuelle Kampf der Jugend«. Die Ausgabe des Geschäftsanzeigers vom 28.8.1932 ist im Bundesarchiv in Berlin nicht vorhanden, dafür allerdings eine andere Ersatzpublikation vom 27.8.1932. Ohnehin sind die Ersatzpublikationen der Roten Fahne in der dortigen Bibliothek nicht vollständig erfasst: Auch die vom 5.12.1932 fehlt beispielsweise. 251 Auch hier archivierte Reich einen Zeitungsausriss. Die Angabe 3.7.1931 in Reich (1953, S. 82) ist falsch.
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1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933
Auch die kleine österreichische Schwester des KPD-Organs, die Wiener Rote Fahne, widmete Reichs Schrift am 14.12.1932 eine Rezension: »[E]in Buch von höchster aktueller Notwendigkeit, weil hier Genosse Reich die untrennbaren Zusammenhänge zwischen sexueller Not und herrschender Ordnung klar und rückhaltlos aufweist« (ebd.).252 Als diese Besprechung erschien, war seitens der deutschen KP das Buch allerdings schon geächtet. Aber positive Resonanz für das Buch gab es auch außerhalb kommunistischer Blätter. Die Leipziger Volkszeitung urteilte: »Dr. Wilhelm Reich ist zweifellos einer der klarsten, nüchternsten und unbestechlichsten Denker unter den Sexualforschern unserer Tage. Auf knappere und treffendere Formeln läßt sich beim gegenwärtigen Stande unserer soziologischen und psychoanalytischen Einsichten eine Kritik kaum bringen. Noch nie wurden die Zusammenhänge zwischen bürgerlicher Ideologie und kapitalistischer Klassengesellschaft in ihrer Verflochtenheit mit der Sexualverfassung so treffend enthüllt.«253
Und der einflussreiche, an Sexualwissenschaft und Psychoanalyse interessierte Psychiater und Individualpsychologe Arthur Kronfeld254 schrieb im Archiv für Frauenkunde: »Wilhelm Reich zeigt uns, welche soziologische Bereicherung und welche reformatorischen Anregungswerte von der Psychoanalyse auszugehen vermögen, wenn diese – bei aller Strenge der Methodik – von einer besonders klaren, warmherzig verständnisvollen und den Wirklichkeitsproblemen geöffneten geistigen Persönlichkeit angewandt wird.«255
Im »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« wurde Reichs Buch für wert befunden, durch die neuesten technischen Möglichkeiten popularisiert zu werden. Das Rundschreiben Nr. 6 der Berliner EV-Sektion vom 8.11.1932 teilte mit:
252 AOI, Orgone Institute, Box 36 enthält zusätzlich einen Ausriss aus der Zeitung. 253 Zitiert auf der ersten Umschlagseite von Reich 1932a. 254 Zu dessen Biografie siehe www.sgipt.org/gesch/kronf.htm, zu seinem Psychoanalyseinteresse außerdem Jones (1984, Bd. 2, S. 150). 255 Zitiert auf der ersten Umschlagseite von Reich 1932a. Im Februar 1933 veröffentlichte dann auch noch die Neue Lehrerzeitung eine lobende Besprechung (AOI, Orgone Institute, Box 35, Opinions on »Der sexuelle Kampf der Jugend«).
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»Die Verbandsleitung hat einen Lichtbildapparat angeschafft, der den Ortsgruppen kostenlos zur Verfügung steht. […] Als Filme stehen bis jetzt zur Verfügung: Fort mit dem §218 Der sexuelle Kampf der Jugend Mittel und Methoden der Empfängnisverhütung Die Familie im dritten Reich« (AOI).256
Aufgrund all dessen erscheint es mir als sicher, dass Der sexuelle Kampf der Jugend ein sehr erfolgreiches Buch war. Im September 1931 hatte Reich eine weitere Schrift abgeschlossen, die 1932 wohl nahezu zeitgleich mit dem Sexuellen Kampf der Jugend257 in seinem Verlag für Sexualpolitik erschien.
1.4.9
Der Einbruch der Sexualmoral
Dieses Buch ist im deutschsprachigen Raum vor allem in der 1975 erschienenen Version bekannt, die sich vom Original jedoch merklich unterscheidet: Es ist die zunächst ins Englische übersetzte zweite, erweiterte Ausgabe von 1935, an der Reich 1951 wiederum »ausgiebige Korrekturen und Revisionen« vornahm und ihr einen neuen Titel gab: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral (Reich 1975, Editorische Vorbemerkung). Das Resultat wurde dann aus dem Englischen wieder ins Deutsche rückübersetzt. Bei all dem veränderten sich manche der originalen Formulierungen – ohne dass diese Stellen kenntlich gemacht wurden.258 256 AOI, Correspondence, Box 5, German sexpol 1930–32. Schon in den 1920er Jahren hatte auch die KPD die große Bedeutung des Mediums Film erkannt und genutzt. Es entstand eine Vielzahl an zumeist auch von der IAH geförderten Produktionen von Spiel-, Dokumentar- und Agitationsfilmen. Durch den Kauf von eigenen Vorführgeräten wollte man sich zudem vom normalen Kinobetrieb unabhängig machen (Surmann 1983, S. 110–120). Es könnte sich aber bei obiger Anzeige auch um Dia-Serien handeln. 257 Auf dessen Schutzumschlag ist eine Werbung für das Werk Der Einbruch der Sexualmoral zu finden, das »soeben erschienen« sei. In Reichs eigener Werkeauflistung, die allerdings nicht immer konsequent chronologisch geordnet ist, erscheint es erst nach Der sexuelle Kampf der Jugend (Reich 1953, S. 15f.). 258 So sprach Reich ursprünglich im Vorwort davon, dass er »von der Sexuologie zur Psychiatrie und Psychoanalyse gelangt« sei (Reich 1932b, S. V). 1975 steht dort anstelle von Sexuologie »Naturwissenschaft« (Reich 1975, S. 13). Im Original hatte er auch geschrieben, die Psychoanalyse habe sich zu einer »den Bürger begeisternden Disziplin« gewandelt (Reich 1932b, S. XIII). 1951, ebenso 1975 heißt es statt Bürger »Reaktionär« (Reich 1975, S. 20). Eine solche Zuspitzung wäre Reich 1931 wohl noch kaum in den Sinn gekommen.
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Von der ersten Seite an und mehrfach erneut im Verlauf des Buches ging es um Gegensätze und Ergänzungsmöglichkeiten psychoanalytischer und marxistischer Lehren, um Widersprüche in Freuds Theorien und Reichs Kritik daran.259 Der Text belegt jedoch, dass sich Reich zu diesem Zeitpunkt noch immer als – kritischer – Psychoanalytiker verstand: »Freuds ursprüngliche Formel: Die Neurose ist ein Produkt einer mißglückenden sexuellen Verdrängung, die erste Voraussetzung ihrer Heilung ist daher die Aufhebung der Sexualverdrängung und die Befreiung der verdrängten sexuellen Ansprüche, führte zur nächsten Frage: Was geschieht mit den befreiten Trieben? In der psychoanalytischen Literatur gab es im ganzen zwei Antworten auf diese Frage: 1. Die bewußt gewordenen Sexualwünsche lassen sich beherrschen oder verfallen der Verurteilung. 2. Die Sublimierung der Triebe ist ein wichtiger therapeutischer Ausweg. Von der Notwendigkeit der direkten sexuellen Befriedigung war nirgendwo die Rede« (Reich 1932b, S. VI).
Auf welche Hindernisse er dabei stieß, diese Befriedigung zu thematisieren, berichtete er einige Seiten später: »In den letzten Jahren hatte […] innerhalb der Psychoanalyse ein Rückzug von der strengen und umwälzenden Libidotheorie stattgefunden. Mit Freuds ersten Arbeiten über das Ich und den Destruktionstrieb setzte eine Flut von Versuchen ein, die Neurosentheorie zu entsexualisieren und in die Terminologie der Theorie vom Todestrieb zu übersetzen. […] Man konnte als überzeugter psychoanalytischer Kliniker diesen Umschwung nicht mitmachen, weil die Klinik klar dagegen sprach und die Marxsche Soziologie das Verständnis dieses Umschwungs ermöglichte: Die Psychoanalyse, ursprünglich eine revolutionäre Sexualtheorie und Psychologie des Unbewußten, begann sich, was die Sexualtheorie anlangt, den bürgerlichen Daseinsbedingungen anzupassen und somit bürgerlich gesellschaftsfähig zu werden« (ebd., S. XIII).
Die Psychoanalyse, so Reich weiter, verwandelte sich »aus einer angefeindeten in eine den Bürger begeisternde Disziplin« (ebd.).
Im englischsprachigen Raum ist aber auch die von Lee Baxandall vorgenommene Übersetzung des Originals verbreitet. 259 Das lässt sich vielleicht am einfachsten nachvollziehen, wenn man in der 1975er Variante das Stichwortverzeichnis unter Freud, Marx, Marxismus, Psychoanalyse heranzieht (mehr als 40 Verweise, oft auf mehrere zusammenhängende Seiten) und die entsprechenden Stellen im Original heraussucht.
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Für sein eigenes Buch bestand kaum die Gefahr eines aus bürgerlicher Richtung kommenden Beifalls. Zu klar baute er auf »linkem« Gedankengut auf, zu oft benannte er Errungenschaften sowjetischer Sexualpolitik. Erich Fromm urteilte in einer Rezension des Buches, die 1933 in der Zeitschrift für Sozialforschung (Reprint 1980, Bd. 2, S. 119–122) erschien: »R. [Reich] ist einer der wenigen Autoren, die bei der Anwendung der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Probleme keine Umbiegung der Theorie ins Idealistische vornehmen und damit mehrere Schritte zurück hinter die Ausgangsposition von Freud tun, sondern die im Gegenteil, auf den Ergebnissen der Freudschen Personalpsychologie und der Marxschen Soziologie aufbauend, zu neuen und fruchtbaren Ergebnissen für Soziologie und Psychologie kommen.«
Konkret bemühte sich Reich, mittels eigener klinischer Erfahrungen, marxistischer Thesen und auf ethnologischen Befunden aufbauender Erörterungen von Lewis Morgan, Friedrich Engels und Bronislaw Malinowski aufzuzeigen, wie sich die ursprüngliche Sexualverdrängung innerhalb von Familienstrukturen entwickelt hatte. Auch dies war eine klare Herausforderung an den Gründer der Psychoanalyse: Wie Reich selbstverständlich wusste und auch als kritikwürdig hervorhob, hatte Freud in Totem und Tabu versucht, die heutige Moral vor allem »aus einem einmaligen Geschehnis«, dem Mord an einem fiktiven »Urvater«, abzuleiten (Reich 1932b, S. X; vgl. auch Freud 1912–13a). Doch damit nicht genug. Reich benannte ebenfalls notwendige Korrekturen, die an den Ausführungen von Friedrich Engels über den Ursprung der Familie vorgenommen werden müssten (Reich 1932b, S. 77f., 102f., 120f.). Sollte er wirklich nicht registriert haben, dass auch Engels längst von der kommunistischen Bewegung als offiziell unhinterfragbare Autorität instrumentalisiert wurde? Selbst die Sowjetunion blieb von Kritik nicht völlig verschont. Reich berichtete von seiner Reise dorthin im Jahr 1929, die »moralische Atmosphäre« habe zunächst teils »asketisch« angemutet; neben einer deutlich sexualbejahenderen »Gesamtheit« sei »die Sexuologie noch vielfach in Händen von moralisierenden und sexualpsychologisch ungebildeten Urologen und Physiologen«, es gebe »in manchen Kreisen der Akademiker und der älteren Staatsfunktionäre die alte Art bis zur pfäffischen Ehemoral«. Der Mangel einer den gewandelten objektiven Verhältnissen »entsprechenden Sexualtheorie« sei »deutlich spürbar« (ebd., S. XIIf.). Und er beschloss sein Buch mit dem Satz: »Vor uns steht aber die weitere Aufgabe, das Gebiet der Sexualpolitik betreffs der neuen Widersprüche des sexuellen Lebens in der Sowjetunion theoretisch und praktisch restlos aufzurollen« (ebd., S. 137). 144
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So zahm das heute klingen mag – es stand doch konträr zur Linie der Führung von KPD und KPD-nahen Massenorganisationen, die längst die Sowjetunion als »Heimatland aller Proletarier« glorifizierte260 und Stalins Politik als nicht mehr anfechtbares Vorbild deklariert hatte (Hoppe 2007, S. 356–358). Auch dieser Satz sollte Reich daher bald angekreidet werden. Da jedoch zunächst offenbar noch keine Reaktion erfolgte, stellt sich erneut die Frage, ob bis dahin überhaupt ein verantwortlicher KPD-Funktionär Reichs Schriften gründlich gelesen hatte. Denn obwohl die KPD sie nicht in einem ihrer eigenen Verlage erscheinen ließ, übernahm sie doch immerhin erneut Vertrieb und Werbung, wenn auch nur für sehr begrenzte Zeit: Die ausgebliebene Auseinandersetzung sollte bald nachgeholt werden. Dass diese Auseinandersetzung dann recht rigoros erfolgte, dürfte auch damit zusammenhängen, dass Stalin ab Ende 1931 die KPD-Führung zunehmend unter Druck setzte, auf eigenständige Politik zu verzichten und jedwede Kritik an der Sowjetunion aus den eigenen Reihen zu unterbinden. Das führte unter anderem dazu, dass der auch für die Parteischulung zuständige Leiter der Agit-Prop-Abteilung, der an einem breiten Themenspektrum interessierte Philosoph Joseph Winternitz,261 wegen vermeintlich »antibolschewistischer« Tendenzen seines Amtes enthoben wurde (Krinn 2007, S. 507–511; Weber/Herbst 2008, S. 223, 1032f.). Sein Nachfolger wurde 1932 der wohl engstirnigere ehemalige Lehrer und Offizier Ernst Schneller, der sich zuvor als »Hauptvertreter des Kampfes gegen den Trotzkismus und Luxemburgismus« einen Namen gemacht hatte (ebd., S. 815). Das Klima für Experimente wie die Orientierung auf Sexualreformen oder die Kooperation mit einem selbstständig denkenden und handelnden Psychoanalytiker dürfte sich verschlechtert haben. Während Reich sich bemühte, in Deutschland die Erfahrungen seiner Therapieund Beratungstätigkeit erneut in offensives politisches Handeln umzusetzen, stellten seine Kollegen im institutionalisierten Hauptstrom der Psychoanalyse die Weichen in eine ganz andere Richtung.
260 Dokumentiert z.B. in Brauneck 1973, S. 433. 261 Josef Winternitz (18.2.1896–22.3.1952), geboren in Oxford, Studium der Philosophie, Mitglied der tschechischen Sozialdemokratie und KP, war 1923 nach Deutschland gekommen, betätigte sich unter den Pseudonymen »Lenz« und »Sommer« als Parteitheoretiker, war 1924–25 Leiter der Agit-Prop-Abteilung der Zentrale und 1928–31 Leiter der AgitProp-Abteilung des ZK (Weber/Herbst 2008, S. 1032f.).
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1.4.10 Für und wider den Todestrieb Die Ausgabe der Zeitschrift Psychoanalytische Bewegung vom September/Oktober 1931 stand unter dem Motto »Psychoanalyse und Politik«.262 Hier demonstrierten mehrere Analytiker, zu welchen Schlüssen man gelangen konnte, wenn man das Nachdenken über soziale Ursachen von Destruktion einstellte: Das zerstörerische »Es« habe das schwache »Ich« gezwungen, den Ersten Weltkrieg zu beginnen, Krieg sei kaum schlimmer als Frieden (Wittels), Frieden sei nur erreichbar durch gemeinsamen Hass auf Dritte (Schottlaender). Und: Die Beibehaltung öffentlicher Hinrichtungen fördere die psychische Gesundheit (Staub). Hintergrund all dieser Thesen war Freuds Todestriebkonzept.263 Schon zu Beginn von Felix Schottlaenders einleitendem Artikel Abrüstung und Aggressionstrieb fand sich eine Passage, die nun programmatischen Charakter hatte: »Die Psychoanalyse ist selbstverständlich ›unpolitisch‹. Sie ging aus vom Studium des seelisch erkrankten Einzelmenschen[…,] […] ist also eine naturwissenschaftliche Disziplin, die schon durch ihr Forschungsobjekt in die großen sozialen Fragen nur als unparteiliche, der Wahrheit dienende Instanz einzutreten vermag« (Schottlaender 1931, S. 387).
Schottlaender verstand den Todestrieb nicht als eine Hypothese, sondern als ein Faktum, eine der »folgenschwersten Entdeckungen Freuds«. So ersparte er sich Begründungen für dessen Existenz und folgte Freud »gleich mitten hinein in jene Überlegungen, die die Wirksamkeit des Todestriebes in den sozialen Beziehungen der Menschen untersuchen«.264 Dieser Trieb wirke, so Schottlaender, in 262 Zur Einordnung dieser Ausgabe siehe auch Fallend (1997, S. 35f.). 263 Dieses Konzept wurde schon damals nicht von allen Psychoanalytikern bejaht, aber, wie diese Ausgabe der Psychoanalytischen Bewegung belegt, in erwähnenswertem Maße übernommen und propagiert (vgl. Vogt 2001, S. 883f.). Dass auch eine Übernahme der Todestriebthese nicht notwendigerweise dazu führen muss, »unpolitisch« zu werden oder auf fundierte Gesellschaftskritik zu verzichten, beweist unter anderem das Werk von Herbert Marcuse (siehe z.B. Marcuse 1995). 264 Natürlich existiert vieles, was hier als Wirkung des Todestriebes ausgegeben wird, tatsächlich. Nur meine ich, dass es andere Ursachen dafür gibt und dass diese auch beeinflusst werden können. Eine Vielzahl von (Be-)Funden und Argumenten, unter anderem aus Biologie, Anthropologie, Ethnologie, Pädagogik, Psychotherapie, Neuropsychologie, belegen zudem, dass es eine angeborene Fähigkeit zu konstruktivem prosozialen Verhalten gibt. Dieses Potenzial wird durch autoritäre Erziehung (die heute zumeist nur gemildert weiterhin angewandt wird), repressiven Gesellschaftscharakter (der auch der »Marktwirtschaft«
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Krieg, Religion, Ökonomie und Wissenschaft sowie im Staat, welcher »seines Wesens nach gar nichts anderes sein kann, als die mächtigste Exekutive des menschlichen Aggressionstriebes«. Daher werde »ein ›Friede zwischen Staaten‹ von der Grundnatur des Staates selber her aufs tiefste bedroht« (ebd., S. 387–393, 398). Zu »Bindung und Frieden« komme es nur, wenn ein Gegner existiere, »gegen den sich gemeinsamer Haß entladen darf«.265 »Weltfrieden«, so Schottlaender weiter, mute daher als »beinah naiv[e]« Fantasie an. »Das Problem« liege »nicht so sehr in der Aufrechterhaltung oder Streichung von stehenden Heeren oder Flotten«. Diese seien ja nur »Symptome dafür«, dass »riesige Mengen von Aggressionstrieb gleich Munitionsdepots auf den Augenblick der Entladung warten. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob es gelingen wird, Abfuhrmöglichkeiten für den menschlichen Aggressionstrieb zu ersinnen, die weniger katastrophale Folgen für die menschliche Kultur […] befürchten lassen« (ebd., S. 402).
Wichtiger als Abrüstung sei es also, dem naturgegebenen Todes- oder Aggressionstrieb (wie viele Analytiker vermischte Schottlaender diese keinesfalls deckungsgleichen Begriffe ohne weitere Diskussion)266 halbwegs erträgliche Ersatzziele anzubieten. Hier griff dann auch Schottlaender auf eine von Freuds Lösungen für den Umgang mit den angeblich asozialen Trieben zurück: gesellschaftlich akzeptierte Triebsublimierung – wie beim »Chirurgen, der sein Messer zum Segen der leidenden Menschheit in das Blut seiner Patienten taucht« (ebd., S. 405).
zu eigen ist) und ähnliches verschüttet, blockiert, pervertiert, kann aber zum Beispiel durch Psychotherapie wieder »freigelegt« werden. Erst durch diese Blockierung entsteht, so meine auch ich, ein Druck, nach Ventilen, Alibis und Sündenböcken zu suchen, um den sich aufstauenden Hass zu entladen (Fromm 1989b; Reich 1986, S. 11–17; Neill 1991; Maaz 1990; Peglau 1997; Hüther 2003; Solms/Turnbull 2004, S. 138ff., 148; Tomasello 2010; Klein 2011). Davon, wie absurd jede Annahme eines angeborenen »Bösen« ist, kann man sich auf einfache Weise überzeugen: durch Kontakt zu kleinen Kindern und bewusste Wahrnehmung von deren Interesse an liebevoller Bezogenheit sowie deren Fähigkeit zu situationsangemessener Aggressivität. 265 Ähnlich formulierte Freud im selben Jahr in Das Unbehagen in der Kultur: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben« (Freud 1930, S. 473). 266 Freud unterschied zwischen dem in allem Lebendigen wirkenden Todestrieb – der sich mit dem Eros »die Weltherrschaft teilt« – und dem menschlichen Aggressionstrieb als dessen »Abkömmling und Hauptvertreter« (Freud 1930, S. 481). Auch wer sich auf die Behauptung beschränkt, dass ein Aggressionstrieb existiert, suggeriert jedoch, jeder Mensch sei biologisch vorgegeben gefährlich und damit permanent kontrollbedürftig (vgl. Fromm 1989e, S. 13–19, 71–78).
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René Laforgue ergänzte in seinem Beitrag über Schuldgefühl und Nationalcharakter weitere Auswirkungen des Todestriebes: das »Strafbedürfnis des Menschen« und die »Tendenz« der kindlichen Libido, »sich durch Angst, Schmerz und Leid sättigen zu lassen« (Laforgue 1931, S. 409). Das entsprach Freuds Annahme eines »primären«, also ebenfalls angeborenen Masochismus und Sadismus.267 Dementsprechend fragte Laforgue angesichts einer angeblich »homosexuell-sadomasochistischen Libidobefriedigung der Masse«: »Bis zu welchem Grade dient die Gesellschaftsordnung der Befriedigung des Bedürfnisses [!] des Einzelindividuums in der Masse, einerseits gequält, verängstigt oder gehemmt zu werden, andererseits zu quälen, zu ängstigen oder zu hemmen?« (ebd., S. 411). Im anschließenden Beitrag Politischer Radikalismus erfuhr man von Fritz Wittels: »Die Sendung der Psychoanalyse war es, die Welt der Triebe aufzugraben und zu zeigen, daß diese Welt von der anderen, objektiven Welt […] bis zu einem hohen Grade unabhängig ist« (Wittels 1931, S. 432). Dem »Destruktionstrieb und seinen Verkleidungen« nachspürend, teilte er als »Wahrheit« über die Ursache des Ersten Weltkrieges mit: »Das Es gibt dem Ich den Auftrag, Kanonen zu bauen und zündet dann die Lunten an, ohne das Ich zu fragen« (ebd., S. 434). »Der Friede«, so Wittels weiter, »ist eine Fortsetzung des Krieges, nur mit anderen Mitteln. Auch er ist mörderisch« (ebd., S. 434f.). Für die Gegnerschaft der »radikalen politischen Parteien« – gemeint sind offensichtlich Nationalsozialisten und Kommunisten – fand er ebenfalls eine »triebhafte Grundlage«: »leidenschaftlicher Radikalismus, dessen tiefste soziale Wurzel im Ödipuskomplex, dessen biologische Ursache im Destruktionstrieb, infolgedessen auch im Strafbedürfnis steckt« (ebd., S. 435). Im Aufsatz Zum Kampf um die Todesstrafe erklärte Hugo Staub zum einen, dass die Todesstrafe den »sozialen Wert« habe, dem Menschen durch Abschreckung beim notwendigen Unterdrücken der eigenen mörderischen Triebnatur zu helfen (Staub 1941, S. 450f.). Zum anderen sei der Mensch nun einmal darauf angewiesen, dass ihm »Abfuhrventile« für seinen Destruktionstrieb – also vor allem Sublimierungen – angeboten würden. Zu diesen gehöre auch die »Befriedigung über das blutige Ende« von Schwerverbrechern, erst recht, wenn dieses direkt oder durch Medien öffentlich miterlebt werden könne. Daher 267 Der »erogene Masochismus, die Schmerzlust« sei, so Freud 1924, »biologisch und konstitutionell zu begründen […]. Wenn man sich über einige Ungenauigkeiten hinaussetzen will, kann man sagen, der im Organismus wirkende Todestrieb – der Ursadismus – sei mit dem Masochismus identisch« (Freud 1924c, S. 373, 377).
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»ist es eine Frage rein soziologischer Zweckmäßigkeit, welche Abfuhrventile am ehesten verstopft werden müssen und können, und ob sich die mitteleuropäische Menschheit dieser Tage den kulturellen Komfort noch leisten kann, dem durch Triebverzicht aller Art geplagten Bürger auch noch die Circenses des Schafotts zu nehmen« (ebd., S. 452).
Die »gegenwärtige Lage in Mitteleuropa« sei jedenfalls nicht günstig für die Gewährung dieses »Komforts«: »Das soziale Gefüge […] ist zu stark gelockert, der dadurch befreite Aggressionstrieb flammt aus zu vielen Quellen hervor […] als daß es zweckmäßig sein könnte, die Atmosphäre durch eine […] Reform gerade jetzt noch mehr anzuspannen« (ebd., S. 456). Massenwirksame Tötung Einzelner zur Vermeidung von Massentötungen durch Kriege und soziale Unruhen. Vielleicht wäre Staub heute ein Befürworter von Gewaltvideos. Allerdings bekam auch der »Linksfreudianer« Erich Fromm Gelegenheit, Position zu beziehen. In dem Beitrag Politik und Psychoanalyse schrieb er: »Es sind in erster Linie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, unter denen eine Gruppe lebt. Für die Gesellschaft gilt, daß die Ökonomie ihr Schicksal ist« (Fromm 1931, S. 442). Er bekräftigte, dass sich Psychoanalyse und historischer Materialismus gegenseitig ergänzen könnten und grenzte zugleich beide voneinander ab. Im eindeutigen Widerspruch zu Freud (1912–13a, S. 295; vgl. auch 1939a, S. 207) formulierte er: »Die Masse ist kein Neurotiker« (Fromm 1931, S. 446). Seine Ausführungen machten klar, dass er nicht an die Existenz eines Todestriebes glaubte. Vielleicht weil er sich diesbezüglich in keine offene Auseinandersetzung einließ, Freud auch nicht namentlich kritisierte, löste Fromms Beitrag bei Freud offenbar keine Gegenreaktionen aus. Auch Reich saß derweilen an einem Artikel, in dem er sich mit dem Todestrieb befasste, genauer gesagt: diesen widerlegen wollte. Mit einer ähnlich naiv anmutenden Haltung, wie er sie gegenüber den KPD-Funktionären an den Tag legte, erwartete er anscheinend, dass seine immer grundsätzlicher werdende FreudKritik von den Analytikern akzeptiert oder zumindest diskutiert werden würde.
1.4.11 Der Masochismus-Artikel: Reichs Freud-Widerlegung Am 19.12.1931 hielt Reich vor den Berliner Analytikern einen Vortrag zum Thema »Die sexuelle Ökonomie des masochistischen Charakters« (IZP-Kor149
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respondenzblatt 1932, S. 140).268 Was er dort mitteilte, dürfte weitgehend dem Inhalt des Artikels entsprochen haben, den er zur Veröffentlichung in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse eingereicht hatte: Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes und des Wiederholungszwanges. Mitten in der Höhle des Löwen – die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud herausgegeben – wollte Reich also zwei wesentliche Bestandteile der aktuellen Freudschen Anschauungen ad absurdum führen.269 Wie Fromm tat auch er dies, ohne Freud direkt zu attackieren. So setzte er beispielsweise, nachdem er Freud als den Urheber der Todestriebtheorie benannt hatte, fort: »Die Vertreter der Todestriebhypothese versuchten immer wieder, ihre Annahmen durch Berufung auf physiologische Abbauvorgänge zu stützen. Aber nirgends findet sich eine brauchbare Anschauung« (Reich 1999, S. 285). Dann machte Reich mittels einer ausführlichen Falldarstellung nachvollziehbar, dass masochistische Bedürfnisse auf in der Kindheit erlittene Traumatisierungen zurückgehen. Ursprünglich diene die masochistische Selbstbestrafung der Vermeidung einer erwarteten, weit schlimmeren Qual. Nur weil jene Qual durch »masochistisches« Verhalten vermieden werden könne, sei dieses Verhalten angstreduzierend und somit »lustvoll«. Daraus schloss er: »Die bisherige [ebenfalls maßgeblich auf Freud zurückgehende –A.P.] Bewertung des Strafbedürfnisses in der Psychoanalyse führte zu einer irreführenden Abänderung in der analytischen Neurosenlehre, beeinträchtigte die Theorie der Therapie, verrammelte den Weg zur Problematik der Neurosenprophylaxe und verdunkelte die sexuelle und soziale Ätiologie der Neurosen« (ebd., S. 315).
Auch wenn Reich sich dagegen wandte, dass die »masochistische Sexualeinstellung neurotischer Frauen […] von manchen Analytikern als normale weibliche Haltung aufgefaßt wird«, richtete sich das nicht zuletzt gegen Freuds entsprechende Auffassungen (ebd., S. 325; vgl. Alby/Pasche 1982, S. 473; Shainess 1982, S. 407ff.). In deutlicher Anspielung auf jenes Buch Freuds, in dem dieser 1920 erstmals den Todestrieb öffentlich konzipiert hatte, bemerkte Reich dann bezüglich einiger, mit dem Masochismus verbundener Symptome: »Es bedeutet aber eine völlige 268 Auf diesen Vortrag machte mich Bernd Nitzschke aufmerksam. 269 Reich gab hier aber noch keine eigene Definition von Sexualökonomie, sondern blieb im Rahmen von Freuds Theorie der libidinösen Ökonomie oder Triebökonomie. So sprach Reich zum Beispiel von der »Sexualökonomie des Masochisten« (Reich 1999, S. 293).
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Verkennung der Tatsachen, diese Phänomene jenseits des Lustprinzips begreifen zu wollen« (ebd., S. 326). Und abschließend schrieb er: »Hypothesen von der Art der hier kritisierten sind sehr oft nur Zeichen eines zu frühen Versagens vor den Aufgaben der analytischen Praxis. […] Mit der hier gegebenen Darstellung des masochistischen Prozesses sind längst nicht alle Probleme des Masochismus gelöst. Man darf aber behaupten, daß […] sich der Weg zur Klärung der Restfragen, der durch die Todestriebhypothese verlegt war, leicht wird finden lassen« (ebd., S. 329).
In diesem Artikel zeichnete sich auch Reichs Entwicklung hin zu einer neuen Therapieform ab. Schon 1929 hatte er, so schrieb er später, angefangen »zu begreifen, daß der Ausgangskonflikt der seelischen Erkrankung (der ungelöste Widerspruch von Luststreben und moralischer Versagung) sich in Form der muskulären Störung physiologisch strukturell verankert« (Reich 1987, S. 194). Seitdem richtete er sein Augenmerk zusätzlich zum verbalen auf den körpersprachlichen Ausdruck von Gefühlen und Gedanken. Während seiner Berliner Jahre bezog er dies immer systematischer in seine Behandlung ein, sodass sein Wohnhaus in Berlin-Schöneberg zur Geburtsstätte der Körperpsychotherapie wurde.270 Das spiegelt ebenfalls die im Masochismus-Artikel mitgeteilte Fallgeschichte wider: »Es war zunächst nicht leicht, den Patienten dazu zu bewegen, das trotzige Agieren der Kindheit zu reaktivieren. […] Ein vornehmer Mensch […] kann doch derartiges nicht tun.« Reich »versuchte es zuerst mit der Deutung, stieß aber auf völliges Ignorieren meiner Bemühungen. Nun begann ich, den Patienten nachzuahmen.« Dadurch verunsichert, wohl auch verärgert, reagierte dieser »mit einem unwillkürlichen Aufstrampeln. Ich ergriff die Gelegenheit und forderte ihn auf, sich völlig gehen zu lassen. Er begriff zuerst nicht, wie man ihn zu derartigem auffordern könne, aber schließlich begann er mit immer mehr Mut, sich auf dem Sofa hin und her zu werfen, um dann zu affektivem Trotzschreien und Hervorbrüllen unartikulierter, tierähnlicher Laute überzugehen. Ganz besonders stark wurde ein derartiger Anfall, als ich ihm einmal sagte, seine Verteidigung seines Vaters sei nur eine Maskierung seines maßlosen Hasses gegen ihn. Ich zögerte auch nicht, diesem 270 Korrekter müsste es für diese Zeit noch heißen: Psychokörpertherapie, da der Körper erst allmählich in den Mittelpunkt seiner Arbeit rückte. Wenn auch andere, wie die Tanztherapeutin Elsa Gindler, ebenfalls in diese Richtung gingen, Kollegen wie Fenichel, Ferenczi und Adler einzelne ähnliche Überlegungen angestellt hatten, ist die Körperpsychotherapie doch in erster Linie Reich zu verdanken (vgl. Geuter 2007, Mueller 2004, Peglau 2015a).
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Haß ein Stück rationaler Berechtigung zuzubilligen. Seine Aktionen begannen nunmehr, einen unheimlichen Charakter anzunehmen. Er brüllte derart, daß die Leute im Hause ängstlich zu werden begannen. Das konnte uns nicht stören, denn wir wußten, daß er nur auf diese Weise seine kindliche Neurose voll, affektiv, nicht nur erinnerungsmäßig, wiedererleben konnte« (ebd., S. 299).
Indem Reich dieses Geschehen im Laufe der folgenden Stunden mit dem Patienten durcharbeitete und weitere Bezüge zu dessen Lebensgeschichte aufdeckte, betätigte er sich durchaus im herkömmlichen Sinne psychoanalytisch. Dennoch musste sein therapeutisches Herangehen Freud zutiefst missfallen, war es doch für diesen zum Ideal geworden, seine Zornesausbrüche »mannhaft beherrscht« zu unterdrücken (Gay 2006, S. 358) oder gar grundsätzlich den »Sieg über die Leidenschaften« davonzutragen ( Jones 1984, Bd. 2, S. 432). Auch zu den Zielen psychoanalytischer Behandlung zählte er, triebgesteuerte Handlungen beherrschen zu lernen (Freud 1923a, S. 227f.).271 Wie hätte er sich da mit Reichs Entwicklung hin zu einer gefühlsaufwühlenden, das Vorhandensein prosozialer menschlicher Triebe unterstellenden Körperpsychotherapie anfreunden können? Freud las die Fahnen des von Otto Fenichel als verantwortlichem Redakteur bereits zur Drucklegung genehmigten Artikels Ende 1931. Am 1.1.1932 notierte er in seinem Tagebuch »Langer Magenanfall – Schritt gegen Reich« (Freud 1996, S. 40f.). Am 9.1.1932 teilte Freud Max Eitingon mit: »Reichs und Fenichels Versuch, die Zeitschriften für bolschewistische Propaganda zu mißbrauchen«, gehöre zu den Dingen, »über die ich entsetzt bin – alles zeigt, daß unter dem anätzenden Einfluß dieser Zeiten sich die Charaktere rasch zersetzen« (Freud/ Eitingon 2004, S. 777f.). Freuds umgehend verfasste Vorbemerkung zu Reichs Artikel belegt, dass er – fernab der Realität – auch Reichs rein klinischen Masochismus-Artikel dieser angeblich »bolschewistischen Propaganda« zuschlug.272 271 Schon in Der Moses des Michelangelo hatte Freud als »die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, […] das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrag einer Bestimmung, der man sich geweiht hat«, bezeichnet (Freud 1914b, S. 198). 272 Helmut Dahmer sieht allerdings eine wesentliche »Übereinstimmung zwischen Reich und dem Sowjetmarxismus«, die Freud veranlasst haben dürfte, beide hier in einem Atemzug zu nennen: den mit Freuds Theorien nicht übereinstimmenden »naiven Glauben an eine naturale Harmonie auch der menschlichen Natur, die auf Soziabilität (gegenseitige Hilfe und kollektive Selbsterhaltung) ausgelegt sei« (persönliche Mitteilung am 1.7.2012). Sollte das zutreffen, wäre es aus meiner Sicht eine erklärungsbedürftige Simplifikation seitens Freud. Schon als Kenner des Werkes von Ludwig Feuerbach wusste er, dass ein solches Menschenbild nicht erst von Bolschewisten vertreten wurde. Dass er nun alle, die seinem
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In dieser Vorbemerkung schrieb Freud, als Herausgeber der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse wolle er die Leser darüber verständigen, dass Dr. Reich »Mitglied der bolschewistischen Partei ist. Nun ist bekannt, dass der Bolschewismus der Freiheit des wissenschaftlichen Forschens ähnliche Schranken setzt wie die kirchliche Organisation. Der Parteigehorsam fordert, daß alles verworfen wird, was den Voraussetzungen der eigenen Heilslehre widerspricht« (zitiert in Reich 1995, S. 201).273
Die Ironie, dass Freud selbst es hier war, der der Freiheit wissenschaftlichen Forschens Schranken setzen wollte, scheint ihm entgangen zu sein. Nicht so Reich, dem der Verlag diese Vorbemerkung mit dem Zusatz zusandte, wenn er sie nicht akzeptiere, könne sein Artikel nicht erscheinen. Er konterte: »1. Die von mir geübte Kritik am Todestrieb und Wiederholungszwang hat mit keiner Stelle der Kommunistischen Partei irgendetwas zu tun. […] 2. Mit Punkt 1 ist die Behauptung des Herausgebers, ›dass der Bolschewismus der Freiheit des wissenschaftlichen Forschens ähnliche Schranken setzt, wie eine kirchliche Organisation‹, widerlegt. Die Unzulässigkeit dieser, auf keinerlei Sachkenntnis begründeten Behauptung, ergibt sich eindeutig aus folgender Erfahrung. Als ich nach Berlin übersiedelte, wurde ich von der Leitung der ›Marxistischen Arbeiterschule‹ der Kommunistischen Partei Deutschlands aufgefordert, Kurse über Psychoanalyse und Marxismus zu lesen. Ich konnte dies unkontrolliert und unbehindert bisher tun. Das Zentralkomitee des Jugendverbandes Deutschlands beauftragte mich, eine Broschüre für die Jugend zu schreiben und akzeptierte das Manuskript, welches im medizinischen Teile auf analytischen Erfahrungen basiert. In den proletarischen Organisationen und in den Studentengruppen konnte ich wiederholt die noch sehr strittigen Fragen der Beziehung zwischen Marxismus und Psychoanalyse behandeln. Der offizielle Schulungskursus der Partei für sexualpolitische Referenten baut sich auf der analytischen Libidotheorie auf. Das ist die Diktatur gegen die Freiheit der Forschung. Menschenbild widersprachen, als Gegner bzw. Bolschewisten einstufte, kann ich nicht glauben. Zum anderen scheint mir bei Freuds Kritik der Sowjetunion dieser Punkt weder die entscheidende Rolle zu spielen noch so deutliche Aggressivität bei ihm freizusetzen wie gegenüber Reich. 273 Im Original in AOI, Correspondence, Box 4, Psa., 1935-»EP«, 1935–1954 (hier mit Datum 1.1.1931 versehen) heißt es: »eine kirchliche Organisation«. In englischer Übersetzung findet sich das Zitat auch in Reich/Eissler 1972, S. 155–158. Michael Schröter wies mich darauf hin, dass Freud offenbar noch eine spätere Fassung schrieb, die im Konvolut der Briefe an Eitingon enthalten ist. Dort steht: »Im Falle des Herrn Dr. W. Reich soll aber der Leser verständigt werden, daß der Autor Mitglied einer deutschen politischen Partei ist, die sich die Methoden und Ziele des Bolschewismus zu eigen gemacht hat.« Im nächsten Satz ist dann von »Freiheit des wissenschaftlichen Forschers« – statt Forschens – die Rede.
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Zur gleichen Zeit wurde ich von Herrn Dr. Eitingon aufgefordert, keine soziologischen Themen in die Vereinigung zu bringen. […] Das ist die liberale Freiheit der Forschung. 3. Ich weise den Anwurf, bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten unter politischem Zwang zu stehen, zurück. Die Arbeit ›Der masochistische Charakter‹ beinhaltet eine immanent analytische Kritik, die sich keinen Schritt von der analytischen Empirie entfernt. Dass meine Forschungsrichtung […] politische Konsequenzen hat, zu deren Vermeidung die neueren Triebtheorien aufgestellt wurden, liegt in der Natur der Sache. […] 5. Ueber die Richtigkeit oder Unrichtigkeit meiner analytischen Aufstellungen aus den letzten Jahren hat Herr Professor Freud nie ein Wort verloren. Er hat sich auch nicht dazu geäußert, in welchem Punkt er meine Kritik der Todestrieblehre für sachlich unrichtig hält« (ebd.).
Freud zog jedoch seine Vorbemerkung schnell zurück. Das begründete er am 19.1.1932 gegenüber Eitingon insbesondere damit, dass ihm Bernfeld mitgeteilt habe, seine Formulierungen könnten wirken, als wolle er »den Sowjets […] mit einer Kriegserklärung zuvorkommen. Ich habe also beschlossen, den Aufsatz von Reich überhaupt zurückzustellen. Das ist keine endgiltige Lösung. Ich warte auf eine solche. Daß ich den Aufsatz ohne Abwehrreaktion erscheinen lasse, bleibt ausgeschlossen« (Freud/Eitingon 2004, Bd. 2, S. 778f.).
Damit dürfte sich Freud weiterhin in einem Dilemma befunden haben. Die ebenso aggressive wie inhaltlich unangemessene Reaktion, die Reichs Masochismus-Artikel bei ihm ausgelöst hatte (»bolschewistische Propaganda«), deutet darauf hin, dass er die Gruppe »linker« Analytiker um Reich und Fenichel als Gefahr ansah. Das ist nachvollziehbar: Sie bedrohten das von ihm erwünschte »unpolitische« Image der Psychoanalyse, Reich stellte Freuds Lehre in weiteren Punkten öffentlich infrage. Freud könnte sie auch im Verdacht gehabt haben, auf eine erneute Spaltung der Psychoanalytiker hinzusteuern. Was Reich betraf, wäre dieser Verdacht nicht grundlos gewesen.274 Indem Freud darauf verzichtete,
274 Im April 1934 sollte Reich im Vorfeld des Luzerner IPV-Kongresses den Empfängern der Fenichel-Rundbriefe vorschlagen: »Organisatorischer Zusammenschluß der bereits voll überzeugten dialektisch-materialistischen Psychoanalytiker zu einer oppositionellen Gruppe innerhalb der I.P. V. Ausschluß nicht fürchten, aber auch nicht provozieren« (in Fenichel 1998, Bd. 1, S. 74). Wie sich zeigen sollte, war die Konfliktbereitschaft der anderen Gruppenmitglieder weit weniger stark ausgeprägt.
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Reichs fachliche Häresien mittels Bolschewismusetikett als unwissenschaftlich und damit unpsychoanalytisch abzuwerten, blieb Reichs Einfluss bestehen und konnte sich ausweiten.275 Närrisch mag ihm Reich schon vorher vorgekommen sein. Am 9.5.1932 jedoch titulierte er ihn Eitingon gegenüber erstmals als »gefährlichen [!] Narren« (ebd., S. 808). Das im Sommer 1932 von Freud beendete Manuskript der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse enthielt dann bereits den Satz, die psychoanalytischen »Abfallbewegungen« hätten sich jeweils »eines Stücks aus dem Motivenreichtum der Psychoanalyse bemächtigt und sich aufgrund dieser Besitzergreifung selbständig gemacht, etwa des Machttriebs, des ethischen Konflikts, der Mutter, der Genitalität usw.« (Freud 1933a, S. 154). Mit der »Genitalität« konnte nur Reich gemeint gewesen sein, der hier also von Freud in eine Reihe mit Adler, Jung und Rank gestellt und so eingeordnet wurde, als gehöre er schon nicht mehr dazu.276 Die Aufgabe, Reichs Masochismus-Artikel mit einer ausführlichen Gegendarstellung zu versehen, übernahm Siegfried Bernfeld,277 der freilich dabei auf den Inhalt von Reichs Artikel gar nicht einging. Dies war von Freud so nicht beabsichtigt gewesen, wie sich einem Brief entnehmen lässt, den er am 22.5.1932, nach Lektüre der Gegendarstellung, an Bernfeld schrieb: »An Ihrer speziellen Polemik gegen Reich ist mir aufgefallen, dass sie soviel mehr allgemeine Ablehnung als eingehende Widerlegung ist, so dass z.B. der ›Todestrieb‹ in Ihren Ausführungen kaum erwähnt wird. Das ist nicht notwendig ein Vorwurf« (Freud 2012, S. 220). 275 Tatsächlich informierte zum Beispiel die Leipziger psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft über eine »Ausführliche Diskussion« zu diesem Artikel am 5. und 12.10.1932. Und als Bestandteil von Reichs 1933 erschienener Charakteranalyse dürfte er erneut Gegenstand der vielfachen Diskussionen zu diesem Buch in verschiedenen Landesverbänden gewesen sein (siehe zum Beispiel IZP-Korrespondenzblatt 1933/19, S. 283, 1934/20, S. 133, 135, 136, 416, 418, 1935/21, S. 149). Wie erwähnt, stellten zu dieser Zeit auch Melanie Klein und Ferenczi wichtige Thesen Freuds infrage. Vermutlich steigerte das dessen Sorge um den Erhalt seines Lebenswerkes und seine Empfindlichkeit gegenüber grundlegender Opposition. 276 Darauf verweist bereits Hoevels (2001, S. 38). Vielleicht war auch Reich gemeint, wenn Freud dann davon sprach, all diese Abweichler »haben sich – bis auf eine bemerkenswerte Ausnahme – selbst ausgeschlossen« (Freud 1933a, S. 155). Reich besaß ja 1932 noch DPGund IPV-Mitgliedschaft und hatte beileibe nicht die Absicht, freiwillig darauf zu verzichten. Noch am 22.4.1933 sollte er an die IPV-Leitung schreiben, dass er »unter keinen Umständen, bei noch so grossen Demütigungen und inoffiziellen Ungerechtigkeiten selbst aus der IPV austreten werde« (AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934). 277 Siehe dazu auch Dahmer (2009a, S. 236).
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Freud dürfte sich damit zufrieden gegeben haben, weil das, was auch er Reich vorwerfen wollte, nämlich dessen geistige Nähe zum Bolschewismus, den Schwerpunkt von Bernfelds Entgegnung bildete. Bernfeld nahm dafür einen bereits zuvor von ihm verfassten Text als Grundlage (Dudek 2012, S. 485), in dem er die Psychoanalysediskussion in der Kominternzeitschrift Unter dem Banner des Marxismus, insbesondere die dabei von Reich vertretene Position (Reich 1929a), einer Kritik unterzog.278 Dabei legte Bernfeld es erkennbar darauf an, Reich zu diskreditieren: »Reich verspricht der Psychoanalyse den ganzen sozialistischen Kontinent der unbegrenzten kulturellen Möglichkeiten, wenn sie nur einige Verirrungen ablegt.« Reich erledige »Punkt für Punkt« die Aufgaben, die ihm seitens der Bolschewisten zur »Reinigung der Psychoanalyse« vorgegeben worden seien. Oder: »Wenn Reich sich die Aufgabe stellt, die Psychoanalyse der Komintern nahezubringen, so wird er guttun, die Bedeutung der Psychoanalyse nicht nach seinen privaten Sexualidealen zu bestimmen« (Bernfeld 1972, S. 81, 91, 107).279 Während Bernfeld Reichs »Bolschewismus« anprangerte, wusste er über das Land der Bolschewiki auch Positives zu berichten. Aus der »Meinung der führenden Schicht des kommunistischen Marxismus von 1930« schlussfolgerte er: »Die Psychoanalyse ist in Sowjetrußland, was die theoretische, aber doch offizielle Anerkennung angeht, weiter und umfangreicher akzeptiert als in irgendeinem anderen Land.« Das sei ausreichend, »um in Sowjetrußland psychoanalytische Lehre und Forschung zu ermöglichen und der Rezeption der Psychoanalyse […] ein genügend breites Einfallstor zu gewähren« (ebd., S. 94f.). Während sich Reich in seinem Artikel auf klinische Fragestellungen beschränkte, lobte nun also Bernfeld in seiner Entgegnung den Bolschewismus in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse. Auch Bernfelds letzter Absatz belegt, dass es hier gegen Reich ging – nicht gegen den Kommunismus:
278 Peter Dudek teilt dazu mit, Bernfelds Entgegnung stamme aus einer »grundsätzliche[n] Auseinandersetzung mit der ›sowjet-russischen Psychologie‹, die er schon seit 1931 geplant hatte und die der letzte Teil seiner gedachten Quadrologie zur ›Krise der Psychologie‹ sein sollte«. Bernfeld habe also »einen schon geschriebenen oder angefangenen Text, der in einem ganz anderen Kontext entstanden und gedacht war, am Ende mit knappen Kommentaren zu Reichs Masochismus-Aufsatz versehen und zum Druck gegeben« (Dudek 2012, S. 485). Bereits Bernfelds Urtext muss jedoch im Wesentlichen eine Polemik gegen Reich gewesen sein: Kritik an Reich steht im Zentrum dieses Textes. 279 Eine sachliche Besprechung des Artikels findet sich dagegen im International Journal of Psychoanalysis 14/1933, S. 264–265. Rezensent Adrian Stephen würdigte den Artikel als Beitrag zur Therapietechnik- und -methodik und erwähnt ohne weitere Wertung Reichs Kritik an »Freuds späten Theorien«.
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»Reichs kommunistischer Text […] erweckt die Befürchtung, als sei vom marxistischen Kommunisten diese Verwilderung und Verschundung der Wissenschaft gefordert. Wenn dem wirklich so ist, dann [!] sind Kommunismus und Psychoanalyse unvereinbare Gegensätze. Aber nicht Reich ist zuständig, hierüber entscheidende Antwort zu geben« (ebd., S. 112).
Aber war es überhaupt eine Ausnahme, dass Psychoanalytiker sich zustimmend über Marxismus oder Kommunismus äußerten? Stand Freud, standen alle Analytiker außer Reich ansonsten den Entwicklungen in der Sowjetunion grundsätzlich ablehnend gegenüber?
1.4.12 Freud und der Kommunismus Michel Onfray erhebt in seinem Buch Anti-Freud den Vorwurf, Freud sei vor allem auf dem »rechten« Auge blind gewesen, hätte sich nur gegenüber dem Kommunismus, nicht aber gegenüber dem Faschismus kritisch geäußert (Onfray 2011, S. 407ff.; vgl. Gay 2006, S. 666–670). In Wirklichkeit äußerte Freud sich so gut wie gar nicht öffentlich zum Faschismus. Wo er es jedoch tat – egal ob öffentlich oder privat –, fielen diese Äußerungen durchweg distanziert bis klar ablehnend aus.280 Die NS-Machtübernahme sah er von vornherein als rein rückschrittlichen, für die Kulturentwicklung und die Psychoanalyse bedrohlichen Einschnitt (Lockot 2002, S. 110f., 116ff.). Seine Haltung gegenüber marxistischen und kommunistischen Ideen und deren Umsetzung in »linker« Politik war wesentlich ambivalenter. Das zeigt bereits sein Verhalten während der zunächst bürgerlichen, ab Frühjahr 1919 dann kommunistischen Revolution in Ungarn, wo sich mit Budapest eines der Zentren der psychoanalytischen Bewegung befand. Immerhin elf der 18 ungarischen IPV-Mitglieder engagierten sich aktiv in den revolutionären Umwälzungen. Die Mitglieder der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung, Jenö (= Eugen) Varga und Sándor Varjas, die »zu den im Marxismus und in der Psychoanalyse am besten ausgebildeten Personen in Ungarn« gehörten, besetzten in beiden Phasen der Revolution wichtige Stellen:
280 Tatsache ist allerdings auch, dass Freud sich dennoch in der ersten Hälfte der 1930er Jahre klar gegen »linke« Analytiker wie Reich und Fenichel stellte, nicht jedoch gegen eher zu »rechts«-konservativen Tendenzen neigende deutsche Kollegen (Dahmer 1997, S. 182). Dazu später mehr.
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»Varga wurde Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Professor an der Universität, Varjas Vorstandsmitglied in der Landesstelle für Erwachsenenbildung. […] In der [kommunistischen – A.P.] Räterepublik wurde Varga Volkskommissar (= Minister) für Finanzen. Varjas wurde Leiter der Abteilung der Wissenschaftlichen Propaganda und baute eine Hochschule für Agitatorenausbilder auf« (Kruppa 2011, S. 45ff.).
Zwölf Jahre vor Wilhelm Reichs KPD-Mitgliedschaft übernahmen hier also Analytiker offizielle Funktionen innerhalb eines kommunistischen Staatsapparates, erfuhren diesbezüglich aber weder von Freud noch von der IPV Kritik oder Ausgrenzung. Nachdem am 25.4.1919 Sándor Ferenczi von ungarischen Kommunisten, unter ihnen ein so prominenter Marxist wie Georg Lukács (Erös 2011, S. 78; zu Lukács vgl. Dahmer 2009j), zum Professor ernannt worden war, schrieb Freud an Ernest Jones: »Die Räteregierung verhielt sich bisweilen sehr galant der Psychoanalyse gegenüber. Ferenczi wurde zum ersten offiziellen Professor der Psychoanalyse, ein Erfolg, von dem wir nicht einmal zu träumen wagten« (ebd., S. 69). Diesen Erfolg hatte Freud mit der Abfassung des zur Veröffentlichung in Ungarn gedachten Beitrages Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden? aktiv unterstützt (Schröter 2011, S. 85ff.).281 Auch bezüglich der Sowjetunion war Freud interessiert, vorhandene Chancen für den Aufbau bzw. den Erhalt einer psychoanalytischen Organisation zu nutzen. Am 25.11.1925 schrieb er an den antisowjetisch eingestellten Exilrussen und Psychoanalytiker Nikolaj J. Ossipow: »Ich hoffe, daß Sie verstehen, daß wir ohne viel Sympathien für das jetzige Regime in Rußland doch kein Recht und keine Möglichkeit haben, Partei zu nehmen und die Mitarbeiterschaft dort abzulehnen, wenn sie sich findet« (Freud/Ossipow 2009, S. 66). 1926 las Freud das Buch Marx, Lenin and the science of revolution, das der Philosoph und Schriftsteller Max Eastman nach mehrjährigem SU-Aufenthalt verfasst hatte. Nach Lektüre dieses »Loblied[es] […] der Leninschen Politik« (Fichtner 2009, S. 187)282 urteilte Freud am 4.12.1926 in einem Brief an Eastman, dessen Schrift sei »wirklich bedeutsam, wahrscheinlich auch richtig. […] Ich glaube, Sie sind selbst Sozialist. Ich stimme mit der Bewegung in den Zielen überein, aber in Betreff der Mittel und Wege – ich denke, ich hätte Ihren großen Lenin nicht zehn Minuten lange [sic] vertragen« (ebd., S. 185). 1927 schrieb Freud in Die Zukunft einer Illusion, es liege ihm fern, »das große 281 Geschrieben hatte er den Beitrag am 16.3.1919, drei Tage vor Beginn der kommunistischen Revolutionsphase. 282 Auf diesen Artikel machte mich am 19.2.2012 Michael Schröter aufmerksam.
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Kulturexperiment zu beurteilen, das gegenwärtig in dem weiten Land zwischen Europa und Asien angestellt wird« (Freud 1927c, S. 330). Am 26.11.1930 teilte er Arnold Zweig brieflich mit: »Bei aller Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Wirtschaftsordnungen fehlt mir doch jede Hoffnung, daß der von den Sowjets eingeschlagene Weg zur Besserung führen wird. Ja, was ich von solcher Hoffnung nähren konnte, ist in diesem Jahrzehnt der Sowjetherrschaft untergegangen« (Freud/Zweig, A. 1984, S. 33).
Zwei Jahre später, in dem bereits zitierten Brief an Bernfeld vom 22.5.1932, fasste Freud seine »Grundeinstellung zum Marxismus« zusammen: »a) Der theoretische Marxismus ist eine Theorie von Dingen, mit denen sich die PsA noch nicht befasst hat; sie kann ihn also derzeit nicht ersetzen. b) Es besteht kein Hindernis, das der PsA den Fortschritt auf das jetzt vom Marx[ismus] umfasste Gebiet unmöglich machen kann. Denn alle Einstellungen u[nd] Tätigkeiten der Menschen unter den komplizirten Bedingungen von Gesellschaftsordnung, Berufstätigkeit und Erwerbsmöglichkeiten müssen schliesslich auf die ursprünglichen Triebansätze rückführbar sein – einfach darum, weil es keine anderen Motive für menschliches Handeln gibt. c) Für den theoret[ischen] Marx[ismus] besteht eine solche Entwickl[un]gs- und Ausbreitungsfähigkeit nicht« (Freud 2012, S. 220).
Der Marxismus könne also die Psychoanalyse nie ersetzen – umgekehrt durchaus.283 Dass er weiterhin der Entwicklung in Sowjetrussland keineswegs nur ablehnend gegenüber stand, demonstrierte Freud im Sommer 1932. Wie erwähnt setzte er seine Unterschrift unter Henri Barbusses Aufruf zur Rettung des Weltfriedens einschließlich des dort enthaltenen solidarischen Bekenntnisses zur Sowjetunion als besonders bedrohtem Land, »das den friedlichen Aufbau will«. In seinen Ende 1932 veröffentlichten Neuen Vorlesungen formulierte Freud zunächst kritisch zum Marxismus »in seiner Verwirklichung im russischen Bolschewismus«, dieser habe 283 Ähnlich große Erwartungen bzw. Ansprüche hatte auch Adler für die Individualpsychologie (siehe Adler-Zitat in Rattner 2000, S. 132 und Sperber-Zitat ebd., S. 134ff.). Was also Freuds Intentionen betrifft, hatten die sowjetrussischen Kritiker, die ihm in den 1920er Jahren vorwarfen, seine Lehre als Konkurrenz zum Marxismus zu verstehen, in gewisser Weise recht.
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»ein Denkverbot geschaffen, das ebenso unerbittlich ist wie seinerzeit das der Religion. Eine kritische Untersuchung […] ist untersagt, Zweifel […] werden so geahndet wie einst die Ketzerei von der katholischen Kirche. Die Werke von Marx haben als Quelle einer Offenbarung die Stelle der Bibel und des Korans eingenommen« (Freud 1933a, S. 195).284
Aber wie auch Bernfeld lag es Freud fern, die Entwicklung in der kommunistischen Sowjetunion lediglich zu kritisieren. Dass die Bolschewiken zur Einrichtung ihres diesseitigen Paradieses diverse Formen des Zwangs inklusive »Anwendung der Gewalt bis zum Blutvergießen« in Kauf nähmen, schien ihm ein zu hoher Preis zu sein. Doch er fuhr fort: »Es gibt auch Männer der Tat, unerschütterlich in ihren Überzeugungen, unzugänglich dem Zweifel, unempfindlich für die Leiden Anderer, wenn sie ihren Absichten im Wege sind. Solchen Männern verdanken wir es, daß der großartige Versuch einer solchen Neuordnung jetzt in Rußland wirklich durchgeführt wird. In einer Zeit, in der große Nationen verkünden, sie erwarten ihr Heil nur vom Festhalten an der christlichen Frömmigkeit, wirkt die Umwälzung in Rußland – trotz aller unerfreulichen Einzelzüge – doch wie die Botschaft einer besseren Zukunft. Leider ergibt sich weder aus unserem Zweifel noch aus dem fanatischen Glauben der Anderen ein Wink, wie der Versuch ausgehen wird« (ebd., S. 196).285
Am 10.6.1933 teilte er Marie Bonaparte seine Sicht mit, dass zwischen den Systemen in NS-Deutschland und Sowjetunion wohl nur der Unterschied bestehe, »daß der Bolschewismus revolutionäre Ideale aufgenommen hat, der Hitlerismus nur mittelalterlich-reaktionäre« (zitiert in Jones 1984, Bd. 3, S. 217f.). Was die marxistische Lehre betrifft, sollte Freud seine Abgrenzung sogar noch deutlich relativieren. Ernest Jones zitiert aus einem Brief Freuds, in dem dieser am 10.9.1937 schrieb: »Ich weiß, meine Äußerungen über den Marxismus zeugen weder für gründliche Kenntnis noch für richtiges Verständnis der Schriften von Marx und Engels. Ich habe seither – im Grunde zu meiner Befriedigung – erfahren, daß beide den Einfluß von Ideen und Über-Ich-Faktoren keineswegs bestritten haben. Damit entfällt das
284 Obwohl Reichs Name hier nicht fiel, dürfte sich diese Kommunismuskritik noch immer auch gegen ihn gerichtet haben: Jemand, der – wie Reich – der Ersatzreligion Kommunismus anhänge, könne kein Wissenschaftler, also auch kein Psychoanalytiker mehr sein. 285 Hervorhebungen von mir – A.P. Ähnlich ambivalent: Schottlaender 1931, S. 403f.
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Hauptstück des Gegensatzes zwischen Marxismus und Psychoanalyse, an den ich geglaubt habe« (ebd., S. 403).286
Weder »linkes« Denken noch »linke« sowjetische Staatspolitik lehnte Freud also rundweg ab. Doch wie dachten andere Analytiker in dieser Hinsicht? Und: Wie psychoanalysefreundlich oder -feindlich war die Sowjetunion? Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht es auch, den Realitätsgehalt einiger Mitteilungen Reichs über die Sowjetunion zu prüfen – und weitere Anwürfe, die wiederholt gegen Reich erhoben wurden, zu diskutieren.
1.4.13 Psychoanalyse in der Sowjetunion Bei einer psychoanalysehistorischen Tagung, die 2008 in Berlin stattfand, hat der ungarische Sozialpsychologe Ferenc Erös von Reichs »bemerkenswerte[r] Blindheit für die tatsächlichen Ereignisse in der Sowjetunion« gesprochen und gemeint, dies mit Reichs 1929 in der Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus veröffentlichter Erwartung illustrieren zu können, dass die Psychoanalyse nur im Sozialismus eine Zukunft habe. Diese Erwartung habe aber, so Erös, im Gegensatz dazu gestanden, dass »zu dieser Zeit […] die Psychoanalyse in der Sowjetunion schon untergegangen war« (Erös 2010, S. 75f.). War sie das tatsächlich? Zunächst: Bei dem von Erös zitierten Beitrag Reichs handelt es sich um Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (Reich 1929b). Reich begann die Arbeit daran im Jahr 1927 und schloss sie 1928 ab (Reich 1934a, Vorwort, o.S.) – also zu einem Zeitpunkt, als noch wenige Gründe bekannt waren, das sozialistische Experiment Sowjetunion als gescheitert einzustufen.287 Als Beleg für Reichs politische Blindheit taugt der Beitrag daher nicht. Tatsächlich hatte es ja in den ersten Jahren der Sowjetunion eine Vielzahl sozialpolitischer Initiativen und Veränderungen gegeben. Um nur einige Beispiele aufzuzählen: Alphabetisierungskampagne, Abschaffung von Schulzensuren, gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, rechtliche Gleichstellung von 286 Hervorhebung von mir – A.P. Empfänger dieses Briefes war R.L. Worrall. Da Reich zur selben Zeit seine Kritik an marxistischen Ideen und deren Umsetzung intensivierte, lässt sich fragen, ob sich seine und Freuds Haltung diesbezüglich nicht annäherten. 287 Zwar gehen die Anfänge jener »Kollektivierung« der Landwirtschaft, die im Laufe weniger Jahre mehrere Millionen Menschen das Leben kosten sollte, bis ins Jahr 1928 zurück, dies lief aber zunächst von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt ab (Bullock 1999, S. 356–379) und verschärfte sich erst im Winter 1928/29 (Hildermeier 1998, S. 384–388).
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Frauen, von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und außerehelichen Kindern, Entkriminalisierung von Homosexualität sowie Freigabe der Abtreibung (Hildermeier 1998, S. 302–321). Letzteres führte dazu, die Zahl der durch illegale Aborte verursachten Todesfälle deutlich zu reduzieren (Fallend 1988, S. 149).288 Auch der Psychoanalyse wurde Aufmerksamkeit zuteil. Im Staatsverlag wurde eine »spezielle Abteilung für psychoanalytische Literatur« gegründet, wo 1924 Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse erschienen. Acht weitere Freud-Publikationen folgten bis 1925. Im selben Jahr vertrat der Volkskommissar für Gesundheitswesen, Nikolai Semaschko, öffentlich die Sublimierungstheorie Freuds (ebd., S. 154–157; Reich 1929c, S. 358). Von 1921–24 führte Vera Schmidt, Mitglied der 1922 gegründeten russischen psychoanalytischen Gesellschaft, ihr psychoanalytisch ausgerichtetes Moskauer »Kinder-Laboratorium« (Fallend 1988, S. 163–168; Fischer/Fischer 1982, S. 700; Schmidt 2010). Auch Leo Trotzki akzeptierte Freuds Theorie zumindest als »Arbeitshypothese«, die in einigen Punkten die – von Trotzki favorisierten – Ansätze Pawlows ergänzen könne (Trotzki 1981, S. 358; Dahmer 1973, S. 287f.). Bereits 1925 begannen jedoch sowjetische Philosophen, den »Freudismus« als bürgerliche Anschauung, die mit dem Marxismus konkurrieren wolle, anzuprangern (ebd., S. 289). Am 23.2.1927 schrieb Freud an Nikolaj Ossipow: »Es geht den Analytikern in Sowjetrussland übrigens recht schlecht. Irgendwoher haben die Bolschewiken die Meinung gefangen, dass die Psychoanalyse ihrem System feindlich gesinnt ist. Sie kennen die Wahrheit, dass unsere Wissenschaft sich überhaupt nicht in den Dienst einer Partei stellen läßt, selbst aber zu ihrer Entwicklung einer gewissen Freiheitlichkeit bedarf« (Freud/Ossipow 2009, S. 71).
Erst Stalins endgültiger Sieg über die Trotzkisten und das Ausbooten Nikolai Bucharins im Jahre 1929 (Vatlin 2009, S. 175f.) läutete für die meisten politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Initiativen das Ende ein. Auch Erös, der allerdings zuvor behauptet hatte, dass die Psychoanalyse bereits 1929 in der Sowjetunion untergegangen war, notiert, dass erst 1930 die Russische Psychoanalytische Gesellschaft aufgelöst wurde. Diese an sich schon schwer nachvollziehbare Aussage (Untergang vor Auflösung?) wird dadurch noch problematischer, dass 288 Allerdings sahen die Bolschewiki auch bald ein, dass »basisdemokratische Experimente kein geeignetes Rezept waren, um das neue Regime vor dem Zusammenbruch zu bewahren« (Hildermeier 1998, S. 144). Schon unter Lenin entwickelte die Sowjetunion ausgeprägte autoritär-manipulative Züge bis hin zum Terror gegen tatsächliche und vermeintliche Vertreter des alten Regimes (ebd., S. 144–156).
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über den Auflösungszeitpunkt der sowjetischen Psychoanalyseorganisation verschiedene Versionen kursieren. Igor Kadyrow schreibt,289 dies sei schon 1927 erfolgt (Kadyrow 2010, S. 222). Das dürfte kaum stimmen. Schlüssiger beschreiben hingegen René und Eugenie Fischer, dass zwar bereits zuvor analytisches Arbeiten und Publizieren zunehmend behindert wurden, aber erst 1936 ein umfassendes Verbot erfolgt sei. Nachdem »Stalin die Psychoanalyse als ein unwissenschaftliches idealistisches Konzept« bezeichnet habe, seien »die psychoanalytischen Institute und die Gesellschaft aufgelöst, die Psychoanalyse selbst offiziell verbannt« worden (Fischer/Fischer 1982, S. 700). Diese Darstellung wird dadurch untermauert, dass sich bis 1930 im Korrespondenzblatt der IPV »Tätigkeitsberichte der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung [finden], bis 1936 […] noch offizielle Mitgliederlisten veröffentlicht« wurden (Kloocke 1995, S. 95).290 Im selben Jahr hatte auch Ernest Jones auf dem IPV-Kongress seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, die in der Sowjetunion »beginnende Toleranz der Wissenschaft gegenüber« ermögliche, dass »die psychoanalytische Arbeit auch dort wieder aufgenommen werden wird« (IZP-Korrespondenzblatt 1937/23, S. 184). Es scheint also ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Reich, der im Sommer 1929 die Sowjetunion besuchte, bereits in der Lage gewesen sein sollte, dem »Untergang« der Psychoanalyse in der Sowjetunion beizuwohnen. Stattdessen scheint seine Beschreibung der damaligen Verhältnisse – Ende 1929 in Die Psychoanalytische Bewegung veröffentlicht – durchaus zutreffend gewesen zu sein: »Von einer ›psychoanalytischen Bewegung‹ in der Sowjetunion kann, wenn man darunter dasselbe wie in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten versteht, nicht gesprochen werden. Es gibt zwar in Moskau eine Vereinigung, die Psychoanalyse vertritt […], aber […] nur wenige Ärzte, die die psychoanalytische Praxis ausüben. 289 Er beruft sich zu Unrecht auf A. Etkind, denn dieser belegt, dass die Organisation länger existierte (u.a. Etkind 1996, S. 286). 290 Zuvor war im IPV-Korrespondenzblatt allerdings seit 1931 mehrfach berichtet worden, dass aus Sowjetrussland keine Informationen vorlägen. Dass es Ende 1933 noch einen Gruppenzusammenhang sowjetischer Psychoanalytiker gegeben hat, legt auch ein Brief Vera Schmidts nahe, den sie Ende November 1933 an Fenichel schickte. Darin schrieb sie: »Wenn wir, sowjetische Analytiker, ›Marxismus‹ sagen, dann verstehen wir unter diesem Worte […] das [sic] revolutionäre Marxismus, das [sic] von Lenin und Stalin weiterentwickelt wird. […] Alle hiesige Analytiker, die Sie kennen, […] grüssen Ihnen [sic] herzlichst« (AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934, Kopie eines Briefes an Otto Fenichel vom 25.11.1933, S. 1f.). Wäre die Psychoanalyse bereits zu diesem Zeitpunkt offiziell verdammt worden, hätte zudem das Sich-Bekennen zum Status des Analytikers in einem möglicherweise kontrollierten Brief ins Ausland ein Risiko dargestellt.
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Und der erste Eindruck, den man sonst in der Sowjetunion gewinnt, ist der der Ablehnung« (Reich 1929c, S. 358).291
Immerhin aber konnte Reich, wie er berichtet, in der »Moskauer Kommunistischen Akademie« einen Vortrag über »Psychoanalyse als Naturwissenschaft« halten und mit wichtigen sowjetischen Wissenschaftlern wie I. Sapir und Aron Zalkind sowie dem aus Berlin nach Moskau übergesiedelten Psychoanalytiker Wilhelm Rohr diskutieren (Bennett/Hristeva 2016). Reich erfuhr zudem von »psychoanalytischer Forschung« am »Charkower Marx-Lenin-Institut«, »über deren Wert und Gehalt« allerdings mangels persönlicher Kontakte »nichts ausgesagt werden kann«. Sein »Fazit der Eindrücke in Moskau« war, »daß die marxistischen Theoretiker die Psychoanalyse akzeptieren werden, wenn man ihnen ihren rein naturwissenschaftlichen Kern […] präsentieren und eine klare Scheidung von den idealistischen Theoriebildungen und Anwendungen vollziehen wird« (ebd., S. 361f., 365, 367).292 Ferenc Erös hätte aber einen anderen, später entstandenen Beleg für Reichs Tendenz, sich über die reale Entwicklung in der Sowjetunion hinwegzutäuschen, finden können. Noch Anfang 1931 meinte Reich, glossieren zu müssen, »daß in Deutschland noch zehntausende Jugendliche solche Märchen glauben, wie daß in Rußland die Menschen Hungers sterben, daß Stalin ein blutiger Diktator ist, der die werktätige Bevölkerung mit einer Knute unter seiner Herrschaft hält, und daß die Bolschewisten überhaupt Menschen sind, die ständig nur mit einem Messer zwischen den Zähnen herumlaufen«.
Zu lesen war das dann ein Jahr danach in Der sexuelle Kampf der Jugend (Reich 1932a, S. 121). Abgesehen von der zuletzt aufgeführten Behauptung war das andere, was Reich da anführte, ja leider nur allzu wahr. 291 Siehe dazu auch Sharaf 1976, S. 172f. Mosche Wulff, vormaliger Präsident der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung, kritisierte 1930 Reichs Beitrag zwar in mehrerer Hinsicht, sprach allerdings nicht von einer bereits untergegangenen Psychoanalyse: »Man behandelt sie offiziell wie jede andere wissenschaftliche Disziplin« und überprüfe mit »Mißtrauen und Verdächtigung«, ob sie den herrschenden Sichtweisen entspräche. In Russland könnte sich »eine starke und fruchtbare psychoanalytische Bewegung […] entwickeln […], wenn sie nicht von offizieller Seite so energisch bekämpft würde« (M. Wulff 1930, S. 74f.; vgl. Miller 1998, S. 88–113). 292 Als Beispiel für solche Theoriebildungen benannte er unter anderem Auffassungen »in der psychoanalytischen Literatur […], die den Eindruck erwecken, als würde dem Triebgeschehen unabhängig von der Beeinflußung des Triebes durch die Außenwelt das Hauptgewicht beigemessen« (Reich 1929c, S. 362).
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Allerdings, so fährt auch Erös angesichts Reichs – zeitweiliger – Verklärung der sowjetischen Gesellschaft fort, könne diese »nicht nur mit seiner persönlichen Naivität erklärt werden. Es handelt sich hier um die Naivität einer ganzen Generation von Psychoanalytikern und anderen Intellektuellen in Russland und außerhalb, die ernsthaft glaubten, die Psychoanalyse könne in der einen oder anderen Form zur Bildung des ›neuen Menschen‹ in der klassenlosen Gesellschaft sowie zur Heilung und Prävention von Neurosen in großem Maßstab beitragen. Ihre Begeisterung schien durch die tolerante und zum Teil sogar unterstützende Haltung der sowjetischen Autoritäten gegenüber der Psychoanalyse, zumindest in einigen Bereichen […] gerechtfertigt« (Erös 2010, S. 76).
So hatte beispielsweise 1919 Paul Federn in Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft geschrieben, der »objektive Beobachter« sehe in Sowjetrussland »den ersten machtvollen Versuch einer neuen Gesellschaftsordnung«, der die »Urtendenz der Menschheit nach einer neuen Ordnung erkennen« lasse. Dass der Bolschewismus »zur Diktatur des Proletariats geschritten« sei, »mit brutaler Gewaltanwendung sein neues Recht durchzusetzen sucht, dafür ist er nicht allein verantwortlich«. Vielmehr hätte die bolschewistische, wie seinerzeit die französische bürgerliche Revolution, »aus Notwehr zum Rechtsbruch« gegriffen, da sie von äußeren und inneren Feinden attackiert wurde (P. Federn 1919, S. 24). Als Intellektuelle, denen die »revolutionären Errungenschaften« Sowjetrusslands als »Orientierungsmöglichkeiten« galten, nennt Karl Fallend in einer Liste, die sich »beliebig fortsetzen« ließe, Bernard Shaw, Stefan Zweig, Erich Kästner, Alfred Döblin, Albert Einstein, Heinrich Mann, Thomas Mann, Franz Werfel und Bertrand Russell (Fallend 1988, S. 142). Der Psychiater Auguste Forel schrieb 1931 in der Roten Fahne: »Ach, mit 83 Jahren bin ich nur noch der Schatten von mir selbst! Es leben um so mehr die Sowjets; ich bin von Herzen mit ihnen!« (zitiert ebd., S. 143). Viele derjenigen, die sich für die Sowjetunion begeisterten, statteten ihr in der Folge auch Besuche ab. Zu ihnen gehörte im August 1930 und im September 1932, also zu einem Zeitpunkt, als die massenmörderische Zwangskollektivierung der Landbevölkerung längst bzw. immer noch auf vollen Touren lief (Hildermeier 1998, S. 393–401), auch Otto Fenichel. Doch, so Helmut Dahmer,293 293 In Dahmers Rezension von Elke Mühlleitners Fenichel-Biografie. Er bezieht sich hier insbesondere auf die Seiten 201 bis 208 bzw. auf einen Brief Fenichels an Trygve Braatøy vom 29.10.1932 (Sammlung Håvard Nilsen, Oslo).
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»der fellow-traveller, ganz im ›Rußlandfieber‹ und von der unsichtbaren Hand der GPU geleitet, wurde davon nichts gewahr. […] In einem Brief an seine Mutter vom 23.9.1932 heißt es: ›Nach der Hasterei von Besichtigungen und Exkursionen‹ habe er ›eine Woche reine Erholung in wunderschöner Natur hinter‹ sich. […] Er vermerkte zwar, es gebe ›drüben‹ enorme Schwierigkeiten, pries aber doch die vermeintlich im Aufbau begriffene Zukunftsgesellschaft: ›Welche Erholung ist diese ganze Luft, wenn man aus der kapitalistischen Welt kommt!‹« (Dahmer 2009m, S. 15)
Erst ab 1934, mit den Moskauer »Schauprozessen«, und auch da nur zögerlich, begann eine größere Zahl vorher stalinfreundlicher Intellektueller vom sowjetischen Diktator abzurücken (Bullock 1999, S. 646f., vgl. Dahmer 2009h). Weder von Freud noch von anderen damaligen Psychoanalytikern sind mir allerdings Stellungnahmen zu diesen Prozessen bekannt.294 Der Name Stalin taucht im Stichwortverzeichnis von Freuds Gesamtwerk nicht auf.295 Zum Aha-Erlebnis bezüglich der Ziele des realen Kommunismus wurde dann für viele der 1939 geschlossene Hitler-Stalin-Pakt (Bullock 1999, S. 812–822; Bayerlein 2008). Wilhelm Reich war da allerdings schon lange zu einer offensiven Kritik am Stalinismus übergegangen. Die Wurzeln seiner endgültigen Desillusionierung über den real existierenden Kommunismus gehen jedoch zurück bis ins Jahr 1932.
1.4.14 Eskalation in der KPD Reich selbst gibt in seinem Erinnerungsbuch Menschen im Staat und in seiner Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie (Reich 1995, S. 186– 198, 1934f., 1935b) eine sehr geraffte Darstellung der folgenden Ereignisse, lässt dabei vieles aus, nennt selten Namen und scheint in der Erinnerung auch manches Detail falsch zugeordnet zu haben. Mittels der Dokumente der Archives of the Orgone Institute und weiterer Quellen lassen sich nun diese Vorgänge und deren Brisanz wesentlich besser nachvollziehen. Dabei zeigt sich: Es handelte sich nicht um einen kleinen internen Streit. Wichtige, wenn auch heute meist weitgehend vergessene kommunistische Funktionäre waren beteiligt, und es ging nicht zuletzt um grundsätzliche Fragen kommunistischer Politik: Welche Rolle spie294 Zu der in Reichs Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie vertretenen Haltung zu diesen Prozessen später. 295 Ebensowenig Lenin, Trotzki oder Bucharin.
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len »objektive« und »subjektive« Faktoren in der gesellschaftlichen Entwicklung? Was sind die wirklichen Lebensinteressen der »Massen«? Wie soll man in der Propaganda daran anknüpfen? Was macht Menschen »revolutionär«, was hindert sie daran? Auch hier hatte Reich augenscheinlich wieder den Finger in schmerzhaft offene Wunden gelegt. Die Reaktionen fielen dementsprechend heftig aus. Bevor aber die Spannungen zum offenen Schlagabtausch führten, konnte Reich noch einmal einen wesentlichen Erfolg verbuchen. Im September 1932 hatte ihm Fritz Schubert,296 ein Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes, brieflich seine begeisterte Zustimmung zum Sexuellen Kampf der Jugend mitgeteilt. Beide kamen überein, eine Tagung speziell zu Fragen der Sexualpolitik einzuberufen. Am 8.9.1932 schrieb Schubert an Reich: »mit deinem vorschlag, am Sonntag den 16.10.32 die jugendkonferenz durchzuführen, bin ich einverstanden und auch dass du schon sonnabend kommst ist sehr günstig und [sic] könnten wir noch allerhand vorarbeit leisten«. Weiter hieß es: »hälst du es für richtig, wenn man offiziell die leitung der saj [SPD-nahe Sozialistische Arbeiterjugend – A.P.] und des sjv [SAP-naher Sozialistischer Jugendverband – A.P.] […] einladet [sic] oder ist es besser damit zu warten und erst mit unseren eigenen genossen die fragen durchspricht [sic]?? Ich bitte dich […] zu diesen fragen stellung zu nehmen dan [sic] werde ich mit der vorbereitung der einberufung der jugendkonferenz beginnen« (AOI).297
Reichs Antwort ist nicht erhalten. Aber schon Schuberts Brief belegt: Sein Einfluss auf Rahmen und Inhalt des Treffens war beträchtlich. Diese Konferenz, bei der dann zusätzlich zu den verschiedenen Jugendverbänden die Massenorganisation Internationale Arbeiterhilfe vertreten war, fand am 16.10.1932 in Dresden statt. Auch bei der dort verabschiedeten Resolution hatte offensichtlich wieder in erster Linie Reich Pate gestanden. So hieß es hier, »daß die bisherige Vernachlässigung der sexuellen Frage der Jugend sich äußerst schädlich auf die revolutionäre Arbeit der Jugendorganisationen ausgewirkt hat […]. Die sexualpolitische Arbeit als ein wesentlicher Bestandteil der revolutionären Arbeit« müsse sich unter anderem konzentrieren auf die
296 Zu ihm ließen sich bislang keine biografischen Angaben ermitteln. 297 AOI, Orgone Institute, Box 5, German sexpol 1930–32.
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»Verbindung und nicht Trennung der persönlichen und politischen Fragen, d. h. restlose Politisierung des sexuellen Lebens […], Mobilisierung der Jugend aller politischen Richtungen auf der Grundlage einer klaren, bejahenden Stellungnahme zum Geschlechtsleben der Jugend […], eine klare, sexualbejahende, revolutionäre Sexualpolitik« (Reich 1995, S. 188ff.).
Spätestens jetzt also waren Reichs Zielvorstellungen von Vertretern der »linken« Jugendpolitik auch offiziell übernommen worden (AOI).298 Während Reich in Dresden weilte, fand in Berlin die dritte Reichsparteikonferenz der KPD statt. Vom 15. bis 18.10.1932 rechnete man unter der Führung Ernst Thälmanns unter anderem mit der »Neumann-Remmele-Gruppe« ab – also mit zwei kurz zuvor noch mächtigen, nun in Ungnade gefallenen KPD-Funktionären (Weber/Herbst 2008, S. 634ff., 721ff.). Auf deren bis in die Jugendorganisation KJVD hineinreichenden Einfluss dürfte sich auch der neue Agit-Prop-Leiter des ZK, Ernst Schneller, im Folgenden bezogen haben. Es ist aber nicht auszuschließen, dass dieser Passus zusätzlich auf Reich gemünzt war: »Ich möchte genau so darauf hinweisen, dass innerhalb des Jugendverbandes teilweise in der Frage der S. U. ganz gefährliche Stimmungen verbreitet werden gerade von Genossen, die in der Frage des [sic] Politik des Jugendverbandes eine von der Partei abweichende Auffassung vertreten, die damit direkt solchen Stimmungen Vorschub leisten« (BA RY 1/12/2, Bl. 477).
Offenbar im Zusammenhang mit den aktuellen parteiinternen Querelen wurde auch ein neues Jugend-ZK eingesetzt. Von diesem wurde in den Konferenzbeschlüssen gefordert, Parteiführung und Kominternkurs bedingungslos anzuerkennen und eine umfassende ideologische »Offensive […] zur Säuberung des Verbandes von parteifeindlichen Stimmungen und fraktionellen Rückständen« 298 Parallel dazu, nämlich ebenfalls am 16.10.1932, fand sich Reich allerdings in einem Brief an den Vertreter der Kommunistischen Ärztefraktion genötigt, daran zu erinnern, »dass vor 1 ¾ Jahren eine ausgearbeitete sexpol[itische] Plattform von Düsseldorf zur Arbeitsgrundlage gemacht wurde« (AOI, Orgone Institute Box 4, Sexpol 16–21). Zugleich teilte Reich mit, dass er und »einige Genossen« beschlossen hätten, »durch Konzentration von geschulten Kräften« in der Berliner Ortsgruppe Charlottenburg »praktische Erfahrungen« zu sammeln und somit auch »eine Basis für die Diskussion in der Partei zu schaffen«. Dies ist offenbar jener Brief, in dem Reich, wie er später berichtete, die Parteileitung informierte, dass er in Berlin-Charlottenburg »die besten Kräfte« konzentriert habe, »um eine Mustergruppe zu bilden« (Reich 1995, S. 166).
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(BA RY1/12/2, S. 7) einzuleiten:299 eine klare Weichenstellung hin zu schärferer Konfrontation mit abweichenden Haltungen.300 Im Oktober warb die Warte zwar noch einmal für Reichs Bücher, doch wie sich herausstellen sollte: letztmalig. Da die von Reich initiierte Dresdner Resolution schnell »unter Jugendlichen aller Richtungen« kursierte, geriet – so berichtet er – bald auch die kommunistische Parlamentsfraktion in »Aufregung«. Die Resolution sei »ein Riesenskandal«, gefährde »das Ansehen der Partei«, man schäme sich, verliere jede Chance, »die Christen zu erobern«, und »der Anreger der Resolution müsse sofort aus der Partei ausgeschlossen werden«. Als man erfuhr, dass Reich dieser Anreger gewesen sei, »entstand größte Verlegenheit. Mich konnte man damals nicht ausschließen. Die Organisationen der kommunistischen, sozialdemokratischen und bürgerlichen Jugend hatten die Schriften zu Tausenden verbreitet. Es hätte helle Rebellion gegeben« (Reich 1995, S. 187). Die KPD-Führung benötigte aber nur kurze Zeit, um sich über diese Schwierigkeit hinwegzusetzen. Schon am 14./15.11.1932 kam es auf einem Plenum des neuen Jugend-ZK zu einer öffentlichen Reich-Kritik. Eine »Genossin Lucie«301 zog hier eine Traditionslinie zu verurteilender Haltungen vom Ende des ersten Weltkrieges bis zu Reichs Sexualaufklärung (und verdammte eigentlich auch schon die spätere 68er-Bewegung): »[19]18 war die proletarische Jugendbewegung durchsetzt mit solchen bürgerlichen Ideologien, sie liefen mit langen Haaren herum usw. Man hat verstanden zum Teil unsere Genossen abzulenken. Wenn z. B. ein Kommunist ein Buch schreibt ›der sexuelle Kampf der Jugend‹, wenn er wichtigstes [sic] die sexuelle Frage stellt müssen wir den Kampf gegen diese Sachen führen, da mit solchen Dingen die Jugend vom wirklichen Kampf, den wir als Jugendverband zu führen haben, abgelenkt wird« (zitiert in Rackelmann 1992, S. 66).
Binnen kurzer Zeit wurde die höchste Parteiebene in den Konflikt einbezogen. Für den 1.12.1932 beraumte man ein Treffen zwischen Ernst Schneller und der 299 Bezieht sich auf den gedruckten Bericht über die Konferenz. Eine Blattnummerierung konnte ich nicht entdecken. 300 Dass diese Konferenz negative Auswirkungen auf Reichs Arbeit hatte, legt auch folgender Satz, in dem er auf von ihm initiierte, von der KP-Leitung verbotene »Instruktionsabende« Bezug nimmt, nahe: »Wer erinnert sich nicht der berühmten Parteikonferenzen der K. P. D., wo derartiges direkt unterbunden wurde!« (Reich 1934c, S. 236). 301 Bislang nicht zu identifizieren.
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EV-Reichsleitung an. Dieses Treffen wurde von Bischoff und Schneider jedoch kurzfristig abgesagt – ohne Reich darüber zu informieren. Dieser hielt daher in einem Brief an Schneller am selben Tag fest: »Die genannten Genossen vereiteln systematisch seit ueber einem Jahr die Möglichkeit, dass sich das ZK über die Sachlage orientiere« (AOI).302 Zu dieser Orientierung kam es im Dezember dann doch noch.303 Reich berichtet von einer »Aussprache« zwischen einem – ungenannt bleibenden – »Sex-PolVertreter« (also engeren Mitstreiter Reichs) und dem »Z.K.-Vertreter [Wilhelm] Pieck«, später erster SED-Vorsitzender und DDR-Präsident (Weber/Herbst 2008, S. 674). Zu einer Annäherung beider Seiten führte dies nicht. Pieck erklärte, »die im ›Einbruch der Sexualmoral‹ entwickelten grundsätzlichen Anschauungen widersprächen denen der Partei und des Marxismus. Nach Begründungen gefragt, sagte er: ›Ihr geht von der Konsumtion aus, wir aber von der Produktion; Ihr seid daher keine Marxisten.‹ Der Sex-Pol-Vertreter fragte, ob die Bedürfnisse [gemeint ist wohl: Bedürfnisbefriedigung – A.P.] um der Produktion willen erfolge oder ob nicht umgekehrt die Produktion der Bedürfnisbefriedigung diene. Pieck begriff diese Frage nicht« (Reich 1934c, S. 249).
Am 5.12.1932 erschien in Rot Sport, der Zeitschrift der KPD-nahen »Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit«,304 die Aufforderung: »Vertrieb einstellen! Die […] von dem Verlag für Sexualpolitik übernommenen Broschüren von Reich werden zurückgezogen und ist [sic] der Weitervertrieb einzustellen.305 302 AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol 16–21. 303 Reich teilt ohne genaue Datumsangabe mit, dieses Gespräch habe 1932 stattgefunden. Da er aber noch am 1.12.1932 beklagte, dass bis dahin kein Kontakt zum ZK zustande gekommen war, bleibt für das Treffen nur der Rest des Dezembers 1932 übrig. 304 Zu dieser Gemeinschaft vgl. Dierker 1987. Diese Zeitschriftenausgabe war nicht aufzufinden. Andere Ausgaben sind einsehbar im Archiv des Sportmuseums in Berlin. Vielfach wurden in Rot Sport auch übergreifende Themen behandelt sowie über Kulturveranstaltungen und Literatur informiert. Ich danke Christina Büch, dass sie mir Einblick in diese Zeitschriften verschaffte. Da auch Edith Jacobssohn und Fritz Hupfeld sich darauf bezogen, kann es sich aber nicht um eine irrtümliche Angabe Reichs handeln. 305 Wie die Kooperation zwischen der KPD und dem Fichte-Sportverein als Vertriebsorganisation aussah, konnte ich nicht klären. Dass es seit 1928 eine enge Beziehung zwischen den publizistischen Aktivitäten des »IAH-Konzerns« und den Arbeitersportvereinen, insbesondere dem Fichte-Verein gab, belegt auch Surmann (1983, S. 77, Fn 93 bzw. S. 248).
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Die Übernahme des Vertriebes erfolgte durch ein Missverständnis. In den Broschüren von Reich werden die Probleme in einer der revolutionären Kinder- und Jugenderziehung widersprechenden Weise behandelt« (zitiert in Reich 1995, S. 186).
Auch die bislang ebenfalls an der sexualpolitischen Arbeit der KPD beteiligte Psychoanalytikerin Edith Jacobssohn zog daraus Konsequenzen. Noch für den 4.12.1932 war sie vom Berliner EV gemeinsam mit Wilhelm Swienty als Referentin zum Thema »Bürgerliche und proletarische Ehe« angekündigt worden (AOI).306 Am 8.12.1932 schrieb sie an den Einheitsverband: »Werte Genossen, Soeben muss ich feststellen, dass in der letzten Nummer des ›Rot Sport‹ vor den Büchern des Gen. Reich gewarnt wird. […] Unter diesen Umständen kann ich leider das für morgen übernommene Referat in Alt-Glienicke über ›Sexualspiele der Kinder‹ nicht übernehmen, da ich in diesem Referat nach meinen beruflichen Erfahrungen und fachlichem Wissen […] nur oben erwähnte Grundsätze des Gen. Reich zugrunde legen kann. Um also nicht in Konflikt zu kommen mit einem evtl. Beschluss des Z.K. oder anderer Instanzen, um also nicht ›parteischädigend‹ zu arbeiten, bleibt mir nur die Möglichkeit, bis zur endgültigen Klärung der fraglichen Probleme auf die bisherige Referententätigkeit zu verzichten« (AOI).307
Wie Reich berichtet, reagierten mehrere sexualpolitische Ortsgruppen, Funktionäre und vor allem jugendliche KP-Angehörige oder -Sympathisanten mit Protestaktionen (Reich 1995, S. 186ff.). Empörte EV-Mitglieder beantragten am 10.12.1932 die Ablösung von Bischoff und Schneider (AOI).308 Vielleicht sind auch diese EV-internen Konflikte gemeint, wenn Luise Dornemann im Nachhinein berichtet: »Wir hatten dort einen schweren Kampf zu führen gegen die Berliner Gruppe, die […] Tendenzen von Psychoanalyse und Sexualreform in diese Organisation trugen« (BA NY1/4278, Bl. 1). Noch im Dezember, so Reich, wurde er »der Funktion als sexualpolitischer Reichsleiter durch Beschluss von oben enthoben. Ein Verfahren gegen mich kam in 306 Und zwar auf einer außerordentlichen Verbandskonferenz, die »im Lokal Schulz, Elisabethstraße 30« (AOI, Orgone Institute, Box 5, German sexpol 1930–32) stattfinden sollte. 307 AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol 25a–31. 308 AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol copies.
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Gang« (AOI).309 Dabei dürfte es sich – bei der Schwere der gegen ihn erhobenen Vorwürfe – um ein Parteiausschlussverfahren gehandelt haben.310 Am 9.1.1933 tagte die erweiterte Landesjugendleitung jener mehr als 250.000 Mitglieder umfassenden (Dierker 1987, S. 96)311 »Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit«. Reich war hier – wie auch bei den weiteren Aussprachen – offenbar nicht anwesend; vielleicht, weil er, wie er schreibt, keine »Kampagne« in eigener Sache leiten wollte (Reich 1995, S. 186). Für ihn protokollierte sein EV-Mitstreiter Fritz Hupfeld, seit 1921 als Jugendfürsorger für die Stadt Berlin tätig, seit 1929 (und bis 1933) in einer leitenden Funktion im Berliner Kinderheim Lindenhof.312 Ein Mitglied der Reichsleitung namens Amberger teilte mit, die Reichsleitung habe »die Reichschen Schriften sehr gründlich geprüft und endgültig abgelehnt. Daraufhin ist die Notiz im Rot-Sport erschienen. In der nächsten Nummer soll ausführlich über die Gründe der Ablehnung geschrieben 309 AOI, Manuscripts, Box 4, Zu meinem Ausschluss aus der KP. 310 Ein ganzseitiger Artikel in der Roten Fahne vom 25.12.1932 (S. 8) untermauerte noch einmal, wie wenig sich Reichs Auffassungen in KPD-Führungskreisen durchgesetzt hatten. Unter der Überschrift »Erobert die Jugend für den Kommunismus« wurde hier für die »Jungarbeiter« einmal mehr der Anspruch vertreten, »dass wir Kommunisten die einzigen wirklichen Verfechter ihrer Jugendinteressen sind«. Bezüglich solcher Interessen fielen die üblichen Schlagworte vom Kampf um Arbeit, gegen Militarisierung und Faschismus usw. – weitergehende psychosoziale, geschweige denn sexualpolitische Aspekte wurden nicht einmal angedeutet. Als Autor des Artikels wird die B.L. [Bezirksleitung] genannt, gemeint ist sicherlich das Berliner KP-Gremium. 311 Sowie de.wikipedia.org/wiki/Arbeitersport_in_Deutschland. 312 Am 25.1.2016 bestätigte mir Lars Rebehn, dass es sich um das Heim in Berlin-Lichtenberg handelte: Dort hatte der Puppenspieler und Grafiker Carl Schröder mit Hupfeld zusammengearbeitet und für ihn eine Grafik gestaltet: skd-online-connection.skd.museum/de/ contents/showSearch?id=2345779. Hupfeld wurde am 3.2.1895 geboren, trat 1921 der SPD, 1932 der KPD bei. Die KPD-Mitgliedschaft endete laut Hupfelds Personalakte von 1952 im Jahr 1933. Das könnte Reichs Mitteilung, dass nicht nur er, sondern auch weitere seiner EV-Mitstreiter aus der KPD ausgeschlossen wurden, untermauern (Reich erwähnt Hupfelds Namen allerdings in keiner seiner Veröffentlichungen. Er ist nur in den AOI-Archivdokumenten als Protokollant vermerkt.) Aber natürlich gab es 1933 auch Gründe, aus der KPD auszutreten, zumal, wenn man wie Hupfeld in Deutschland blieb. 1945 wurde Hupfeld wieder KPD-, 1946 SED-Mitglied. Seine Tätigkeit im Rang eines Regierungsrates im Strafvollzug Sachsen-Anhalts kündigte er 1949, weil er – so schreibt er in einem Lebenslauf von 1949 – nicht akzeptieren konnte, dass dort Todestrafen vollstreckt wurden. Er wurde nun Leiter des Strafvollzugsamtes von Brandenburg (LHAB, Rep. 203, PA 472). Von seiner Enkelin Angela Mai erfuhr ich, dass er sich auch später für psychoanalytische Themen interessierte und dass er am 25.8.1974 starb. Frau Mai gab auch ihre Zustimmung dazu, dass ich hier aus Hupfelds Protokollnotizen zitiere.
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werden« – was offenbar unterblieb. Genosse Ernst Grube,313 Leiter der Kampfgemeinschaft (sowie Reichstagsabgeordneter und Mitglied des Zentralkomitees der KPD), werde auf einer späteren Sitzung ebenfalls zu diesem Thema als »einzigem Punkt der Tagesordnung« sprechen. Dann beurteilte Amberger zunächst Annie Reichs sexuelle Aufklärungsbroschüre Wenn dein Kind dich fragt als »ein Verbrechen an der Arbeiterklasse«, im ganzen Buch werde »nicht ein einziges Mal auf die proletarische Bewegung hingewiesen«, stattdessen »ununterbrochen« das kindliche Geschlechtsleben »gereizt«, was »Ablenkung vom Klassenkampf bedeutet«. Wilhelm Reichs Der sexuelle Kampf der Jugend habe »verheerende Wirkungen«, bringe nur »Wirrwarr«; manche Gruppe, in der Reich gesprochen habe, sei sogar zerfallen. Die erregten Diskussionen zu Ambergers Anschuldigungen seien, so Hupfeld, »abgewürgt«, die Diskutanten auf spätere Treffen vertröstet worden (AOI).314 Am 14.1.1933 schrieb Reich, der bislang auf Bitten um Aussprache keine Antwort erhalten hatte, an das ZK-Sekretariat, um klar zu machen, dass er die Verantwortung für die eskalierenden Auseinandersetzungen ablehne (ebd.). Da Reich keine Antwort des ZK archiviert zu haben scheint und auch in seinen Schriften keine erwähnt, dürfte eine Reaktion erneut ausgeblieben sein. Dies allerdings offenbar nicht, weil sich angesichts der drohenden Machtübernahme Hitlers niemand Zeit für entsprechende Auseinandersetzungen nahm; verschiedene KPD-Funktionäre äußerten sich bald sehr wohl ausführlicher.315 Reich war allerdings auch bei diesen Treffen nicht anwesend, Fritz Hupfeld protokollierte weiter. Der nächste Anlass dafür war die »Groß-Berliner Kartell-Delegierten- und Funktionärskonferenz« vom 17.1.1933 in den Berliner Sophiensälen. Die Rote Fahne, die am 14.1.1933 diese Veranstaltung ankündigte,316 teilte dazu außerdem mit: »Alle Sparten-, Funktionärs- und Gruppenfunktionäre müssen erscheinen.« Themen seien: »40 Jahre Arbeitersportbewegung in Deutschland – SpartakiadeAufgebot – Kampf gegen den imperialistischen Krieg – Für die Gewinnung der Jugend – Einheitsfrontpolitik.« Vermutlich gehörte es dann zum vorletzten Punkt, wenn Ernst Grube im Referat nun tatsächlich Stellung nahm:
313 1890 geboren, im Dritten Reich mehrfach inhaftiert, am 14.4.1945 im KZ Bergen-Belsen ermordet (siehe Weber/Herbst 2008, S. 326). 314 AOI, Orgone Institute, Box 5, Sexpol RF. 315 Was nebenbei illustriert, wie sehr innerhalb der KPD, ebenso wie in der Komintern, sowohl der mögliche als auch der tatsächliche Sieg Hitlers zunächst unterbewertet wurden – siehe auch Hoppe (2007, S. 323–328). Andernfalls wären wohl im Januar und Februar 1933 kaum noch so ausführlich Detailfragen der Sexualpolitik behandelt worden. 316 Auf S. 14.; siehe auch zefys.staatsbibliothek-berlin.de/dfg-viewer.
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»›Reich will, dass wir aus Turnhallen Bordelle machen.‹ ›Wir sollen die Jugend auf sexuelle Fragen raufstoßen, statt sie abzulenken.‹ ›Wir wollen nicht viel über Sexualprobleme reden, sonst aber stehen wir der Sexualität nicht ablehnend gegenüber‹« (AOI).317
»Versuche, eine Diskussion zu erzwingen«, wurden erneut vereitelt (ebd.).318 Am 23.1.1933 notierte Hupfeld Sätze, die am selben Tag auf der Fraktionssitzung des EV fielen.319 So urteilte die Ärztin Martha Ruben-Wolf, bei Reich »steht der Orgasmus im Vordergrund. Im Proletariat spielen jedoch Orgasmusstoerungen nur eine ganz sekundaere Rolle. Ich bin frueher selbst Anhaenger der Psychoanalyse gewesen und habe mich 4 Jahre damit beschaeftigt. Psychoanalyse ist wissenschaftlich unhaltbar. Orgasmusstoerungen sind eine bourgeoise Sache.« Leo Friedländer argumentierte ähnlich: Reich »stellt in den Vordergrund die Sexuallust. Das ist unmarxistisch.« Und: »Was soll man dazu sagen, wenn Reich sich erlaubt, Engels selbst korrigieren zu wollen.« Fritz Bischoff äußerte sich zur Brisanz von Reichs Einfluss: »Wie gefaehrlich R. fuer die proletarische Bewegung ist, geht daraus hervor, dass der KJV [Kommunistische Jugendverband – A.P.] vor der Gefahr stand, zerschlagen zu werden. Seine beruechtigte Resolution von Dresden hat unsere Dortige [sic] Einheitsfrontbewegung zerschlagen.« Wohl auch in eigener Sache setzte er hinzu: »Geradezu ein Verbrechen ist es, dass er versucht hat, eine Antibonzenstimmung zu erzeugen.« Vermutlich warf Bischoff Reichs Anschauungen mit denen Freuds in einen Topf, wenn er zudem forderte: »Wir muessen Schluss machen mit den verfluchten Sexualphilosophien« (AOI).320 Am 27.1.1933 begann eine weitere Fraktionssitzung des Gesamt-EV laut Hupfelds Mitschrift damit, dass eine Resolution vorgelegt wurde, die zwei Tage später auf der Verbandskonferenz beschlossen werden sollte. Es hieß, dass »durch die falsche Einstellung eines Teils der Funktionäre unserer Organisation, welche auf der theoretischen Grundlage des Gen. Reich standen, die Schlagkraft der Organisation in der verflossenen Periode stark gelähmt war«. Mehrere Funktionäre 317 AOI, Orgone Institute, Box 5, German sexpol 1930–32. 318 Am 19.1.1933 berichtete die Rote Fahne auf Seite zwölf über die Konferenz. Jugendgewinnung, Sexualpolitik oder Wilhelm Reich wurden nicht erwähnt. 319 Bei dem dort das einleitende Referat haltenden Genossen »Wischnewski« könnte es sich möglicherweise um Franz Wisnewski (1896–1991) handeln, der von 1925–1933 KPD-Abgeordneter im Berliner Stadtparlament und ZK-Mitarbeiter, unter anderem in der Informationsabteilung, war (Weber/Herbst 2008, S. 1035f.). Als »Fraktion« wurden die jeweiligen Gruppen von KPD-Mitgliedern bezeichnet, die in den Massenorganisationen tätig waren. 320 AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol 25a–31.
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bezogen auch diesmal wieder Reichs analytischen Hintergrund in ihre Kritik ein, so der Arzt Lothar Wolf: »Statt sich mit Psychoanalyse zu beschäftigen, was sogar schon am Kurfürstendamm unmodern geworden ist, empfehle ich, […] sich mit Darwin und Haeckel zu beschäftigen. […] Die Psychoanalyse führt in das individuelle Schicksal des Einzelnen. […] Marx, Engels, Lenin, Stalin hatten keine Zeit, sich mit solchen Sachen zu befassen, sie waren keine Nabelbeschauer!!«
»Gen. Kaufmann«321 sekundierte: »Die sexuelle Frage hat sich in Russland nach der Revolution von selbst gelöst, ebenso im K.J.V. Deutschlands« (AOI).322 Nur wenige Jahre später sollten Lothar Wolf und seine Frau Martha Ruben-Wolf, ebenso wie Leo Friedländer, im Moskauer Exil Opfer von Stalins Terror werden.323 Fritz Bischoff teilte zudem auf der Fraktionssitzung vom 27.1.1933, wohl im Auftrag des ZK, mit: »Die Partei hat festgestellt und beschlossen, dass Reichs Schriften völlig unmarxistisch sind.« Er kündigte einen »Artikel über Reich« an und ergänzte: »Wahrscheinlich wird sogar eine gründliche Auseinandersetzung in Form einer Broschüre herausgegeben« (ebd.). Beides geschah jedoch offenbar nicht, was möglicherweise am Machtantritt der NSDAP lag, der nur drei Tage nach dieser Sitzung erfolgte. Vielleicht verfolgte man aber auch dieselbe Taktik wie im Jahr darauf die Internationale Psychoanalytische Vereinigung beim Hinauswurf Reichs: Um den aktuellen Streit zu beenden, wird eine spätere Auseinanderset321 Wahrscheinlich Wilhelm Kauffmann, der auch in der Weltliga für Sexualreform mitgewirkt hatte und nun einen Berlin-Brandenburger Ortsverband des EV leitete. 322 AOI, Orgone Institute, Box 5, Sexpol RF. 323 Lothar Wolf, geboren 1882, emigrierte 1933 mit seiner Frau Martha und wurde 1938 vom NKWD in Moskau verhaftet und als angeblicher Spion erschossen. 1938 standen sämtliche seiner Schriften auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«. 1939 wurde er posthum aus Deutschland ausgebürgert. Von seinen Schriften habe ich noch entdecken können: Der Kampf um die Geburtenregelung; Faschistenland. Italienische Reiseskizzen Frühjahr 1931 (Internationaler Arbeiterverlag 1932); mit Martha Ruben-Wolf: Im freien Asien – Reiseskizzen zweier Ärzte (Berlin 1926); Russische Skizzen zweier Ärzte. Zweite Russlandreise, Frühjahr 1926 (Berlin 1927). Martha Ruben-Wolf, geboren 1887, verlor nach der Verhaftung ihres Mannes in Moskau ihre Arbeit als Ärztin. 1938 stand ihre Schrift Abtreibung oder Verhütung? auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«. 1939 wurde auch sie aus Deutschland ausgebürgert. Im selben Jahr beging sie – nach erfolglosen Versuchen, das Schicksal ihres Mannes aufzuklären – Selbstmord. Leo Friedländer, geboren 1895, emigrierte 1933 in die Sowjetunion, arbeitete dort in der Kreml-Klinik und wurde 1937 als »Konterrevolutionär« erschossen (siehe für alle drei Personen die entsprechenden Stichworte in Weber/Herbst 2008 bzw. für die zwei ersteren zusätzlich Plener/Mussienko 2006).
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zung versprochen, die jedoch nie geführt wird, da man den »Querulanten« dem schnellstmöglichen Vergessen überantworten möchte. Tatsächlich fand zunächst am 29.1.1933 die angekündigte Reichskonferenz des Einheitsverbandes statt. Auch hier wurde, neben weiteren Themen, ausführlich über Reich diskutiert – inklusive einiger neuer Vorwürfe: »Ungeheuerlich« sei, so Bischoff, »Reichs Behauptung, […] dass die Produktivkraft Arbeitskraft sublimierte Sexualenergie ist […]. Demnach ist also auch Marxens Kapital sublimierte Sexualenergie (!!!)« »Ebenso ungeheuerlich« sei »Reichs Meinung, dass die Sexualverdrängung beide Klassen umfasse. Damit leugnet er das Bestehen der Klassengegensätze.« Am schlimmsten sei aber, so Bischoff weiter, dass »Reich davon spricht, dass zwischen den Generationen Gegensätze bestehen. Das bedeutet, dass der Klassenkampf in die Familie verlegt werden soll.« Ebenso schädlich sei Reichs Meinung, dass die Familie – als »Ideologiefabrik« – ein Bollwerk der Reaktion sei. (Noch einmal zur Erinnerung: Einen guten Teil dieser Thesen Reichs hätten die nun über ihn Richtenden schon 1931 in seinen »Plattformen« zur Kenntnis nehmen können.) Gemäßigtere Stimmen betonten, dass sich Reich nicht durch die praktische Arbeit, »sondern die theoretische Basis (Psychoanalyse)« von ihnen unterscheide. Einige wenige Konferenzteilnehmer stellten sich auch ganz auf Reichs Seite. Den Ton gaben jedoch Genossen wie Leo Friedländer an, der im Schlusswort schließlich erregt schrie: »Reich will aus unseren Organisationen Vögel-Organisationen machen! Das ist ein Verbrechen an unserer Jugend, die unsere Zukunft ist.«324 Die gegen Reich gerichtete Resolution wurde schließlich mit 39 gegen 32 Stimmen angenommen. Auch Luise Dornemann war angereist und räumte immerhin ein, »dass man mit sexuellen Themen an sonst nicht erfassbare Schichten herankommt« (ebd.). Sogar noch am 18. und 19.2.1933 gingen die Aussprachen weiter. Wieder waren die Reich-Verteidiger offenbar deutlich in der Minderheit. Ein Genosse Kalmberg aus Essen verstieg sich zu der Zuspitzung: »Wenn wir bereits die politische Macht hätten, müsste Reich an die Wand gestellt werden.«325 Ein Genosse Sommer, ebenfalls aus Essen, konstatierte: »Wir sind kein psychoanalytischer Diskutierklub.« Fritz Bischoff teilte diesmal mit, inzwischen habe auch das Zentralkomitee der
324 Reich (1995, S. 192) zitiert das ebenfalls, nennt aber diesmal Friedländers Namen nicht. In Hupfelds Protokoll ist er jedoch enthalten. Auch Bischoff wird bei Reich zuletzt nur als »B.« aufgeführt – das Protokoll schafft auch hier Klarheit. 325 Darauf könnte Reich sich beziehen, wenn er schreibt: »Mir wurde gedroht, daß ich an die Wand gestellt werden würde, sobald der Marxismus zur Macht in Deutschland gelangte« (Reich 1986, S. 19).
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KPD »unsere Auffassung voll und ganz gebilligt. […] Bei uns wird Politik betrieben, keine Sexualpolitik!« Dass Reich die Jugendlichen auffordere, »gegen ihr Elternhaus zu kämpfen, ist nackte Konterrevolution«. Reichs Annahme, »dass für unsere prachtvolle Jugend die sexuellen Fragen die gleiche Rolle spielen wie die politischen«, sei lächerlich, sein Buch »geradezu eine Bespeiung der proletarischen Mädchen«. Außerdem sei die Kritik Reichs an der Sowjetunion im Einbruch der Sexualmoral »ungeheuerlich und offene Konterrevolution« (ebd.). Bischoff ließ auch durchblicken, dass er Reichs Auffassungen schon früher abgelehnt, jedoch »Schweigegebot« gehabt hätte, da ja leider »das alte Jugend-ZK die Reichsche Jugendschrift [Der sexuelle Kampf der Jugend] genehmigt habe«. Auch habe er – wohl in einer seiner weiteren Funktionen als einer der Warte-Redakteure – einem Aufsatz Reichs über die Sowjetehe »noch die schlimmsten Giftzähne ausgebrochen«. Dennoch habe auch dieser »unsere Einheitsfrontpolitik gefährdet«, zumal »selbst in Parteikreisen Angst vor der Sowjetehe besteht« (ebd.).326 Für die Sitzung der EV-Fraktion vom 18./19.2.1933 war offenbar eine neue Resolution vorbereitet worden, in der es diesmal gegen »Sexual-Organisationen« ging, »die unter bürgerlichen, reformistischen oder direkten Einflüssen von Fabrikanten stehen«. Üblicherweise waren mit diesem Begriff die Hersteller von Verhütungsmitteln gemeint. Besonders werde versucht, so hieß es weiter, »über den ›Freudismus‹ (der hervorragendste Vertreter ist W. Reich) Einfluss auf den revolutionären Flügel der proletarischen Sexual-Bewegung zu gewinnen« und die Arbeiterklasse vom Kampf um die Diktatur des Proletariats abzuhalten, indem »die sexuelle Frage als die entscheidende« angesehen werde (ebd.). Nachdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass diese Resolution einstimmig angenommen werden müsse, weil sonst eine Spaltung drohe. Die Abstimmung 326 Gemeint war vermutlich Reichs Artikel »Auflösung der Familie?«. Hier schrieb Reich unter anderem (und malte damit zumindest eine schöne Utopie): »Jeder Sowjetbürger hat das Recht zur Selbstbestimmung. Die autoritäre Gewalt der Eltern über die Kinder ist verschwunden. […] An die Stelle der bürgerlichen Familie, der Herrschaft des Mannes über Frau und Kinder, tritt die freie Vereinigung von Mann und Frau, ohne das Bindemittel der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Erst jetzt können sich befriedigende, nicht auf Zwang, sondern auf wirklicher Übereinstimmung begründete sexuelle Beziehungen aufbauen. Die Familie in ihrer heutigen Form hört auf zu existieren« (Die Warte, Dezember 1931, S. 2–3). Die »ausgebrochenen Giftzähne« dürften konkretere Hinweise darauf gewesen sein, dass in der Sowjetunion (vorübergehend) rechtliche Grundlagen für eine freiere Wahl und Trennung von (Ehe-)Partnern sowie für eine freiere Sexualität geschaffen worden waren. Die Reaktion des gerade einmal 33-jährigen Fritz Bischoff darauf belegt also vermutlich (und würde damit auch Reichs entsprechende Kritik illustrieren), wie wenig revolutionär selbst viele jüngere KP-Funktionäre privat dachten und handelten. Aber dies war wohl einer der Punkte, an denen auch bei KPD-Führungskräften das widerstandslose Übernehmen (vermeintlicher) sowjetischer Maßstäbe endete.
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erbrachte dennoch nur »15 Stimmen für die Parteileitung und 7 für mich, 3 enthielten sich der Stimme« (Reich 1995, S. 193). Eine Woche nach dieser Abstimmung, am 27.2.1933, brannte der Reichstag. Schon wenige Stunden später rollte eine insbesondere gegen kommunistische Funktionäre gerichtete Verhaftungswelle durch das Land. Die »Schwarzen Listen«, die dafür als Grundlage dienten, hatte Hermann Göring längst vorbereitet (Knoop 2009, S. 99–110). Am 3.3.1933 wurde Ernst Thälmann verhaftet. Insgesamt waren vermutlich 150.000 (also etwa die Hälfte aller) KPD-Mitglieder während des Dritten Reiches »mehr oder weniger lange in Haft«, die Anzahl der ermordeten Kommunisten »soll […] auf 20 000 gestiegen sein« (Weber/Herbst 2008, S. 20). Das biografische Handbuch Deutsche Kommunisten von Hermann Weber und Andreas Herbst, das die Lebenswege von »1.675 führenden deutschen Kommunisten« – darunter Wilhelm Reich327 – zwischen 1918 und 1945 schildert, hält zudem »die unglaubliche Tatsache« fest, dass unter diesen Funktionären »außer den 256 durch den Hitler-Terror Umgebrachten ebenso 208 vom Stalin-Terror Ermordete zu registrieren sind« (ebd., S. 10).
1.4.15 Diffamierungen von »rechts« Nicht nur psychoanalytisches und kommunistisches Establishment wandten sich 1932 gegen Reich. 1932 erschien auch – in einer Stückzahl von 10.000 Exemplaren – die 31. Auflage des Handbuchs der Judenfrage, das der radikale Antisemit Theodor Fritsch herausgab.328 Darin enthalten war erstmals ein Artikel über Das Judentum in der Medizin. Verfasser war der »Vorkämpfer der FKK-Bewegung« Richard Ungewitter, dessen Ideen sich schon früh mit Rassismus vermischt hatten.329 In seinem Beitrag führte er einen Rundumschlag, in dem natürlich auch die »jüdische« Psychoanalyse nicht fehlen durfte, mittels derer »Freud auf der Basis der ›Geheimnisse der Weisen von Zion‹ an der Entsittlichung des deutschen Volkes bewusst mitzuarbeiten [scheint]«. Anschließend machte Ungewitter Magnus Hirschfeld als den »nächste[n] 327 In Bezug auf ihn leider mit einer ganzen Reihe sachlicher Fehler – die aber bei einer etwaigen Neuauflage korrigiert werden sollen (persönliche Mitteilung von Andreas Herbst vom 1.2.2011). 328 Information zu Fritsch und dem Handbuch aus Klee (2003, S. 169) sowie der biografischen Skizze des Deutschen Historischen Museums, www.dhm.de/lemo/html/biografien/ FritschTheodor/index.html 329 Biografisches zu Ungewitter siehe de.wikipedia.org/wiki/Richard_Ungewitter.
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Schädling am deutschen Volkskörper« aus: ein Verteidiger nicht nur des »abnormalen Triebes« der Homosexualität, sondern auch der »Freiheit des geschlechtlichen Verkehrs […] für Jugendliche«. Er erwähnte nun auch – in etwas unklarer Formulierung (soll es Ironie sein?) – Wilhelm Reich und eine seiner bereits 1930 in Wien erschienenen Publikationen: »Ähnlich verheerend wirkt der Wiener Sexualberater Dr. Reich in seinem Buch ›Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral‹330, in welchem er so weit geht, 16- und 17jährigen über die Schwierigkeiten im Elternhaus hinwegzuhelfen« (Ungewitter 1932, S. 394f., S. 396ff.). 1933, in der 32. Auflage (wieder 10.000 Exemplare), übernahm ein anderer das Thema »Judentum in der Medizin«. Offenbar noch vor der NS-»Machtergreifung« schreibend,331 steigerte der Arzt Martin Staemmler die Aggressivität des Tonfalls. Wieder sind, so heißt es, »die Psychoanalytiker […] noch nicht die schlimmsten. Weit übler ist, was sich um Magnus Hirschfeld schart […]. Wenn ferner Hirschfeld […] 1928 vor Schülern und Schülerinnen vom 12. Jahre an sagt: ›Ein natürlicher Geschlechtsverkehr der Jugend sei, wenn kein Zwang auf den anderen ausgeübt werde, keine Sünde und nichts Unehrenhaftes‹, wenn die Herren Dr. Töplitz332 und Reich sich in ähnlichem Sinne äußern, nun, so kann man sich nur wundern, wenn die Eltern der Kinder sich solche ›Aufklärungen‹ gefallen lassen, […] daß sich nicht einmal ein Vater findet, der dem Herrn Magnus Hirschfeld mit der Reitpeitsche zeigt, wo der Weg für ihn ist« (Staemmler 1933, S. 401).
Staemmler, bald darauf einer der führenden NS-Pathologen (Klee 2003, S. 594), erreichte mit diesen Äußerungen während des Dritten Reiches eine große Zahl deutscher Leserinnen und Leser: Sein Beitrag erschien nicht nur im Sächsischen Ärzteblatt (1933, Bd. 104, Nr. 11, S. 206–211) und in der Ärztezeitschrift Ziel und Weg (1933, Heft 23),333 sondern auch unverändert im Handbuch der Judenfrage von 1933 bis hin zur letzten, 49. Auflage, die 1944 die Exemplare 279.000 bis 330.000 unter das deutsche Volk brachte. Obwohl Reich hier lediglich mit 330 Münster-Verlag, Wien, 1930. Das Buch trägt den Untertitel Eine Kritik der bürgerlichen Sexualreform, enthält aber ebenfalls Reichs Vorstellungen von – auch für Jugendliche – freierer Sexualität. 331 Das legen Formulierungen Staemmlers nahe, in denen er gegenwärtige zu freie bzw. demokratische Zustände beklagt. 332 Offenbar der Hamburger Arzt John Töplitz, siehe www.aerztekammer-hamburg.de/funktionen/aebonline/pdfs/1141380356.pdf. 333 Dokumentiert in Wuttke-Groneberg 1982, S. 122.
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Nachnamen und ohne nähere Angaben zu seiner Person erwähnt wurde, machte auch diese Publikation ihn bekannter – als Feindbild.334 Nach dem 30.1.1933 verschlechterten sich Reichs Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland radikal – auch durch die Reaktion des DPG-Vorstandes auf den politischen Machtwechsel. »Dr. Eitingon ließ«, berichtete Felix Boehm später der IPV-Leitung, »gleich nach der Machtergreifung der neuen Regierung Dr. Reich mitteilen, er möchte unsere Institutsräume nicht mehr betreten, damit, falls er verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne« (Brecht et al. 1985, S. 99). In einem weiteren Bericht teilte Boehm, wie schon erwähnt, über die Situation in Berlin mit, »daß im Frühjahr 1933 in öffentlichen Anlagen und Straßen Zehntausende von Zetteln verteilt und angeklebt worden sind mit dem Inhalt: ›Schützt unsere Jugend vor der Reichschen Kulturschande!‹« (zitiert in Schröter 2005b, S. 162). Boehm wird hier kaum die Unwahrheit gesagt haben. Freud oder der IPV gegenüber musste er sich nicht für Reichs Ausgrenzung rechtfertigen – ganz im Gegenteil. Am 2.3.1933 tauchte Reich auch im Völkischen Beobachter auf. Unter der Überschrift »Bolschewismus oder Deutschland?« wurde dort gefragt, was der Bolschewismus für die deutschen Frauen bedeute. Die Antworten lauteten: »Hunger und Tod«, »Auflösung der Familie« und »Zerstörung der Sittengesetze durch Verführung der Jugend. Ein krasses Beispiel […] stellt das kommunistische Buch von Dr. Wilhelm Weiß [sic]335 ›Der sexuelle Kampf der Jugend‹ dar […]. Es ist eine schamlose Verführung, die an die niedrigsten Instinkte unreifer Menschenkinder sich wendet und versucht, im Jugendlichen die Verpflichtung zu Sitte, Anstand, Selbstbeherrschung zu zersetzen« (dokumentiert in Rackelmann 1992, Anhang IX).
Reichs Wohnung war, wie er berichtet, schon zuvor von der SA durchsucht worden (Reich 1995, S. 199f.). Den Artikel des Völkischen Beobachters wertete er 334 Ob Staemmler ohne weitere Erklärungen auf Reich Bezug nahm, weil er ihn für so populär hielt, dass seine Leserschaft ihn ohnehin einordnen könne, oder ob Reich ihm selbst so wenig bekannt war, dass er seinen Vornamen nicht kannte, bleibt unklar. 335 Hier kann es sich durchaus um eine Fehlleistung handeln: Der jüdische Polizeichef Berlins, Bernhard Weiß, war – durch intensive Hetze von Goebbels – fast schon zum Pseudonym geworden für »fremdrassische« politische Gegner. Ein Wilhelm Weiss fungierte zudem eine Zeitlang als Chef vom Dienst im Völkischen Beobachter, wurde dann Leiter des Reichsverbandes der deutschen Presse – so Bräuninger (2006, S. 207).
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zu Recht als Zeichen rasant anwachsender Gefährdung. Am 3.3.1933 flüchtete er aus Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits von seiner Frau Annie zugunsten der Beziehung zu Elsa Lindenberg, Tänzerin an der Berliner Staatsoper und Kommunistin, getrennt. Die beiden Töchter Lore und Eva blieben bei Annie (Sharaf 1996, S. 227–246). Reichs Hoffnung, in Österreich wieder Fuß zu fassen, erwies sich schnell als Illusion.336
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Erst im Januar 1933 hatte der Internationale Psychoanalytische Verlag mit Reich einen Vertrag über die Herausgabe seines vor allem aus früheren Aufsätzen bestehenden Lehrbuchs Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker abgeschlossen. Bald nach seiner Ankunft in Wien, am 16.3.1933, teilte man Reich mit, dass man sich nicht an diesen Vertrag halten werde. War vielleicht erst jetzt klar geworden, dass Reichs Masochismus-Artikel in der Charakteranalyse enthalten sein sollte?337 Reich war nun gezwungen, das Buch selbst zu finanzieren und im eigenen Verlag erscheinen zu lassen. Johannes Cremerius vermerkt dazu: »Welch eine unübertreffliche Ironie: Jahrelang hatte Reich als Leiter des ›Technischen Seminars‹, bis 1930 mit Zustimmung Freuds, Charakteranalyse gelehrt und Analytiker aus dem In- und Ausland, viele aus den USA, nach Wien gelockt« (Cremerius 1997, S. 143). Offenkundig ging es aber gar nicht so sehr darum, Reich »abzustrafen« oder die Verbindungen zwischen ihm und dem Verlag zu kappen. Denn abgesehen davon, dass man sich weigerte, als Verleger der Charakteranalyse in Erscheinung zu treten, übernahm man sämtliche üblichen Verlagstätigkeiten wie Herstellung, Vertrieb und Werbung.338 Letzteres geschah nicht zuletzt in den eigenen psychoanalytischen 336 Auch ein Auftritt Reichs beim 7. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie, der für den 6.–9.4.1933 in Wien angesetzt worden war, zerschlug sich. In der dem Heft 2/1933 des Zentralblattes für Psychotherapie begelegten Kongresseinladung war Reich mit dem Vortragsthema »Ueber Neurosenprophylaxe im Kindesalter« angekündigt. Weitere als Referenten benannte Psychoanalytiker waren unter anderem Anna Freud, Siegfried Bernfeld, Paul Federn. Aber der Kongress wurde Ende März abgesagt (ZfP, Bd. 6, S.141f.). 337 Bernd A. Laska wies mich am 17.3.2012 darauf hin, dass Reich das zuvor noch nicht unbedingt mitgeteilt haben muss. 338 Am 21.6.1933 begründete der Verlag Reich gegenüber, warum es momentan »100%ig aussichtslos« sei, eine »Propaganda zu entfalten«: »Man kann 1) überhaupt keine Bücher verkaufen, 2) keine psychoanalytischen und 3) steht der Sommer vor der Tür, der den Bücherverkauf ganz lähmt.« Im selben Brief ist festgehalten, dass der Verlag gerade »mit dem Broschieren und Binden« befasst sei und dass man sich an die frühere Vereinbarung hal-
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Zeitschriften: Am 24.7.1933 teilte der Verlag mit, dass man das Prospekt des Buches den Zeitschriften Psychoanalytische Bewegung und Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik beigelegt habe.339 Man erkundigte sich für Reich auch – allerdings vergeblich – nach einem Schweizer Ersatzverlag,340 verschickte Kommissionsexemplare an Buchhandlungen verschiedener Länder und Rezensionsexemplare an Zeitschriften. Am 24.7.1933 schrieb der Psychoanalytische Verlag einen Brief an den Kopenhagener Funkis Verlag, der sich um die Vertriebsrechte für Skandinavien beworben hatte. In diesem war, weitab von einer inhaltlichen Distanzierung, von der Charakteranalyse als »einem so wichtigen und absatzsicheren Buch« die Rede. Letztere Behauptung war, über einen längeren Zeitraum betrachtet, nicht aus der Luft gegriffen: Am 27.9.1933 erfuhr Reich, dass bis Ende August schon 47 Exemplare verkauft wurden, »die meisten an Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigung«. Außerdem sei dem Zentralblatt für Psychotherapie auf dessen Anforderung hin ein Rezensionsexemplar zugeschickt worden – möglicherweise die Basis dafür, dass der »Reichsführer der deutschen Psychotherapeuten«, M.H. Göring, 1934 dieses Buch rezensieren sollte. Am 20.10.1933 hieß es in einem weiteren Brief an Reich, dass nun insgesamt 70, zumeist gebundene Exemplare abgesetzt seien (AOI).341 In den folgenden Jahren wurden Reich weitere Absätze gemeldet; so kam im Februar 1938 die Mitteilung, dass im Jahr zuvor 58 Exemplare verkauft worden waren (AOI).342 Das war auch deshalb keine Selbstverständlichkeit, weil aufgrund der politischen Umbrüche im deutschen Hauptabnehmerland die Verlagsproduktion in dramatischer Weise rückläufig war: »1933 wurden noch sechs Bücher produziert, […] 1934 sank die Zahl auf vier und 1935 auf nur mehr zwei« (Marinelli 2009, S. 83). Am 3.10.1937 schrieb Reich an den Verlag: »Wir hätten gerne für unser Archiv ein Photo von Freud mit Zigarre.« Dessen Übersendung wurde ihm am 20.10.1937 »gegen vorherige Überweisung von ö.S. [österreichischen Schilling] 20.-« auch zugesagt (AOI).343 Am 7.3.1938 ersuchte Reich die »Internationale Zentralstelle für psychoanalytische Bibliographie, Wien 2, Berggasse 7«, ihm »aus
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ten wolle, der zufolge Reich »25% des Ladenpreises beim Verkauf pauschalitär vergütet« bekäme (AOI, Correspondence, Box 1, Internationaler Psychoanalytischer Verlag). Im selben Brief verwies der Verlag darauf, dass »der Grossteil der Propaganda ohnehin durch uns geschieht« (AOI, Correspondence, Box 1, Internationaler Psychoanalytischer Verlag). Im Brief des Verlages vom 12.5.1933 wurde ihm mitgeteilt, dass der Verlag Hans Huber in Bern es abgelehnt habe, die Charakteranalyse herauszubringen, sodass Reich nur der Selbstverlag übrig bleibe (AOI, Correspondence, Box 4, Psa., 1935-»EP«, 1935–1954). AOI, Correspondence, Box 1, Internationaler Psychoanalytischer Verlag. AOI, Correspondence, Box 7, General 1935-September 1939, I-P. AOI, Correspondence, Box 7, General 1935-September 1939, I-P.
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der psychoanalytischen Literatur alle Stellen zusammenzustellen, die die Funktion des Orgasmus betreffen« (ebd.). Auch der Verlag korrespondierte mit Reich weiter bezüglich verschiedener Detailfragen. Noch am 29.7.1938, also im Zuge der Verlagsliquidierung nach dem »Anschluss« Österreichs, bat der Verlag um den Nachweis von Reichs Staatsangehörigkeit, um sein Buch Charakteranalyse behördlich anmelden und seine Interessen weiter vertreten zu können (ebd.). All das ist umso bemerkenswerter, wenn man berücksichtigt, dass der Internationale Psychoanalytische Verlag im Januar 1932 »endgültig zu einem Freudschen Familienbetrieb geworden« war (Marinelli 2009, S. 79). Sigmund Freud war seit der Verlagsgründung 1919 nicht nur der Weichensteller und mit Abstand wichtigste Autor des Unternehmens, er und Anna Freud fungierten inzwischen auch als dessen Hauptgesellschafter – und nun übernahm auch noch Sohn Martin die Verlagsleitung.344 Zeitgleich wurde die Verbindung zur IPV durch Bildung einer »Verlags-Kommission« gestärkt, zu der neben IPV-Präsident Jones auch Marie Bonaparte gehörte (ebd., S. 80). Bei diesem erneuten »Schritt gegen Reich« (Freud) dürften sich daher Sigmund, Anna, Martin Freud und IPV-Leitung – zu der Anna ohnehin gehörte – abgestimmt haben. Es ging dabei – und vielleicht auch bei dem weiteren Vorgehen gegenüber Reich – offenbar in erster Linie darum, dass Verlag und Psychoanalyseorganisation nach außen hin, vor allem in Deutschland und Österreich, nicht mit Reich identifiziert würden. Im Falle einer persönlichen Feindschaft Freuds gegenüber Reich, ja schon bei einer vollständigen Ablehnung der Charakteranalyse hätten sich Wege finden lassen, die Arbeitsbeziehungen zwischen dem Verlag und dem Autor Reich komplett aufzukündigen, statt sogar noch innerhalb der Analytiker-Community für dessen Buch zu werben. Wenn Johannes Cremerius diesbezüglich von einer »Vernichtungsaktion« spricht, die Freud gegen Reich angezettelt habe (Cremerius 1997, S. 144), ist das daher nicht zutreffend.345 344 Mitgesellschafter Ferenczi rang im April 1933 bereits mit dem Tode. Der einzige weitere Mitgesellschafter, Max Eitingon, bereitete notgedrungen seine Emigration nach Palästina vor und schied 1934 auch formal aus dem Gesellschafterkreis aus (Marinelli 2009, S. 83). 345 In der Ausgabe Januar/Februar 1933 der Psychoanalytischen Bewegung (S. 94) war auch noch das von Annie und Wilhelm Reich mitverfasste Buch Das Kreidedreieck positiv besprochen worden: »eine gute Aufklärungsbroschüre für Sechs- bis Zehnjährige […], gut illustriert, […] besonders wirksam dargestellt«. Rezensent Eduard Hitschmann schloss allerdings: »Vieles spricht dafür, daß der anonyme Autor auch über psychoanalytische Erfahrungen an Kindern aus dem Volke verfügt.« Vielleicht wusste er tatsächlich nicht, wer hinter der von ihm gelobten Broschüre steckte.
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Wie sehr auch Reich im März 1933 eine konstruktive Diskussion anstrebte, belegt sein Brief, den er am 17.3.1933, einen Tag nach der Absage des Verlages, »an die Leitung und Verlagskommission des Internat. Psa. Verlags« sandte: »Gestern teilte mir der Verlagsleiter, Herr Dr. [Martin] Freud, mit, dass auf Beschluss der Verlagskommission und der Verlagsinhaber der Vertrag, wonach mein Buch ›Charakteranalyse‹ im Verlag demnächst herauskommen sollte, rückgängig gemacht wird. Begründet wurde dieser Beschluss mit der Rücksicht auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, die es nicht angebracht erscheinen liessen, meinen kompromittierten Namen neuerdings offiziell zu vertreten. Ich […] vermag sogar den Standpunkt […] als Vorsichtsmassnahme zu begreifen, wenn auch als wissenschaftlicher Arbeiter nicht zu billigen« (AOI).346
Darüber hinaus sehe er sich aber »verpflichtet«, so Reich weiter, auf die »Illusionen aufmerksam zu machen, denen sich die Leitung und Verlagskommission hinzugeben scheinen«: »Es ist vollkommen gleichgültig, ob die Vertreter der Psa. nunmehr diese oder jene Schutzmassnahme ergreifen, ob sie sich von der wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen oder diese den herrschenden Verhältnissen anpassen werden. Der soziologischkulturpolitische Charakter der Psychoanalyse lässt sich durch keinerlei Massnahme aus der Welt schaffen. Der Charakter ihrer Entdeckungen […] macht sie vielmehr zu einem Todfeind der politischen Reaktion« (ebd.).
Die Analyse werde »in den bevorstehenden gesellschaftlichen Kämpfen um die Neuordnung der Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen« – und dies »gewiss nicht auf Seite der politischen Reaktion«. Der Versuch einer Anpassung an diese Reaktion wäre deshalb »sinnlose Selbstaufopferung«. An der Tatsache, dass »die analytische Theorie revolutionär und ihr Platz daher auf Seite der Arbeiterbewegung ist, lässt sich von niemand rütteln. Ich sehe daher heute die wichtigste Aufgabe darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern« (ebd.).
346 AOI, Correspondence, Box 4, Psa., 1935-»EP«, 1935–1954. Reich kommentierte später: »Ich protestierte, doch es blieb dabei. […] Man wollte sich durch meinen Namen nicht kompromittieren und nahm als Organisation, deren vollberechtigtes Mitglied ich noch war, keine Rücksicht auf meine Arbeit, meine Auslagen, meine Situation« (Reich 1995, S. 203).
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1.5 Ein letztes Mal Wien
Am 7.4.1933 hielt Reich in Wien für den Bund proletarischer Schriftsteller einen Vortrag über Die Massenpsychologie der nationalen Bewegung. Am 17.4.1933 ließen sich Freud und Paul Federn, damals Vorsitzender der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, von Felix Boehm über die Entwicklungen seit dem politischen »Rechts«-Ruck in Deutschland informieren. Boehm bat dabei, wie er berichtet, Freud um einen Rat, wie er bezüglich des DPG-Vorstandes – dessen Vorsitzender, Max Eitingon, jüdischer Herkunft war – mit in Deutschland aufgestellten Forderungen nach »Judenreinheit« umgehen solle. Freud vermutete zwar, so Boehm, dass auch eine entsprechende personelle Änderung im Vorstand die Regierung nicht davon abhalten werde, die Psychoanalyse zu verbieten. Wenn man der Regierung jedoch die Begründungsgrundlage für ein Verbot durch einen veränderten Vorstand entziehen könne, solle man das tun (Brecht et al. 1985, S. 100). Am Ende des »1 ¾ Stunden« dauernden Gesprächs »sprach Freud zwei Wünsche für die Leitung der Gesellschaft aus«. Beide richteten sich gegen Analytiker, die recht eigene Psychoanalyseauffassungen vertraten. Zum einen dürfe Harald Schultz-Hencke »nie in den Vorstand […] gewählt werden.347 […] Und zweitens: ›befreien Sie mich von Reich‹« (ebd., S. 101). Dass Freud damit meinte, Boehm solle Reich aus der DPG ausschließen – was automatisch den Verlust der IPV-Mitgliedschaft nach sich zog –, geht aus einem Brief hervor, den Freud am selben Tag an Eitingon schrieb. Dort heißt es über die Unterredung, Boehm »sagte zu, Reich, der jetzt noch in Wien stänkert, ausschließen zu lassen. Ich wünsche es aus wissenschaftlichen Gründen, habe nichts dagegen, wenn es aus politischen geschieht, gönne ihm jede Märtyrerrolle« (Freud/Eitingon 2004, Bd. 2, S. 853f.). Als gefährlich hatte Freud bereits 1932 Reichs öffentliche Kritik an einigen seiner zentralen Thesen empfunden. Da Reichs »linkes« Engagement nach der NS-Machtübernahme auch noch die Chance verringerte, den Fortbestand der DPG zu sichern, muss Freud Reich nun wohl auf zweifache Weise als Risikofaktor für das Weiterbestehen seines Lebenswerkes empfunden haben. Ebenfalls noch am 17.4.1933 forderte Federn Reich, auch im Namen Freuds, schriftlich auf, die politische Arbeit einzustellen. Reich weigerte sich (Reich 1995, S. 204).348 Am 19.4.1933 verzeichnet das WPV-Protokoll letztmalig Reichs Anwesenheit bei einer Diskussion über Freuds Neue Vorlesungen (IPV-Korrespondenzblatt 1933, S. 485). Eine Vorstandssitzung der WPV, zu der Reich am 21.4.1933 erschien, 347 Zu Schultz-Hencke später mehr. 348 Auch archiviert unter AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934: Brief P. Federn an Reich, 17.4.1933, Reich an Federn, 18.4.1933, Federn an Reich, 19.4.1933.
185
1 Vorspiele
erbrachte keine Lösung. In einem Brief an Anna Freud in ihrer Eigenschaft als IPV-Sekretärin rekapitulierte Reich einen Tag darauf: »Der Vorstand der Vereinigung forderte von mir mit Rücksicht auf die herrschende politische Situation die Einstellung meiner politischen Arbeit und soziologischwissenschaftlichen publizistischen Tätigkeit. […] Ich erklärte, eine solche Zusage nicht machen zu können. Ich machte Ihnen jedoch den Vorschlag, unter einer Bedingung mit den weiteren Publikationen ein bis zwei Jahre zu warten: wenn die IPV offiziell zu meiner Arbeit Stellung nehmen würde, damit eine Grundlage für die Entscheidung geschaffen wäre, ob sich meine Arbeit und Theorie der Sexualökonomie mit meiner Mitgliedschaft verträgt oder nicht. Ich habe das grösste Interesse daran, zwei Tatbestände aus der Welt zu schaffen: Erstens die bisherige Totschweigetechnik der IPV meiner Arbeit gegenüber, zweitens die daraus hervorgehenden Versuche, mich auf indirekte, inoffizielle, stille Weise kaltzustellen. […] So sehr ich auch die Tendenz begreife, […] ohne Aufsehen damit fertig zu werden, kann ich im Interesse dieses historisch bedeutsamen Konfliktes innerhalb der psa. Bewegung eine offizielle Stellungnahme nicht ersparen. Ich erklärte dementsprechend gestern Abend, dass ich unter keinen Umständen, bei noch so grossen Demütigungen und inoffiziellen Ungerechtigkeiten selbst aus der IPV austreten werde, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich mich zu den wenigen wirklich legitimen Vertretern der Psa. zähle« (AOI).349
Anna Freud scheint nicht geantwortet zu haben.350 An Ernest Jones schrieb sie allerdings am 27.4.1933 über Reichs »Rücksichtslosigkeit, […] hier in kommunistischen Versammlungen politische Reden mit psychologischem Anstrich zu halten. Was das in heutigen Zeiten für die analytische Vereinigung bedeuten kann, weiß jeder« (zitiert in Friedrich 1990, S. 164). In diesem Brief zitierte sie dann den bereits angeführten Ausspruch Freuds, die Psychoanalyse solle nicht als das »Gemisch von Politik und Analyse« verboten werden, das Reich vertrete. Handschriftlich erläuterte Anna Freud in einer – schon angeführten – Fußnote, wie Reich dieses »Gemisch« vertreten habe: »in maßloser propagandistischer Weise in vielen Zehntausenden von Broschüren, Schriften etc.« Aber auch das, was sie anschließend schrieb, machte deutlich, welche Bedeutung sie Reich 349 AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934. 350 Jedenfalls ist in diesem, chronologisch geordneten Ordner des AOI keine Antwort zu finden. Der erste in diesem Ordner enthaltene Brief Anna Freuds stammt vom 18.10.1933. Reich hatte sie am 16.10.1933 an seine »vor vielen Wochen« an sie ergangene Anfrage erinnert. Sie begann ihre Antwort damit, sich für ihr langes Schweigen zu entschuldigen. Zum wesentlichen Inhalt von Reichs Brief vom 22.4.1933 gab sie dennoch keine Stellungnahme ab (AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934).
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1.5 Ein letztes Mal Wien
beimaß. Dessen Wunsch nach einer »offizielle[n] Stellungnahme« erscheine ihr nicht nur ohnehin »berechtigt«, sie erhoffe sich davon zugleich eine »Abgrenzung der wirklichen Psa. von der Reichschen Psa.«. Dann richtete sie die Frage an Jones: »Erschiene es Ihnen als ein Ausweg, Reich vorzuschlagen, er möge eine eigene Vereinigung gründen, in deren Namen sich die Vereinigung von Analyse und Politik ausdrückt? Er hat eine Handvoll junger und eifriger Anhänger« (ebd.). All diese Vorwürfe, Sorgen, Lösungsvorschläge wie auch das Reden von einer »Reichschen Psychoanalyse« wären unnötig gewesen, wenn Reich nicht über erheblichen Einfluss verfügt hätte. Die, so beschrieb Reich es später, »Hetze« gegen ihn eskalierte. Notgedrungen verließ er nun auch Wien: »Ich emigrierte also nicht aus Österreich wegen der Polizei oder aus Mangel an Arbeit, sondern wegen meiner Fachkollegen.« Am 1.5.1933 erreichte er Kopenhagen (Reich 1995, S. 204ff., S. 228). Am Geschehen während der Zeit des Dritten Reiches nahm er zwar weiterhin Anteil. Aber dies nun vor allem als analysierender Beobachter und Kommentator sowie als Betroffener von Vereins- und Parteiausschlüssen, Diffamierungen, NS-Bücherverfolgung, Observierung und letztlich Ausbürgerung und Auswanderung. Die Hauptrollen werden daher im Folgenden oftmals andere spielen: »arische« Psychoanalytiker, Psychotherapeuten, Psychologen und Geisteswissenschaftler, die Leitung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung – und NSFunktionäre.
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2
Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
2.1
Bücherverbrennung
Mehr oder weniger spontane Bücherverbrennungen, meist als Begleiterscheinung von SA- und SS-Terror, fanden bereits ab März 1933 statt. Bis zum Oktober des Jahres lassen sich bislang mehr als 100 Verbrennungsakte in 85 deutschen Städten nachweisen (Treß 2011, S. 40f.). Die meisten davon wurden von der Hitlerjugend organisiert und richteten sich gegen missliebige Bestände von Schulbibliotheken (Treß 2008a, S. 14ff., 2008b, S. 52–58). Aber auch der von Alfred Rosenberg geleitete Kampfbund für deutsche Kultur, der Deutsche Handlungsgehilfenverband, die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation sowie Ortsgruppen der NSDAP traten als Träger der Vernichtungsaktionen in Erscheinung (Treß 2008a, S. 24). Ab April 1933 beteiligten sich nationalsozialistische Studenten ebenfalls mit einem Diffamierungs- und Zerstörungskonzept: der Aktion »Wider den undeutschen Geist!«. Die eng mit der SA verflochtene Deutsche Studentenschaft (DSt) wollte damit offenbar auch die eigene Bedeutsamkeit spektakulär demonstrieren (Treß 2008a, S. 53, 2003, S. 61ff.). Als Termin für Hauptakt und Höhepunkt der auf vier Wochen angelegten Kampagne benannte die DSt-Leitung den 10. Mai 1933, als Ort Berlin.351 Dafür und für die ebenfalls von vornherein geplanten deutschlandweiten Parallel- und Folgeveranstaltungen – bis Ende Juni wurden es insgesamt 30 – griff man auf »Schwarze Listen« mit »undeutscher« Literatur zurück, die Bibliothekare im Auftrag des Berliner Magistrats verfasst hatten. Die Einbeziehung der Psychoanalyse kann jedoch nicht von den Verfassern dieser Listen 351 Am umfassendsten beschreibt Werner Treß die Berliner Vorgänge (Treß 2008b, S. 47–142).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
ausgegangen sein: Freud wurde in keiner von ihnen erwähnt (ebd., S. 105; ders. 2008a, S. 17–21). Allerdings veröffentlichte am 1.5.1933 die NS-Studentenzeitschrift Berliner Hochschulblatt einen Aufruf »Wider den undeutschen Geist«, in dem gefordert wurde: »Das träufelnde Gift, verborgen unter dem Deckmantel von Wissenschaften, Humanität, Pazifismus, Paneuropa, Liga für Menschenrechte usw. muß vernichtet werden.« Als »undeutsches Wesen« wurde dann unter anderem spezifiziert: »Wer […] Familie, Ehe, Liebe zersetzt, gefährdet Sitte und Gesundheit unserer Jugend, unserer Zukunft und ist Feind unserer deutschen Kraft und Stärke. […] [W]er lehrt und glaubt, daß Geld, Sexualität, ehrgeizig-egoistischer Machtwille der Mittelpunkt alles menschlichen Geschehens ist, ist unser Feind« (dokumentiert in Treß 2008b, S. 92; Hervorhebungen von mir – A.P.).
Hier scheinen – vermutlich neben Magnus Hirschfelds Sexualforschungen – auch schon die Psychoanalyse, vielleicht in ihrer spezifisch Reichschen Auslegung, sowie die Adlersche Individualpsychologie352 ins Visier genommen worden zu sein. Freuds Name taucht dann erstmals im Rundschreiben vom 9.5.1933 auf, in dem die auszurufenden »Feuersprüche« und die zu verbrennende Literatur vorgegeben wurden.353 Das »Hauptamt für Aufklärung und Werbung« der DSt, von dem dieses Schreiben ausging, muss ihn also – ebenso wie die Publizisten Theodor Wolff, Georg Bernhard und Carl von Ossietzky – erst hinzugesetzt haben. Dies deutet möglicherweise auf eine »zentrale Instanz« hin, die Einfluss auf die Spruchabfassung nahm und ein Interesse an der Einbeziehung der Psychoanalyse hatte. Es erscheint mir zudem unvorstellbar, dass das erst vier Wochen existierende »Hauptamt« – »ein nicht sonderlich professionelles Büro, in dem Studenten für Studenten arbeiteten«354 und das ohnehin »in den ›geistigen‹ Fragen der ›Aktion wider den undeutschen Geist‹ auf die Hilfe Dritter angewiesen« war (Treß 2003, S. 94) – bzw. dessen Leiter, der knapp 24-jährige Jurastudent Hans Karl Leistritz, in dieser Sache gänzlich selbstständig entschied. Zumal es um deutschlandweite Veranstaltungen ging, deren zentralen Akt das ganze Land per Radio mitverfolgen sollte. Eingewirkt hat sicherlich Gerhard Krüger, der als Vorsitzender der Deutschen 352 Nach Alfred Adlers Auffassung ist das Streben nach Macht ein zentraler Punkt. 353 StAWü, RSF IV 1–60/1–4, nachzulesen auch unter www.hdbg.de/buecher/media/dok/Dokument10.htm. 354 Persönliche Mitteilung von Gerhard Sauder, 5.6.2009.
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2.1 Bücherverbrennung
Studentenschaft zugleich Hauptamtsvorgesetzter war. Er hatte Geschichte, Germanistik, Soziologie, Geografie und Zeitungswissenschaften studiert.355 Doch auch diese Qualifikationen genügen nicht, um die letztlich für die »Feuersprüche« verwendeten Formulierungen zu erklären.
2.1.1
Die »Feuersprüche«
Zunächst einmal weisen die insgesamt neun »Feuerspruch«-Vorgaben bemerkenswerte inhaltliche Differenzierungen auf. Alle Sprüche waren zweigeteilt. In der ersten Zeile erfuhr man, wogegen sich der Spruch richtete: »Klassenkampf«, »Verrat«, »Gesinnungslumperei« usw. In dem der Psychoanalyse gewidmeten Spruch Nummer vier hieß es: »Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens«. Schon das Wort »seelenzerfasernd« – eine in gewisser Weise treffende, wenn auch abwertende Übersetzung von »psychoanalytisch« – erforderte fachliches Grundwissen, über das Studenten – zumal politisch »rechts«orientierte – wohl im Allgemeinen nicht verfügten. Sieht man sich die Sprüche, in denen ganz verschiedene Gebiete sowie 15 teils wenig bekannte (vgl. Benz 2003, S. 34; Bock 2003, S. 86) Journalisten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Verleger356 aufgeführt wurden, insgesamt an, verstärkt sich der Eindruck: Für die Formulierung dieser Sprüche waren Kenntnisse nötig, die das normale Maß (NS-)studentischer Allgemeinbildung überschritten haben dürften. Die zweite Zeile ergänzte jeweils, wofür man stattdessen zu sein hatte. Das wies durchweg »nationale« Bezüge auf – »Volksgemeinschaft«, »deutscher Volksgeist« und Ähnliches wurden benannt –, mit Ausnahme von Spruch vier. Denn hier lautete die zweite Zeile: »Für den Adel der menschlichen Seele«. Im Gegensatz zu den anderen Feinden wurde also die Psychoanalyse als ein globales Risiko bewertet: nämlich als Risiko für die menschliche Seele an sich. Ihre Erkenntnisse, so scheint man hier gewusst zu haben, machten nicht an (deutschen) Länder- oder Sprachgrenzen halt; das »Zersetzungs«-Potenzial der Analyse bedrohte grundlegende – patriarchale, autoritäre, gefühlsunterdrückende – Normen, auf denen auch der Nationalsozialismus beruhte. Hinter der Einschätzung der Psychoanalyse als Risiko könnte sich tatsächlich eine indirekte Anerkennung ihrer aufklärerischen und therapeutischen Möglichkeiten verbergen. Denn dass 355 Vgl. ebd., S. 64 sowie de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Kr%C3%BCger_(NS-Funktion%C3%A4r. 356 Karl Marx, Karl Kautsky, Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner, Friedrich Wilhelm Foerster, Sigmund Freud, Emil Ludwig, Werner Hegemann, Theodor Wolff, Georg Bernhard, Erich Maria Remarque, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky.
191
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
ausgerechnet die für die Bücherverbrennung federführenden Nationalsozialisten menschlichen Seelenadel eingeklagten, lässt sich vielleicht so verstehen: Die destruktiven Persönlichkeitsstrukturen derer, die sich in Gestalt des Dritten Reiches, des italienischen Faschismus und ähnlicher Regimes einen für sie passenden sozialen Rahmen schufen, sollten nicht durch analytische Erkenntnisse demaskiert – oder gar geheilt – werden. Acht der neun Sprüche bezogen sich auf bestimmte Personen, deren Werke verbrannt werden sollten: von »Marx, Kautsky« (Spruch eins) über Heinrich Mann, Erich Kästner und andere bis »Tucholsky, Ossietzky« (Spruch neun). Begleitet von Spruch vier sei jedoch ins Feuer zu werfen: »Freudsche Schule, Zeitschrift Imago«.Und das hieß: Hier wurde ausnahmsweise kein einzelner Autor zum symbolischen Feuertod verurteilt. Anvisiert war vielmehr die gesamte, von Freud geprägte Wissenschafts- und Therapierichtung einschließlich ihrer Publikationen – Bücher ebenso wie Zeitschriften. Das ist umso bemerkenswerter, als ja zumindest auch Marx und Kautsky »Schulen« und Organisationen hinter sich hatten: die marxistische bzw. sozialistische Bewegung. Doch unterblieb hier eine entsprechende Ausweitung beim Benennen zu vernichtender Schriften. Sollte etwa vermieden werden, die eher sozialistisch orientierten Anhänger in den eigenen Reihen zu frustrieren? Das könnte auf »Feuerspruch«-Autoren hindeuten, die nicht nur über ein hohes Maß an politischem Bewusstsein im Sinne des NS-Staates verfügten, sondern vielleicht auch selbst zum »linken« NSDAP-Flügel gehörten.357 Dass gerade die Imago ausgewählt worden war, belegt zudem erneut eine gewisse Kompetenz in Sachen Analyse: Da diese Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes- und Naturwissenschaften das weiteste Themenspektrum unter den analytischen Periodika hatte, ließ sich hier auch die größte öffentliche Wirkung über die Ärzteschaft hinaus vermuten.358 357 Wozu allerdings festzuhalten ist, dass der deutsche »nationale« Sozialismus von führenden NSDAP-Mitgliedern wie Rosenberg immer wieder betont vom Marxismus abgegrenzt wurde (siehe z.B. Piper 2007, S. 144–151). In den 1920er Jahren hegten aber unter anderem die Brüder Gregor und Otto Strasser oder Ernst zu Reventlow durchaus eine gewisse Sympathie für die Sowjetunion. Selbst Goebbels konnte noch 1924 Marx’ Kapital positive Seiten abgewinnen (Longerich 2010, S. 58). Und die NSDAP hatte ja auch aus KPD-Kreisen Zulauf zu verzeichnen, verstärkt nach dem 30.1.1933. Insofern halte ich es für möglich, dass auch bei den »Feuersprüchen« taktische Erwägungen eine Rolle spielten. 358 In der Psychoanalytischen Bewegung (Heft 1/1929, S. 1f.) ist zu lesen, die Imago diene »allen außermedizinischen Anwendungen«, insbesondere der »Philosophie und Psychologie, der Religionswissenschaft, Völkerpsychologie und Ethnologie, der Literaturforschung, Kunstwissenschaft und Ästhetik und der Pädagogik und Jugendpsychologie« (vgl. auch Zerfaß/Linke o.J., S. 70ff.). 1933 wurde sie umbenannt in Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen (Marinelli 2009, S. 195). Allerdings
192
2.1 Bücherverbrennung
Wenn also die offenbar wohlerwogenen Formulierungen der »Feuersprüche« nicht dem »Hauptamt« der Studentenschaft allein zuzutrauen sind – wer könnte für den Freud-Spruch verantwortlich sein oder zumindest Einfluss auf ihn genommen haben?
2.1.2
Mögliche Inspiratoren
Vier Personen kommen nach meinem Eindruck besonders dafür infrage. Zwei von ihnen gehörten in den 1920er Jahren zu den führenden deutschen Geisteswissenschaftlern. Der eine ist der Pädagoge und Philosophieprofessor Alfred Baeumler, seit 1930 Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur (Klee 2003, S. 24).359 Anfang April 1933 hatte er für den Entwurf von zwölf Thesen »Wider den undeutschen Geist«, mit denen auf die Verbrennungen eingestimmt werden sollte, »geringfügige stilistische Änderungen« vorgeschlagen, die von den Studenten auch berücksichtigt wurden (Strätz 1983, S. 91). 1927/28 hatte sich Baeumler, nach Auskunft seiner Witwe, Marianne Baeumler,360 in seinen Ethikvorlesungen an der TH Dresden361 mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt und dabei durchaus Positives vermerkt. Das könnte in der folgenden Zeit gerade deshalb in generelle Ablehnung umgeschlagen sein, weil Thomas Mann sich so überaus deutlich zu Freud bekannte (siehe z.B. Mann 1929). Zwischen Baeumler und Mann hatte Anfang der 1920er Jahre eine gewisse geistige Nähe und wohl auch Sympathie bestanden, die aber seit 1926 durch philosophische und politische Differenzen in Ablehnung umgeschlagen waren. Baeumler, der über sich schreibt: »Von früh an hatte ich eine Abneigung gegen psychologische Erklärungen«, sah vor allem in Manns Annäherung an Freud bzw. seinen daraus abgeleiteten »Psychologismus« die Ursache für ihr Zerwürfnis (Baeumler et al. 1989, S. 65f., 236, 241, 250). Der andere ist der Philosoph und Kulturanthropologe Erich Rothacker. Im Mai 1933 war er der »Leiter der Abteilung ›Volksbildung‹« im Propagandaministerium verfügte die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, die »keine fachwissenschaftliche Zeitschrift im engeren Sinne« sein sollte, sondern sich an »Vater, Mutter, Arzt und Lehrer« wendete (Psychoanalytische Bewegung, Heft 1/1929, S. 2), über einen größeren Leserstamm (persönliche Mitteilung von Michael Schröter, 16.6.2009). Das aber dürfte nur wirklichen »Insidern« bekannt gewesen sein. 359 Zu Baeumlers Biografie vgl. Treß (2003, S. 117ff.). 360 Telefonat vom 25.5.2009. 361 Diese Veranstaltungen sind erfasst im Vorlesungsverzeichnis vom Wintersemester 1927/28, das mir von Werner Treß zur Verfügung gestellt wurde.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
und zugleich »Goebbels’ Verbindungsmann zur studentischen Aktion ›Wider den undeutschen Geist!‹« (Böhnigk 2002, S. 15) und damit ohnehin in die Organisation der Bücherverbrennungen involviert. So nahm Rothacker zum Beispiel am 10.4.1933 einen Antrag der Studentenschaft auf Zuschuss von 600 Reichsmark entgegen, der unter anderem für die Plakatierung der zwölf Thesen »Wider den undeutschen Geist« gedacht war (Sauder 1983, S. 80f.). Seit 1929 war Rothacker Direktor des Psychologischen Instituts in Bonn (Geuter 1988, S. 578). Dafür, dass ihm die Analyse 1933 keine Unbekannte mehr war, spricht die Tatsache, dass er fünf Jahre später eine umfangreiche »Schichtentheorie der Seele« vorlegte, die »die Theorie des Unbewußten übernimmt. Gedanklich wie terminologisch wird hier Freud rezipiert, jedoch ohne den Namen Freud zu erwähnen.« Das Stichwort »Psychoanalyse« fällt allerdings mehrfach (ebd., S. 475). Ein hohes Maß an Allgemeinbildung und politischem Bewusstsein im Sinne des NS-Staates war also bei Rothacker wie auch bei Baeumler (beide frischgebackene NSDAP-Mitglieder) gegeben. Letzterer, der sich gründlich mit Marx und Engels befasst hatte (vgl. Baeumler et al. 1989, S. 137, 252; Wetzel 1978, S. 47–58), sympathisierte mit mancher politisch »linken« Idee. Zunächst »nationalbolschewistischen« Kreisen um Ernst Niekisch nahestehend (vgl. Niekisch 1974, S. 252ff.), erhoffte er noch am 10. Mai 1933 ein »Weltalter des Sozialismus«, »das vor uns liegt« (zitiert in Treß 2003, S. 118). Baeumler und Rothacker kooperierten 1933 zudem bei der Herausgabe des Handbuchs für Philosophie (Böhnigk 2002, S. 156) und teilten Auffassungen, durch die sie ohnehin konträr zu Pazifismus und Judentum – also auch zu Freud – standen. So pries Rothacker die »Haltung des Soldaten« als »großartigste[s] Beispiel […] volkstümlicher und rassisch-aristokratischer Lebensformen« und betonte 1934 gegenüber dem Reichsinnenministerium, dass auch er »die untragbare Persönlichkeit Einsteins […] nicht minder rasch hinausgeworfen hätte« und dass er »mit allen gegen Juden ergriffenen Maßnahmen voll einverstanden« sei (ebd., S. 70f., 34). Baeumler erklärte laut einem Zeitungsbericht362 Ende Mai 1933, er sehe in der »Entfernung jüdischer Dozenten« aus den Hochschulen »weder Willkür noch Hass, sondern etwas viel Tieferes, unmittelbar aus dem militanten Geist der Wissenschaft Geborenes […]. Der jüdische Geist sei von seiner Religion her missionierend im Sinne einer pazifistischen Lebensidee, er kann also Wissenschaft nicht so sehen, wie es die griechisch-nordische Seele tut.«
362 Münchner Neueste Nachrichten, 31.5.1933 (S. 1–2), »Die Aufgabe der Universität. Vortrag von Prof. Baeumler«. Der Artikel wurde mir von Marianne Baeumler zur Verfügung gestellt.
194
2.1 Bücherverbrennung
Das deutsche Volk könne, so Baeumler weiter, »diesem Kampf nicht ausweichen«. Sowohl Baeumler als auch Rothacker waren im Frühjahr 1933 zudem mit machtvolleren NS-Funktionären verbunden. Baeumler wurde für Rosenberg zum immer wichtigeren Mitarbeiter (Piper 2007, S. 359). Rosenberg wiederum war von der Leitung der DSt bereits am 6.4.1933 über die von ihr geplante Kampagne informiert und um Mithilfe gebeten worden. Am 12.4.1933 bekräftigte die DSt noch einmal, dass man es gerne sähe, »wenn die Gesamtaktion in engster Fühlung mit dem Kampfbund für deutsche Kultur vonstatten gehen würde« (Treß 2008b, S. 75). Der ohnehin verbissen um Einflussmöglichkeiten im Kultursektor ringende Rosenberg dürfte also, vielleicht auch durch Baeumler, vorab über die »Feuersprüche« informiert gewesen sein und hätte, zum Beispiel über Baeumler, auf deren Formulierung Einfluss nehmen können. Die »Seele« und das »Seelische« gehörten zu Rosenbergs bevorzugten Themen; wie Baeumler wandte auch er sich gegen den »Psychologismus«, den er unter anderem bei Dostojewski ausmachte und als »Zeichen einer Seelenverkrüppelung« verstand: »Wie ein Verwundeter immer wieder seine Wunde betasten und untersuchen wird, so ein Seelenkranker seine inneren Zustände« (Rosenberg 1934, S. 208f.). In Leitartikeln des Völkischen Beobachters demonstrierte er, dass er aktuelle Strömungen des Geisteslebens, wie etwa die »universalen, neubuddhistischen, anthroposophischen Ideen« oder auch Pazifismus und Futurismus, beobachtete. Magnus Hirschfeld wurde von Rosenberg wegen dessen »sexualen Vorträge[n]« als »alter Päderast« und »öffentlicher Schmierfink« tituliert (Rosenberg 1940, S. 34, 132, 210). Dass auch die Psychoanalyse und Freud zu seinen Feindbildern gehörten, macht eine Mitteilung im – von Rosenberg herausgegebenen – Völkischen Beobachter vom 29.8.1930 sehr wahrscheinlich.363 Nachdem Freud am Vortag den renommierten Goethepreis erhalten hatte, war dort zu lesen: »Der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt wurde diesmal Professor Sigmund Freud, dem weltberühmten Wiener Gelehrten und Schöpfer der Psychoanalyse, so jubelt mit Zinken und Posaunen die ›Israel. Gemeindeztg.‹ in Nr. 10, verliehen. Der Goethe-Preis, der größte wissenschaftliche und literarische Preis Deutschlands, wird dem Ausgezeichneten am 28. August, dem Geburtstage Goethes, im Rahmen einer großen Feierlichkeit in Frankfurt/M. überreicht werden. Die Preissumme beträgt 10 000 Mark. – Daß von namhaften Gelehrten die ganze Psychoanalyse des Juden 363 Diese erschien auf Seite zwei. Entdeckt hat sie offenbar als erster Irvin Yalom. Es lässt sich annehmen, dass Rosenberg diesen Text zumindest kannte. Auch der Stil könnte zu ihm passen. Dennoch ist es gewagt, wenn Yalom zur Autorenschaft vermerkt: »Alfred Rosenberg im Völkischen Beobachter« (Yalom 2012, S. 368), denn der Text ist nicht namentlich gekennzeichnet.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Sigmund Freud als höchst unwissenschaftliches Geschwafel und Geschwätz abgelehnt wird, weiß man. Der große Antisemit Goethe [ein haltloser Vereinnahmungsversuch – A. P.] würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erführe, daß ein Jude einen Preis bekommt, der seinen Namen trägt.«
Auch der Vorgesetzte Rothackers, Joseph Goebbels, maß dem Psychischen – als Grundlage erfolgreicher Massenmanipulation oder »geistiger Mobilmachung« – große Bedeutung bei: »Wir wollen die Menschen so lange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind« (zitiert in Reuth 1991, S. 267). Der im März 1933 gekürte Minister für Volksaufklärung und Propaganda war ebenfalls frühzeitig, spätestens am 2.4.1933, von der DSt-Leitung als erwünschter Bündnispartner ausgemacht worden. Von ihm wollte man nicht nur finanzielle und technische Unterstützung – nur mit Einverständnis des Propagandaministerium war eine Rundfunkübertragung der Veranstaltung am 10. Mai möglich –, er sollte dem Abend auch durch eine Rede den Höhepunkt verleihen (Treß 2008b, S. 68–73, 80ff.). Goebbels habe dann, so berichtete einer der studentischen Akteure, »massiv« in die Vorbereitung der Bücherverbrennungsaktion eingegriffen (Faust 1983, S. 48, Anm. 42). Der Propagandaminister dürfte auch dafür gesorgt haben, dass die »Feuersprüche« – die seinem Auftritt in der Liveübertragung der Veranstaltung unmittelbar vorausgingen – seinen Intentionen nicht zuwiderliefen. Es erscheint mir daher als sicher, dass Goebbels ihren Wortlaut vorab gekannt und die Einbeziehung der Psychoanalyse akzeptiert hat. Vielleicht stammte die Anregung dafür sogar von ihm – oder von Rosenberg?
2.1.3
Der 10. Mai 1933
Bevor am späten Abend des 10. Mai 1933 die zentrale Bücherverbrennungsaktion stattfand, hielt Alfred Baeumler in der Berliner Universität seine Antrittsvorlesung als neu berufener Ordinarius für Politische Pädagogik (Treß 2003, S. 117). Die Sätze, die er den Studenten am Ende mit auf den Weg gab, dürften sich – so lässt sich aus dem bisher Gesagten wohl ableiten – auch auf Freud bezogen haben: »Sie ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen […]. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, dass sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können« (ebd., S. 118).
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2.1 Bücherverbrennung
Bald darauf versammelten sich tausende Schaulustige, Professoren in Talaren, NS-Studenten sowie Abordnungen von SA, SS, Burschenschaften und Hitlerjugend auf dem durch Scheinwerfer hell erleuchteten Berliner Opernplatz, umrahmt von den Gebäuden der Berliner Universität, der Königlichen Bibliothek, der Hedwigskirche und der Berliner Oper. Vor dieser ebenso geschichts- wie kulturträchtigen Kulisse begann gegen 23:30 Uhr der Hauptakt, und die »Feuersprüche« wurden deklamiert. Wie sich heute noch anhand eines erhalten gebliebenen Tondokuments364 nachvollziehen lässt, hieß es an vierter Stelle: »Gegen seelenzersetzende Überschätzung des Trieblebens! Für den Adel des menschlichen … der menschlichen Seele! Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!«365
An diesem Abend in Berlin kam es also, wie geplant, zur deutschlandweit ausgestrahlten Verdammung der gesamten Psychoanalyse.366 Ein Faktum, das in der mir bekannten Literatur in der Regel gar nicht auftaucht, da der Berliner Psychoanalysespruch – wenn er denn eigens erwähnt wird – meist so kolportiert wird: »Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Sigmund Freud!«367 Auch die von Freuds Sohn Ernst initiierte, 1974 erstmals erschienene Dokumentation zu Freuds Leben folgt dieser Darstellung, wobei als Quelle auf die Wochenzeitung Die Zeit verwiesen wird (Freud, E. et al. 1974, S. 282, 342). Denselben Wortlaut wiederholt 2006 der Historiker Wolfgang Benz unter Berufung auf die
364 Dieses kann man sich anhören unter www.dhm.de/ausstellungen/holocaust/r2.htm. 365 Dass die Formulierung »seelenzersetzend« das vorgegebene, sprachlich ungewöhnlichere »seelenzerfasernd« ersetzte, halte ich für eine spontane Fehlleistung des Ausrufenden. Interessant wäre auch zu wissen, welche Freudsche Fehlleistung hinter dem Versprecher in der zweiten Zeile steckte. Welche Bücher tatsächlich nach diesem Spruch ins Feuer geworfen wurden, ist nicht bekannt. 366 In dem später in der »Wochenschau« in den deutschen Kinos gezeigten Ausschnitt war der Spruch offenbar nicht enthalten (persönliche Information von Werner Treß). 367 Mit der zusätzlichen Abweichung »der Flamme« statt »dem Feuer« zitiert es so zum Beispiel Mark Edmundson in seinem 2009 erschienenen Buch Sigmund Freud. Das Vermächtnis der letzten Jahre. Er behauptet zudem, »der vorsitzende Parteifunktionär« habe »mit lauter Stimme« diese »Anklage erhoben« (Edmundson 2009, S. 18). Vermutlich weiß Edmundson selbst nicht, wen er damit meint. Tatsächlich fungierten als Ausrufer offensichtlich mehrere NS-Studenten (Treß 2009, S. 46). An zahlreichen anderen Stellen seines Buches verfährt Edmundson ähnlich freizügig, etwa wenn er behauptet, »die Nationalsozialisten« hätten 1933 »das Berliner Psychoanalytische Institut […] selbst übernommen« (Edmundson 2009, S. 52). Zu denen, die den Spruch in den entscheidenden Punkten korrekt wiedergeben, gehören Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer (Brainin/Kaminer 1982, S. 991).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Dokumentensammlung von Ulrich Walberer, der sich wiederum auf Joseph Wulf bezieht. Bei Wulf findet sich auch der Hinweis auf den Ursprung der Falschmeldung: das Neuköllner Tageblatt vom 12.5.1933 (Benz 2006, S. 77; Walberer 1983, S. 115; J. Wulf 1966, S. 49–50). Eine ähnlich verzerrte Wiedergabe beinhaltete aber bereits eines der ersten Bücher zur Bücherverfolgung, die von Richard Drews und Alfred Kantorowicz 1947 herausgegebene Dokumentation Verboten und verbrannt: »[F]ür den Adel der menschlichen Seele übergebe ich die Werke Sigmund Freuds dem Feuer« (Drews/Kantorowicz 1947, S. 47). Auch hier schrumpft der Bann über eine ganze Wissenschaftsrichtung zum Angriff auf einen einzelnen Autor.368 Ernest Jones hat einen später oft zitierten Kommentar Freuds zum 10. Mai 1933 übermittelt: »Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen« ( Jones 1984, Bd. 3, S. 218). Möglicherweise war auch Freud nicht aus erster Hand informiert worden und hatte daher ebenfalls nicht wahrgenommen, dass es gegen seine ganze »Schule« ging. Allein in Berlin brannten am 10. Mai 1933 ca. 20.000 Bücher. Zeitgleich fanden mindestens 21 weitere Verbrennungen in anderen Städten statt, darunter Bonn, Dresden, Göttingen, Hannover, Frankfurt am Main und München, später unter anderem Hamburg, Heidelberg und Köln (Treß 2003, S. 116–208). Dass psychoanalytische Schriften noch nach dem Mai 1933 betroffen waren, belegt ein Flugblatt, das im nahe Karlsruhe gelegenen Bretten verteilt wurde. Auch dort wurde im Juni 1933 durch die Hitlerjugend eine »Kampfwoche gegen Schmutz und Schund« durchgeführt. Auf der dafür vorgegebenen Liste einzusammelnder Bücher war in der Rubrik »Politische und wissenschaftliche Werke« unter anderem Sigmund Freud aufgeführt (dokumentiert in Wild 2003, S. 185).369 Die Anzahl der 1933 insgesamt vernichteten Bücher ist kaum abzuschätzen. Am 20.5.1933 informierte die Berliner Polizei die Presse darüber, dass sie »etwa 10000 Zentner Bücher und Zeitschriften« beschlagnahmt habe. Das dürfte, so der Historiker Werner Treß, »etwa einer Million Bände entsprechen« (Treß 2008b, S. 126f.). 368 Obwohl es im Rundschreiben des »Hauptamtes« geheißen hatte, die vorgegebenen Sprüche seien »möglichst wörtlich der Rede des studentischen Vertreters zugrunde zu legen«, wurde in anderen Orten von den vorgegebenen Formulierungen abgewichen. Alle genannten Quellen beziehen sich aber auf den »Hauptakt« in Berlin, der ja ohnehin in aller Regel gemeint ist, wenn von der Bücherverbrennung gesprochen wird. 369 Auf dieses Dokument und dessen Quelle machte mich am 5.5.2011 Werner Treß aufmerksam. Von ihm erfuhr ich auch die Entstehungszeit des Dokuments.
198
2.1 Bücherverbrennung
Die Frage, welche Bücher vernichtet wurden, wird sich ebenfalls niemals exakt beantworten lassen, da die auf den »Schwarzen Listen« erfassten Titel nur den Kernbestand der verbrannten Bücher bildeten, wie Werner Treß nachweist. Nicht nur wurde auf manch zusätzlichen »Index« zurückgegriffen (Treß 2003, S. 104f.). Von den Handelnden wurde auch Kreativität verlangt. Dass einzelne konkrete Bücher als besonders vernichtungswürdig vorgegeben würden, schließe nicht aus, hieß es dazu suggestiv im Rundschreiben des DSt-Hauptamtes vom 9.5.1933, »daß trotzdem ein großer Haufen Bücher verbrannt wird. Die örtlichen Veranstalter haben dabei jegliche Freiheit« (ebd.). Bereits am 6.5.1933 war zudem die Bibliothek des von Magnus Hirschfeld gegründeten Berliner Instituts für Sexualforschung geplündert worden (Herrn 2010; Treß 2008b, S. 109–115). Hirschfeld war vielen Nazis unter anderem wegen seines Kampfes gegen die Diskriminierung der Homosexuellen seit Langem ein Dorn im Auge.370 Am 10. Mai 1933 wurde die mehr als zehntausend medizinische, sexualkundliche und psychologische sowie sicher auch psychoanalytische Schriften enthaltende Sammlung des Instituts ebenfalls nahezu vollständig vernichtet. Bestandslisten existieren nicht mehr. Dass die Psychoanalyse auch hier betroffen war, ist jedoch durch einen Zeugen der Institutsplünderung belegt. Wie er schreibt, ging »aus den Schimpfworten […] hervor, dass die Namen der in der Spezialbibliothek vertretenen Autoren den Studenten zum großen Teil wohl vertraut waren. Nicht nur Siegmund [sic] Freud, dessen Bild sie aus dem Treppenhaus entfernten und mitschleppten, erhielt die Bezeichnung ›der Saujude Freud‹« (zitiert in Herrn 2010, S. 138).
Dafür, dass Nationalsozialisten Freudsche Psychoanalyse und Hirschfeldsche Sexualwissenschaft als eng verbunden empfanden, spricht auch, was am 19.5.1933 in Mannheim geschah. Hier wurde zum einen der Psychoanalysespruch auf bezeichnende Weise variiert: »Gegen den Primat des Triebes, gegen Dekadenz und moralischen Verfall, für Zucht und Sitte in deutscher Familie!« (Treß 2003, S. 198). Zudem kam es zu einer Vertauschung: Der für die Freud-Schule vor370 Dass er 1908 eines der fünf Gründungsmitglieder der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung gewesen war, dürfte – soweit das den Verantwortlichen überhaupt bekannt war – demgegenüber höchstens eine Nebenrolle gespielt haben. Hirschfeld hat allerdings nie als Psychoanalytiker gearbeitet und bereits 1911, nach Streit mit C.G. Jung über das Thema Homosexualität, den analytischen Organisationen den Rücken gekehrt. Er hat sich aber auch nicht gegen die Analyse gewandt, sondern sich weiter von ihr inspirieren lassen (vgl. Herzer 2001, S. 153–197).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
gegebene »Feuerspruch« wurde wortgetreu zwei Sexualwissenschaftlern zuteil: Theodoor Hendrik van de Velde, Autor von Die vollkommene Ehe, und Magnus Hirschfeld (ebd.). In der öffentlichen Wahrnehmung scheint von diesen Geschehnissen vor allem angekommen oder letztlich in Erinnerung geblieben zu sein, dass Belletristik verbrannt wurde. Aber bereits die »Feuersprüche« waren mitnichten auf schöngeistige Schriftsteller beschränkt: Publizisten sowie politische und wissenschaftliche Autoren spielten hier eine mindestens ebenso große Rolle. Und selbst die Bezeichnung »Bücherverbrennung« ist irreführend, weil viel zu eng. Schon im Schreiben der Deutschen Studentenschaft wurde von »Büchern und Schriften« gesprochen (Treß 2009, S. 43). Die Imago ist dann nur ein Beispiel dafür, dass man auch andere Druckerzeugnisse – wie »Programmschriften und Periodika« – im Auge hatte (ebd., S. 630). Auch an Schallplatten und andere Tonträger sowie Notensätze war von einigen Akteuren gedacht worden (Treß 2008b, S. 79).371 Bei anderen Verbrennungsaktionen landeten zusätzlich Wahltransparente und Fahnen im Feuer, auch eine »Puppe in Uniform der roten Frontkämpfer« als, wie die Weser-Zeitung schrieb, »symbolische Figur des Bolschewismus, des dem Tode geweihten Lebenszerstörers« (zitiert in Rohdenburg 2008, S. 181). In Berlin warfen zwei Turnstudenten nach einem »choreographisch einstudierten Anlauf« eine Büste von Magnus Hirschfeld in die Flammen (Treß 2008b, S. 121). Es ging also um weit mehr als um Bücher. Das brachte Walter Schlevogt, Führer der Bonner Studentenschaft, auf den Punkt: Ziel sei »die Ausrottung aller undeutschen Geistesproduktion« (Bodsch 2008, S. 152). Auch Goebbels beschwor am Scheiterhaufen des 10. Mai die Notwendigkeit, »den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen« (zitiert in Treß 2003, S. 127). In einem geradezu magischen Ritual sollten, so scheint es, mit den Materialisierungen oder Symbolen dieser Ideen auch die Ideen selbst zum Verschwinden gebracht, deren Wirken, psychoanalytisch gesprochen, »ungeschehen gemacht« werden. Angesichts des umfassenden Vernichtungsanspruchs, den die DSt bezüglich der Psychoanalyse formuliert hatte – »Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!« –, müssten, sollte man meinen, etliche analytische Autoren betroffen gewesen sein, als im Mai 1933 die Bücher brannten. Wenn Jack Rubins – ohne Beleg – behauptet, dass am 10. Mai tausende Bücher, »einschließ371 Zumindest in der Stadt Bretten wurde das teilweise auch umgesetzt: Auf der dort verwendeten Sammelliste waren »Musikwerke« wie Kurt Weills Dreigroschenoper oder Komponisten wie Hanns Eisler und Arnold Schönberg aufgeführt (Wild 2003, S. 185).
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2.1 Bücherverbrennung
lich der meisten psychoanalytischen Werke«, verbrannt wurden (Rubins 1983, S. 178), entbehrt das jedoch jeder Grundlage. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar hoch, dass einzelne analytische Werke an mehreren Stellen, insbesondere bei der Plünderung des sexualwissenschaftlichen Instituts, mit eingesammelt und verbrannt wurden.372 Dafür, dass tatsächlich die »meisten psychoanalytischen Werke« am 10. Mai 1933 betroffen waren, gibt es jedoch keine Hinweise – obwohl im Vorfeld durchaus die Möglichkeit bestand, dieser Schriften in größerem Umfang habhaft zu werden. Man hätte nur, analog zum sexualwissenschaftlichen Institut, das Berliner Psychoanalytische Institut plündern müssen. Offenbar hatten die Akteure daran aber kein Interesse. Auch das deutet darauf hin, dass Freud nicht gleichermaßen verhasst war wie Hirschfeld.373 Nach den vorliegenden Angaben befanden sich unter den etwa 400 betroffenen Autoren – darunter Einstein, Fallada, Feuchtwanger, Gorki, Heinrich Heine, Hemingway, Kästner, Kafka, Jack London, Upton Sinclair, B. Traven und Tucholsky374 – nur vier Psychoanalytiker:375 Sigmund Freud, Anna Freud, Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld. Die Einbeziehung Sigmund Freuds in das Berliner Ritual vom 10. Mai 1933 ist durch das Tonband-Dokument belegt. Auf allen mir bekannten Listen verbrannter Autoren tauchen neben Freud auch Reich und Bernfeld auf. Meist, aber nicht immer, wird auch Anna Freud genannt.376 Wurden sie gezielt ausgewählt? Wenn ja – warum gerade sie? Und: Warum nur sie? Die Antwort könnte sein: Im Ritual der Verbrennungen genügte es, die wichtigsten Repräsentanten dessen zu vernichten, was Nationalsozialisten 1933 an der Psychoanalyse am meisten fürchteten und hassten. Die beiden Freuds, Bernfeld und Reich konnten – wie ich noch genauer darstellen werde – durchaus als solche Repräsentanten gelten. 372 Herbert Will schreibt, dass auch Georg Groddecks Bücher »vor der Stadtbücherei in Baden-Baden« verbrannt wurden (Will 1987, S. 7, 1995, S. 20). Obwohl dafür bislang keine Nachweise vorliegen – diese waren auch weder durch ein Telefonat mit Herbert Will noch durch Nachfragen bei der Groddeck-Gesellschaft zu beschaffen –, scheint das plausibel: Groddeck stand bereits 1933 auf den ersten Indizierungslisten. 373 Dem entspricht auch, dass in diversen NS-Artikeln Hirschfeld deutlicher und aggressiver geschmäht wurde als Freud. Wie zitiert, schrieb beispielsweise Martin Staemmler, »die Psychoanalytiker sind noch nicht die schlimmsten. Weit übler ist, was sich um Magnus Hirschfeld schart« (Staemmler 1933, S. 401). 374 Aber auch Josef Stalin. 375 Ebenfalls betroffen waren Schriften der Individualpsychologen Alfred Adler, Alice RühleGerstel, Otto Rühle und Gina Kaus. Für meine Suche habe ich unter anderem www.verbrannte-buecher.de und www.mohr-villa.de genutzt, wo knapp 400 Autoren erfasst sind. 376 Es ist mir bisher nicht gelungen, die ursprüngliche Quelle zu finden, in der Anna Freud, Bernfeld und Reich als Betroffene der Bücherverbrennung benannt wurden.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Darüber, welche ihrer Schriften brannten, liegen für keinen von ihnen Nachweise vor. Ungeklärt ist ebenso, ob tatsächlich Imago-Exemplare im Feuer endeten. Was Reich betrifft, lässt sich immerhin vermuten, welche seiner Schriften betroffen gewesen sein könnten.
2.1.4
Reichs möglicherweise verbrannte Bücher
Ob die NS-Bibliothekare beim Abfassen der »Schwarzen Listen« auch auf den »Schund- und Schmutz«-Index zurückgriffen, ist nicht erwiesen, erscheint mir aber durchaus möglich. Die Deutsche Studentenschaft knüpfte bei ihrem Bücherpogrom eindeutig dort an: »Wir kämpfen gegen Schund und Schmutz!« (Barbian 1993, S. 135). Und das Propagandaministerium übernahm einen Teil der »Prüfstellen« und ihres Personals, um mit diesen den »Schundkampf« fortzusetzen (BA R 55/81, Bl. 26, 45). Daher – und aufgrund der Popularität der Schrift – halte ich es für wahrscheinlich, dass im Mai 1933 tatsächlich Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung brannte. Zusätzlich kommen insbesondere die im Völkischen Beobachter am 2.3.1933 angeführte Schrift Der sexuelle Kampf der Jugend und das von Richard Ungewitter geschmähte Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral infrage. Die anderen Bücher, die Reich bis zu diesem Zeitpunkt verfasst hatte – Der triebhafte Charakter, Die Funktion des Orgasmus und Der Einbruch der Sexualmoral – zielten eher auf ein Fachpublikum. Aber auch der Buchbestand von Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft wurde ja der Verbrennung zugeführt. Und ich halte es für wahrscheinlich, dass sich hier schon aufgrund seiner Kooperation mit Max Hodann auch Bücher von Reich befunden hatten – insbesondere jene eher für Fachkollegen gedachten Werke. Es ist zudem möglich, dass die Charakteranalyse verbrannt wurde. Das Buch wurde bald nach Reichs Ankunft in Kopenhagen am 1.5.1933 in Wien veröffentlicht (Reich 1995, S. 206) und dürfte zeitnah auch in Deutschland ausgeliefert worden sein.377 Da, wie erwähnt, die Bücherverbrennungen zumindest noch bis zum Oktober 1933 anhielten, ist auch nicht völlig auszuschließen, dass jenes Buch Reichs auf einen NS-Scheiterhaufen gelangte, das ohnehin den deutschen Machthabern am meisten verhasst gewesen sein dürfte: die Massenpsychologie des Faschismus. Die Schrift erschien im August oder September 1933378 im skandinavischen Exil und 377 Die Deutsche Bücherei nahm es noch 1933 in ihr Verzeichnis auf. 378 In Reich 1995 (S. 206) erinnert er sich zwar an den August 1933 als Erscheinungsmonat,
202
2.1 Bücherverbrennung
wurde nach Deutschland geschmuggelt (Reich 1986, S. 17). Reich sorgte zudem dafür – wie es auch andere emigrierte Autoren mit ihren NS-kritischen Werken taten –, dass Ausgaben der Massenpsychologie in harmlos erscheinenden Tarnumschlägen nach Deutschland gebracht wurden: Das Buch »ging – zum Teil unter Decknamen – massenweise über die deutsche Grenze. Die illegale revolutionäre Bewegung in Deutschland nahm es freudig auf. Es stellte jahrelangen Kontakt mit der deutschen antifaschistischen Bewegung her« (ebd.).379 Heinz Peter, langjähriger Bibliothekar und Mitbegründer der Peter-Weiss-Bibliothek Berlin-Hellersdorf, ermöglichte mir, ein – inzwischen offenbar extrem seltenes380 – Exemplar einer dieser Tarnausgaben in Augenschein zu nehmen. Reich hatte hier als angeblichen Autor »Pastor Friedrich Traub« angegeben. Diesen Namen führte ein bereits 1906 in China verstorbener evangelischer Missionar. Auch der Buchtitel scheint von Reich erdacht worden zu sein: Mystische Erhebung. Ein Buch für junge Männer.381 Schlägt man das Buch auf, beginnt es mit einem, sicherlich von Reich verfassten, glühenden Bekenntnis zum Nationalsozialismus aus christlicher Sicht – das aber bereits auf der zweiten Seite allmählich in den Originaltext von Reichs Massenpsychologie übergeht, der im Weiteren vollständig und korrekt wiedergegeben wird (Peglau 2013). Sowohl Exemplare der Original- wie der Tarnausgabe könnten also einer der letzten Bücherverbrennungen des Jahres 1933 zum Opfer gefallen sein. Welche Schriften Reichs auch immer betroffen waren, was Werner Treß bezüglich der Bücherverbrennungen allgemein formuliert hat (Treß 2009, S. 51), gilt auch für Wilhelm Reich: »Mit den Bücherverbrennungen wurde von den Nationalsozialisten 1933 ein Kulturbruch eingeleitet, von dessen Auswirkungen Deutschland sich bis heute nicht erholt das Vorwort zur Massenpsychologie enthält jedoch die Angabe September 1933. Der später zitierte Brief Reichs an Heinz Hartmann vom 14.10.1933 bestätigt ebenfalls, dass das Buch zuvor erschienen war. 379 Vermutlich bezieht sich auch Eric Bentley darauf, wenn er in seinem Vorwort zur englischen Version von Brechts Galileo berichtet, dass Reich Bücher herstellen ließ, die »wie Gebetsbücher aussahen« (»to look like prayer books«), und diese nach Deutschland schickte (Bentley 1966, S. 15). Auf Bentleys Buch machte mich Philip Bennett aufmerksam. Das Bundesarchiv in Berlin verfügt über ein Verzeichnis von »Tarnausgaben«. Reich ist hier allerdings nicht erfasst. 380 Ich habe nicht einen einzigen weiteren Hinweis darauf entdecken können, dass dieses Buch noch an einer anderen Stelle vorhanden ist, nicht einmal im AOI. 381 Ich konnte keinen sonstigen Hinweis auf ein Buch dieses Namens entdecken. Informationen zu Traub in Hägele (1995).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
hat. Deshalb wäre es nicht ausreichend, es beim jährlichen Gedenken an den 10. Mai 1933 zu belassen. Vielmehr kommt es heute darauf an, in vielen Bereichen der Wissenschaft und Kultur wieder an die geistigen Höchstleistungen anzuknüpfen, deren Erzeugnisse damals auf den Scheiterhaufen brannten. […] Viele behaupten heute, dass die ›verbrannten Bücher‹ nach über 75 Jahren doch veraltet wären. Ihnen kann man nur empfehlen, diese Bücher wieder zu lesen. […] Gerecht werden können wir den ›verbrannten Büchern‹ aber nur, wenn wir uns bei ihrer Lektüre fragen, ob wir uns heute noch an ihnen messen können und ob wir so manche verschüttete Idee vielleicht sogar wieder aufgreifen und sie übertreffen können.«
Parallel zur Vernichtung von Schriften wurden auch die Schriftverbote in Angriff genommen.
2.2
Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
2.2.1
Zensoren
Da in Thüringen bereits seit August 1932 die NSDAP die alleinige Macht innehatte, entstand hier schon eine »Schwarze Liste«, bevor der Kampfbund für deutsche Kultur deutschlandweit tätig wurde. In dem am 1.4.1933 vom Geraer Bibliotheksdirektor Walter Hallbauer an das Thüringische Volksbildungsministerium übersandten Dokument wurden 127 Autoren genannt, unter ihnen Sigmund Freud. Am 10.5.1933 war in den präzisierenden »Richtlinien« zu lesen: »Die Individual-Psychologie Adlers ist im Wesentlichen psychologisch-pädagogisch verkappter Marxismus (es genügen im Bestand der größeren Bücherei ein bis zwei grundlegende Werke dieser Richtung). Die Psychoanalyse Freuds braucht nur in größeren Büchereien und auch dort nur mit den grundlegenden Freud’schen Werken vertreten sein. […] Populäre Darstellungen der Freud’schen Psychoanalyse sind schädlich und nicht einzustellen. Auszuscheiden sind die Werke von […] Hodann und andern Vertretern einer hemmungslos-liberalistischen Sexualpädagogik« (Stenzel 2014, S. 13, 17, 64).382
382 Auf diese Quelle und die dort genannten Sachverhalte machte mich am 22.5.2015 Ulrike May aufmerksam.
204
2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
In den im April 1933 dann in Berlin erstellten »Schwarzen Listen« waren die »Schöne Literatur« und die sogenannte »Belehrende Abteilung« abgehandelt worden. Die Berliner Bibliothekare, die diese Listen im Auftrag des Berliner Magistrats angefertigt hatten, betonten in damaligen Briefwechseln mehrfach, dass darüber hinaus insbesondere eine Liste »Sexualwissenschaft« vonnöten sei (Treß 2011, S. 151f.). Um ihre Tätigkeit zu effektivieren, wandten sie sich am 4.5.1933 an die Deutsche Bücherei in Leipzig (HADB 840/4/1, Bl. 3f.). Dies war ein logischer Schritt: »Auf Grundlage der Regelung über die Abgabe von Belegexemplaren zwischen dem ›Börsenverein‹ und den Verlagen wurden nämlich seit 1913 in der ›Deutschen Bücherei‹ nahezu alle neu erschienenen, deutschsprachigen Druckwerke in der ›Deutschen Nationalbibliographie‹ erfasst. Wenn man also dazu überging, die Literaturindizierungen anhand der ›Deutschen Nationalbibliographie‹ beziehungsweise den Katalogen der ›Deutschen Bücherei‹ durchzuführen, entstand […] die Möglichkeit, sämtliche in einem bestimmten Zeitabschnitt erschienenen Publikationen systematisch und vor allem mit Anspruch auf Vollständigkeit nach dem Raster der […] literaturpolitischen Feindbilder zu durchsuchen« (Treß 2011, S. 276).
Gegenüber der Deutschen Bücherei bezeichneten die Bibliothekare erneut als »allerdringlichste« Aufgabe, ein Verzeichnis sexualwissenschaftlicher Literatur anzufertigen (HADB 840/4/1, Bl. 3). Wenig später wurden als dafür exemplarische Autoren Max Hodann, Magnus Hirschfeld und van de Velde genannt. Es ging also anscheinend vor allem um jenes Spektrum, dem die »Schund- und Schmutz«-Gesetzgebung bisher recht machtlos gegenüber gestanden hatte. Am 9.5. erhielten die Berliner Bibliothekare von einem führenden Mitarbeiter der Deutschen Bücherei die Rückmeldung, dass diese Liste »sofort« von ihm »in Angriff genommen worden« sei (ebd., Bl. 7). Damit hatte er sich auf eine umfangreiche Arbeit eingelassen: Im Leipziger Katalog gab es drei mit »Sexualwissenschaft« etikettierte Schubkästen, in denen sich insgesamt bis zu 3.000 Karteikarten befanden.383 Schon am 17.5. konnte er jedoch nach Berlin melden, dass die Liste der Sexualliteratur abgeschlossen sei (ebd., Bl. 17). Parallel bemühten sich die Berliner Bibliothekare erfolgreich um Kooperation 383 Pro Karteikasten sind bis zu 1.000 Karten enthalten (persönliche Auskunft von Steffie Richter am 1.6.2012). Da diese Kataloge aber den gesamten Zeitraum von 1913 bis 1945 abdecken und ich nicht überprüft habe, ob und in welchem Umfang nach 1933 noch Ergänzungen vorgenommen wurden, könnten es zum Zeitpunkt der Indizierungen auch weniger gewesen sein.
205
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
mit dem Kampfbund für deutsche Kultur. Ab Ende Mai traten sie als dessen Beauftragte auf und beteiligten sich an einem Mitte Mai384 unter Federführung des Kampfbundes gegründeten »Arbeitsausschuss«, der deutschlandweit gültige Verbotsregelungen vorbereiten sollte. Mit dem Vorsitz wurde der Geschäftsführer der Kampfbund-»Reichsleitung« und »spätere Stabschef des ›Amtes Rosenberg‹ Gotthard Urban« betraut (Treß 2011, S. 278). Weiterhin gehörten dem Ausschuss an: »Vertreter des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller, des Verlags-, Sortiments- und Verleihbuchhandels ›sowie verschiedene namhafte, am deutschen Schrifttum teilhabende Persönlichkeiten‹« (Barbian 1993, S. 148).385 Auch Alfred Baeumler war wieder mit dabei. Im Auftrag des Kampfbundes hatte er die Verantwortung für die Listen wissenschaftlicher Publikationen übernommen (Treß 2011, S. 163).386 Am 13.6. wurde dem Leiter der Deutschen Bücherei Baeumlers Bitte übermittelt, zu einer für den 16.6. geplanten Besprechung »noch einige Leipziger Herren hinzuzuziehen, soweit sie für die entsprechenden Gebiete Spezialkenner sind« (HADB 840/4/1, Bl. 79). Dem kam man in Leipzig umgehend nach. Am 14.6. telefonierte der Leiter der Deutschen Bücherei mit dem Leipziger Psychologieprofessor Hans Volkelt und hielt anschließend noch einmal in einem Brief an Volkelt fest, dass »die von Ihnen zusammengestellte Kommission« am 15.6. zu einem Treffen erwartet werde, mit dem die für den folgenden Tag angesetzte Sitzung des Arbeitsausschusses vorbereitet werden solle (ebd., Bl. 80). Am Freitag, dem 16.6.1933, um 11 Uhr begann diese Sitzung im Gebäude der Deutschen Bücherei. Baeumler forderte zunächst »klare Begründungen für jedes einzelne Werk, da sie in die ganze Welt hinaus getragen werden sollen« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, S. 1). Am Nachmittag wurden dann unter anderem Festlegungen zum Verzeichnis »Sexualliteratur« getroffen, aus dem man Hans Volkelt »eine Reihe von Einzelwerken« »zur nochmaligen Prüfung« übergab (ebd., S. 3). Aus dem Sitzungsprotokoll geht nun auch hervor, welche Aufgabe der von Baeumler initiierten und von Volkelt geleiteten Kommission zugedacht war: Sie sollte »die Schriften der Psychoanalyse für die Schwarzen Listen bearbeiten« (ebd., S. 5).387 Sicherlich war die Individualpsychologie ebenfalls gemeint: Auch 384 Barbian (1993, S. 148, Anmerkung 88) vermutet den »14.5.1933 oder kurz danach« als Gründungsdatum. 385 Weitere Details zur Arbeit des Ausschusses siehe Treß (2011, S. 274–286). 386 Erst die Lektüre von Treß (2011) erlaubte mir, hier eine neue Einordnung der Rolle Baeumlers vorzunehmen. Zuvor hatte ich ihn fälschlicherweise als Ausschussvorsitzenden benannt. 387 Die Formulierung im Protokoll wirkt, als ob diese Kommission dort erst gebildet worden wäre. Tatsächlich aber wurden ihre Mitglieder den Anwesenden offensichtlich nur erstmals namentlich vorgestellt oder von diesen bestätigt.
206
2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
wenn im Weiteren gelegentlich von der »Psychoanalyse«-Liste gesprochen wurde, ging es offenbar immer um das Verzeichnis »Psychoanalyse und Individualpsychologie«. Da vor Baeumlers Eingreifen psychoanalytische Schriften keinerlei Erwähnung gefunden hatten,388 könnte er – wie möglicherweise auch bei der Bücherverbrennung – derjenige gewesen sein, der erst das Augenmerk darauf lenkte. Neben Hans Volkelt waren in der von ihm geleiteten Kommission »die Herren: Professor Dr. [Otto] Klemm, Dr. [Adolf ] Erhardt und Dr. Helmuth Burkhardt (sämtlich vom Psychologischen Institut der Universität Leipzig) sowie Herr Privatdozent Dr. med. Hans Bürger-Prinz von der Psychiatrischen Nervenklinik der Universität Leipzig« (ebd.) vertreten. Wer waren diese Männer? Hans Bürger-Prinz (1897–1976) war ein vor und nach 1945 anerkannter Psychiater, Hochschullehrer und Klinikleiter. 1933 wurde er Mitglied der NSDAP und SA sowie des NS-Ärzte-, Lehrer- und Dozentenbundes, 1937 Richter am Erbgesundheitsgericht, 1944 gehörte er zum wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen und damit »ranghöchsten NS-Mediziners« Karl Brandt (Klee 2003, S. 71, 83). Ernst Klee schreibt über Bürger-Prinz, er habe nach 1945 »die Legende [verbreitet], dank seiner NS-Kontakte sei Hamburger Patienten das Euthanasie-Schicksal erspart geblieben« (ebd.). 1971 teilte Bürger-Prinz in seiner Autobiografie mit, er habe sich – offenbar um 1930389 – im »Auftrag« seines »Lehrers«, des Psychiaters Hans Walter Gruhle, einer Psychoanalyse unterzogen; »ein Versuch, der dann unter übrigens sehr mühevollen Anstrengungen nach dreizehn Monaten scheiterte. Mein Widerstand war angeblich zu groß. Andererseits erschienen mir viele der analytischen Darlegungen als reichlich wenig verbindlich. Ich fand mein Selbstverständnis nicht entscheidend gefördert – vier Jahre Westfront hatten dazu mehr vermocht« (Bürger-Prinz 1971, S. 6).
»Sigmund Freud als Lektüre«, so schreibt er weiter, »war faszinierend, weil in den Ansätzen immer genial.« Dann zitiert er – wie mir scheint, zustimmend – eine Äußerung von Felix Somary,390 seinerzeit habe in Wien jemand gefehlt, »der Freud von fünf Einfällen vier wegstrich und an die restlichen strengste
388 Es ist aber nicht auszuschließen, dass schon die Bibliothekare diese Schriften mit im Auge hatten, als sie von »Sexualwissenschaft« sprachen. 389 Er schreibt »vor vierzig Jahren« (Bürger-Prinz 1971, S. 6). 390 Er bezeichnet ihn als den »hervorragend kluge[n] Bankier […] Somary, der in seinen Studienjahren in Wien dem Freud-Kreis angehörte«. Bürger-Prinz dürfte Somarys 1955 erschienene Memoiren gelesen haben.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Kritik legte« (ebd.). Hätte Bürger-Prinz das 1933 ebenfalls so gesehen, müsste er ein recht harter Zensor gewesen sein. Wie wir sehen werden, gibt es gute Gründe, dies zu bezweifeln.391 Bemerkenswerterweise kommt Hans Bürger-Prinz gleich in seinem Vorwort auf die Psychoanalyse zu sprechen, dann aber im Rest des Buches so gut wie gar nicht mehr.392 War ihm seine frühere Nähe zur Analyse unangenehm? Hubert Speidel, Psychoanalytiker und langjähriger Mitarbeiter von Bürger-Prinz in der BRD, teilte mir mit, Bürger-Prinz habe ihm erzählt, es hätte sich bei der erwähnten Analyse um eine Lehranalyse gehandelt, die er bei Karl Landauer absolvierte. Noch drei Jahre vor seiner Beteiligung an der Indizierung hatte sich Bürger-Prinz also nicht nur intensiv für die Psychoanalyse interessiert, sondern vielleicht sogar erwogen, sie beruflich auszuüben.393 Auch Landauers jüdische Herkunft war offenbar kein Hinderungsgrund für ihn, sich auf einen so persönlichen und vertrauensvollen Kontakt einzulassen, wie ihn eine (Lehr-)Analyse darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheint es glaubhaft, wenn Bürger-Prinz in seiner Autobiografie berichtet, er habe noch »Mitte der Dreißiger Jahre« geglaubt, »daß die extreme Einstellung des neuen Regimes gegen alles Jüdische doch seine Grenzen haben werde, haben müsse. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß man so ohne weiteres auf ein geistiges Potential wie die jüdische Intelligenz verzichten wollte« (ebd., S. 84). Diese Haltung könnte auch ausschlaggebend dafür gewesen sein, wie er 1933 die analytische Literatur beurteilte. Die anderen Mitglieder der Volkelt-Kommission waren Vertreter der akademischen Psychologie. In dieser gab es zwar keine einheitliche Meinung zur Psychoanalyse, vereinzelt wurde vorsichtiges Interesse gezeigt, meist jedoch beschränkte man sich darauf, sie zu ignorieren oder stillschweigend abzulehnen (Elliger 1986, S. 140). Ab 1933 kamen allerdings andere Tendenzen hinzu: »Zum Nachweis, daß die Psychologie eine ›deutsche Wissenschaft‹ sei, gehörte die ständige Distanzierung einiger Psychologen von der Psychoanalyse, die bis zur offenen Hetze und dem Ruf nach Verfolgung reichte […]. Die Distanzierung ging über zur Diffamierung, wenn Volkelt [1939 – A. P.] von der Ausschaltung ›der fremdrassischen Triebtheorie‹ sprach« (Geuter 1988, S. 278).
391 Sich erst während der Entstehung dieser Arbeit ergebende Erkenntnisse über das Verbotsprozedere und die im Folgenden erwähnten Mitteilungen über Bürger-Prinz haben mir geholfen, ihn differenzierter einzuschätzen als in Peglau 2010c, S. 339. 392 Eine Ausnahme habe ich entdecken können: Bürger-Prinz (1971, S. 107). 393 Hubert Speidel und Klaus Dörner (persönliche Mitteilungen am 19.3.2011), Letzterer in der BRD ebenfalls Mitarbeiter von Bürger-Prinz, bescheinigen diesem als Klinikdirektor eine zwar eher ablehnende, aber trotzdem tolerante Haltung gegenüber der Psychoanalyse.
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2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
Hans Volkelt (1886–1964), vor allem auf dem Gebiet der pädagogischen Psychologie tätig, war 1933 Assistent am Leipziger Psychologischen Institut und leitete zugleich kommissarisch das nicht der Universität angegliederte (Heinze 2001, S. 59) Pädagogische Institut in Leipzig. 1939 übernahm er die kommissarische Leitung des Psychologischen Instituts. Volkelt sei, so erfährt man bei Ernst Klee, der »fanatischste und eifrigste Wortführer des Nazitums an der [Leipziger] Universität« gewesen (Klee 2003, S. 644; vgl. Geuter 1988, S. 580). 1932 NSDAPMitglied geworden, begrüßte er die »Machtergreifung« als »Erlösung von der ›bedrohlich zunehmenden Erkaltung und Verfinsterung, der Erschlaffung und Vergiftung der deutschen Seele‹«. Da die neue Staatsführung dem »Volksganzen« wieder den gebührenden Platz einräume, könne die »Zertrennung von Geist und Körper«, die »eigensüchtige Auskapselung der Individuen« und die »Abspaltung der seelischen Funktionen voneinander« überwunden werden (Heinze 2001, S. 136) – Worte, die sich wohl auch gegen die Psychoanalyse richteten. Aber gerade er verhielt sich in der Ausschusssitzung vom 16.6.1933 nicht als Scharfmacher. Obwohl eigentlich bereits vorgegeben war, dass die indizierte Literatur komplett zu »Makulatur« zu verarbeiten sei, schlug er stattdessen eine Abstufung vor, die folgende Alternativen zur völligen Vernichtung enthielt: »Beseitigung aus dem offiziellen Handel durch das Verbot, das Buch auszulegen, in Katalogen zu führen oder irgendeine Propaganda dafür zu machen«, sowie – als schwächste Intervention – Fälle, in denen die Kommission lediglich den »Wunsch« äußern solle, dass das entsprechende Werk von Verlegern und Händlern nicht mehr geführt werde. Für diese Bemerkung wurde er von dem Berliner Buchhändler und Kampfbundschriftwart August Velmede (siehe Treß 2003, S. 97) kritisiert und gebeten, »den Ausschuss durch weitere Vorschläge nicht in Verlegenheit zu bringen« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, S. 2f.). Otto Klemm (1884–1939; vgl. Geuter 1988, S. 207, 302, 573) hatte, so erfährt man bei Eberhard Loosch, Philosophie und Psychologie studiert und hing »wertphilosophisch den ›Humanitätsidealen des deutschen Humanismus« an. Im Mai 1933 wurde er Mitglied der NSDAP, im August 1933 auch des NS-Lehrerbundes. Im Folgenden beteiligte er sich an systemkonformen Publikationen wie dem Buch Rasse und Leistung. Gleichwohl sind »politische Tätigkeiten größeren Umfanges nicht nachweisbar«; eine offene Vertretung der NS-Ideologie findet sich bei ihm »äußerst selten« (Loosch 2008, S. 53ff., 104).394 Klemms wissenschaftliches In394 Noch 1938 vermerkte ein SD-Bericht über ihn, er unterhalte »enge Beziehungen zu exklusiven Kreisen der Leipziger Gesellschaft, die bekanntlich vom politischen Umschwung seit 1933 nicht sehr berührt sind« (Loosch 2008, S. 54). Dies dürfte mit seinen, auch verwandtschaftlichen, Beziehungen zu Kunst- und Literaturschaffenden der Weimarer Republik zu-
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
teresse konzentrierte sich auf Grundlagenforschung, experimentelle Psychologie, Sinneswahrnehmungen, Motorik, Psychologiegeschichte und Völkerpsychologie (ebd., S. 71–113). 1910 und 1912 gab er die experimentalpsychologische Arbeit des Norwegers John Mourly Vold Über den Traum heraus. Dass auch Klemm die Psychoanalyse nicht unbekannt war, zeigt seine in diesem Zusammenhang geäußerte Erwartung, Volds Resultate würden sich durchsetzen, »in unserem Zeitalter der Traumanalyse, wo namentlich bei vielen, die in dem Fahrwasser der Freudschen Psychoanalyse segeln, sich Hypothesen und Beobachtungen oft ununterscheidbar mischen« (ebd., S. 70). Das klingt allerdings ebenfalls eher nach Skepsis als nach erbitterter Gegnerschaft. 1937 wurde Klemm kommissarischer Leiter des Leipziger Psychologischen Institutes. Anfang 1939 nahm er sich aus ungeklärten Gründen das Leben (ebd., S. 51f., 61ff.). Adolf Erhardt verfasste gemeinsam mit Klemm 1934 das Buch Rasse und Leistung; er scheint der Hauptautor gewesen zu sein. In diesem Buch werteten Erhardt und Klemm Unterlagen des Arbeitsamtes Leipzig aus und kamen dabei zu dem Schluss, dass »die ›nordische‹ und die ›westische Rasse‹ überlegen sind, insbesondere in den Leistungen der Arbeitshand, während die ›ostische‹ und ›dinarische Rasse‹ im Durchschnitt geringere Leistungen zeigen«. Ulfried Geuter kommentierte dies 1988 mit den Worten: »Von unseren wissenschaftlichen Vorfahren wurden […] nicht nur rassistische Einstellungen verbreitet, sondern auch unverhohlen Dummheiten kundgetan« (Geuter 1988, S. 207f.). 1940 wurde Erhardt Leiter der Abteilung Berufsberatung im Arbeitsamt Leipzig (ebd., S. 228). Zu Helmuth Burkhardt lässt sich bei Eberhard Loosch nachlesen, dass er »ab Mai 1933 offenkundig regelmäßig Berichte« an das Ministerium für Volksbildung schickte, in denen er seinen Vorgesetzten Felix Krüger, den Direktor des Psychologischen Instituts, denunzierte. So habe, teilte Burkhardt mit, Krüger zum Beispiel über den Reichsjugendführer Baldur von Schirach »heftig und verächtlich« bemerkt: »[E]r ist ein ganz ordinäres Subjekt!« (Loosch 2008, S. 47f.).395 sammenhängen. So leitete zum Beispiel sein Bruder, Wilhelm Klemm, seit 1922 den Alfred Kröner Verlag und ab 1927 zusätzlich die Dieterichsche Verlagsbuchhandlung. Wilhelm Klemm, dessen Verlagstätigkeit »vielfältig, humanistisch orientiert und progressiv« war und der 1932 unter anderem Schriften von Karl Marx herausgegeben hatte, erhielt 1937 Berufsverbot (Loosch 2008, S. 9ff., 61). 395 Auch Felix Krüger, Nachfolger Wilhelm Wundts auf dessen Leipziger Lehrstuhl, könnte auf die Kommissionsarbeit Einfluss genommen haben, denn er war der direkte Vorgesetzte von Burkhardt, Klemm, Erhardt und Volkelt (Loosch 2008, S. 50; Heinze 2001, S. 59). Mit Freuds Schriften hatte sich Krüger schon frühzeitig befasst und dabei – neben zu Kritisierendem – Wesensverwandtes mit seiner eigenen Theorie, der »genetischen Ganzheitspsychologie«, entdeckt und benannt. Am 14.5.1933 attackierte er dann jedoch die
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2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
Bedenkt man, dass das Leipziger Institut im Sommer 1933 insgesamt nur neun wissenschaftliche Mitarbeiter hatte396 und vier von diesen in der Kommission mitwirkten – Burkhardt, Erhardt, Klemm und Volkelt –, ist es nicht übertrieben zu formulieren: Das Leipziger Psychologische Institut hatte maßgeblichen Einfluss auf die Psychoanalyseverbote. Jedoch ebenso darauf, welche analytischen Schriften nicht verboten wurden. Denn es sollte keinesfalls zu einem Rundumschlag kommen – weder gegen die Analyse noch gegen die Individualpsychologie.
2.2.2
Die Kriterien und ihre Anwendung
Die grundsätzlichen Vorgaben zur Identifizierung »undeutscher« Literatur waren recht allgemein gehalten. In den »Vorläufigen Richtlinien für die Auslese der Bestände der öffentlichen Büchereien nach völkischen Gesichtspunkten« wurde für die »wissenschaftliche Literatur« verfügt, dass »sämtliche marxistischen, pazifistischen und antimilitaristischen Schriften« auszusondern seien (Barbian 1993, S. 145). Für den Arbeitsausschuss des Kampfbundes machte Alfred Baeumler die Vorgabe, zu indizieren seien »alle Schriften, die Nation und Staat und ihre Einrichtungen verhöhnen, verächtlich machen oder ihre sittlichen Grundlagen angreifen […], die Volksordnung und Volksgemeinschaft und ihre sittlichen Grundlagen angreifen […], die christliche Psychoanalyse in der schon erwähnten Artikelsammlung der Börsenzeitung »Wider die Psychoanalyse!«. In seinem Artikel Die Psychoanalyse und das wirkliche Seelentum warf er ihr Morallosigkeit, Nihilismus und Misanthropie vor sowie ungenügende Berücksichtigung »der Kameradschaft und blutvollen Gemeinschaft, […] der gläubigen Zuversicht, Dienstauffassung, Pflichtbewusstsein, Werkfreude, Familien- oder Standesehre, Volksverbundenheit«. Weiter schrieb er: »Tüchtige Männer und Frauen unseres Volkes, darunter Dichter, die weit mehr können als Th. Mann, haben mir gestanden, die ganze Lehre mute sie als niederziehend, zerstörerisch, widerwärtig an« (zitiert in Elliger 1986, S. 91f.). Auch Krüger war, schon seit dessen Gründung, Mitglied in Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur. Doch 1936/37 sollte Krüger – der zwischenzeitlich Rektor der Leipziger Universität geworden war – aus seinen Ämtern gedrängt werden, unter anderem weil er jüdische Wissenschaftler wie Heinrich Hertz oder Spinoza in seinen Vorlesungen öffentlich gewürdigt hatte (Loosch, S. 43–53). 396 In Loosch (2008, S. 50) sind sie für 1934 aufgelistet. Für den Sommer 1933 bestätigte mir Anneros Meischner-Metge – von ihr bekam ich auch Literatur und Literaturhinweise zur Geschichte des Leipziger Psychologischen Instituts –, dass dieselben Personen als Mitarbeiter aufgeführt waren.
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Religion und ihre Einrichtungen, den Gottesglauben und andere einem gesunden Volksempfinden heilige Dinge verhöhnen« (zitiert in Barbian 1993, S. 150).
Es dürfte kaum psychoanalytische oder individualpsychologische Schriften gegeben haben, die hier nicht einzugliedern waren, wenn man es darauf anlegte. Zumindest ein Angriff auf die »sittlichen Grundlagen« der Nation und »andere einem gesunden Volksempfinden heilige Dinge« hätte ihnen wohl grundsätzlich unterstellt werden können. Andererseits betonte Baeumler am 16.6.1933 in Leipzig, »dass Werke, sobald ihr wissenschaftlicher Charakter nicht bestritten werden könne, nicht restlos vernichtet werden sollen, wenn es sich um wissenschaftliche und kritische Ausgaben handelt« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, S. 2). Und einen Monat später, vermutlich am 17.6.1933, unterstrich er in »Grundsätzliche[n] Vorbemerkungen« bezüglich der Sexualliteratur: »Hier muss als erster Grundsatz aufgestellt werden: die wissenschaftliche Arbeit ist bedingungslos freizugeben. Zugleich jedoch ist an den Begriff ›wissenschaftlich‹ der strengste Maßstab anzulegen« (HADB 840/4/1, Bl. 165). Welche Kriterien wandte die Volkelt-Kommission nun tatsächlich an? Von Werner Treß im Hausarchiv der Deutschen Bücherei Leipzig entdeckte Dokumente geben darüber Aufschluss.397 Für die Kommissionsarbeit, also wohl Mitte Juni, erarbeitete Hans Volkelt ein Konzept, das zunächst als Entscheidungsgrundlage diente und dann Basis einer »Erläuterung zu der Liste: Psychoanalyse und Individualpsychologie« wurde, die er dieser Liste beifügte (ebd., Bl. 230f.). Der anderthalbseitige Text gewinnt noch dadurch an Bedeutung, dass er im weiteren Verlauf der Kampfbundleitung und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dem Propagandaministerium vorgelegt wurde. Die von Volkelts Kommission angewandten Bewertungskriterien wurden also vermutlich auch von diesen Institutionen akzeptiert. Zunächst vermerkte Volkelt in seinen »Erläuterungen« zwei Grundsätze, von denen sich die Kommission habe leiten lassen: »1. unangetastet bleiben soll dasjenige Schrifttum, in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern und denen, die sie wissenschaftlich weiterbildeten, dargestellt wird. Von dem geistigen Bilde dieser Art des Denkens und Forschens soll kein irgend wesentlicher Zug getilgt werden. 2. auszumerzen ist dasjenige Schrifttum, das – ohne von dem Grundsatz 1 betroffen
397 Ich erhielt diese Dokumente von ihm am 29.3.2012. Sie machten einige wichtige Neubewertungen – im Vergleich zu Formulierungen in früheren meiner Texte (Peglau 2010a– c) – nötig und möglich.
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2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
zu werden – mit Sinn und Geist der Nationalsozialistischen Bewegung in einem nicht verträglichen Widerspruche steht.«
Das kann ich nur so verstehen, dass Psychoanalyse und Individualpsychologie grundsätzlich als erhaltenswert – eben auch für den Nationalsozialismus – eingestuft wurden. Aber in welcher Funktion? Als wertvolles Material oder als feindliche Ideologien, die man kennen sollte, um sie zu bekämpfen? Ich denke, das Erstere war gemeint. Man billigte beiden Denkrichtungen wissenschaftlichen Charakter zu und verzichtete auf Diffamierung oder Abwertung. Jedoch wollte oder konnte man offenbar nicht leugnen, dass aus ihnen auch Schriften hervorgegangen waren, die mit dem NS-Regime nicht kompatibel waren. Entsprachen sie aber der in Punkt 1 geforderten grundlegenden Bedeutung, sollten sie dennoch erhalten bleiben.398 Nur was dem Nationalsozialismus zuwiderlief und keine wissenschaftliche Bedeutung hatte, sollte »ausgemerzt« werden. Die Anwendung des zweiten Grundsatzes, hieß es weiter, führe zu folgenden fünf Hauptgesichtspunkten, aufgrund derer die »Tilgung« einer Schrift zu fordern sei: »a. blosse Ausbreitung der Lehre, oft in popularisierender Weise und zu billigem Preis, b. Ausmünzung der Lehre für marxistische, kommunistische oder pazifistische Propaganda, c. Vorstösse in die einzelnen Gebiete geistigen Lebens, die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern, d. Übergriffe in das Gebiet des Erziehertums und des religiösen Lebens, e. unnötige Häufung und Sammlung von Einzelfällen der sexualpathologischen Erfahrung, die oft das Pornographische streifen.«
Wesentlich scheint mir hier auch: Es ging eindeutig gegen spezielle Schriften – nicht gegen Autoren. Zur Durchführung wurde dann angemerkt: »Schriften, die nach Grundsatz 1 zu erhalten sind, verfallen nach Grundsatz 2 der Beanstandung, soweit es sich um Einzelausgaben handelt, die nur dem Ziele a [bloße Ausbreitung der Lehre – A. P.] dienen; so haben wir uns z. B. bei Freud verhalten.« Freuds Gesammelte Schriften sollten also wohl unangetastet bleiben. Soweit von den darin enthaltenen Werken jedoch zusätzlich Einzelausgaben vorlagen, bräch398 Ob damit allerdings gemeint war, diese Schriften sollten weiterhin frei verkäuflich und ohne Einschränkungen ausleihbar sein, geht aus dem Dokument nicht hervor.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
ten diese ja keinen weiteren wissenschaftlichen Gewinn und sollten daher verboten werden. Mit derselben Logik wurde später vermerkt, dass sämtliche »Sonderdrucke« von Zeitschriftenartikeln verzichtbar seien: Schließlich sei deren Inhalt ja bereits in der jeweiligen Zeitschrift nachlesbar. Darunter wurden allerdings dann de facto keine Sonderdrucke im eigentlichen Sinne verstanden, sondern eigenständige Buchproduktionen von Texten, die zuvor in den Zeitschriften abgedruckt worden waren.399 Des Weiteren wurde verdeutlicht, dass im Konfliktfall Punkt 2 doch wichtiger sein könne als Punkt 1. Selbst grundlegende Schriften sollten nämlich verboten werden, wenn darin zu vieles stand, das vom NS-Staat als schädlich empfunden würde: »Schriften, bei denen ein zunächst durch Grundsatz 1 geschützter Autor in besonders scharfer Form gegen 2 a-e verstößt, verfallen ebenfalls: z.B. Adlers Individualpsychologie in der Schule (wegen 2d)« – also wohl wegen Übergriffen auf das »Erziehertum«. Der nächste Satz bezog sich vermutlich auf Buchreihen wie die Schriften zur angewandten Seelenkunde oder den jährlich erscheinenden Almanach der Psychoanalyse:400 »Serienwerke sind nach ihrer Grundeinstellung beurteilt worden; zweifelhafte Einzelstücke einer solchen Serie wurden danach entschieden, ob die Serie im Ganzen zu 1 oder 2 gehört.« Zum Thema Zeitschriften hieß es weiter: »Von der Überzeugung durchdrungen, dass die Grundgedanken der Psychoanalyse und Individualpsychologie ihre systematische Ausführung und Vollendung in dem vorhandenen Schrifttum gefunden haben, würde das Weitererscheinen von Zeitschriften nicht mehr einem berechtigten inneren Wachstum des Ideengutes, sondern nur noch einem der Gesichtspunkte dienen, unter denen nach Grundsatz 2 eine Beanstandung stattfinden muss.«
Das Wesentliche sei also bereits vollständig bekannt und veröffentlicht und müsse daher nicht weiter durch Zeitschriften verbreitet werden. Daher werde gefordert, »das Weitererscheinen einer Reihe von Zeitschriften zu verhindern«. Darüber 399 Persönliche Information von Urban Zerfaß am 28.10.2010 und von Michael Schröter am 29.11.2010. 400 Schon weil er gebunden erschien, wäre es zweifelhaft, ihn als Zeitschrift einzuordnen. U. Zerfaß bestätigte mich in dieser Sichtweise. Der Almanach wurde bei der Werbung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages auch getrennt von den Zeitschriften behandelt. Und als dem ersten Heft der Psychoanalytischen Bewegung 1929 eine Einführung, betitelt mit Die Zeitschriften der Psychoanalyse, vorangestellt wurde, fand er hier keine Erwähnung.
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hinaus habe man sich »entschliessen müssen, bei solchen Zeitschriften, die von Beginn ihres Bestehens an unter einen der Gesichtspunkte 2 a-e fielen, die Zurückziehung auch der vorhandenen Bestände zu fordern«. Erneut wurde somit bekräftigt, dass man sich nicht auf Bücher beschränkt, sondern zusätzlich über den Inhalt der Zeitschriften gerichtet habe. Das gesamte individualpsychologischpsychoanalytische »Schrifttum« sei also bewertet worden. Doch was bedeutete das, rein quantitativ gesehen? Um dazu wenigstens ungefähre Angaben machen zu können, habe ich mir die vollständig erhalten gebliebenen Leipziger Verzeichnisse der Jahre 1913 bis 1945 vor Ort angesehen.401 Die Psychoanalyse war dort dem Bereich Medizin zugeteilt worden, wo sie innerhalb des Schlagwortes »Psychotherapie« eine eigene Rubrik hatte.402 Insgesamt wurden hier bis Ende 1933 ca. 220 Karteikarten eingeordnet. Etwa 150 von ihnen verweisen auf Schriften, die im engeren Sinne als psychoanalytisch oder psychoanalysenah angesehen werden können.403 Dabei handelte es sich sowohl um originäre Bücher als auch um Nachdrucke einzelner Zeitschriftenbeiträge oder deren Zusammenfassung in Buch- oder Broschürenform. Etwa 40 Karteikarten enthielten Verweise auf Schriften von Freud.404 Allerdings tauchen in einem
401 Steffie Richter, an der Deutschen Nationalbibliothek für das Hausarchiv zuständig, ermöglichte mir, hier am 1.6.2012 zu recherchieren. 402 Seit wann diese Rubrik existiert, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Dass sie erst nach 1933 eingerichtet wurde, lässt sich jedoch wohl ausschließen. Also dürfte sie die Kommission ebenfalls so vorgefunden haben. 403 Etwa 30 beziehen sich auf Publikationen von Analysekritikern wie Oswald Bumke. Zahlreiche Karten nennen verschiedene Ausgaben einer Schrift oder deren Übersetzung. Abgezogen habe ich zudem Publikationen der Schule C.G. Jungs und weitere unpassende Titel. Die Ungenauigkeit meiner Schätzung ergibt sich auch daraus, dass ich alles einbezogen habe, was den Vermerk »1933« trägt. Aber manches davon erschien sicherlich nach Juli 1933, konnte also gar nicht berücksichtigt werden. Um exaktere Angaben zu machen, wäre weit mehr Rechercheaufwand nötig – dies auch vor Ort. Denn in den digitalisierten Angaben unter www.dnb.de sind »Sachgruppen«-Zuordnungen entweder gar nicht oder nur zu größeren Gruppen wie »Medizin« oder »Psychologie« erfasst. Die digitalisierte, dem alphabetischen Katalog folgende Fassung entspricht auch nicht völlig der nach Sachgruppen geordneten Kartei. So sind etwa die 1925er bzw. 1932er Originalausgaben von Reichs Der triebhafte Charakter und Der sexuelle Kampf der Jugend in der Kartei, nicht aber in dem unter www.dnb.de abrufbaren Verzeichnis zu finden. 404 Sie enthalten beispielsweise zur Erstauflage von Freuds Unbehagen in der Kultur folgende weitere Informationen: »Ausgabe 1.–12. Tsd., Verleger Wien: Internat. Psychoanalyt. Verlag, Erscheinungsjahr 1930, Umfang/Format 136 S., 8, Anmerkungen: Drucker Joh. N. Vernay, Wien., Einband/Preis: 3.40, Lw.: 5.-«. Für Freud sind bis Ende 1933 knapp 50 Titel angegeben. In der Deutschen Bücherei tauchen auch Schriften Freuds auf, die nur intern verbreitet wurden.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
für mich nicht zu überblickenden Ausmaß dieselben oder weitere psychoanalytische Schriften auch an anderen Orten auf, oft außerhalb des Bereiches Medizin – so zum Beispiel in der Rubrik »Sexualwissenschaft« Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und Reichs Der sexuelle Kampf der Jugend. Vielleicht lässt sich daher als grobe Schätzung angeben, dass etwa 200 zu Recht zur Psychoanalyse und deren Umfeld zu zählende Schriften durch die Volkelt-Kommission überprüft worden sein könnten.405 Im Gegensatz zur Psychoanalyse war die Individualpsychologie dem Bereich Psychologie zugeordnet worden. Sie hatte hier ebenfalls eine eigene Rubrik. In dieser waren bis einschließlich 1933 aber nur etwa 30 Karteikarten eingeordnet worden. Möglicherweise hing diese geringe Zahl auch damit zusammen, dass die individualpsychologisch Interessierten über keinen eigenen Verlag verfügten und im Vergleich zu den Psychoanalytikern eine weniger auf Professionalität setzende Gruppenidentität hatten: »[E]igentlich war jeder willkommen, der mitarbeiten wollte, die individualpsychologische Praxis war kein Beruf und sollte es auch nicht sein« (Bruder-Bezzel 1999, S. 100; vgl. auch ebd., S. 85–104). Es dürfte zum Beispiel im Bereich Pädagogik noch mehr Autoren gegeben haben, die von Alfred Adler inspiriert waren – ohne sich aber unbedingt im Buchtitel auf ihn zu beziehen. Für Adler selbst waren in der Deutschen Bücherei zu diesem Zeitpunkt 13 Veröffentlichungen vermerkt.406 Ich denke, es wird jedenfalls nicht zu hoch gegriffen sein, wenn ich im Weiteren davon ausgehe, dass im Sommer 1933 zumindest 40 Werke der Individualpsychologie hier katalogisiert gewesen sein könnten. Die von Hans Volkelt geleitete Kommission könnte also die Aufgabe gehabt haben, insgesamt etwa 240 Bücher, mehrere Buchreihen sowie vier psychoanalytische und zwei individualpsychologische407 Zeitschriften zu beurteilen, die zwischen 1913 und 1933 erschienen.408 Wie bewerkstelligte sie das? Am 22.6.1932 hieß es in einem Brief, die Kommission sei »eifrig am Werke« 405 Klar ist, dass sie sich nicht auf die Rubrik »Psychoanalyse« beschränkten. Manche der von der Kommission aufgeführten Titel tauchen dort gar nicht auf. 406 Insgesamt gab es von ihm 1933 etwa 70 Veröffentlichungen, die meisten in Form von Beiträgen zu Büchern oder Zeitschriften (Bruder-Bezzel 1999, S. 256–260). 407 Dass tatsächlich nur auf den Bestand der Deutschen Bücherei zurückgegriffen wurde, wird auch dadurch belegt, dass in der ersten Variante der Liste die Schriften zur angewandten Seelenkunde, die bereits seit 1907 erschienen, erst ab 1913 – dem Gründungsjahr der Deutschen Bücherei – zur Indizierung vorgeschlagen wurden. In der zweiten Fassung der Liste umging man das Problem, indem formuliert wurde: »Bd. 1 ff«. Aber noch immer wurde als Quelle angegeben: »Leipzig, Wien: Deuticke [also der Verlag – A.P.] 1913«. 408 Mit dem »Gutachten« scheinen die »Erläuterungen« gemeint gewesen zu sein.
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(HADB 840/4/1, Bl. 84). Am 26.6. wurde gemeldet, es fehlten nur noch »die Entscheidungen von Herrn Professor Volkelt« (ebd., Bl. 92). Und am 28.6. schrieb Volkelt selbst an Velmede: »[N]ach einer Woche heissen arbeitsteiligen Prüfens können wir Ihnen das anliegende Gutachten samt zugehöriger Liste ›Psychoanalyse‹ senden« (ebd., S. 94).409 Vielleicht lässt sich das so auslegen, dass sich die fünf Kommissionsmitglieder an acht Tagen jeweils zehn Stunden dem Zensurgeschäft widmeten. Dann ergäbe sich eine Gesamtarbeitszeit von 5 x 8 x 10 = 400 Arbeitsstunden. Das dürfte ausreichend gewesen sein. Denn die Kommission hatte neben der Tatsache, dass sie in der Deutschen Bücherei direkt »an der Quelle« saß, noch einen weiteren Vorteil: Laut Grundsatz 1 von Volkelts »Erläuterungen« war ja alles, was Psychoanalyse und Individualpsychologie wissenschaftlich »darstellte« und »weiterbildete«, erhaltenswert. Man musste also nur nach den »schwarzen Schafen« suchen, nach Schriften, die »mit Sinn und Geist der Nationalsozialistischen Bewegung in einem nicht verträglichen Widerspruche« standen. Und dafür hatte man in Punkt 2 der »Erläuterungen« konkrete Vorgaben. Vielfach ließ sich sicherlich schon aus dem Buchtitel erahnen, ob man fündig werden würde. Doch selbst wenn der Anspruch bestanden hätte, sämtliche Bücher in die Hand zu nehmen, hätten pro Schrift mehr als anderthalb Stunden zur Verfügung gestanden: genug Zeit für stichprobenartiges Lesen unter Berücksichtigung der vorgegebenen Kriterien. Eine tiefere inhaltliche Auseinandersetzung scheint ohnehin nicht gefordert gewesen zu sein, wie die zwar tatsächlich »klaren«, aber floskelhaften Urteile belegen, die den einzelnen Schriften letztlich beigefügt wurden. Schon am 30.6.1933, zwei Tage nach Übersendung der Liste »Psychoanalyse und Individualpsychologie« an die Berliner Kampfbundzentrale, hakten die Vertreter der Deutschen Bücherei nach: »Falls also von Berlin aus keinerlei Zusätze oder Streichungen für diese Liste gewünscht werden, bitte ich um umgehende Mitteilung, damit dann die Vervielfältigungsarbeiten sofort in Angriff genommen werden können« (ebd., Bl. 103f.). Doch so schnell war man in Berlin nicht. Die Kampfbundfunktionäre benötigten mindestens drei Wochen für das Verzeichnis »Psychoanalyse und Individualpsychologie«.410 Es scheint daher auch wahrscheinlich, dass sie die Listen in irgendeiner, bisher nicht nachweisbaren Form beeinflussten. Vielleicht war dies auch der Grund dafür, dass es auf der endgültigen Liste über eine individualpsychologische Schriftenreihe hieß, sie trage »die zer409 Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie und Zeitschrift für Individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene. 410 Siehe der später zitierte Brief von Velmede an Wismann. Andere Listen verblieben zwischen einigen Tagen und bis zu drei Wochen beim Kampfbund (Treß 2011, S. 280).
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setzende Lehre in breite Schichten« hinaus, und über Anna Freuds Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen, sie diene der »Ausbreitung zersetzender Lehren« (BA NS 8/288, Bl. 165f.). Individualpsychologie und Psychoanalyse als zersetzende Lehren – das widersprach doch in Tonfall und Inhalt eindeutig dem Grundsatz 1 von Volkelts »Erläuterungen«.
2.2.3
Opfer
Die vom Kampfbund akzeptierten »Schwarzen Listen« sind erhalten geblieben. Sie umfassen die Rubriken »Schöne Literatur«, »Weltanschauung«, »Recht, Politik, Staatswissenschaften«, »Geschichte«, »Bildende Kunst, Theatergeschichte«, »Jugendschriften«, »Pädagogik und Jugendbewegung«, »Sexualliteratur«, »Psychoanalyse und Individualpsychologie« (BA NS 8/288).411 Insgesamt dürften hier, grob geschätzt, mehr als 1.500 zu verbietende Schriften registriert worden sein.412 Bis auf Carl von Ossietzky, Theodor Wolff und Georg Bernhard413 finden sich hier alle Autoren, die in den »Feuersprüchen« namentlich benannt worden waren, wieder. Was die Psychoanalyse betrifft, bestand insoweit Kontinuität zur Bücherverbrennung, als Schriften der vier Autoren Siegfried Bernfeld, Anna Freud, Sigmund Freud und Wilhelm Reich auch zur Indizierung vorgeschlagen wurden. Die angeblich ebenfalls besonders verbrennungswürdige Imago-Zeitschrift blieb jedoch verschont. Verboten werden sollte dagegen nach Meinung der Zensoren die seit 1925 erscheinende Imago-Buchreihe, die sich – wie die gleichnamige Zeitschrift – mit angewandter Psychoanalyse befasste. Sie habe, so stand es in der Begründung des Verbotsvorschlages, das »Ziel, Grundfragen der Geisteswissenschaften psychoanalytisch umzudeuten« (ebd., Bl. 165). Damit entsprach sie wohl jenem von Volkelt beschriebenen Hauptgesichtspunkt 2c: »Vorstösse in die einzelnen Gebiete geistigen Lebens, die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern«. Zudem wollte man die Schriften zur angewandten Seelenkunde treffen. Diese rückten 411 Letztere ist heute auf den Webseiten des Bundesarchivs einsehbar. Eine frühere Fassung findet sich unter LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939. In welcher Reihenfolge diese Dokumente entstanden sind, erfuhr ich von Werner Treß. 412 Auf ca. 170 Seiten befinden sich in der Regel meist 15 bis 20 Eintragungen. Aber die Nennungen erfolgen zumeist doppelt, da die Schriften sowohl nach Autoren als auch nach Verlegern aufgelistet wurden. Wie viele nicht mit Titeln aufgeführte Publikationen noch dadurch hinzukamen, dass bei zahlreichen Autoren »sämtliche Schriften« benannt wurden, kann ich schwer abschätzen. 413 1935 waren dann die beiden Erstgenannten ebenfalls mit »sämtlichen Schriften« verzeichnet.
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2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
angeblich »geistige Güter und ihre Träger einseitig in das Blickfeld der Psychoanalyse« – also erneuter Verbotsantrag wegen Vorwurf 2c. Dem Almanach der Psychoanalyse wurde dagegen im Sinne von Hauptgesichtspunkt 2a vorgeworfen, er diene »nur der Ausbreitung der Lehre«. Entgegen der Mitteilung in Volkelts »Erläuterungen« wurden jedoch in der endgültigen Liste weder analytische (oder individualpsychologische) Zeitschriften zur Indizierung vorgeschlagen noch die »Zurückziehung« ihrer Bestände gefordert – das heißt, die Verbotsmaßnahmen waren doch auf Bücher bzw. Buchreihen beschränkt worden.414 Allerdings hieß es bezüglich eines Buches von Sándor Ferenczi, es enthalte im Wesentlichen Beiträge aus der »sowieso beanstandeten Zeitschrift f. Psychoanalyse« (ebd., Bl. 166). Dies liest sich wie ein – versehentlich? – nicht getilgter Hinweis auf ursprünglich enthaltene Indizierungsvorschläge für Zeitschriften. Unklar ist, ob sowohl dieser wie auch nachfolgend genannte Widersprüche zwischen »Erläuterungen« und letztlich beschlossenen Listen auf die Bearbeitung durch die Berliner Kampfbundfunktionäre zurückgehen. Vielleicht waren diese der Auffassung, dass die Auseinandersetzung mit Zeitschriften zu einem anderen Zeitpunkt oder auf eine andere Weise geschehen sollte, und strichen die entsprechenden Vorschläge der Volkelt-Kommission? Hauptsächlich in der Rubrik »Psychoanalyse und Individualpsychologie«, in drei Fällen aber auch in »Sexualliteratur«, wurden Verbote beantragt für die folgenden 41 psychoanalytischen bzw. der Analyse nahestehenden415 Autorinnen und Autoren: Siegfried Bernfeld, Felix Boehm,416 Marie Bonaparte, Claude D. Daly, Helene Deutsch, Paul Federn, Sergei Feitelberg,417 Otto Fenichel, Sándor 414 Dies mit Sicherheit nicht deshalb, weil diese Zeitschriften unbekannt gewesen wären: Für 21 als »Sonderdrucke« aufgeführte Publikationen wurden als ursprüngliche Quelle unter anderem die Internationale psychoanalytische Zeitschrift, die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik und die Imago genannt (BA NS 8/288, Blt. 170f.). 415 Der Begriff »nahestehend« ist nicht eindeutig zu fassen und führt bei anderer Auslegung zu einer anderen Zahl betroffener Autoren. Ich habe hier zum Beispiel Bronislaw Malinowski eingeordnet, weil er – obwohl kein Analytiker – im Internationalen Psychoanalytischen Verlag veröffentlichte. Ebenso habe ich Wilhelm Stekel und Fritz Giese hinzugezählt, obwohl sich bei beiden darüber streiten lässt, ob sie 1933 (noch) als Analytiker gelten sollten. 416 Boehm könnte es, ebenso wie Fenichel, deshalb getroffen haben, weil sie Koautoren Wilhelm Reichs für den Band Über den Ödipuskomplex waren. Beide tauchen jedenfalls im Gegensatz zu Reich kein weiteres Mal auf. Allerdings wurde das Thema frühkindliche Sexualität – für das ja der Ödipuskomplex stand – oft als besonders anstoßerregend angesehen. Auch das könnte zum Verbot geführt haben. 417 Der Ingenieur und Arzt Sergei Feitelberg tauchte nur als Koautor einer indizierten Schrift Bernfelds auf. Zu seiner Biografie siehe Fallend/Reichmayr (1992, S. 183). Ob er 1933 sein
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Ferenczi, Anna Freud, Sigmund Freud, Erich Fromm, Fritz Giese, G. H. Graber, Georg Groddeck, Imre Hermann, Eduard Hitschmann, Istvan Hollos, Hermine Hug-Hellmuth, Hellmuth Kaiser, Leo Kaplan, Melanie Klein, Aurel Kolnai, René Laforgue, Georg Langer, Ruth Mack Brunswick, Bronislaw Malinowski, Heinrich Meng, Carl Müller-Braunschweig, Oskar Pfister, Annie Reich,418 Wilhelm Reich, Theodor Reik, Alfred Robitsek, Philipp Sarasin, Wilhelm Stekel, Adolf Storfer,419 Georg Wanke,420 Fritz Wittels, Nelly Wolffheim, Hans Zulliger. Insgesamt wurden 64 Schriften dieser Autorinnen und Autoren mit Titeln benannt.421 Da 1933 allein in deutscher Sprache ein Vielfaches an analytischen Publikationen vorlag – schon Freud hatte zu diesem Zeitpunkt über 130 Veröffentlichungen vorzuweisen422 –, heißt das: Es wurde nur ein kleiner Teil analytischer Publikationen verboten. Dabei hielt man sich – weitestgehend – daran, gegen
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Medizinstudium schon abgeschlossen hatte, ist dort nicht vermerkt. Psychoanalytiker wurde er nie. Sie wird hier namentlich nicht erwähnt, war aber (zusammen mit W. Reich und anderen) Mitautorin der unter »Sexualliteratur« zur Indizierung vorgeschlagenen Schrift Das Kreidedreieck (Mühlleitner 1992, S. 255f.; vgl. aber auch Sharaf 1996, S. 200). Adolf Storfer, der nie als analytischer Therapeut tätig war und dessen Publikationen oft sprachwissenschaftlich ausgerichtet waren (vgl. Mühlleitner 1992, S. 334f.), hatte ich in früheren Arbeiten zu diesem Thema (Peglau 2010a–c) nicht berücksichtigt. Das erscheint mir korrekturbedürftig: Als langjähriger Leiter des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, WPV-Mitglied und insbesondere durch seine früheren Veröffentlichungen war auch er ausgesprochen »psychoanalysenah«. Die DPG-Mitgliedschaft des im thüringischen Friedrichroda wirkenden Georg Wanke habe ich erst beim Erstellen des vorliegenden Manuskriptes bemerkt. Dass er bereits 1928 verstorben war, belegt, dass auch bei der Psychoanalyse der Zugriff nicht auf noch lebende Autoren eingeschränkt wurde. Um eine Aussage darüber zu treffen, wie hoch der Prozentsatz betroffener Autoren und Autorinnen war, müsste man deren Gesamtzahl kennen. Allein der Internationale Psychoanalytische Verlag hatte ca. 70 Buchautoren (vgl. Zerfaß und Linke o. J.). Zählt man jene hinzu, die bis 1933 nur außerhalb dieses Verlages psychoanalytische oder analysenahe Bücher publiziert hatten (zum Beispiel Hans von Hattingberg, J. J. Marcinowski, Herbert Silberer, Annie Reich), dürfte die Zahl von 100 Buchautoren nicht zu hoch gegriffen sein. Allerdings bezog die Kommission ja ausdrücklich auch Artikel mit ein, und die Anzahl von Artikelautoren lag natürlich deutlich höher. Auch bezüglich der analytischen Autorinnen und Autoren ist also zu konstatieren: Nur ein kleiner Teil von ihnen war betroffen. Da für Reich – als einzigem Analytiker – ein Gesamtverbot beantragt wurde, könnte man anstelle der nur vier direkt erwähnten seiner Titel entweder seine bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt sieben erschienenen Bücher oder gar eine weit höhere Zahl als Basis nehmen: Bis zum Sommer 1933 waren 45 analytische Veröffentlichungen von ihm erschienen (Laska 2008, S. 142f., 145), zu denen noch die Artikel in der Warte hinzukamen. Dabei sind Vor- und Gedenkworte nicht mitgerechnet (siehe Freud 1999). Für die Gesamtheit deutschsprachiger Publikationen bis 1933 siehe Grinstein 1956–1960.
2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
Publikationen vorzugehen und nicht gegen Autoren: Viele der Aufgelisteten hatten mehr publiziert als verboten werden sollte. Für die Individualpsychologie wurden acht Autoren vermerkt:423 Alfred Adler, Herbert Francke, Heinz Jacoby,424 Fritz Künkel, Ruth Künkel, Sofie Lazarsfeld,425 Otto Rühle426 und Alice Rühle-Gerstel. Von ihnen wurden insgesamt 18 Schriften benannt, außerdem die von Adler und anderen publizierte Schriftenreihe Individuum und Gesellschaft sowie die von den Rühles herausgegebene Buchfolge Schwer erziehbare Kinder.427 Nimmt man Volkelts »Erläuterungen« beim Wort, wurde damit indirekt zahlreichen Publikationen zugebilligt, Psychoanalyse und Individualpsychologie »wissenschaftlich weitergebildet« zu haben. Denn die beanstandeten Schriften umfassten bei der Analyse wohl weniger als ein Drittel, bei der Individualpsychologie vermutlich weniger als die Hälfte des in der Deutschen Bücherei gelisteten Materials – die Gültigkeit meiner obigen Schätzungen vorausgesetzt.428 423 Almuth Bruder-Bezzel half mir dabei, die Individualpsychologen auf den Verbotslisten zu identifizieren. 424 In der Abteilung »Jugendschriften«. 425 Sie taucht in »Psychoanalyse und Individualpsychologie«, »Sexualliteratur« und »Pädagogik und Jugendbewegung« mit je einem Buch auf. 426 In »Psychoanalyse und Individualpsychologie«, »Sexualliteratur« sowie »Pädagogik und Jugendbewegung« – hier mit Gesamtverbotsantrag unter Aufzählung von sechs Schriften. 427 Würden analog zu W. Reich hier Rühles sämtliche Veröffentlichungen einbezogen, würde sich sicher wieder eine deutlich höhere Zahl ergeben. Wie viele Publikationen von Rühle 1933 vorlagen, konnte ich aber nicht in Erfahrung bringen. Innerhalb der Rubrik »Belletristik« wurde auch die mit der Individualpsychologie verbundene Schriftstellerin Gina Kaus aufgeführt – mit ihrem Roman Die Verliebten. Dass dieser hier als »psychoanalytische Asphaltliteratur« beurteilt wurde, unterstreicht, dass sich dieses Verbot nicht gegen die Individualpsychologie richtete. Auch unter »Sexualliteratur« wurde eine zweibändige Buchfolge erfasst, an deren ersten Band sie beteiligt war: Die legitime Erotik (1931). Doch dieses Buch scheint ebenfalls kein individualpsychologisches zu sein, da es dort laut Untertitel um »ethnologisch-kulturgeschichtliche und sexualphysiologische« Aspekte der »Brautnacht« ging. Für die Indizierenden war dies schlicht »Pornografie«. Hinzu kam der Philosoph Woldemar Oscar Döring, der ein wohl vergleichendes Buch über Psychoanalyse und Individualpsychologie verfasst hatte, ohne aber selbst Analytiker oder Individualpsychologe zu sein. Katalogisiert worden war er unter »Psychoanalyse«. 428 Dass hierbei die Frage der Lieferbarkeit eine Rolle gespielt haben sollte, halte ich nicht für plausibel. Dieses Thema wurde von der Volkelt-Kommission gar nicht angeschnitten. Es wurden auch weder alle lieferbaren Schriften verboten noch alle späteren Neuerscheinungen indiziert. Außerdem waren auch recht alte Bücher auf der Liste, zum Beispiel von Stekel und Storfer von 1912 bzw. 1914, deren Lieferbarkeit für das Jahr 1933 mir frag-
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Sowohl im Umgang mit Sigmund Freud wie auch mit Alfred Adler scheint man sich daran gehalten zu haben, »dasjenige Schrifttum« weitgehend unangetastet zu lassen, »in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern […] dargestellt wird«. Bei Adler blieb es dabei, dass man nur Individualpsychologie in der Schule für indizierungswürdig hielt.429 Bei Freud wurde die Traumdeutung als »Sonderausgabe (ausserhalb der Gesammelten Werke)« nicht als erhaltenswert angesehen (BA NS 8/288, Bl. 167) sowie Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung.430 Alle anderen Einzelausgaben seiner Schriften blieben jedoch verschont. Weder Totem und Tabu noch Das Unbehagen in der Kultur, mit denen er doch eindeutig Vorstöße in »Gebiete geistigen Lebens« wagte, »die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern«, wurden aufgeführt. Und war nicht Freuds Schrift Die Zukunft einer Illusion, in der er Religion als kollektive Zwangsneurose beschrieb, ein erwähnenswerter »Übergriff« in das Gebiet des religiösen Lebens? Dennoch kam es auch hier nicht zum Verbotsvorschlag.431 Auffällig ist zugleich, dass zwar die Teillisten zu »Schöner Literatur«, »Weltanschauung«, »Recht, Politik, Staatswissenschaften«, »Geschichte«, »Bildende Kunst, Theatergeschichte«, »Pädagogik und Jugendbewegung« und »Sexualliteratur« jeweils eine Rubrik enthielten, die betitelt war: »Schriftsteller, deren würdig erscheint. Zumindest von Storfers Buch Marias jungfräuliche Mutterschaft scheint es nach 1914 (bzw. vor 2010) keine Neuauflage mehr gegeben zu haben. Vor allem aber dienten die Bücherverbote ja auch den Bibliotheken und Antiquariaten als Richtschnur – nicht nur dem aktuellen Buchhandel. Die angestrebte »zeitlose«, also auch von praktischen Fragen wie der Lieferbarkeit unabhängige Geltung der Verbote wurde auch dadurch deutlich, dass sie grundsätzlich für sämtliche Auflagen in allen Verlagen inklusive aller Übersetzungen ausgesprochen wurden. 429 Noch 1943 liefert die Forschungsplanung des dem SS-Ahnenerbe nahestehenden »Germanischen Institutes« in den Niederlanden ein Beispiel für die Gefahr, die NS-Funktionäre analytisch-individualpsychologischen Einflüssen auf die Erziehung beimaßen: »Wichtig ist ein Werk, das gegen die Erziehungspsychologie und Methodik von Freud und Adler geschrieben wird« (zitiert in Lerchenmüller/Simon 1999, S. 207). 430 Letztere wurde den »Sonderdrucken« zugeordnet, zu denen generell keine weiteren Begründungen gegeben wurden, da ihnen ja pauschal die »blosse Ausbreitung der Lehre« zur Last gelegt wurde. Spekulieren lässt sich, ob vielleicht Freuds dort mitgeteilte Ansicht, dass »mit der ›Tiefenpsychologie‹ nichts anderes gemeint ist als die Psychoanalyse« (Freud 1914d, S. 83), den Zensoren besonders unangenehm aufgefallen war, oder auch die dortige Auseinandersetzung mit C.G. Jung. 431 In der Editorischen Vorbemerkung zum Abdruck von Freuds Warum Krieg? in der Studienausgabe wird ohne Quellenangabe erwähnt, dass die Verbreitung des Briefwechsels mit Einstein in Deutschland verboten wurde (Freud 1989a, S. 272). Wenn das zutrifft, hatte es aber offenbar nichts mit dem Leipziger Zensurgremium zu tun.
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sämtliche Werke nicht mehr vom Buchhandel vertrieben werden sollen« – nicht aber die Teillisten »Psychoanalyse und Individualpsychologie« sowie »Jugendschriften«. Für keinen einzigen Analytiker oder Individualpsychologen wurde unter der Überschrift »Psychoanalyse und Individualpsychologie« eine solche Zuordnung beantragt. Hintergrund könnte allerdings sein, dass dies für zwei der Autoren bereits in anderen Teillisten, die vor der tiefenpsychologischen Liste abgeschlossen wurden, geschehen war. Der in »Pädagogik und Jugendbewegung« für einen Komplettbann vorgesehene Individualpsychologe war der dezidiert »linke«, sehr um Erziehungsfragen bemühte Otto Rühle.432 Der einzige Psychoanalytiker, bei dem 1933 ein Totalverbot für nötig erachtet wurde, war Wilhelm Reich. Unter »Psychoanalyse und Individualpsychologie« war nur seine Schrift Die Funktion des Orgasmus als »unrein« abqualifiziert worden. In »Sexualliteratur« benannte man: Der Einbruch der Sexualmoral, Der sexuelle Kampf der Jugend sowie Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral.433 Die Notwendigkeit des Verbotes sämtlicher seiner Schriften wurde dort damit begründet, dass er »die sexuellen Probleme ausschließlich vom sozialistischen und psychoanalytischen Standpunkt aus« behandle (BA NS 8/288, Bl. 143). Da sowohl die Liste »Pädagogik und Jugendbewegung« als auch »Sexualliteratur« bereits abgeschlossen und nach Berlin verschickt worden waren, bevor die Psychoanalysekommission erstmals zusammentraf (Treß 2011, S. 280), dürften diese beiden Totalindizierungen auch nicht von ihr initiiert worden sein.434 432 Von ihm wurden hier sechs Werke benannt, aber keine weitere Begründung angegeben. 433 Dazu Werner Treß: »Wenn alle Titel eines Autors ausgeschieden werden sollten, wurden dennoch sämtliche Titel aufgeführt, die in der ›Deutschen Nationalbibliographie‹ enthalten waren« (Treß 2011, S. 281). Da zusätzlich – wenn auch ohne Titelnennung – die »Schriften der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung«, damit also auch Sexualerregung und Sexualbefriedigung, benannt waren und Reichs Charakteranalyse erst im Laufe des Mai 1933 erschien (und somit wohl noch nicht verzeichnet war), hatte die Kommission fünf von sechs Büchern erfasst, die Reich bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht hatte. Warum sein ebenfalls auf einer Karteikarte verzeichnetes Erstlingswerk Der triebhafte Charakter fehlt, ist unklar. Im digitalisierten Katalog wird es erst als Raubdruck von 1969 aufgeführt. 434 Dass Hans Volkelt hier persönlich die Hand mit im Spiel gehabt hat, ist jedoch nicht auszuschließen. Am 14.6.1933 war ihm vom Leiter der Deutschen Bücherei unter anderem die Liste »Pädagogik und Jugendbewegung« zugesandt worden, mit der Bemerkung: »Sollten unsere Bearbeiter in dem einen oder anderen Falle in ihrem Eifer zu weit gegangen sein, so würde ich um Streichung bitten und anderseits um erforderliche Ergänzung, falls dieser oder jener wichtige Titel nicht aufgeführt sein sollte« (HADB 840/4/1, Bl. 80). Und am 16. Juni wurden Volkelt, wie erwähnt, mehrere sexualwissenschaftliche Schriften »zur nochmaligen Prüfung übergeben«. Die Totalverbote könnten aber ebenso später von den Kampfbundvertretern wie auch vom Propagandaministerium hinzugefügt worden sein.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Einige analytische Bücher, denen die Volkelt-Kommission vielleicht »unnötige Häufung und Sammlung von Einzelfällen der sexualpathologischen Erfahrung« vorgeworfen hätte, mussten in der tiefenpsychologischen Liste wohl auch deshalb nicht mehr aufgeführt werden, weil sie bereits unter »Sexualliteratur« abgehandelt worden waren. Das betraf außer den Titeln von Wilhelm Reich Annie Reichs Das Kreidedreieck (»Unerfreuliche Aufklärungsschrift«), Alfred Robitseks Der Kotillon (»Höchst unwissenschaftlich und irreführend propagandistisch«) sowie Georg Groddecks Das Buch vom Es (»Wohl das unerfreulichste Produkt psychoanalytischer Wissenschaft!«).435 Die von Volkelts Kommission beanstandeten analytischen Publikationen waren dagegen nicht besonders häufig auf das Geschlechtsleben ausgerichtet. Stattdessen ging es dort um die ganze Vielfalt psychoanalytischer Themen aus Pädagogik, Kunstgeschichte, Ethnografie, Religion, Biografik, um Krankengeschichten, Therapiemethodik usw. Stellvertretend seien genannt: Die Entwicklung des Christusdogmas (Fromm), Franz Kafkas Inferno (Kaiser), Wie man Psychologe wird (Reik), Psychoanalyse und Kindergarten (Wolffheim), Libido, Angst und Zivilisation (Laforgue). Aber natürlich drängt sich die Frage auf, ob nicht zusätzlich zu den von Hans Volkelt schriftlich festgehaltenen Kriterien zur Beurteilung der Schriften zumindest zwei Merkmale der Autoren berücksichtigt wurden: politische Ausrichtung und »Rassenzugehörigkeit«. Eine antijüdische Formulierung taucht in der Liste »Psychoanalyse und Individualpsychologie« nur ein einziges Mal auf. Über Bernfelds Vom Gemeinschaftsleben der Jugend heißt es: »Atmet jüdischen Geist.« Wie allgemein bei den Bücherverboten436 war die jüdische Herkunft der Autoren aber auch bezüglich Psychoanalyse und Individualpsychologie offenbar nicht ausschlaggebend: Zahlreiche der Indizierten – wie Marie Bonaparte, Georg Groddeck, Oskar Pfister und Otto Rühle – waren keine Juden. Und mehrere, auch namhafte jüdische Autoren – wie Karl Abraham, Otto Rank und Hanns Sachs sowie von individualpsychologischer Seite Manès Sperber437 – tauchten gar nicht auf. Außerdem hätte die Absicht, alles Jüdische zu ächten, erzwungen, bei vielen Indizierten ein Verbot für sämtliche Schriften zu beantragen. Bei Reich und Rühle liegt zwar nahe, dass ihre bekannte politische Ausrichtung 435 Hermine Hug-Hellmuths Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens war am 16.6.1933 vom Ausschuss als der Liste »Sexualliteratur« neu beigefügtes Buch hervorgehoben worden (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, S. 2f.). Letztlich tauchte sie dann aber doch unter »Psychoanalyse und Individualpsychologie« auf. 436 Dass diese auch für die gesamte verbotene Literatur nicht ausschlaggebend gewesen sein kann, meint auch Volker Dahm (1983, S. 65). 437 Allesamt schon vor 1933 in der Deutschen Bücherei gelistet.
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2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
der entscheidende Grund war, für sie ein Gesamtverbot zu beantragen. Doch wie beschrieben dürfte die Volkelt-Kommission damit ohnehin nichts zu tun gehabt haben. Die Kommission selbst kann politische Haltungen zumindest nicht konsequent einbezogen haben. Danach zu suchen wäre zwar bei den Analytikern auch nicht leicht gewesen, da diese in ihren Schriften äußerst selten dazu Stellung bezogen. Doch zumindest Siegfried Bernfeld hatte sich mehrmals schon in den Titeln seiner Veröffentlichungen zu sozialistischen Ideen bekannt (Dudek 2012, S. 602f.) und war mit einem davon auch in der Deutschen Bücherei gelistet: Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf. Benannt wurde er aber stattdessen mit zwei anderen Publikationen – mit der Begründung, er habe in diesen das »Erziehertum« herabgewürdigt.438 Eine Schrift, die ebenfalls schon im Namen auf politisches Interesse hinwies und von sozialistischen Ideen durchzogen war, hatte 1919 ja auch Paul Federn verfasst: Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft. Die Deutsche Bücherei führte sie mit auf. Dennoch kam Federn – engagierter Sozialdemokrat bis zur SPÖ-Auflösung 1934 und vielfacher psychoanalytischer Autor (Grinstein 1956–1960, Bd. 1, S. 469–475) – nur als Mitherausgeber und -autor des Psychoanalytischen Volksbuches auf die Liste der Verbotsvorschläge. Unter den Individualpsychologen dagegen befanden sich traditionell viele, die sich politisch »links« positionierten, insbesondere mit den Sozialdemokraten sympathisierten oder dieser Partei sogar angehörten (Bruder-Bezzel 1999, S. 108). Und tatsächlich wurden im Verzeichnis »Psychoanalyse und Individualpsychologie« auch den Schriften des Ehepaars Rühle die Attribute »kommunistisch« und »marxistisch« beigefügt (BA NS 8/288, Bl. 165, 169). Aber damit waren sie auch unter den Individualpsychologen die einzigen, denen dieses Etikett verliehen wurde. Manès Sperber, der unter anderem den Essay Alfred Adler. Der Mensch und seine Lehre (1926) geschrieben hatte – womit er doch der »blossen Ausbreitung der Lehre« diente –, kam überhaupt nicht auf die Liste.439 Und das obwohl er bis Anfang der 1930er Jahre einer der bekanntesten und aktivsten Individualpsychologen war, 1927 in Berlin KPD-Mitglied wurde, zeitweise führenden KPDFunktionären nahestand, sich wie Reich als MASCH-Dozent betätigte, nach einer 1931 unternommenen Moskaureise öffentlichkeitswirksam für die Sowjetunion warb und von März bis April 1933 durch die NS-Polizei inhaftiert gewesen war (Patka/Stančić 2005, S. 40–43, 50–69, 186). 438 So die Begründung des Verbotsvorschlages für Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung. Außerdem erwähnt: Vom Gemeinschaftsleben der Jugend sowie – als »Sonderdruck« – eine zusammen mit Feitelberg verfasste Arbeit zur Libidometrie. 439 Der Titel war in der Deutschen Bücherei gelistet.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Es lässt sich also festhalten: Nicht nur war der in Volkelts »Erläuterungen« geschilderte Umgang mit Psychoanalyse und Individualpsychologie relativ tolerant. Beim Aufstellen der Listen scheint die Volkelt-Kommission den ihr offenkundig zugestandenen Spielraum zudem oftmals zugunsten der zu beurteilenden Literatur genutzt zu haben. Hier waren keine Zensoren am Werk, welche die Psychoanalyse oder Individualpsychologie so tief wie möglich treffen wollten. Und auch eine Vorgabe – zum Beispiel von Rosenberg oder Goebbels –, Psychoanalyse oder Individualpsychologie insgesamt oder auch nur hochgradig »auszumerzen«, kann es nicht gegeben haben: So viel Freiraum, eine solche Direktive zu ignorieren, hätte die Volkelt-Kommission nicht gehabt.
2.2.4
Umsetzung
Der Kampfbund für deutsche Kultur besaß keine Befugnis, amtliche Verbote zu erlassen. Rosenberg war deshalb – wie so oft – gezwungen, mit unliebsamen Konkurrenten zu kooperieren (vgl. Barbian 1993, S. 289). Daher sandten die Kampfbundfunktionäre die Listen, nachdem sie diese bearbeitet hatten, an eine zweite Berliner Adresse: das Goebbelssche Propagandaministerium. Hier saß der Mann, der die Listen letztlich mit ministerieller Autorität absegnen sollte440 – auch bezüglich der Psychoanalyse. Der überlieferte Briefwechsel verrät, um wen es sich dabei handelte. Am 4.7.1933 schrieb August Velmede an das Propagandaministerium: »Sehr geehrter Herr Dr. Wismann! Nachdem wir Ihnen am 13. Juni die Ausarbeitung der Schwarzen Liste ›Schöne Literatur‹ zu Ihrer Kenntnisnahme zuleiteten, gestatten wir uns, Ihnen heute das Ergebnis unserer weiteren Arbeit vorzulegen und zwar die Einzellisten: Weltanschauung/Recht, Politik, Staatswissenschaft/Geschichte/Bildende Kunst, Theatergeschichte und Pädagogik und Jugendbewegung […] Die Ausarbeitung der Listen: Sexualliteratur/Psychoanalyse und Individualpsychologie/Jugendschriften etc. […] wird in kürzester Zeit beendet sein. Sie erhalten sie dann sofort zur Kenntnisnahme und Beschlussfassung zugestellt« (BA R 56 V/70 a, Bl. 123).
Am 13.7.1933 teilte Velmede ebenjenem Wismann mit: »Die übrigen Listen der Volksbüchereien und der wissenschaftlichen Gebiete einschließlich Sexuallite440 So auch Barbian (1993, S. 149).
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2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten
ratur werden wahrscheinlich im Laufe der kommenden Woche zum Abschluss gebracht, sodass dann Ihrer ministeriellen Beschlussfassung nichts mehr im Wege steht« (ebd., Bl. 161). Wer war dieser Dr. Wismann? In der Personalakte des Goebbels-Ministeriums (BA R 55/24744, Teil 1, Blatt 1ff.) erfährt man, Heinrich (auch als Heinz geführt) Wismann – geboren 1897, katholisch – habe Kunstgeschichte, Archäologie, Philosophie und Zeitungskunde an den Universitäten Berlin und Heidelberg studiert, als Verlagssekretär gearbeitet und sei im Februar 1933 mit »summa cum laude« zum Dr. phil. promoviert worden. Am 16.6.1933 war auch er in Leipzig anwesend; das Protokoll hält aber keine Äußerung von ihm fest. Dass er sich persönlich der »Schwarzen Listen« annahm, ist auch deshalb wahrscheinlich, weil er vermutlich über wenig Mitarbeiter verfügte, an die er diese Aufgabe delegieren konnte: Im Goebbels-Ministerium war zunächst noch gar keine eigenständige Abteilung für »Schrifttumsfragen« vorgesehen, und Wismann leitete daher »ein kleines Referat« (Barbian 1993, S. 173ff.). Allerdings schrieb Velmede am 3.6.1933 nach Leipzig, dass die zu indizierende Literatur entsprechend den »ganz bestimmten Wissensgebieten« nun »etappenweise von den verschiedenen Referenten im Ministerium bearbeitet« werde (HADB 840/4/1, Bl. 107) – was zumindest auf mehrere Beteiligte hindeutet. Erst ab November 1933 sollte Wissmann dann Unterstützung durch die ebenfalls Goebbels unterstehende Reichsschrifttumskammer erhalten. Nachdem der Kampfbund sich also zumindest bis in die dritte Juliwoche hinein mit der Liste »Psychoanalyse und Individualpsychologie« befasst hatte, scheint das Referat von Heinrich Wismann vergleichsweise schnell gehandelt zu haben. Denn bereits am 11.8.1933 konnten die Leipziger dem Kampfbund 250 Kopien der nun auch vom Propagandaministerium bestätigten Liste »Psychoanalyse und Individualpsychologie« zusenden.441 Tags darauf mahnte Velmede allerdings an, dass die »Vorbemerkungen des Herrn Prof. Volkelt«, also wohl dessen »Erläuterungen«, fehlten. Auch diese sollten offenbar zusammen mit den Listen verteilt werden. Am 25.8. wurden die »Vorbemerkungen«, 250-mal vervielfältigt, ebenfalls nach Berlin übersandt (ebd., Bl. 184ff.). Doch selbst nach dem Absegnen durch das Propagandaministerium hatten die Kampfbundlisten keine Gesetzeskraft. Dennoch wurde diesen Vorgaben Folge geleistet. Im Herbst 1933 leitete Heinz Wismann die Listen – soweit es Psychoanalyse und Individualpsychologie betraf, möglicherweise also versehen mit den »Erläuterungen« Volkelts – an den »Börsenverein der deutschen Buchhändler« weiter. Dieser hatte sich der Goebbels-Administration freiwillig unterstellt und bemühte sich nun, 441 Die Zahl von 250 Kopien galt für alle Listen (HADB 840/4/1, Bl. 158).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
deren Forderungen gegenüber den Verlagen Geltung zu verschaffen (Barbian 1993, S. 104, 151). Zu diesem Zweck wurden ab November 1933 weitgehend standardisierte Anschreiben an die betroffenen deutschen Verlage geschickt – ins Ausland sollten derartige Mitteilungen in keinem Fall gelangen (Treß 2011, S. 284f.). Die Verlage hatten dann selbstständig die angeordneten Aussonderungen vorzunehmen, was sie auch »weitgehend widerstandslos« taten (Barbian 1993, S. 152). Statt allerdings, wie ursprünglich beabsichtigt, die Verbotsbegründungen »in die ganze Welt hinaus zu tragen«, waren sie bei Strafandrohung »streng vertraulich« zu behandeln: vermutlich eine Reaktion auf die internationale Empörung über die Bücherverbrennung und den damit einhergehenden Prestigeverlust für den NSStaat, der sich ja als neuer deutscher Kulturträger präsentieren wollte (ebd., S. 525). Die Geheimhaltung der Verbote hatte allerdings weitreichende Konsequenzen, auf die ich zurückkommen werde. Am 20.1.1934 übersandte die Geschäftsstelle des Börsenvereins Wismann »die Durchschläge der in dieser Woche an die Verleger abgegangenen Benachrichtigungsschreiben«. Eines dieser Schreiben, verfasst am 13.1.1934, war an den Stuttgarter Hippokrates-Verlag adressiert und begann standardgemäß: »In Übereinstimmung mit dem Kampfbund für Deutsche Kultur teilen wir Ihnen mit, dass das Angebot und der Vertrieb der unten genannten Werke aus nationalen und kulturellen Gründen nicht erwünscht ist und deshalb unterbleiben muss« (BA R 55/81, Bl. 30). Die »angeführten Werke« waren in diesem Fall das Psychoanalytische Volksbuch, herausgegeben von Paul Federn und Heinrich Meng, Anna Freuds Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen sowie Hinter der gelben Mauer von Istvan Hollos. Das Schreiben beinhaltete jedoch eine bemerkenswerte – ebenfalls standardgemäße – Einschränkung: »Selbstverständlich gilt Vorstehendes nur für einen Verkauf an die breite Masse. Wo nachweisbar besondere Gründe für die Anschaffung vorliegen, z. B. Verwendung für wissenschaftliche und literarische Studien, und Sicherheit dafür besteht, daß Mißbrauch ausgeschlossen ist, darf auch fernerhin die Abgabe der angeführten Werke erfolgen.«
Auch eine Ausleihe war unter Umständen weiterhin möglich. Von den »Säuberungen«, denen die Volks- und Leihbibliotheken ausgesetzt waren, blieben, wie der Historiker Jan-Pieter Barbian in seiner umfassenden Untersuchung der Literaturpolitik im »Dritten Reich« belegt, die Staats-, Universitäts- und Landesbibliotheken weitestgehend verschont. Hier wurde die abgelehnte Literatur nur »sekretiert«, das heißt der öffentlichen Nutzung entzogen, aber für »wissenschaftliche Arbeiten« weiter bereitgehalten. Zur Begründung hieß es zum 228
2.3 Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«
Beispiel in einem Ministerialentschluss des bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus vom 5.4.1933, dass die »erfolgreiche wissenschaftliche Bekämpfung des bolschewistischen, marxistischen und pazifistischen Giftes die Kenntnis des einschlägigen Schrifttums voraussetzt« (Barbian 1995, S. 781f.). So überlebten sicher auch viele psychoanalytische Bücher das Dritte Reich in »Giftschränken«. Zumindest für das Psychoanalytische Volksbuch ist das aktenkundig. Spätestens 1939 wurde es innerhalb der »Liste der in der Deutschen Bücherei unter Verschluss gehaltenen Druckschriften« geführt (HADB 580/0, Bl. 175).442 Im 1949 von der Deutschen Bücherei veröffentlichten Verzeichnis der Schriften, die 1933–1945 nicht angezeigt werden durften, sind von Sigmund Freud die Gesammelten Werke, Der Mann Moses und die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse vermerkt, von Wilhelm Reich die Charakteranalyse und fünf weitere Publikationen, der Almanach der Psychoanalyse sowie das Psychoanalytische Volksbuch (Deutsche Bücherei 1949, S. 6f., 11, 231f., 316).443
2.3
Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«
Einen – weiterhin geheimen – »reichseinheitlichen« Index konnte das Propagandaministerium aufgrund diverser Kompetenzstreitigkeiten erst Ende 1935 fertigstellen. Er nannte sich »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« und wurde zum wichtigsten und umfassendsten Instrument der Verbotspolitik. In der Ausgabe der Liste von 1935444 war erstmals Sigmund Freud mit einem Gesamtverbot belegt – womit nun doch auf das Herz der psychoanalytischen Literatur gezielt worden war. Auch Anna Freuds »sämtliche Schriften« waren jetzt indiziert. Jedoch hatte sich nur in Bezug auf die beiden Freuds eine härtere Gangart durchgesetzt, als sie die Volkelt-Kommission im Sinne gehabt hatte. Denn als weitere psychoanalytische Autoren waren – mit je einem Buch – nur noch Heinrich Kör442 Käthe Dräger, damals Ausbildungskandidatin am DIPFP, bezeugt, dass es auch dort bis Kriegsende einen solchen Schrank mit den Werken Freuds gab (Dräger 1994, S. 49). 443 Das Verzeichnis enthält 5.485 Einträge. Ich bin diese nicht im Einzelnen durchgegangen, sondern habe mich – abgesehen vom Nachschlagen unter »Freud« und »Reich« – auf das Stichwortregister als Anhaltspunkt beschränkt. Es können also weitere Hinweise auf psychoanalytische Literatur enthalten sein. 444 Diese stellte mir Werner Treß am 24.11.2010 zur Verfügung. Lydia Marinelli verweist darauf, dass laut Dietrich Strothmanns Buch Nationalsozialistische Literaturpolitik (1963) die bayerische Politische Polizei bereits 1934 ein regionales Gesamtverbot für Freuds Werke erlassen habe (Marinelli 2009, S. 82). Das konnte ich nicht überprüfen.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
ber445 und Alexander Mette446 hinzugekommen. Außerdem »Ernst Parell« – also der unter einem bislang unerkannten447 Pseudonym schreibende Wilhelm Reich. Anhand der 1935er Ausgabe lässt sich zudem feststellen, dass eine klar signalisierte Anpassungsbereitschaft gegenüber dem Regime nicht unbedingt zur Löschung von der Liste führte. Vielleicht lässt sich das als Beleg dafür ansehen, dass weiterhin hauptsächlich Schriften und nicht Personen im Brennpunkt standen, denn das spätere Verhalten eines Autors änderte ja nichts am – missliebigen – Inhalt einer früheren Publikation. G.H. Graber beispielsweise war offenbar spätestens 1933 SS-Fördermitglied geworden (Schröter 2000a, S. 19f.),448 kam aber in jenem Jahr nicht nur dennoch auf die Liste, sondern verblieb hier auch. Ebenso war 1933 Carl Müller-Braunschweigs Schrift Das Verhältnis der Psychoanalyse zu Ethik, Religion und Seelsorge von der Volkelt-Kommission als »religionsfeindlich« zur Indizierung vorgeschlagen worden (BA NS 8/288, S. 163).449 1935 stand dieses Büchlein noch immer auf dem Index, obwohl Müller-Braunschweig inzwischen öffentlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass er mit dem neuen Staat kooperieren wollte. Ab 1936 folgten zur Aktualisierung der Liste Verbotskonferenzen mit Vertretern unter anderem aus dem Propaganda- und Erziehungsministerium, der Gestapo, dem Sicherheitsdienst und der Parteiamtlichen Prüfungskommission (Barbian 1993, S. 526). Darüber hinaus kam es, beispielsweise durch die Staatspolizei, zwischenzeitlich zu weiteren Verbotsanträgen, die hochaufwendige, langandauernde Verfahren auslösten (Aigner 1971, S. 1022f.).450 445 Fälschlich angegeben als Normann Körber. Das indizierte Buch war Die Psychoanalyse. 446 Zum ungewöhnlichen Schicksal seiner Publikation später mehr. 447 Wo immer Pseudonyme bekannt waren, wurden sie in den Listen mit aufgeführt. Die verbotene Schrift »Ernst Parells« war Reichs 1934er Exilpublikation Was ist Klassenbewusstsein?. 448 Dazu Michael Schröter: »›Fördernde Mitglieder‹ unterstützten die SS durch regelmäßige Geldbeiträge, ohne ihr anzugehören; es heißt, daß man sich auf diese Weise den Parteibeitritt ersparen konnte und trotzdem ausreichenden Schutz vor NS-Belästigungen hatte« (Schröter 2000a, S. 19f.). 449 Am 13.1.1934 wurde sein Verlag aufgefordert, diese Schrift nicht weiter zu vertreiben (BA R 55/81, Bl. 36). Müller-Braunschweig hatte in diesem 1927 erschienenen Büchlein versucht, die Psychoanalyse auch für Theologen annehmbar zu machen. Was übrigens Parallelen zu seinen Versuchen, die Analyse für Nationalsozialisten annehmbar zu machen, aufweist: Auch 1927 stutzte er schon manches passend zurecht. So wenn er schrieb, die Psychoanalyse sei »weit davon entfernt, den religiösen Glauben aufgeben oder schädigen zu können oder zu müssen«, sie sei »im Gegenteil geeignet, […] ihn in seiner Ursprünglichkeit und Unantastbarkeit nur noch reiner hervortreten zu lassen« (Müller-Braunschweig 1927, S. 5). Dem hätte Freud, der in der Religion wie erwähnt eine kollektive Zwangsneurose sah, wohl kaum zugestimmt. 450 Dabei gibt es hinsichtlich des Ablaufs manche Analogien zum Verfahren gegen »Schundund Schmutz«-Schriften, wie es 1930 gegen Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung angestrengt worden war.
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2.3 Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«
Ende 1938 enthielt dieser Index 4.175 verbotene Einzeltitel und 565 weitere Eintragungen mit dem Vermerk »Sämtliche Schriften« (Barbian 1993, S. 528).451 Die Zahl betroffener Schriften dürfte damit im Vergleich zu den 1933er Kampfbundlisten mindestens auf das Drei- bis Vierfache angewachsen sein.452 Nun war auch eine weit größere Zahl sowohl ausländischer Verlage (zum Beispiel aus Warschau, Oslo, London, New York, Toronto, Moskau, Paris) einbezogen als auch fremdsprachige Schriften, zum Beispiel in sorbischer, polnischer, tschechischer, französischer, norwegischer, niederländischer, englischer und russischer Sprache. Darüber hinaus gab es eine eigene Rubrik verbotener »Serien und Zeitschriften« sowie eine von Verlagen, »deren Gesamtproduktion verboten ist« (Reprint der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«). Dementsprechend hätten sowohl in Deutschland als auch weltweit erschienene, sowohl deutsch- als auch fremdsprachige, sowohl in Buch- als auch in Zeitschriften- bzw. Artikelform publizierte psychoanalytische Schriften verboten werden können, dazu natürlich auch das vollständige Repertoire des Internationalen Psychoanalytischen Verlages: insgesamt mehrere tausend Publikationen.453 Bezüglich der Psychoanalyse war jedoch, nachdem den beiden Freuds ein Totalverbot erteilt wurde, von den erweiterten Indizierungsmöglichkeiten kaum Gebrauch gemacht worden. Vergleicht man die 1935er und 1938er Liste, tauchen aus dem Kreis analytischer bzw. analysenaher Autoren nur zwei weitere Namen auf. Der psychoanalyseinteressierte Kunsthistoriker Eckard von Sydow geriet mit Exotische Kunst. Afrika und Ozeanien von 1921 erstmals auf die Liste – trotz seines im Mai 1933 vollzogenen NSDAP-Beitrittes (Ludwig-Körner 1999, S. 235f., 245f.). Sein Buch hatte aber mit Psychoanalyse wohl nichts zu tun.454 Außerdem 451 In der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig sind diese Listen unter den Signaturen II 89, II 89 a und II 89 b dokumentiert (telefonische Auskunft vom 22.6.2009). Siehe dazu auch Barbian (1993, S. 523). 452 Wie viele Verbote einzelner Schriften sich aus den im Vergleich zu 1933 enorm gestiegenen Gesamtindizierungen ergeben, kann ich nicht genauer abschätzen. 453 In Fallend et al. (1985, S. 125) werden für die gesamte Zeit des Bestehens des Internationalen Psychoanalytischen Verlages – zusätzlich zu Freuds Veröffentlichungen – »etwa 250 bis 300 Einzelpublikationen« erwähnt. Grinstein 1956–1960 belegt, dass die Zahl internationaler analytischer Buch- und Artikelveröffentlichungen bis 1938 um ein Vielfaches darüber hinausging. 454 1938 erfolgte allerdings keine Zuordnung mehr zu Rubriken wie »Psychoanalyse und Individualpsychologie«, es wurden auch keine Begründungen mehr gegeben. Aber Sydows intensiveres Interesse für die Psychoanalyse begann wohl erst 1924 (siehe Ludwig-Körner 1999, S. 235f., 245f.). Seine Schrift Primitive Kunst und Psychoanalyse. Eine Studie über die sexuelle Grundlage der bildenden Künste der Naturvölker, die 1927 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschienen war, blieb bemerkenswerterweise verschont.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
befand sich nun der norwegische Analytiker Kristian Schjelderup mit Pa vei mot hedenskapet (zu Deutsch: Auf dem Weg zum Heidentum) auf dem Index. Aber auch hier wurde die Psychoanalyse nicht thematisiert.455 Von anderen, schon zuvor berücksichtigten Autoren (Malinowski, Annie Reich, Reik, Stekel, Wittels) waren Bücher hinzugekommen (bei Stekel »Sämtliche Werke«). Als Mitautor der von Max Horkheimer herausgegebenen Studien über Autorität und Familie war auch Erich Fromm betroffen. Die weitaus größte Zahl an psychoanalytischen und psychoanalysenahen Autoren blieb weiterhin unbehelligt von Indizierungen.456 Wer auch immer jetzt dafür verantwortlich war, scheint sich – abgesehen vom Umgang mit Sigmund Freud und seiner Tochter – noch immer an die von der Volkelt-Kommission vorgeschlagenen Kriterien gehalten zu haben. In die Rubrik »Psychoanalyse« der Deutschen Bücherei wurden allerdings bis 1945 auch nur noch etwa 20 Schriften aufgenommen, viele davon waren gar nicht von Analytikern verfasst worden. Weitere Titelaufnahmen erfolgten jedoch in den sogenannten »Exilsammlungen« der Deutschen Bücherei: Verzeichnisse von Schriften emigrierter Autoren, die ab 1936 nicht mehr öffentlich genutzt und erwähnt wurden (Halfmann 1962). Dort wurde am 2.3.1934 auch Reichs Massenpsychologie des Faschismus eingegliedert.457 Paul Federn und Heinrich Meng waren mit ihrem zuletzt 1928 erschienenen Psychoanalytischen Volksbuch 1938 sogar wieder von der Liste verschwunden und wurden auch bei dessen Neuauflage 1939 – allerdings nun bei einem rein schweizerischen Verlag – nicht wieder hinzugesetzt. Normalerweise ließe sich eine Streichung am ehesten damit erklären, dass sich ein maßgeblicher NS-Zensor von der Ungefährlichkeit des Volksbuches hatte überzeugen lassen.458 Das aber wäre erstaunlich. 455 K. Schjelderup, Mitglied der norwegischen Psychoanalyseorganisation und späterer Bischof von Oslo, legte hier seine Vorstellungen von Religion dar (vgl. Rothländer 2010, S. 265f.). Karl Motesiczky fragte in der ZPPS 1/2 von 1936, S. 76 bezüglich dieses Buches: Hat Schjelderup »seine psychologische Bildung in die Schublade gelegt? In seinem letzten Buch hat er sie jedenfalls verleugnet.« 456 Hier wie an anderen Stellen der bisherigen Auflagen hatte ich fälschlicherweise nur die etwa 100 in deutscher Sprache publizierenden Buchautoren als Bewertungsgrundlage genommen, wodurch ich die Prozentsätze an verbotenen Autoren und Publikationen – und damit das Ausmaß an Unterdrückung – deutlich überschätzt hatte. 457 Schriftliche Auskunft der Deutschen Nationalbibliothek vom 7.6.2012. Wer unter welchen Bedingungen dieses Buch lesen durfte, ist dort leider nicht bekannt. 458 Dieser Ansicht schloss sich auch Werner Treß an, den ich dazu befragte. Der Wechsel vom Hippokrates-Verlag, der in Stuttgart, Leipzig und Zürich angesiedelt war, zu einem nur noch im schweizerischen Bern beheimateten Verlag (Hans Huber) mag das begünstigt haben. Aber, wie erwähnt: Ausländische Verlage waren durchaus von Verboten betrof-
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2.3 Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«
Denn sowohl die ältere wie auch die jüngere Ausgabe waren Sigmund Freud »in Verehrung zugeeignet«, was jeweils durch Verwendung eines aktuellen Freud-Fotos unterstrichen wurde. Und natürlich wurde, bei diesem Buchtitel unvermeidlich, von der ersten Seite an ständig über Psychoanalyse gesprochen – und das in einer allgemein verständlichen Weise, was den NS-Funktionären doch eigentlich als gefährlich hätte erscheinen müssen. Auch 1939 war auf keinen der bisher beteiligten 16 Autoren verzichtet worden, unter denen sich nicht nur emigrierte Juden wie Karl Landauer befanden, sondern auch mehrere von Bücherverboten Betroffene wie Sándor Ferenczi. Zusätzlich waren sogar fünf Autoren hinzugekommen, wie die – ebenfalls indizierte – Marie Bonaparte (Federn/Meng 1939, S. 4; dies. 1928, Bd. 1, S. 7). Der Umgang mit dem Volksbuch gibt daher Rätsel auf. Die individualpsychologische Literatur wurde zwischen 1933 und 1938 noch weniger mit zusätzlichen Verboten behelligt als die psychoanalytische. Der einzige Autor, der mit einem individualpsychologischen Buch hinzukam, war Erwin Wexberg mit Individualpsychologie.459 Von Alfred Adler standen 1938 nur drei weitere Bücher auf dem Index: Über den nervösen Charakter, Menschenkenntnis und Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Adler unterlag im Gegensatz zu den beiden Freuds nie einem namentlichen Gesamtverbot. Dies könnte eine Einschätzung stützen, die Almuth Bruder-Bezzel getroffen hat: »Die Individualpsychologie konnte reibungsloser in das System des Nationalsozialismus integfen; als Erklärung genügt der Verzicht auf einen Verlag mit deutschem Standort daher nicht. Natürlich lassen sich auch reine Bearbeitungsfehler nicht völlig ausschließen. Die 1938er Liste gilt allerdings als recht sorgfältig zusammengestellt und kontrolliert. Ob die Streichung mit der erwähnten Aufnahme des Buches in die »Liste der in der Deutschen Bücherei unter Verschluss gehaltenen Druckschriften« zusammenhing – etwa in dem Sinne, dass dort verzeichnete Bücher als weniger gefährlich galten –, ließ sich auch durch Nachfragen in der Deutschen Nationalbibliothek nicht klären. 459 Margarethe Hilferding war zwar mit Geburtenregelung ebenfalls betroffen, aber dies war sicher kein spezifisch individualpsychologisch ausgerichtetes Buch. Der bis 1918 Adler nahestehende Schweizer Psychiater und Schriftsteller Charlot Strasser (Bruder-Bezzel 1999, S. 40f.) war nun gleichfalls erstmals verzeichnet, und dies sogar mit einem Totalverbot. Das dürfte aber durch sein 1935 auf einem Flugblatt erschienenes Gedicht Die braune Pest ausgelöst worden sein. Für die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld war das Verbot inzwischen auf »sämtliche Schriften« ausgeweitet worden, ebenso für Alice Rühle-Gerstel sowie Gina Kaus, wobei bei Letzterer anzunehmen ist, dass sie erneut eher als »Asphalt«Literatin angesehen und verboten wurde. Auch Phyllis Bottome war nun mit einem belletristischen Werk, ihrem NS-kritischen Roman Tödlicher Sturm, indiziert worden. Eines der 1933 zum Verbot vorgeschlagenen Bücher von Fritz und Ruth Künkel – Mensch und Gemeinschaft – war 1938 wieder von der Liste verschwunden. Ebenso befand sich der 1933 aufgeführte Herbert Francke nicht mehr auf dem Index.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
riert werden« als die Psychoanalyse (Bruder-Bezzel 1999, S. 244).460 Die Deutsche Bücherei ergänzte die Rubrik »Individualpsychologie« zwischen 1933 und 1945 nur um ganze vier Titel. Am 15.4.1940 stellte allerdings eine Anordnung alle »voll- und halbjüdischen« Autoren pauschal unter Totalverbot – also auch viele Analytiker. Dennoch wurden weiter einzelne Autoren und Werke auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gesetzt.461 Was Publikationen analytischen Inhalts betrifft, gab es nur zwei Ergänzungen. Zum einen wurde das Verbot für Annie Reich auf »sämtliche Schriften« ausgedehnt – was sich auf die zwischen 1930 und 1932 erschienenen Aufklärungsschriften Ist Abtreibung schädlich?,462 Das Kreidedreieck und Wenn dein Kind dich fragt gerichtet haben dürfte, mit denen sie zu Wilhelm Reichs sexualpolitischen Aktivitäten beigetragen hatte.463 Zum anderen kam Karl Motesiczky hinzu, der bei Reich eine Ausbildung zum Psychoanalytiker begonnen hatte. Unter dem Namen »Karl Teschitz« hatte er sich von 1934 bis 1937 intensiv an Reichs faschismuskritischen Exilpublikationen beteiligt, was 1941 mit dem Verbot seiner sämtlichen unter diesem Pseudonym verfassten Publikationen geahndet wurde. Beide zusätzlichen Verbote waren also mit dem politischen Engagement Wilhelm Reichs verknüpft. Bis 1941 traf es außerdem die bereits erfassten Autoren Marie Bonaparte und Hans Zulliger, allerdings mit je einem nichtanalytischen Buch. Hintergrund war vermutlich, dass für die jeweiligen Verlage ein Totalverbot ausgesprochen wurde. Hans Zulliger hatte im Oprecht-Verlag Ergötzliches Vieh. Fabeln, Parabeln und kleine Satiren veröffentlicht. Marie Bonapartes Buch Topsy, der goldhaarige Chow erschien in dem renommierten niederländischen Verlag Allert de Lange, der auch Schriften NS-kritischer Exilanten publiziert hatte.464 Es handelte von ihrem 460 Almuth Bruder-Bezzel führt das darauf zurück, dass die Individualpsychologie »den praktischen Erfordernissen näher [stand], während die Psychoanalyse mit ihrer artifiziellen Sprache, mit dem Ausblenden gesellschaftlicher Einflüsse, der Dichotomisierung von Individuum und Gesellschaft und der Zentrierung auf innerpsychische Prozesse sperriger war« (Bruder-Bezzel 1999, S. 244). Hinzu gekommen sein dürfte unter anderem der Einfluss des Ex-»Adlerianers« M.H. Göring. 461 Siehe die entsprechenden Jahresnachträge im Reprint der Listen. 462 Verfasst zusammen mit Marie Frischauf. Es handelte sich dabei um die zweite Publikation der »Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung« nach Wilhelm Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung. 463 Mühlleitner (1992, S. 256) benennt bis 1936 zusätzlich drei von Annie Reich verfasste Beiträge für psychoanalytische Zeitschriften. Beim Kreidedreieck war sie nur Mitautorin. 464 Auf diesen Verlag, dessen Bedeutung und darauf, dass das Verbot für Bonapartes Schrift wohl auf das Repertoire dieses Verlages – zu dem Schriften von Bertold Brecht, Egon Er-
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2.3 Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«
Lieblingshund und wurde von Anna und Sigmund Freud ins Deutsche übersetzt (siehe Bonaparte 1981). Weder für die Zeit bis 1938 noch in einem der späteren Zusätze taucht dagegen der Internationale Psychoanalytische Verlag unter jenen Verlagen auf, über die ein vollständiges Verbot verhängt wurde. Die Existenz seiner Publikationen in Deutschland war zwar dennoch nicht gesichert, aber es kam auch nie eine einheitliche Linie zustande, laut derer diese zu verfolgen seien. Verlagsleiter Martin Freud erhielt im März 1936 zunächst vom Leipziger Kommissionshändler die Nachricht, »daß eine große Anzahl unserer Verlagswerke polizeilich eingezogen und sichergestellt«, dann, »daß das ganze Lager beschlagnahmt und der Verkauf unserer Bücher in Deutschland verboten worden sei«. Es habe auch geheißen, dass der dortige Bestand vernichtet werden solle (IZP-Korrespondenzblatt 23/1937, S. 190). Dass dieses Vorgehen Martin Freud trotz des politischen Klimas im Dritten Reich recht überraschend traf, ist aus verschiedenen Gründen nachvollziehbar. Als Vertreter eines ausländischen Verlages waren zuvor keine jener geheimen Mitteilungen des deutschen Börsenvereins über einzuziehende Schriften an ihn ergangen. In den entscheidenden deutschen Fachblättern erfolgten zudem weiterhin positive Rezensionen von Verlagspublikationen. Und bis 1936 konnte der Verlag sogar noch im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Anzeigen schalten (Marinelli 2009, S. 83). Um die beschlagnahmten Bestände zu retten, bat die Verlagsleitung die Vorstände der IPV-Landesgruppen, über die jeweiligen diplomatischen Vertretungen zu intervenieren. Dies sei, so Martin Freud, seitens Englands, Frankreichs, der USA und Österreichs auch geschehen. Dadurch seien im Juli »alle beschlagnahmten Buchbestände freigegeben« worden und er habe »die wertvollsten Buchbestände aus Deutschland heraus gezogen« (IZP-Korrespondenzblatt 23/1937, S. 190). Als Österreich 1938 Deutschland angeschlossen wurde, sollte es dann doch zu einer umfangreichen, wenn auch nicht vollständigen Vernichtung analytischer Publikationen kommen. Am 15.3.1938 wurde der Chemiker und NSDAPAngehörige Anton Sauerwald zur Liquidation von Verlag, Wiener Psychoanalytischer Vereinigung und deren Ambulatorium eingesetzt (Marinelli 2009, S. 88). Am 28.3.1938 schrieb er an die »Prüfstelle für den Kommissarischen Verwalter«: »Es besteht die Absicht, den Verlag in seiner bisherigen Form zu liquidieren, die restlichen Bücher und Zeitschriftenbestände an ausländische Interessenten abzusetzen und win Kisch oder Sigmund Freud (Der Mann Moses, 1939) gehörten – zurückzuführen ist, machte mich Urban Zerfaß am 29.10.2010 aufmerksam.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
mit dem verbliebenen Kapital die Umwandlung des Verlages in ein deutsches Unternehmen in die Wege zu leiten. Es sei ausdrücklich festgestellt, dass gegen die Schriften keinerlei Bedenken politischer Natur bestehen, da es sich ausnahmslos um Veröffentlichungen handelt, die der Theorie und Praxis der psychoanalytischen Forschung und Heilweise dienen. Das Hauptbedenken liegt vielmehr darin, dass die Verlagswerke zum überwiegenden Teil von jüdischen Autoren stammen, die für Deutschland nicht tragbar sind« (dokumentiert in Diem-Wille 2005, S. 103).465
Letztlich wurde jedoch über das Schicksal der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und ihres Besitzes von höheren, weit weniger toleranten NS-Funktionären entschieden, für die die WPV vor allem Spielball ihrer konkurrierenden Machtinteressen war (Rothländer 2012, S. 76–96). Im Zuge der Auflösung der Vereinigung wurden 16 Waggonladungen mit Verlagspublikationen vernichtet. Ein kleinerer Teil der Schriften wurde der Gestapo, dem Sicherheitsdienst und deutschen Universitäten zur Verfügung gestellt, im Wesentlichen wohl als Material zur »Erforschung der Judenfrage« (ebd., S. 109ff.; siehe auch Seifert 2000, S. 159–193; 2009, S. 90–123).
2.4
Publikationsverbote III: Weitere Zensurinstanzen
Für das Jahr 1933 schilderte ein Buchhändler ein Chaos von 21, weitgehend unabhängig voneinander agierenden Stellen, die an Buchverboten und -beschlagnahmungen beteiligt waren. Auch regional fielen unterschiedliche Entscheidungen, sodass zum Beispiel ein Buch in Leipzig verboten sein konnte, während es im wenige Dutzend Kilometer entfernten Halle an der Saale weiter verkauft wurde. Erst allmählich konsolidierte sich die für das Schrifttum zuständige Bürokratie. Parallel dazu stritten unter anderem Goebbels, Rosenberg, Himmler, Göring, Robert Ley sowie der Chef von Hitlers Kanzlei, Philipp Bouhler, darum, sich als Literaturoberzensoren zu etablieren – was in letzter Konsequenz keinem von ihnen wirklich gelang. Goebbels hatte hier allerdings in seinen Eigenschaften als Propagandaminister und übergeordneter Chef der Reichsschrifttumskammer den größten Erfolg zu verbuchen (Barbian 2008, S. 18ff., 1993, S. 191ff., 517– 544). Wer im Dritten Reich publizieren wollte, war zwangsverpflichtet, in dieser 465 Hervorhebung von mir – A. P. Laut Th. Aichhorn (2003, S. 57, Anm. 5) wiederholte Sauerwald exakt jene zwei letzten Sätze des hier Zitierten in einem weiteren Bericht an dieselbe Stelle am 6.5.1939. Vielleicht handelt es sich dabei allerdings nur um ein erneutes Auftauchen in den Akten dieser Stelle.
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2.4 Publikationsverbote III: Weitere Zensurinstanzen
Kammer Mitglied zu sein. Für Wissenschaftsautoren gab es allerdings Ausnahmen, auf die ich noch eingehen werde. Derjenige, der nach Goebbels den größten Einfluss auf den Umgang mit Literatur hatte, dürfte weiterhin Rosenberg gewesen sein. 1934 dankte Hitler ihm für seine bisherigen Verdienste, indem er ihn zum »Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung der NSDAP« machte. Rosenberg, dessen Ehrgeiz damit nicht gestillt war, deklarierte die von ihm daraufhin aufgebaute Institution als »Reichsüberwachungsamt«. In diesem gründete er unter anderem eine »Hauptstelle Schrifttumspflege«, der er die Aufgabe stellte, »systematisch das gesamte deutsche Schrifttum, soweit es irgendeine bildnerische oder erzieherische Bedeutung für das deutsche Volk hat«, zu kontrollieren. Allein die Zahl der hier tätigen »Hauptlektoren« stieg bis 1941 auf 1.400 (Barbian 2010b, S. 152ff.). Die wesentlichsten NS-Institutionen, die zusätzlich in die Bewertung und Zensur von Publikationen eingriffen, waren die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums, die Gestapo bzw. das Reichssicherheitshauptamt, die Hauptabteilung Presse und Schrifttum im Sicherheitsdienst der SS, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, die Deutsche Arbeitsfront, der Stab des Führerstellvertreters, der Reichsleiter für die Presse der NSDAP, die Reichsjugendführung sowie das Innenministerium (ebd., S. 232–356, 533–536). Wie erwähnt, wirkten ab 1936 Vertreter der meisten dieser Institutionen auf Verbotskonferenzen gemeinsam auf die weitere Ausgestaltung der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« ein (Barbian 2008, S. 526). Darüber hinaus nahmen einige von ihnen eigenständige Indizierungen vor.466 Für die hier untersuchte Thematik sind insbesondere die diesbezüglichen Aktivitäten des Reichsinnenministeriums von Interesse, da dieses vielfach auch ausländische Druckerzeugnisse, darunter zahlreiche Zeitschriften und Zeitungen, verbot. Das lässt sich im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger nachlesen. Zunächst ging es auch hier vor allem gegen kommunistische und sozialde466 Zum »Amt Rosenberg« werde ich später noch einiges ergänzen. Von Lutz Hachmeister, der umfangreich zu den Aktivitäten des Sicherheitsdienstes geforscht hat, erhielt ich leider auf mehrere Anfragen keine Auskunft dazu, ob der SD, speziell die dafür wohl am ehesten infrage kommende Abteilung »Gegnerforschung«, auch zur Psychoanalyse Informationen gesammelt hat. Insbesondere das, was Hachmeister (1998, S. 186f., 192ff.) zur »Erfassung aller wichtigen Juden«, die »in der internationalen Wissenschaft« tätig sind, und zur »Gegnerarbeit« in Vorbereitung und Durchführung der Österreich-Besetzung berichtet, klingt wie eine mögliche Spur. In den in 17 Bänden dokumentierten »geheimen Lageberichten« des SD tauchen Stichworte wie Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, DPG, IPV usw. nicht auf, Freud ist nur zweimal innerhalb von Aufzählungen verschiedener »Feinde Deutschlands« erwähnt (Boberach 1984, Registerband, S. 230).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
mokratische Druckschriften. Jedoch war bereits nach kurzer Zeit die »Schund- und Schmutz«-Literatur einbezogen (wobei offensichtlich auf die bereits vorliegenden Verzeichnisse zurückgegriffen wurde). Ab September 1933 konzentrierten sich die Zensoren zusätzlich auf die sogenannte Sexualliteratur. Betroffen waren nun aufklärende Bücher von Emil Hoellein (Gebärzwang und kein Ende) oder Magnus Hirschfeld; bald tauchten auch Bücher von Annie Reich (Wenn dein Kind dich fragt) und Wilhelm Reich (Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral) auf. Auf Schriften des Letzteren bezogen sich dann 1935 noch einmal umfangreiche Indizierungen.467 An weiteren, im Reichsanzeiger verbotenen psychoanalytischen Publikationen habe ich nur entdecken können: G.H. Grabers Psychoanalyse und Heilung eines nachtwandelnden Knaben sowie Theodor Reiks Wir Freud-Schüler.468
2.5
Hauptbetroffene der NS-Bücherverfolgung
Fasst man die zuvor beschriebenen Vorgehensweisen gegen unliebsame Schriften für die gesamte Zeit des Dritten Reiches zusammen, so lassen sich diejenigen Psychoanalytiker ausmachen, die am stärksten betroffen waren. Zunächst, bei der Bücherverbrennung, waren offenbar zumindest vier von ihnen einbezogen: Sigmund Freud, Anna Freud, Wilhelm Reich, Siegfried Bernfeld. Namentliche öffentliche Verdammung erfuhr dabei anscheinend nur Sigmund Freud – mit Verweis auf seine »Schule«. Die Ehre, für so schädlich gehalten zu werden, dass ihr gesamtes Werk verboten wurde – und damit ja auch schon vorab 467 Auf diese Verbote von Schriften Wilhelm Reichs gehe ich später noch einmal ein. 468 Beide nicht aus dem Repertoire des Internationalen Psychoanalytischen Verlages. Bezüglich meiner Recherche im Reichsanzeiger muss ich hinzusetzen, dass ich nicht völlig sicher bin, dass ich nichts übersehen habe. Dieses Mitteilungsblatt erschien sechsmal wöchentlich und ist nur auf Mikrofilm einsehbar. Vielleicht ist es mir nicht in jedem Fall gelungen, die jeweiligen kurzen Verbotsinformationen zu entdecken. Ich habe auch nur bis Mitte 1936 sämtliche Ausgaben des Reichanzeigers durchgesehen. Denn am 7.5.1936 erhielt Goebbels per »Runderlass« noch weitergehende Vollmachten; er konnte nun »sämtlichen Landesregierungen, den Ober- und Regierungspräsidenten sowie dem Polizeipräsidenten in Berlin die zukünftige Handhabung des Buchverbotswesens vorschreiben. Danach durften im deutschen Buchhandel erschienene Bücher nur noch dann beschlagnahmt und eingezogen werden, wenn sie in der […] ›Liste der unerwünschten Schriften‹ erfaßt waren. […] Bei Beanstandungen gegenüber Büchern, die im Ausland erschienen, behielt sich Goebbels generell die letzte Entscheidung vor« (Barbian 1995, S. 522f.). Spätestens seit diesem Zeitpunkt sollten also die im Reichsanzeiger verbotenen Schriften auch in den »Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« auftauchen, die ich ja ohnehin durchgesehen habe. Hier wurden Bücher, die auch im Reichsanzeiger verboten worden waren, gesondert gekennzeichnet.
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2.5 Hauptbetroffene der NS-Bücherverfolgung
jegliche zukünftige Publikation –, wurde nur drei »freudianischen« Psychoanalytikern zuteil: als Erstem Wilhelm Reich, 1935 folgten Sigmund Freud und Anna Freud. 1938 ereilte auch Wilhelm Stekel ein solches Pauschalverbot. Er hatte sich allerdings schon 1912 mit Freud überworfen und war seitdem eigene Wege gegangen; beide betonten die Unterschiede in ihren Auffassungen (Freud 1914d, S. 58; Mühlleitner 1992, S. 320ff.). »Freudianer« war Stekel mit Sicherheit längst nicht mehr. Umfassenderen Indizierungen des Reichsinnenministeriums, die sich dann im Reichsanzeiger niederschlugen, unterlag nur ein Psychoanalytiker: Wilhelm Reich. Die aufgezählten fünf Personen können also als Hauptbetroffene gelten. Was prädestinierte sie dazu? Stekel war einer der frühesten Mitstreiter Freuds, ebenfalls jüdischer Herkunft und von 1911 bis 1914 Redakteur des Zentralblattes für Psychoanalyse. Er hatte sexuellen Störungen große Aufmerksamkeit gewidmet, 1906 auf Anregung von Magnus Hirschfeld die Wiener Vertretung des Berliner wissenschaftlich-humanitären Komitees gegründet. Außerdem gehörte er zu den rührigsten und, wie erwähnt, auch erfolgreichsten Autoren aus dem Kreise der Analytiker, schrieb nicht zuletzt weiterhin über Partnerschaft und Sexualität und brachte bis 1937 auch eigene Zeitschriften heraus ( Jones 1984, Bd. 2, S. 20f., 165ff.; Herzer 2001, S. 169ff.; Mühlleitner 1992, S. 322f.). Siegfried Bernfeld hatte schon in der »Jugendbewegung« nichtautoritäre Erziehung und freie Sexualität propagiert, war als Jude in der zionistischen Bewegung aktiv und versuchte frühzeitig, psychoanalytische und sozialistische Ideen zu verbinden (Mühlleitner 2008, S. 59ff., 82ff., 106ff.). Jüdische Herkunft und Betonung der Sexualität waren auch Sigmund Freud, Anna Freud (die die Grundpositionen ihres Vaters im Wesentlichen übernahm) und Wilhelm Reich gemeinsam. Was aber war das Besondere an den drei Letzteren, dass gegen sie – und nur gegen sie – das Gesamtrepertoire der NS-Bücherverfolgung eingesetzt wurde, dass ihre Bücher sowohl verbrannt als auch vollständig verboten wurden? Gegen Sigmund Freud – den Begründer, »Kopf« und mittlerweile weltberühmten Repräsentanten der Psychoanalyse – vorzugehen, hatte den höchsten denkbaren Symbolwert. Wollte man die Analyse an sich treffen, musste man auf Freud zielen. Das sahen schon die Bücherverbrenner so. Die Volkelt-Kommission setzte dann andere Maßstäbe, die zunächst akzeptiert wurden. Aber diejenigen, die nach 1933 die Verbote beschlossen, wichen davon ab – aus ungeklärten Gründen. Auch hier kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Impuls dazu von einer höheren Stelle der NS-Hierarchie kam. Was Anna Freud betrifft, stand diese 1933 eher noch am Anfang ihrer Laufbahn. Sie hatte als eigenständigen Beitrag bislang vor allem die stärkere Orientierung auf die Behandlung von Kindern in die Analyse eingebracht. Die beiden Schriften, die 239
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
sie bis dato verfasst hatte, waren Einführung in die Technik der Kinderanalyse und Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen, die von der Volkelt-Kommission auch zur Indizierung vorgeschlagen wurden. Anders als ihr Vater – oder Wilhelm Reich – äußerte sich Anna Freud aber nie explizit zu politischen Fragen (Besser 1982, S. 8ff.; Rothe/Weber 2001, S. 611ff.). Erst 1936, ein Jahr nachdem ihr gesamtes Werk verboten wurde, kam ihr Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen heraus, das ihr größere fachliche Bekanntheit einbrachte. Ich gehe deshalb davon aus, dass Anna Freud vor allem pauschal in die Verfolgung einbezogen wurde, weil sie zunehmend als Sprachrohr ihres an Kieferkrebs erkrankten Vaters fungierte, in der Öffentlichkeit als seine Stellvertreterin in Erscheinung trat (Salber 1997, S. 48ff.) und leitende Funktionen innerhalb der IPV innehatte. Auch der Schlag gegen seine Tochter richtete sich also, meine ich, vor allem gegen Freud selbst. Und Wilhelm Reich? Zum einen stand er natürlich ebenfalls für die »Freudsche Schule« und betonte manche von Freuds ursprünglichen Gedanken – wie die zentrale Rolle der Sexualität – mittlerweile stärker als der Analysegründer selbst. Aber Reich hatte dem ja längst auch eigenständige, teils konträre Ideen hinzugefügt und speziell damit einen erwähnenswerten Bekanntheitsgrad in Deutschland erlangt. Reich wurde daher mit Sicherheit nicht nur als »Freudianer« Opfer der Repressionen, sondern war auch persönlich gemeint. Letztlich erschienen also wohl nur die in Buchform gebrachten Theorien zweier Psychoanalytiker den NS-Entscheidungsträgern so wichtig, dass sowohl die Verbrennung als auch ein Gesamtverbot gegen sie zum Einsatz kamen: Freud und Reich. Dabei zogen Reichs Schriften intensivere Verbotsaktivitäten auf sich als die Sigmund Freuds.
2.6
Reichs verbotene Schriften
Schon im ersten »Entwurf« für die Verbotsliste »Sexualliteratur«, den August Velmede vermutlich im Mai 1933 erstellte, war Reich enthalten – mit dem Vermerk: »Sämtliche Veröffentlichungen« (BA R 56 V/70 a, Blatt 61). Dem stimmte am 16.6.1933 der Leipziger »Arbeitsausschuss« zu (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, Blatt 50). Reich komplett zu verbieten, war also bereits Konsens, als jene Liste »Psychoanalyse«, auf der Freud dann lediglich mit zwei Schriften auftauchen sollte, in Auftrag gegeben wurde. Reichs literarische Tätigkeit wurde auch in den Jahren nach seiner Emigration von Deutschland aus weiter beobachtet, und die Liste seiner staatsgefährdenden Schriften wurde mehrfach vervollständigt. Verschiedene Behörden verboten teilweise ein- und dieselben Bücher. Im Sommer 1933 wurden, wie erwähnt, nicht nur Reichs »sämtliche Schrif240
2.6 Reichs verbotene Schriften
ten«, sondern auch die Publikationen seines »Verlages für Sexualpolitik« durch den Kampfbund und das Propagandaministerium geächtet (BA NS 8/288, Blatt 163f.). Daneben traf es auch die Schriftenreihe des Münster-Verlages, in der Sexualerregung und Sexualbefriedigung erschienen war – mit der Begründung: »Aufklärung im marxistischen Sinne«.469 Damit war Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung in Deutschland nun dreifach indiziert: offiziell 1930 als »Schmutz«-Schrift, »streng vertraulich« 1933 als Bestandteil des Reichschen Gesamtwerkes und zudem als Publikation des Münster-Verlages. Am 29.9.1933 tauchte Reich erstmals im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger auf. Drei Tage zuvor war für Preußen sein Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral verboten worden, nun wurde dieser Beschluss hier veröffentlicht. Reich selbst zitiert im Wortlaut und mit detaillierter Quellenangabe das Verbot seiner Schriften Was ist Klassenbewusstsein? und Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse vom 9.4.1935 durch die Geheime Staatspolizei (Reich 1986, S. 17). Wie er von diesem Verbot erfuhr, schreibt er leider nicht. Denkbar ist, dass er selbst ein entsprechendes Schreiben erhielt, da er ja nicht nur Autor, sondern auch Verleger dieser Bücher war und sein Verlag zunächst seinen Hauptsitz in Deutschland gehabt hatte.470 Am 3.5.1935 standen Publikationen von Reich erneut im Deutschen Reichsanzeiger: »Ich habe aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat […] die Verbreitung der nachstehend genannten ausländischen Druckschriften im Inland bis auf weiteres verboten: ›Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie‹ (Kopenhagen, Dänemark) […] Berlin, den 30. April 1935 Der Reichs- und Preußische Minister des Innern i.A.: Dr. Gisevius«471 469 Nämlich die Schriften der sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung Wien – ebd., Blatt 142 und 159. 470 So widerfuhr es 1935 auch dem Psychoanalytiker Alexander Mette. Ausländischen Verlagen wurden solche Mitteilungen dagegen eigentlich nicht zugestellt. Aber Reich hatte zunächst als Verlagsorte »Berlin/Leipzig/Wien« gewählt. So stand es auch auf dem Schutzumschlag von Der sexuelle Kampf der Jugend, verbunden mit der Konkretisierung »BerlinWilmersdorf, Kreuznacher Straße 38«. Dieses Buch und Der Einbruch der Sexualmoral waren somit in einem (auch) deutschen Verlag erschienen. 471 Hans Bernd Gisevius, Gestapo-Offizier, Regierungsrat, später im Widerstand gegen Hitler, nach 1945 Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und Direktor des World Council of Foreign Affairs in Dallas (vgl. u. a. Longerich 2009, S. 200).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Diese gesamte, bis 1938 mit 15 Heften erscheinende Vierteljahrespublikation (Rothländer 2010, S. 165) zu verbieten, war logisch. Reich hatte hier von vornherein als Leitmotiv verkündet, zur »Bewahrung der zivilisierten Menschheit vor dem Sturz in den Abgrund der Barbarei« beizutragen. Er wandte sich daher »An alle Antifaschisten!« (ZPPS 1934, S. 89) und machte Analyse und Bekämpfung des Faschismus zum Hauptanliegen. Das prägte einen großen Teil der Beiträge. Aber das Spektrum der Zeitschrift, auch das politische, war breiter. Ihr komme, so Helmut Dahmer, durch ihre »politischen Berichte, […] die Referate über das publizistische Echo der Sex-PolPublikationen in anderen sozialistischen Organisationen, die Kritik an KPD und Komintern vor ihrer Wendung zur Volksfrontpolitik, deren Einschätzung und – vor allem – die Analyse und Verurteilung der Moskauer Schauprozesse […] ein besonderer Rang unter den nicht-stalinistischen sozialistischen Emigrationszeitschriften« zu (Dahmer 1973, S. 401).
Hauptimpulsgeber und -autor der Zeitschrift war Reich selbst, unter verschiedenen Pseudonymen (»Ernst Parell«, »Jonny«, »Walter Roner«, »H. B.«, »Waller«472 – siehe Laska 2008, S. 142f.). Um nur einige der Beiträge zu nennen, in denen er Aspekte von Psychoanalyse und Marxismus weiterhin zur Sexualökonomie verband: Zur Anwendung der Psychoanalyse in der Geschichtsforschung, Einwände gegen Massenpsychologie und Sexualpolitik, Zur massenpsychologischen Wirkung des Kriegsfilms, Was ist Klassenbewusstsein? oder Wie wirkt Streichers sadistische Pornographie? In letzterem Beitrag schrieb Reich über den Hitler-Intimus und Stürmer-Herausgeber unter anderem: »Streicher ist also ein ganz schwerer Sexualpsychopath, der dadurch gemeingefährlich wird, daß er in der Masse gerade die krankhaften und perversen Sexualregungen provoziert. Das sichert ihm den Absatz seiner Zeitung« (ZPPS 1935, S. 132).473 472 Rothländer (2010, S. 163f.) verweist allerdings darauf, dass es sich bei »Jonny« auch um den deutschen Schriftsteller Jonny Rieger gehandelt haben könnte, bei »Waller« um Bruno Waller. Wie erwähnt, dürfte es sich bei Ernst Bornemanns Behauptung, auch er habe unerwähnt an dieser Zeitschrift mitgearbeitet, um eine Erfindung handeln (Siegfried 2015, S. 269).. 473 In Heft 3/4 1934 glossierte Reich Hitlers Heuchelei, die Ermordung von Ernst Röhm und anderen schwulen SA-Führern in einen notwendigen Schritt nationalsozialistischer Tugendwächter gegen »unnatürliche Unzucht« umzumünzen. Dazu schrieb Reich allerdings, er sei gegen die (!) Homosexualität, weil sie »eine außerordentlich starke psychische Verankerung der faschistischen Ideologie darstellt« (ZPPS, S. 272). Damit widersprach er sowohl eigenen Aussagen als auch – von ihm geteilten – Hypothesen Freuds über die angeborene psychische Bisexualität aller Menschen und die sich daraus ergebende Nicht-
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2.6 Reichs verbotene Schriften
Am 8.5.1935 wurde im Reichsanzeiger bekannt gegeben, dass zwei Tage zuvor auch »alle ausländischen Druckschriften der politisch-psychologischen Schriftenreihe der Sex.Pol. (Verlag für Sexualpolitik, Kopenhagen, Dänemark, auch Prag, Tschechoslowakei und Zürich, Schweiz)« durch das Innenministerium474 verboten worden waren. Das schloss natürlich, wenn auch ohne Titelnennung, die Massenpsychologie des Faschismus mit ein. Als das Propagandaministerium Ende 1935 die erste »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« erstellte, war Reich wieder mit »sämtlichen Schriften« vertreten, ebenso 1938. Am 9.11.1936 erhielt das Propagandaministerium ein von Heinz Wismann »angeforderte[s] Verzeichnis aller seit 1933 für das Deutsche Reich verbotenen Bücher österreichischer Verlage«. Reich war mit Die Funktion des Orgasmus, Der Einbruch der Sexualmoral, Der sexuelle Kampf der Jugend und Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral vertreten (BA R 56 V/71/Blatt 8ff.). Anfang 1937 fand sich auch Reichs Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse zusätzlich auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« (ebd., Blatt 144);475 1938 wurde »Ernst Parells« Was ist Klassenbewußtsein? ergänzt. Und als am 29.4.1941 durch das Propagandaministerium ein Verzeichnis »deutschfeindlicher« Autoren aufgestellt wurde, war dort Freuds Name (oder der seiner Tochter) nicht vermerkt – jedoch der von Reich (BA R 56 V/71, Blatt 49, 54). Auch in Bezug auf Wilhelm Reich und seine Ideen war somit der »zensurgestützte kollektive Gedächtnisverlust« in die Wege geleitet, von dem Werner Treß im Zusammenhang mit der Bücherverfolgung spricht (Treß 2003, S. 102). Warum sich die NS-Zensoren weit mehr mit Reich befassten als mit allen anderen Psychoanalytikern, wird klarer, wenn wir ein weiteres Kriterium für die Indizierung von Büchern und die Verfolgung von Autoren in Betracht ziehen. Dieses Kriterium dürfte so präsent gewesen sein, dass es nicht noch einmal ausdrücklich bekräftigt oder ausformuliert werden musste: Offene Kritik am Faschismus führte in der gesamten Zeit des Dritten Reiches (zumindest) zu Verboten.476 Dabei liegt die Betonung auf offen. So wurden manche diskriminierung von Homosexuellen. Zudem hatte Reich selbst in der Massenpsychologie herausgearbeitet, auf welche Weise die psychischen Störungen der übergroßen heterosexuellen Bevölkerungsmehrheit die Basis der faschistischen Ideologie bildeten. 474 Diesmal vertreten durch den Polizeichef Kurt Daluege. 475 Im 1938er Listen-Reprint ist diese Schrift aber nicht noch einmal extra mit aufgeführt. Vermutlich weil dieser Liste eben eine recht gründliche Bearbeitung vorherging, bei der aufgefallen sein dürfte, dass ja schon Reichs sämtliche Werke verboten waren. 476 Das Kriterium 2c der Volkelt-Kommission richtete sich zwar gegen »Vorstösse in die einzelnen Gebiete geistigen Lebens, die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüt-
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Romane,477 die in leicht durchschaubarer Verfremdung die aktuelle Situation in Deutschland anprangerten oder karikierten – wie Werner Bergengruens Der Großtyrann und das Gericht oder Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen478 –, überhaupt nicht oder, wie Friedrich Reck-Malleczewens Bockelson. Geschichte eines Massenwahns, zumindest längere Zeit nicht verboten (Adam 2010, S. 256ff., 304–307; vgl. Barbian 2010b, S. 390ff., 469). Das ist nachvollziehbar: Solange die Kritik nicht konkret adressiert war, musste man sie ja nicht auf Nationalsozialisten oder »Arier« beziehen.479 Auch dass Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse später in der Literaturliste auftauchen sollte, die am »Göring-Institut« zur psychologischen Kriegsführung erstellt wurde (Lockot 2002, S. 209), wäre wohl undenkbar gewesen, wenn Freud die Wechselbeziehung zwischen dumpfer Masse und idealisiertem Führer anhand des aufsteigenden italienischen Faschismus abgehandelt hätte. Diesen könnte Freud beim Abfassen des 1921 erschienenen Buches durchaus im Kopf gehabt haben, erwähnt hat er ihn dort jedoch nicht. So wurde selbst diese »einzige Schrift von Freud, deren Gegenstand […] der Soziologie im engeren Sinne zuzurechnen ist« (Reiche 2006, S. 175), weder 1933 von der Leipziger Volkelt-Kommission als indizierungswürdig angesehen, noch schreckte das »Göring-Institut« vor deren Verwendung zurück. Wäre Letzteres Ausdruck eines so radikalen Pragmatismus gewesen, dass auf jegliche Literatur zurückgegriffen wurde, die interessante massenpsychologische Darlegungen enthielt, hätten auch Reichs Massenpsychologie des Faschismus und Fromms Sozialpsychologischer Teil der Studien über Autorität tern«. Aber nach meinem Empfinden zielte man, ausgedrückt durch die Einschränkung auf »Gebiete geistigen Lebens«, hier nicht auf offen antifaschistische Publikationen – für die es ja auch im Sommer 1933 noch gar keine Beispiele unter den psychoanalytischen Buchveröffentlichungen gab. 477 Deren Autoren zählten aber oft selbst eher zum »rechten« oder zumindest zum konservativen Spektrum. 478 Hitler selbst soll sich gegen ein Verbot dieses Buches ausgesprochen haben (Adam 2010, S. 307). 479 Analog wurde vielfach eine weitere Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse unter Verwendung der Behauptung vermieden, dass diese im Wesentlichen nur Aussagen über das jüdische Volk enthalte. So urteilte der Arzt Carl Haeberlin – der gedachte, mittels NSPsychotherapie den Willen des Einzelnen »wieder in die große Gemeinschaft von Blut, Volk und Boden zurückzuführen« – 1935 im gleichgeschalteten Zentralblatt für Psychotherapie: »Wir erkennen die Forscherpersönlichkeit Freuds ebenso an, wie etwa die seiner Volksgenossen Ehrlich und Wassermann, wir halten ihn für eine überragende Erscheinung in diesem Volke, nicht anders, wie etwa die Propheten des Alten Testamentes ihre Zeitgenossen überragten. Aber wir sind uns auch der tiefen Trennungen bewusst, die zwischen dem semitischen und unserem Denken, zwischen der Weltanschauung dort und hier vorhanden sind« (ZfP, Bd. 8, S. 289, 294).
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2.6 Reichs verbotene Schriften
und Familie auf die Literaturliste des »Göring-Institutes« kommen müssen. Was jedoch nicht der Fall war. Auch das lässt sich nachvollziehen. Sobald der NS-Staat, seine Vertreter oder seine Ideologie in Kritiken namhaft gemacht wurden, funktionierte die Abwehrstrategie »Das hat nichts mit uns zu tun« nicht mehr. Konkrete Kritik hatte zudem eine ganz andere Signalwirkung. Sie führte daher auch zu ganz anderen Reaktionen. Schon in den 1920er Jahren hatten NS-Größen wie Alfred Rosenberg linken und liberalen Journalisten, welche die Nationalsozialisten angriffen, für die Zeit nach einer etwaigen NS-Machtübernahme Repressalien angedroht (Rosenberg 1940, S. 92–112, 119, 401f.). Carl von Ossietzky gehörte zu denjenigen, die ihre Hitlerkritischen Beiträge aus der Zeit der Weimarer Republik dann tatsächlich mit dem Leben bezahlten. Ebenso dürften für die Inhaftierung Erich Mühsams und seine Ermordung am 10.7.1934 im Konzentrationslager Oranienburg dessen publizierte Warnungen vor dem Faschismus eine entscheidende Rolle gespielt haben. Ehm Welk kam 1934 drei Monate ins selbe KZ, weil er in einem Zeitungsartikel ironisch auf eine Goebbels-Rede reagiert hatte (Longerich 2010, S. 260). Dem »Nationalbolschewisten« Ernst Niekisch brachten sein 1932 erschienenes Buch Hitler – ein deutsches Verhängnis und andere regimekritische Publikationen eine achtjährige Haft ein, aus der er erst 1945 körperlich schwer geschädigt freikam (Niekisch 1932; Haffner 1980, S. 255). Auch der konservative Erfolgsautor Ernst Wiechert wurde 1938, nachdem er sich mit dem politisch verfolgten Martin Niemöller solidarisiert und die Teilnahme an der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs verweigert hatte, zunächst ins Zuchthaus, anschließend ins KZ Buchenwald eingewiesen. Die fünf Monate seiner Haft überlebte Wiechert nur mithilfe der Mithäftlinge (Barbian 1995, S. 398–409, 2010b, S. 405f.; Wiechert 2008). Anschließend machte Goebbels ihm persönlich klar, dass er »bei dem geringsten Anlass« wieder ins Lager käme, dann aber »auf Lebenszeit und mit dem Ziel der physischen Vernichtung« (ebd., S. 135f.; vgl. Longerich 2010, S. 405). Jan-Pieter Barbian bilanziert: »[S]obald offene Kritik am nationalsozialistischen Staat oder der NSDAP geübt wurde, scheute der Propagandaminister auch vor physischer Gewaltandrohung nicht zurück« (Barbian 1995, S. 398); sobald »ein Schriftsteller die ihm vom Regime gesetzten politischen Grenzen überschritt, setzte er nicht nur seine Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer und damit seine berufliche Existenz, sondern im Extremfall auch sein Leben aufs Spiel« (Barbian 2008, S. 20).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Aber inwieweit betraf das die Psychoanalyse? Welche psychoanalytischen Autoren übten – vor und nach 1933 – in ihren Publikationen solch eindeutige Kritik?
2.7
Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten? Eine Suche
Es waren offenbar nur relativ wenige, die schon vor 1933 die von der NSDAP ausgehende Bedrohung erkannten und öffentlich benannten (Koebner 1982). Die deutschen Kommunisten, soweit sie Stalins Linie folgten, sahen in der »sozialfaschistischen« SPD ihren Hauptgegner (Flechtheim 1976, S. 263–288; Hoppe 2007, S. 157–173, 291–328). Sie erwarteten schlimmstenfalls eine kurzlebige Hitler-Regierung, der umso schneller der endgültige Zerfall des Kapitalismus in Deutschland folgen würde. Daran glaubte auch die SPD: »Nach Hitler kommen wir« (Abosch 1982, S. 26ff.). Im Gegensatz zur kommunistischen Führung änderte der SPD-Vorstand jedoch nach dem NSDAP-Wahlerfolg vom September 1930 seinen Kurs (Zimmermann 2007, S. 9). Der nun oft mittels Karikaturen vermittelte Inhalt antifaschistischer SPD-Broschüren reduzierte sich allerdings »auf wenige handfeste Kernaussagen: - der Nationalsozialismus wird die Arbeiterbewegung blutig unterdrücken […] - allen Gruppen der arbeitenden Bevölkerung wird es unter den Nationalsozialisten schlechter gehen - Profiteure eines künftigen nationalsozialistischen Regimes werden die herrschenden ökonomischen Oberschichten sein - Hitler bedeutet Krieg« (ebd., S. 13f.).
In der Weltbühne (Auflage ca. 10.000 Exemplare – Wieland 1982, S. 81) konzentrierten sich Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky vor allem darauf, die Nazis lächerlich zu machen. Hitler sei eine »feige, verweichlichte Pyjamaexistenz«, schrieb Ossietzky zum Beispiel 1930 und sah in Reichskanzler Heinrich Brüning die weit größere Gefahr (Radkau 1982, S. 57, 67f.). Aber einige Intellektuelle nahmen sehr wohl vorweg, dass NS-Herrschaft Terror, Mord und Krieg bedeuten würde, und machten diese Befürchtung öffentlich. So schrieb Ernst Toller am 7.10.1930 in der Weltbühne, eine NS-Regierung werde mit blutigem Terror die »Linke« verfolgen; er prophezeite eine »Periode des europäischen Faschismus«, »deren Ablösung nur im Gefolge grauenvoller, blutiger Wirren und Kriege zu erwarten ist« (ebd., S. 72). Ebenfalls in der Weltbühne teilte Erich Mühsam Ende 1931 mit, bei einer Machtübernahme der Nationalsozialisten 246
2.7 Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten?
erwarte er »standrechtliche Erschießungen, Pogrome, Plünderungen, Massenverhaftungen« (ebd.). In Das Andere Deutschland – mit 40.000 Exemplaren »auflagenstärkste[s] Blatt des deutschen Pazifismus« – war ab September 1930 über die Nationalsozialisten zu lesen, diese wollten »Freiheit des Rüstens […]. Raum und Weltgeltung für ein deutsches Hundertmillionen-Volk […]. Zertrümmerung der Demokratie«, »Erdrosselung der freien Gewerkschaften und Umwandlung in halbmilitarisierte faschistische Gebilde«; sie betrieben »nationalistische Aufrüstungs- und Intrigenpolitik mit dem Ziel der Sprengung des Völkerbundes und des Revanchekrieges«, seien »fanatische Entfacher des neuen Weltkrieges«, der »Deutschlands Vernichtung« und »die völlige Vernichtung der europäischen Kultur« bringen werde (Wieland 1982, S. 91–94). Die katholische, sozialistische und republikanische Impulse aufnehmende Zeitschrift Deutsche Republik (Auflage ca. 20.000) erkannte schon Anfang 1929, dass der internationale Faschismus »zusehends zur weltpolitischen Größe« und der »Aufmarsch der deutschen ›Faszisten‹« zur elementaren Bedrohung werde. Die Deutsche Republik betrachtete sich selbst ab September 1931 als »antifaschistische[s] Kampfblatt« und warnte 1932, der Faschismus werde von »Deutschland nur Kasernen, Zuchthäuser und Gräber übrig lassen« (Prümm 1982, S. 108, S. 133). Bereits im Jahresband 1929/30 findet sich sogar etwas, das sich als Prophetie herausstellen sollte, Beitragsautor Hugo Hugin aber so absurd vorkam, dass er es als Satire formulierte: »Man kann überhaupt alle Juden totschlagen, 600.000 Mann, Frau und Kind, da wir jedes Jahr 400.000 Mäuler mehr zu füttern haben, ist aus dem natürlichen Bevölkerungswachstum die Lücke in 1,5 Jahren wieder geschlossen« (ebd., S. 136). Ein Zitat aus der Deutschen Republik vom Juli 1931 (ebd., S. 130) belegt zudem, dass auch andere auf Fragen stießen, wie ihnen Reich dann in der Massenpsychologie des Faschismus nachgehen sollte. Ernst Fischer480 machte nämlich »den dringlichen Vorschlag, ›materialistische Geschichtsbetrachtung und Psychoanalyse‹«, »Freuds Unbehagen in der Kultur und den ›ungeheuerlichen Erfolg des Nationalsozialismus‹« zusammenzudenken:
480 Vermutlich der österreichische Schriftsteller, Journalist und »Links«-Politiker Ernst Fischer (1899–1972), der 1931 das Buch Krise der Jugend verfasste. Fischer könnte von Reich inspiriert worden sein – jedenfalls legt das Anson Rabinbach ohne Angabe von Quellen nahe (Fallend 1988, S. 192). Kontakte zwischen Beiden scheint es allerdings nicht gegeben zu haben; weder Fischer (persönliche Mitteilung von B.A. Laska vom 3.12.2010) noch Reich kommen in ihren Lebenserinnerungen aufeinander zu sprechen. Fischer, der 1931 im Gegensatz zu Reich noch SPÖ-Mitglied war, dürfte mit den zitierten Sätzen also seine eigene Sichtweise wiedergegeben haben.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
»Nicht das Unbehagen in der Kultur, sondern das Unbehagen in der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen und zu zeigen, wie soziale Krankheiten (etwa der Nationalsozialismus) nicht nur aus rationalen Voraussetzungen (im Fall Nationalsozialismus: die Krise des Kapitalismus, die Proletarisierung des Kleinbürgertums, die Last der [Versailler] Friedensverträge usw.) sondern auch aus irrationalen Elementen (die Sehnsucht einer entnervten Generation nach einem starken Mann, nach dem Führer, dem Diktator, ihre sexuelle Abwegigkeit, ihre Todeslüsternheit usw.) abzuleiten sind. Ferner zu zeigen, wie gesellschaftliche Konstellationen zu seelischen Ereignissen werden, wie es etwa dem Kapitalismus gelingt, Hunderttausende für sich zu gewinnen, die weit mehr an seinem Sturz als an seinem Bestand interessiert sind, welche Instinkte es sind, die der Demagoge für sich wirksam macht, wie es zu Massenbildungen und Massenerhebungen kommt. Schließlich zu zeigen, welche Bedeutung das Symbol hat (Fahne, Uniform, Abzeichen, Schlagwort), welche Kräfte durch völlig irrationale, durch magische Mittel entfesselt werden. Das alles wäre eine Aufgabe, ebenso verlockend wie ungelöst.«
Zu Teilen hat Reich diese Aufgabe erfüllt, zu Teilen auch übererfüllt. Unter anderem indem er sich zusätzlich zu zeigen bemühte, wie im 20. Jahrhundert seelische Konstellationen zu gesellschaftlichen Ereignissen wurden. Vielleicht machten sich ja auch Psychoanalytiker, speziell jene, die emigrierten, über die Zukunft ähnlich sorgenvolle Gedanken wie die in den genannten Zeitschriften mitgeteilten. Öffentlich artikuliert haben sie diese jedoch offenbar so gut wie gar nicht, auch nicht in ihren Publikationen. Im August 1932 nahm Ernst Simmel in seinen Artikel Nationalsozialismus und Volksgesundheit einige psychoanalytisch fundierte Bewertungen Hitlers und seiner Bewegung vor: »Hitler […] macht sich anheischig, die Menge von der Ausweglosigkeit ihres Denkens zu befreien durch das einfache Mittel, daß er jeden einzelnen vom individuellen Nachdenken über seine Lage dispensiert. Er appelliert an das Gefühl und spekuliert dabei gleichzeitig auf die denkmüde Verantwortungsscheu des Volkes […]. Man will in Hitler gar nicht den politischen Führer, sondern einen Messias sehen […]. Die Hitler-Bewegung ist nun, psychologisch gesehen, eine Wiederherstellung des Kriegszustandes für ihre Anhänger. Es herrscht wieder absolute Befehlsgewalt des einen unverantwortlichen Führers, der allen anderen die Schuldgefühle und damit ihre Verantwortung abnimmt. Der Feind steht wieder außerhalb der Gemeinschaft. Diesmal ist es der Jude, der Marxist, der Andersdenkende überhaupt« (Simmel 1993a, S. 154, 161).
Als Erklärung dafür, »daß in eine solche Bewegung so viele Menschen hineingeraten, die aufgrund ihrer Klassenlage und ihrer Mentalität eigentlich« auf die 248
2.7 Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten?
»Seite […] des Proletariats gehören«, schlägt er lediglich vor, »daß der Hitlerismus […] ihre klare Einsicht umnebelt« und das »bewußte Ich […] gelähmt und überrannt« wird »von unkontrollierbaren Strebungen unbewußter Instinkte« (ebd., S. 161f.). Was sie dafür bereit machte, sich »umnebeln« zu lassen, fragte er nicht. Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Der sozialistische Arzt. In psychoanalytischen Publikationen habe ich nur zwei inhaltlich identische Stellen gefunden, die belegen, dass der Nationalsozialismus noch vor seiner »Machtergreifung« thematisiert wurde – und zwar von Wilhelm Reich.481 Seit 1931 arbeitete er an dem Buch, das später Massenpsychologie des Faschismus heißen sollte. Thesen daraus stellte er im Juni 1932 in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft zur Diskussion. Die Zusammenfassung dieses Vortrags wurde in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 1933, S. 559f. sowie in englischer Übersetzung im Bulletin of the International Psychoanalytic Association, 13/1932 veröffentlicht. Diese kurze, von Sprachschludereien geprägte Meldung482 hat, wie sich noch zeigen wird, größere Bedeutung innerhalb der Geschichte analytischer Veröffentlichungen als man zunächst annehmen sollte. Sie lautete: »28. Juni 1932, Vortrag Dr. Reich: Massenpsychologische Probleme innerhalb der Wirtschaftskrise. – ›An der [sic] Hand der nationalsozialistischen Bewegung wird gezeigt, dass die familiäre Situation des Kleinbürgertums seine Radikalisierung im Sinne der politischen Reaktion statt in dem der Revolution abbiegt [sic]. Der Nationalsozialismus erfüllt die Rebellion der Mittelschichten mit reaktionären Inhalten, zu deren Annahme die frühere soziale und familiäre Lage besonders disponierte. Die Analyse des effektiven [affektiven? – A.P.] Gehaltes der Rassentheorie ergibt, dass nordisch-rassig gleich rein, d.h. asexuell setzt [sic], fremdrassig dagegen das Sinnliche, niedrige Tierische meint.‹ – Diskussion: Staub, Schultz-Hencke, Fenichel, Simmel, Bernfeld. Dr. Felix Boehm, Schriftführer.«
481 Auch Horst-Eberhard Richter schreibt: »Wilhelm Reich und Ernst Simmel waren die letzten deutschen Psychoanalytiker, die unmittelbar vor ihrer Flucht in die Emigration das Thema der massenpsychologischen Hörigkeit noch einmal öffentlich aufgriffen« (Richter 2003, S. 133). 482 Ludger M. Hermanns informierte mich darüber, dass zum damaligen Zeitpunkt die Referenten die Aufgabe hatten, ihre Zusammenfassungen für die Zeitschrift selbst zu formulieren. Da Reich sicher keine so schludrige Zusammenfassung geliefert hatte, dürfte es sich um Fehler handeln, die beim Abschreiben seiner vielleicht handschriftlichen Mitteilung entstanden.
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Um neben Reich weitere psychoanalytische Autoren ausfindig zu machen, die sich mit dem Faschismus auseinandersetzten, bin ich die fünf zwischen 1956 und 1960 erschienenen Bände des Grinstein-Index sowie deren bis 1965 erschienene Ergänzungs- und Nachtragsbände durchgegangen. Dieses Verzeichnis hat den (allerdings nicht vollständig eingelösten)483 Anspruch, komplett zu erfassen, was Psychoanalytiker zwischen 1900 und 1952 innerhalb und außerhalb von Fachblättern publiziert haben, in allen Sprachen und zu allen – auch nichtpsychologischen – Themen. Ich habe mir dort sämtliche Verweise zu den Stichwörtern »Fascism«, »fascist«, »National socialism«, »Nazi(s)«, »Nazi Germany«, »Hitler«, »Hitlerism« angesehen, darüber hinaus alles zu den Stichwörtern »Germany« und »German«, wo ich eine Thematisierung des NS-Systems für wahrscheinlich hielt. Allerdings war schon die Zahl der hierfür angegebenen Treffer mit knapp 40 gegenüber den insgesamt mehr als 50.000 aufgelisteten Arbeiten, von denen mindestens die Hälfte nach 1930 entstanden sein dürfte, verschwindend gering. Ergebnis der Suche: Abgesehen von einem Hinweis auf Reichs Massenpsychologie stammte der früheste von Grinstein aufgeführte Artikel aus dem April 1939. Es ist Gregory Zilboorgs A psychiatrist looks at Hitler, erschienen in der US-Zeitschrift The New Republic.484 Hierbei handelt es sich allerdings um einen ausgesprochen oberflächlichen »psychopathologischen Befund«: Auf zwei Druckseiten wird aufgrund teils eher fragwürdiger Quellen zum Beispiel behauptet, Hitler sei ein einsamer Mann, auf impulsive Weise aggressiv, fühle mehr als er denke. Auch die wenigen psychoanalytisch anmutenden Sätze sind inhaltlich wenig ergiebig: »Wir wissen nichts über Hitlers Mutter, aber es gibt genügend Belege, die uns berechtigen anzunehmen, dass Hitler an einer schrecklichen unbewussten Wut ihr gegenüber leidet […], er mag Süßigkeiten aber hasst Fleisch« (Übers. A.P.) – was man ja oft bei Neurotikern finde, deren Mutterprobleme unbearbeitet seien. Kurz: Dieser Artikel kann nicht als ernsthafte Beschäftigung eines Analytikers mit dem Phänomen Hitler gelten.485 Erste Erwähnungen des Faschismus in psychoanalytischen Publikationen erfolgten laut Grinstein-Index erst 1940. Das legt also nahe, dass bis Ende 1939 – mit Ausnahme von diversen Schriften Reichs, Simmels 1932er Artikel und Zilboorgs
483 Michael Giefer verweist auf ca. 200 nicht berücksichtigte Veröffentlichungen, darunter vorwiegend Buchbesprechungen (Fenichel 1998, Bd. 2, S. 2007). 484 Philip Bennett verschaffte mir eine Kopie. 485 Gleichwohl hätte er von einem NS-Verbot, wie es für andere ausländische Publikationen, zum Beispiel die Wilhelm Reichs, im Deutschen Reichsanzeiger mitgeteilt wurde, betroffen sein können. Dafür habe ich aber keinen Hinweis gefunden.
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Auslassungen – keine offene psychoanalytische Auseinandersetzung mit dem Thema Faschismus publiziert wurde. Doch mit diesem Ergebnis wollte ich es nicht bewenden lassen. Ein derartig geringes öffentliches Engagement der damaligen Analytiker erschien mir nicht vorstellbar. Ich recherchierte also weiter, befragte auch andere Kollegen, die die Psychoanalysegeschichte erforschen. Zunächst las ich sämtliche Überschriften486 der zwischen 1932 und 1939 verfassten Beiträge der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, der Imago (beide erschienen bis 1937 sowie 1939–1941), der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (erschienen bis 1937), der Psychoanalytischen Bewegung (erschienen bis Dezember 1933), des International Journal of Psychoanalysis, des Psychoanalytic Quarterly, des The Psychoanalytic Review sowie der American Imago (erschienen ab 1939): Das Stichwort »Faschismus« taucht dort nicht auf. Wenn man sich die Titel der in die Tausende gehenden psychoanalytischen Zeitschriftenartikel der Jahre 1932 bis 1939 ansieht, ist es schwer fassbar, dass Themen wie »Der Neger und seine Kirche«, »Heilige und profane Katzen« oder »Die KreutzerSonate: Ein Problem latenter Homosexualität und Kastration« (Übers. A.P.) (Psychoanalytic Review, 1934, 1935, 1938) vielfach Platz eingeräumt wurde, während es die politische Realität Europas, die viele der Schreibenden und deren Angehörige existenziell bedroht hatte bzw. noch immer bedrohte, niemals bis in die Titelzeilen schaffte. Dann sichtete ich die Publikationslisten von Simmel, Fromm und Fenichel – also derjenigen, die am ehesten für politische Stellungnahmen infrage kamen.487 Bei Simmel fand ich nur den bereits erwähnten Artikel von 1932 (Simmel 1993a, S. 229–238). Ludger M. Hermanns machte mich allerdings darauf aufmerksam, dass ein Beitrag Simmels für eine 1937er Ausgabe des Bulletins der US-amerikanischen Menninger-Klinik einen Passus beinhaltet, in dem auch die Bücherverbrennung erwähnt wird: 486 Das ist für die englischsprachigen Zeitschriften unter www.pep-web.org möglich, wo auch kostenlos jeweils kurze Auszüge bzw. Abstracts zu finden sind. 487 Auch für den »linken« und vielfach publizierenden Analytiker Siegfried Bernfeld ließe sich vermuten, dass er sich zum Faschismus öffentlich artikuliert habe. Dennoch habe ich nichts dergleichen gefunden. Das passt zu einer Aussage Richard Bachers. Dieser hält bezüglich zweier Briefe an den Psychologen Wilhelm Wirth, in denen Bernfeld am 12.6. und 13.8.1934 die Auswirkungen von Gleichschaltung und Judendiskriminierung kritisiert, fest, diese Kritik gehörte zu den »spärlichen direkten Aussagen Bernfelds zum Thema Nationalsozialismus« (Bacher 1992, S. 197f.).
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»Obwohl die gegenwärtige Regierungspartei in Deutschland Freuds Werke öffentlich verbrannt hat, bleibt die seinerzeitige historische Mission488 davon unberührt. Freud persönlich kann sich nicht dadurch beleidigt fühlen, denn niemand kann besser als er das Wirken des Todestriebs verstehen, gerade in der Kollektivseele, wie sie sich z.B. in der praktischen Politik einer Nation manifestiert« (ebd., S. 175).
In den zahlreichen Rezensionen von Otto Fenichel, der über internationale analytische Publikationen bestens informiert war und wohl bevorzugt jene besprach, die sich mit politischen Themen befassten, deutet vor 1940 nichts auf eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus hin (Fenichel 1998, Bd. 2, S. 2006–2026). In Fenichels Rundbriefen bin ich jedoch auf einen Hinweis gestoßen (ebd., Bd. 1, S. 567, 568). Dort wird ein Artikel von Heinrich Löwenfeld aufgeführt, der unter dem Pseudonym »Jiri Benda« über Die Psychologie des Faschismus schrieb. Dieser Artikel beruhte auf Teilen eines 1935 in Prag gehaltenen Urania-Vortrags und wurde 1937 in der auf historische Fragen ausgerichteten tschechischen Zeitschrift Geschichte und Gegenwart gedruckt. Löwenfeld nutzte hier Gedanken aus Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse und Reichs Massenpsychologie des Faschismus. An seiner negativen Wertung des Faschismus, speziell dessen deutscher Spielart, ließ er keinen Zweifel. In seiner Nachrede zu diesem Artikel (Lowenfeld 1977, S. 578) entdeckte ich, dass Löwenfeld bereits 1933 für die in Prag erscheinende Neue Weltbühne den Beitrag Geburt einer neuen Religion? verfasst hatte. Unter dem Pseudonym »Heinrich Lind« schreibend, konstatierte er dort: »Erst das Nebeneinander von bestialischer Triebentfesselung und brünstigem Schauern religiöser Führer- und Staatsvergötterung, von knechtseliger Selbstvernichtung und privater Opferbereitschaft ergibt die eigentümliche Luft, in der Deutschland lebt, ergibt eine geistige Höhlenexistenz, vor der ein Außenstehender fassungslos ist« (zitiert in Mueller 2000, S. 132).
488 Im Artikel wird nicht klar, was er damit meint. Wahrscheinlich bezieht er sich darauf, dass das Heilungspotenzial der Psychoanalyse in Kliniken wie dem ehemals von ihm in Berlin geleiteten Sanatorium oder nun in der Menninger-Klinik möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden sollte. Indem er fortsetzt: »Die Behandlung des Todestriebes wird zum Problem für die psychoanalytische Psychohygiene«, macht er deutlich, für wie real, behandelbar und behandlungsbedürftig er diesen Trieb hält. Schon zuvor hatte er im selben Beitrag als in der Menninger-Klinik geltendes Behandlungsziel formuliert: »Eros und Destruktionstrieb sind die Mächte, die bei dem einzelnen Patienten gestärkt bzw. geschwächt werden sollen« (Simmel 1993a, S. 168, 175).
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Löwenfeld schloss hier mit einer Warnung vor »der deutschen Gefahr für die Welt«. Aus dieser Gefahr ergäben sich die Notwendigkeiten, zum einen »die Bedingungen festzustellen, die zur Geburt solcher religiöser Massenphänomene führen«, und zum anderen, »seelische Kräfte, die aus der materiellen und ideellen Not gewachsen sind, in den Dienst für die sozialistische Zukunft zu stellen« (ebd., S. 133). Löwenfeld-Biograf Thomas Mueller verwies mich auf einen weiteren, ebenfalls noch 1933 erschienenen Weltbühnen-Beitrag Löwenfelds: Von den Quellen einer Ideologie, der dem vorherigen Artikel »an Schärfe in nichts nach[steht]: Gegenstand der Polemik ist das Verhalten des deutschen ›Kleinbürgertums‹, dem unter dem ›siegreichen Nationalsozialismus‹ erlaubt ist, ›alle Instinkte des Neids, des brutalen Nächstenhasses im politischen Kampf auszutoben; es erlebt täglich von oben herab die Verwirklichung seiner verbotensten Rachegedanken« (ebd.). Dass sich auch Löwenfeld um eine zugleich »linke« wie auch psychoanalytisch basierte Faschismuskritik bemühte, ist eindeutig. Allerdings wurde er erst 1937 außerordentliches Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (ebd., S. 133), sodass bestenfalls sein 1937 erschienener Beitrag als der eines Mitglieds einer analytischen Organisation gelten kann. Beim Blick in Fromms Rezensionen (Fromm 1989, Bd. 10, S. 381–391) wurde ich nicht fündig, was die ausdrückliche Thematisierung des Faschismus betraf. Der Psychoanalytiker und Fromm-Biograf Rainer Funk machte mich jedoch auf eine andere Stelle aufmerksam, an der man Derartiges kaum vermuten würde und die auch Grinstein offenbar nicht gefunden hat:489 In The Social Philosophy of »Will Therapy« – 1939 veröffentlicht in dem in Washington erscheinenden Fachjournal Psychiatry, S. 229–237490 – setzte sich Fromm mit Auffassungen Otto Ranks auseinander, die ihm Parallelen zur faschistischen Ideologie aufzuweisen schienen (ohne dass er deshalb Rank für einen Faschisten hielt).491 Hier benannte 489 Rainer Funk ermöglichte mir auch, die digitalisierte Fromm-Gesamtausgabe nach den entsprechenden Stichworten zu durchsuchen. Aber es blieb dabei: Die 1939er Rank-Rezension enthält die erste explizite gedruckte Auseinandersetzung Fromms mit dem Thema Faschismus. Die Resultate der von Fromm und anderen bereits Anfang der 1930er Jahre durchgeführten Untersuchung Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches (Fromm 1989c, vgl. Funk 1998, S. 67ff.) wurden erst 1980 veröffentlicht. 490 Erste deutsche Übersetzung in Fromm (1989, Band VIII, S. 97–108): Die Sozialphilosophie der »Willenstherapie« Otto Ranks. 491 Diese Arbeit über Rank war die einzige Schrift, bei der Fromm zögerte, ob sie in die Gesamtausgabe Aufnahme finden solle, weil er Rank doch vielleicht Unrecht getan habe (persönliche Information von Rainer Funk vom 24.5.2012).
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Fromm als Charakteristika des Faschismus vor allem den »Relativismus« (»daß es keine Wahrheit gibt und daß das Suchen nach Wahrheit vergeblich oder sogar schädlich ist«) sowie die »autoritäre Einstellung«: »Die faschistische Philosophie unterteilt die Menschen in zwei Gruppen, in die Mächtigen, die töten müssen, und in die Machtlosen, die getötet werden müssen. Es ist eine Hierarchie, in der jeder jemanden über sich hat, dem er sich unterordnen muß, und jemanden unter sich, über den er herrscht. Selbst der Führer – als höchstes Wesen – ist dem Schicksal, der Vorsehung oder Gott unterworfen« (Fromm 1989, Bd. 8, S. 106f.).
Zum »Führerprinzip der Faschisten« schrieb er: »Als Individuum bist du nichts […], wenn du dich aber dem Führer völlig unterwirfst, dann kannst du […] an seinem Glanz und seiner Stärke teilhaben« (ebd., S. 108). Regine Lockot erinnerte mich zudem an eine öffentliche Kontroverse von 1934. Hier stand auf der einen Seite der ehemalige »Kronprinz« Sigmund Freuds und nunmehrige analytische Psychologe, der Schweizer C.G. Jung. Seit 1933 gab er das in Deutschland erscheinende Zentralblatt für Psychotherapie heraus. Sein Kontrahent war der 1930 DPG-Mitglied gewordene Schweizer Psychoanalytiker Gustav Bally, der Deutschland 1933 wegen »Staatsfeindlichkeit« hatte verlassen müssen (Lockot 2002, S. 97). Bally reagierte am 27.4.1934 in der Neuen Zürcher Zeitung empört auf antisemitische Äußerungen Jungs im Zentralblatt für Psychotherapie und hielt Jung dabei unter anderem entgegen: »Wer sich mit der Rassenfrage als Herausgeber einer gleichgeschalteten Zeitschrift vorstellt, muß wissen, daß sich seine Forderung vor dem Hintergrund organisierter Leidenschaft erhebt, der ihr schon die Deutung geben wird, die in seinen Worten implizit enthalten ist« (zitiert ebd.). Auf diesen Artikel Ballys weist der Grinstein-Index unter den von mir überprüften Stichworten ebenso wenig hin wie auf die erwähnten Beiträge von Löwenfeld und Fromm. Vielleicht war also doch in der Fülle der in diesen acht Jahren veröffentlichten Artikel mehr eindeutig Faschismuskritisches enthalten, vielleicht auch im Text versteckt, als die jeweiligen Überschriften vermuten lassen? In den deutschsprachigen Publikationen492 habe ich die, allerdings nicht in jedem Fall vorliegenden, Stichwortverzeichnisse nach »Faschismus«, »faschistisch«, »Nationalsozialismus«, »nationalsozialistisch« und »Hitler« durch492 Imago, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Psychoanalytische Bewegung, IPV-Korrespondenzblatt.
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sucht.493 Ergebnis: keine entsprechenden Einträge. Bei gänzlichem Verzicht auf die Verwendung dieser Wörter kann das Thema jedoch nicht explizit abgehandelt worden sein. Zusätzlich habe ich mir angesehen, was jeweils in Bezug zum Stichwort »Juden« vermerkt war. Auch hier: kein Zusammenhang mit Faschismus. Schließlich habe ich mir jeden Artikel gründlicher vorgenommen, bei dem ich es für möglich hielt, dass dieses Thema berührt wurde. Doch auch hier wieder: keine wirklichen Treffer. Denn dass in der Psychoanalytischen Bewegung (Bd. 1932, S. 92) kommentarlos erwähnt wird, ein holländischer Soziologe habe sich nicht nur gegen »Bolschewismus« und kapitalistischen »Liberalismus«, sondern auch gegen »Fascismus« ausgesprochen, lässt sich nicht als Auseinandersetzung werten.494 Im Heft Mai/Juni 1933 der Psychoanalytischen Bewegung (Bd. 1933, S. 277) habe ich eine – bemerkenswert nüchterne – Erwähnung der Bücherverbrennung gefunden. In der Rubrik »Echo der Psychoanalyse« ist dort vermerkt: »Auch Freuds Schriften wurden – laut Zeitungsnachrichten – im Laufe der Begebenheiten des national-sozialistischen Umsturzes teils beschlagnahmt, teils öffentlich verbrannt.« Politik kommt in diesen Publikationen ohnehin kaum vor. Und auch wenn in der Imago, Bd. 21/1935 Melitta Schmiedeberg einen Beitrag Zum Verständnis massenpsychologischer Erscheinungen schrieb oder Robert Wälder über Ätiologie und Verlauf der Massenpsychosen. Mit einem Anhang: Über die soziologische Situation der Gegenwart (!), dabei Kapitelüberschriften wie »Die Führersituation« oder »Eros und Aggression in intensiven partikulären Gemeinschaften« verwendend: Eine klare Bezugnahme auf den Faschismus fand nicht statt. Auch in den Mitteilungen zu vereinsorganisatorischen Fragen wurde die faschistische Aggression nicht offen benannt. Ernest Jones’ Bericht an den 14. IPV-Kongress im August 1936 im tschechoslowakischen Marienbad enthielt zum Beispiel den Satz, die Tschechoslowakei sei »eine Insel der Freiheit inmitten von Ländern, deren Bürger der Zensur und den Weisungen unumschränkter Machthaber unterworfen sind« (IZP, Bd. 23/1936, S. 164f.). Hier wurden nicht nur die Verhältnisse im – ungenannt bleibenden – Hitler-Deutschland verharmlosend mit denen anderer Staaten gleichgesetzt.495 Auch die längst weithin bekannte Terrorpraxis in deutschen Konzentrationslagern (Internationales Ärztliches Bulletin, Anhang LIII; Nitzschke 1997a, Fußnote S. 69) blieb unerwähnt. 1939, im Jahr nach der Österreich-Besetzung, teilte die Internationale Psychoanalytische Zeitschrift mit, Max 493 In dem von Michael Giefer digitalisierten deutschsprachigen IPV-Korrespondenzblatt ließ sich sogar der komplette Text exakt danach absuchen. 494 Im Stichwortverzeichnis taucht »Fascismus« dennoch nicht auf. 495 Dazu, dass auch Hitler- und »Austro«-Faschismus nicht gleichzusetzen waren, später mehr.
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Eitingon habe auf dem 15. IPV-Kongress von der »Katastrophe des Anschlusses« gesprochen, die – »nach der Auflösung der Berliner Institutionen« – nun auch noch das »tröstliche« Weiterbestehen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung beendet habe. Wer diese »Katastrophe« verursacht hatte, blieb jedoch ebenso unausgesprochen wie der Umstand, dass die DPG sich infolge ihres missglückten Versuchs, die Hinterlassenschaften der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu übernehmen (Lockot 2002, S. 158; Rothländer 2012, S. 85), selbst aufgelöst hatte. Schon der nächste Satz lautete: »Eitingon hob als weitere Enttäuschung [!] die Abwesenheit der Vertreter der amerikanischen Unterrichtsausschüsse […] hervor« (IZP Bd. 24/1939, S. 483f.).496 Für die erwähnten sieben englischsprachigen psychoanalytischen Zeitschriften bzw. Bulletins besteht eine weitere, sehr genaue Möglichkeit der Recherche. Die Webseite www.pep-web.org enthält deren komplette Texte. Hier lässt sich auch nach einzelnen Wörtern suchen.497 Das Ergebnis: Ich habe einen einzigen offenen Protest gegen das Vorgehen der deutschen Machthaber gefunden. Dieser wurde ausgelöst durch die Bedrohung Freuds nach der Besetzung Österreichs. Das American Journal of Psychiatry vom März 1938 hatte dazu eine kurze Erklärung veröffentlicht, die in Ausgabe 7/1938 des Psychoanalytic Quarterly kommentarlos nachgedruckt wurde. Dort heißt es zu Beginn: »Seit langem schon haben wir die Demütigungen und Misshandlungen schweigend mit angesehen, denen zahlreiche Männer, Frauen und ihre Familien – Freunde und Kollegen, bedeutende Vertreter der großen Kultur, die Deutschland einst hatte – ausgesetzt waren. Wir haben geschwiegen, weil wir sehr wohl wussten, dass es denen, für die wir uns einsetzen würden, nur schaden würde, wenn wir unsere Gefühle der Verachtung und unseren Protest lautstark vorbringen würden. Nicht, dass das Eindringen in eine private Wohnung etwas Einzigartiges wäre; es ist nur allzu gewöhnlich. Aber es schmerzt uns in diesem Fall ganz besonders, weil es Professor Sigmund Freud war, in dessen Wohnung man eindrang, sie verwüstete und ihm den Pass abnahm.«498 496 Ein wenige Seiten darauf veröffentlichter Nachruf auf die am 15.7.1939 in Prag verstorbene – und mit einem inzwischen exilierten jüdischen Psychiater verheiratet gewesene (siehe Mühlleitner 1992, S. 52) – Analytikerin Steff Bornstein blendete auch aus, dass es mittlerweile keine Tschechoslowakei mehr gab, dass die »Rest-Tschechei« einschließlich Prag seit März 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt und dem »Deutschen Reich« einverleibt worden war (IZP Bd. 24/1939, S. 491). 497 Allerdings nur gegen Entrichtung einer Gebühr. Ich verzichte im Folgenden darauf, bei von www.pep-web.org stammenden Informationen zusätzlich die genauen Seiten aus den jeweiligen Publikationen anzugeben. 498 »We have for a long time witnessed in silence the indignities and cruelties inflicted on men and women and their families, some of them our colleagues and friends, many of
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Gegen diese Behandlung Freuds – und nur dagegen – wurde in den letzten Zeilen »im Namen von zweitausend amerikanischen Psychiatern«, unter denen sich sicherlich viele Psychoanalytiker befanden, Protest eingelegt. Die Behauptung, dass es verfolgten Juden grundsätzlich geschadet hätte, wenn gegen ihre Verfolgung offen protestiert worden wäre, kann ich allerdings bestenfalls für eine Rationalisierung halten. Kommentarlos (»Es wird von Interesse sein, daß …«) war auch den Leserinnen und Lesern des Psychoanalytic Quarterly, Heft 3/1934 mitgeteilt worden, dass der »ehemalige Psychoanalytiker« C.G. Jung neuer Herausgeber des deutschen Zentralblattes für Psychotherapie sei, das nun staatlich kontrolliert werde und laut Jung in Zukunft zwischen »jüdischer« und »arischer« Psychologie unterscheiden werde. Es folgte wörtlich ein Zitat von »Prof. Dr. jur. Dr. med. M.H. Göring«, wonach dieser von allen Psychotherapeuten verlange, Hitlers Mein Kampf »mit allem wissenschaftlichen Ernst« durchzuarbeiten, um mitzuarbeiten »an dem Werke des Volkskanzlers, das deutsche Volk zu einer heroischen, opferwilligen Gesinnung zu erziehen«. Das Wort »Faschismus« wurde in den sieben englischsprachigen Publikationen vor 1944 nur einmal verwendet, und zwar in einer Rezension H. Mayors (offenbar kein Psychoanalytiker, jedenfalls weder in amerikanischen noch englischen Analytikervereinigungen registriert) von Reichs Massenpsychologie (im International Journal of Psychoanalysis 15/1934). Dies ist gleichzeitig offenbar die einzige Rezension der 1933er Massenpsychologie in einer psychoanalytischen Zeitschrift. Mayor setzte sich in diesem äußerst knappen Text (sechs Sätze plus ein Reich-Zitat) allerdings nicht mit dem Faschismus auseinander, sondern mit Reich. Diesem unterstellte er, Entstehung und Charakteristik faschistischer und nationalistischer Ideologie weniger unter analytischen, sondern eher unter marxistischen Gesichtspunkten zu untersuchen, zwar »analytischen Appetit« zu wecken, diesen jedoch nicht zu befriedigen, sich allerdings zu Recht gegen »Vulgärmarxismus« zu wenden. Mayor schloss daher: »Kommunisten täten gut daran, dieses Buch zu lesen«. Das Wort »fascism« wurde vor 1940 nur einmal, »fascist« an fünf Stellen beiläufig erwähnt, »nazi« zweimal, »nazism« gar nicht. »Nationalsozialismus«
them distinguished contributors to the fine culture that was Germany’s. We have been silent because we well knew that to express our feelings through vehement protest or condemnation would be to the disadvantage of those for whom we would speak. It is not that an assault on a home is unique. It is all too common; but a special poignancy is added to our distress at this time for it is reported that the home of Professor Sigmund Freud has been invaded, his passports taken, his personal effects disturbed.«
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tauchte überhaupt nicht auf, »National Socialism« nur in der erwähnten Übersetzung der Thesen von Reichs Vortrag vom 28.6.1932. »National socialist« fand 1937 einmal beiläufig Verwendung sowie einmal in einer weiteren Rezension einer Reich-Schrift: Die Sexualität im Kulturkampf (in Psychoanalytic Quarterly 6/1937). 1939 erschien es im Rahmen eines (politische Wertungen vermeidenden) Berichts über die Situation europäischer Emigranten: Von Juli 1934 bis Dezember 1938 seien 1.528 Ärzte von »Groß-Deutschland« in die USA emigriert, »im Zusammenhang mit der Epoche des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland«, erfuhr man dort (Bulletin of the American Psychoanalytic Association 27/1939). Vom »Third Reich« war einmal die Rede – auch hier ohne weitere Erörterung. »Concentration Camp«, »pogrom«: Fehlanzeige. Vor 1940 wurde »Hitler« elfmal benannt, ohne jedoch inhaltlich bedeutsame Aussagen daran zu knüpfen.499 »Hitlerism« tauchte nicht auf, ebenso wenig »Goebbels«, »[Hermann] Göring«, »Himmler«, »[Alfred] Rosenberg«, »Hess«, »Ley«, »Streicher«, »Heydrich«, »Gestapo«, »SS«, »SA« (bzw. »storm troops«) oder »NSDAP«. Auch an den fünf Stellen, an denen Antisemitismus erwähnt wurde, fand sich kein oder zumindest kein klarer Bezug zum Faschismus. Die zusätzliche Kontrolle der knapp 100 Stellen, an denen zwischen 1932 und 1939 »Germany« benannt wurde, erbrachte ebenfalls keine anderen Resultate. Die »ausführlichste« Thematisierung des Faschismus lieferte noch A.N. Foxe in einer Rezension des Buches Freud und Marx (Psychoanalytic Review 25/1938), geschrieben von dem Nicht-Psychoanalytiker Reuben Osborn. Foxe hielt hier einem Gedanken von Osborn in zwei, sehr nach Wilhelm Reich klingenden Sätzen entgegen, dass der Faschismus sehr wohl eine Massenbasis habe, ergänzte die Vermutung, Faschismus gründe in »anal-sadistischen Komponenten« und verwies schließlich kurz auf Parallelen zwischen Kommunismus und Faschismus bezüglich deren Aggressivität. Auf Platz zwei in puncto Ausführlichkeit folgen die »Notes and News« der Psychoanalytic Review 26/1939, wo stichwortartig festgehalten wurde: die Faschisten verbrannten Freuds Bücher, Freud musste vor dem HitlerRegime fliehen, der Faschismus habe die Basis der psychoanalytischen Bewegung zerstört. War Letzteres zumindest eine eindeutig kritische Wertung, so enthielten die weiteren Fundstellen nur äußerst kurze, beiläufige bis belanglose Erwähnungen. Als bloße Zeitangabe ist da zum Beispiel zu lesen: »nach Hitlers Revolution« oder 499 Das Bulletin of the International Psychoanalytical Association 16/1935 listet zwar auf, dass Iseult Grant Duff am 7.11.1934 vor der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft eine Studie über Hitlers Mein Kampf vorstellte. Näheres dazu erfährt man jedoch nicht. Diese Studie, die Duff offenbar der Psychoanalytic Quarterly einreichte, wurde auch nicht publiziert. Fenichel bezeichnet die Arbeit als »sehr mager« (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 214).
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»vor Hitler«. Oder der Faschismus fungierte als unreflektierte Rahmenbedingung einer Fallgeschichte (Weiss 1935) bzw. einer launigen Anekdote: Probanden hätten beim Anblick eines Fotos, das einen männlichen deutschen Mittelklasseangehörigen mit Rechtsscheitelfrisur zeigte, ausgerufen: »Das ist wohl Hitler?« – obwohl der Sexualmörder Fritz Haarmann abgebildet war (Christoffel 1936). Dass eine genauere Reflexion durchweg unterblieb, ist umso verblüffender, als ja viele Artikelthemen förmlich danach schrien, diese Realität einzubeziehen – wenn zum Beispiel massenpsychologische Aspekte, Kriegsneurosen, gegenwärtige Lage und Zukunft der Psychoanalyse oder Sprachprobleme in der Emigration thematisiert wurden. Aber es unterblieb.500 Prädestiniert für eine Thematisierung des Faschismus war auch die von Max Horkheimer herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung, die mehrfach faschismuskritische Beiträge publizierte (siehe Horkheimer 1980, Bd. 1, S. 63, Bd. 9, Gesamtregister). Tatsächlich veröffentlichten hier die Psychoanalytiker G. Bally, M. Grotjahn, O. Fenichel, E. Fromm, F. Fromm-Reichmann, K. Landauer, B. Lantos und W. Reich. Aber der Faschismus kommt auch in deren Beiträgen so gut wie nicht vor. 501 Bis auf zwei Ausnahmen: Karl Landauer rezensierte 1934, im Wesentlichen zustimmend, Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus sowie dessen Charakteranalyse (Horkheimer 1980, Bd. 3, S. 106f.), und Erich Fromm wies kurz darauf hin, dass sich Reuben Osborn zu »faschistischer Demagogie« äußerte (ebd., Bd. 6, S. 433). Wäre es nach Fromm gegangen, hätte er allerdings auch in dieser Zeitschrift umfassender Stellung bezogen. Rainer Funk verschaffte mir Einblick in einen Brief Fromms vom 20.8.1934 an Horkheimer, dem Fromm eine Rezension des Buches von Conrad Aiken, Hitler over Europe, für die Zeitschrift für Sozialforschung beigelegt hatte. In dieser Rezension schrieb Fromm: »Das Buch […] versteht den Nazismus eindeutig als Konsequenz der ökonomischen Kräfte und der Klassendynamik des deutschen Imperialismus. […] Es hat auch hinreichend Phantasie, um die außenpolitischen Pläne des Hitler-Imperialismus und 500 Auch David J. Fisher, der sich detailliert mit den »frühesten psychoanalytischen Untersuchungen« zum »Verständnis von Faschismus und Antisemitismus« beschäftigt hat (Fisher 2003, S. 99–119), führt diesbezüglich keine vor 1940 schreibenden Autoren auf; er konnte mir auch im Laufe unseres E-Mail-Verkehrs im Februar 2010 keine weiteren nennen. Auf Freuds Mitteilungen zu dieser Thematik werde ich noch eingehen. 501 Warum selbst Reich es in den beiden Rezensionen, die er dort veröffentlichte (Bd. 1, S. 232; Bd. 2, S. 435) bei allgemeineren Bezügen auf die aktuelle politische Situation beließ, ist mir nicht bekannt.
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die militärischen Möglichkeiten seiner Verwirklichung zu sehen. Wenn es sich von jeder Unterschätzung des Hitler-Faschismus freihält, so sieht es andererseits völlig klar die rein imperialistische, auf völlige Versklavung der Arbeiterschaft ausgehende, ganz im Dienst des Großkapitals stehende Funktion des Regimes« (Fromm 2006).
Zu einer Veröffentlichung dieser Buchbesprechung, in der Fromm zwar eher marxistisch als psychoanalytisch argumentierte, aber doch die Bedrohlichkeit des Dritten Reiches benannte, kam es nicht. Noch offensiver als die Zeitschrift für Sozialforschung setzte sich das Internationale Ärztliche Bulletin, das Zentralorgan der Vereinigung Internationaler Sozialistischer Ärzte mit dem Faschismus auseinander. Hier veröffentlichte zumindest ein Psychoanalytiker:502 Otto Fenichel. Er attackierte ein Buch des NS-Therapeuten Kurt Gauger, ließ dabei aber nur am Rande erkennen, dass er den Nationalsozialismus ablehnte (IÄB, Jg. 1936, Heft 1, S. 19). Der spätere Analytiker Heinrich Löwenfeld bezog, erneut unter dem Pseudonym »Heinrich Lind«, deutlicher Stellung gegen den Faschismus: Er rezensierte Reichs Massenpsychologie und stimmte mehreren von Reich dort vertretenen Thesen zu (ebd., Jg. 1934, Heft 3/4, S. 67f.).503 Zusammengefasst heißt das: Abgesehen von den erwähnten Publikationen Reichs, Simmels, Löwenfelds, Fromms, Ballys, Foxes und Zilboorgs, dem Protest der amerikanischen Psychiater gegen die Behandlung Freuds und den 1939er »Notes and News« der Psychoanalytic Review konnte ich unter mehreren Tausend Artikeln, Rezensionen, Mitteilungen, Büchern und sonstigen Veröffentlichungen von Psychoanalytikern in den Jahren von 1932 bis Ende 1939 keinerlei offen gegen Faschismus oder Nationalsozialismus gerichtete Beiträge entdecken. Darüber hinaus verwiesen Landauer und der Nicht-Analytiker Mayor in ihren Rezensionen der Massenpsychologie auf Reichs Faschismuskritik. Ausdrückliche Versuche, das Phänomen Faschismus einem psychoanalytischen Verständnis zuzuführen, wurden in diesem Zeitraum offenbar nur von Reich, Fromm und Löwenfeld veröffentlicht; Simmel, Foxe und Zilboorg stellten zumindest einige entsprechende Bezüge her. 502 Mehrere Autoren bzw. Rezensenten nutzten Pseudonyme, manche nur Anfangsbuchstaben. Es ist nicht auszuschließen, dass sich darunter auch weitere Psychoanalytiker verbergen könnten. 503 Opfer der NS-Publikationsverbote auch internationaler Schriften – wie sie zum Beispiel im Deutschen Reichanzeiger veröffentlicht wurden – wurde er allerdings weder unter seinem ursprünglichen Namen noch unter seinen Pseudonymen oder dem später amerikanisierten »Lowenfeld«.
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Hier ist nun auch der Platz, die Bedeutung jener Meldung über Wilhelm Reichs Vortrag vom 28.6.1932 zu Massenpsychologischen Problemen innerhalb der Wirtschaftskrise zu würdigen. Die Beiträge von Simmel, Fromm, Löwenfeld, Zilboorg und Bally wurden in nichtpsychoanalytischen Blättern veröffentlicht. Es ist möglich, dass in solchen Publikationen, zumal unter einem Pseudonym, zusätzliche Faschismuskritik von Psychoanalytikern veröffentlicht worden ist, die Grinstein nicht identifizieren konnte. Darüber hinaus sind auch die Querverweise im Grinstein-Index nicht immer exakt.504 Was die psychoanalytischen Zeitschriften betrifft, halte ich es hingegen für äußerst unwahrscheinlich, dass sich in diesem Zeitraum und zu dieser Thematik zusätzliche Artikel finden lassen, in denen der Faschismus offen, geschweige denn ausführlich thematisiert wurde. Das heißt: Ungeachtet ihrer Oberflächlichkeit und Kürze enthielt die 1932er Meldung über den Reich-Vortrag das Tiefgründigste, was in psychoanalytischen Publikationen acht Jahre lang – von 1932 bis Ende 1939 – an Faschismusanalyse mitgeteilt wurde. Eine leichte Tendenz zu offenerer oder wenigstens ausführlicherer Auseinandersetzung mit dem deutschen Regime vonseiten der Analytiker ist erst ab 1940 zu verzeichnen. Zu einer »Schwemme« psychoanalytischer Faschismuskritik kam es allerdings nicht, politisch neutrale Themen dominierten weiter in den psychoanalytischen Zeitschriften. Um nur einen der zahlreichen Artikel zu nennen, deren Titel in besonders starkem Kontrast zum aktuellen Weltgeschehen standen: 1940 veröffentlichte A.N. Foxe im Psychoanalytic Review einen Beitrag über die Terrorisierung der Libido und Schneewittchen (Orig.: Terrorization of the Libido and Snow White). Zwischen 1941 und 1951 entstanden allerdings auch mehr als 140 Artikel »über Kriegszeit-Themen«, verfasst von mehr als 120 Mitgliedern der Amerikanischen Psychoanalytischen Organisation, darunter zahlreichen Emigranten.505 Martin Grotjahn und andere schrieben in einer Einleitung zur Auflistung dieser Artikel im Bulletin of the American Psychoanalytic Association (1950/6S, S. 1–19 bzw. 1951/7, S. 358–372): »Als im Dezember 1941 der Krieg auch die USA erreichte, reagierten die Psychoanalytiker […] ebenso sehr wie andere Bevölkerungsgruppen. 504 So verweist er unter dem Stichwort »Hitler« nicht auf zwei – 1940 außerhalb psychoanalytischer Periodika und Verlage erschienene – Beiträge von Prynce Hopkins Hitler’s mental makeup und Mystica Fascista (Grinstein 1956–1960, Bd. 2, S. 928). 505 Auf diesen Sachverhalt und die entsprechenden Quellen machte mich Knuth Müller am 19.6.2011 aufmerksam.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
[…] Sich auf dem Gebiet der Psychoanalyse zu betätigen, ermöglichte spezielle Reaktionen« (Übers. A.P.). Dazu gehörte es, Artikel über militärpsychologische, -psychiatrische oder -medizinische Themen wie Kriegsmüdigkeit, Stress von Piloten und Befindlichkeiten von Kriegsheimkehrern zu verfassen. Diese erschienen zumeist in militärischen oder medizinischen Zeitschriften. Politisch neutral waren diese Artikel keinesfalls, sondern vielmehr – soweit sie bis 1945 geschrieben wurden – darauf ausgerichtet, die Kriegsführung der USA gegen NS-Deutschland zu unterstützen. Schon die Beitragstitel legen allerdings nahe, dass Psychosoziales darin keine Rolle spielte. Nur ein einziger Autor erwähnte im Titel diejenigen, gegen die dieser Krieg geführt wurde. Aber auch er schrieb nicht direkt über sie, sondern über deren Gegner – und das auch erst im Nachhinein: 1948 veröffentlichte David M. Levy den Beitrag Anti-Nazis. Criteria of Differentiation. Auch in den Artikeln über »Kriegszeit-Themen« scheint der Faschismus also nicht explizit behandelt worden zu sein. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass der Grinstein-Index unter den entsprechenden Stichworten nicht auf diese Beiträge verweist. Insgesamt habe ich im Grinstein-Index nur knapp 20 Verweise auf Artikel und Bücher entdecken können, die sich zwischen 1940 und Ende 1946 ausdrücklich mit dem Thema Faschismus befassten. Oft wurden dabei aber keine eigene Wertung des Faschismus mitgeteilt oder nur Publikationen anderer, auch nichtanalytischer Autoren zu dieser Thematik rezensiert. So besprach Ernest Jones (International Journal of Psychoanalysis 24/1943) Peter Nathans The Psychology of Fascism, setzte sich dabei aber mehr mit Stärken und Schwächen des Autors auseinander als mit dem Faschismus. 1940 erwähnte Jones in seinem Freud-Nachruf »Nazi-Invasoren« und »Nazi-Intoleranz« und gab zum Besten: Ebenso wie Oscar Wilde oder Schopenhauer hätte auch »Herr Hitler« möglicherweise ein »glücklicheres Leben« geführt, wenn er sich »medizinischen Rat« – gemeint ist wohl: analytische Therapie – verschafft hätte (International Journal of Psychoanalysis, 21/1940). Im selben Jahr publizierte Otto Fenichel einen Artikel über Psychoanalysis of Anti-Semitism (in American Imago 1B/1940) – ohne Nationalsozialismus oder Faschismus beim Namen zu nennen. Allerdings machte er mehrfach klar, dass es ihm genau darum ging, unter anderem, wenn er fragte: »Ist die Triebstruktur des durchschnittlichen Deutschen 1935 eine andere als 1925?« Seine Antwort: sicherlich nicht. 1941 bezog Erich Fromm als erster nach Reich506 (und Löwenfeld) ausführli506 So ordnete es bereits Helmut Dahmer (2009b, S. 259) in einem 2007 gehaltenen Vortrag ein: Reichs Massenpsychologie »blieb auf Jahre hinaus der einzige Versuch eines psychoanalytischen Psychologen, das Phänomen der zur Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung eingesetzten kleinbürgerlichen Massenbewegung sowie die Funktion der
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2.7 Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten?
cher öffentlich Stellung. Er widmete ein ganzes Kapitel seines Buches Escape from Freedom (dt.: Die Furcht vor der Freiheit) der »Psychologie des Nazismus« (Fromm 1989a, S. 338–357). »Der Nazismus ist«, so Fromm dort, »ein psychologisches Problem, aber man muß die psychologischen Faktoren aus den sozioökonomischen Faktoren verstehen; der Nazismus ist ein ökonomisches und politisches Problem, aber daß er ein ganzes Volk erfaßt hat, ist mit psychologischen Gründen zu erklären.« Dementsprechend bezog er gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse wie den Ausgang des Ersten Weltkriegs ebenso ein wie den »Gesellschaftscharakter des Kleinbürgertums«, der unter anderem von »Vorliebe für die Starken«, Hass auf die Schwachen und Fremden sowie »Streben nach Unterwerfung« bei gleichzeitiger »Gier nach Macht« geprägt sei – »Charakterzüge, auf welche die Naziideologie eine so große Anziehungskraft ausübte.« Eine der Kernthesen Fromms lautete: »Hitlers Persönlichkeit, seine Lehren und das Nazi-System« seien »eine extreme Form« der »autoritären« Charakterstruktur, wodurch Hitler eben »jene Teile der Bevölkerung so stark ansprach, die – mehr oder weniger – die gleiche Charakterstruktur haben« (ebd., S. 339–346). Damit stimmte Fromm nicht nur mit entsprechenden Thesen Reichs überein, sondern knüpfte zugleich an eigene frühere Arbeiten an. 1929 hatte Fromm in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung einen eigenständigen Weg empirischer Forschung eingeschlagen: mittels einer Fragebogenerhebung bei Arbeitern und Angestellten im Rheinland. Dies war »die erste sozialpsychologische Feldforschung überhaupt, die mit der psychoanalytischen Einsicht Ernst machte, daß die in Parteibekenntnissen und Parteizugehörigkeit geäußerte politische Überzeugung von den unbewussten Motiven verschieden sein könnte« (Funk 1998, S. 67). Mittels dieser Studie ließ sich »bereits vor der Machtergreifung Hitlers sagen, daß gerade die in Parteien und Gewerkschaften erzogenen Arbeiter trotz ihrer revolutionären Bekenntnisse nicht jenen Widerstand gegen ein autoritäres und diktatorisches Regime verkörperten, den man ihnen gern zuschrieb und von dem die Arbeiter selbst überzeugt waren« (ebd., S. 68). Nicht zuletzt aufgrund der »Rechts«-Tendenz in Deutschland unterblieb allerdings eine Veröffentlichung der Ergebnisse, die letztlich erst 1980 publiziert werden sollten (Fromm 1989c).507 Die bei der Feldstudie gewonnenen Erkenntnisse schlugen sich jedoch bereits in Fromms Teil der Studien über Autofaschistischen Propaganda und Kulturpolitik sozialpsychologisch zu deuten. Seine Interpretation des braunen Kults als phantastischer Befriedigung antikapitalistischer Sehnsüchte nahm Fromms Argumentation in seinem (1941 veröffentlichten) Buch Die Furcht vor der Freiheit im wesentlichen vorweg.« 507 Dass diese Erhebung dann auch 1936 oder 1937 im Exil nicht veröffentlicht wurde, hatte vor allem mit dem sich verschlechternden Verhältnis von Horkheimer und Fromm zu tun (persönliche Information von Rainer Funk vom 24.5.2012).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
rität und Familie von 1936 nieder (Fromm 1989b; vgl. Funk 1998, S. 67ff.). Hier befasste er sich ausführlich mit Fragen, die auch für ein psychologisches Verständnis des Faschismus zentrale Bedeutung hatten – ohne dies allerdings ausdrücklich so zu benennen.508 Ebenfalls 1941 widmete sich Ernst Kris in einem Artikel der American Imago (Heft 2, S. 2–43) dem Thema »The ›danger‹ of propaganda«.509 In dessen zweiter Hälfte ging er ausführlich auf die NS-Propaganda ein und setzte sich dabei auch wiederholt mit massenpsychologischen Fragen auseinander. Im selben Jahr schrieb Ernest Jones »über die Grundhaltung der ›Quislinge‹ [abgeleitet vom Namen des norwegischen Faschistenführers Vidkun Quisling – A.P.], jener ›psychologischen Kollaborateure‹ unter den englischen Patienten, welche die Gefährlichkeit Hitlers nicht verstehen konnten« (Diem-Wille 2005, S. 78). 1942 erschien im Fachblatt Psychiatry ein längerer Artikel von Erik Erikson über Hitlers Imagery and German Youth (1944 wies Martin Grotjahn in Psychoanalytic Quarterly 13 darauf hin). Dabei handelte es sich um die Weiterführung einer bereits vor 1933 in Europa begonnenen Arbeit (Friedmann 1999, S. 166–176).510 1943 folgte Bruno Bettelheims Aufsatz Individual and Mass behavior in Extreme Situations, in dem Bettelheim seine eigenen Erfahrungen in deutschen KZs verarbeitete (Fisher 2003, S. 99–119). 1944 widmete Fenichel Escape from freedom eine umfangreiche Besprechung, in der er auch ausführlicher auf Fromms dort gegebene Faschismusanalyse zu sprechen kam (Psychoanalytic Review 31). Bis 1946 lieferten Löwenfeld (nun: Henry Lowenfeld) und einige wenige andere weitere, meist knappe Beiträge, vorwiegend Rezensionen, in denen das Thema Faschismus auftauchte. Bezeichnend scheint mir auch hier der hohe Anteil von Psychoanalytikern zu sein, die sich, wie Fenichel, politisch deutlich »links« einordneten, oder, wie Erikson und Fromm, dem institutionalisierten Analysehauptstrom eher fern standen. Bettelheim hatte nie eine offizielle psychoanalytische Ausbildung abgeschlossen und gehörte auch keiner analytischen Organisation an (Fisher 2003, S. 73–77). Beschränkte man sich also in dieser Betrachtung auf den Hauptstrom der Psychoanalyse oder auf IPV-Mitglieder, wäre das Resultat noch deutlich ernüchternder.
508 Dennoch wurden, wie erwähnt, auch diese Studien auf die NS-Verbotslisten gesetzt. 509 Dieser Artikel basierte auf einem Vortrag, den er am 17.1.1941 vor der Bostoner Psychoanalytischen Gesellschaft gehalten hatte. 510 Auch diese Information und den Hinweis auf die Quelle verdanke ich Knuth Müller (19.6.2011). Diese Arbeit wurde dann auch verändert in Eriksons Kindheit und Gesellschaft aufgenommen.
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2.7 Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten?
Auch nach 1945 kam es zu keiner systematischen Aufarbeitung der politischen Geschehnisse der zurückliegenden zwölf Jahre durch die Psychoanalytiker. Gertraud Diem-Wille vermerkt: »Auffallend ist, dass über die emotionalen Probleme des Exils und über die Folgen des Holocaust in den ersten zwanzig Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges kaum eine psychoanalytische Literatur existiert« (Diem-Wille 2005, S. 77f.). Hans-Jürgen Wirth hält zum Thema »Psychoanalyse und Politik« fest: »Nach dem Zweiten Weltkrieg näherte sich die Psychoanalyse nur sehr zögerlich dem Thema Holocaust. Sie unterlag den gleichen Verleugnungsmechanismen wie die übrige Gesellschaft« (Wirth 2007, S. 357). Aufgrund der hier geschilderten Sachlage nimmt es nicht wunder, dass die Philosophen Gerda Pagel und Stephan Broser Probleme hatten beim Zusammenstellen ihres 1987 herausgegebenen Buches Psychoanalyse im Exil. Texte verfolgter Analytiker. Denn verständlicherweise suchten sie vor allem nach Texten von Exilanten, die sich auch mit ihrem Exil und dessen Ursache – dem Faschismus – auseinandersetzten. Trotz intensiver Bemühungen und obwohl sie dutzende Verlage anschrieben, gelang es ihnen nicht, auch nur einen einzigen solchen Beitrag aufzunehmen, der zwischen 1930 und 1945 entstanden war.511 Außer einem Artikel von Karl Landauer Zur psychosexuellen Genese der Dummheit von 1929 – also Jahre vor seiner Emigration geschrieben – sind hier ausschließlich Texte von ehemals Verfolgten versammelt, von denen keiner vor 1966 verfasst wurde. Wie wir später noch sehen werden, gibt es allerdings zum öffentlichen Schweigen der Analytiker noch eine inoffizielle Kehrseite. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit artikulierte sich nämlich in den 1940er Jahren eine weit größere Zahl von ihnen zum Thema Faschismus. Im Juni 1944 fand auf Initiative von Ernst Simmel in San Francisco ein Symposium über »Massenpsychologie und Antisemitismus« statt; »vielleicht«, so schreibt Russell Jacoby, »die letzte große Versammlung der politisch orientierten Freudianer« ( Jacoby 1985, S. 86). Neben Simmel und Fenichel sprachen unter anderem Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die meisten Vorträge (ebd., S. 86, Fußnote 9), die allerdings nicht den Anspruch hatten, sich umfassend mit dem NS-System auseinanderzusetzen, wurden 1946 in Buchform veröffentlicht (auf Deutsch erst Jahrzehnte später – Simmel 1993b; vgl. dazu auch Richter 2003, S. 54–64). Auch hier unterblieb jegliche Bezugnahme auf Reich oder Reichs Schriften. Diese innerhalb der Analyse nun immer üblicher werdende Ignoranz ist umso befremdlicher, als – obwohl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch diverse Arbeiten von Psychoanalytikern zu Aspekten des Nationalsozialis511 Persönliche Mitteilung von Gerda Pagel vom 4.2.2010.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
mus entstanden – Reichs Massenpsychologie bis heute der mit Abstand ausführlichste und neben diesbezüglichen Ausarbeitungen Erich Fromms (insbesondere in Fromm 1989a, S. 338–356, 1989e, S. 271–294, 312–325, 335–393) auch der einzige psychoanalytische Versuch ist, eine spezifische und umfassende Theorie der sozialpsychologischen Voraussetzungen des Faschismus zu formulieren.512 Dass dem so ist, bestätigten nicht nur meine eigenen Recherchen. Auch der Historiker Wolfgang Wippermann, der mehrfach zu den zahlreichen und verschiedenartigen Theorien über den Faschismus publiziert hat, schrieb 1980 in einem Abschnitt über »sozialpsychologische Faschismustheorie«, dass »deren wichtigster und bedeutendster Vertreter bis heute Reich geblieben ist«. Dabei bezieht er sich insbesondere auf die Massenpsychologie. Als zweiten wichtigen Autor nennt er Erich Fromm (Wippermann 1980, S. 58).513 Tatsächlich verdient Reichs Massenpsychologie eine ausführliche Betrachtung.
2.8
Die Massenpsychologie des Faschismus
2.8.1
Vorerfahrungen
Schon durch seine Mitwirkung am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium war Reich, der ja auch selbst erlebt hatte, was Armut ist, häufig mit Angehörigen ärmerer Schichten in Kontakt gekommen. Das intensivierte sich 1929 durch die
512 Erich Fromms erstmals 1973 erschienene Anatomie der menschlichen Destruktivität ist ein ebenso groß angelegter wie großartiger Versuch, die destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in verschiedene, insbesondere sozialpsychologische Zusammenhänge einzuordnen und so verstehbar zu machen. Zusätzlich ist es die bei Weitem ausführlichste und schlüssigste Widerlegung der These, dass es einen Todes- oder Aggressionstrieb gibt. Die Schwierigkeit, sich in der Geschichtswissenschaft auf eine allgemein akzeptierte Faschismusdefinition zu einigen, und die Vielfalt aktueller faschistoider Erscheinungen erschweren sicher eine umfassende psychoanalytische Betrachtung dieses Themas (vgl. Rothschild 2001, S. 206–209; Breuer 2005; Bauerkämpfer 2006, hier insbesondere S. 13–46; Nolte 2008, S. 97–111). Dass es dennoch möglich ist, sich dem anzunähern, belegt unter anderem das von Emilio Modena herausgegebene Buch Das Faschismussyndrom. Zur Psychoanalyse der neuen Rechten in Europa (Modena 2001). Das inzwischen gründlich erforschte, zeitlich und räumlich abgrenzbare Phänomen des deutschen Nationalsozialismus hätte aber in jedem Fall im Nachhinein einer psychoanalytischen Betrachtung unterzogen werden können, die über W. Reichs zeitgenössische Aussagen dazu hinaus geht. 513 In einer weiteren Publikation geht er zudem auch auf Horkheimer und Bloch ein (Wippermann 1981, S. 122–126, 144; zu Bloch vgl. Dahmer 2009i).
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Beratungstätigkeit in der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung (Fallend 1988, S. 122–127). Seit Mitte der 1920er Jahre vertiefte er sich, wie erwähnt, in marxistische, soziologische und ethnologische Literatur, 1927 wurde er Mitglied der SDAP. Als im Juli 1927 der Arbeiterprotest in Wien niedergeschlagen wurde, befand er sich unter den Demonstrierenden. Er vermerkte: »Der unauslöschliche Eindruck blieb: Hier kämpft seinesgleichen mit seinesgleichen! Die Polizei, die an diesen zwei Tagen 100 Menschen erschoss, war sozialdemokratisch organisiert. Die Arbeiterschaft war sozialdemokratisch organisiert […] Klassenkampf ? Innerhalb derselben Klasse?« (Reich 1995, S. 37).
Damit hatte er, schon während er sich den Marxismus aneignete, an einem der kommunistischen Dogmen zu zweifeln begonnen – was er in der Massenpsychologie aufgreifen sollte. Wohl auch in Erinnerung an das Massaker vom Juni 1927 widmete er diese Schrift dann »Dem Andenken der gefallenen österreichischen Kämpfer für die sozialistische Zukunft«. Die wahllos in die demonstrierende Menge schießenden Polizisten empfand Reich als »Maschinelle Menschen!«. Aber er begriff dabei seine eigene Rolle als Offizier des Ersten Weltkriegs: »Genauso blind hatte ich, auf Befehl, ohne denken, geschossen« (ebd., S. 39). Zunächst war er, wie er schreibt, voller Wut über das Gemetzel und hoffte darauf, dass, wenn schon die Sozialdemokraten, insbesondere deren Führer, versagten, wenigstens die Kommunisten solche Gräuel verhindern könnten. »Hatten sie nicht die russische Revolution zustande gebracht? Sie würden schon alles tun. Sie berieten nur noch«, karikierte er im Nachhinein seine naiven Hoffnungen. Noch am 16.7.1927 ließ er sich, wie schon erwähnt, als Mitglied einer KPÖ-nahen Ärzteorganisation eintragen (ebd., S. 42). Reich verfügte jedoch über ein psychoanalytisches Wissen, das den im Marxismus wenig ausgearbeiteten Überlegungen zur menschlichen Psyche weit überlegen war – und das im klaren Gegensatz zum kommunistischen Dogma (oder »Schibboleth«?) »objektiv« wirkender sozialer und ökonomischer Gesetzmäßigkeiten stand. Und er verdeutlichte, zum Beispiel durch öffentliche psychoanalytische Vorträge, dass er es für dringend notwendig hielt, den Marxismus durch dieses Wissen zu ergänzen (ebd., S. 113; Fallend 1988, S. 124ff.). Dafür engagierte er sich auch in seinem 1929 in der Kominternzeitschrift Unter dem Banner des Marxismus veröffentlichten Artikel Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse – womit er umgehend auf grundsätzliche Kritik russischer Kommunisten stieß (Bernfeld et al. 1970). I. Sapir, einer seiner Kontrahenten, urteilte: »Die Argumentation Reichs hat sich wie die anderer Freudianer als zu schwach erwiesen, um die soziologische Bedeutung der individuellen Psychologie über die sehr engen Schranken hinaus 267
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
auszudehnen, die dieser Wissenschaft durch die marxistische Methode gezogen sind« (ebd., S. 221f.). Diese Zurückweisung führte nicht dazu, dass Reich in seinem Bestreben, Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden, nachließ.514 Er selbst urteilte später: »1928–1930 […] hatte ich wenig Ahnung vom Faschismus, etwa so wenig wie der durchschnittliche Norweger 1939 oder der Amerikaner 1940. Ich lernte ihn erst zwischen 1930 und 1933 in Deutschland kennen. Ich war hilflos perplex, als ich ihm begegnete und in seinem Wesen Zug um Zug den Gegenstand der Auseinandersetzung mit Freud wiedererkannte. Allmählich begriff ich, daß dies logisch war. In den genannten Auseinandersetzungen war um die Beurteilung der menschlichen Struktur, um die Rolle der menschlichen Glückssehnsucht und der Irrationalität im gesellschaftlichen Leben gerungen worden. Im Faschismus bot sich die seelische Massenerkrankung unverhüllt dar« (Reich 1987, S. 177).
In Berlin beteiligte sich Reich auch an der alltäglichen politischen Arbeit der KPD, verfasste, klebte und verteilte Flugblätter, die zu Aktionen gegen die NSDAP aufriefen, trat in einer Agit-Prop-Gruppe auf (Reich 1995, S. 159–163, 196–201)515 und erklärte sich für den 1. Mai 1931 bereit, als Ordner die KPDemonstration im Berliner Lustgarten sichern zu helfen. Dort stieß er auf Handlungen von Polizisten, wie er sie schon aus Wien kannte: »Ich begleitete mit meinem Trupp einen Kinderzug. Die Kinder sangen frisch und fröhlich […]. Manche Lieder waren streng verboten. So der ›Rote Wedding‹ von Erich Weinert.516 Als das Lied erklang, stürzten sich mit einem Male Dutzende Schupos von den Autos und schlugen blind in die Kindergruppe hinein. Es gelang uns noch im letzten Augenblick, unsere Hände so fest ineinanderzufügen, daß die Polizistenkette nicht voll durchbrach. Wir redeten auf die Schupos ein. Ich staunte über das Maschinelle dieser Polizistenüberfälle. Immer wieder hatte ich bei solchen Gelegenheiten den Eindruck, daß an die Stelle eines lebendigen Denkens und Fühlens eine automatisierte Reaktion tritt: Verbotenes Lied – Knüppel vom Gurt!« (Reich 1995, S. 157).
514 Wie erwähnt, setzte er sich 1930 in der Zeitschrift Der revolutionäre Sozialdemokrat mit der von Mussolini unterstützten Faschisierung Österreichs (Tálos/Manoschek 2005) auseinander. 515 Siehe auch www.kuenstlerkolonie-berlin.de. 516 Der Verbotsbeschluss des Reichsministeriums des Innern für dieses Lied findet sich unter LA A Pr.Br.Rep. 030/95/21729.
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Wie, fragte sich Reich, kam diese Reaktion zustande? Wie verlieren Menschen ihr Fühlen, ihr Mitfühlen und ihr eigenständiges Denken? Reich sah auch die braunen Kolonnen der SA durch Berlin marschieren und registrierte: »Sie unterschieden sich in Haltung, Ausdruck und Gesang nicht von den kommunistischen Rotfrontkämpferabteilungen« (ebd., S. 171). Und nicht nur das: Die SA- und NSDAP-Mitglieder stammten sogar aus denselben, meist proletarischen sozialen Verhältnissen wie ihre kommunistischen Kontrahenten. Wie war das möglich, obwohl die Arbeiterklasse doch nahezu zwangsläufig auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts stehen sollte? Und: Wie war es möglich, dass Hitler, entgegen allen angeblich objektiven Entwicklungsgesetzen, seinen Siegeszug antrat? Nicht zuletzt der Wunsch, diese Fragen zu beantworten, motivierte Reich, sich den psychosozialen Wurzeln der aufstrebenden »rechten« Massenbewegung zu widmen. Er studierte Hitlers Mein Kampf, Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, Kampfschriften von Goebbels und anderen, las »rechte« Zeitungen wie den Angriff oder den Völkischen Beobachter, kirchliche Flugschriften, Gesetzblätter und vieles andere.517 Später konstatierte er: »Ich verfolgte ab 1930 jeden wesentlichen Schritt der Nationalsozialisten und konnte 1932 ein geschlossenes Verständnis buchen« (Reich 1995, S. 177). Wesentliche Erklärungsmöglichkeiten entdeckte Reich parallel dazu auf einem nur scheinbar ganz anderen Gebiet: seiner therapeutischen Arbeit. Während er in Berlin die ersten Ansätze der Körperpsychotherapie entwickelte, wurde er in einer bis dahin nicht gekannten Intensität mit der anerzogenen Destruktivität seiner Patienten konfrontiert, die diese normalerweise hinter einer angepassten, »netten«, höflichen Maske verbargen. Entsprach man ihren neurotischen Erwartungen nicht, sondern unterstützte sie stattdessen dabei, ihre nun aufsteigenden Gefühle zu zeigen, brach sich oftmals ihr seit der Kindheit aufgestauter Hass auf unterdrückende Autoritäten Bahn. Diesen Hass – rationalisiert und kanalisiert durch Parteiideologien und -organisationen – erkannte Reich nun auch auf den Straßen Berlins wieder, wo die blutigen Auseinandersetzungen zwischen »Links« und »Rechts« längst regelmäßig Todesopfer forderten. Zugleich setzte Reich seine Aufklärungstätigkeit fort, nicht nur in der MASCH, sondern auch außerhalb Berlins, »mitten unter Jugendlichen und Erwachsenen verschiedener Parteien und politischer Gesinnungen«, teilweise vor einem Publikum, das zusammengesetzt war aus »Kommunisten, Sozialisten und Faschisten«, die »über diese Fragen erregt, doch ohne jede Gewaltanwendung« debattierten (Reich 1995, S. 184, 152). 517 Siehe Literaturangaben und Zitate in der 1933er Ausgabe seiner Massenpsychologie.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Auf der Basis umfangreichen theoretischen Wissens, mehrjähriger Erfahrung in Therapie, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit, von Literatur- und »Feldstudium« sowie praktischer Mitwirkung in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen erarbeitete sich Reich also allmählich jene Auffassungen über die psychosozialen Grundlagen des Nationalsozialismus, die dann 1933 in die Massenpsychologie des Faschismus einflossen. Jedoch war auch er nicht in der Lage, Auschwitz gedanklich vorwegzunehmen, erklärte also mit der Massenpsychologie schon deshalb ganz gewiss nicht die gesamte psychosoziale Dynamik des Nationalsozialismus. Und natürlich erklärte er ohnehin nicht den »ganzen« Faschismus, dessen vielfältige Aspekte noch heute unzählige Wissenschaftler beschäftigen. Ebenso wenig war er der Einzige, der zu dieser Zeit fundierte Überlegungen zum Phänomen »Faschismus« anstellte und Theorien dazu veröffentlichte (siehe Wippermann 1980, 1981, 1992). In vielen Formulierungen, beispielsweise über die Bedeutung des Kleinbürgertums für den Nationalsozialismus, stimmte er auch mit anderen »linken« Theoretikern überein. So hatte Clara Zetkin schon 1923 darauf hingewiesen, dass die Basis des Faschismus »nicht eine kleine Kaste« sei, sondern »breite soziale Schichten, große Massen, die selbst in das Proletariat hineinreichen« (Wippermann 1992, S. 261f.). Auch Leo Trotzki verwies 1932 darauf, »dass die Großbourgeoisie als personell verschwindend kleine Minderheit in der Gesellschaft nicht in der Lage sei, von sich aus die Herrschaft auszuüben, sondern auf die Unterstützung des Kleinbürgertums und vermittels dessen auch auf Teile des Proletariats angewiesen sei, um ihre Macht zu erhalten« (Kröger 2005, S. 54).
Solchen Einschätzungen setzte die Komintern 1933 die Formel entgegen: »Der Faschismus an der Macht ist die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« (Wippermann 1992, S. 262). Aber auch andere, nichtkommunistische »linke« Autoren wiesen sehr wohl darauf hin, dass Hitler seinen Aufstieg dem Mittelstand, insbesondere den Beamten und deren rückwärtsgewandter Ideologie verdanke (Theodor Geiger518), dass ein Teil des Proletariats ein »Verlangen nach Führerpersönlichkeiten«, nach »Mythos und Utopie« habe (Hendrik De 518 Arthur Rosenberg wiederum widersprach 1934 mit einleuchtenden Argumenten der Behauptung, das Kleinbürgertum sei die entscheidende Stütze des Faschismus, den er als »moderne, volkstümlich maskierte Form der bürgerlich-kapitalistischen Gegenrevolution« verstand (Rosenberg 1934, S. 5–8). Ich danke Jairus Banaji für den Hinweis auf diese Publikation.
270
2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Man) und dass, so Carlo Mierendorf und Sergej Tschachotin, die NSDAP die »elementaren Haßgefühle« der Massen instrumentalisiere (ebd., S. 262f.). Doch keinem dieser Autoren ging es um eine psychosoziale Analyse. Reich war der Einzige (vgl. Wippermann 1980, S. 58), der in einer umfangreichen wissenschaftlichen Veröffentlichung den Fragen nachging, welche psychischen Strukturen den Mittelstand und das Proletariat überhaupt erst anfällig machten für die »rechte« Ideologie – und wie diese psychischen Strukturen entstanden: Es wird ja niemand als Beamter geboren oder als Erwachsener dazu gezwungen, Beamter zu werden. Allerdings setzte sich Reich dabei vor allem mit Faktoren auseinander, ohne die zwar der Faschismus in der Tat nicht umfassend zu erklären ist – die aber auch in anderen autoritären Systemen eine tragende Rolle spiel(t)en. Zudem enthält die Massenpsychologie manchen Irrtum und manches, was zu hinterfragen ist.519 Man merkt dem Buch auch an, unter welch schwierigen äußeren – und sicher auch inneren – Umständen es zu Ende gebracht wurde: Andere Schriften Reichs sind stringenter gegliedert und präziser formuliert. Das sah er selbst so: »Ich habe mich bemüht, das schwierige Thema so einfach wie möglich darzustellen […]. Ich weiss, dass es mir nicht gelungen ist« (Reich 1933b, S. 10).520 Später, als das Lebensenergiekonzept längst zum Mittelpunkt seiner Forschungen geworden war, unterzog er seine früheren Auffassungen insgesamt einer rigorosen Selbstkritik, die auch die Massenpsychologie einschloss: »In den Jahren der Verworrenheit zwischen 1927 und 1939 waren meine sozialpsychologischen und mentalhygienischen Schriften ein Gemenge von naturwissenschaftlicher Tatsachenfeststellung und politischen Ideen, die ich den politischen Organisationen entlehnt hatte, in deren Rahmen sich meine Facharbeit vollzog« (Reich 1995, S. 100).
519 So erscheinen mir zum Beispiel Reichs Mutmaßungen über die unbewusste Wirkung, die das Hakenkreuz als Symbol des Geschlechtsverkehrs entfalte (Reich 1933b, S. 147–153), wenig überzeugend (eine andere Position hierzu vertritt Hoevels 1987). Seine Auseinandersetzung mit Kirche und Religion (Reich 1933b, insbesondere S. 169–226) ist sehr pauschal. Es fiel ihm zudem noch sichtlich schwer, seine Erkenntnisse, die ja keineswegs nur Faschisten oder sich von diesen unzureichend abgrenzende Sozialdemokraten betrafen, gleichermaßen konsequent auf die Kommunisten anzuwenden (ebd., S. 101ff., 113f.). Ich meine auch, dass er noch immer die Rolle der Sexualität über- bzw. andere Faktoren unterbewertete – wenn auch die einfache Formel »Orgasmus = Gesundheit« weitgehend verschwunden war. Seine Behauptung, der Nationalsozialismus sei durchweg sexualfeindlich, erwies sich des Weiteren als unzutreffend – dazu später mehr. 520 Im Vorwort der Massenpsychologie schrieb er 1933: »Die beabsichtigte Vollständigkeit, soweit sie in wissenschaftlicher Arbeit überhaupt zu erzielen ist, konnte infolge der politischen Ereignisse in Deutschland nicht mehr angestrebt werden […] zumal wenig Aussicht bestand, das mühsam gesammelte Material zu ersetzen, das bei der Katastrophe verlorenging« (Reich 1933b S. 12).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Ich denke, ich werde im Folgenden zeigen können, dass diese Selbstkritik zu pauschal ausfiel und dass sich eine Beschäftigung speziell mit dem Inhalt der Massenpsychologie noch immer lohnt.521 Dabei werde ich mich auf einige mir besonders wichtig erscheinende Aussagen, die Reich in diesem Buch traf, konzentrieren.
2.8.2
Inhalt
Zunächst ist festzuhalten, dass Reich mit seinem Buch – das den Untertitel Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik trug – nicht einfach vorliegende psychoanalytische Konzepte auf ein anderes Thema übertrug, sondern deutlich über Freud hinausging und die Psychoanalyse an entscheidenden Punkten weiterentwickelte. Ein von Reich dabei genutzter Ausgangspunkt522 war hier Freuds 1921er Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (Freud 1921c), die Erkenntnisse über psychische Abhängigkeiten in autoritär strukturierten Gruppen enthielt. Aber Freud, so der Psychoanalytiker Reimut Reiche über Massenpsychologie und Ich-Analyse, »weigert sich, die schöpferische Seite von Massenbewegungen zu sehen und starrt […] nur auf ihre regressive Seite«. Darüber hinaus legte Freud nahe, die Gesellschaft lasse sich betrachten, »als wäre sie ein menschlicher Organismus«, als ließe sich »der Gang der Weltgeschichte in Begriffen der psychosexuellen Entwicklung des Individuums erklären« (Reiche 2005, S. 15, 21). Vereinfacht gesagt: Die Masse verhält sich wie ein Neurotiker und kann daher auch wie ein solcher psychoanalysiert werden.523 521 Vgl. dazu auch Laska (2008, S. 73ff.); Rothländer (2010, S. 179–186). In der ursprünglichen, sich von Reichs späterer Neubearbeitung wesentlich unterscheidenden Fassung, ist die 1933er Massenpsychologie heute nur noch in Raubdrucken oder teuren Originalausgaben antiquarisch erhältlich. Meine Bemühungen, eine – nach Möglichkeit: kommentierte – Neuauflage der ursprünglichen Fassung des Buches zu initiieren, scheiterten bislang an rechtlichen Fragen. Ich denke noch immer, dies wäre ein sinnvolles Projekt. Inzwischen lässt sich erfreulicherweise eine vollständige Digitalisierung des Buches im Internet einsehen und herunterladen: archive.org/details/Reich_1933_Massenpsychologie_k 522 Das belegen nicht nur mehrere Stellen in der Massenpsychologie, in denen er, ohne allerdings auf Freud zu verweisen, an dessen dortige Argumentation anknüpft, sondern auch Reich (1995, S. 39f.). 523 Schon 1913 hatte Freud in Totem und Tabu vermutet, dass die »Psychologie der Naturvölker« und die »Psychologie des Neurotikers […] zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen« (Freud 1912–13a, S. 295). 1939 gab er in Der Mann Moses noch immer seinem Empfinden Ausdruck, man könne »die Völker behandeln wie den einzelnen Neurotiker« (Freud 1939a, S. 207).
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Auch Reich leugnete keinesfalls, dass die Bildung von Massen vielfach auf der Entwertung des eigenen Ichs und dessen vermeintlicher Erhöhung durch die Identifikation mit einem autoritären Führer beruhte und dass die Bindung an diesen Führer und die anderen Gruppenmitglieder durch unbewusste familiäre Abhängigkeiten und zielgehemmte Sexualität geprägt sein konnte. Genau diese Erkenntnisse wandte er auf die faschistische Bewegung an. Der Psychoanalytiker Lothar Bayer und der ehemalige Psyche-Chefredakteur Hans-Martin Lohmann urteilen, es bleibe Reichs Verdienst, »daß er mitten im Zeitalter faschistischer Massenbewegungen das Thema der regressiven Führer-Massen-Bindung auf die Tagesordnung setzte und damit die Freudsche Massenpsychologie politisch aktualisierte« (in Lohmann/Pfeiffer 2006, S. 278). Weit mehr als Freud berücksichtigte Reich jedoch das kreative Potenzial von Menschengruppen. Eine realitätsgerechte Massenpsychologie habe, so meinte er, auszugehen von jenen typischen psychischen Prozessen, die »einer Schichte, Klasse, Berufsgruppe etc.« gemeinsam seien (Reich 1933b, S. 30) – Aspekte, die Freud weitgehend ausblendete. Sah Freud beim Massenangehörigen vor allem ein unbewusstes Agieren, bemühte sich Reich, die gesamten typischen Vorgänge einer spezifischen Gruppe zu verstehen: bewusste wie unbewusste, neurotische wie gesunde. Daher konnte er auch größeren, zusammenwirkenden Menschengruppen die Chance zubilligen, mehr zu sein als gleichgeschaltete Handlanger eines Alleinherrschers. Als Beispiel dafür sah er die Mitglieder sexualpolitischer Initiativen in der Sowjetunion. Der »klassenbewusste Arbeiter, also derjenige, der die kleinbürgerliche Struktur in sich ausser Funktion gesetzt […] hat«, fühle sich »selbst als Führer, nicht aufgrund einer Identifizierung«, sondern aufgrund des Bewusstseins, »der notwendigerweise aufsteigenden Klasse anzugehören«. Identifikation finde allerdings auch hier statt: in Form von Solidarität mit Klassengenossen und »unterdrückten Völkern der Erde«. Und dies gehe eben gerade nicht zu Lasten der Individualität des Einzelnen: Individuelles Fühlen werde durch das Bewusstsein, einem solchen Kollektiv anzugehören, gefördert (ebd., S. 99f.). Einen nahezu automatisch stattfindenden Individualitätsverlust unterstellte Reich nicht einmal den Anhängern des Faschismus, seien doch »in der Massenbasis des Faschismus, im rebellierenden Kleinbürgertum, nicht nur die rückwärtstreibenden, sondern auch ganz energisch vorwärtstreibende« antikapitalistische »Kräfte der Geschichte in Erscheinung getreten« (ebd., S. 17, 71–74). Außerdem »waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten« (ebd., S. 19f.). Letzteres ordnete Reich ein als zeitweise Pervertierung an sich gesunder Bedürfnisse, als durch familiäre und gesellschaftliche Deformation erzeugte Fehlorientierung. Solche Fehlorientierungen rückgängig 273
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
zu machen, erschien ihm äußerst erstrebenswert: »Die seelischen Energien einer durchschnittlichen Masse, die ein Fussballspiel erregt verfolgt oder eine kitschige Operette miterlebt, von ihren Fesseln gelöst, in die Bahnen zu den rationalen Zielen der Arbeiterbewegung gelenkt, wären nicht mehr zu binden« (ebd., S. 55). Schon aufgrund der differenzierten Sicht Reichs auf die NS-Anhänger findet sich in der Massenpsychologie manches, das Klischees über den Faschismus, wie sie bis heute verbreitet sind, widerspricht. Zu Beginn allerdings zog Reich eine bittere Bilanz. Die ersten Sätze des Vorwortes lauten: »Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgründendem, den alten Freiheitsidealen der arbeitenden Menschen Zustrebendem gibt. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Linie durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus. Aber der Kampf gegen das neu erstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, für die natürlichen Rechte der arbeitenden und schaffenden Menschen […] wird weitergehen« (ebd., S. 4).
Es dürfte schon damals intensive Abwehrreaktionen bei »Links« und »Rechts« ausgelöst haben, wenn Reich dann forderte, man dürfe »die nationalsozialistische Bewegung« nicht als »ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern« abtun, »auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Großkapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und großem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und mutig aussprechen« (Reich 1933b, S. 7).
Wie erwähnt, prangerte Reich nicht nur in seiner Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie524 von Skandinavien aus weiter öffentlich den Faschis524 Vgl. www.lsr-projekt.de/zpps/zpps.html.
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
mus an, er sorgte auch dafür, dass Ausgaben der Massenpsychologie nach Deutschland hineingeschmuggelt wurden. Dass zu beidem Mut gehörte, beweist das Schicksal des jüdischen Philosophen und Publizisten Theodor Lessing, der 1933, im tschechoslowakischen Exil, von Nationalsozialisten wegen früherer politisch missliebiger Äußerungen ermordet wurde, oder die zweimalige Entführung des Journalisten Berthold Jacob aus dem Exil 1935 und 1941, der Jacobs mehrjährige Inhaftierung und schließlich sein Tod folgten. Reich war sich bewusst, dass er Risiken einging. Aber: »Der Wissenschaftler, der glaubt, durch Vorsicht und ›Unpolitischsein‹ seine Existenz zu retten und durch die Verjagung und Einkerkerung auch der Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernst genommen zu werden und später einmal am wirklichen Neubau der Gesellschaft mitzuwirken. […] Sein Unpolitischsein ist ein Stück der Stärke der politischen Reaktion und seines eigenen Unterganges gleichzeitig« (ebd., S. 9).
Dass er damit auch auf die anpassungswilligen Analytiker zielte, machte er klar, während er sich im Folgenden bemühte, seine Kollegen davor zu schützen, für seine Ideen haftbar gemacht zu werden: »Sollte die politische Reaktion sich für den Inhalt dieser Schrift an der Psychoanalyse oder ihren Vertretern revanchieren wollen, so würden sie fehlgreifen. Freud und die Mehrheit seiner Schüler lehnen die soziologischen Konsequenzen der Psychoanalyse ab und bemühen sich sehr, den Rahmen der bürgerlichen Wissenschaft nicht zu überschreiten. Sie sind also unschuldig daran und nicht verantwortlich, wenn sich Politiker der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Psychoanalyse bedienen« (ebd., S. 11).
Ich weiß nicht, ob Nationalsozialisten, die die Aufgabe hatten, die Psychoanalyse zu beurteilen, dieses Statement zur Kenntnis nahmen oder ob es gar von »arischen« Analytikern als eine Art »Ehrenerklärung« genutzt wurde. Wie wichtig es NS-Funktionären war, dass die DPG-Führung ihre und Freuds Distanz zu Reich betonte, werde ich später beschreiben. Der Hauptteil der Massenpsychologie setzte dann damit ein, dass Reich »Zweifel an der marxistischen Grundauffassung des gesellschaftlichen Geschehens« äußerte. Der Faschismus, »seinen objektiven Zielen und seinem Wesen nach der extremste Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Reaktion, wird seit mehreren Jahren zu einer internationalen Erscheinung und überflügelt in vielen Län275
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dern sichtbar und unleugbar die proletarisch-revolutionäre Bewegung«. Dies bedeute zugleich das »Versagen der Arbeiterklasse«, zumal in einer Situation, die reif gewesen sei für die »Sprengung der kapitalistischen Produktionsweise« (ebd., S. 13f.). Und die kommunistischen Parteien trügen daran Mitschuld: »[D]ie marxistische Politik hatte […] die Psychologie der Massen […] nicht oder unrichtig einbezogen. Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie […] auf Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, […] die Ideologie der Massen […] weder aufmerksam verfolgte noch erfasste« (ebd., S. 16f.).
Unter Nutzung statistischer Daten erbrachte Reich anschließend den Nachweis, dass zwischen der ökonomischen Situation und der ideologischen Verfassung großer Teile des deutschen Volkes ein erheblicher Widerspruch bestand: Millionenfach verhielten sich Werktätige entgegen ihren »objektiven« Klasseninteressen, indem sie »rechte« Parteien wählten. Das sei mit Marx nicht mehr zu erklären: »Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in Bewusstsein) umsetzt, […] lässt zwei Fragen offen: erstens, wie das geschieht, was dabei ›im Menschenkopfe‹ vorgeht, zweitens, wie das so entstandene Bewusstsein […] auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus« (ebd., S. 29).
Auf der Psychoanalyse aufbauend, bezog er neben dem Bewussten das Unbewusste ein und wies darauf hin, dass dieses maßgeblich in der Kindheit entstünde, und zwar vor allem durch Sexualunterdrückung. Die dadurch verursachten unbewussten Hemmungen schlügen sich in kleinbürgerlichen, letztlich konservativen bis konterrevolutionären Haltungen nieder – auch bei Proletariern. Als Beispiel benannte er die »verschiedenartigen Stimmungen« bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wie er diese schilderte, liest sich aus heutiger Sicht fast wie eine Vorwegnahme der Stimmungslage, die sich bald darauf in Deutschland (wieder) einstellen sollte (vgl. Aly 2006, S. 130–145): »Von bewusster Ablehnung bei einer Minderheit angefangen über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder eine Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten sondern weit hinein in proletarische Kreise. Die Stumpfheit der einen wie die Begeisterung der anderen waren fraglos massenstrukturelle Fundierungen des Krieges« (ebd., S. 38).
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Dass die »Massen« so reagierten, sei kein Zufall, denn »jede Gesellschaftsordnung« erzeuge »in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen [psychischen – A.P.] Strukturen […], die sie für ihre Hauptziele braucht« (ebd., S. 39). Um zu erklären, wie sie dies bewerkstellige, benötige man die Psychoanalyse, die »in ihrem klinischen Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch-materialistischen Psychologie« sei: »Durch Einbeziehung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie auf ein höheres Niveau, […] weil endlich der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist. Dass sie nicht sofort billige praktische Ratschläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissenschaft anzuhängen pflegt [sic], behaftet ist, wird nur ein politischer Schreier zum Anlass nehmen, sie als ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexualität erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrechnen« (ebd., S. 47).
Selbst in der »idealistischen Soziologie und Kulturphilosophie Freuds« fänden sich »mehr Wahrheiten über das lebendige Leben […] als in allen bürgerlichen Soziologien und manchen ›marxistischen‹ Psychologien zusammengenommen« (ebd., S. 48, Fn 1). Psychoanalyse und Sexualökonomie525 grenzte er nun folgendermaßen voneinander ab: »Die Psychoanalyse enthüllt uns die Wirkungen und Mechanismen der Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen. Die Sexualökonomie setzt fort: Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zur Verdrängung gebracht? […] [D]ie Freudsche Kulturphilosophie behauptet, dies geschehe um der ›Kultur‹ willen; man wird skeptisch und fragt sich, warum denn die Onanie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr der Puberilen die Errichtung von Tankstellen und die Erzeugung von Flugschiffen stören sollte. Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätigkeit an sich, sondern nur die gegenwärtigen Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist gern bereit, diese Formen zu opfern, wenn dadurch das masslose Kinder- und Jugendelend beseitigt werden könnte. Die Frage ist dann nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der Gesellschaftsordnung« (ebd., S. 48).
525 1934 sollte er dann im Glossar von Was ist Klassenbewusstsein? Sexualökonomie definieren als »Gestaltung des sexuellen Lebens der Massen unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen; im engeren Sinne wissenschaftliche Erforschung dieser Voraussetzungen mit Hilfe der dialektisch-materialistischen Methode«.
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Die gegenwärtige, noch immer patriarchale Gesellschaftsordnung sei gekennzeichnet durch Sexualunterdrückung, im Auftrage des Staates ausgeführt insbesondere von der autoritären Kleinfamilie und der christlichen Kirche. Der Versuch zu beschreiben, wie in Familie und Kirche die psychischen Strukturen erzeugt wurden, auf die der deutsche und internationale Faschismus zurückgriff, bestimmte weitgehend den weiteren Inhalt des Buches. »Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes« mache, so Reich, »ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar«. Das Kind durchlaufe zunächst »den autoritären Miniaturstaat der Familie, […] um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein« (ebd., S. 50).526 Je »hilfloser das Massenindividuum aufgrund seiner Erziehung«, desto intensiver werde der Wunsch nach einem – autoritären – Ersatzvater. Mit diesem könne sich der Kleinbürger identifizieren, und zwar »so sehr, daß er in geeigneten Augenblicken sein völliges Herabsinken und Herabgedrücktwerden zur bedeutungslosen, kritiklosen Gefolgschaft nicht wahrnimmt« (ebd., S. 98f.). Im Gegenteil: »Jeder Nationalsozialist fühlt sich in seiner psychischen Abhängigkeit als ›kleiner Hitler‹« (ebd., S. 123). Auf Herkunft und Persönlichkeit Adolf Hitlers ging Reich jedoch nur am Rande ein, denn: »Nur dann, wenn die [psychische – A.P.] Struktur einer Führerpersönlichkeit mit massenindividuellen Strukturen breiter Kreise zusammenklingt, kann ein ›Führer‹ Geschichte machen« (ebd., S. 58). Die »kleinbürgerliche Herkunft« von Hitlers Ideen decke sich in den Hauptzügen »mit dem massenpsychologischen Milieu der Strukturen, die diese Ideen bereitwillig aufnehmen« (ebd., S. 60). Dass die nationalsozialistische »Massenorganisierung gelang«, liege daher »an den Massen und nicht an Hitler« (ebd., S. 64). Die Charakterstrukturen, die den Faschismus stützten, beschrieb Reich anschließend am Beispiel des von der Obrigkeit abhängigen kleinen oder mittleren Beamten. Hier seien diese Strukturen am stärksten ausgeprägt, weil kleinbürgerliche Erziehung und kleinbürgerliche Lebens- und Arbeitsweise übereinstimmten – also nicht wie beim Arbeiter eine »Schere« zwischen verinnerlichten bürgerlichen Normen und proletarischer Alltagsrealität existiere. Solidarität sei dem Beamten fremd, da er Kollegen nur als Konkurrenten auf der Karriereleiter sehen könne. 526 Ohne es so umfassend auszuführen wie Reich, hatte Otto Gross diesen wie auch andere Gedanken Reichs bereits 1913 vorweggenommen: »Es ist keiner der Revolutionen, die der Geschichte angehören, gelungen, die Freiheit der Individualität aufzurichten. […] Sie sind zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug. Man kann jetzt erst erkennen, daß in der Familie der Herd aller Autorität liegt, daß die Verbindung von Sexualität und Autorität, wie sie sich in der Familie mit dem noch geltenden Vaterrecht zeigt, jede Individualität in Ketten schlägt« (Gross 2000, S. 61).
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Identifikation gelinge ihm ausschließlich mit Staatsmacht, Nation oder Arbeitgeber. Deren Interessen setze er gegenüber den unter ihm Stehenden durch, was ihm die Anerkennung seiner Vorgesetzten einbringe und ihn noch mehr an diese binde. »Die restlose Ausbildung dieses […] Typs finden wir in den Feldwebeln der verschiedenen Armeen« (ebd., S. 74f.).527 Für die faschistische Ideologie sei dieser im wilhelminischen Deutschland noch »blühende« Mittelstand zudem inzwischen besonders anfällig. Drohe ihm doch – nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, wirtschaftlichen Krisen und dem Aufkommen des Bolschewismus – aus verschiedenen Richtungen das Abrutschen ins Proletariat: eine seiner schlimmsten Ängste (ebd., S. 74ff., 172). Aber auch die voranschreitende Kapitalkonzentration und die Entwicklung der Großindustrie vergrößere dieses Risiko. Insoweit der Mittelstand gegen diese Entwicklung rebelliere, sei er antikapitalistisch – was Hitler, zumindest vor der »Machtergreifung«, noch mit entsprechenden Parolen bedient hatte (ebd., S. 71ff.). Der Faschismus sei daher eine bis ins Proletariat hineinwirkende »Mittelstandsbewegung«. Objektiv nutze er aber den Interessen des Großkapitals (ebd., S. 68), zumal ja auch dieses den Kommunismus bzw. Bolschewismus vernichten wolle: »Dass eine faschistische Bewegung überhaupt existiert, ist zweifellos gesellschaftlicher Ausdruck der Angst der Großbourgeoisie vor dem Bolschewismus« (ebd., S. 71). Etwas später im Buch heißt es, der Faschismus sei »ideologisch das Aufbäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich todkranken Gesellschaft gegen die […] Tendenzen des Bolschewismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen Freiheit« (ebd., S. 94). Auch die Rassenideologie, die »theoretische Achse des deutschen Faschismus« (ebd., S. 115), habe nicht nur die objektive Funktion, »imperialistischen Tendenzen einen biologischen Mantel umzuhängen«, also als Alibi für Eroberungskriege und dergleichen zu dienen. Der Judenhass528 helfe vielmehr zugleich dem einzelnen Nationalsozialisten, seine psychosexuellen Blockaden nicht wahrzunehmen (ebd., S. 120). Hintergrund sei, dass durch zumal religiöse Erziehung und Indoktrination die Sexualität verteufelt werde und in den Köpfen der Menschen zu einem angstbesetzten Monstrum mutiere. Dieses werde auf andere projiziert und dort stellvertretend bekämpft. Habe die christliche Religion seit Jahrhunderten das Sexuelle »als eine internationale Eigenschaft des Menschentums, von dem nur 527 Wie fließend der Übergang zwischen »kleinem Rädchen« und Hauptakteur, subalternem Beamten und eigenständig handelndem Verantwortungsträger für Massenmord sein konnte, macht unter anderem die Karriere Adolf Eichmanns deutlich (Stangneth 2011). 528 In anderen Ländern als Deutschland entstünden auf der gleichen Basis zusätzlich oder stattdessen andere Rassismen und Herabwürdigungen von Teilen der Bevölkerung (Reich 1933b, S. 19–122, 135f.). Auch »Angehörige der unterdrückten Klasse« können so »mit Fremdrassigen auf eine Stufe gestellt werden« (ebd., S. 141).
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das Jenseits erlösen könne«, angefeindet, so verlege nun der »nationalistische Faschismus das Sexualsinnliche in die ›fremde Rasse‹, sie also gleichzeitig erniedrigend« (ebd., S. 134ff.). »Nordisch« werde »gleichbedeutend mit licht, hehr, himmelhaft, rein«, asiatisch oder jüdisch hingegen gleichgesetzt mit »triebhaft, dämonisch, geschlechtlich, ekstatisch« (ebd., S. 132). Der Nationalsozialist bekämpfe also im Feindbild des Juden nicht zuletzt seine eigene verleugnete und angstbesetzte Sexualität.529 Zudem vermenge Hitler wirkungsvoll Fremdenhass mit Ängsten vor der Volksseuche Syphilis und vor der Übertretung des Inzesttabus, beispielsweise wenn er in Mein Kampf behaupte, die »Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt«, oder den Geschlechtsverkehr zwischen »Ariern« und »Nichtariern« als Blutschande bezeichne und dabei entstehenden Kindern quasi-syphilitische Schäden unterstelle (ebd., S. 120, 124). Auch in anderer Weise nutzten die Faschisten, so Reich, unbewusste, teils sexuelle Motive. Die Blut- und Boden-Ideologie knüpfe an zumeist unaufgelöste frühkindliche Abhängigkeiten an, indem Heimat und Nation der Mutter gleichgesetzt würden. Man habe daher deren »Reinheit« gegen jegliche Übergriffe, auch gegen quasi-sexuelle zu verteidigen. »Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mitten durchs Gesicht schlägt«, wird Goebbels von Reich zitiert, »sagst du dann auch: Danke schön! […] Wieviel Schlimmeres hat der Jude unserer Mutter Deutschland angetan […]. Er hat unsere Rasse verdorben« (ebd., S. 90–93). Das militärische Gehabe der politischen Reaktion wiederum biete unverfänglich erscheinende, in Wirklichkeit aber ebenfalls sexuell aufgeladene Ersatzbefriedigungen: »die sexuelle Wirkung der Uniform, die erotisch aufreizende, weil rhythmisch vollendete Wirkung der Parademärsche, der exhibitionistische Charakter des militärischen Auftretens«. Ohnehin suche die sexuelle Energie, wenn sie nach dem Erleiden des Erziehungsprozesses auf natürlichem Wege keine Abfuhr mehr erlangen könne, nach Ersatzventilen. Sie fließe nun beispielsweise ein in die natürliche Aggression und steigere diese so »zum brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen insceniert wird«. Letztlich verändere die Sexualhemmung »den wirtschaftlich unterdrückten Men529 Später sollte Reich diese These auch in seiner Zeitschrift belegen. So zitierte er zum Beispiel im Beitrag Der Jude im faschistischen Licht (ZPPS 1935, Heft 3, S. 189) aus einem antisemitischen Flugblatt: »Deutscher Volksgenosse, weisst Du: dass der Jude Dein Kind vergewaltigt, Deine Frau schändet, Deine Schwester schändet, Deine Braut schändet, […] Deutsche Volksgenossen, darum fordert: Für Deutsche, die mit Nichtariern Geschlechtsverkehr unterhalten, Zuchthausstrafen, Aberkennung der Staatsbürgerrechte, Vermögensbeschlagnahme und Ausweisung. Im Rückfall Todesstrafe.« Reich kommentierte: »Von fünfzehn Beschuldigungen beziehen sich zehn unmittelbar auf Sexuelles.«
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
schen strukturell derart, dass er gegen sein eigenes materielles Interesse handelt, fühlt und denkt« (ebd., S. 53f.). Indem Hitler nicht nur die tatsächliche wirtschaftliche Situation der Mittelständler propagandistisch ausschlachte, sondern auch deren von Sexualängsten und aufgestauter Wut geprägtes Unbewusstes anspreche, gelinge es ihm, sie gegen Bolschewismus und Judentum – und gegen ihre eigenen Lebensinteressen – zu mobilisieren. Da die faschistische Bewegung ihren Erfolg maßgeblich psychischen Konstellationen verdanke, die das Christentum und die autoritäre Familie seit Generationen erzeugten (ebd., z. B. S. 35, 126–138, 190f., 202), genüge eine Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht, um den Faschismus zu besiegen; Kirche, Kleinfamilie und Sexualunterdrückung seien ebenfalls zu bekämpfen. Nur wenn »die Sexualpolitik in das Zentrum der Politik überhaupt« gerückt werde, gelinge eine sozialistische Revolution. Denn solange die unaufgeklärten Massen »Angst vor der ›sexuellen Freiheit‹« hätten, würden sie gegen den Kommunismus schon deshalb Widerstand leisten, weil er die »alten ideologischen und kulturellen sowie insbesondere sexuellen Einrichtungen« zerstöre und insbesondere den Zwang zur dauermonogamen Einzelehe aufhebe. Dem Verlust dieser auf neurotische Weise haltgebenden Institutionen sei »der bürgerliche Mensch und auch der Proletarier, soweit er bürgerlich fühlt, nicht ohne weiteres gewachsen« (ebd., S. 94). Aus dem Brief einer Arbeiterin zitierte Reich später im gleichen Zusammenhang: »[L]eider wird vom Sozialismus ein sehr wichtiges, hohes Ideal angegriffen: die Ehe. […] Das nennt man Freiheit, freie Liebe, neue Sexualmoral. Aber diese schönen Namen können mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier grosse Gefahren lauern. Es werden die höchsten, edelsten Gefühle des Menschen dadurch beschmutzt: die Liebe, die Treue, die Aufopferung. […] So schön die sozialistischen Theorien sind, […] in der Sexualfrage komme ich nicht mit und zweifle dadurch oft an der ganzen Sache« (ebd., S. 164).
Indem die politische Reaktion zum Beispiel verkünde, in Sowjetrussland seien die Frauen ein von allen Männern genutztes Staatseigentum, schüre sie, so Reich, genau diese Ängste (ebd., S. 163). Die Kommunisten aber setzten dem keine systematische sexualpsychologische Aufklärung entgegen.530 530 Da »die religiöse Verseuchung die wichtigste massenpsychologische Massnahme« sei, die »den Grund zur Aufnahme faschistischer Ideologie in der Krise legt« (Reich 1933b, S. 170), widmete sich Reich im folgenden Abschnitt dem psychologischen Verständnis der Religion. Beim Aufdecken ihrer seelischen Basis ging er aber nicht über Freud hinaus. Dieser
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Im letzten Abschnitt wandte sich Reich schließlich »[e]inige[n] Fragen der sexualpolitischen Praxis« zu. Dort formulierte er unter anderem programmatisch: »Die wirkliche, konsequente sexualpolitische Arbeit macht stummes Leiden laut, schafft neue und verschärft vorhandene Widersprüche, bringt die Menschen in die Lage, ihre Situation nicht mehr ertragen zu können. Sie schafft aber gleichzeitig eine Abfuhr: die Möglichkeit politischen Kampfes gegen die gesellschaftlichen Ursachen des Leidens« (ebd., S. 253).
Einmal mehr lässt sich das als Weiterentwicklung eines früheren Gedankenganges Freuds einordnen. Dieser hatte 1895 berichtet: »Ich habe wiederholt von meinen Kranken […] den Einwand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen? Darauf habe ich antworten können: […] Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches [= neurotisches – A. P.] Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können« (Freud 1895d, S. 311f.).
Jahrzehnte später sollte der DDR-Psychotherapeut Christoph Seidler schreiben: »Nach der Psychotherapie stehen diejenigen Lebensumstände zur Veränderung an, an denen man zuvor erkrankt ist.«531 Besser lässt sich wohl kaum zusammenfassen, wie Psychotherapie Menschen auf sinnvolle Weise »politisieren« kann. Hatte es bei Reichs früheren sexualpolitischen Forderungen noch Überschneidungen gegeben, so lagen er und die deutsche und internationale KP-Führung hatte ja diesbezüglich formuliert, Religion beruhe auf verschobenen libidinösen Energien (Freud 1927c), Neurose sei »individuelle Religiosität«, Religion »universelle Zwangsneurose« (Freud 1907b, S. 139). Reich schreibt: »Da die unwiderlegbare psychoanalytische Erfahrung besagt, dass das religiöse Empfinden gehemmter Sexualität entspricht«, sei »die natürliche Geschlechtlichkeit der Todfeind der Religion« (Reich 1933b, S. 238). Weil sexuelles Erleben und religiöse Empfindung ihre Energie aus derselben Quelle schöpften, könnten beide »nebeneinander nicht bestehen«; ein religiöser Mensch könne also psychosexuell nicht gesund sein, ein psychosexuell gesunder Mensch nicht religiös (ebd., S. 246). 531 Christoph Seidler bestätigte mir am 26.7.2012 noch einmal, dass meine Erinnerung an diese von ihm Anfang 1989 getroffene Aussage korrekt ist. Leider war die Quelle – eine Publikation des Berliner Hauses der Gesundheit – nicht beschaffbar.
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nun weit auseinander.532 Reichs Darlegungen in der Massenpsychologie zu folgen, hätte vorausgesetzt, sich von einem zentralen kommunistischen Dogma zu verabschieden: dem Wirken objektiver ökonomischer Gesetze, die nahezu unweigerlich zum Triumph des Kommunismus führen mussten. Denn Reich konstatierte: Der Siegeszug des Faschismus hat endgültig erwiesen, dass ohne psychologischpsychoanalytisches Verständnis sozialer Prozesse, ohne gravierende Veränderungen in Erziehung, Bildung, Sexualität, ohne Überwindung patriarchaler Normen auf Dauer kein anhaltender gesellschaftlicher Fortschritt möglich ist. Das brachte er im März 1934 im Nachwort zur zweiten Auflage der Massenpsychologie auf den Punkt: »Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann« (Reich 1934b, S. 283). Eine Tatsache, die bei den allermeisten Revolutionären bis heute nicht angekommen ist. Und das, obwohl sie schon in den Feuerbach-Thesen von Karl Marx lesen können: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. […] Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden« (Marx/Engels 1969, S. 5f.).533
Bekanntermaßen vernachlässigten dann jedoch Marx und Engels, auch nach späterer Einschätzung des Letzteren, »die Art und Weise« des Zustandekommens von »politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen« (zitiert in Osborn 1975, S. 11) – und damit auch das Psychische und Psychologische. Ausgerüstet mit marxistischen und psychoanalytischen Erkenntnissen bemühte sich Otto Feni532 Zu in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen marxistischen Faschismustheorien siehe Wippermann 1981, zu Faschismustheorien überhaupt Wippermann 1980. Von den etwa zeitgleich mit Reich Schreibenden hat wohl Ernst Bloch noch am stärksten psychosoziale Aspekte in seine Erklärung des Faschismus einbezogen (Bloch 1935). Zur Theoriebildung über den Faschismus bis 1933 siehe auch, zusammenfassend, Nolte (2008, S. 97–111). 533 Darauf und auf die Nähe zur dritten Feuerbach-These machte mich am 8.10.2011 Helmut Dahmer aufmerksam. Auch Reich hat bereits 1929 in Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse auf diese Feuerbach-These Bezug genommen (Bernfeld et al., S. 144). Allerdings hatte ja auch schon Goethe festgestellt: »Man könnt erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären« (Zahme Xenien 4, Goethe 1960, S. 683).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
chel schon 1919, diese Lücke zu füllen: »Die neue Erziehung schafft den neuen Menschen und dieser erst die neue Welt« (zitiert in Jacoby 1985, S. 83).534 Und: »Keine Revolution ändert etwas am Wesen, solange sie nur die Institutionen ändert und nicht auch die Menschen, die in diesen Institutionen leben sollen. […] Die Änderung des Menschen ist die Erziehung« (ebd.). Letzteres war allerdings noch eine recht begrenzte Vorstellung. Reich kommt das Verdienst zu, weit umfassender und genauer Möglichkeiten aufgezeigt zu haben, wie sich Menschen hin zu psychischer Gesundheit ändern können – durch Psycho- und Körperpsychotherapie – und wie seelische Deformationen vermieden werden können: nämlich zusätzlich zu politischer Revolution durch Neurosenprophylaxe. Vorschläge zur Durchführung dieser Prophylaxe leitete er später unter anderem aus seinen Forschungen zu natürlicher Geburt und nichtautoritärer Erziehung ab (Sharaf 1996, S. 390–402). Erst Ende der 1980er Jahre sollte dann der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz Reichs Vorstellungen zur Vorbeugung seelischer Störungen in ein Gesamtkonzept »therapeutischer Kultur« integrieren und dieses in das Geschehen von DDR-»Wende« und deutscher Wiedervereinigung einbringen (Maaz 1990, 1991).
2.8.3
Reaktionen
Die ersten Reaktionen auf frühe Versionen der Massenpsychologie stammen aus dem Jahr 1931. Das geht aus einem zwölfseitigen Schriftstück hervor, das Reich Ende 1933 oder Anfang 1934 verfasste: Zu meinem Ausschluss aus der KP (AOI).535 Den ersten Entwurf der Massenpsychologie habe er, so hält er dort fest, bereits 1931 »hohen wie niederen Funktionaeren der Kommunistischen Partei zur Kritik und Ueberlegung vorgelegt«, unter anderem dem »Leiter der AgitpropAbteilung« – also dem schon erwähnten ZK-Mitglied Joseph Winternitz –, der diesen Entwurf als »unbrauchbar weil ›psychologisch‹« ablehnte (ebd.). Dass 534 Dieser Satz von Fenichel wird schon von Peter Bahnen 1986 in einen ähnlichen Zusammenhang gebracht (Bahnen 1986, S. 12, Fn 5). 535 AOI, Manuscripts, Box 4, Zu meinem Ausschluss aus der KP. Am Kopf des Dokumentes ist handschriftlich vermerkt: »SEP–34« und »RF 24b [?] 1933«. Es kann nicht vor dem 21.11.1933 geschrieben worden sein. Gleich zu Beginn konkretisierte Reich, welche Anschuldigungen gegen ihn erhoben worden waren: »1. Meine Stellung zur kommunistischen Fuehrung schon vor Hitlers Machtuebernahme […] 2. ›Parteifeindliches‹ und ›unkommunistisches‹ Verhalten, bekundet durch Gruendung eines Verlages ohne Genehmigung der Partei und durch Herausgabe eines ›konterrevolutionären‹ Buches (eben der ›Massenpsychologie des Faschismus‹).«
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
bereits dieses Manuskript für Spannungen sorgte, erscheint mir auch einleuchtend, weil die KPD-Führung ja Stalins »Sozialfaschismus«-These folgte, der zufolge nicht die NSDAP, sondern die SPD der Hauptfeind war: Reich befasste sich also mit einem angeblichen Nebenschauplatz. Noch am 15.3.1932 urteilte W.G. Knorin, stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der sowjetischen Kommunisten und zuständig für die mitteleuropäischen Kommunistischen Parteien: »Die Gefahr liegt nicht darin, dass mal zehn- oder hunderttausend Arbeiter für Hitler stimmen – wenn sie heute für Hitler stimmen, dann können sie morgen auch für uns stimmen536 – daran ist nichts schlimmes, sondern die Gefahr liegt darin, dass wir es nicht geschafft haben, die sozialdemokratische Ideologie zu zerschlagen« (zitiert in Hoppe 2007, S. 299).537
Zudem befand man sich nach Moskauer und KPD-Lesart in Deutschland schon längst in der mal als »offen«, mal als »ausreifend, aber noch nicht ausgereift« bezeichneten faschistischen Diktatur, die durch eine Machtübernahme Hitlers höchstens noch verschärft werden konnte (Hoppe 2007, S. 157–173, 203–225, 291–328; vgl. Wippermann 1981, S. 73–89). Wahllos wurden alle politischen Gegner, auch die – mal »rechten«, mal »linken« – »Abweichler« aus den eigenen Reihen bei Bedarf als Faschisten oder Handlanger der Faschisten beschimpft. »Es kann daher nicht verwundern«, schreibt Bert Hoppe, »dass die schillernden Faschismus- und Diktatur-Definitionen an der kommunistischen Basis eine heillose Verwirrung stifteten: Anfang 1932 berichtete Thälmann nach Moskau, dass laut einer Umfrage unter 1000 KPD-Funktionären ›nur 5% eine einigermaßen richtige Antwort über die Frage des Faschismus geben konnten‹« (Hoppe 2007, S. 173).
Was immer Thälmann damals unter der »richtigen Antwort« verstanden und Moskau als solche akzeptiert haben mag – tiefschürfend konnte das schon deshalb nicht gewesen sein, weil »die Komintern nicht in der Lage war, die genuinen Züge des Nationalsozialismus zu analysieren oder ihn als eigenständige Be536 Dass Knorin hier bewusst darauf hinweisen wollte, wie ähnlich sich Hitlers und Stalins Regime waren, ist nicht anzunehmen. Sechs Jahre später wurde auch Knorin Opfer der »Säuberungen« Stalins (Vatlin 2009, S. 355). 537 Und noch am 3. und 4.2.1933, in zwei ihrer letzten Ausgaben, hielt es die Rote Fahne (auf S. 5 bzw. 9) für sinnvoll, den Abdruck eines Referats Manuilskis vor dem Exekutivkomitee der Jugendinternationale fortzusetzen. Titel: Wie die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg bereitete.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
wegung überhaupt wahrzunehmen« (ebd., S. 165). Genau um die Erkenntnis solcher Züge bemühte sich aber Reich in seiner Massenpsychologie. Reich brachte die Massenpsychologie offenbar spätestens im September 1933538 in Dänemark heraus. Wenige Monate später bezeichnete er sie als Anlass seines KPD-Ausschlusses. Auch im Nachwort, das er der zweiten Auflage des Buches 1934 anfügte, schrieb er, die Publikation des Buches habe seinen »Ausschluß aus der kommunistischen Partei zur Folge« gehabt (Reich 1934d, S. 279). Obwohl die Weichen dafür sicher ohnehin längst gestellt waren, ist diese Aussage plausibel. Am 21.11.1933 erfuhr Reich aus der dänischen KP-Zeitung Arbejderbladet, er sei »in Übereinstimmung« mit dem ZK der deutschen KP aus der dänischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden – deren Mitglied er jedoch nie war (Reich 1995, S. 208). Da es innerhalb der Komintern üblich war, dass Genossen, die sich dauerhaft in einem anderen Land niederließen, der dortigen KP beitraten, könnte allerdings den dänischen Kommunisten die Zuständigkeit für Reich zugefallen sein. Kurz nach seinem Eintreffen in Dänemark hatte Reich Verbindung mit der dänischen KP aufgenommen und dagegen protestiert, dass diese die Emigranten zu wenig unterstütze. Dabei kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit einem KPD-Funktionär. Reich händigte dann einem »Emigrantenvertreter« der KPD auf dessen Bitte hin das Manuskript der Massenpsychologie aus (ebd., S. 206f.). Deutsche Genossen waren also über die beabsichtigte Veröffentlichung und deren Inhalt informiert und dürften dies an ihre Leitung weitergemeldet haben, die seit Mai 1933 ihr »Auslands-Politbüro«, ab Herbst 1933 ihre »eigentliche Zentrale« in Paris hatte (Mallmann 2008, S. 494; vgl. auch Frei 1972, S. 174–199). Dänische und emigrierte deutsche KP-Mitglieder dürften alsbald vom Erscheinen des Buches erfahren haben – das nach Aussage Reichs innerhalb von drei Wochen bereits 500-mal verkauft wurde (AOI)539 – und auch dies der KPD-Exil-Führung gemeldet haben. Deren Zuständigkeit für Parteiausschlüsse dokumentiert unter anderem ein Beschlussprotokoll vom 6.5.1934 (BA RY1/12/3, Bl. 100). Darauf, dass die Pariser KPD-Führer – zu denen Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Franz Dahlem und Wilhelm Florin gehörten – auch am Ausschluss Reichs beteiligt waren, verweist eine Mitteilung des Psychoanalytikers Ernst Simmel. Dieser schrieb 1934, vermutlich im Mai, an Otto Fenichel: »In Paris traf ich auch mit Leuten 538 Wie bereits erwähnt, ist in Reich 1995, S. 206 der August 1933, im Vorwort zur Massenpsychologie jedoch der September 1933 als Erscheinungsmonat angegeben. 539 AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934, Brief an Otto Fenichel vom 23.11.1933, S. 3.
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
zusammen, die mit zum Richterkollegium gehörten, die unseren Freund R.(eich) aus ihrer Partei ausgeschlossen haben. […] Parteileute sind hoffnungslose Idioten […], haben keine anderen Sorgen als ›auszuschließen‹« (zitiert in Fenichel 1998, Bd. 1, S. 106). Wie Simmel im Vergleich dazu Reichs Ausschluss aus DPG- und IPV bewertete, ist leider nicht bekannt. Da Reich prominent war und die KPD zu dieser Zeit offizielle Schritte meist ohnehin nur noch mit Einverständnis der Komintern unternahm (Vatlin 2009, S. 180–197, Hoppe 2007, S. 327), ist davon auszugehen, dass sein Ausschluss mit Moskau abgestimmt wurde.540 Dass es dabei auch um die Massenpsychologie ging, geht schon aus der Arbejderbladet-Mitteilung hervor. Denn als Ausschlussgründe wurden dort unter anderem benannt: »sein parteifeindliches und unkommunistisches Auftreten in einer Reihe von Fällen, die Herausgabe eines Buches mit konterrevolutionärem Inhalt und sein Start eines Verlages ohne die Sanktion der Partei« (zitiert in Reich 1995, S. 208; Hervorhebung von mir – A. P.). Die Restunsicherheit darüber, welches Buch hier gemeint war, beseitigte Arbejderbladet am 1.12.1933, indem es einen Verriss der Massenpsychologie veröffentlichte. Reich wurde hier nicht nur »Feigheit« als »hervorragendste Eigenschaft« unterstellt, sondern auch vorgeworfen: Sein Buch »bedeutet objektiv eine so ernsthafte Untergrabung der Lehren der kommunistischen Propaganda, daß man es als konterrevolutionär bezeichnen muss« (zitiert ebd., S. 209).541 Reich kommentierte Jahre später: »Ich begriff nicht, wie ich so lange dieser Partei hatte angehören können« (Reich 1995, S. 207ff.). Dass er schon im November 1933 das Ende seiner KP-Mitgliedschaft so distanziert beurteilte, halte ich für unwahrscheinlich. 540 Alternativ berichtet Ernst Bornemann, dass Reich bereits 1932 »nach einer drei Tage andauernden Auseinandersetzung mit Willi Münzenberg und Edwin Hörnle aus der Partei ausgeschlossen« wurde (zitiert in Bahnen 1986, S. 105). Borneman gibt dies vom Hörensagen wieder. Da er von dieser Aussage nicht profitierte, sehe ich aber keinen Grund, sie zwingend als falsch anzunehmen. Wäre Reich jedoch tatsächlich schon 1932 ausgeschlossen worden, wäre das mit Sicherheit auch in den EV-Sitzungen im Januar/Februar 1933 ausgesprochen und ihm bekannt geworden. Weit wahrscheinlicher – und dann in Übereinstimmung mit Simmels obiger Mitteilung stehend – ist, dass der Ausschluss erst 1933 in Paris beschlossen wurde. Hoernle (1883–1952), zuvor u. a. für Bildungsarbeit, Agitation und Propaganda der KPD zuständig (Weber/Herbst 2008, S. 385f.), wäre ebenso wie Münzenberg inhaltlich kompetent dafür gewesen. Letzterer lebte zudem seit März 1933 in Paris und stand als ZKMitglied im Kontakt zur dortigen KPD-Exilleitung. Gegenüber der Kominternlinie allmählich kritischer eingestellt, könnte er sich für Reich verwendet haben (vgl. Peglau i. V.). 541 Eine Kopie des Artikels befindet sich in AOI, Orgone Institute, Box 4, The Mass Psychology of Fascism.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Schon mit dem ersten Satz der Massenpsychologie – »Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten« – hatte Reich ein Tabu gebrochen, denn: »Die deutsche Arbeiterklasse hatte, so hieß es in den Kominternbeschlüssen dieser Monate, keine Niederlage erlitten« (Reich 1995, S. 207). Sowjetische Kominternmitglieder hielten es weiter für undenkbar, dass sich »in einer industrialisierten Gesellschaft wie der deutschen« eine faschistische Diktatur halten könne und meinten, die »Hysterie auf den Straßen« dürfe nicht den Blick für das Wesentliche trüben: Die gegenwärtige Situation stelle nur die »Vorstufe« zu einer »großen Umwälzung« dar. Dass viele Genossen nun die KPD verließen oder gar zur NSDAP wechselten, sei eine »Härtung« der Partei; die »politische Linie und die organisatorische Politik« des KPD-ZKs »bis zum Hitlerschen Umsturz und im Augenblick dieses Umsturzes« seien »vollständig richtig« gewesen (zitiert in Hoppe 2007, S. 326f.). Dementsprechend urteilte am 7.1.1934 auch die in Prag erscheinende Zeitschrift Gegenangriff bezüglich der Massenpsychologie, »daß der vorübergehende [!] Erfolg Hitlers allerhand Kleinbürger, die sich – wie Reich – für Kommunisten halten, mitgerissen hat«. Reich vertrete zudem, so hieß es da, einen Zustand der »schrankenlosen Freiheit«, der »für die Hitlerpropaganda ein gefundenes Fressen ist«.542 Anzumerken ist: Herausgeber des Gegenangriff war jener Bruno Frei, der noch 1929 Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung so begeistert rezensiert hatte.543 Frei gibt in seinen Memoiren auch eine indirekte Bestätigung dafür, dass sein Verriss der Massenpsychologie mit der KP-Zentrale abgestimmt war. Noch bis 1935 erhielt Frei nämlich, wie er berichtet, für seine journalistische Tätigkeit die »Marschroute […] von Walter Ulbricht« (Frei 1972, S. 173), dem moskautreuen KPD-Führungsfunktionär, späteren SEDChef und DDR-Staatsführer (Weber/Herbst 2008, S. 953). Speziell zu seiner Arbeit am Gegenangriff vermerkt Frei: »Einmal in der Woche traf ich in einer Privatwohnung mit dem Bevollmächtigten der Partei zusammen; er überließ mir Material zur Auswertung, übermittelte die Richtlinien der Leitung, kritisierte die letzterschienene Nummer, versicherte sich der korrekten Redaktionsarbeit« (Frei 1972, S. 169). Dieser Bevollmächtigte nannte sich Kurt Funk – und hieß in Wirklichkeit 542 Zitate aus Reich 1995, S. 209ff. Vollständig dokumentiert in seiner Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie. Der entsprechende Zeitungsausriss aus dem Gegenangriff befindet sich auch in AOI, Orgone Institute, Box 4, The Mass Psychology of Fascism. 543 Vielleicht meinte Reich Frei, als er später über einen Pragaufenthalt Ende 1933 berichtete, »daß ein früherer begeisterter Anhänger meiner Arbeit, sogar Opponent der Parteiführung, nun völlig umgefallen war. […] Die Flucht in die Heimat ›Partei‹ war momentan ökonomischer« (Reich 1995, S. 221).
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Herbert Wehner (ebd.).544 Höchstwahrscheinlich war also auch Herbert Wehner der KP-Dissident Wilhelm Reich ein Begriff. 1937 sollte Wehner ihn neben drei Dutzend anderen (Ex-)Genossen bei der Stalinschen Geheimpolizei denunzieren als den »Trotzkisten Reich (lebt in Norwegen)« (Meyer 1994, S. 64). Ähnlich wie Arbejderbladet und Gegenangriff verurteilte am 30.4.1934 auch die Deutsche Volkszeitung545 die Massenpsychologie als konterrevolutionär und »völlig die Position des internationalen Trotzkismus« wiedergebend. Der »Sexualprediger« Reich sei, so hieß es hier, »ein verkannter Erotik-Eremit in der sexuellen Wüste«. Er liefere »eine sexuelle Verteidigung für die sozialfaschistischen Führer« und überziehe »den Klassencharakter des Faschismus mit einer undurchsichtigen Schleimhaut gehemmter Sexualität« (zitiert in ZPPS, Bd. 1, S. 260f.). Es gab jedoch auch weit positivere Pressereaktionen.546 Am 15.3.1934 schrieb Georg Gretor547 in Politiken, der Tageszeitung der dänischen Sozialdemokraten, das Buch sei »von so grundsätzlicher Bedeutung, dass ich nicht versuchen will, seinen Inhalt hier wiederzugeben oder es in einigen wenigen Sätzen zu kritisieren. Ich will hier nur auf seine Existenz aufmerksam machen und es hauptsächlich all denen zur Lektüre empfehlen, die sich mit der wichtigen Frage beschäftigen: Wie kann es angestellt werden, andere Länder vor der nationalsozialistischen Ansteckung zu bewahren?« (AOI).548
544 Vgl. auch Weber/Herbst 2008, S. 953, 1002. Frei schreibt: »Genosse Kurt wachte über die Linie, gegen Engstirnigkeit hatte er nichts einzuwenden. Wenn mir jemand gesagt hätte, Herbert Wehner alias Kurt Funk würde zwanzig Jahre später an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands stehen, ich hätte auf der Stelle nach einem Irrenarzt gerufen« (Frei 1972, S. 169). 545 Deren erste Ausgabe erschien am 15. Februar 1934, parallel zum Gegenangriff. Die Rezension der Massenpsychologie findet sich dann in Nummer 10 vom 20. April 1934 auf Seite 4. Auch diese Deutsche Volkszeitung stand exilierten KPD-Mitgliedern nahe. Sie ist aber nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Nachfolgepublikation des Gegenangriffs, die ab 1936 erschien (persönliche Informationen von Dieter Schiller am 15.3.2016). 546 Das belegt auch Bahnen (1986, S. 130–133) mit einer Auflistung, die sich weitgehend mit meiner deckt. 547 Gretor (1892–1943) war schon zu gemeinsamen Schülerzeiten ein Mitstreiter Siegfried Bernfelds. Er schrieb oft unter dem Pseudonym George Barbizon (Dudek 2012, S. 54ff. und Fn 30). 548 Abschrift bzw. Übersetzung in AOI, Orgone Institute, Box 4, The Mass Psychology of Fascism.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Weitere Reaktionen gab es in vergleichsweise kleineren Blättern. Unser Wort, die Halbmonatsschrift der trotzkistischen deutschen Sektion der Internationalen Linken Opposition, fasste in Ausgabe 1/1934 Reichs Hauptthesen zusammen und urteilte: »Wertvoll ist an dem Buch vor allem die psychoanalytische Aufdeckung einzelner Erfolgsmechanismen des Faschismus.« Es bestehe aber die Gefahr starker Einseitigkeit; erst die Praxis werde erweisen, ob es sich »um eine brauchbare Hilfsmethode des Klassenkampfes« oder nur um eines der vielen gerade kreierten »Universalrezepte« handele (ebd.).549 Das SAP-Organ Neue Front, zu dessen Autoren Willy Brandt gehörte, schrieb am 1.2.1934, Reich versuche »mit Hilfe der psychoanalytischen Methode« Tatbestände zu erhellen, die ansonsten »unter nichtssagenden Bezeichnungen wie ›Tradition‹« abgetan würden. Sei auch »vieles an dem Buch einseitig und überspitzt, so bietet es doch wertvolle Anregungen für die theoretische Durcharbeitung des historischen Materialismus und die politische Praxis« (ebd.). Am 1.7.1934 schloss die Zeitschrift der Freidenkerbewegung Freier Gedanke550 ihre Besprechung in ähnlicher Weise: »Ist auch manches an dem Buch sehr einseitig und überspitzt dargestellt, so bietet es doch wertvolle Anregungen für die Agitation und Propaganda.« Die wohl ausführlichste, nämlich sieben Seiten umfassende Rezension erschien im Oktober 1935 in der niederländischen Monatszeitschrift Bevrijding, herausgegeben vom Bund religiöser Anarchokommunisten. Unter der Überschrift »Massenpsychologie und Fascismus« erfuhr man dort, dass Reichs Arbeit in mehreren Ausgaben von Bevrijding thematisiert und zur Grundlage von Diskussionen gemacht worden war. Weiter hieß es: »Unsere Absicht, die Aufmerksamkeit der Leser auf diese Arbeit von Reich zu lenken, ist also – und wir meinen zu wissen, in grossem Maße – erreicht« (AOI).551 549 Zeitungsausriss in AOI, Orgone Institute, Box 4, The Mass Psychology of Fascism. 550 Vermutlich die Zeitschrift des tschechoslowakischen Freidenkerbundes. Autor scheint der Kulturphilosoph und Freidenker Theodor Hartwig gewesen zu sein, der auch für Reichs Exilzeitschrift schrieb (Rothländer 2010, S. 166). Unser Wort und Neue Front rezensierten auch zumindest noch eine weitere Arbeit aus Reichs Sex-Pol-Gruppe (ebd., S. 276). 551 Reichs Archiv enthält eine »zusammenfassende Übersetzung« der Besprechung: AOI, Orgone Institute, Box 4, The Mass Psychology of Fascism. 1936 sollte dann auch Max Horkheimer – allerdings nur in einer Fußnote – in der Zeitschrift für Sozialforschung festhalten, dass Reichs Massenpsychologie eine »wichtige Fortführung« psychoanalytischer Erforschung »der psychischen Mechanismen, durch die Haß und Grausamkeit erzeugt werden«, darstelle. Mit Reichs »Deutung einzelner Züge des bürgerlichen Charakters» stimme er »in vielen Punkten« überein. Allerdings leite Reich, »hierin ein echter Schüler Freuds«, dies »im wesentlichen aus der Sexualunterdrückung ab« und schreibe »der Enthemmung der genitalen Sexualität […] eine fast utopische Bedeutung zu« (Zeitschrift für Sozialforschung 1980, Bd. 5, S. 224, Fn 3).
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2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus
Auch in der Exilzeitschrift Neue Weltbühne, die erst allmählich auf Kominternkurs umschwenkte,552 hatte sich noch am 7.12.1933 Ludwig Marcuse positiv über die Massenpsychologie geäußert: »Reich sucht […] das theoretische Fundament für eine realistische, also wirksame Propaganda gegen den Faschismus. Er ist, wohl mit vollem Recht, der Ansicht, daß der Marxismus in seiner heutigen theoretischen Gestalt eine solche Propaganda nicht fundieren kann« (zitiert in Reich 1995, S. 212). Die Lektüre sei »dringend zu empfehlen«, da hier auf »ein neues, lebendiges Mittel« hingewiesen werde, »indem überzeugend neben den Appell gegen den Hunger der Appell gegen die Sexualnot gesetzt wird«. Reich stehe allerdings, so Ludwig Marcuse, »dem Marxismus kritischer gegenüber als der Psychoanalyse«, sehe »in der Rebellion gegen die Sexualunterdrückung« »die einzige Möglichkeit, der falschen Ideologie die Macht über die Massen heute zu nehmen«. Diese »Direktive zur Aufhebung der Klassengesellschaft« könne jedoch »nur eingeschworene Psychoanalytiker restlos überzeugen« (ebd.). Letzteres stimmte aber eben nur in seltenen Ausnahmen. Zu diesen gehörte Ernst Simmel. Von seinem schon erwähnten Parisaufenthalt im Jahre 1934 berichtete er, Reichs »Buch Massenpsychologie des Faschismus habe ich auf der Reise gelesen. Es gefällt mir sehr gut. Vieles genauso, wie ich es mir dachte« (zitiert in Fenichel 1998, Bd. 1, S. 106). Dass Reich mit seinem Buch noch immer in die psychoanalytische Bewegung hineinwirken wollte, belegt ein Brief vom 14.10.1933 an den Analytiker Heinz Hartmann, den Stellvertreter von IPV-Sekretärin Anna Freud. Darin bekräftigte Reich sein Interesse daran, »dass offiziell zu meinen Arbeiten und Anschauungen Stellung genommen wird, was bisher nicht zu erzielen gewesen ist. […] Mittlerweile ist meine ›Massenpsychologie des Faschismus‹ erschienen, wieder eine gute Gelegenheit, sich zu äußern« (AOI).553 Zudem sandte er das Buch an Freud, versehen mit der Widmung: »Professor Freud in Verehrung überreicht Im Oktober 1933 Veröffentlicht als Antwort auf die Kulturbarbarei des Faschismus« (Davies/Fichtner 2006, Ziffer 2913).
552 Was schon dadurch belegt ist, dass dort noch 1935 (Heft 9, S. 264–268) ein Reich-Artikel erschien: Sexualität und Klasse. Es handelt sich dabei um einen den Seiten VIII-XIII des Vorworts der ersten Ausgabe von Einbruch der Sexualmoral entnommenen Text. 553 AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Freud nahm das Buch in den Bestand seiner Bibliothek auf. Es gab nur eine einzige öffentliche Stellungnahme eines Psychoanalytikers zur 1933er Ausgabe der Massenpsychologie – und dies nicht in einer analytischen Publikation. Karl Landauer rezensierte in der Zeitschrift für Sozialforschung die Massenpsychologie zusammen mit Reichs Charakteranalyse. Landauer, zunächst Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, dann der DPG, außerdem Mitbegründer des von den Nationalsozialisten geschlossenen Frankfurter Psychoanalytischen Institutes, war 1933 von Deutschland nach Holland emigriert. 1943 wurde er dort verhaftet, im Januar 1945 verhungerte er im KZ Bergen-Belsen (Brecht et al. 1985, S. 56, Stroeken 2012). »Reich«, so begann Landauer 1934 seine vorwiegend zustimmende Einschätzung, »ist ein Einzelgänger, der etwas zu sagen hat, schon deshalb, weil er sehr vieles und dies sehr scharf gesehen hat und sein Handwerk gut versteht […]. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Psychologen untersucht er nicht die Psychologie der Führer einer Massenbewegung […]. Er gibt sich mit Schlagworten wie Verneblung der Massen und Massenpsychose nicht zufrieden, sondern fragt, was in jedem einzelnen Menschen der Tendenz der Führer entgegenkommt, so daß sie sich vernebeln lassen« (Zeitschrift für Sozialforschung, Reprint 1980, Bd. 3, S. 106f.).
Der spätere Psychoanalytiker Heinrich Löwenfeld alias »Heinrich Lind« widmete der Massenpsychologie ebenfalls eine Besprechung. Im Internationalen Ärztlichen Bulletin554 ( Jg. 1934, Heft 3/4, S. 67f.) würdigte er sie als »Versuch einer marxistischen Psychologie«, geschrieben mit »wissenschaftliche[r] Energie und revolutionäre[m] Elan«. Auch ihm fiel Kritikwürdiges auf, wie der von Reich ignorierte antifaschistische Widerstand religiöser Kreise. Dennoch schloss er, dieses Buch enthalte »eine Fülle fruchtbarer Gedanken und Untersuchungen und muß als eine der wichtigsten Grundlagen zur Diskussion und Klärung der Probleme der Gegenwart angesehen werden«. Wie schon berichtet, verfasste der (Nicht-Analytiker) H. Mayor im International Journal of Psychoanalysis 15/1934 die offenbar einzige, zudem äußerst knappe Information zu Reichs Buch, die in einer psychoanalytischen Zeitschrift 554 Hier wurde übrigens auch mehrfach für Reichs Massenpsychologie und andere seiner Bücher, für die Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie und weitere Schriften aus Reichs Sexpol-Verlag geworben (ebd., 1934/2, S. 36, 1934/6, S. 88, 1934/8, S. 129, 1934/12, S. 191, 1935/2/3, S. 43f., 1936/4, S. 65).
292
2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation
veröffentlicht wurde, wollte dabei aber nur für Kommunisten einen tieferen Sinn darin erkennen, sich mit dem Buch zu befassen. 1950 bemühte sich Alexander Mitscherlich, der unter anderem in Die Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich, A. u. M. 1988) die NS-Vergangenheit aufarbeitete, um ein Exemplar der Massenpsychologie. Da die deutschen Ausgaben vergriffen waren, erhielt er laut Antwortschreiben von Reichs Assistentin vom 10.5.1950555 ein Exemplar der dritten, englischsprachigen Auflage. 2001 würdigte dann mit Fritz E. Hoevels offenbar erstmals ein Psychoanalytiker ausführlich die 1933er Massenpsychologie (Hoevels 2001, S. 292–324); 2009 konzentrierte sich der Wiener Analytiker Wilhelm Burian darauf, zu zeigen, dass sich Reich hier angeblich »zu Unrecht auf Marx und Freud beruft« (Diercks/Schlüter 2009, S. 191–203). Im institutionalisierten Hauptstrom der Psychoanalyse spielt das Buch dennoch bis heute keine Rolle – bedauerlicherweise. Denn trotz allem, was sich an Reichs Massenpsychologie kritisieren lässt, halte ich es für eines der wichtigsten psychoanalytischen Bücher.556 Johannes Cremerius fragt: »War die Massenpsychologie […] nicht eine großartige Analyse, die Reich ganz und gar im Geiste der Freudschen Gesellschaftskritik verfasst hatte?« (Cremerius 1997, S. 160). Reichs Massenpsychologie ist auch der Beweis dafür, dass es bereits 1933 eine fundierte Psychoanalyse des Faschismus hätte geben können – und damit auch eine Psychoanalyse gegen den Faschismus. Auch Erich Fromm hatte bereits einen eigenen sozialwissenschaftlich-empirischen Zugang zu den Phänomenen Autoritarismus und Faschismus gefunden, Heinrich Löwenfeld und Erik Erikson näherten sich dem Thema ebenfalls an, in Fenichels Rundbriefekreis wurde es ohnehin diskutiert. Es existierte also ein mitteilenswerter wie auch ausbaufähiger Kenntnisstand. Die psychoanalytische Organisation hatte die Wahl, dieses Engagement zu unterstützen – oder es zu unterdrücken. Sie entschied sich, zumindest nach außen hin, für Letzteres.
2.9
Trennung von der Psychoanalyseorganisation
2.9.1
Gefährdetes Exil
Im Juli 1933 kam der DPG-Vorstand Freuds Aufforderung »[B]efreien Sie mich von Reich« nach: Reich wurde aus der DPG ausgeschlossen. Aufgrund der zu 555 Dieser Brief wurde 2010 entdeckt und befindet sich nun in der Bibliothek des Zentrums für Psychosoziale Medizin, Heidelberg. Ute Struck gewährte mir Einsicht in das Dokument. 556 Die ungebrochene Aktualität vieler dort festgehaltener Erkenntnisse belegen u. a. die langjährigen Leipziger »Mitte«-Studien (Decker et al. 2016).
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diesem Zeitpunkt noch geltenden Statuten war er damit gleichzeitig nicht mehr IPV-Mitglied – denn dazu war die Zugehörigkeit zu einer Landesorganisation erforderlich. In seinem dänischen Exil erfuhr Reich zunächst nichts von all dem (Brecht et al. 1985, S. 103).557 Bereits im Herbst 1933 war abzusehen, dass Reich, dem die dänischen Behörden nur ein sechsmonatiges Touristenvisum erteilt hatten, die Ausweisung drohte (Sharaf 1996, S. 219). Die Fremdenpolitik des an Deutschland grenzenden Landes war »von Anbeginn von dem Bemühen geprägt, Juden und Kommunisten von Dänemark fernzuhalten. […] Offene politische Arbeit wurde von den Behörden nicht toleriert« (Lorenz 2008a, S. 204f.). Reichs Massenpsychologie dürfte daher nicht nur für die dänischen Kommunisten ein Ärgernis gewesen sein. Auch seine Bemühungen, wieder therapeutisch tätig zu sein, lösten Presseattacken aus. Eine dänische Zeitung rief am 29.10.1933 dazu auf, Reich auszuweisen, »um einen dieser deutschen [sic] sogenannten Sexologen daran zu hindern, mit unseren jungen Männern und Frauen seinen Unsinn zu treiben und sie zu dieser perversen Pseudowissenschaft zu verleiten« (Sharaf 1996, S. 219). Damit dürfte auch die Psychoanalyse gemeint gewesen sein. Freunde und Kollegen Reichs protestierten gegen seine Ausweisung. Im Namen der dänischen Analytiker558 wandte sich Erik Carstens am 10.11.1933 an Sigmund Freud und bat ihn, sich ebenfalls für Reich zu verwenden (Reich/Eissler 1972, S. 173–176).559 Freud antwortete, Reich sei »tüchtig in der Analyse, aber sein kommunistisches Glaubensbekenntnis sei nicht günstig für seine wissenschaftliche Objectivität; auch vertrete er in mehrere [sic] Punkte extreme Ansichten mit denen wir nicht übereinstimmen. […] Es wäre nicht in Einklang mit meinem Urteil zu bringen, wenn ich die in Ihrem Brief genannten Wünsche erfüllen würde« (AOI).560
557 Erstmals las Reich dann in einem Brief von Fenichel vom 30.7.1934, dass dieser von MüllerBraunschweig gebeten worden war, Reichs Einverständnis einzuholen, ihn im Kongressmaterial nicht mehr als DPG-Mitglied aufzuführen. Fenichel protestierte umgehend und gab Müller-Braunschweigs Anfrage an Reich weiter (AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934). Reich reagierte darauf am 1.8.1934 mit einem schriftlichen Protest, den er an Anna Freud als Vertreterin der IPV-Leitung schickte (Reich 1935, S. 55f.). Erst am Vorabend des Luzerner Kongresses wurde ihm zunächst inoffiziell – offenbar von Boehm (Reich schreibt »der deutsche Sekretär«) – mitgeteilt, dass er aus der DPG ausgeschlossen wurde (Reich 1995, S. 253). 558 Diese Gruppe, die sich Dänischer Psychoanalytischer Verein nannte, war zu dieser Zeit noch nicht offizielles Mitglied der IPV, strebte dies jedoch an. 559 Abschrift des Briefes von Carstens in AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934. 560 Abschrift des Briefes in AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934 (vgl. auch Rothländer 2010, S. 152 inkl. Fn; Reich 1995, S. 228; Cremerius 1997, S. 143).
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2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation
Am 23.11.1933 schrieb Reich, der eine Kopie dieser Antwort Freuds erhalten hatte, an Otto Fenichel: »Die IPV und die Sexualpolbewegung werden in absehbarer Zeit schaerfste Gegner sein! Nicht weil ich es so will, sondern weil die IPV nicht will und auch nicht kann. Und die klinische Forschung wird dabei mitgehen, mit mir nämlich. […] Deutschland wird sich gleichschalten, Oesterreich versumpfen und in Amerika wird es brave akademische Wissenschaft sein, wenn sie durchhalten« (AOI).561
Eine Woche später, am 1.12.1933, siedelte Reich notgedrungen nach Schweden über. Doch hier wiederholten sich Ablehnung und Überwachung, einschließlich einer illegalen Durchsuchung von Reichs Räumen durch die schwedische Polizei. Wieder gab es Proteste dagegen und wieder weigerte sich Freud, sich daran zu beteiligen: »Ich kann mich Ihrem Protest in Sachen des Dr. Wilh. Reich nicht anschließen« (Reich 1995, S. 228).562 Nachdem auch das – ebenfalls auf sechs Monate befristete – schwedische Visum abgelaufen war, ging Reich im Mai 1934 illegal nach Dänemark zurück und versuchte, dort weiterzuarbeiten. Doch »von nun an sollte es sein Schicksal werden, daß jede Regierung des jeweiligen Landes, in dem er sich gerade aufhielt, mit rechtlichen Maßnahmen gegen ihn vorging« (Sharaf 1996, S. 220). Die entscheidende Weichenstellung dafür, dass Reich und die organisierte Psychoanalyse in Zukunft getrennte Wege gehen sollten, erfolgte im August 1934.
2.9.2
Der Luzerner IPV-Kongress
Für die Zeit von 26. bis 31.8.1934 wurde der 13. psychoanalytische Kongress nach Luzern einberufen. Ohne den geringsten Hinweis auf die bereits erfolgte Streichung Reichs aus DPG und IPV bestätigte Anna Freud Reich am 27.7.1934 561 AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934. Dass »die klinische Forschung« mit Reich »mitgehen« würde, war eine seiner Fehleinschätzungen über die internen Verhältnisse in der IPV. 562 Eine Fotokopie dieser Karte Freuds vom 26.5.1934 befindet sich in AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934. Sie enthält tatsächlich nur diesen einen Satz. Weder dort noch in Reich 1995 oder Sharaf fand ich eine eindeutige Mitteilung, an wen sich Freud hier gewandt hatte bzw. wer der Initiator der zweiten Unterstützungsaktion für Reich war. Die von Sharaf verwendete Darstellung legt allerdings nahe, dass es Bronislaw Malinowski war (Sharaf 1996, S. 219f.). Da dieser Kontakt zu Reich hatte, könnte er ihm auch die Kopie gesandt haben.
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brieflich, dass die Kongressleitung den von ihm eingereichten Vortrag angenommen habe und er diesen am Freitag, den 31.8., vormittags halten solle (AOI).563 Schon zu Beginn des Kongresses machte IPV-Präsident Jones klar, welches Image er für die Psychoanalyse nun für nötig hielt. Dazu knüpfte er an die jüngsten Ereignisse in NS-Deutschland an: »Es wäre ein leichtes, einen empörten Protest einzulegen gegen die Art, in der diese politischen Geschehnisse unsere Arbeit gehindert und das Leben unserer Kollegen gestört haben. Ein solches Vorgehen wäre jedoch sicherlich nutzlos und vielleicht schädlich. Es hieße übrigens, von unserem eigenen Niveau herabzusteigen und an dem Gefühlsaufruhr unserer Gegner teilzunehmen. […] Wir sehen wieder einmal, daß Politik und Wissenschaft sich nicht besser vermischen als Öl und Wasser. […] Der Meister unserer Schule, der, wie wohl bekannt, von starken humanitären Wünschen für die Verbesserung des menschlichen Lebens bewegt ist, hat es trotzdem immer verstanden, diese getrennt von seiner wissenschaftlichen Arbeit zu halten, die deshalb nie in ihrer Reinheit gelitten hat. […] Es fehlt unter uns nicht an Zeichen der Ungeduld mit unseren sozialen Bedingungen und an Bestrebungen, zu ihrem Wechsel beizutragen. Es folgt aus dem eben Gesagten, daß jeder, der solchen Impulsen nachgibt, im selben Grad als Analytiker verliert. Und der Versuch, eigene soziale Ideen im Namen der Psychoanalyse zu verbreiten, heißt ihre wahre Natur fälschen, ist ein Mißbrauch der Psychoanalyse, den ich entschieden rügen und zurückweisen möchte« (IZP-Korrespondenzblatt 1935/21, S. 113f.).
Der ganze Passus dürfte ebenso eine Absage an die Positionen Reichs gewesen sein wie eine Warnung an die »Links«-Freudianer, ihm zu folgen. Damit war die Veranstaltung von Anfang an sowohl auf Reichs Ausschluss wie auch auf die Vermeidung von Konflikten mit dem Hitler-Regime ausgerichtet. Mit der Begründung, Reich sei kein DPG-Mitglied mehr, wurde ihm nun auch offiziell die IPV-Mitgliedschaft aberkannt.564 Dies war allerdings eine ausgesprochen fadenscheinige Erklärung; Fenichel sprach von »Perfidie« (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 135). Denn auf demselben Kongress wurde eine Regelung beschlossen, mithilfe derer man auch für Reich eine Lösung hätte finden können: Zur Emigration gezwungene Analytiker sollten ab sofort auch als »unmittelbare«, also keiner Landesgruppe zugehörige IPV-Mitglieder anerkannt werden können. Zudem hätte für Reich prinzipiell die Möglichkeit bestanden, in eine andere Landesgruppe der IPV einzutreten und damit auch wieder IPV-Mitglied zu werden. Wohl um dies zu 563 AOI, Orgone Institute, Psa., April 10, 1933–1934. 564 Details dazu bei Fallend (1997, insbesondere S. 42–56); Nitzschke (1997a, insbesondere S. 85–92); Schröter (1998).
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verhindern, wurde der skandinavischen Analytikergruppe die von ihr beantragte Anerkennung durch die IPV nur unter der Bedingung zugestanden, dass sie Reich – der sich dort bereits stark engagiert hatte – die Aufnahme als Mitglied verweigerte (Nitzschke 1997a, S. 81, Fn 20). Der ebenfalls auf dem Kongress anwesende Otto Fenichel berichtet: »Anna Freud, sowie die anderen Redner der I.P.V. […] gaben ohne weiteres zu, daß es bei gutem Willen juristisch möglich wäre, Reich wieder zum Mitglied zu machen; daß aber dieser gute Wille fehle und, wie sie meinten, gut begründet fehle. Man sei der Ansicht, daß es ohne Krach für beide Teile, für I.P.V. und für Reich, besser wäre, wenn man getrennt marschierte, und zwar sei der Ausschluß Reichs weder seinen von Freud abweichenden Ansichten zuzuschreiben (andere Gegner des Todestriebes habe man sehr gern in der Vereinigung), noch seinen politischen Ansichten (andere Kommunisten ebenfalls),565 sondern der spezifischen Art, wie Reich beides miteinander verbinde. Er behaupte, die Psychoanalyse zu einem, ›Sexualökonomie‹ genannten, eigenen Wissenschaftssystem konsequent weiterentwickelt zu haben, das beweise, daß die PSA. als solche mit unbedingter Notwendigkeit eine gewisse politische Tätigkeit als Konsequenz verlange« (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 135f.).
Der Vorwurf, aus den psychoanalytischen Erkenntnissen ein bestimmtes politisches Engagement abzuleiten, ist auch insofern bemerkenswert, als Freud 24 Jahre zuvor ganz ähnliche Überlegungen wie die hier nun angeprangerten angestellt hatte. 1910 bat er Alfred Adler, der sozialistischen Ideen anhing und gute Kontakte zur österreichischen Sozialdemokratie hatte (Reichmayr 1994, S. 23), er möge beim nächsten psychoanalytischen Kongress »die Frage […] erörtern, ob die P(sycho) A(nalyse) mit jeder Weltanschauung verträglich ist, oder ob sie nicht vielmehr zu einer ganz bestimmten freiheitlichen, in Erziehung, Staat und Religion reformatorischen drängt, die notwendiger Weise die Anhänger der P(sycho) A(nalyse) zum Anschlusse an eine gewisse Partei im praktischen Leben auffordert« (zitiert in Falzeder 2010, S. 1120f.).
Wurde Freud 1933/34 einmal mehr durch Reich mit einem seiner früheren Standpunkte konfrontiert? Wäre also der Freud von 1910 für die IPV von 1934 möglicherweise auch schwer aushaltbar gewesen? Fenichel berichtet weiter, Reich habe auf die Vorhaltungen der IPV-Funktionäre erwidert,
565 Aber eben keine, die offen das NS-Regime attackierten.
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»daß seiner Meinung nach das Vorgehen des Vorstandes von seinem Standpunkt aus durchaus konsequent sei. […] Daß er meine, daß tatsächlich seine Richtung etwas vertrete, was im krassen Widerspruch zu dem, was die I. P.V. heute lehre und betreibe, stehe. Er finde deshalb die Forderung nach seinem Austritt berechtigt und wolle für einen solchen nur eine Bedingung stellen: Daß eine ausführliche Begründung für diesen Schritt der I.P.V. publiziert werde. Auf die Frage, weshalb er eine solche Veröffentlichung wolle, erwiderte er, er möchte, daß vor der Öffentlichkeit die Gründe der I. P. V. festgelegt werden, damit er sich auch öffentlich mit ihnen auseinandersetzen könne« (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 135f.).
In Reichs Buch Menschen im Staat liest sich das anders: »Ich erklärte, daß ich den bereits vollzogenen Ausschluß aus der IPV vom Standpunkt der Todestriebtheoretiker aus voll begreife, denn meine Anschauungen hätten sich in so entscheidender Weise von dem der Psychoanalyse von 1934 entfernt, daß eine Verständigung kaum mehr möglich wäre. Doch gleichzeitig betonte ich, daß ich mich als legitimen Fortsetzer der ursprünglichen, naturwissenschaftlichen Psychoanalyse betrachte und von diesem Standpunkt aus den Ausschluß […] nicht akzeptiere. Da sich jedoch rein formal geschäftsmäßig nichts mehr machen ließ, forderte ich die Publikation der Gründe des Ausschlusses in der [Internationalen Psychoanalytischen] Zeitschrift« (Reich 1995, S. 256).566
Letzteres wurde ihm zugesagt. Aber diese Zusage wurde nicht eingehalten. Trotz alledem hielt Reich wie geplant am letzten Kongresstag seinen Vortrag. Es war das letzte Mal, dass er auf einem psychoanalytischen Kongress sprach. Unter der Überschrift »Weitere Probleme und einige Konsequenzen der Charakteranalyse« stellte er den aktuellen Entwicklungsstand seiner (Körper-)Psychotherapie567 dar. Sowohl für sein Verhältnis zu den anderen Analytikern wie auch für den Vergleich zwischen deren und seinem therapeutischen Vorgehen traf es nun zu, wenn er konstatierte: »Die Kluft ist, fürchte ich, schwer überbrückbar geworden« (Reich 1999, S. 401).568 566 Zum gesamten Ablauf siehe Reich (1995, S. 235–261). 567 Im Abstract hatte er zum Inhalt seines Vortrages angegeben: »Darstellung der Herkunft der ›Ichtrieb‹-Energie anhand klinischer Beispiele, Fallangst und oberflächliche Assoziation. Objektverlust und Kontaktlosigkeit. Vegetative Reaktionen nach Lösung der charakterlichen Panzerung. Muskelrigidität und charakterliche Verkrustung. Einige psychophysische Grenzfragen« (AOI, Orgone Institute, Psa., April 10, 1933–1934). 568 Unter dem Titel Psychischer Kontakt und vegetative Strömung brachte Reich 1935 eine erweiterte Fassung des Vortrages als Broschüre heraus, übersandte Sigmund Freud ein
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2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation
Liest man Fenichels Darstellung, aber auch Reichs eigene ausführliche Schilderung der Luzerner Vorgänge (Reich 1995, S. 253–259), gewinnt man den Eindruck, Reich sei mit dieser erneuten, für ihn ja auch nicht völlig unerwartet gekommenen Trennung (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 120) recht souverän umgegangen. Hält man sich jedoch vor Augen, dass Reich – der noch kurz zuvor innerhalb der Psychoanalyse und in kommunistischen Kreisen eine geachtete Stellung einnahm und große Entwicklungschancen für sich sah, der zudem die Psychoanalyse als Mutter, die marxistische Sozialwissenschaft als Vater seiner Sexualökonomie bezeichnete (Reich 1986, S. 22) – nun zu einem heimatlosen, existenziell bedrohten Emigranten geworden war, dann kann man vermuten, dass er unter seiner Situation schwer zu leiden hatte. Ich denke, die Trennung von den Psychoanalytikern dürfte ihn noch weit mehr getroffen haben als die von den Kommunisten. Nicht zuletzt weil auch Freud persönlich für ihn zu einer äußerst wichtigen Vater-(Ersatz-)Figur geworden war.
2.9.3
Reichs biologische Experimente
Nach dem Luzerner Kongress wechselte Reich seinen Wohn- und Arbeitsort ein weiteres Mal. Ende Oktober 1934 wagte er im norwegischen Oslo in mehrfacher Hinsicht einen Neuanfang. Zusätzlich zur Weiterentwicklung der Körperpsychotherapie, von ihm jetzt Vegetotherapie genannt, widmete er sich nun biologischen Forschungen. Zunächst versuchte er experimentell nachzuweisen, was auch Freud annahm: dass nämlich die Energie des Sexualtriebes, die »Libido«, eine physiologische Basis habe. Dem wollte Reich mittels Hautpotenzialmessungen, vorgenommen bei sexueller Erregung und anderen Gefühlszuständen, auf die Spur kommen. Schon zuvor war er durch die Lektüre zeitgenössischer biologischer Forschungsliteratur569 zu der Annahme gelangt, dass sich Lebewesen seit dem Einzellerstadium entweder expansiv zur Welt hin orientierten – was beim Menschen zum Beispiel im Zustand der Lust geschehe – oder kontraktiv von der Welt zurückzögen – zum Beispiel bei Angst und Bedrohung. Dem, so meinte er, entsprächen libidoenergetische Veränderungen, die sich wiederum in den elektrischen Ladungsverhältnissen niederschlügen: Lust müsste einhergehen mit elektrischer Aufladung der Körperoberfläche, Unlust und Angst mit einer Abnahme dieser Ladung und deren Verlagerung in Richtung Körperinneres (Sharaf 1996, S. 252ff.). Der experimentelle Nachweis dafür gelang ihm Exemplar (siehe Reich/Eissler 1972, S. 214f.) und übernahm diesen Text dann auch in die erweiterte Fassung der Charakteranalyse (Reich 1999, S. 389–468). 569 Zum Beispiel von Max Hartmann und Ludwig Rhumbler (Sharaf 1996, S. 248).
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nicht vollständig. Dennoch wurde er sich einer »funktionellen Identität« zwischen physiologischen und emotionalen Vorgängen im Menschen, eines untrennbaren Zusammenhangs zwischen Körper und Psyche immer sicherer (ebd., S. 255f.). Mit seinem Brückenschlag zwischen Psychoanalyse und Naturwissenschaft stand Reich nicht allein da. Mehrere Analytiker, wie etwa Franz Alexander, versuchten damals, für Freuds Triebtheorie eine physikalische Basis zu finden (Sulloway 1979, S. 555–559). Die intensivsten Bemühungen diesbezüglich unternahmen Siegfried Bernfeld und sein Kooperationspartner, der Ingenieur Sergej Feitelberg, zwischen 1929 und 1935. Sie wollten mittels »Libidometrie« – so der von ihnen kreierte Begriff – belegen, dass die Libido eine Spezialform von Energie sei und daher auch auf sie physikalische Gesetze angewendet werden könnten (vgl. Dahmer 2009a, S. 225f.). Auch Bernfeld und Feitelberg bauten ein entsprechendes »Libidomessgerät« und untersuchten damit Hautreaktionen und Temperaturunterschiede im menschlichen Körper (Bacher 1992, S. 182–196). Der Philosoph Richard Bacher hebt in Hinblick auf Bernfelds Forschungsansatz positiv »die prinzipielle Intention« hervor, »psychoanalytische Beobachtungsdaten mit physiologischen, physikalischchemischen oder etwa auch soziologischen in einer einheitlichen Wissenschaft vom Menschen kompatibel zu machen«. Darüber hinaus würdigt er speziell Bernfelds Versuch, die Psychoanalyse von dem Mythos zu befreien, sie sei eine »Wissenschaft vom ganz Anderen«, und »die energetischen Grundlagen der Psychoanalyse […] genauer zu durchdenken und auf Basis der Energielehre der Physik zu diskutieren« (ebd., S. 188, 199). Ähnliches ließe sich auch von Reichs Untersuchungen sagen. Während Reich deshalb allerdings, nicht zuletzt von Psychoanalytikern, wiederholt attackiert wurde,570 erntete Bernfeld ob seiner »Libidometrie« von seinen Berufskollegen nur spärliche Kritik (Dudek 2012, S. 495ff.). Im Gegenteil: Der »Libidometrie« wurde breiter Raum in psychoanalytischen Publikationen zur Verfügung gestellt. Allein in der von Freud herausgegebenen Imago wurden Bernfeld und Feitelberg zwischen 1929 und 1934 fünf Artikel mit einem Umfang von insgesamt etwa 170 (!) Seiten eingeräumt (ebd., S. 605), um über ihre Ideen und Experimente in aller Breite zu berichten. Und nicht nur das: 1930 erschien ein Teil dieser Artikel auch noch in Buchform im Internationalen Psychoanalytischen Verlag: Energie und Trieb. Psychoanalytische Studien zur Psychophysiologie (ebd.). Im Jahr darauf hob Freud Bernfelds libidometrische Versuche sogar in einem an die Berliner Universität gerichteten Empfehlungsschreiben für Bernfeld würdigend hervor.571 570 So in neuerer Zeit beispielsweise durch Hartmann/Zepf (1997, S. 223, 228). 571 Freud schrieb am 19.2.1931 nach einem einleitenden allgemeinen Lob für Bernfeld (»durch klaren scharfen Intellekt zur wissenschaftlichen Arbeit befähigt«): »Kürzlich hat er in der Zeitschrift Imago 1929/30 unter dem Titel Energie und Trieb eines der schwierigsten spekulativen
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Bernfeld hatte allerdings – ganz im Gegensatz zu den Intentionen Reichs bei seinen späteren Experimenten – versucht, mit der »Libidometrie« auch für Freuds Todestrieb eine physikalische Basis zu finden. Das legte er in dem 1930er Imago-Artikel Der Entropiesatz und der Todestrieb (Bernfeld/Feitelberg 1930) ausführlich dar. Aber selbst an Reichs diesbezüglichen Ansätzen scheint Freud interessiert gewesen zu sein: Reichs 1937 erschienene Abhandlung Experimentelle Ergebnisse über die elektrische Funktion von Sexualität und Angst (Reich 1937), in der er seine Untersuchungen darstellte, nahm Freud ebenfalls in seine Bibliothek auf (Davies/ Fichtner 2006, Ziffer 2907). Hatte sich Reich mit den bioelektrischen Experimenten also noch bemüht, eine frühe Annahme Freuds in einer für damalige Psychoanalytiker nicht untypischen Weise zu bestätigen, ging er, als er 1936 erneut biologische Untersuchungen durchführte, deutlicher eigene Wege. Auch dabei folgte er einem damaligen Trend biologischer Forschung, stand also »weder in Hinsicht auf sein Erkenntnisinteresse noch bezüglich der theoretischen Prämissen allein« (Sawicki 2011, S. 252).572 Vielmehr bestanden »Schnittmengen zwischen Reichs Theorien und den Forschungen anderer Wissenschaftler auf diesem Feld […]. Tatsächlich fand in den 1930er Jahren eine erneute und äußerst lebhaft geführte Debatte über den Ursprung des Lebens statt«, an der sich zum Beispiel auch Niels Bohr beteiligte (ebd., S. 249f.). Bereits in den 1920er Jahren hatten der sowjetische Biologe Alexander Oparin und der Brite J.B.S. Haldane Thesen aufgestellt, denen zufolge sich Leben jederzeit spontan aus Molekülen entwickeln könne (ebd., S. 239) und nicht, wie die Schulbiologie meinte, nur einmal vor langer Zeit entstanden sei. Ihm ähnlich Erscheinendes beobachtete Reich nun auch bei seinen Experimenten: Aus verschiedenen, unter einem Lichtmikroskop mit bis zu 4.000-facher Vergrößerung betrachteten Substanzen entwickelten sich scheinbar neue, zusammenhängende Gebilde, Einzellern nicht unähnlich. Reich nannte sie »Bione« (Sharaf 1996, S. 259–267).573 Themen unserer Wissenschaft in Angriff genommen« (Tenorth 1999, S. 310f.). Dudek verweist zwar auch auf Roazen, der meint, Freud habe für »Bernfelds Versuch, die Libido quantitativ zu messen, […] kaum mehr als ein Knurren« übrig gehabt (Dudek 2012, S. 496). Das scheint bei dem Platz, den Freud der Libidometrie in der Imago reservierte, wenig wahrscheinlich. Es stünde auch im Widerspruch zu den Formulierungen in Freuds Empfehlungsschreiben und zu seiner zeitgleichen Einschätzung Bernfelds als »den vielleicht stärksten Kopf unter meinen Schülern und Anhängern« (zitiert ebd., S. 394). Reich hat sich meines Wissens übrigens nirgends auf Bernfeld als seinen Vorläufer bei Libidomessungsversuchen bezogen, obwohl ihm diese schon durch die Imago-Artikel bekannt gewesen sein müssen. Philip Bennett entdeckte zudem einen Sonderdruck dieser Artikel auch in Reichs persönlicher Bibliothek. 572 Auf diesen Artikel machte mich Gertrud Lenz aufmerksam. 573 Der Biologe James Strick hat inzwischen in einer ausführlichen, 2015 im renommierten Harvard-University-Verlag erschienenen Untersuchung nachgewiesen, dass diese Thesen
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Dass er aus den durchaus bemerkenswerten Resultaten seiner biologischen Forschungen (vgl. Senf 1996, S. 41–94) schnell weitreichende Folgerungen zog, unter anderem über Ursachen und Heilungsmöglichkeiten für Krebs, machte ihn allerdings angreifbar (Sharaf 1996, S. 268–278). Umso leichter verfestigten sich Gerüchte, die Reichs geistige Gesundheit infrage stellten.
2.9.4
Diagnose als Waffe
Während seines skandinavischen Exils setzten ehemalige Kollegen Reichs, darunter seine früheren Lehranalytiker Paul Federn574 und Sándor Rado, verstärkt die Behauptung in die Welt, Reich sei verrückt geworden. Bevorzugt wurde ihm Schizophrenie attestiert (Cremerius 1997, S. 144). Ein Beispiel dafür, wie selbst vormalige Freunde von Reich zu Fehldarstellungen beitrugen, liefert Edith Gyömroi. Sie berichtet, sie habe Reich 1933 zusammen mit Otto Fenichel in Kopenhagen besucht. Reich habe ihnen erzählt vom »Hauptinhalt des Buches, an dem er gerade arbeitete. Es war der Anfang seiner Orgontheorie. Fenichel und ich wagten nicht, uns anzusehen; uns schauderte. Da blieb Reich plötzlich stehen und sagte: ›Kinder, wenn ich meiner Sache nicht so sicher wäre, würde es mich anmuten wie eine schizophrene Phantasie‹. Wir sagten nichts. […] Es war für uns beide ein großer Verlust und ein großer Kummer« (zitiert in Ludwig-Körner 1999, S. 128).
Abgesehen von der Frage, ob sich aus Reichs Beschäftigung mit dem, was er »Orgon« nannte (Sharaf 1996, S. 313–401), auf eine schizophrene Erkrankung Reichs wie auch die Gesamtheit seiner biologischen Forschungen wert sind, beachtet und fortgesetzt zu werden (Strick 2015). 574 Sharaf (1996, S. 104–108) nimmt an, dass Federns Aversionen gegen Reich sowohl durch Federns sexuelle Gehemmtheit wie auch durch Neid auf den erfolgreichen jüngeren Kollegen motiviert waren. Beide, Federn wie Reich, waren politisch »links«, schätzten das Thema Sexualität als sehr bedeutungsvoll ein und wollten die Psychoanalyse populär darstellen. Dass Reich dies auf höherem Niveau als Federn gelang, zeigt ein Vergleich zwischen dem 29-seitigen Text Federns Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft (1919) und Reichs Massenpsychologie des Faschismus. Federn war 1919, bei Veröffentlichung seiner Schrift, 48 Jahre alt, seit 16 Jahren mit der Psychoanalyse befasst und einer der Wortführer der Wiener Analytiker. Als Reich 1933 die Massenpsychologie herausbrachte, war er 36 Jahre alt und seit 14 Jahren mit Psychoanalyse beschäftigt. Beide Autoren behandelten von einem »linken« Standpunkt aus jeweils aktuelle massenpsychologische Probleme. Im Gegensatz zu Reichs Buch erscheint Federns Text jedoch oberflächlich und wenig originell.
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schließen lässt – ich denke nein –, konnte die geschilderte Begegnung so gar nicht stattgefunden haben. Das Buch, an dem Reich bis zum Spätsommer 1933 arbeitete, war die Massenpsychologie, danach kam erst 1935 Die Sexualität im Kulturkampf heraus.575 In beiden Schriften taucht der Terminus »Orgon« überhaupt nicht auf, konnte er auch noch nicht auftauchen. Denn erst 1936, in Norwegen, begann Reich mit jenen »Bion«-Experimenten, die 1938 zur Beschäftigung mit dem Phänomen führten, das er ab 1939 als »Orgon« oder »Lebensenergie« bezeichnete. Erstmals verwendete Reich einen ähnlichen Ausdruck wohl in einem Brief, den er am 17.3.1939 schrieb. Darin erwähnt er ein »Etwas (wir wollen es vorläufig ›Orgonität‹ nennen)« (Reich 1997a, S. 292). Mit Fenichel war Reich da seit fünf Jahren völlig zerstritten. Und Edith Gyömroi weilte zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr in Ceylon. Unzweifelhaft erlitt Reich in früher Jugend nachhaltige psychische Traumatisierungen. Dies vermochte er wohl bis 1933 zu kompensieren und durch – abgebrochene – (Lehr-)Analysen auch zu lindern. Die Ächtung durch Kommunisten und Psychoanalytiker und die NS-Verfolgung verringerten seine Kompensationsmöglichkeiten jedoch drastisch. Von nun an mehrten sich Berichte über cholerische, autoritäre576 und rigide Züge Reichs und über aggressive Eifersucht (Ollendorff 1975, S. 69ff., 114f.; Sharaf 1996, S. 301ff., Priese 1999). Mehrere Biografen und Gerichtspsychiater bestätigen, dass er in den 1950er Jahren paranoide Tendenzen entwickelte, die aber nie völlig von ihm Besitz ergriffen (Sharaf 1996, S. 268– 279; Boadella 1988, S. 291f., 296; Greenfield 1995, S. 311–317). Dass Reich seit 1933 wiederholt Verfolgungen ausgesetzt war, dürfte dazu erheblich beigetragen haben. Stichhaltige Belege dafür, dass er bereits in den 1930er Jahren unter krankhafter Paranoia litt, sind mir nicht bekannt. Ihm mit Verweis auf seine Lebensenergieforschung Schizophrenie zu unterstellen, ist unseriös. Es ignoriert unter anderem, welchen Anklang das »élan vital«-Konzept des Philosophen, Mitglieds der Académie Française und Literatur-Nobelpreis-Trägers von 1927, Henri Bergson, hatte. Nicht nur Reich berief sich mehrfach darauf (z.B. Reich 1987, S. 28). Schon der international renommierte Neurologe, Harvard-Professor und Präsident der American Psychoanalytic Association, James Putnam, hatte 1911/12 die IPV-Mitglieder aufgefordert, das Wirken eines Weltgeistes bzw. 575 Ansonsten erschienen 1934 als Sonderdrucke aus der ZPPS Was ist Klassenbewusstsein? und Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse, 1935 dann Der Einbruch der Sexualmoral in zweiter Auflage. 576 Eine kritische, aber faire Einschätzung von Reichs Charakter findet sich in Neill 1975, S. 173–179.
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einer »selbsttätigen«, »sich selbst erneuernden« »Lebensenergie« zur Kenntnis zu nehmen. Dabei verwies er neben Hegel insbesondere auf Bergson (Putnam 1912, S. 108f., 117).577 In einem Brief an Putnam vom 10.3.1910 pflichtete Freud dessen bzw. Bergsons Auffassung bei, Erinnerungen existierten »unabhängig von physikalischen Gesetzen« (Hale 1971, S. 354). Und am 8.7.1915 gestand Freud – erneut von Putnam auf Bergson angesprochen – sogar zu: »[I]ch weiss, dass jeder einzelne ein Stück Lebensenergie repraesentirt« (ebd., S. 376). Auch das Libido-Verständnis C.G. Jungs, der Bergson ohnehin sehr schätzte (Freud/Jones 1993, S. 286, Bair 2007, S. 398), wies deutliche Verwandtschaft auf zum »élan vital« (Danzer 2011, S. 219). In Bezug auf die Tatsache, dass Reich unter seelischen Störungen litt, war er zudem keine Ausnahme, auch nicht unter den Psychoanalytikern. Freud selbst stufte sich gegenüber C.G. Jung als »Typus ›Zwang‹« ein, gegenüber Karl Abraham als mit einem Vaterkomplex behaftet (Leitner 1998, S. 170). In Jürg Kollbrunners Buch Der kranke Freud (Kollbrunner 2001) finden sich diverse Belege für Freuds anhaltende psychische und psychosomatische Störungen.578 Dass auch Freud im Zwischenmenschlichen blinde Flecke hatte, demonstriert Johannes Cremerius genau am Beispiel seines von Idealisierung und Verdrängung gekennzeichneten Umgangs mit Hoffnungsträgern wie C. G. Jung, Otto Rank, Sándor Ferenczi oder eben Reich. Sah sich Freud schließlich doch gezwungen, diese als ungetreue Abweichler einzustufen, griff er oftmals darauf zurück, sie – auch öffentlich – als psychisch gestört verächtlich zu machen: Zuschreibungen, die nachhaltige Wirkungen haben konnten (Cremerius 1997; Büntig 1982, S. 254–280; Sharaf 1996, S. 228f.).579 577 Zu Verlauf und Ergebnissen der durch Putnam ausgelösten »ersten Weltanschauungsdebatte« der Analytiker Peglau 2014b. 578 Dass Kollbrunner keiner derjenigen ist, denen es darauf ankommt, Freud und die Psychoanalyse zu diffamieren, ergibt sich schon aus seinem Bemühen um Sachlichkeit und die Angabe nachprüfbarer Quellen. Der ehemalige Psyche-Chefredakteur Hans-Martin Lohmann bezeichnete das Buch laut Werbetext des Verlages als »Meilenstein der Freud-Biografik«. 579 Auch Alfred Adler hatte Freud noch 1909 als »Theoretiker, scharfsinnig und originell« sowie als »[a]nständige[en] Mensch[en]« eingeschätzt (Freud/Jung 1974, S. 260). Mit Zuspitzung ihrer wissenschaftlichen Kontroversen nahm Freud ihn zunehmend als paranoid wahr (Leitner 1998, S. 161; Freud/Jung 1974, S. 446, 473; Gay 2006, S. 254). 1914, in seiner Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, unterstellte Freud Adler auf subtile Weise auch öffentlich »paranoische« Züge (Freud/Abraham 2009, Bd. 1, S. 366, 368, Fn 3, 369). »Das war«, schreibt Freud-Biograf Peter Gay, »Verurteilung als Diagnose« (Gay 2006, S. 255). Den sich teilweise mit Adler solidarisierenden Wilhelm Stekel, einen von Freuds frühesten und engsten Mitstreitern, beschrieb Freud in derselben Schrift als den »zu Anfang so sehr verdienstvollen, später völlig verwahrlosten W. Stekel« (Freud 1914d, S. 58; vgl. Nitzschke 2012). Nur als »harmlos dumm« schätzte Freud dagegen in einem Telegramm an Eitin-
304
2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation
Marina Leitner belegt an diversen Beispielen, dass Psychoanalysedissidenten nicht nur von Freud, sondern auch von anderen Analytikern »oft psychiatrisch diagnostiziert und pathologisiert« wurden, und setzt fort: »Man könnte einwenden, daß die Psychoanalyse sich darin nicht von anderen Bewegungen unterscheidet. Das Besondere jedoch im Fall der Psychoanalyse ist ihr Anspruch, zur Aufklärung der Menschheit beizutragen, Unbewußtes bewußt zu machen und zu heilen. Ihre Zwiespältigkeit besteht nun genau darin, daß dasselbe Instrument, das der Aufklärung und Heilung dienen soll, als Waffe im Kampf gegen einen Gegner verwendet werden kann« (Leitner 1998, S. 162f.).
Dass sich bei den Analytikern, die diese »Waffe« gegen Reich einsetzten, ebenfalls vom Vorhandensein seelischer Störungen ausgehen lässt, liegt nicht daran, dass diese Berufsgruppe besonders anfällig für solche Störungen wäre, sondern daran – davon bin auch ich überzeugt –, dass es eben kaum vermeidbar ist, aus unseren »normalen« Kindheiten seelische Störungen davonzutragen. Dies entspricht auch den Anschauungen Freuds und Reichs. Bei Freud erfährt man daher unter anderem, dass »wir alle ein wenig nervös«, das heißt neurotisch seien (Freud 1901b, S. 309) bzw. dass »Normalität« eine »Idealfiktion« sei: »Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß« (Freud 1937c, S. 80).580 Reich schränkte diese Annahme nur insofern ein, als er gon vom 2.9.1932 den Vortrag seines vormaligen Freundes Sándor Ferenzci ein (Freud/ Eitingon 2004, Bd. 2, S. 849). Dieser hatte sich trotz des durch Freud und andere IPV-Mitglieder ausgeübten Drucks nicht davon abhalten lassen, auf dem 1932er IPV-Kongress einen Vortrag zu halten, in dem er die Selbstüberhöhung des Analytikers hinterfragte und dem sexuellen Missbrauch in der Kindheit weit mehr Realität zusprach, als Freud es noch wahrhaben wollte (Ferenczi 1982b). Da Ferenczi zuvor eine der wichtigsten fachlichen und organisatorischen Autoritäten der IPV war, bestand sicherlich auch hier die Gefahr, dass seine Gedanken Schule machen könnten. Auch hier diente offenbar die lange Zeit erfolgreiche Diffamierung und Pathologisierung ihres Urhebers dazu, dies zu verhindern. Dabei tat sich Ernest Jones hervor, der später in seiner Freud-Biografie fälschlicherweise behaupten sollte, Ferenzci habe »zuletzt an psychotischen Zuständen, paranoiden Vorstellungen und Mordideen gelitten« (Jones 1984, Bd. 3, S. 214; vgl. Cremerius 1997, S. 157; Ferenczi/Freud 2005, Bd.3/2, S. 295f., Fn 1; Ferenzci 1988, 2004, S. 28–39, 54–56. Ausführlich zum »Fall Rank« siehe Leitner 1998). 580 Konsequenterweise verwendete Freud daher auch das Wort »Gesundheit« oder »gesund« äußerst selten, und wenn, dann meist verbunden mit Relativierungen – vgl. die im Register der Gesammelten Werke (Freud 1999) genannten Stellen und Lohmann/Pfeiffer (2006, S. 265ff.). Um nur ein Beispiel zu nennen: In Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung werden jene »Gesunde«, die der Anerkennung der analytischen Erkenntnisse Wider-
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
davon ausging, dass dieser Zustand an das Patriarchat gebunden sei und daher mit diesem wieder verschwinden würde (Reich 1986, S. 26). In meinen Worten: Psychisch rundum gesunde Menschen gäbe es nur in einer rundum gesunden Gesellschaft und Umwelt – wovon die Welt auch im 20. Jahrhundert weit entfernt war.
2.9.5
Allmähliches Ausblenden
Am 16.12.1934 nahm Reich in einem Brief an die »Kollegen in Opposition und im Konflikt mit Freud« noch einmal Stellung zu seinem IPV-Ausschluss. Jetzt vertrat er die Meinung, dieser Ausschluss sei eher eine Formsache gewesen und hätte jederzeit durch seinen Eintritt in die skandinavische Unterorganisation rückgängig gemacht werden können. Die Hauptschuld dafür, dass es dazu nicht kam, lag Reich zufolge bei Otto Fenichel: »Niemand hatte erwartet, dass sich Dr. Fenichel scharf dagegen aussprechen und seinen Einfluss gegen mich geltend machen wuerde. […] Seine Begruendung der Ablehnung lautet: Ich schadete der Sache der naturwissenschaftlichen (dialektischmaterialistischen) Psychoanalyse, es wäre besser, wenn ich draussen bliebe« (AOI).581
Dass sich Otto Fenichel gegen Reichs Wiederaufnahme in die IPV stellte, entspricht den Tatsachen (Mühlleitner 2008, S. 245–253); dass es hauptsächlich Fenichel war, der dies verhinderte, sicherlich nicht. Reich scheint auf ihn projiziert oder »verschoben« zu haben, was vor allem Freud und anderen Analysefunktionären anzulasten gewesen wäre. Von nun an empfand Reich gegenüber seinem vormaligen Freund Fenichel vor allem erbitterte Wut.582 Robert Wälder fasste Ende 1934 die Haltung zusammen, die sich gegenüber Reich im institutionalisierten Analysehauptstrom nun wohl durchgesetzt hatte.583 Nach Lektüre der 1934 erschienenen ersten Ausgabe von Reichs Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie verwies Wälder zwar darauf, dass Reichs frühere psychoanalytische Arbeiten »im ganzen befruchtend« gewesen seien und stand entgegensetzen, schon wenige Zeilen später zu den »angeblich Gesunden« (Freud 1914d, S. 62; vgl. auch ders., 1904a, S. 8). Auch die weit verbreitete Legende, Freud habe psychische Gesundheit als Fähigkeit zu Lieben und zu Arbeiten definiert, »entbehrt jeder nachprüfbaren Grundlage« (Mertens 2006, S. 265). 581 AOI, Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934. 582 Vgl. dazu Reichs Charakterisierungen Fenichels in Reich 1995. 583 Zur Wertung dieses Artikels als inoffizielle Stellungnahme der IPV-Leitung zu Reichs Ausschluss siehe Nitzschke (1997a, S. 92, Fn 33).
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2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation
dass »viele« seinen Beiträgen zur therapeutischen Technik »viel zu verdanken haben«, fuhr dann aber fort: »[D]ie Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muß denn in aller Klarheit gesagt werden, daß die hier vorliegenden ›wissenschaftlichen Bestrebungen‹ [Reichs] mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, daß niemand, der Reich auf seinem Wege folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalytischen Gedankengutes, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für ihre Zwecke verwenden« (Wälder 1934, S. 507).584
Reich hingegen richtete 1936 in seiner Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie eine mehrseitige »Grußbotschaft an Freud« anlässlich dessen 80. Geburtstages, in der er bekräftigte, dass er nicht in eine Reihe mit anderen »Dissidenten« gestellt werden dürfe: »Alle bisherigen Abzweigungen von der Lehre Freuds kennzeichnen sich durch Verneinung der Sexualität. Für Jung wurde die Libido ein verwaschener, nichtssagender Allseelenbegriff, die beste Voraussetzung für die spätere Gleichschaltung im Dritten Reich. Adler ersetzte die Sexualität durch den Willen zur Macht, Rank verleugnete die Existenz der kindlichen Sexualität. Die Sexualökonomie dagegen knüpft gerade an denjenigen Kernelementen der Freudschen Lehre an, die ursprünglich die Wut der Welt entfacht hatten« (ZPPS 1936, Heft 3/4, S. 150–156).
Freud hat sich – im Gegensatz zu seinem Umgang mit allen anderen prominenten Analyse-»Abweichlern«585 – mit Reich nach dessen offiziellem Ausscheiden nie öffentlich auseinandergesetzt oder ihn auch nur namentlich erwähnt.586 Fritz 584 Vgl. www.lsr-projekt.de/zpps/zpps5.html. 585 Auch der »Dissident« Otto Gross wurde zwar von Freud nicht öffentlich gewürdigt, aber ihn kann man zu damaliger Zeit wohl nicht zu den Prominenten rechnen. Zur Einordnung von Gross in die Geschichte der Psychoanalyse siehe Laska (2003), Nitzschke (2010a), Hoevels (2001, S. 35ff.). 586 F.E. Hoevels hat sicherlich recht, wenn er anmerkt, dass sich eine Stelle in Freuds 1935 verfasster Nachschrift zur Selbstdarstellung auf Reich bezieht (Hoevels 2001, S. 37) – ich glaube allerdings nicht, dass Freud dabei nur Reich im Sinne hatte. Freud erwähnt zunächst den letzten, nämlich den Luzerner Kongress, schreibt dann zum gegenwärtigen Zustand der IPV, die Bestrebungen von deren Mitgliedern gingen »von dem Gemeinsamen aus nach verschiedenen Richtungen auseinander«. Schließlich heißt es: »Von Zeit zu Zeit ereignet es sich immer wieder, daß ein analytischer Mitarbeiter sich bei der Bemühung isoliert, einen einzigen der psychoanalytischen Funde oder Gesichtspunkte auf Kosten aller anderer zur Geltung zu bringen« (Freud 1935a, S. 34).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Erik Hoevels spricht diesbezüglich von dem Eindruck, Freud habe sich der intellektuellen Herausforderung, die ein öffentlicher Meinungsstreit mit Reich bedeutet hätte, nicht gewachsen gefühlt (Hoevels 2001, S. 40).587 Wahrscheinlicher erscheint mir etwas anderes. Freud hat Reich nämlich auch vor ihrem Bruch niemals in seinen Schriften benannt (Freud 1999, S. 1016, 1064) – selbst da nicht, wo er, wie im Unbehagen in der Kultur, ausführlich zu Reichschen Thesen Stellung nahm. Wie schon belegt, können weder mangelnde Bekanntheit Reichs noch mangelndes Interesse Freuds an Reichs Auffassungen der Grund dafür gewesen sein. Was unterschied Reich also von Adler, Jung und Rank, die Freud sowohl vor als auch nach der Trennung erwähnte (Freud 1999, S. 1033, 1052, 1064)? Nicht zuletzt genau das, worauf Reich hinwies: dass er im Gegensatz zu diesen Dreien anhaltend an Kernelementen der früheren Freudschen Lehre anknüpfte. Auf Reich in der Öffentlichkeit einzugehen, erst recht, ihn öffentlich zu attackieren, hätte also für Freud in erheblichem Maße eingeschlossen, Brüche und Widersprüche in seinem Gedankengebäude explizit zu thematisieren. Reich hätte zur Verteidigung seines Standpunktes auch mit Sicherheit ältere Freud-Schriften und -Zitate angeführt und Freud somit gezwungen, gegen sich selbst anzutreten.588 Gut denkbar, dass Freud davor zurückschreckte.589 Aber noch etwas halte ich zusätzlich für vorstellbar: Könnte es nicht sein, dass Freud seinen früheren, nun von Reich so vehement verteidigten Auffassungen ambivalent gegenüberstand, dass er sie also gar nicht vor aller Augen bekämpfen wollte? Könnte er sich nicht doch genügend konstruktive Zweifel daran bewahrt haben, dass Todestrieb, Wiederholungszwang usw. die objektive Realität abbildeten?590 Könnte er nicht zu Teilen in dem »ungestümen« jungen Reich sich selbst in frü587 Einen ähnlichen Eindruck scheinen Grunberger und Chasseguet-Smirgel gehabt zu haben, die meinen, Reichs Massenpsychologie könne Freud entmutigt haben, sich selbst an eine Faschismusanalyse zu wagen (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 134). 588 Dies war ja auch ein bewusstes Konzept von Reich, das er 1934 unter anderem so beschrieb, dass die »Links«-Freudianer den Nachweis zu führen hätten, »daß und wo Freud als Naturforscher mit Freud als bürgerlichem Naturphilosophen in Widerspruch gerät […]. Das Thema ›Freud kontra Freud‹ ist das zentrale Thema unserer kritischen Arbeit« (in Fenichel 1998, Bd. 1, S. 72). 589 Vielleicht auch ein Grund dafür, dass sich weder Freud noch die IPV in der NS-Zeit öffentlich von Reich distanzierten und dass auch das versprochene Publizieren der Gründe für Reichs Ausschluss unterlassen wurde. 590 Im Unbehagen in der Kultur schrieb er, seine Auffassungen über den Destruktionstrieb habe er »anfangs nur versuchsweise vertreten. Aber im Laufe der Zeit haben sie eine solche Macht über mich gewonnen, daß ich nicht mehr anders denken kann« (Freud 1930a, S. 478f.). Dass dies eher nach einer fixen Idee als nach nüchterner wissenschaftlicher Erkenntnis klang, muss ihm bewusst gewesen sein.
308
2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation
heren Tagen, als er sich noch als »Conquistador«591 fühlte, wiedergefunden und Reich auch daher – trotz aller Konflikte – weiterhin respektiert haben? Wie bereits anhand des Umgangs des Internationalen Psychoanalytischen Verlages mit Reichs Charakteranalyse dargelegt, kann der Hintergrund für Freuds Schweigen jedenfalls keine pauschale Ablehnung oder gar Feindschaft gegenüber Reich gewesen sein. Das macht auch das Folgende deutlich: Als der 82-jährige Freud 1938 gezwungen war, Österreich zu verlassen, konnte er nicht seine gesamte Bibliothek mit sich nehmen. »Deshalb«, so J. Keith Davies und Gerhard Fichtner, »prüfte er mit seiner Tochter Anna […] Buch für Buch durch. Die entbehrlicher scheinenden Bücher (fast ein Drittel des Gesamtbestandes […]) wurden ausgeschieden« und einem Antiquariat verkauft (Davies/Fichtner 2006, S. 91). Von Reich hatte Freud ursprünglich 14 Publikationen im Bestand. Nur fünf davon – vier Artikel aus der Zeitschrift für Sexualwissenschaft sowie Reichs Diskussionsbeitrag vom 1930er Kongress der Weltliga für Sexualreform – gab er weg. Neun Schriften Reichs hatte er hingegen offensichtlich für so wertvoll befunden, dass sie ihn im Juni 1938 ins Londoner Exil begleiten sollten: ein Beitrag Reichs von 1921 für die Internationale Psychoanalytische Zeitschrift, der Masochismus-Artikel sowie die Bücher Der triebhafte Charakter, Die Funktion des Orgasmus, Sexualerregung und Sexualbefriedigung, Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral, die Charakteranalyse, Massenpsychologie des Faschismus sowie die Abhandlung Experimentelle Ergebnisse über die elektrische Funktion von Sexualität und Angst von 1937 (ebd., Ziffern 2906–2919). Abgeschlossen war das Thema »Wilhelm Reich« für Freud also offensichtlich bis zu seinem Lebensende nicht.592 Der schwer krebskranke Begründer der Psychoanalyse starb nach Gabe einer von ihm erbetenen Überdosis Morphium am 23.9.1939 in London. Zumindest im Hinblick auf die englischsprachigen Psychoanalysejournale kann nach 1934 ebenfalls nicht von einer völligen Ausgrenzung Reichs gesprochen werden. Mehrfach wurde hier in den Folgejahren auf Reichs therapietechnische, insbesondere charakteranalytische Neuerungen Bezug genommen – und zwar oft ausführlich, beipflichtend oder sachlich Gegenpositionen beziehend (siehe z.B. Psychoanalytic Review 1937/24A, S. 83–103, 24D, S. 451–456; Psychoanalytic Quarterly 1939/8, S. 219–243, 1940/9, S. 334–414; International Journal of Psy591 Am 1.2.1900 schrieb der 43-jährige Freud an Wilhelm Fließ: »Ich bin nämlich gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin nichts als ein Conquistadorentemperament, ein Abenteurer, wenn Du es übersetzen willst, mit der Neugierde, der Kühnheit und der Zähigkeit eines solchen« (Freud/Fließ 1986, S. 437). Solche Züge hatte, denke ich, auch Reich. 592 Auch Bücher von den »Abtrünnigen« Jung, Adler und Rank verblieben in Freuds Bestand, schienen ihm also wohl ebenfalls nicht gut entbehrlich.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
choanalysis 1940/21, S. 117–124). Zudem wurden hier die wichtigsten Schriften Reichs und mehrere seiner therapietheoretischen Artikel erwähnt oder sachlich, manchmal anerkennend besprochen. So etwa Ein Widerspruch in der Freudschen Verdrängungslehre (International Journal of Psychoanalysis 1935/16, S. 230–231), Die Sexualität im Kulturkampf (Psychoanalytic Quarterly 1937/6, S. 262–265), Die charakterologische Überwindung des Ödipuskomplexes (Psychoanalytic Review 1937 24A, S. 83–103) sowie Orgasmusreflex, Muskelhaltung und Körperausdruck (ebd., 1938/25, S. 583). 1940 wurde gar auf die gesamte politisch-psychologische Schriftenreihe des Sexpol-Verlages aufmerksam gemacht und dabei hervorgehoben: Die Sexualität im Kulturkampf, Der Einbruch der Sexualmoral, Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse, Psychischer Kontakt und vegetative Strömung sowie weitere Schriften von Sex-Pol-Mitstreitern (Psychoanalytic Review 27, S. 105–106). Grundsätzlichere Kritik an Reich übte zunächst nur Martin Grotjahn – und zwar 1938 an der angeblich schockierenden Naivität, mit der Reich seine biologischen Experimente vornähme (Psychoanalytic Quarterly 7, S. 568–569). Den ersten Hinweis darauf, dass Reich mittlerweile offiziell nicht mehr als Analytiker galt, fand ich in einer 1947 geschriebenen, von ambivalenten Einschätzungen geprägten Besprechung seines neuen Buches Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus593 (Psychoanalytic Review 34, S. 245–246). Eine Diffamierung Reichs habe ich in diesen Zeitschriften erst 1953 entdeckt: Im International Journal of Psychoanalysis 34, S. 342 wurde Reich als pubertär, unreif beschrieben und als jemand, bei dem man kaum glauben könne, dass er jemals näher mit Psychoanalyse zu tun gehabt habe. Dies geschah im Rahmen einer Rezension von Reichs Buch Die sexuelle Revolution, das aber tatsächlich nur die erweiterte und veränderte englische Version von Die Sexualität im Kulturkampf war – ein Buch, das 1937 und 1940 in zwei anderen dieser Periodika sachlich bis anerkennend bewertet worden war.594 Ab den 1950er Jahren wurde es in den analytischen Journalen zwar nicht völlig ruhig um Reich, aber er tauchte weit weniger auf als zuvor (Psychoanalytic Quarterly 1949/18, S. 127, 1952/21, S. 457–459; Psychoanalytic Review 1957/44, S. 110–116). Wilhelm Reich scheint also nur allmählich aus dem Bewusstsein der Psychoanalytiker verdrängt und eher von den nach Freuds Tod agierenden Analytikern als Persona non grata abgestempelt worden zu sein. 593 So der deutsche Titel (Reich 1987). Es handelt sich dabei um ein gänzlich anderes Buch als Reichs 1927er Die Funktion des Orgasmus. 594 Im oben erwähnten Artikel in Psychoanalytic Quarterly hatte Greta Frankenstein 1937 das Buch detailliert und sachlich zusammengefasst, dabei Reich zugestimmt, dass die sexuelle Aufklärung den entscheidenden Punkt ignoriere: den der sexuellen Lust.
310
2.10 Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939
Sehr viel schneller und radikaler als in der Psychoanalyse ging das Verschwinden Reichscher Ideen aus den kommunistischen Organisationen vonstatten. Doch auch Reichs Haltung gegenüber dem Stalinschen Kommunismus wurde im skandinavischen Exil zunehmend ablehnender.
2.10
Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939
Schon bevor er am 21.11.1933 durch die dänische KP-Zeitung Arbejderbladet von seinem Ausschluss aus der kommunistischen Partei erfuhr, muss Reich dazu fähig gewesen sein, Stalin kritisch zu betrachten. Anders wäre seine Kontaktaufnahme zu einem von Stalins ehemaligen Mitstreitern und nunmehrigen Todfeinden – Leo Trotzki – nicht zu erklären. Im Oktober 1933 wandte sich Reich brieflich an den früheren Revolutionsführer, der nach einigen Jahren in der Türkei in Frankreich Zuflucht gefunden hatte. Reich schrieb über sich, er sei »noch Mitglied der KPD, stehe jedoch in schwerster Opposition« (zitiert in Fallend 1988, S. 217). Etwa zur selben Zeit traf Reich sich mit dem KPO-Führer und KPD-»Abweichler« Heinrich Brandler (Reich 1995, S. 213).595 Zwischen Reichs und Trotzkis Ansichten über die Bedeutung der Hitlerschen Machtübernahme gab es Überschneidungen: Beide werteten diese als Niederlage der Arbeiterklasse, die vor allem durch die verfehlte KP-Politik ermöglicht worden war; beide standen damit in Opposition zu KPD und Komintern. Reich hatte zudem Trotzkis Interesse an der Psychoanalyse erfreut registriert.596 Trotzki antwortete am 7.11.1933, er habe die ihm von Reich zugesandte Massenpsychologie erhalten, aber noch nicht gelesen und sich mit dem von Reich »in den Vordergrund gestellten« Aspekt noch nicht befasst. Jedoch verkenne er natürlich nicht »die allgemeine Bedeutung der Sexualprobleme für die Erziehung der Arbeiterjugend« und würde
595 Zu Brandler siehe Weber/Herbst (2008, S. 139ff.). Ob hier schon seit der Rezension der Sexualerregung 1930 in der KPO-Zeitung Arbeiterpolitik ein Kontakt bestand, ist nicht bekannt. Reichs Schilderung der Begegnung schließt eine längere Bekanntschaft nicht aus. 596 Außerdem fand er in Trotzkis Fragen des Alltagslebens »reichlich Material zum Prozeß des Familienzerfalls in den Jahren 1919–1920« und verwendete dieses Material auszugsweise in Die Sexualität im Kulturkampf bzw. in der Sexuellen Revolution (Reich 1988, S. 162ff.). Zu Parallelen zwischen Reich und Trotzki siehe auch Rothländer (2010, S. 216ff.), zu Trotzki Dahmer (2009k). Helmut Dahmer wies mich auch darauf hin, dass Reichs ab 1930 mitgeteilte Auffassungen darauf hindeuten, dass er sich in seinen politischen Einschätzungen auch an Trotzkis Schriften über Deutschland, wie zum Beispiel Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland (1930) oder Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? (1931), orientierte.
311
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
sich gerne über Reichs »Ansichten, Erfahrungen und Pläne auf diesem Gebiet des Näheren informieren«. Der von Reich vorgeschlagene »enge Kontakt« erscheine daher auch ihm »höchst erwünscht«, und er hoffe, dass dieser Kontakt »nicht nur persönlicher Art« bleiben werde (zitiert in Fallend 1988, S. 217f.).597 Kurz nach diesem Briefwechsel, im Dezember 1933, reiste Reich nach Frankreich. In Paris traf er einige Vertreter von Trotzkis »Vierter Internationale« – was aber für beide Seiten eher enttäuschend verlief (Sharaf 1996, S. 234; Reich 1995, S. 213, 219). Anfang 1934 muss Reich in der Leitung der Exil-KPD einmal mehr Thema gewesen sein. Das lässt sich aus einem offensichtlich aus Dänemark stammenden »vorläufigen Bericht« in den Akten des Reichssicherheitshauptamtes schließen. Mit Datum vom 14.3.1934 erfährt man dort über »Walter Hoffmann, Emigrant aus Berlin, ca. 22 Jahre«: »Unter dem Pseudonym ›Kolbenhoff‹ hat er im Reich-Verlag ein Buch erscheinen lassen, ›Untermenschen‹ (nicht marxistisch). Seit der Zeit fühlt er sich dem Reich verpflichtet […]. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird H. sich in der morgigen Aussprache mit der Partei zu Reich bekennen und dann ausgeschlossen werden« (BA RY 1/I/2/3/92, Bl. 87/88).
Diese Annahme war offenbar berechtigt. Am 6.5.1934 bestätigte das Pariser Exil-Politbüro Hoffmanns Ausschluss »wegen konterrev. Betätigung« (BA RY1/12/3, Bl. 100).598 1934 urteilte Reich in seiner Schrift Was ist Klassenbewußtsein?,599 dass sowohl die zweite, also sozialistische, wie auch die dritte, kommunistische Internationale – also die Komintern – »ihre Unfähigkeit bewiesen« hätten, die aktuelle politische Situation »auch nur theoretisch, vom Praktischen ganz abgesehen, zu meistern«. Die Komintern sei hier gescheitert »durch ihren Mangel an Selbst597 Abschriften oder Durchschläge des Briefwechsels Reich–Trotzki befinden sich in AOI, Correspondence, Box 1, General, WR and Trotsky correspondence, 1933–1934. Drei weitere Briefe Reichs an Trotzki folgten 1934, wurden von Trotzki aber offenbar unbeantwortet gelassen. Vielleicht weil Reich darin auf die in ihrer Psychologiefeindlichkeit seiner Ansicht nach reaktionären Auffassungen einiger Trotzkisten hinwies. 598 Weitere Daten zu Walter Hoffmann sind im Protokoll nicht angegeben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nur um eine zufällig namensgleiche Person handelt, die gerade zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen wurde, halte ich für äußerst gering. 599 In drei Teilen auch veröffentlicht in der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie.
312
2.10 Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939
kritik, durch die Unkorrigierbarkeit ihrer verhängnisvollen Fehler, vor allem durch ihre Unfähigkeit, zum Teil auch durch den Mangel des Willens, die Bürokratie im eigenen Lager zu vernichten« (Reich 1934a, S. 17). Und natürlich war die Aussage dieser Schrift – dass all jene in die Irre gingen, die erwarteten, dass sich zuspitzende ökonomisch-politische Verhältnisse automatisch zu einem wachsenden proletarischen Klassenbewusstsein führten – erneut eine fundamentale Kritik an den von KPD und Komintern vertretenen Thesen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Marxismus600 hieß es bei Reich weiter: »Wenn man Freuds wissenschaftliche Fehler dadurch ›marxistisch‹ bekämpfen wollte, dass man ihn als ›Reaktionär entlarvte‹, wäre man ein Dummkopf. Wenn man sachlich nachweist, wo Freud Naturwissenschaftler genialer Art und wo er bürgerlicher Philosoph ältester Schattierung ist, hat man echte, fruchtbare marxistischrevolutionäre Arbeit geleistet« (Reich 1934c, S. 244).
Dem Neuabdruck von Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse in seinem eigenen Verlag fügte Reich 1934 Fußnoten an, in denen er urteilte, dass in der Sowjetunion auf »sexuellem Gebiete« die »vorwärtsdrängende[n] Tendenzen« wieder abbrächen und ein Rückschritt erfolgt sei, dessen »Gründe und Wesen erst der Erforschung bedürfen« (Reich 1934e, Fn 35). Auch die Psychoanalyse, so schrieb er, konnte sich in »der Sowjetunion […] nicht entfalten. Sie begegnet dort den gleichen Schwierigkeiten wie in den bürgerlichen Ländern, mit dem einen, sehr wichtigen Unterschied, daß Analytiker als Einzelpersonen wichtige Funktionen bekleiden« (ebd., Fn 60).601 In Reichs 1935er Ausgabe von Der Einbruch der Sexualmoral hieß es dann, in der Sowjetunion sei zwar bis 1923 eine – den Revolutionsführern nicht bewusst gewordene – Tendenz zur notwendigen psychosexuellen »Umstrukturierung« der einzelnen Menschen (und damit zur seelischen Gesundung) vorhanden gewesen. Nun aber herrsche, »und zwar fortschreitend, ein Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Grundlage des Sozialismus und der menschlichen Strukturbildung, der eine Rückentwicklung der ersten Ansätze zu einer sozialistischen Kultur zur Folge hat. Die Anpassung des 600 Zu Reichs Bemühungen, eine Synthese zwischen Marxismus und Psychoanalyse herzustellen, vgl. Dahmer (1973, S. 402–418). 601 Es bleibt unklar, auf wen er sich dabei bezieht. Vielleicht auf die als Kinderheim-Leiterin tätig gewesene Vera Schmidt? Auch in NS-Deutschland hatten allerdings Analytiker innerhalb des DIPFP »wichtige Funktionen«.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Menschen an das sozialistische Wirtschaftssystem muß dort im wesentlichen als mißglückt bezeichnet werden« (Raubdruck602 Der Einbruch der Sexualmoral, S. 117).603
Dass Reich dem Pariser Exil-Politbüro der KPD auch 1935 noch immer ein Begriff war, belegt ein dem Gremium am 26.8.1935 vorgelegter »Bericht über die Arbeit der Bezirksleitung der berliner [sic] Roten Kulturfront«. Darin wird für das Frühjahr 1934 von einem »wahrscheinlichen Versuch Wilhelm Reichs in die Sexualorg. einzudringen«, geschrieben, der eine von mehreren Schwierigkeiten in der Arbeit dargestellt habe. Damit dürfte Reichs auch im Exil fortgesetzter Versuch, mit ehemaligen EV-Mitstreitern in Deutschland zu kooperieren, gemeint gewesen sein. Das Politbüro wurde dann speziell über die illegale Fortführung der Arbeit des Verbandes proletarischer Sexualreformer, also wohl des ehemaligen Einheitsverbands, und über den anhaltenden schädlichen Einfluss, den Reich somit ausübe, informiert. Einem »früheren Funktionär«, der »der direkte oder indirekte Verbindungsmann zu W. Reich ist«, sei es gelungen, »einige Gruppen abzutrennen« sowie den Vertrieb von Schutzmitteln, also Kondomen und Ähnlichem, »selbst zu übernehmen«. Als Thema einer durchzuführenden »fachliche[n] Schulung in speziellen Sexual- und Frauenfragen« wurde anschließend genannt: »Diskussion über Reich etc.« (BA RY1/2/3/252, Bl. 141, 143f.).604 Bis Oktober 1935 verfasste Reich auch sein später verändert in die 1946er Ausgabe der Massenpsychologie aufgenommenes (Laska 2008, S. 145/149) Manuskript Masse und Staat: eine 122-seitige Kritik der sowjetischen Entwicklung aus sexualökonomischer Sicht. Reich gestattete sich nun, seine in der Analyse des Faschismus gewonnenen Erkenntnisse auch auf das Sowjetsystem anzuwenden.605 Gleich zu Beginn hieß es: »In der vorliegenden Schrift wird die Überzeugung ausgesprochen, dass die Sowjetunion sich betreffs ihrer Staatsform und kulturellen Entwicklung im rapiden Rückschritt zu autoritären, nationalistischen Formen der gesellschaftlichen Lenkung befindet« (Reich 1935c, S. 1). Dennoch war Masse und Staat aus einer Haltung heraus geschrieben, in der noch die Hoffnung mitschwang, die bevorstehende »Katastrophe der Revolution in der Sow602 In den wenigen Fällen, in denen eine bestimmte Schrift oder Auflage nicht im Original beschaffbar oder einsehbar war, habe ich auf Raubdrucke zurückgegriffen. 603 Nachtrag: »Roheims ›Psychoanalyse primitiver Kulturen‹«. 604 Wenn Atina Grossmann über dieselbe Stelle des Dokumentes schreibt, dort stünde, die KPD habe erwogen, Schriften von Reich nach Deutschland zu schmuggeln, um den Mangel an Sexualerziehungsbroschüren auszugleichen (Grossmann 1995, S. 148), dann geht das also völlig am tatsächlichen Inhalt des Dokumentes vorbei. 605 Zur Berechtigung solcher Vergleiche siehe auch Dahmer (2009h, S. 504–520).
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jetunion« (ebd., S. 2) ließe sich aufhalten: »Es ist selbstverständlich, dass wir für das Sowjetsystem und für die Sowjetunion eintreten. Wenn wir dies fruchtbar tun wollen, so können wir nicht anders vorgehen, als uns Klarheit darüber zu schaffen versuchen, was es in der Sowjetunion an bremsenden, rückwärtstreibenden Kräften gibt« (ebd., S. 11). Offenbar um Antikommunisten nicht noch zusätzliche Argumente zu verschaffen, verteilte Reich dieses Manuskript zunächst nur in einer Auflage von »etwa 100 Exemplaren« (Reich 1986, S. 198) an »ausgewählte Genossen und Freunde« und ersuchte sie, es höchstens an Personen weiterzureichen, »die in der Lage sind, den geschilderten Widerspruch in der Entwicklung der Sowjetunion zu begreifen« (Reich 1935c, S. 5). Offenbar vermutete er solche Personen auch noch innerhalb der Sowjetbürokratie. In Reichs Zeitschrift wurde jedenfalls kurz darauf mitgeteilt, dass Masse und Staat auch in der Sowjetunion »an die wichtigsten führenden Stellen geschickt« worden sei: »Wir erwarten sachliche Stellungnahmen. Im besonderen sind die führenden Stellen in der SU gebeten, in diese Diskussion einzugreifen« (ZPPS 1935, Heft 3, S. 187f.).606 Sollte also Stalin oder einer seiner Mitarbeiter Masse und Staat erhalten und gelesen haben? Schwer vorstellbar. Wahrscheinlicher kommt mir dagegen vor, dass sich jemand innerhalb dieser »führenden Stellen« zumindest soweit mit dieser Schrift befasst hat, wie es nötig erschien, um Reich erneut eindeutig als »Feind« einordnen zu können. Dafür ließen sich im Text genug Anhaltspunkte finden. Als Belege für den gesellschaftlichen Rückschritt in der Sowjetunion, benannte Reich in Masse und Staat zum Beispiel: »In den Betrieben ist schon längst die autoritäre, ›verantwortliche‹ Leitung an die Stelle des Dreier-Direktoriums und den [sic] wirtschaftsdemokratischen Produktionsberatungen getreten. In den Schulen machten die ersten Versuche der Selbstverwaltung […] der alten autoritären Schulordnung Platz. Im Heer wurde erst kürzlich strengste Rangordnung an die Stelle des sowjetistischen Kommandeur-Systems gesetzt. Der ›Marschall der Sowjetunion‹ ist eine peinliche und gefährliche Neuerung. In der Sexualpolitik häuften sich in den letzten drei Jahren die Anzeichen einer Rückkehr zu autoritären, bürgerlich-moralischen Ansichten und Gesetzen (Homosexuellen-Paragraph, Erschwerung der Abtreibung, Ehe- und Familienideologie etc.)« (Reich 1935c, S. 11f.). 606 Den Hinweis auf diese Quelle und den dort geschilderten Sachverhalt verdanke ich Peter Nasselstein, 6.2.2012.
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Seine Antwort auf die Frage »Wird die Sowjetunion nationalistisch?« begann Reich mit einem Zitat aus der Leningrader Roten Zeitung, »dem Zentralorgan der russischen Bolschewiki, Nr. 14 vom 4. Februar 1933«, das für viele andere ähnliche Huldigungen stand: »Alle unsere Liebe, unsere Treue, unsere Kraft, unser Herz, unser Heroismus, unser Leben – alles für Dich, nimm es hin, Du großer Stalin, alles ist Dein, Du Führer der grossen Heimat. Gebiete über Deine Söhne, sie können sich in der Luft und unter der Erde, im Wasser und in der Stratosphäre bewegen. Die Menschen aller Zeiten und Völker werden Deinen Namen als den herrlichsten, stärksten, weisesten, schönsten nennen. Dein Name steht an jeder Fabrik, an jeder Maschine geschrieben, auf jedem Fleckchen Erde, in jedem menschlichen Herzen. Wenn meine geliebte Frau mir ein Kind zur Welt bringt, so wird das erste Wort sein, das ich es lehre: Stalin.«
»Wer derartiges vor einigen Jahren vorausgesagt hätte«, so setzte Reich fort, »wäre mit Recht für irrsinnig erklärt worden« (ebd., S. 81). Über die »steigende Führerverehrung, die Stalin zuteil wird«, schrieb er einige Seiten weiter: »Bildern [sic] in den Demonstrationszügen, das Überwuchern der Hirrarchie [sic] in der Partei selbst, ›Stalins Regime‹, der Niedergang des Sowjetismus, die fortschreitende Askeseideologie, die wachsende Ignoranz bezgl. Europa, die nationale Interessenvertretung in der Außenpolitik […] sind deutliche Anzeichen einer Verschiebung zugunsten des Führerkults. Und Führerkult ist immer ein wesentliches Zeichen nationalistischer Ideologie« (ebd., S. 89).
Schließlich versuchte Reich einen Systemvergleich zwischen dem »bürgerlichen Staatskapitalismus, zu dem die faschistischen Diktaturen hinzielen«, und dem »proletarischen Staatskapitalismus, wie er heute in der Sowjetunion besteht«. Beide Male stünde der Staatsapparat »über der Gesellschaft«, sei die »autoritäre Lenkung der Gesellschaft […] in der Form dieselbe«. Die Kapitalistenklasse sei zwar geschichtlich erledigt, die Arbeiterklasse aber sei »entweder ideologisch-strukturell der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft mehr oder minder angepasst, wie in der U.S.A., in Skandinavien oder in Deutschland, oder sie hat die Macht übernommen wie in der Sowjetunion, kann aber die Selbstverwaltung im ganzen gesellschaftlichen Leben nicht durchführen. In beiden Fällen wirkt sich die Struktur der Menschen aus, wie sie in Jahrtausende langer Entwicklung mit ihrer Hilflosigkeit und Führersehnsucht geschaffen wurde« (ebd., S. 116f.).
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Im Gegensatz zur Sowjetunion habe die Arbeiterklasse in den »U.S.A. oder in Deutschland […] infolge ihrer in wesentlichen Stücken angepassten Struktur schon vor der Machtübernahme« versagt. Ob nun aber Privatkapitalismus oder die scheiternde Selbstverwaltung der Werktätigen die Gefahr von Chaos heraufbeschwöre – in beiden Fällen setze »der Selbstschutz der Gesellschaft in Gestalt des autoritären Staates ein, um sich überhaupt am Leben zu erhalten. Diese objektive gesellschaftliche Tendenz zum Zusammenhalt findet ihren subjektiven Ausdruck in der steigenden Verantwortung des jeweiligen Machthabers, der den Staatsapparat repräsentiert: In den U.S.A. Roosevelt, in der Sowjetunion Stalin. Am Ende jedes Versuchs derartiger staatlicher Rettung der Nation steht der wirtschaftliche und kulturelle Untergang« (ebd., S. 118).
Ebenso wenig wie Reich in der Massenpsychologie Hitler die Hauptschuld für die Faschisierung Deutschlands gab, lastete er nun bezüglich der Sowjetunion Stalin die Hauptverantwortung für die dortige gesellschaftliche Entwicklung an: Auch Stalin konnte sich nur auf der Grundlage der autoritär deformierten seelischen Struktur der Bürger seines Landes zum Alleinherrscher aufschwingen; die Bürger hatten ihn aufgrund dieser Strukturen geradezu zwangsläufig inthronisiert. Auch wenn Reich es hier nicht noch einmal so klar wie in der Massenpsychologie aussprach, ergab sich für die Sowjetunion doch dieselbe Schlussfolgerung: Ohne eine massenhafte »psychische Umstrukturierung« der einzelnen Individuen ist keine dauerhaft erfolgreiche Revolution möglich. Noch 1935 entschied sich Reich, einige Aspekte seiner SU-Kritik auch öffentlich mitzuteilen: In derselben Ausgabe der Zeitschrift, in der er auf Masse und Staat hinwies, brachte er auch Auszüge aus seinem »bald erscheinenden Buch« Die Sexualität im Kulturkampf (ZPPS 1935, Heft 3, S. 145–166).607 Reich verzichtete in diesem Buch und dementsprechend auch in den vorab veröffentlichten Auszügen allerdings auf grundsätzliche Kritik am sowjetischen System oder an Stalin und beschränkte sich stattdessen auf die Thematisierung der Rückschläge in der sowjetischen Sexualpolitik und deren weitreichende Auswirkungen. Einer derjenigen, denen Reich Masse und Staat zusandte, war Jacob Walcher. Der ehemals zur KPD-Führung gehörende Walcher war 1928 von der Partei ausgeschlossen worden und leitete inzwischen von Paris aus die Exilarbeit der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die 1931 von »linken« SPD-Mitgliedern und KPD-»Abweichlern« gegründet worden war (Weber/ 607 Hier noch angekündigt als »Familie und Sexualität im Kulturkampf«. Die Auszüge umfassen die Buchseiten 17 bis 24 sowie 157 bis 173.
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Herbst 2008, S. 984). Diese Partei setzte sich im Gegensatz zur KPD intensiv für eine Einheitsfront gegen den Faschismus ein und war – wie auch die KPD – dann äußerst aktiv im Widerstand. Zeitweise neigte die SAP auch trotzkistischen Ideen zu. Im Februar 1936 versuchte Reich, Walcher in Paris zu treffen, unter anderem, um Masse und Staat mit ihm zu diskutieren (BA RY 13/FC 143/401). Dieser Text stieß aber bei Walcher und seinen Genossen nicht auf Begeisterung. Am 25.2.1936 schrieb Walcher an Reich: »Unsere Meinung zu ›Masse und Staat‹ ist nicht ganz einheitlich. Ich kann Deiner Kritik in vielen Punkten nicht folgen« (BA RY 13/ FC 143/401).608 Im März 1936 (Nasselstein)609 kam dann Die Sexualität im Kulturkampf heraus. Reich hatte fast die Hälfte der insgesamt 250 Seiten610 der »Bremsung« der sexuellen Revolution in der Sowjetunion gewidmet. Der Beginn dieser »Bremsung«, so wiederholte er nun auch hier, liege schon im Jahr 1923 (Reich 1936, S. 159). Zur aktuellen Situation schrieb er, »daß in der SU die Familie wieder hochgehalten und ›gefestigt‹ wird«, die liberalen Eheregelungen teilweise wieder rückgängig gemacht werden sollen, »den Eltern wieder die Erziehungsverantwortung über die Kinder übertragen wird« (somit die auch von Reich favorisierte »Kollektiverziehung« wieder an Bedeutung verlor), »sich die Unterrichtsmethoden immer mehr autoritativ gestalten«, »die Askeseideologie immer schärfere Formen annimmt« und »die Sexualreaktion ständig überhand nimmt«. Es werde moralisiert, statt zu erkennen und zu bewältigen, Homosexualität werde wieder bestraft, die legale Abtreibung wieder infrage gestellt (ebd., S. 135f., 163, 182, 187). Schon während seines SU-Aufenthalts im Jahre 1929 habe er »antisexuelle Aufklärung« erlebt, die nur betrieben wurde, »um vom Geschlechtsverkehr überhaupt abzuhalten« (ebd., S. 188). Bereits 1931 habe »eine Gruppe bornierter und vertrockneter« sowjetischer Funktionäre seine sexualpolitischen Aktivitäten in Deutschland als »Sexpolitis« verächtlich gemacht und verfemt (ebd., S. 151 u. Fn). Reich zitierte einen Prawda-Artikel der »bekannten Kommunistin Ssmistowitsch«,611 in dem diese eine freie Sexualauffassung als nur für 608 Siehe auch Rothländer (2010, S. 218–221) und zu Walcher Weber/Herbst (2008, S. 983ff.). Im September 1936 scheiterte ein weiterer Versuch, sich in Paris zu treffen (BA RY 13/FC 143/401). 609 www.orgonomie.net/hdobiblio.htm. 610 Nämlich die Seiten 133 bis 247. 611 Nachdem Galina Hristeva 2016 erfolgreiche Recherchen zu ihr anstellte, kann ich nun auch diese Frau vorstellen: Sonja Nikolajewna Smidowitsch (1872–1934) war adliger Herkunft, mit dem wichtigen KPdSU-Funktionär Pjotr Smidowitsch verheiratet. Sie stand Lenin nahe, wurde 1922 Nachfolgerin von Alexandra Kollontai als Vorsitzende der – 1930
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2.10 Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939
»Hottentotten« und Urmenschen passend bezeichnete und fragte, »woher sich bei uns im Norden solche afrikanischen Leidenschaften« entwickeln konnten. Er kommentierte: »Aus dieser Stellungnahme leuchtet uns der Stolz des ›nordischen‹, sexuell ›reinen‹ Menschen, nämlich der Ssmistowitsch, gegenüber dem typischen Untermenschen […] entgegen« (ebd., S. 167). Auch anderen sowjetischen »Personen, deren erste Pflicht es gewesen wäre, sich weniger um den ›Staat‹ und mehr um die Mütter zu kümmern«, bescheinigte er »unzweideutig faschistisch-nationalsozialistische Tendenzen«. So habe ein Dr. Kirillow auf einem Kongress 1932 in Kiew gesagt, die Abtreibung »verlegt den Weg zur Mutterschaft«, sei »dem wahrhaften Gemeinwesen fremd«, »erscheint als ein Massenmittel zur Vernichtung des Nachwuchses« und »birgt nicht die Absicht, der Mutter und der Gemeinschaft zu dienen«. Reich urteilt, diese »Phrasöre« seien »jederzeit ihrem Denken und ihrer Struktur nach fähig […], sich faschistisch gleichschalten zu lassen« (ebd., S. 177). Zwar sehe er momentan noch immer »eine Möglichkeit, den in der SU kämpfenden Verteidigern der sowjetischen Sexualrevolution zu Hilfe zu eilen«, aber: »Es kann sehr bald zu spät sein« (ebd., S. 135). Im April 1936 traf Reich mit Trotzki zusammen,612 der gezwungen war, Frankreich zu verlassen und in Norwegen Asyl zu suchen. Trotzkis Sekretär Heinz Epe (= Walter Held) beschreibt eine Debatte zwischen den beiden, in der Trotzki die weitaus besseren Argumente gehabt habe (Rothländer 2010, S. 217f.). Zumindest Reich regte die Zusammenkunft zu weiteren Überlegungen an (Reich 1988, S. 162ff., 1997b, S. 379). Dieses Treffen wurde von beiden Partnern geheim gehalten.613 Dass sie miteinander Kontakt hatten, blieb jedoch nicht völlig verborgen. Auf einer auf den 2.9.1936 datierten, von Komintern-Generalsekretär Georgi Dimitroff und Komintern-Sekretär D. M. Manuilski614 zur Kenntnis genommenen Liste mit aufgelösten – Frauenabteilung beim ZK der KPDSU. In der Inprekorr 2/1933, S. 1461–1491, veröffentlichte sie den Beitrag »Die werktätige Frau in der Sowjetunion«. Hier findet sich u. a. ein Foto von ihr: myslo.ru/city/tula/tulyaki/zheleznie-ledi-proshlogo-veka Der von Reich zitierte Prawda-Artikel stammt laut basisreligion.reliprojekt.de/kommu nismus.htm bereits vom 21.3.1925 – und wäre damit ein frühes Zeugnis der wieder reaktionärer werdenden sowjetischen Sexualpolitik. 612 Reich hatte Trotzki am 10.9.1935 brieflich ein Treffen vorgeschlagen, Trotzki am 18.9.1935 sein grundsätzliches Interesse daran bekundet (dokumentiert in Hoevels 2001, S. 285). 613 Reich veröffentlichte offenbar nie etwas darüber. Dass auch Trotzki diesbezüglich Schweigen bewahrte, teilte mir Helmut Dahmer mit. 614 Der Bulgare Dimitroff war zuvor auch einer der im »Reichstagsbrand-Prozess« fälschlich angeklagten kommunistischen Funktionäre. Manuilski hatte die Komintern bis 1934 geleitet (Bullock 199, S. 1338), war später Kandidat des KPdSU-Politbüros, also der höchsten Führungsebene. In Reich (1934c, S. 249f.) setzte sich Reich auch mit ihm auseinander.
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»trotzkistischen und anderen feindlichen Elementen« tauchte auch Reich auf.615 Hier galt er zwar nicht als Hauptfeind, wurde aber mit einem dieser Feinde in Verbindung gebracht: Otto Knobel. Dieser habe, so hieß es da gut informiert, in Reichs Verlag mitgewirkt und auch Reichs Briefwechsel mit Trotzki gelesen. Von Reich selbst wird dort gesagt, er sei »wegen Trotzkismus« aus der KPD geworfen worden.616 Das war unter den damaligen Umständen ein halbes Todesurteil: Mehrere auf dieser Liste stehende Personen fielen, wie ja auch Trotzki selbst oder sein Sekretär Heinz Epe, in den nächsten Jahren Stalins Vernichtungswut zum Opfer.617 Darauf, dass Reich auch 1937 noch immer nicht alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Sowjetunion könne zum Sozialismus finden, deutet ein 20-seitiger Artikel in Reichs Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie hin (ZPPS 1937, S. 90–109). Der damals schon sehr bekannte norwegische Schriftsteller Sigurd Hoel, der zu einem von Reichs engsten Sex-Pol-Mitstreitern geworden war, analysierte, sicher in Abstimmung mit Reich, den zweiten Moskauer Schauprozess gegen Karl Radek und andere. Dieser Prozess führte zu zahlreichen Todesurteilen wegen angeblicher »Sabotage«, Terrorismus und Ähnlichem. Hoel bezeichnete die Moskauer Schauprozesse als »eine der größten Katastrophen unserer Tage« (ebd., S. 93) und schloss: »Eins ist klar, über eines dürfen wir uns nicht selbst täuschen: Die ›revolutionäre‹ Begeisterung, die sich in der Sowjetunion über die letzten und die vorigen Moskauer Urteile erhob – sie unterschied sich in keinem Punkte von der entsprechenden ›revolutionären‹ Begeisterung, die Hitlers SA-Leute erfüllte […]. Und doch: in der jetzigen Welt, verwirrt und unklar wie kaum je, in diesem Chaos steht die Sowjetunion heute als die eine Macht, die die Arbeiterbewegung der ganzen Welt stützt und stützen muss – ganz gleich, ob die stalinistische Bürokratie das in jedem einzelnen Falle wünscht oder nicht, ganz gleich, ob wir der Politik Stalins in dem und dem Punkt Beifall schenken oder nicht. Wie stünde es jetzt in Spanien [d.h. im spanischen Bürgerkrieg – A.P.] ohne die Hilfe der S. U.? […] 615 Auf diese Quelle und deren Inhalt wies mich am 3.1.2011 James DeMeo hin. Siehe dazu auch www.orgonelab.org/ReichPersecution.htm. 616 Quelle: »Document 20… Memorandum on Trotskyists and Other Hostile Elements in the Emigre Community of the German CP, Cadres Department«, dated 2 Sept. 1936 in the Yale University Archives: www.yale.edu/annals/Chase/Documents/doc20chapt4.htm. Das Dokument ist auch auszugsweise wiedergegeben als »Document 17« in William J. Chase: Enemies within the Gates? The Comintern and the Stalinist Repression, 1934–1939, (Yale Univ. Press 2001, S. 164–174). 617 Auch Knobel kam in einem sowjetischen Lager ums Leben, so eine persönliche Mitteilung von James DeMeo am 4.1.2011.
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2.10 Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939
Diese Tatsachen bestehen. Keine noch so abscheulichen Moskauer Prozesse können sie vernichten« (ebd., S. 109).
Wegen seiner und der von ihm mit verantworteten Kritik an der sowjetischen Politik wurde Reich, so berichtet der Historiker Einhart Lorenz, von den norwegischen Kommunisten denunziert und von KPD-Emigranten als Trotzkist geschmäht (Lorenz 2010, S. 11 u. Fn 70). 1938 schrieb Reich auch einen nur intern kursierenden Text über »Arbeitsdemokratie«: Ansätze zu einer nunmehr vor allem auf Selbststeuerung (vgl. Bennett 2010b; Gierlinger 1982) setzenden Vision sozialer Entwicklung. Später definierte er, Arbeitsdemokratie sei »kein politisches Programm«, nehme den Menschen nicht mittels der Politik ihre soziale Selbstverantwortung, sondern bekräftige diese Verantwortung, bekämpfe »Mystizismus und die Idee eines totalitären Staates«, basiere auf rationalen, natürlichen zwischenmenschlichen Beziehungen und »Lebensfunktionen«, auf »Liebe, Arbeit und Wissen« (Reich 1986, S. 348). Wenn auch »gemessen an der großen Tradition der Sozialutopien […] Reichs Konzeption als naiv« erscheint (Dahmer 1973, S. 391), war es doch zumindest ein Gegenentwurf zu den autoritär-zentralistischen Entartungen des Sowjetkommunismus. Was Reichs Stalinismus-Kritik betrifft, nahm er unter den Psychoanalytikern erneut eine Sonderstellung ein. Der Grinstein-Index nennt bis ins Jahr 1952 ganze vier psychoanalytische Beiträge, die sich mit den Themen »Stalin«, »StalinMythos und europäische Intellektuelle« oder »Stalinismus und Schuldgefühle in Europa« befassten. Der früheste, Gustav Bychowskys Diktatoren und ihre Gefolgschaft, stammt aus dem Jahr 1943, die anderen drei aus den Jahren 1948 und 1952. Auch der zusätzliche Verweis auf das Stichwort »Diktatoren« sowie der dort formulierte Vorschlag, ebenfalls unter dem Stichwort »Totalitarismus« nachzuschlagen, führen nur zu weiteren sechs Arbeiten, die zwischen 1944 und 1952 entstanden sind und das Problem Stalinismus offenbar ebenfalls nur unter allgemeineren Gesichtspunkten oder am Rande ansprachen. So veröffentlichte Bychowsky 1948 Diktatoren und Anhängerschaft von Cäsar bis Stalin; eine psychoanalytische Geschichtsinterpretation, Prynce Hopkins 1944 Von Göttern zu Diktatoren – Psychologie der Religionen und ihre totalitären Substitute und Robert Wälder 1952 Autoritarismus und Totalitarismus. Psychologische Kommentare zum Problem der Macht (Grinstein 1956–1960, Bd. 1., S. 283, Bd. 2, S. 928, Bd. 4, S. 2026).618 Auch zusätzliche Recherchen ergaben keine Hinweise auf weitere, in dieser Zeit 618 Diese wie auch die zuvor benannten Titel der Beiträge wurden von mir übersetzt – A. P.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
veröffentlichte Beiträge zu diesem Thema. Das spricht dafür, dass der GrinsteinIndex hier recht vollständig ist. Reich scheint somit in den 1930er Jahren nicht nur der einzige Psychoanalytiker gewesen zu sein, der sich öffentlich tiefgründig mit dem Faschismus auseinandersetzte, sondern auch der einzige, der den Stalinismus offen anprangerte.619
2.11
Das Ende der Sex-Pol-Bewegung
Im norwegischen Exil kam es auch zum endgültigen Scheitern dessen, was Reich »Sex-Pol-Bewegung« genannt hatte. Die Gründe dafür lagen wohl ebenso in den Schikanen norwegischer Behörden und den Diffamierungen durch verschiedene Medien und Wissenschaftler des Landes (Sharaf 1996, S. 271–278) wie in internen Zwistigkeiten und elitären Vorstellungen Reichs. So wollte er nur durch ihn charakteranalytisch Geschulte als »Kerntruppe« der Bewegung gelten lassen (Rothländer 2010, S. 173f.). Noch im September 1936 hielt Reich einen »weiteren Schritt zum Aufbau einer künftigen Massenorganisation« für nötig (ebd., S. 298). Stattdessen aber zerfiel die Sex-Pol-Gruppe innerhalb weniger Monate fast völlig. Als Reich im »Juli 1937 das Arbeitsprogramm für das folgende Jahr« festlegte, fand die Sex-Pol »mit keinem Wort« mehr Erwähnung (ebd., S. 305). Die Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie existierte zwar noch bis 1938, Reich zog sich jedoch auch hier zurück; als Herausgeber der letzten beiden Hefte fungierte nicht mehr »Ernst Parell«, sondern Sigurd Hoel (ebd., S. 165). Aber war das, was da zerfiel, wirklich eine eigenständige Bewegung? Diese Frage, die für die Bewertung von Reichs europäischen Aktivitäten eine wichtige Rolle spielt, ist einer genaueren Antwort wert.620 Bemerkenswert ist, dass Reich in seinen späteren Erinnerungen anstelle des 619 Was wiederum heißt: Die offizielle Psychoanalyse steckte in den 1930er Jahren den Kopf gegenüber dem Stalinismus genauso in den Sand wie gegenüber dem Faschismus. Man vergleiche nur Ernest Jones’ Äußerung auf dem 1936er IPV-Kongress über eine in der Sowjetunion »beginnende Toleranz der Wissenschaft gegenüber« – die die Hoffnung gestatte, dass »die psychoanalytische Arbeit auch dort wieder aufgenommen werden wird« (IPV-Korrespondenzblatt 1937, S. 184) – mit dem, was Reich bis 1936 über Sowjetrussland schrieb und mit der Tatsache, dass die kurz darauf von Stalin persönlich verurteilte Psychoanalyse noch im selben Jahr endgültig verboten wurde. Aber Jones’ Fehldiagnose stößt offenbar bis heute innerhalb der Psychoanalyse nicht auf Kritik, während Reich unterstellt wird, er wäre noch 1935 »kommunismusgläubig« gewesen (Schröter 2009, S. 1093, Fn 10). 620 Es gibt dazu offenbar bisher auch noch keine gründlichere Auseinandersetzung.
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2.11 Das Ende der Sex-Pol-Bewegung
korrekten Namens des »Einheitsverbandes für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« (EV) meist621 von der »deutschen Sex-Pol-Bewegung« spricht – obwohl er den Begriff »Sex-Pol« erst im skandinavischen Exil kreierte. Das wirkt, schreibt Marc Rackelmann, wie ein »Versuch der Vergewisserung«, dass er hier tatsächlich maßgeblich Einfluss genommen habe (Rackelmann 1992, S. 72). Eine erste Seite mit Stichpunkten Reichs zur »Vorgeschichte der Sex-Pol«622 enthält die folgenden aufschlussreichen Zeilen: »Z.K. der KPD beauftragt Ifa (verantwortliche Leiter Fritz Bischoff und Fritz [sic] Schneider) mit der vorläufigen Organisierung der Sex-Pol-Bewegung innerhalb der ifa. Bestimmung einer Reichsleitung bestehend aus Schröder [sic], Bischoff, Beguhn [sic], Schneider, Friedländer, Reich. Ifa organisiert 1. Kongress in Düsseldorf (Datum!!!) aufgrund folgender von Reich verfasster und zum Kongress ergänzter Plattform. Gründung des Westdeutschen Verb. (Titel!!!) erfasst mit einem Schlage … Verbände mit … Mitgliedern« (AOI).623
Reich konnte sich offenbar beim nachträglichen Aufarbeiten dieser Zeit (zumindest zunächst) nicht mehr all dieser Fakten und Namen korrekt entsinnen, einschließlich des Namens des EV – denn das ist offensichtlich der »Westdeutsche Verband«. In dem Text, den Reich, offenbar basierend auf obigen Stichpunkten, 1934 für seine Zeitschrift ausgearbeitet hatte, hieß es dann: »Die Geschichte der Sex-Pol-Bewegung beginnt mit Erfahrungen an Wiener Sexualberatungsstellen in den Jahren 1926/30« (Reich 1934, S. 262f.). Der weitere Text legt nahe, dass dies in eine von ihm sowohl initiierte wie auch inhaltlich geleitete deutsche SexPol-Bewegung mündete. Da es zudem in der gesamten Zeitschrift immer wieder um die gegenwärtigen Aktivitäten »der Sex-Pol« ging, ergibt sich beim Lesen der – ich vermute von Reich auch so gewünschte – Eindruck, dass diese Bewegung letztlich auch in Skandinavien Fuß gefasst habe. Insbesondere dadurch, dass er seine früheren Aktivitäten inklusive EV rückwirkend als Sex-Pol-Bewegung etikettierte, erweckte Reich die Vorstellung einer von Kontinuität geprägten 621 Zumindest die Bezeichnung »Einheitsverband für proletarische Sexualreform« war auch in Reichs 1934er Glossar zum Sonderdruck von Was ist Klassenbewusstsein? enthalten und korrekt eingeordnet. Den kompletten Namen des EV entdeckte erst Peter Bahnen wieder (Bahnen 1986, S. 95f.). 622 Diese Notizen stammen sicherlich aus den ersten Monaten des Jahres 1934. Denn in diesem Jahr erschien ja schon der anonym verfasste Artikel über die »Geschichte der SexPol-Bewegung« in der Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie, in dem die meisten dieser Lücken bereits gefüllt sind. 623 AOI, Orgone Institute, Box 4, Sexpol.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Entwicklung.624 Jahrzehnte später schilderte ein anonymer Autor625 die Sex-PolGeschichte wie folgt: »Reich hatte bereits 1928 aus seiner Erkenntnis, daß der Faschismus mit den politischen und organisatorischen Mitteln der KPs und SPs nicht aufzuhalten war, […] die Bewegung für Sexualökonomie und Politik (Sex-Pol) aufgebaut. Diese verstand sich als Gruppe innerhalb der kommunistischen Arbeiterbewegung. Er war mit dieser Bewegung in Österreich einem so starken gesellschaftlichen, psychologischen und politischen Druck (innerhalb und außerhalb der KPÖ) ausgesetzt, daß er nach Berlin überzusiedeln gezwungen war. Dort baute er die Sex-Pol neu auf. […] In der dänischen Emigration versuchte er wiederum, die Sex-Pol aufzubauen.«
Wie sah die Realität aus? Am 27.12.1928 erkannten die Wiener Behörden die maßgeblich von Reich und der Sexualreformerin Marie Frischauf initiierte Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung als Verein an (Fallend 1988, S. 115). Mitglied konnte jeder werden, hieß es im Statut, »der sich zur sozialistischen Weltanschauung bekennt«. Zudem wurde die Verankerung der Beratungs- und Forschungstätigkeit in der Psychoanalyse mehrfach betont (ebd., S. 116f.). In den sechs Beratungsstellen der Gesellschaft führten Reich und neun weitere »linke« Ärzte und Analytiker sowie ein Jurist und eine Lehrerin zwischen 1929 und 1930 etwa 700 Beratungen durch. Außerdem veranstalteten sie mindestens sieben, offenbar gut besuchte Vortrags- und Diskussionsabende und veröffentlichten die Schriften Sexualerregung und Sexualbefriedigung und Ist Abtreibung schädlich? von Marie Frischauf und Annie Reich. All das erhöhte ihren Bekanntheitsgrad (Reich 1995, S. 119–128; Fallend 1988, S. 115–131, 134–136). Doch waren sie mit all dem schon eine »Bewegung«? Der Politologe Felix Kolb definiert eine soziale Bewegung als »Netzwerk« aus »Organisationen und Individuen, das auf Basis einer geteilten kollektiven Identität mit Hilfe von überwiegend nichtinstitutionalisierten Taktiken versucht, sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen, sich ihm zu widersetzen oder ihn rückgängig zu machen« (Kolb 2002, S. 10).
624 An anderen Stellen wird allerdings doch die Diskontinuität deutlich, so wenn Reich schreibt: »Vor allem anderen musste man nach der Machtergreifung durch Hitler den deutschen Verlag und die Organisation in der Emigration vollkommen neu und mühsam aufbauen« (ZPPS 3/1935, S. 184f.). 625 Redaktionelles Vorwort zum Reich-Raubdruck Was ist Klassenbewusstsein? (o.J., o.O.), vermutlich vom Anfang der 1970er Jahre.
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2.11 Das Ende der Sex-Pol-Bewegung
Die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung bot als kollektive Identität die Reich-typische Verknüpfung marxistischer und psychoanalytischer Erkenntnisse an und das gemeinsame Engagement dafür, diese per Beratung und Öffentlichkeitsarbeit vor allem für ärmere Bevölkerungskreise nutzbar zu machen. Gut vernetzt war diese Gesellschaft auch: In der Wiener Roten Fahne wurde für ihre sämtlichen Veranstaltungen ebenso geworben wie für ihre Beratungsstellen; Reich war SPÖ-Mitglied, mindestens sieben der zehn Berater waren oder wurden KPÖ-Mitglieder, sechs waren Analytiker oder standen der Analyse sehr nahe. Die Bereitschaft zur »Zusammenarbeit mit verwandten Institutionen« lag vor und »wurde auch praktiziert« (Fallend 1988, S. 116f., 122, 125). Aber wie viele Menschen beteiligten sich? Genaueres lässt sich aus den vorliegenden Dokumenten, einschließlich Reichs eigenem Bericht (Reich 1995, S. 119–128), nicht herauslesen. Auch Karl Fallend muss die Frage, »inwieweit es der S[ozialistischen] G[esellschaft] gelungen ist, breitere Kreise der Linken für eine Zusammenarbeit zu gewinnen«, »weitgehend offen« lassen (Fallend 1988, S. 117). Fragen wir daher anders: Welche Mindestanzahl von Menschen hätte eine »Bewegung« miteinander zu verbinden? Vielleicht hilft ein Vergleich. Sigmund Freud sprach, sicherlich bezogen auf die damalige Gründung der IPV, ungefähr für die Zeit ab 1910 von einer »psychoanalytischen Bewegung« (Freud 1914d, S. 70), ebenso Ernest Jones ( Jones 1984 Bd. 2, S. 88).626 Die IPV hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch erst 53 Mitglieder (IZP-Korrespondenzblatt 1/1910, S. 1–3; 3/1910, S. 1). Dafür, dies als Bewegung gelten zu lassen, spricht – neben der kollektiven Identität als Psychoanalytiker und dem Bestreben, das menschliche Selbstbild zu wandeln –, dass es auch hier effektive Wirkungen nach außen gab, diverse Kooperationen, also ein »Netzwerk«. Der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung ebenfalls um die 50 Mitglieder zuzubilligen, scheint mir realistisch. Die zehn Sexualberater werden ohnehin eingetreten sein. Darüber hinaus dürfte ein so öffentlichkeitsorientierter Verein, der sich an alle »Linken« wandte, im damaligen »Roten Wien« einigen Zulauf an Mitgliedern gehabt haben. Dies vorausgesetzt, hatte auch das von Reich dominierte Wiener Netzwerk den Charakter einer regionalen Bewegung. Und Reich baute auch seine internationalen Verbindungen aus.627
626 Letzterer allerdings mit einem – von ihm nicht erklärten – Hinweis darauf, dies sei »ein nicht sehr glücklicher Ausdruck, der aber in gleicher Weise von Freund wie Feind gebraucht wurde«. 627 Um nur einige Namen bzw. Stichworte zu nennen: Hirschfeld, Hodann, Simmel (Deutschland), Vera Schmidt (SU), Weltliga für Sexualreform, Kominternzeitschrift Unter dem Banner des Marxismus.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Weder ehemalige Wiener Mitstreiter noch Anhänger begleiteten ihn jedoch Ende 1930 nach Berlin. Hier knüpfte er zwar inhaltlich an seine Wiener Zeit an. Organisatorisch war es jedoch fast ein völliger Neuanfang. Zunächst schloss Reich sich an eine vorhandene Bewegung, nämlich die deutsche Arbeiterbewegung, an. Als deren – weitgehend noch nicht institutionalisierter – Bestandteil lassen sich auch die EVs verstehen. Aber waren die EVs eine Reich-Bewegung? Sicherlich nicht. Auch wenn Reich für deren inhaltliche Ausrichtung der entscheidende Ideengeber war: Für die KPD hatten der Düsseldorfer EV und seine Ableger von Beginn an eine ganz andere Aufgabe, als sie Reich vorschwebte. In den EV-Statuten fanden sich kaum Reich-spezifische Forderungen, in der EV-»Reichsleitung« waren Gegenkräfte am Werk, die Reichs Absichten bremsten oder sabotierten. Ich gehe davon aus, dass dieser Widerspruch bis in die Basis des Vereins wirkte: Auch hier dürften vielen eher kleinbürgerlich denkenden Mitgliedern Reichs Ideen fremd gewesen sein. Offenbar scharten sich um Reich jedoch engagierte Mitstreiter wie der später protokollführende Fritz Hupfeld oder der Jugendverbandsfunktionär Fritz Schubert, die Psychoanalytikerin Edith Jacobssohn, Reichs Frau Annie oder diejenigen, die in den Konflikten des Herbstes 1932 die Absetzung der IFA-Leitung forderten. Bedenkt man, dass noch in den EV-Versammlungen von 1933 – trotz des enormen Anpassungsdrucks durch die EV-»Reichsleiter« Bischoff und Schneider sowie die KP-Leitung – immerhin 32 von 71 bzw. (bei drei Enthaltungen) sieben von 25 Anwesenden die Anti-Reich-Resolutionen und -Beschlüsse ablehnten, lässt sich schließen, dass die Pro-Reich-Fraktion des Gesamt-EV eine beachtliche Größe und Stärke gehabt haben muss. Bei den insgesamt zu vermutenden 12.000 Mitgliedern des Gesamt-EV dürfte diese Minderheit also etliche hundert Personen umfasst haben. Die bereits zitierte Einschätzung der Düsseldorfer EV-Sekretärin Luise Dornemann legt nahe, dass sich diese Personen insbesondere in der Berliner Region konzentrierten: »Wir hatten dort einen schweren Kampf zu führen gegen die Berliner Gruppe, die […] Tendenzen von Psychoanalyse und Sexualreform in diese Organisation trugen« (BA NY1/4278/Bl. 1). Da sich Reich, wie bereits dargelegt, sicher nicht nur auf den Verein bezog, wenn er von »Bewegung« sprach, dürfte zu dieser Bewegung auch eine größere Anzahl von Menschen zu rechnen sein, die nicht EV-Mitglieder waren – zum Beispiel jener Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes, der mit Reich die Dresdner Jugendkonferenz im Oktober 1932 initiierte, oder einige der Absender der diversen Zuschriften, die Reich aus dieser Zeit in seinem Archiv gesammelt hat.628 Insofern scheint es mir gerechtfertigt, von einer gut vernetzten Reichschen oder sexualökonomischen Bewegung innerhalb und außerhalb des Gesamt-EV zu sprechen. Wie diese sich weiterentwickelt hätte, wenn es nicht zur NS-Machtübernahme 628 Siehe z.B. AOI, Orgone Institute, Box 35, Opinions on »Der sexuelle Kampf der Jugend«.
326
2.11 Das Ende der Sex-Pol-Bewegung
gekommen wäre, ist eine interessante Frage. Dass sich die KPD 1933 ohnehin von Reich getrennt hätte, scheint mir sicher. Gut möglich, dass es ihm gelungen wäre, seine Anhänger weiter zusammenzuhalten und mit ihnen eine noch intensivere und eigenständigere Wirkung zu entfalten. Dass er zuvor mithilfe der KPD ohnehin eine große Menge von Menschen mit seinen Ideen erreicht hatte, hätte dies erleichtert. Im skandinavischen Exil war Reich dann politisch und wissenschaftlich unabhängig wie nie zuvor. Er konnte jedoch nur wenige »Getreue« als neuen Kern »der SexPol« um sich scharen; abermals handelte es sich durchweg um andere Personen als zuvor in Deutschland.629 Er selbst spricht für 1934 von »etwa zwanzig sehr klugen, geschulten, lieben Menschen« (Reich 1997a, S. 45), andere 1936 noch immer nur von einer »kleinen Spezialistengruppe« (zitiert in Rothländer 2010, S. 295). Die von ihnen erzielten Resultate waren allerdings enorm. Nicht nur mit der Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie wirkten sie nachweislich in andere Strömungen oder in lose assoziierte »Freundeskreise« hinein (ebd., S. 124–144, 241–257). 1935 benannte Reich als bereits erzielte Erfolge den »gut organisierten Verlag mit teils gleichmässigem, teils steigendem Absatz«, den »Sexpolfond« aus Dauerbeiträgen und Spenden, »internationale Verbindungen zu Genossen und Institutionen in fast allen Ländern«630 sowie zu verschiedenen kommunistischen Parteien, zur SAP, den Trotzkisten, der Westeuropäischen Freidenkerbewegung, den radikalen Sozialdemokraten und Anarchosyndikalisten. Sex-Pol-Literatur wie Der sexuelle Kampf der Jugend sei bereits in mehrere Sprachen »übersetzt oder in Übersetzung begriffen«. Bei der dänischen Reichstagswahl habe 1935 »zum ersten Male ein Vertreter der Sexpol mit eigenem Programm in Einheitsfront mit der kommunistischen Partei Dänemarks« kandidiert (ZPPS 3/1935, S. 184–186), dies allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Bei dem um Reich in Skandinavien entstandenen Netzwerk handelte es sich also um eine kleine, aber äußerst effektive überregionale Bewegung. Die einzige »Klammer«, die Reichs sexualpolitische Aktivitäten zwischen 1928 und 1937 zusammenhielt, waren freilich er selbst und sein intensives Interesse an diesem Thema, dem er in verschiedenen Ländern und Organisationsformen treu blieb. So gesehen gab es drei personell fast gänzlich verschiedene, inhaltlich jedoch weitgehend aufeinander aufbauende und jeweils von Reich geführte »Sex-PolBewegungen« (vgl. auch Dahmer 1973, S. 398–402). Die beträchtliche Resonanz, die Reich und seine jeweiligen Mitstreiter damit 629 Zwar waren ihm einige Sex-Pol-Mitstreiter wie Motesiczky und Leunbach bereits zuvor bekannt, aber meines Wissens hatte keiner von ihnen zuvor in den EVs eine erwähnenswerte Rolle gespielt. J. H. Leunbach zum Beispiel schwenkte erst 1933 »auf Reichs revolutionären sexualpolitischen Kurs ein« (Rothländer 2010, S. 134). 630 Mit Ausnahme von »Indien, China, Japan, Bulgarien, Italien«.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
erzielten, scheint allerdings immer rasch verebbt zu sein, nachdem Reich Land oder Region verließ bzw. verlassen musste. Eine nachhaltige sexualpolitische Bewegung ins Leben zu rufen, gelang ihm offenbar nicht. Dennoch behielt er seine Sex-PolAktivitäten in guter Erinnerung. Am 24.11.1942 schrieb er an Alexander Neill: »Obwohl ich im Moment nicht viel Zeit habe und sehr mit Schülern, Forschung und Schreiben beschäftigt bin, würde ich gern die Sex-Pol-Arbeit fortsetzen, die ich in Europa gemacht habe« (Reich/Neill 1989, S. 132). Wie erwähnt, trugen Reichs sexualpolitische Aktivitäten auch in Skandinavien dazu bei, ihn in Konflikte mit den Behörden seiner Exilländer zu verwickeln. Wohl nicht zuletzt durch diese Konflikte wurden auch Vertreter des NS-Staates wieder verstärkt auf ihn aufmerksam.
2.12
Ausweisung, Observierung
Noch im Frühjahr 1933, wahrscheinlich im April, gehörte Reich (ebenso wie Karl von Motesiczky) zu den ersten dreizehn österreichischen Bürgern, die »wegen ihrer Betätigung in der kommunistischen Bewegung« »aus dem Freistaat Preußen« ausgewiesen wurden. Das dokumentiert ein Gestapo-Schreiben vom 5.5.1933 (Werkblatt 2/1998, S. 34). Auch das belegt, welche Bedeutung die NS-Behörden Reichs vormaliger politischer Aktivität beimaßen. 1934 scheint Reich zusätzlich aus Gesamtdeutschland ausgewiesen worden zu sein. So hält es zum einen ein GestapoBericht von 1939, zum anderen ein Eintrag im SED-Archiv über Reichs Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf fest (BA R 58/37179 bzw. 3717).631 Wie erwähnt, enthalten die Akten des Reichssicherheitshauptamtes mit Datum vom 14.3.1934 einen Bericht über den Sex-Pol-Mitstreiter Walter Hoffmann, Pseudonym »Kolbenhoff«, der in Reichs Verlag den Roman Untermenschen veröffentlicht hatte und aus der KPD ausgeschlossen werden sollte. Aus diesem Bericht geht hervor, dass auch Reich weiter beobachtet wurde: »Dr. Reich, bis zum Sommer 1933 in der K.P.D., wurde ausgeschlossen, weil er, ohne die Genehmigung der Partei auch nur zu beantragen, ein psychoanalytisches Buch
631 Bemerkenswerterweise wird hier nur Reichs KPÖ-Mitgliedschaft registriert, nicht jedoch seine Mitgliedschaft in der KPD. Unter »Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf« ist vermerkt: »Emigration und Beteiligung an internationalen Tagungen«, unter »Gebiet und Zeit: Oslo, auch 1937«. Auf eine der Tagungen, die damit gemeint gewesen sein könnte – veranstaltet 1937 von der SAP – komme ich noch zurück.
328
2.13 Ausbürgerung
(durchaus antimarxistisch) veröffentlicht hat. Er veröffentlicht noch heute psychoanalytische Aufsätze in ›Sexuell Oplysning‹«632 (BA RY 1/I/2/3/92 Bl. 87/88).
Dass die Massenpsychologie, um die es hier nur gehen konnte, als »durchaus antimarxistisch« eingeordnet wird, spricht nicht für tieferen Einblick, hatte Reich dort doch gerade versucht, Marx vor »vulgärmarxistischen« Verzerrungen kommunistischer Funktionäre in Schutz zu nehmen. Jedoch stimmten die Spitzel überein mit der – ihnen offenbar bekannten633 – Bewertung jener KP-Verantwortlichen, die Reich ausgeschlossen hatten. Die in Skandinavien öffentlich ausgetragenen Kontroversen über Reichs Konzepte und Forschungen riefen auch eine deutsche Behörde auf den Plan, die bislang wohl noch nicht mit Reich befasst war. Am 23.11.1934 wies ein Mitarbeiter der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm das Auswärtige Amt in Berlin darauf hin, dass die schwedische Zeitschrift Nya Dagligt Allehanda sich in einem Artikel »gegen die hiesige Tätigkeit eines deutschen Emigranten Wilhelm Reich wendet und die Frage aufwirft, ob ein ›Kulturkämpfer‹ von der Qualität des Herrn W. Reich in Schweden erwünscht« sei (AAA R 99578). Vermutlich weil Reich kein Deutscher war, scheint das angeschriebene Amt zu diesem Zeitpunkt weitere Maßnahmen nicht für notwendig empfunden zu haben. Außerdem hatte er Schweden ja bereits verlassen und lebte nun in Oslo. Doch 1938 machte die Besetzung Österreichs auch Reich unfreiwillig zum Bürger des Dritten Reiches – und damit zu einem potenziellen Opfer der NSAusbürgerungspolitik.
2.13
Ausbürgerung634
Von 1933 bis 1945 verließen etwa 278.500 Juden bzw. als jüdisch geltende Personen sowie »ungefähr 40.000 Menschen, die aufgrund ihrer politischen Ansichten, religiösen Überzeugungen, sexuellen Orientierung oder künstlerischen 632 Gemeint ist wohl die Tidsskrift for seksuell oplysning = Zeitschrift für sexuelle Aufklärung. Zu Kolbenhoff siehe Rothländer (2010, S. 143f.). 633 Die Spitzel konnten ihre Kenntnis aus dem Arbejderbladet-Artikel vom 21.11.1933 haben. Denkbar ist zusätzlich eine andere Quelle. Das Berliner Polizeipräsidium überwachte, wie erwähnt, vor 1933 »staatsgefährdende« Personen und Aktivitäten, inklusive W. Reich, KPD und EV. Die Nationalsozialisten übernahmen nicht nur diese Akten, sondern auch einen großen Teil der Mitarbeiter, die diese Akten angelegt hatten (vgl. Dams/Stolle 2008, S. 15ff.). 634 Vgl. auch Peglau 2011.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Tätigkeit als ›Feinde‹ […] galten«, Deutschland und das »angeschlossene« Österreich (Unger 2009, S. 9). Dieser Exodus war den NS-Machthabern einerseits erwünscht, führte andererseits aber zu unliebsamen Konsequenzen: Zahlreiche Exilanten opponierten nun vom Ausland aus gegen das Regime. Um solche Aktivitäten einzudämmen, kam Paragraf zwei des am 14.7.1933 verabschiedeten »Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit« zur Anwendung.635 »Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt«, konnte zur Ausbürgerung inklusive »Nebenstrafen« führen: Verlust des Vermögens, »Erstreckung« der Ausbürgerung auf Familienangehörige, später ebenfalls Aberkennung der Doktorwürde und anderer akademischer Grade, Entzug aller Versorgungsansprüche und juristische Gleichstellung des angeblich ausbürgerungswürdigen Verhaltens mit nichtverjährbaren Schwerverbrechen (Lehmann 1985). Weltweit sammelten Diplomaten und andere deutsche Staatsbedienstete nun Informationen über missliebige Exilanten, dabei insbesondere über diejenigen, »die das Reich im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Umschwung aus politischen Gründen verlassen hatten« (Stephan 2007, S. 153). Auch die Mitarbeiter der Auslandspressestelle der NSDAP »waren mit der regelmäßigen Auswertung von etwa 230 ausländischen Zeitungen und Zeitschriften beschäftigt. Sie lasen zudem regelmäßig 55 im Ausland erscheinende deutsche Publikationen, knapp 70 Nachrichtendienste sowie 14 Titel der Emigrantenpresse« (Krings 2010, S. 233). Dabei wurde unter anderem nach »Umtrieben des Bolschewismus« und einer »zersetzenden Tätigkeit des Judentums in anderen Ländern« gesucht. Das gesammelte Material wurde anschließend als »Pressebericht« »zahlreichen Dienststellen von Staat und Partei einschließlich des S[icherheits] D[ienstes] zur Verfügung gestellt« (ebd.). Gegen 39.006 Deutsche bzw. (ehemalige) Österreicher636 wurde schließlich die Strafe der Ausbürgerung nach diesem Paragrafen verhängt (Lehmann 1985,
635 Für »Denaturalisationen« stand Paragraf eins zur Verfügung. Dieser »Widerrufung« der Staatsbürgerschaft unterlagen knapp 7.000 Juden und mehr als 3.500 Nichtjuden plus Angehörige – siehe Lehmann 1985, S. XII. 636 Da die weiteren NS-Okkupationen nicht dazu führten, dass – analog zu Österreich – die Staatsangehörigen von Polen, der Tschechoslowakei usw. nun als Deutsche angesehen wurden, konnten diese auch nicht aus Deutschland ausgebürgert werden. Bewohner der ehemaligen Tschechoslowakei konnten allerdings ihre »Protektorats-Angehörigkeit« verlieren (persönliche Mitteilung von Gerhard Keiper, Historiker im Archiv des Auswärtigen Amtes, 9.9.2010).
330
2.13 Ausbürgerung
S. XIV).637 Von den mindestens 160 für die Anwendung des Gesetzes infrage kommenden Psychoanalytikern,638 weiteren Mitgliedern psychoanalytischer Organisationen bzw. heute weithin zu den Psychoanalytikern gezählten Personen waren allerdings nur vier Personen von diesen Entscheidungen betroffen: Therese Benedek,639 Bruno Bettelheim,640 Adolf Storfer und Wilhelm Reich. Kein weiterer Analytiker wurde ausgebürgert, auch nicht Sigmund oder Anna Freud. Gegen die in den USA lebende Therese Benedek selbst wurde allerdings kein Ausbürgerungsverfahren eingeleitet, auf sie und ihre beiden Kinder sollte das Verfahren nur »erstreckt« werden. Im Kern bezogen sich die sechsseitigen Anschuldigungen auf das sozialistische Engagement ihres Mannes Tibor Benedek, unter anderem im Verein sozialistischer Ärzte641 (AAA R 99785). Für Bruno Bettelheim, ebenfalls inzwischen in den USA, wurde am 17.11.1940 die Ausbürgerung beantragt (AAA R 99893). Als Gründe wurden auch hier, auf fünf Seiten, sozialistische Aktivitäten sowie Bettelheims KZ-»Schutzhaft« 1938/39 in Dachau und Buchenwald benannt. Das vierseitige Dokument zu Adolf Storfer (AAA R 99896) enthielt die auf den 637 Ausführlich dazu auch Stephan 2007, S. 125–219. Erst im November 1941, im Zuge der »Endlösung«, verloren durch die elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz alle jüdischen Deutschen mit dauerhaftem Aufenthalt außerhalb der Reichsgrenzen (250.000–280.000 Menschen – so Lehmann 1985, S. XIV) die deutsche Staatsangehörigkeit. Über diesen Personenkreis wurden im Auswärtigen Amt dann keine individuellen Aktenvorgänge mehr angelegt (persönliche Mitteilung von G. Keiper, 30.6.2010). 638 89 DPG-Mitglieder (Lockot 2002, S. 151) und 68 WPV-Mitglieder plus eine unbekannte Anzahl Ausbildungskandidaten (Mühlleitner 2005a, S. 22) hätten theoretisch betroffen sein können. In der Praxis wurde das Gesetz aber wohl nur auf bereits exilierte Bürger angewendet, sodass die Anwendung auf die ca. 30 Analytiker, die nach 1933 bzw. 1938 in beiden Ländern verblieben, ohnehin sehr unwahrscheinlich war. 639 DPG-Mitglied bis 1935, weiterhin IPV-Mitglied. 640 Dieser hatte »mit der Lehranalyse gerade begonnen, als die Nazis einmarschierten« (Bettelheim in Fisher 2003, S. 150). 641 Es ist jedoch nicht sicher, ob damit der wahre oder ausschließliche Hintergrund benannt wurde. Viele der angegebenen Begründungen für Ausbürgerungen – wie das vorübergehende Abonnement einer eher bürgerlichen Zeitung in den 1920er Jahren (persönliche Information von Gerhard Keiper) – waren wenig glaubhaft. Hintergrund war, dass das NSRegime für die Umsetzung des Ziels, sämtliche Juden aus Deutschland zu entfernen oder von Deutschland fernzuhalten, zunächst noch halbwegs als »rechtsstaatlich« darstellbare Methoden bevorzugte (Stephan 2007, S. 132ff.). Insofern wurden Ausbürgerungsgründe wohl vielfach auch schlicht konstruiert. Selbst Ernst Simmel, der ja sogar Vorsitzender des Vereins sozialistischer Ärzte gewesen war und ebenfalls jüdischer Herkunft, wurde nicht ausgebürgert. Oft lösten zudem eher aktuelle, also nach 1933 erfolgte Aktivitäten die Ausbürgerung aus. Vielleicht hatte Tibor Benedek sich in den USA irgendwo, zum Beispiel in einer öffentlichen Veranstaltung, kritisch zum Dritten Reich geäußert?
331
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
27.8.1940 datierte Mitteilung: »Der Jude Adolf Storfer ist nach Shanghai emigriert und erwarb dort die Halbwochenschrift ›Gelbe Post‹. In dieser Zeitschrift wird eine üble Hetzpropaganda gegen das Dritte Reich entfaltet.«642 Bei Weitem am umfangreichsten sind mit 37 Seiten die Dokumente zu Wilhelm Reich (AAA R 99855).643 Am 23.4.1938, also nur fünf Wochen nach dem »Anschluss« Österreichs, bat die Deutsche Gesandtschaft in Oslo in einem Schreiben an das Auswärtige Amt in Berlin darum, die Ausbürgerung Reichs »beschleunigt in die Wege zu leiten«, da ansonsten »die Gefahr besteht, daß Reich als früherer österreichischer Staatsangehöriger eines Tages nach Deutschland abgeschoben wird«. Im selben Zusammenhang wurde auf eine Auseinandersetzung zwischen Reich und einigen Medizinprofessoren der Osloer Universität verwiesen, die sich an Reichs biologischen Forschungen entzündet hatte und neben massiver Diffamierung Reichs die Forderung hatte laut werden lassen, ihn ins Ausland abzuschieben (vgl. Sharaf 1996, S. 259–278) – wodurch, so die Gesandtschaft, »die Gefahr seiner Ausweisung sich erhöht« (AAA R 99855). Dies dürfte als Gefahr erschienen sein, weil man annahm, dass schon die Abschiebung des international bekannten Wilhelm Reich, erst recht aber das dann in Deutschland gegen ihn zu erwartende Vorgehen ein negatives internationales Echo provozieren könnte. Weiter hieß es in dem Schreiben: »Der Jude Reich, nach dem anliegenden Bild644 […] eine der übelsten jüdischen Typen die man sich vorstellen kann, hatte sich als Hauptfach die ›Sexualökonomie‹ gewählt, eine ›Wissenschaft‹, die selbst von marxistischer Seite heute als Schweinerei bezeichnet wird. Vertraulich wird mir berichtet, daß der Jude Reich in seinem Laboratorium zur angeblichen Erforschung des Fortpflanzungsaktes bestimmte Messungen vornehmen soll, die mit Wissenschaft nichts mehr zu tun haben.645 […] 642 Storfer hatte sich mit seiner zunächst zweimonatig erscheinenden Zeitschrift an vorwiegend jüdische Emigranten gewandt, sich aber zunächst um politische Neutralität bemüht. Das änderte sich mit Heft Nummer sechs, erschienen Ende Juli 1939 (vgl. Storfer 1999). Storfers NS-Kritik setzte offenbar die Ausbürgerung in Gang, die dann am 7.9.1940 beschlossen wurde. Zur Biografie Storfers vgl. auch Mühlleitner (1992). 643 Nicht einmal Reich selbst wusste offenbar, dass er ausgebürgert worden war. Bernd A. Laska und Marc Rackelmann kannten zwar diese Akte, ausgewertet wurde sie aber bislang offenbar nicht. 644 Das Foto auf der dem Schreiben beigelegten Kopie der Seite der Zeitschrift Arbeiterbladet zeigt aber wohl gar nicht Reich. Allerdings lässt sich das aufgrund der schlechten Qualität der Kopie nicht eindeutig beurteilen. 645 Bezieht sich vermutlich auf die keineswegs geheim gehaltenen bioelektrischen Experimente Reichs (vgl. Sharaf 1996, S. 246–258).
332
2.13 Ausbürgerung
Politisch gehört Reich der kommunistischen Partei an [sic] und soll namhafte Geldbeträge aus Moskau beziehen [sic].«
Am 26.4.1938 vermerkt ein von Legationsrat Walter Hinrichs als Vertreter des Auswärtigen Amtes (vgl. Stephan 2007, S. 189f., Fn 33/34) unterzeichnetes Schreiben, dass die Informationen aus Oslo an Innenministerium und Reichsführer-SS weitergegeben wurden. Die Osloer Gesandtschaft war zudem »um möglichst umgehende Feststellung der genauen Personalien gebeten worden«.646 Am 8.11.1938 fragte die Osloer Gesandtschaft erneut in Berlin nach dem aktuellen Stand, da Reich, dessen österreichischer Pass ja nun ungültig war, »vor kurzer Zeit […] die Ausstellung eines neuen deutschen Passes, dessen Geltungsbereich sich auch auf Amerika erstreckt«, beantragt habe: »Hiesigen Pressemeldungen zufolge beabsichtigt Reich nach Amerika überzusiedeln.« Das entsprach den Tatsachen. Reich begründete diese Absicht am 19.11.1938 in einem Brief an einen Bekannten unter anderem damit, dass er »im Falle eines Krieges großen Schaden durch Hitler oder anderes Pack, das sich jetzt in Europa ausbreitet, zu erwarten habe. Meine politische Vergangenheit macht meine Lage nicht gerade besser« (Reich 1997a, S. 374). Am 3.12.1938 reagierte die Osloer Gesandtschaft auf weitere Rückfragen Reichs unter anderem damit, dass sie darauf verwies, dass bis Jahresende auch noch österreichische Pässe zum Zweck der Ausreise genutzt werden könnten – eine Frist, die für Reich aber offenbar zu kurz war (AOI).647 Am 16.12.1938 schaltete sich erstmals das Büro des »Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern« ein. In einem »Schnellbrief« an das Auswärtige Amt teilte ein Mitarbeiter namens Dr. Zimmermann mit: »Die Ermittlungen gegen Reich sich [sic] noch nicht abgeschlossen. Da auch nicht vorherzusehen ist, zu welchem Zeitpunkt eine Entscheidung über die beabsichtigte Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit ergeht, bin ich mit der Erteilung eines auf die zur Einreise nach Amerika erforderliche Geltungsdauer befristeten Reisepasses einverstanden, sofern er nachweist, dass er tatsächlich dorthin abwandert. 646 Am 23.5.1938 reagierte die Gesandtschaft, indem sie einen von Reich 1936 ausgefüllten Passfragebogen nach Berlin schickte. »Das hiesige norwegische Centralpasskontor«, hieß es weiter, habe sich »wegen Erlangung weiterer Auskünfte über die Person Reichs mit dem norwegischen Generalkonsulat in Verbindung gesetzt«. Das Auswärtige Amt verteilte am 31.5.1938 auch diese Informationen an die schon oben benannten Stellen, bezüglich des Reichsführers SS mit dem Vermerk versehen: »zur Kenntnis mit dem Anheimstellen der Veranlassung des Weiteren übersandt«. 647 AOI, Correspondence, Box 6, General, 1935-September 1939, A-H.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Im anderen Falle halte ich es für angezeigt, die Geltungsdauer des Passes auf vorerst 6 Monate zu befristen« (AAA R 99855).
Offenbar wollte man Reich also zunächst einmal weit weg haben, um ihm dann in den USA die Staatsbürgerschaft so schnell wie möglich abzuerkennen. Im April 1939 wurde Reich ein deutscher Reisepass ausgehändigt, den er jedoch wieder zurückgab. Seine schriftliche Begründung vom 15.4.1939 enthalten die Akten ebenfalls: »Der Pass lautete auf den Namen Wilhelm Israel Reich. Er entsprach daher nicht den Papieren, die ich […] im Besitz habe. Ich hatte um keine Namensänderung angesucht. Die von Ihnen durchgeführte Namensänderung ist daher unrechtmäßig. […] Desgleichen musste ich ein Dokument zurückweisen, das in offenkundig diffamierender Weise eine Person einer bestimmten Nationalität zu brandmarken beabsichtigt. Ich erkläre außerdem, dass ich auf die deutsche Staatsbürgerschaft verzichte, solange unzutreffende Namensausfertigungen auf offiziellen Dokumenten offiziell gutgeheißen werden« (ebd.).648
Dieses Antwortschreiben Reichs bezeugt sowohl seinen bewunderungswürdigen Mut als auch ein gewisses Maß an Realitätsverkennung: Der weitere Verbleib in Norwegen hätte ihn ein Jahr später, nach der deutschen Okkupation, leicht das Leben kosten können. Die Deutsche Gesandtschaft machte dem Auswärtigen Amt am 25.4.1939 Mitteilung von Reichs, wie es da hieß, »zynischer« Zurückweisung des Reisepasses. Reich bat nun, um in die USA ausreisen zu können, die Osloer Behörden um die Ausstellung eines norwegischen Fremdenpasses. Da er deutscher Staatsbürger war, wurde ihm dies verweigert. Man bot ihm stattdessen »ein Legitimationspapier mit Fotografie« an – also wohl ein Dokument, das ausschließlich die Ausreise ermöglichte. Aber auch auf dieses Papier musste Reich warten; bereits bestellte Schiffskarten verfielen (Reich 1997a, S. 310ff.). Seine Assistentin Gertrud Gaasland schickte er jedoch bereits am 20.5.1939 mit »Archiv, Instrumenten und Möbeln« voraus nach New York. Drei Tage später notierte er: »Ich sitze in der komplett leeren Wohnung und warte auf mein Amerika-Visum. Habe Zweifel, wie es gehen wird« (ebd., S. 319). Er nahm an, dass seine Schwierigkeiten mit der Ausreise mit Kompromissen zusammenhingen, welche die an der Macht befindlichen norwegischen Sozialisten mit konservativen oder »rechten« Kräften eingingen (ebd., S. 312). Auch für den Historiker Einhart Lorenz belegt der damalige Umgang der Behörden mit Reich, 648 Hervorhebungen im Original. Vgl. auch Reich (1997a, S. 277f., 308, 310ff., 335).
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2.13 Ausbürgerung
»wie nachgiebig die Arbeiterpartei gegenüber einer von konservativen Kräften dominierten öffentlichen Meinung war. Trotz eines Protestes von Wissenschaftlern, Politikern und Literaten mit unterschiedlichen Einstellungen zu Reichs Theorien beschloß die Medizinische Fakultät einstimmig, dass keine medizinischen, d.h. wissenschaftlichen Erfordernisse für eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung für Reich vorlägen. Im Juli 1938 fertigte die Regierung eine Königliche Resolution aus,649 die besagte, dass nur Norweger psychoanalytische Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anwenden durften. Schließlich schlug das Sozialministerium dem Zentralpaßkontor, d.h. der damaligen Fremdenpolizei, vor, dass die ›Propaganda für Dr. Reichs Lehre vom Geschlechtsleben eingeschränkt und reduziert werden muß und Propaganda, die sich besonders an Laien und Jugendliche wendet, aufzuhören hat‹« (Lorenz 2010, S. 11f.).
Reich wurde, so Einhart Lorenz, »de facto außer Landes gejagt« (ebd.). Am 28.6.1939 informierte Oslo Berlin, laut Pressemeldungen habe Reich »einen Ruf an die Columbia-Universität in New York erhalten, dem er Folge leisten wird. Der Jude Reich wird in nächster Zeit nach New York übersiedeln.« Die von Reich tatsächlich mit der Columbia-Universität getroffenen Absprachen zerschlugen sich jedoch. Am 11.8.1939 erhielt er dennoch ein »amerikanische[s] Professorenvisum«. Das nun offenbar ebenfalls vorliegende »Identitätspapier« der Norweger wurde aber von dem polnischen Schiff, mit dem Reich am 12.8. ausreisen wollte, als unzureichend zurückgewiesen (Reich 1997a, S. 335). Erst am 19.8.1939 gelang es ihm, Norwegen zu verlassen: mit der »Stavanger Fjord, dem allerletzten Schiff, das dort vor Beginn des zweiten Weltkrieges in Richtung Amerika ablegte« (Sharaf 1996, S. 307).650 Einhart Lorenz bilanziert, Reich sei zumindest kurzfristig derjenige emigrierte Akademiker gewesen, der »die tiefsten Spuren in Norwegen hinterließ«. Zum einen »wurde er einer der umstrittensten Flüchtlinge und der ›Fall Reich‹ eine der wichtigsten ›Kulturdebatten‹ im Norwegen der Zwischenkriegsperiode, die auch die Frage des Asylrechts tangierte« (Lorenz 1992, S. 303). Zum anderen prägte er die weitere Entwicklung von Psycho- und Körperpsychotherapie im Land (Lorenz 2010, S. 15f.). Auf den norwegischen Schriftsteller und Sex-Pol-Mitstreiter 649 Eine Königliche Resolution, so teilte mir Einhart Lorenz am 7.11.2011 mit, »ist nach dem norwegischen Verfassungsrecht ein formeller Beschluss der Regierung in einer Kabinettssitzung bei Anwesenheit des Königs«. Selbst der norwegische König war also vom »Fall Reich« tangiert. 650 Das bedeutet jedoch nicht, dass danach überhaupt keine Ausreise in die USA mehr möglich gewesen wäre: Über England konnte man von Norwegen weiter dorthin gelangen (Schriftliche Information von Einhart Lorenz, 7.11.2011).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Sigurd Hoel machte Reich ebenfalls einen so nachhaltigen Eindruck, dass Hoels in den 1940er Jahren entstandene Essays als Popularisierung Reichscher Gedanken angesehen werden können (Schmeling 1997, S. 86). Während Reich den Atlantischen Ozean in Richtung New York überquerte, wurde in Moskau der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet: Hitlers weiteren Annexionsplänen stand damit nichts mehr im Wege. Am 1.9.1939 erfolgte der Überfall auf Polen. Wenige Wochen danach, am 6.10.1939 sandte der Reichsführer SS dem Auswärtigen Amt Durchschriften des Reich betreffenden Ausbürgerungsantrags.651 Das Anschreiben schloss mit dem Satz: »Im vorliegenden Fall dürfte es sich empfehlen, der Deutschen Gesandtschaft in Oslo und, falls R. bereits nach den U.S.A. ausgewandert ist, auch der dortigen deutschen Vertretung von dem Ausbürgerungsvorschlag Kenntnis zu geben« (AAA R 99855). In der zweiseitigen Durchschrift des Antrages finden sich zahlreiche Angaben zu Reichs Biografie. Viele davon sind korrekt. In anderen werden die Falschmeldungen aus dem ursprünglichen Botschaftsschreiben vom 23.4.1938 wiederholt oder ausgeschmückt: Reich sei »in Norwegen ebenfalls der Kommunistischen Partei beigetreten« und betätige sich »vermutlich für diese aktiv«. Die im folgenden Zitat kursiv gesetzten Informationen finden sich bisher wohl nirgendwo in der biografischen Literatur zu Reich. Sie könnten – wie es sich für Reichs dort behauptete Kandidatur für die Nationalratswahlen bereits herausgestellt hat – durchaus zutreffen und würden dann den bisherigen Kenntnisstand ergänzen: »Reich ist Jude und besitzt die deutsche – frühere österreichische – Staatsangehörigkeit. Er gehörte seit längerem der österreichischen Kommunistischen Partei an, trat jedoch im Jahre 1930 zur SPÖ über [sic] und versuchte, dort eine K. P.-Zelle unter dem Namen ›Revolutionäre Sozialdemokraten‹ zu gründen [sic]. Gleichzeitig gab er für diese Gruppe eine Zeitung ›Der revolutionäre Sozialdemokrat‹ heraus. Er wurde daraufhin aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen und kehrte wieder zur K.P. zurück [sic]. Reich gehörte außerdem der Leitung des ›Österreichischen Bundes der Freunde der Sowjetunion‹ an und war stellvertretender Schriftführer des ›Werktätigen Unterstützungsvereins‹.652 Auch wurde er im Herbst 1930 als kommunistischer Kandidat für die Nationalratswahlen aufgestellt« (ebd.). 651 Der Antrag wurde am selben Tag auch dem Innenministerium zugeleitet und war mit »im Auftrag: gez. Jagusch« unterzeichnet. 652 Karl Fallend, der ja über Wilhelm Reich in Wien forschte, informierte mich, dass Reich mit dem Österreichischen Bund der Freunde der Sowjetunion 1928 in die Sowjetunion reiste. Dass er in der Leitung dieses Bundes gewesen sein soll, ist allerdings nicht bekannt (persönliche Information, 8.11.2011).
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2.13 Ausbürgerung
Schließlich hieß es in dem Antrag: »Die Voraussetzungen für die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit sind im Hinblick auf die kommunistische Tätigkeit des Reich gegeben« (ebd.). Da sich das auch auf die angebliche Mitgliedschaft in der norwegischen KP bezogen haben muss,653 basierte diese Entscheidung zu Teilen auf Fehldarstellungen. Sicherlich hätten aber auch schon Reichs frühere, tatsächliche politische Aktivitäten als Begründung ausgereicht. Am 30.10.1939 teilte die deutsche Gesandtschaft in Oslo mit, dass gegen eine Ausbürgerung Reichs keine Bedenken bestünden. Am 9.11.1939 bestätigte dies auch die deutsche US-Botschaft in Washington – mit dem Vermerk, Reich sei »hier nicht bekannt«. Am 19.12.1939 hieß es in einem Schreiben des Reichsministeriums des Innern, das Verfahren abschließend: »Der Ausbürgerung des Juden Dr. Wilhelm Reich stimme ich zu. I. A. gez. Heinrich.« Dass Reich bereits vier Monate zuvor Norwegen in Richtung USA verlassen hatte, wurde in diesen Dokumenten weiterhin nicht erwähnt. Da auch die Washingtoner Botschaft Reich noch am 9.11.1939 als »nicht bekannt« einstufte, dürfte das heißen, dass die hier agierenden Stellen noch nicht davon in Kenntnis gesetzt worden waren. An der Absicht, Reich auszubürgern, hätte das jedoch sicher nichts geändert. Am 27.5.1940 wurde Reich in der Ausbürgerungsliste Nr. 178 im Reichsanzeiger aufgelistet (Hepp 1985, Bd. 1, S. 344). Damit war Reichs Ausbürgerung nun auch öffentlich bekannt gemacht worden. Da seine US-Einbürgerung erst am 28.5.1946 erfolgte (Sharaf 1996, S. 406), war Reich in den folgenden sechs Jahren staatenlos – ohne es zu wissen. Bemerkenswert ist hier auch noch etwas anderes: In keinem der vier Dokumente, auch nicht in den detaillierten Angaben zu Reich, findet sich irgendeine Bezugnahme auf die Psychoanalyse. Das unterstreicht: Dass jemand Psychoanalytiker war, scheint für den NS-Staat nie ein ausreichender Grund gewesen zu sein, etwas gegen diese Person zu unternehmen. Wenn Analytiker Opfer von NS-Repressionen wurden, dann in der Regel als Juden, »Linke«, Widerständler oder kritische Exilanten. Das deckt sich teilweise auch mit einer – ansonsten fragwürdigen – Einschätzung Anna Freuds, die 1934 urteilte: »Der Sachverhalt ist merkwürdig genug, dass die [NS-]Regierung niemals die Psychoanalyse angegriffen oder ihre Aktivitäten in irgendeiner Form eingeschränkt hat. Die 25 Mitglieder [der DPG], die gingen [= Deutschland verließen], taten dies, weil sie Juden, nicht weil sie Analytiker waren.«654 653 Der Kontakt zur – sich ja aber ohnehin nicht als kommunistisch verstehenden – SAP war den hier beteiligten NS-Behörden zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht bekannt. 654 »The facts are curiously enough that the Government never made an attack on analysis or restricted its activity in any way. The 25 members who left did so because they were Jews, not because they were analysts« (Wortlaut des englischen Originals, zitiert in
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Reich war übrigens auch bezüglich der Ausbürgerung ein Sonderfall. Adolf Storfer war nie psychotherapeutisch tätig. Bruno Bettelheim hatte erst eine analytische Ausbildung begonnen, die er nie abschloss. Und Therese Benedek wurde nur mit ausgewiesen, weil ihr Ehemann sich politisch »links« engagiert hatte. Der einzige psychoanalytische Therapeut, dem wegen seiner politischen Betätigung die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, war also Wilhelm Reich. Wollte man Reich 1939 nicht mehr zu den analytischen Therapeuten zählen – er widmete sich ja nun vorwiegend der Körperpsychotherapie –, müsste man formulieren: Er war der Einzige unter denjenigen, die sich bis 1939 als psychoanalytische Therapeuten betätigten und betätigt hatten, der wegen seiner politischen Betätigung die deutsche Staatsangehörigkeit verlor.
2.14
Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«
Während Reich auf die Möglichkeit wartete, auszuwandern, fahndete, ohne dass er es ahnte, die Bremer Justiz nach ihm. Hintergrund war Reichs Bekanntschaft mit dem SAP-Funktionär und späteren BRD-Bundeskanzler Willy Brandt.655 Der erwähnte SAP-Führer Jacob Walcher hatte bereits 1933 den jungen SAPGenossen Herbert Frahm, der sich den Kampfnamen »Willy Brandt« zulegte, zur Bildung einer politischen Zelle nach Norwegen geschickt. Brandts damalige Schröter 2009, S. 1088f.; Übers. A.P.). Dass Anna Freud, die über die den NS-Machthabern signalisierte Kooperationsbereitschaft der »arischen« Analytiker und die Kompromissbereitschaft der IPV bestens unterrichtet war, dies merkwürdig fand, ist seltsam. Richtig ist, dass bis 1934 alle wesentlichen Einschnitte in die DPG-Arbeit (wie das »Arisieren« des Vorstandes) nicht von Regierungsstellen, sondern von der DPG selbst ausgingen. Anna Freud vernachlässigt in ihrer Einschätzung, dass es auch andere Gründe für DPG-Mitglieder gab, zu fliehen, bei Reich und Simmel zum Beispiel ihre »linke« Orientierung. Zudem wanderten die Psychoanalytiker jüdischer Abstammung 1933 ja nicht automatisch aus: Edith Jacobssohn und Therese Benedek blieben zunächst in Deutschland. Und 1936 sollte dann beispielsweise Bernhard Kamm demonstrieren, dass man auch als nichtjüdisches DPGMitglied Gründe haben konnte, um zu emigrieren. Es ging also zumindest zusätzlich um die Frage, wie man die Entwicklung in Deutschland beurteilte. 655 Vielleicht erfuhr er es aber im Nachhinein. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass Reich am 24.12.1941, als »feindlicher Ausländer« in den USA inhaftiert, in sein Tagebuch schrieb, er sei in Deutschland nur knapp einer Verurteilung und Verhängung der Todesstrafe entgangen (Reich 1999b, S. 131). Zu der Anklage wegen Hochverrats vgl. auch Peglau (2012). Auf die Spur des im Folgenden geschilderten Vorganges führte mich eine kopierte Dokumentenseite, die ich in der Materialsammlung von Marc Rackelmann fand. Dort ist Reich in allerdings unklarem Zusammenhang mit einem Hochverratsprozess gegen »Holmström und andere« erwähnt.
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2.14 Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«
Lebenspartnerin Gertrud Gaasland (eigentlich Gertrud Meyer) wiederum war in Skandinavien – und blieb bis 1941 – Reichs Sekretärin. Die Gaasland-Biografin Gertrud Lenz schreibt über sie: »Als Funktionärin der SAP mit Leitungsaufgaben am Stützpunkt Oslo, ihren Funktionen in den Jugendorganisationen der norwegischen Arbeiterbewegung, mit engem Kontakt zur Pariser SAP-Auslandszentrale, zu Willy Brandt sowie zu hochrangigen Funktionärinnen und Funktionären der norwegischen Arbeiter- und Jugendbewegung war Gertrud Meyer Wilhelm Reich bei der Sex-Pol-Arbeit nicht nur aufgrund ihrer beruflichen Qualifikationen, sondern auch ihrer parteipolitischen Beziehungen eine wichtige Stütze. Umgekehrt war die Verbindung zu Reich nützlich für die SAP-Parteileitung, nicht zuletzt für Willy Brandt persönlich. Reichs Kontakte im linkssozialistischen Netzwerk, die von ihm herausgegebene Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie als Meinungsmacherin im linksfreudianischen und linkssozialistischen Umfeld sowie seine finanziellen Zuwendungen an die politischen Organisationen trugen zur Entlastung der finanziellen Situation der SAP bei« (Lenz 2011b, S. 58; vgl. auch 2011a, S. 212–237).
Auch Brandt und Reich kamen in näheren Kontakt. Brandt fungierte als Versuchsperson für Reichs bioelektrische Experimente (Sharaf 1996, S. 316). Und als Brandt 1937 am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm, informierte er Reich offenbar mehrfach ausführlich über die Erfahrungen, die er dabei sammelte. In Reichs Zeitschrift, Nummer drei von 1937, S. 207 bis 214 erschien ein anscheinend von Brandt verfasster, dort allerdings anonym wiedergegebener »Augenzeugenbericht« aus Spanien.656 Der Bericht begann mit dem Satz: »Es ist verdammt nicht einfach, unter den hiesigen Bedingungen Optimist zu bleiben«, beklagte dann sowohl die weitere politische »Rechts«-Entwicklung in Spanien wie auch »die Zerfleischung der Kräfte im antifaschistischen Lager«. Am 16.4.1937 schrieb Brandt an Reich einen mehr als sechsseitigen Brief, ebenfalls noch aus Spanien.657 Er knüpfte hier auch an Themen an, die für Reich von besonderem Interesse waren: 656 Dass dieser Bericht von Brandt stammen dürfte, entdeckte ich im April 2012. Um diese zuvor offenbar noch von niemand anderem aufgestellte Vermutung zu erhärten, wandte ich mich an Bernd Rother von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Er bestätigte am 26.4.2012 meine Vermutung nach entsprechenden Textvergleichen. Der von ihm zusätzlich hinzugezogene Einhart Lorenz dagegen zweifelt die Urheberschaft Brandts an, da im Text mehrere für Brandt untypische Worte und Formulierungen auftauchen (persönliche Mitteilung von Bernd Rother, 2.5.2012). 657 Die Einleitung des Briefes macht klar, dass beide während Brandts Zeit in Spanien schon zuvor Briefe ausgetauscht hatten.
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
»Dir hatte große Sorge gemacht, dass die Frauen aus den Milizen entfernt würden. Und Du bist froh, nachdem Du gehört hast, dass viele Frauen sehr tapfer mitkämpfen. Ich muss Dich da wieder betrüben. Denn es ist tatsächlich so, dass man […] die Frauen, soweit noch vorhanden, entfernt. […] Und die hiesige Frauensektion ist vom Exerzieren zum Nähen übergegangen. […] Die Jugend hat insgesamt eine hervorragende Rolle in den Kämpfen gespielt. Aber sie wurde in den Partei- und Organisationsgrenzen gehalten. Nicht einmal über die sozialen Fragen sind manche ›Jugendführer‹ unterrichtet, viel weniger noch über die kulturellen. […] Die Prostitution ist weiterhin die Form des Geschlechtslebens der Jugend. Die Macht der Kirche hält an, selbst da, wo schwarz-rote Fahnen über zu dem nützlichen Zweck des Materiallagers umdisponierten Kirchen wehen …«.658
Aus Spanien zurückgekehrt, nahm Brandt zwischen dem 16. und 21. August 1937 an einer geheimen Konferenz der SAP in Südschweden659 teil. Dazu wurde aufgrund einer Initiative Brandts auch Wilhelm Reich eingeladen (Lorenz o. J., S. 29). Bei dieser Konferenz trafen sich emigrierte und illegal in Deutschland tätige SAP-Mitglieder. Brandt hielt ein Referat über »Jugendfragen und Parteiorganisation«. Reich gestaltete den letzten Tag des Treffens. Dazu heißt es im Protokoll der Konferenz: »Am sechsten Tag fanden sich die Teilnehmer der Tagung zu einer Arbeitsgemeinschaft mit dem zu diesem Zwecke erschienenen Genossen W. Reich zusammen, wo die Frage der sexuellen Not der deutschen Jugend behandelt wurden [sic]« (SAP-Archiv, Box 17, Mappe 153).660 Dieses Thema war auch insofern passend, als Jugendfragen ohnehin im Zentrum standen und von verschiedenen Referenten zuvor auf psychologische Aspekte, einmal auch auf das immer stärkere Hervortreten der »sexuellen Frage«, hingewiesen worden war. Aus Bremen war der 23-jährige Martin Meyer, Leiter der SAP-Jugendarbeit, zum 658 Dieser Brief wurde am 12.3.1994 in der TAZ, S. 18–19 unter dem Titel »Mächtig unklare Elemente. ›Bei Bilbao ist die Lage noch sehr kritisch‹: Willy Brandt schreibt Wilhelm Reich aus dem Spanischen Bürgerkrieg« veröffentlicht. Der Brief findet sich auch in AOI, Orgone Institute, Box 5, Sexpol RF. 659 Einhart Lorenz teilte mir am 5.11.2011 schriftlich mit, dass das Protokoll der Arbeitstagung keinen Tagungsort nennt. Er vermutet, dass es sich um einen Ort in Südschweden gehandelt habe, vielleicht Malmö. 660 Über den Wortlaut informierte mich Einhart Lorenz, eine Kopie des gesamten Dokuments aus dem Willy-Brandt-Archiv stellte mir Gertrud Lenz zur Verfügung. Beide bestätigten mir auch, dass der Gebrauch des Wortes »Genosse« nicht an die Parteimitgliedschaft gebunden war. 1938 kam es offenbar zu inhaltlichen Differenzen zwischen Brandt und Reich, die ihre Beziehung verschlechterten (siehe Rothländer 2010, S. 193, Fn 709). Dennoch war ihr Kontakt noch 1948 gut und stabil genug, dass Reich Brandt nutzten konnte, um über ihn ein Paket für den Psychoanalytiker Werner Kemper nach Deutschland zu schicken (Reich 2012, S. 5).
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2.14 Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«
Treffen angereist. Meyer und Reich scheinen sich kennengelernt zu haben.661 Anschließend setzte Martin Meyer in Deutschland seine Arbeit gegen das NS-Regime fort. 1938 wurden er und andere aus seinem Kreis verhaftet. Meyer scheint zunächst trotz mehrerer Vernehmungen keine verwertbare Aussage gemacht zu haben.662 Anfang 1939 informierten jedoch offenbar Mitbeschuldigte die Untersuchungsbehörden, dass Meyer in Norwegen sowohl einen »Willi Brandt« als auch einen »Dr. Reich« getroffen habe. Letzterer sei Emigrant und Verfasser antifaschistischer Publikationen und habe früher zur SAP oder SAJ gehört. Das wegen Vorbereitung zum Hochverrat angestrengte Verfahren wurde daher ausgeweitet: sowohl auf den dem zuständigen Bremer Gerichtsoberassistenten offenbar unbekannten »Dr. Reich« wie auch auf den ihm ebenso unbekannten »Willi Brandt« (BA NJ 6793).663 Wahrscheinlich weil sich Meyer weiterhin nicht zu Aussagen über Reich und Brandt zwingen ließ, man diese also nicht identifizieren, geschweige denn inhaftieren konnte, trennte Ende Juli 1939 der nun zuständige Volksgerichtshof das Verfahren gegen sie von dem gegen Meyer ab. Noch immer war hier von »Dr. Reich« die Rede, ein Vorname also offenbar weiter unbekannt (ebd.).664 Nach Verlegung in das KZ Sachsenhausen bei Berlin und Folterungen machte Meyer anscheinend im August 1939 erstmals umfassendere Mitteilungen.665 Diese 661 Geboren am 10.12.1913 in Farge bei Bremen, hatte Meyer eine Schiffbauerlehre abgeschlossen und auf der Bremer Werft gearbeitet. Das geht sowohl aus der Anklageschrift gegen Meyer hervor, die mir Andreas Herbst am 21.10.2011 zur Verfügung stellte, wie auch aus dem Nachruf eines ehemaligen Kampfgefährten auf Martin Meyer (www.arbei terpolitik.de/Zeitungen/PDF/1982/arpo-2-1982.pdf, S. 20ff.). Das Treffen zwischen Meyer und Reich ist in BA R 58/3717, Blatt 375 erwähnt, dessen Anlass allerdings fälschlich als Gewerkschaftskonferenz in Oslo eingeordnet. Etwas näher beschrieben wird die Konferenz auf www.arbeiterpolitik.de/Zeitungen/PDF/2001/arpo-1-01.pdf, S. 11ff. Hier findet sich auch die Information über Meyers Funktion in der SAP. Allerdings wird Göteborg als Tagungsort benannt. Einhart Lorenz meinte dazu (5.11.2011), dies könne eine Verwechselung mit einer Volksfronttagung im Oktober 1937 in Göteborg sein. 662 Im Bundesarchiv kann unter NJ 6793 der Mikrofilm mit den Prozessunterlagen »gegen Holmström und andere« eingesehen werden, der zusammen mit den anderen angegebenen Dokumenten die folgende Rekonstruktion möglich macht. 663 Sowie gegen die in den Denunziationen ebenfalls benannten, aber nicht identifizierten Personen Horst Holmström und Anna Johannsen. Vermutlich handelte es sich auch dabei um Tarnnamen. Ebenso wie Reich hätte aber sicherlich auch Brandt identifiziert werden können. Die Gestapo hatte die Identität von Frahm und Brandt bereits am 16.2.1938 auf einer entsprechenden Karteikarte festgehalten, wie mir Bernd Rother am 26.4.2012 mitteilte (siehe auch BA R 58/Kartei Gestapo-Verfolgte). 664 Zwischenzeitlich wurde auch ein »Dr. Helmut Reich« verdächtigt. 665 Die Verlegung nach Sachsenhausen erfolgte laut Anklageschrift am 1.8.1939. Dass er erst dort diese weiteren Angaben machte, schließe ich daraus, dass die Abschrift des Verneh-
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
enthielten jedoch – das erkannten auch die Vernehmer – kaum relevante Zusatzinformationen und waren zum großen Teil schlicht erlogen: Meyer war sichtlich bemüht, niemanden zu belasten. Um zu erklären, wieso er den Namen Reich erwähnt hatte und was die in seinem Notizbuch gefundene Postfachadresse »R. – Postbox 3010« bedeutete, nannte er allerdings doch wichtige, wenn auch sicher teils ebenfalls erfundene Details:666 Er habe Reich zwar nie getroffen, aber dessen Buch Der sexuelle Kampf der Jugend besessen. Daher habe er gewusst, dass Reich sich für Sexualität interessiere. Das sei auch der einzige Grund, warum er Reichs Postfachadresse kenne: Er habe Reich einmal ein sexualwissenschaftliches Buch geschickt (ebd.). Die Abschrift dieses Verhörs wurde am 26.8.1939 beglaubigt und anschließend vermutlich an andere Dienststellen weitergegeben. Spätestens jetzt dürften die NSBehörden kein Problem mehr gehabt haben, Wilhelm Reich zu identifizieren: Man hatte dessen Postfachadresse; auch Der sexuelle Kampf der Jugend war sicherlich leicht zuzuordnen. In dem wohl im September 1939 angefertigten »Lagebericht der Staatspolizeistelle Bremen für die Zeit vom Januar bis März 1939« wurde Reich dann erstmals im Zusammenhang mit Meyer klar benannt. Meyer habe, so hieß es dort, im August 1937 »an einer Gewerkschaftstagung in Oslo« teilgenommen, wo er mit »dem jüdischen Arzt Dr. Wilhelm Reich, geb. 24.3.1897 in Dobrzanica, zusammentraf, der ehemals Funktionär der KPÖ war und 1934 als lästiger Ausländer aus Deutschland ausgewiesen wurde« (BA R 58/37179). Das Auswärtige Amt scheint aber noch immer nicht erfahren zu haben, dass Reich inzwischen des Hochverrats verdächtigt wurde. Andernfalls wäre dies wohl in den Akten aufgetaucht und es wäre möglicherweise zum Konflikt gekommen zwischen dem Interesse, Reichs Hochverrat aufzudecken und zu bestrafen, und dem Wunsch, ihn durch Ausreise in die USA loszuwerden. Aber hatten deutsche Behörden überhaupt die Chance, Reichs Ausreise zu verhindern, wenn die Norweger seiner Abwanderung zustimmten? Formal nicht. Zwischen Deutschland und Norwegen bestand seit 1878 ein Auslieferungsabkommen, das politische Straftaten als Auslieferungsgrund ausdrücklich ausschloss.667 Reich berichtete jedoch am 28.11.1938 über die Situation mungsprotokolls erst am 26.8.1939 beglaubigt wurde. Die ja ohnehin in den KZs vielfach übliche Folter wird explizit im Nachruf auf Meyer benannt (www.arbeiterpolitik.de/Zeitungen/PDF/1982/arpo-2-1982.pdf ). 666 Bernd Rother teilte mir am 25.10.2011 mit, dass es ein übliches Verhalten war, unter Folter – wenn überhaupt – nur im Exil befindliche Genossen zu nennen, die also in Sicherheit waren. 667 de.wikisource.org/wiki/Auslieferungsvertrag_zwischen_dem_Deutschen_Reich_und_ den_K%C3%B6nigreichen_Schweden_und_Norwegen. Den Hinweis auf diese Quelle und weitere Informationen zu diesem Aspekt verdanke ich ebenfalls Gerhard Keiper.
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2.14 Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«
in Norwegen: »Meine Freunde hier versuchen, eine Aufenthaltsgenehmigung für mich für ein weiteres Jahr durchzuboxen. Ob sie Erfolg haben werden, ist sehr fraglich. Die Deutschen reagieren nicht auf Paßanträge, und die Konstadts668 wollen keine Fremdenpässe ausstellen ohne Rücksprache mit den deutschen Behörden« (Reich 1997a, S. 376). Möglicherweise hatte der NS-Staat also zumindest informell die Chance einzugreifen.669 Daher ist nicht auszuschließen, dass Reichs Ausreise – die ja nur mit Zustimmung der norwegischen Behörden möglich war – gescheitert wäre, wenn entweder Martin Meyer sein Schweigen früher gebrochen hätte oder Reich den zuständigen Bremer Justizbeamten ein Begriff gewesen wäre. So aber konnte Reich zwei Tage nachdem das Protokoll des Verhörs mit Martin Meyer beglaubigt wurde, nämlich am 28.8.1939, in sein Tagebuch eintragen: »Glatt in New York gelandet« (Reich 1997a, S. 338). Siebeneinhalb Monate später, am 9.4.1940, erfolgte der deutsche Überfall auf Norwegen, der letztlich zur Einsetzung eines Marionettenregimes führte, dem ab 1942 Vidkun Quisling, Führer der norwegischen Faschistenbewegung Nasjonal Samling, als Ministerpräsident vorstand.670 Von ihm war schon zuvor eine öffentliche Bewertung Reichs nach Deutschland gedrungen. Am 28.4.1941 trat Quisling auf Rosenbergs internationaler »wissenschaftlicher« Konferenz zur europäischen »Juden-Frage« in Frankfurt am Main auf. In seiner Rede schilderte er die bisherige Situation seines Landes unter anderem so: »Auch Universitäten und Schulen waren vom jüdischen Geist beherrscht. Jüdische Pornografen und Pseudowissenschaftler wurden überall als Träger neuer und fruchtbarer Ideen begrüßt. Die berüchtigtsten waren die Sexualspezialisten Max Hodann ( Jünger von Magnus Hirschfeld) und Wilhelm Reich, die von der Osloer Universität als Dozenten angestellt wurden und eine große Gemeinde in der Hauptstadt und im ganzen Land hatten. 668 Leif Konstadt, laut Reich der mit Nationalsozialisten kollaborierende Leiter der norwegischen Fremdenpolizei, der nach Beendigung der deutschen Okkupation als Verräter erschossen wurde (Reich 1997a, S. 255, 375). 669 Vgl. dazu auch Lorenz (2008b), der Norwegen bis zur Besetzung zwar eine eher tolerante Haltung gegenüber antifaschistischer Betätigung von Emigranten bescheinigt, aber gerade für Reich eine Ausnahme macht: »Sah Norwegen allerdings seine Interessen berührt – wie im Fall von Wilhelm Reich – war Freizügigkeit nicht länger gegeben« (ebd., S. 335). 670 Über Quislings mit Hindernissen gespickten Weg zur letztendlich doch nur von den Deutschen geborgten Macht sowie die politischen Verhältnisse während der Zeit der deutschen Besatzung informiert Henningsen (2005, S. 181–219).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Diese beiden jüdischen Pornografen671 betrieben jahrelang unter dem Schutz der Regierung auf der Grundlage von Hirschfelds Sexualprogramm ihr zerstörerisches Werk unter der norwegischen Jugend – in erster Linie unter der Arbeiterjugend, und wurden von ›befreiten‹ dekadenten Intellektuellen bejubelt. Reich führte seine Sexualexperimente in einem eigenen ›Forschungsinstitut‹ in Oslo durch, das von seinen norwegischen Anhängern finanziert wurde. Er ging sogar so weit, den Direktor einer psychiatrischen Einrichtung zu ersuchen, die Patienten für seine kriminellen Sexualexperimente benutzen zu können. Auch die Psychoanalyse des Juden Freud übte einen großen und schädlichen Einfluss aus.«672
Über die Konferenz und Quislings dortigen Auftritt berichtete zusammenfassend am 29.4.1941 der Völkische Beobachter,673 ohne Reich, Freud oder Hirschfeld namentlich zu erwähnen. 1943 wurde Quislings Rede in einer Publikation der norwegischen Reichspropagandaleitung offenbar vollständig abgedruckt (Nilsen 2010, S. 209). 1943 fragte auch der Volksgerichtshof noch einmal bei der Gestapo nach, ob es zu den 1939 des Hochverrats Verdächtigten neue Informationen gebe. Die Gestapo informierte nun über Reichs berufliche Betätigung in Oslo (»jüdischer Arzt und Schriftsteller«), seine Ausreise in die USA, seine vormalige Osloer Adresse – und darüber, dass diese Adresse und das dazugehörige Postfach Reichs von einer nicht auffindbaren »Bodil Tandberg« genutzt wurden. Dass es sich dabei, wie die Gestapo vermutete, »wahrscheinlich um einen Decknamen handelt«, traf allerdings nicht zu.674 Ich halte es für denkbar, dass Reich sein Postfach zur Verfügung stellte, damit Martin Meyer an Willy Brandt oder andere SAP-Genossen Informationen weitergeben konnte, die wiederum Aufnahme in antifaschistische SAP-Publikationen fanden. Wenn das der Fall gewesen sein sollte, dann wäre mit Sicherheit auch Reichs Sekretärin Gertrud Gaasland daran beteiligt gewesen: 671 Quisling dürfte die Hetzkampagne gegen Reich mitverfolgt haben, in der dieser von der »rechten« Presse Norwegens unter anderem als »jüdischer Pornograph übelster Sorte« diffamiert worden war (Bennett 2010, S. 55; vgl. Sharaf 1996, S. 272–278). 672 Aus diesem Text zitiert auch Nilsen (2010, S. 176). Philip Bennett verschaffte mir den Abdruck der gesamten Rede. Für die Übersetzung aus dem Norwegischen danke ich Andreas Schmeling. 673 Auf S. 2, unter der Überschrift »Solidarisch mit Deutschland. Europas Stellungnahme zur Judenfrage«. 674 Am 18.3.1936 bescheinigte Reich Bodil Tandberg zur Vorlage bei der Amerikanischen Vereinigung psychiatrischer Sozialarbeiter, dass sie ein Jahr bei ihm in Analyse gewesen und auch theoretisch gründlich geschult sei (AOI, Correspondence, Box 6, General, 1935-September 1939, A-H).
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
Sie spielte eine zentrale Rolle beim Herstellen und Verteilen derartiger Schriften (Lenz 2011b, S. 59–62). So oder so dürfte Reich aufgrund seiner Kooperation mit der SAP die Verurteilung wegen Hochverrats gedroht haben.675 Von dem gegen Reich vorbereiteten Prozess wurde in der Öffentlichkeit sicherlich nichts bekannt. Die Verbote seiner Schriften im Reichsanzeiger, auch seine dort publik gemachte Ausbürgerung können Vertretern von DPG und IPV dagegen durchaus zur Kenntnis gelangt sein. Dies hätte sie vermutlich darin bestätigt, dass es richtig war, ihn auszuschließen. Dass sie sich – nicht zuletzt mittels dieses Ausschlusses – davon distanziert hatten, sich offen gegen den Faschismus zu stellen, dürfte zum Teil das im Folgenden zu Schildernde ermöglicht haben: Die psychoanalytische Literatur wurde im Dritten Reich keineswegs nur verbrannt, verboten oder verfolgt.
2.15
Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
1985 dokumentierten Karen Brecht und andere Beispiele dafür, was Analytiker im Dritten Reich veröffentlichten (Brecht et al. 1985, S. 97, 141, 150f., 162). 1989 setzte sich Ludger M. Hermanns mit der wissenschaftlichen Produktivität in NSDeutschland verbliebener Psychoanalytiker auseinander. Wie bereits erwähnt, stellte er dabei unter anderem fest, dass es erstaunlich sei, wie viele Arbeiten von Analytikern »entgegen landläufiger Meinungen veröffentlicht worden sind«, und führte einige Beispiele an. Er konstatierte jedoch, dass »keine produktiven Beiträge zur psychoanalytischen Wissenschaft geleistet worden« seien, was aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch nicht zu erwarten gewesen sei. Dann schrieb er: »Die natürlich wünschenswerte quantitative Erfassung […] will und kann ich hier nicht leisten« (Hermanns 1989, S. 33, 35, 51).676 Bislang scheint sich auch kein anderer Autor dieser Aufgabe gewidmet zu haben. 675 Martin Meyer wurde 1940 als Hochverräter zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt und in eines der Nebenlager des KZ Buchenwald überstellt. Er überlebte mit schweren körperlichen Schädigungen. Nach dem Krieg war er – offenbar noch immer gemeinsam mit ehemaligen SAP-Genossen – wieder ehrenamtlich politisch tätig. Am 26.10.1981, kurz vor seinem 68. Geburtstag, starb Martin Meyer in Bremen (www.arbeiterpolitik.de/Zeitungen /PDF/1982/arpo–2-1982.pdf ). Das Archiv der Gedenkstätte Buchenwald verfügt über keine weiteren Informationen zu M. Meyer (persönliche Auskunft von Ronald Hirte). 676 Zur Unterteilung der diesbezüglich relevanten Publikationen schlägt er drei Gruppen vor: solche, die bereits vor 1933 entstanden sind, aber erst danach zur Veröffentlichung
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass vor einer quantitativen Erfassung, die vollständig und korrekt sein soll, eine qualitative Frage geklärt werden müsste, die keineswegs von bloß akademischem Interesse ist.
2.15.1 Was ist (noch) Psychoanalyse? In seiner Abhandlung Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung schrieb Freud 1914: gelangten, jene, die zwischen 1933 und 1945 geschrieben und publiziert wurden, und schließlich jene, die zwar in dieser Zeit entstanden, aber erst nach 1945 erschienen sind. Zu den ersten beiden Gruppen werde ich im Folgenden eine Reihe von Mitteilungen machen. Weit mehr ins Gewicht fallen dabei Beiträge, die nach 1933 entstanden sind. Die dritte Gruppe werde ich nicht einbeziehen. Zum einen dürfte sie sehr schwer einzugrenzen sein. Manches im Dritten Reich Geschriebene wurde erst Jahre oder gar Jahrzehnte später veröffentlicht, manchmal innerhalb größerer Arbeiten, teils auch nur bruchstückhaft. Auf Erich Fromms in den späten 1930er Jahren in verschiedenen Fassungen erstelltes, unvollendet gebliebenes Manuskript Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, das erst 1980 erschien, habe ich schon hingewiesen. Auch Reich nahm in seine 1946er Neubearbeitung der Massenpsychologie Textmaterial aus der Zeit vor 1945 mit auf, ebenso in die erweiterten Neuauflagen der Charakteranalyse (vgl. Reich 1986, S. 21, 1999, S. 21, 23; Laska 2008, S. 149). Ich werde diese dritte Gruppe aber noch aus einem weiteren Grund nicht berücksichtigen: Ich bezweifle, dass sich hier in hohem Maße authentische Informationen über die Publikationsvorhaben während des Dritten Reiches gewinnen lassen. Wahrscheinlicher scheint mir, dass vor 1945 geschriebene Arbeiten später zumeist nicht in der Urfassung veröffentlicht wurden. Zum einen, weil sich der Wissensstand der Autoren inzwischen verändert hatte. Zum anderen aus politischen Erwägungen. Werner Kemper zum Beispiel behauptet, sein 1950 in Buchform publizierter Text Die funktionellen Sexualstörungen sei bereits 1943 so verfasst worden (für einen Sammelband, der als nicht »kriegswichtig genug« ungedruckt blieb – Kemper 1950, S. 3). In diesem Text schreibt Kemper aber zum Beispiel, dass W. Reich sich »als erster« gründlicher mit der orgastischen Potenz befasst habe und nennt als Beleg dessen Buch Die Funktion des Orgasmus (ebd., S. 18). Ich halte es aber für undenkbar, dass Kemper – der natürlich wusste, welche Unperson Reich im NS-Staat war und der sich in diesem Staat auch offenbar gut etabliert hatte – dies 1943 genau so an die Öffentlichkeit bringen wollte. 1942 brachte Kemper ein Buch heraus, in dem er deutlich auf Reich aufbaute, ohne auf ihn zu verweisen – dazu später mehr. Auch Hans March schrieb 1951, seine Studie Vom Helfen sei bereits 1942, »in der nationalsozialistischen Ära«, veröffentlicht worden. Als er sie aber nun erneut vorlegte, hatte er deren Anfangssatz, in dem er eher würdigend über die NS-»Hilfs- und Erziehungsbestrebungen« geurteilt hatte (March 1942, S. 3), in eine deutliche Distanzierung von diesen Bestrebungen abgewandelt (March 1951, S. 75). Wirklich unverändert (bis auf den Untertitel) scheint hingegen Schultz-Henckes Hauptwerk Der gehemmte Mensch 1951 neu aufgelegt worden zu sein.
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»Ich finde mich berechtigt, den Standpunkt zu vertreten, daß auch heute noch, wo ich längst nicht mehr der einzige Psychoanalytiker bin, keiner besser als ich wissen kann, was die Psychoanalyse ist, wodurch sie sich von anderen Weisen, das Seelenleben zu erforschen, unterscheidet und was mit ihrem Namen belegt werden soll oder besser anders zu benennen ist« (Freud 1914d, S. 44).
Allerdings bot er über die Jahre recht unterschiedliche Definitionen der Psychoanalyse an. Im selben Text, aus dem das obige Zitat stammt, benannte er als entscheidend »die Tatsache der Übertragung und die des Widerstandes. Jede Forschungsrichtung, welche diese beiden Tatsachen anerkennt und sie zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nimmt, darf sich Psychoanalyse heißen, auch wenn sie zu anderen Ergebnissen als den meinigen kommt« (ebd., S. 54). Doch wie eingangs erwähnt, fasste Freud den Begriff auch weiter: Psychoanalyse lasse sich »auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden […] wie auf die Neurosenlehre […]. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes, als die Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben« (Freud 1916–17a, S. 403f.). Man hat also bereits die Qual der Wahl, wenn man Psychoanalyse im Sinne Freuds definieren will. Berücksichtigt man die heutigen Verhältnisse innerhalb der Psychoanalyse, wird die Situation noch weit unübersichtlicher. Thomas Aichhorn spricht von einer Vielzahl von Schulen und Richtungen, die inzwischen beanspruchen, die »wahre« Psychoanalyse zu verkörpern (Th. Aichhorn 2005, S. 45). Der Psychologe Jürgen Straub bezeichnet Psychoanalyse als »Kollektivsingular […], hinter dem sich eine große Vielfalt von theoretischen und methodologischen Varianten psychoanalytischen Denkens verbirgt« (Straub 1998, S. 25, Fn 17; vgl. auch Yorke 2002). Mein Eindruck ist: Der gemeinsame Nenner des Konglomerats, das sich heute Psychoanalyse nennt, ist nur noch der Bezug auf unbewusste dynamische Prozesse im Seelenleben – die aber kaum noch in der Breite thematisiert werden, die Freud in seiner Definition von 1917 vorschwebte. Bereits in den Auslegungen von Inhalt und Bedeutung des Unbewussten existieren zudem erhebliche Unterschiede (Buchholz/Gödde 2005, S. 463–669). Und: Jede Richtung der Psychoanalyse hat ihr eigenes, mehr oder weniger originelles Psychoanalyseverständnis, das dem anderer Schulen mehr oder weniger widerspricht. Dementsprechend würde wohl jede Richtung auch zu mehr oder weniger unterschiedlichen Bewertungen der während des Dritten Reiches entstandenen psychoanalytischen Publikationen gelangen. Noch komplizierter wird eine Einschätzung dieser Publikationen, weil bereits zu deren Entstehungszeit auch ganz andere Beurteilungskriterien hineinspielten. So war für Freud die von Schultz-Hencke vertretene, später Neo-Psychoanalyse genannte Ausrichtung ein rotes Tuch (Brecht et al. 1985, S. 101). Freud hätte daher die Publikationen Schultz-Henckes wohl nicht mehr zu den analytischen 347
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rechnen wollen. Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung urteilte nach 1945 ebenfalls, teils allerdings mit fragwürdigen Begründungen, Schultz-Hencke gehöre nicht mehr zur Psychoanalyse (Lockot 2002, S. 129–134). Das sahen naturgemäß insbesondere die Mitglieder der sich zunächst auch an Schultz-Henckes Theorien orientierenden, 1945 wieder gegründeten Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft anders (Schröter 1999, S. 109–115, Zander/Zander 1982, Thomä 1963b, S. 120–125). Weitgehende Einigkeit herrscht allerdings in Bezug auf Wilhelm Reich. Was ihn betrifft, hat sich die auch von ihm selber gestützte Auffassung (Fenichel 1998, Bd. 1., S. 135f.; Reich 1986, S. 22) durchgesetzt, dass die Differenzen zwischen ihm und der Analyse schon in den frühen 1930er Jahren so wesentlich waren, dass er nicht mehr als Analytiker zu betrachten war. Zudem verlor er ja seine DPGund IPV-Mitgliedschaft. Die Zuordnung einer Schrift zur Psychoanalyse von der Mitgliedschaft des Autors in analytischen Organisationen abhängig zu machen, wäre allerdings recht bürokratisch. Entscheidend sollte der Inhalt der Schrift sein677 – und da ergibt sich bei Reich, wie wir bereits gesehen haben, keinesfalls das Bild einer völligen Loslösung von der Psychoanalyse. Reich selbst wiederum hatte, wie erwähnt, 1933 ebenfalls eine eigene Vorstellung von dem, was er als Psychoanalyse akzeptieren wollte: nämlich nur das, was sowohl eindeutig auf Freuds Libidotheorie basierte, gesellschaftliche Ursachen psychischer Störungen einbezog und aufseiten der Arbeiterbewegung stand. Daran gemessen, wäre in Deutschland zwischen 1933 und 1945 überhaupt keine psychoanalytische Literatur entstanden. Aber wie ist es zu bewerten, wenn Analytiker – wie es ja tatsächlich im Dritten Reich geschah – in ihren Schriften biologische, psychiatrische, sexualkundliche, statistische oder seelsorgerische Schwerpunkte setzten? Wie viel Analytisches müsste wie explizit und ausführlich in diesen Schriften enthalten sein, damit es dennoch als Psychoanalyse gelten könnte?678 Alles, was Analytiker geschrieben haben, einfach als Psychoanalyse zu etikettieren, kann nicht der Weg sein: Wie berichtet, widmete Kristian Schjelderup rein religiösen Fragen ein Buch und Marie Bonaparte ihrem Lieblingshund.
677 Auch Freud nahm derartige Zuordnungen nicht nur nach organisatorischen Kriterien vor. So bezeichnete er zum Beispiel Georg Groddeck bereits 1917 als »prächtigen Analytiker« – drei Jahre, bevor dieser Mitglied des Berliner Analytikerverbandes wurde. 678 Interessant erscheint mir, dass sich mittlerweile Elisabeth Brainin und Samy Teicher den Protokollen von August Aichhorns Wiener Arbeitsgruppe (1941–1944) mit teils ähnlichen Fragestellungen genähert haben, wie sie mich hier auch beschäftigen (Brainin/Teicher 2012, S. 463f.).
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
Ich meine, hier sind kollektive Verständigung und weitere systematische Forschungsarbeit vonnöten, um zu befriedigenden Antworten zu gelangen.679 Ich werde mich im Folgenden zunächst bemühen, Publikationen zu erfassen und zum größeren Teil grob zu beschreiben, die (ehemalige) DPG-Mitglieder zwischen 1933 und 1945 bei deutschen Verlagen veröffentlichten. Es wird hier also nur um Schriften gehen, die, zeitlich und räumlich gesehen, innerhalb des Dritten Reiches erschienen sind. Nicht in Betracht kommen daher zum Beispiel sämtliche Veröffentlichungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlags in Wien.680 Ebenso fallen diejenigen Autoren heraus, die zwar der Analyse in manchem nahestanden und in ihren Schriften auch auf sie Bezug nahmen, aber nie zur DPG gehörten. Ein Beispiel dafür ist J.H. Schultz, der das autogene Training entwickelt hatte: Er wurde gelegentlich als »wilder Analytiker« eingeordnet (Lockot 2002, S. 147).681 679 Sicherlich ist der Grinstein-Index eine gute Basis für solche Forschungen. Aber einerseits ist er, wie erwähnt, unvollständig, andererseits enthält er auch Schriften, in denen Psychoanalyse nur erwähnt wird, ohne dass diese Schriften selbst den Anspruch hätten, als psychoanalytisch zu gelten. Mit der Frage nach der Qualität der Publikationen setzt sich dieser Index ohnehin nicht auseinander. 680 Hier die wenigen Artikel, die (noch) nicht emigrierte DPG-Mitglieder nach Januar 1933 in den Periodika dieses Verlages veröffentlichten. Da nicht in jedem einzelnen Fall klar ist, wann genau es zu einer etwaigen Emigration kam, sind diese Angaben nicht durchweg gesichert: Felix Boehm: Über zwei Typen von männlichen Homosexuellen, IZP 1933/19, S. 499–506. Therese Benedek: Über die psychischen Prozesse bei Basedow-Psychosen, IZP 1933/19, S. 507–526. Emil Simonson: Erfolgreiche Behandlung einer schweren, multiplen Konversionshysterie durch Katharsis, IZP 1934/20, S. 531–542 (Vorläufige Mitteilung dazu in IZP 1933/19, S. 614f.). Werner Kemper 1934: Zur Genese der genitalen Erogenität und des weiblichen Orgasmus, IZP 1934/20, S. 287–312. Alexander Mette: Zur Psychologie des Dionysischen, Imago 1934/20, S. 101–218. Hellmuth Kaiser: Probleme der Technik, IZP 1934/20, S. 490–522. Carl Müller-Braunschweig: Die erste Objektbesetzung des Mädchens in ihrer Bedeutung für Penisneid und Weiblichkeit, IZP 1936/22, S. 137–176. Gustav Hans Graber: Die zweierlei Mechanismen der Identifizierung, Imago 1937/23, S. 24–48. Tore Ekman: Phänomenologisches und Psychoanalytisches zum Problem des Mitleids, IZP 1941/26, S. 275–285 (Ludger M. Hermanns teilte mir mit, dass Ekmann 1936 aus der schwedisch-finnischen Gesellschaft übernommen wurde, bis Kriegsende in Berlin wohnte und DPG-Mitglied war). Ob Edith Jacobssohns Artikel Wege der weiblichen Über-Ich-Bildung (IZP 1937/23, S. 402–412) hier mit dazu gezählt werden sollte, ist fraglich, da die Autorin bereits seit 1935 inhaftiert, 1936 wegen Hochverrates verurteilt und ihrer bürgerlichen Ehrenrechte verlustig gegangen war (May/Mühlleitner 2005, S. 406). 681 Auch die zwischen 1934 und 1937 in Wilhelm Stekels Zeitschrift Psychotherapeutische Praxis veröffentlichten Beiträge berücksichtige ich nicht. Stekel verlegte den Herausgabeort nach der NS-Machtübernahme von Deutschland nach Wien; 1937 stellte er die Zeitschrift ein.
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Danach werde ich Beispiele dafür aufführen, wie im Zentralblatt für Psychotherapie analytische Schriften oder Inhalte reflektiert wurden. Dabei sowie beim anschließenden Blick in das Zentralblatt für Neurologie und Psychiatrie (bei dem ich mich auf wenige Stichproben beschränke) und zwei medizinische Wochenschriften werde ich auch die Rezensionen einbeziehen. Abschließend will ich noch auf einen recht verblüffenden Artikel im Völkischen Beobachter und einige weitere Funde in Publikationen hinweisen, die nicht für ein Fachpublikum verfasst wurden. Als analytisch werde ich der Einfachheit halber all das einordnen, was zumindest gängiges Fachvokabular wie »Verdrängung«, »Projektion«, »Übertragung« und »Sublimierung« enthält. Im Hinterkopf sollte man allerdings behalten, dass ja auch Jung seine Schule als »Analytische Psychologie« bezeichnete. Damit ergab sich, wann immer ohne weitere Erklärungen von »analytisch« geschrieben wurde, eine – vielleicht oft auch gewünschte – Unklarheit darüber, ob sich dies auf Freud oder auf Jung bezog. Zudem baute Jung ja sowohl inhaltlich als auch in seinem Vokabular in so hohem Maße auf Freud auf (Freud/Jung 1974, S. 27f., 62, 507ff.; Frey-Wehrlin 1982), dass schon deshalb Überschneidungen unvermeidlich waren. Da ich hier zusätzlich zum – wie gesagt lückenhaften – Grinstein-Index nur wenige Quellen heranziehen werde, muss dieser Teil meiner Recherchen mit Vorbehalt zur Kenntnis genommen werden. Vollständigkeit strebe ich nicht an, sondern begnüge mich damit, eine erste Skizze zu zeichnen.
2.15.2 Veröffentlichungen von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern Zwischen 1930 und 1938 – dem Jahr ihrer Auflösung – hatte die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft insgesamt 89 Mitglieder. Waren es 1932 noch 56 Mitglieder gewesen, hatten 1934 bereits 32 von ihnen Deutschland den Rücken gekehrt. 27 nichtjüdische DPG-Mitglieder schlossen sich ab 1936 dem Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP) an, das unter der Leitung von M.H. Göring, eines Vetters des »Reichsmarschalls« Hermann Göring, stand und sich um eine »neue deutsche Seelenheilkunde« bemühte (Lockot 2002, S. 149f.). Laut Grinstein-Index und anderen von mir verwerteten Quellen sind im Dritten Reich 48 Erstveröffentlichungen682 von zwölf DPG-Mitgliedern zu verzeichnen: 682 Rezensionen habe ich hier, wie schon vermerkt, nicht mit einbezogen. Neuauflagen konnte ich nicht entdecken. Das von Heinrich Meng und Paul Federn herausgegebene Psychoanalytische Volksbuch kam zwar 1939 ebenfalls erneut heraus – aber, wie schon er-
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
Felix Boehm, G.H. Graber, Martin Grotjahn, Karen Horney, Werner Kemper, Hans March, Alexander Mette, Carl Müller-Braunschweig, Gerhart Scheunert, Felix Schottlaender, Harald Schultz-Hencke und Margarethe Seiff. Den größeren Teil dieser Publikationen werde ich berücksichtigen. Bis auf Horney und Grotjahn, die 1932 bzw. 1933 emigrierten, verblieben die Genannten in Deutschland und wurden DIPFP-Mitglieder. Vier von ihnen – Kemper, March, Mette und Schultz-Hencke – brachten zwischen 1933 und 1945 auch Bücher heraus. Bei den meisten Veröffentlichungen handelt es sich jedoch um Zeitschriftenbeiträge, die insbesondere im Zentralblatt für Psychotherapie erschienen sind. Ich werde mich auf drei Fragen konzentrieren: Inwieweit wurde die Psychoanalyse ausdrücklich erwähnt? Gab es in diesen Publikationen deutliche Bezüge zu den politischen Rahmenbedingungen des Dritten Reiches? Und, in einer abschließenden Zusammenfassung: Lässt sich etwas erkennen, dem – entgegen der zitierten Auffassung von Ludger M. Hermanns – doch wissenschaftliche Produktivität zugebilligt werden sollte?683 Zu letzterer Frage kann ich mich nur äußern, indem ich auf mein eigenes Analyseverständnis zurückgreife. Statt jedoch Freuds – und Reichs – Vorstellung von der Psychoanalyse als Naturwissenschaft684 zu folgen, schließe ich mich Helmut Dahmer an, der sie als »unnatürliche« Wissenschaft definiert (Dahmer 2012c, S. 121; 2012f, S. 210).685 »Unnatürlich« in dem Sinne, dass ihr Erkenntnisinteresse nicht Forschungsobjekten gilt, die durch die Natur im Wesentlichen vorgegeben sind, sondern Menschen – also potenziell eigenständig agierenden Subjekten686 und deren vielfältigen
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wähnt, nun in Bern. In Bezug auf Heinrich Meng war ich bislang nicht in der Lage, zu überprüfen, ob sämtliche für ihn im Grinstein-Index angegebenen Beiträge in nichtdeutschen Zeitschriften erschienen. Die meisten Zeitschriften, in denen er nun publizierte, wurden in der Schweiz verlegt, wohin Meng 1934 emigrierte (Lockot 2002, S. 150). Wer die folgende, notwendigerweise sehr detaillierte Literaturauswertung überspringen und nur deren Zusammenfassung zur Kenntnis nehmen möchte, sollte seine Lektüre auf S. 386 fortsetzen. Freud schrieb: »Die Psychoanalyse ist auch eine Naturwissenschaft. Was sollte sie denn sonst sein?« (Freud 1940b, S. 143; vgl. Dahmer 2012a, S. 12; 2012d, S. 129; 2012e, S. 150– 154). Reich verwendet diese Zuordnung oft, z. B. in Reich 1995, S. 256. Als eine weitere Spielart »unnatürlicher« Wissenschaft nennt Dahmer die Marxsche Ideologiekritik. Hier genügt es daher auch nicht, von der in den Naturwissenschaften üblichen Entgegensetzung von Beobachter und Beobachtetem zu sprechen: Bei der Anwendung der »unnatürlichen« Wissenschaft setzen sich stattdessen Menschen zueinander in Beziehung. In der Psychoanalyse betrifft das sowohl Therapeut und Patient wie auch Autor und Leser, sodass
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Hervorbringungen. In der Kindheit werden diese Subjekte jedoch in der Regel von Eltern und Gesellschaft in ihrer Eigenständigkeit beschnitten. Auf der Grundlage der so erworbenen Charakterstruktur erschaffen oder unterhalten sie dann als Erwachsene ihre vielfach einengenden, unterdrückenden Lebensumstände und Institutionen. Diese beeinflussen wiederum in hohem Maße das weitere Verhalten, Denken und Fühlen der Menschen. Zur Psychoanalyse gehört deshalb auch, diese Wechselwirkungen und deren Zustandekommen zu reflektieren. Wenn Psychoanalytiker dies realitätsgerecht tun, kritisieren sie damit zugleich die neurotisierenden Aspekte dieser Wechselwirkungen (Freud 1910d, S. 111) und werfen die Frage nach besseren Alternativen auf, nach einer Kultur, die »keinen mehr erdrückt« (Freud 1927c, S. 333). Die »konsequente psychoanalytische Therapie«, die konsequente Nutzung von Psychoanalyse überhaupt, geht deshalb »in Sozialkritik über« (Dahmer 2012c, S. 211). Und diese erschließt – im günstigen Fall – neuartige Möglichkeiten »institutioneller« Veränderungen, im persönlichen Leben, in Partnerschaft und Familie, in Gruppe und Gesellschaft. So gesehen ist Psychoanalyse also ein Verfahren, das innere, individuelle Entwicklung ermöglicht und damit äußere, soziale Entwicklung initiiert. Dies wird ihr umso mehr gelingen, umso realistischer das Menschenbild ist, das sie dabei zugrunde legt. Das heißt aus meiner Sicht: je mehr sie berücksichtigt, dass Menschen die Möglichkeit prosozialen Verhaltens in sich tragen und nicht von asozialen Trieben gelenkt werden.687 Ich billige daher den in psychoanalytischen Publikationen getroffenen Aussagen umso mehr wissenschaftliche Produktivität zu, je mehr sie erstens bezüglich wesentlicher Punkte aufdeckend wirken, zweitens psychosoziale Wechselwirkungen angemessen reflektieren, drittens das über Individuelles hinausreichende Erkenntnis- und Veränderungspotenzial der Psychoanalyse berücksichtigen und viertens von dem beschriebenen »positiven« Menschenbild ausgehen. Die Autoren habe ich nach der Anzahl ihrer Veröffentlichungen geordnet.688 Helmut Dahmer zu Recht vom intersubjektiven Charakter der Freudschen Schöpfung spricht. Von den traditionellen Natur- und Geisteswissenschaften unterscheidet sich die »unnatürliche« Wissenschaft zudem, indem sie deren Verfahren – Erklären und Verstehen – kombiniert. 687 Diesbezüglich unterscheiden sich meine Auffassungen auch von denen Helmut Dahmers (siehe Dahmer 2012e, S. 153). 688 Da es bei Martin Grotjahns Artikeln Zur psychiatrischen Systematik und Statistik in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie von 1933 und Entwicklung, Straftaten und Begutachtung eines jugendlichen Postencephalytikers (Zeitschrift für Kinderforschung von 1935) nicht um Psychoanalyse gegangen sein dürfte, habe ich diese Artikel nicht berücksichtigt. Grinstein 1956–1960 benennt ihn für 1933 auch als Herausgeber der Autobiografie seines Vaters, des Arztes und SPD-Politikers Alfred Grotjahn. Das Buch kam jedoch bereits 1932 heraus.
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Karen Horney,689 DPG-Mitglied bis 1936, ist insofern ein Sonderfall, als sie – offenbar nicht aus politischen Gründen (Rubins 1983, S. 143ff.) – bereits seit 1932 in den USA lebte. 1936 besuchte sie Deutschland und nutzte dies auch dazu, wieder im Kreis ihrer ehemaligen Kollegen aufzutreten. Ihr Vortrag Das neurotische Liebesbedürfnis, gehalten auf der DPG-Sitzung am 23. Dezember 1936, eröffnete das zweite Heft des Bandes 10 ( Jg. 1937/38, S. 69–82) des Zentralblattes für Psychotherapie. Scheinbar mit größter Unbefangenheit verwendete sie dabei psychoanalytisches Vokabular, bezog sich würdigend auf Ferenczi und verwies mehrfach auf Freud. Ähnlich wie schon Wilhelm Reich acht Jahre zuvor, kritisierte sie Freuds Idee eines zwangsläufig entstehenden Ödipuskomplexes, meinte, dass die entsprechenden, »von Freud so vorzüglich beobachteten kindlichen Reaktionen« eher durch Erziehung zustande kämen und »ethnologische Erfahrungen […] es als unwahrscheinlich erscheinen [lassen], daß der Ödipuskomplex eine biologisch gegebene Erscheinung ist« (ebd., S. 81). Auch mit Freuds Vorstellungen zum Thema Liebe setzte sie sich fair auseinander. Speziell zu seiner Annahme, Liebe und Zärtlichkeit seien zielgehemmte Sexualität, bemerkte sie, dass diese Vorstellung »den Zugang zu einem wirklichen Verständnis der seelischen Vorgänge erschwert« (ebd., S. 78f.). Entsprechend ihrem hier Erich Fromms Sicht ähnelnden Verständnis, sei Liebe von Sexualität abzugrenzen als »Fähigkeit des Liebenden, aus sich heraus etwas zu geben, sich selbst hinzugeben, sei es an Menschen, sei es an eine Sache oder an eine Idee – anstatt alles in einer egozentrischen Weise für sich zurückzubehalten« (ebd., S. 73). Das Dritte Reich und die aktuelle politische Situation wurden von Horney nicht erwähnt. Felix Schottlaenders690 am 17.12.1937 in der Stuttgarter DIPFP-Ortsgruppe gehaltener Vortrag Die Mutter-Kind-Beziehung in ihrer Bedeutung für die Neurosenentstehung wurde in Heft 6, Band 10 des Zentralblatts für Psychotherapie abgedruckt. Auf 18 Heftseiten argumentierte Schottlaender teils deutlich analytisch, kritisierte einige Auffassungen Freuds und erwähnte dabei mehrfach dessen Namen. Gegen Freuds Aggressionsverständnis setzte Schottlaender die These, aggressive Gestörtheit sei nicht Ursache, sondern Folge »der Liebesarmut der Umgebung«: »Es spricht viel dafür, daß Aggression keine primäre Erscheinung ist, sondern auf gestaute und unbefriedigte Liebesbedürfnisse zurückgeht […]. 689 Biografische Informationen in Rubins (1983). 690 Zu seiner Biografie siehe Bley (2010, in dem hier wichtigen Zusammenhang insbesondere S. 84–114).
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Wo es an Liebe fehlt – und Liebe heißt für das Kind zunächst Mutterliebe – steht das Feld für die Neurose offen. […] Ich betrachte also […] die Neurose als eine Mangelkrankheit, […] deren Verhinderung nur durch Mutterliebe möglich ist« (Schottlaender 1937, S. 377ff.).
Schottlaenders Sicht ließ zwar für eine gesunde Aggression (wie sie von Reich und Fromm als Gegensatz zur Destruktion beschrieben wurde – siehe Reich 1987, S. 119–122; Fromm 1989d) keinen Platz. Er betrachtete, wie mir scheint, Kinder auch als vorwiegend passive Objekte elterlicher Erziehung, fiel an diesem Punkt also hinter Freud zurück. Dennoch war Schottlaenders Standpunkt in Teilen eine wichtige Gegenposition zu jenen Auffassungen innerhalb der Psychoanalyse, die die prägende Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen im Vergleich zum Einfluss der Triebregungen unterbewerteten.691 Aktuelle Bezüge zu Politik oder Gesellschaft stellte Schottlaender nicht her. Im Zentralblatt, Jahrgang 1939, Heft 4, Band 11 findet sich ein Vortragstext von Gerhart Scheunert, der nach dem Krieg Mitbegründer und zweiter Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung werden sollte. Scheunert war bereits am 1.5.1933 NSDAP-Mitglied geworden und zum Zeitpunkt seines Vortrages (15.1. bzw. 25.5.1938 am DIPFP) zudem Angehöriger des NS-Ärztebundes (Lockot 1994, S. 227f., Fn 59).692 In dem Beitrag Über psychotherapeutische Kurzzeitbehandlungen verzichtete er nicht auf analytisches Vokabular, nannte sich selbst »analytischer Psychotherapeut«, erwähnte »psychoanalytische Behandlungen«, die er allerdings mehrfach auch mit »langandauernde Tiefenpsychotherapie« oder »seelenanalytische Methoden« umschrieb und brachte seine Wertschätzung dieser Therapieart deutlich zum Ausdruck (z.B. Scheunert 1939, S. 207). Insbesondere beschrieb er eine von ihm kreierte analytische »Kurzbehandlung« oder »therapeutische Anamnese«. Diese »keineswegs neu[e]« (ebd., S. 208) Methode verband er mit einer Art – so würde man es heute wohl nennen – geführter Traumreise. Er selbst sprach von »forciertem Träumen«, bei dessen Anwendung er sich an Meditationstechniken von Carl Happich angelehnt habe. Vielleicht fügte er mit dieser Kombination damals bereits vorhandener Ansätze zur Behandlungsverkürzung (vgl. Klüwer 2005, S. 42) doch etwas Originelles hinzu? 691 Am ausgeprägtesten wohl vertreten von Melanie Klein (siehe Riesenberg 1982). 692 Bei Lockot (1994, S. 227f., Fn 59) sind weitere Informationen zu seiner Biografie zu finden. Dührssen (1994, S. 175) bezeichnet Scheunert auch als »Politischen Leiter«, ohne dies allerdings zu konkretisieren.
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
Bei Scheunert erfährt man auch etwas über die aktuelle äußere Realität. Gleich auf der ersten Seite hatte er seinen Vortrag mit folgender Fußnote ergänzt: »Es sei hier eingefügt, daß das Bedürfnis nach sachgemäßer seelenärztlicher Hilfe ohne Zweifel in den letzten Jahren stärker geworden ist. Diese eine Tatsache widerlegt das seltsame Gerede, alle systematische Psychotherapie sei ›ein überwundener Rest der expressionistischen Mentalität‹ der Verfallszeit, hinreichend. Meine psychotherapiebedürftige Klientel setzt sich keineswegs aus Vertretern einer untergehenden Welt zusammen« (Scheunert 1939, S. 206).
Dass er »Verfallszeit« nicht mit in die Anführungsstriche setzte, wirft die Frage auf, ob er sich damit diese Wertung zu eigen machte. Unklar bleibt auch, wer sich hinter dem Ausdruck »meine Klientel« verbarg. Auf jeden Fall setzte er sich hier auf seine Weise für Psychotherapie ein, und damit sicher auch für die Psychoanalyse. Vermutlich wollte er erneut deren Interessen vertreten, wenn er des Weiteren schrieb: »Es ist keineswegs zu verkennen, daß die gesamte geistige Entwicklung in aller Welt, nicht zuletzt gerade bei uns, immer stärker danach strebt, zu einer bejahenden Einbeziehung der nicht-intellektuellen, triebhaft-unbewußten Anteile unserer Persönlichkeit zu gelangen. Die bürgerliche Scheu vor allem Abgründigen, nicht ohne weiteres rational Erfaßbaren […] ist sicherlich schon erheblich erschüttert und ihre Überwindung im Gange« (ebd., S. 212).
Der Widerstand der Patienten, derartige triebhaft-unbewusste Anteile bei sich selbst zu erkennen, zeige sich nun darin, dass sie diese als »nicht artgemäß« tabuisierten, »ohne sich der Mühe zu unterziehen, nachzuprüfen, was die nationalsozialistische Weltanschauung« – mit der sich Scheunert hier, wie mir scheint, identifiziert – »wirklich unter diesem Begriff verstanden wissen will« (ebd.). Margarethe Seiff693 veröffentlichte im Bericht über die dritte Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (Bilz 1941), die im September 1940 in Wien stattfand, einen Beitrag zur Elternerziehung. Hier schilderte die mit Schultz-Hencke zusammenarbeitende Lehranalytikerin und Mutter von sechs Kindern (Ludwig-Körner 1999, S. 192) Erfahrungen aus der Erziehungshilfeabteilung des DIPFP. Ihre Nähe zur Psychoanalyse lässt sich erahnen, auf das entsprechende spezifische Vokabular verzichtete sie jedoch. Es 693 Biografische Informationen in Lockot (1994, S. 213, Fn 17).
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findet sich ein zustimmender Verweis auf Karen Horney, aber beispielsweise auch auf Erich Jaensch und Philipp Lersch, zwei führende Psychologen im NS-Wissenschaftsbetrieb. Aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen wurden nicht explizit angesprochen. Auch Seiff widersprach indirekt der in der Psychoanalyse etablierten Tendenz, der vermeintlich asozialen Triebstruktur der Kinder die Hauptverantwortung für deren seelische Probleme anzulasten und Erziehung daher teilweise mit notwendiger Triebunterdrückung gleichzusetzen.694 Sie konstatierte hingegen, die Erziehungsprobleme, mit denen sie zu tun bekomme, seien »in der Regel auf eine Störung der pflegerischen Beziehung oder auf von der Norm abweichende Lebenssituationen der Eltern zurückzuführen. […] Die pflegerische Einstellung kann auch getrübt sein durch Elternirrtümer. Stark beeinträchtigt wird sie durch starre Fehlhaltungen der Eltern und durch Elternneurosen« (Seiff 1941, S. 79).
Nicht etwa die von Adler favorisierte »Organminderwertigkeit«, sondern Liebesmangel stehe am Anfang kindlicher Fehlentwicklungen (ebd., S. 85). Daher forderte sie: »Lehrt die Kinder das Lieben, muß man den Eltern immer wieder sagen, lebt es ihnen vor« (ebd., S. 81). Als Formen der »Erziehungshilfe für die Eltern selbst« benannte sie: Erziehungsberatung, Lebensberatung bei grundsätzlicheren Fehlhaltungen, tiefenpsychologische Behandlung der Eltern (ebd., S. 79). Elternerziehung nahm sie also recht wörtlich. Damit befand sie sich in gedanklicher Nähe zu Vorstellungen, wie sie schon zuvor der Pädagoge und SummerhillGründer Alexander Neill sowie eine Minderheit von Analytikern wie Alice Balint, Sándor Ferenczi (vgl. Neill 1991; A. Balint 1932, S. 124f.; Ferenczi 1982b) und Wilhelm Reich vertreten hatten. Letzterer hatte 1927 über »Eltern« und »Erzieher im allgemeinen« geschrieben, dass diese durch die Lebensäußerungen der Kinder »an ihre eigenen verdrängten infantilen Wünsche gemahnt« würden und dies »durch erzieherische Verbote« abwehrten. Da sich dem nur durch »die Analyse des Erziehers« abhelfen ließe, was aber in größerem Umfang »utopisch« sei, plädierte er für »Enthaltsamkeit in der Erziehung bis zum äussersten, Einschränkung der Erziehungsmassnahmen auf die allernotwendigsten Versagungen«.695 694 So ging beispielsweise Anna Freud von »Zerstörungslust«, »Grausamkeit«, »Schamlosigkeit und Neugier […] als Ausflüsse[n] der infantilen Sexualregungen« aus (A. Freud, 1932a, S. 15) und leitete daraus ab: »Der Erzieher ist verpflichtet, die Triebbefriedigungen zu stören, zu erschweren und in vielen Fällen zu verhindern« (A. Freud 1932b, S. 395). 695 Siehe www.lsr-projekt.de/wrzwang.html. Hier schwankte Reich aber auch noch deutlich zwischen seinen eigenen, sich erst entwickelnden Auffassungen und denen Freuds. Auf diesen Beitrag machte mich Bernd A. Laska aufmerksam.
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Zumindest an einer Stelle formuliert Margarethe Seiff einen deutlichen Dissens zu einem – auch im NS-Staat verbreiteten – autoritären Erziehungsstil: »Zu den harten Müttern gehört die herrschsüchtige Mutter. Sie kümmert sich nicht um die Eigenart des Kindes, sondern will seine Entwicklung ihren Zielen dienstbar machen. Sie übernimmt ihre Erziehungsregeln in kritikloser Gebundenheit an eine gesellschaftliche Tradition oder ein Dogma, wenn sie ihrem Machtwillen dienen, oder sie macht ihren Ehrgeiz zur Richtschnur. Die übermäßigen Leistungen, die sie dem Kind abnötigt, erstrecken sich auf alle Gebiete: Reinlichkeitserziehung, Ordnungszwang, schulische Leistung ohne Rücksicht auf Begabung. Auch hier muß das Gefühlsleben verkümmern« (Seiff 1941, S. 86).
Felix Boehm696 veröffentlichte ebenfalls zwei Beiträge im Zentralblatt für Psychotherapie. Sowohl in Poliklinische Erfahrungen (ZfP 1940, Bd. 12, S. 65–87) als auch in Erhebung und Bearbeitung von Katamnesen (ZfP 1942, Bd. 14, S. 17–25)697 berichtete er von der Arbeit der DIPFP-Poliklinik. Dass er – wie es auch Müller-Braunschweig von sich behauptete – nach 1938 »nichts mehr veröffentlichen« durfte (Lockot 2002, S. 117), ist also unzutreffend. Mit dem genannten, 22 Seiten umfassenden Beitrag Boehms begannen die »wissenschaftlichen Aufsätze« in Heft 2 des 1940er Zentralblattes. Boehm kann diesen Artikel frühestens im Oktober 1939 beendet haben.698 Der zweite Beitrag war Boehms Zuarbeit zum Jahresbericht von 1940, der Ende März 1941 im Institut erstattet worden war (ZfP 1942, Bd. 14, S. 1, Fn 1). Die Psychoanalyse an sich oder spezielle analytische Vorgehensweisen in der Behandlung wurden in beiden Artikeln nicht thematisiert. Im 1940er Beitrag sprach er aber noch mehrfach von Tiefenpsychologie (z.B. Boehm 1940, S. 73f.), einmal von »abgekürzter Analyse« (ebd., S. 75), auch von Unbewusstem, Übertragung, Widerstand, Agieren, Triebleben (ebd., S. 83). Im 1942er Beitrag unterblieb auch das. Beide Artikel sind so angelegt, dass man Boehm beim Lesen nicht unbedingt als Analytiker einordnen konnte. Möglicherweise geschah das aus einer Haltung heraus, die er 1942 so formulierte: 696 Zu Boehms Biografie siehe Lockot (2002, S. 113–117); Boehm (1978). 697 Für beide Beiträge werden sowohl in Grinstein 1956–1960 als auch bei Boehm 1978 die Jahre 1939 bzw. 1941 angegeben. Erschienen sind sie aber 1940 bzw. 1942. 698 Er erwähnte hier bereits die Finanzierung des Institutes durch die Deutsche Arbeitsfront. Die Trägerschaft durch die Arbeitsfront kam aber erst am 30.9.1939 zustande (Lockot 2002, S. 188). Boehm schrieb zu seinem Beitrag: »Die vorliegenden Ausführungen geben teils eigene, aus Erfahrungen gewonnene Ansichten des Autors wieder, teils sind sie das Resultat gemeinsamer Erörterungen im ›Deutsch. Institut f. Psycholog. Forschung u. Psychotherapie« (Boehm 1940, S. 65, Fußnote).
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»Ich glaube, in wissenschaftlichen Publikationen, in welchen wir Fachkreise zu überzeugen beabsichtigen, werden wir nur mit wirklich geheilten Fällen operieren können […]. Dabei ist es für unsere Zwecke irrelevant, festzustellen, […] nach welcher ›Methode‹ Patienten geheilt worden sind. Das scheint mir […] für die Vertretung unserer Belange der Außenwelt gegenüber auch schädlich zu sein« (Boehm 1942, S. 22f.).
Aufschlussreich sind Boehms Beiträge bezüglich des gesundheitspolitischen Umfeldes. So erfährt man 1940, dass die »Deutsche Arbeitsfront« dem DIPFP Geld gegeben habe, mit dessen Verwendung man sich dem Ziel nähern konnte, »daß sich die Behandlung der poliklinischen, mittellosen Patienten in nichts von der Behandlung eines gut zahlenden Privatpatienten unterscheiden soll«. Dies kommentierte Boehm, vermutlich sachlich korrekt:699 »Es geschieht m.W. zum erstenmal in der Geschichte der Medizin, daß eine öffentliche Institution Mittel für die Pflege der Psychotherapie zur Verfügung stellt« (Boehm 1940, S. 67 inkl. Fn). Da die »Deutsche Arbeitsfront« eine der NSDAP angegliederte Organisation war, die Krankenkassen ohnehin Behandlungen am DIPFP bis zu 100 Stunden finanziell stützten (Lockot 2002, S. 205ff.), bedeutete das: Nicht nur staatliche Organisationen des Dritten Reiches, sondern auch die NSDAP finanzierten unter anderem psychoanalytische Behandlungen – die, wie noch zu zeigen sein wird, nicht etwa durchweg unter Tarnbezeichnungen durchgeführt wurden. Bemerkenswert erscheint mir auch, dass Boehm – damit zumindest teilweise im Gegensatz zu einem »Diagnose-Schema« stehend, das er selbst mit entworfen hatte (dazu später) – mehrfach betonte, dass »unser Institut […] für alle Patienten, […] mit Ausnahme einiger gänzlich ungeeigneter Fälle, wie z.B. ausgesprochener Psychosen, die einzige, letzte und zuverlässige Zufluchtsstätte sein« solle und dass es gelte, »jedem Patienten, der uns aufsucht, wirklich zu helfen« (ebd., S. 78). Ohne Einschränkungen oder erkennbare Skrupel bekräftigte er aber, dass »in allen Zweifelsfällen […], insbesondere bei allen Psychoseverdächtigen; hier schon wegen Klärung der Sterilisationsfrage [!]« medizinische Spezialisten zu konsultieren seien (ebd., S. 75). Oder er verwies 1942 in seinen Katamnesestatistiken darauf, dass zwischen 1936 und 1940 insgesamt 41 Patienten als »unbehandelbar« eingestuft werden mussten (Boehm 1942, S. 21). Da dies aktenkundig gemacht und an andere staatliche Stellen weitergegeben wurde (auch dazu später), ergibt sich die Frage: Was resultierte daraus für diese Patienten in einer Zeit, in der Sterilisation und Euthanasie zur Anwendung kamen? 699 Auch Brainin und Kaminer weisen darauf hin, dass »die Nazis […] die ersten [waren], die die Ausübung der ›Psychoanalyse‹ in einer staatlichen Institution ermöglichten« (Brainin/ Kaminer 1982, S. 994).
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Als Kriterium für »Heilung« oder »wesentliche Besserung« beschreibt Boehm 1942, »wenn der Kranke nicht nur selbstverständlich jederlei eigentliche neurotische Bildung völlig verloren hat, sondern, wenn er allen inneren und äußeren Anforderungen des Lebens gegenüber sich völlig frei, natürlich, lebendig« verhält oder zumindest »mit den allgemeinen Anforderungen des Lebens ohne Schwierigkeiten zurechtkommt«. Zwischen 1936 und Ende 1940 sei es bei immerhin 133 von 419 Patienten geglückt, diesen Zustand zu erreichen (ebd., S. 19ff.). Aber wie glaubhaft ist diese Behauptung? In welchen konkreten Veränderungen im Denken, Fühlen, Handeln soll sich das im Deutschland dieser Jahre ausgewirkt haben? Wie viel Gesundheit konnte ein Einzelner in einer solchen Umwelt tatsächlich erlangen und aufrechterhalten?700 Wären die »allgemeinen Anforderungen«, die das Leben bezüglich des NS-Staates stellte, nicht unter anderem Kritikfähigkeit, Verweigerung oder gar Widerstand gewesen? Gustav Hans Graber701 – wie erwähnt SS-Fördermitglied seit spätestens 1933, zugleich Opfer der NS-Buchverbote – veröffentlichte drei Beiträge im Zentralblatt für Psychotherapie bzw. in einem von dessen Sonderheften. Mit Die Widerstandsanalyse und ihre therapeutischen Ergebnisse eröffnete er 1939 die »wissenschaftlichen Aufsätze« (ZfP, Bd. 11, S. 9–26). Gleich zu Beginn dieses ursprünglich am 5.11.1937 in der Stuttgarter DIPFP-Zweigstelle gehaltenen Vortrags bezog er sich auf Freud: Die Widerstandsanalyse »wurde vor 25 Jahren durch Freuds Beiträge zur Technik aus den Jahren 1912–1914 eingeleitet und in ihren Zielen abgesteckt« (ebd., S. 9). Dann folgte ein ausführliches Freud-Zitat. Auch im weiteren Verlauf baute der Artikel auf Freudschen Anschauungen auf, nutzte ausgiebig analytisches Vokabular und verwies als Quellen sowohl auf die Imago als auch auf die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Sogar Erkenntnisse aus Wilhelm Reichs Charakteranalyse von 1933 und von Reich kreierte Bezeichnungen wie »Charakterpanzer« kamen vor – hier benannte Graber aber die Urheberschaft nicht: »Ein verwandter, ebenfalls wie erstarrter und stereotyper Widerstand ist die Charakterpanzerung, die allen Bemühungen der Behandlung zu trotzen scheint. Sie ist oft der Ausdruck einer höhnisch-spöttischen Überlegenheit, hinter der sich aber die Armut an echtem Gefühls- und Triebleben verbirgt. Bei solchen Fällen ist es 700 Aron Antonowskys Salutogenesekonzept beinhaltet für dieses Problem eine »Lösung«: Selbst als NS-Massenmörder könne man psychisch gesund sein – Hauptsache, man sei mit sich im Reinen, »kohärent« (vgl. das Antonowsky-Zitat bei R. Lorenz 2004, S. 189). Das ist für mich völlig absurd und treibt das Ausblenden sozialer Zusammenhänge auf eine schon fast perverse Spitze. 701 Biografische Informationen zu ihm in Schröter (2000a).
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meist notwendig, vorerst diese Panzerung zu analysieren, um den Zugang zum lebendigen Affekterleben des Ichs zu finden. […] [W]ahrscheinlich wird jede Charakteranalyse schließlich auch einmal auf das Symptom stoßen müssen« (ebd., S. 12).
Soweit Graber an der Psychoanalyse Kritik übte, geschah dies auf faire Weise. Insbesondere distanzierte er sich von Freuds Forderung »Wo Es war, soll Ich werden«, da Graber ein deutlich anderes Verständnis von Ich (und Es) hatte: »Das Ich entpuppte sich […] als eine Instanz, die auf Identifizierungen aufgebaut ist. Identifizierung mit Fremden kann aber niemals das Wesenhafte, das wirklich Persönliche, folglich auch nicht das wirklich Erstrebenswerte sein. Wo demnach der gutgepanzerte und mit allen vorzüglich funktionierenden Abwehr- und Identifizierungsmechanismen ausgestattete Ich-Mensch noch als Norm gefordert wird – dort hat man sich […] vom Selbst abgewendet« (ebd., S. 25).
Resultat einer therapeutischen Haltung, die diese Abwehr fördert, wäre »ein wesenloser Robot im Dienste der sog. Realität« (ebd., S. 24). Als »Hauptaufgabe der Psychotherapie« benannte Graber daher »im Gegensatz zu der bisherigen psychoanalytischen Auffassung«, »das Fremde […] wie eine Wucherung zu entfernen, um dem Selbst, dem Ureigensten, Entfaltung zu ermöglichen« (ebd.). Mit der »bisherigen psychoanalytischen Auffassung« dürfte er sich beziehen auf Annahmen wie die Anna Freuds, die Funktion der Erzieher sei »geglückt, wenn im Innern des Kindes das Gewissen oder Über-Ich lebendig geworden ist«, als eine Instanz, die »die Forderungen der Außenwelt«, denen man sich zu unterwerfen habe, vertritt (A. Freud 1932b, S. 396).702 In Grabers Sätzen schwingt zudem vermutlich Sympathie für C.G. Jungs Konzept des Selbst als zentraler seelischer Kategorie mit. Vielleicht muss man diese Sätze auch als Konzession an den »rechten« Zeitgeist und dessen »Fremden«-Phobie lesen. Dennoch wirft Graber hier wichtige Fragen auf: Wie wünschenswert sind Identifizierungen mit Eltern und anderen nicht durchweg »guten« Autoritäten? Können wir zu uns selbst finden, solange wir andere kopieren? Ist die Verwendung psychischer Abwehrmechanismen an sich etwas Gutes, wie es ein erheblicher Teil psychoanalytischer Literatur – bedauerlicherweise – bis heute703 nahelegt? Oder 702 Vgl. Eicke (1982), aber auch Loch (1986, S. 427), der auf Sigmund Freuds differenziertere Sicht des Über-Ich hinweist. Auch Ferenczi vertrat bereits 1928 die Ansicht, »daß eine wirkliche Charakteranalyse […] mit jeder Art von Über-Ich […] aufzuräumen hat« (Ferenczi 1982a, S. 247). 703 Siehe z. B. König (2003). Werner Bohleber stellte in einem Rückblick auf die westdeutsche Nachkriegspsychoanalyse fest: »Das Überich wurde als Gewissensinstanz begriffen, die
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ist dies, so ließen sich diese Fragen weiterführen, nicht vielmehr ein Zeichen dafür, dass wir in einer Umwelt leben, deren Deformierungsdruck sich nur mithilfe solcher Abwehrmechanismen ertragen lässt? Und dass wir daher gut daran täten, eine Umwelt zu formen, in der die Schaffung solcher unbewussten Selbstvergewaltigungsstrategien unterbleiben kann? Allerdings: Glaubte Graber ernsthaft, im deutschen »Führer«-Staat eine autoritätsunabhängige Selbstentfaltung als offizielles Therapieziel etablieren zu können? In seinem ebenfalls 1939 erschienenen Beitrag Die Erlösung vom Leiden. Metapsychologie des religiösen Erlösungserlebnisses (ZfP, Bd. 11, S. 142–168) ging es Graber zentral darum, wie sich »der Zustand der Glückseligkeit, des restlosen Freiseins vom Leiden« erzielen lasse (ebd., S. 142). Auch hier formulierte er oftmals psychoanalytisch, zitierte mehrfach Freud und verwies auf diverse analytische Publikationen. Unter anderem erklärte er sich mit Freuds Vorstellung »weitgehend einverstanden«, »daß die Religionsbildung auf dem […] Ödipuskomplex […] aufbaue«, meinte allerdings, dies gelte nur für die jüdische und christliche, nicht zum Beispiel für die buddhistische Gedankenwelt. Wohl in Anlehnung an Ideen von Otto Rank und C.G. Jung verwies er auf tiefere, frühere Quellen religiösen Erlebens in »Phylo- und Ontogenese«, im Geburtsvorgang704 und in der Menschheitsgeschichte (ebd., S. 147f.). Eindeutige Bezüge zur Entstehungszeit seines Artikels finden sich bei Graber weder hier noch in seinem dritten Beitrag. Dieser dürfte allerdings insofern vom gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst gewesen sein, als es wohl darum ging, die Akzeptanz der NS-Machthaber gegenüber der Tiefenpsychologie weiter zu steigern. Gemeinsam mit den beiden Nicht-Psychoanalytikern Ilse Döhl und Fritz Mohr widmete sich Graber im dritten Beiheft zum Zentralblatt für Psychotherapie von 1941 dem Versuch, Leibniz, Carus und Nietzsche als Vorläufer unserer Tiefenpsychologie – so der Hefttitel – zu etablieren. Der Nachweis früherer »arischer« Wurzeln sollte vermutlich nicht zuletzt den Vorwurf entkräften, einer »jüdischen Wissenschaft« zu frönen (vgl. dazu auch Hermanns 1989, S. 46f.). Graber erweckte jedoch nirgendwo den Eindruck, der deutsche Arzt Carl Gustav Carus (1789–1869) sei der eigentliche Begründer der Psychoanalyse und Freud nur dessen Nachfolger. Zudem engagierte sich Graber schon seit Längerem dafür, Carus als Vorläufer der den Menschen daran erinnert, sein Selbst in seinem Handeln und Tun nicht zu verfehlen« (Bohlleber 2010, S. 1245). 704 Der Psychoanalytiker Ludwig Janus, der sich der Erforschung prä- und perinataler Prozesse widmet, ordnet Graber übrigens – zusammen mit Otto Rank – als »Initiator der pränatalen Psychologie« ein (zitiert in Schröter 2000a, S. 24). Auch Grabers 1924 erschienenes Buch Ursprung, Zwiespalt und Einheit der Seele sei in dieser Hinsicht bahnbrechend gewesen (Janus 1993, S. 11f.).
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Psychoanalyse – so der Titel seines 1926er (!) Imago-Artikels705 – bekannt zu machen. Auch 1941 leitete Graber in Carl Gustav Carus als Erforscher des Unbewussten und Vorläufer unserer Seelenheilkunde aus dieser Thematik keine Angriffe auf das Judentum oder auf Freud ab. Letzteren benannte er mehrmals, unterstellte ihm allerdings erneut eine gewisse Begrenztheit in seiner Haltung gegenüber tieferen Schichten des Unbewussten (Graber 1941, S. 37). Was Graber über Carus herausgefunden hatte, war zudem sehr wohl mitteilenswert.706 Mit diversen Zitaten belegte er, dass Carus tatsächlich manche Erkenntnisse Freuds vorwegnahm. Beispielweise nahm Carus bereits eine Abstufung seelischer Vorgänge vor, die an Freuds Einteilung in bewusst/vorbewusst/unbewusst erinnert. Die »seelische Krankheit«, so hatte Carus schon geschrieben, müsse vom Unbewussten ausgehen, eine »allein im bewußten Geiste wurzelnde Krankheit« sei »unmöglich«. Daher müsse es »die erste und wesentliche Aufgabe« des Arztes sein, »in die Mysterien des unbewußten Lebens des Patienten möglichst tief einzudringen, sich klar zu machen, in welchen Richtungen das eigentümliche dort entwickelte Leben der Krankheit seine gleich einem unheimlichen Gespinst das Gesunde umstrickenden Fäden gezogen hat, und nun bemüht zu sein, diese Fäden zu lösen und diesem Fremden auf die geeignete Weise entgegenzuwirken« (zitiert in Graber 1941, S. 44).
Grabers Behauptung, dass in diesen Sätzen von Carus bereits »das gesamte Programm der Psychotherapie« enthalten sei, scheint mir allerdings reichlich überzogen. Alexander Mette veröffentlichte im Dritten Reich mindestens einen Zeitschriftenbeitrag, aber auch drei Bücher: Die tiefenpsychologischen Grundlagen des Tragischen, Apollinischen und Dionysischen (1934), Der Weg zum Traum. Ein Beitrag zu seiner Psychologie (1939) und Die psychologischen Wurzeln des Dionysischen und Apollinischen. Ein neuer Versuch (1940). Mit diesen Publikationen verbinden sich Teile einer ungewöhnlichen Geschichte und Biografie. Der 1897 geborene Arzt Mette hatte 1925 in Dessau mit dem Schriftsteller und Kunsthistoriker Kurt Liebmann den Dion-Verlag gegründet. Ihr Ziel war es, »sich für die Verbreitung expressionistischer Dichtung und Kunst einzusetzen und 705 Dieser war offenbar ein Vorläufer des Zentralblatt-Beitrags. Michael Schröter spricht bezüglich des Letzteren von einer »revidierten Fassung« (Schröter 2000a, S. 19). 706 Wie auch neuere Forschungen über Traditionslinien des Unbewussten bestätigen (z. B. Buchholz/Gödde 2011, S. 24–28; Goldmann 2005, S. 140–145).
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dabei wissenschaftliche Schriften mit einzubeziehen, die Kunstfragen berührten« (Liebmann/Mette 1970, S. 65). Im April 1932 wurde Mette in den deutschen PEN-Club aufgenommen (Mette-Tagebücher).707 Der zuvor sehr am Marxismus interessierte Mette scheint sich zunächst gut ins Dritte Reich eingefügt zu haben, was zahlreiche Mitteilungen in seinen Tagebüchern belegen. So notierte er am 31.5.1934 über sich und seine Familie: »Wir sind außerordentlich zufrieden. Die Lage mit meiner Praxis, meinem literarischwissenschaftlichen In-Erscheinung-Treten, unsere Lebensart und die schöne Entfaltung des Kindes […] befriedigt uns ganz und gar.« Doch Rückschläge blieben nicht lange aus. Zunächst wurde Mettes 1934 im Dion-Verlag veröffentlichte Schrift Die tiefenpsychologischen Grundlagen des Tragischen, Apollinischen und Dionysischen indiziert. Es ist unwahrscheinlich, dass Mettes Bezugnahme auf die Tiefenpsychologie zum Verbot beitrug. Wie ich später anhand des Zentralblattes für Psychotherapie zeigen werde, war der Begriff »Tiefenpsychologie« wohl niemals tabuisiert. Aber das Buch – die Niederschrift einer von Mette 1934 am Berliner Psychoanalytischen Institut gehaltenen Vorlesungsreihe – enthielt ja auch vielfach psychoanalytische Gedankengänge und entsprechendes Vokabular, zahlreiche Verweise auf Freud, Bernfeld, Reik, Sachs und andere Analytiker. Ein wesentlicher Bezugspunkt für Mette war Friedrich Nietzsche. Dabei wollte er den Philosophen nicht als angeblichen Psychoanalyseschöpfer anstelle von Freud setzen, sondern er beabsichtigte, Nietzsches Anschauungen »mit psychoanalytischen Arbeiten zu vergleichen« sowie auf »Grundeinsichten« Nietzsches und deren »Bestätigung seitens unserer Wissenschaft« hinzuweisen (Mette 1934, S. 33). Insbesondere diese Intention dürfte ausschlaggebend für die Indizierung des Buches gewesen sein, legten doch Hitler und andere NS-Größen Wert darauf, Nietzsche als einen der Ihren zu vereinnahmen. Vielleicht hatte es Mette auch geschadet, dass er gezielt die oftmals nationalsozialistisch gesinnte Ärzteschaft auf seine Publikation hinwies, indem er im Deutschen Ärzteblatt, 1934, Heft 35 über Zwei psychologische Begriffe Nietzsches schrieb.708 Da Mette nicht nur Autor, sondern auch Verleger seines Buches war, bekam er es am 8.5.1935 von der Gestapo schriftlich, dass seine Schrift »wegen ihrer zersetzenden Tendenz und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschlagnahmt und eingezogen« werde. Im September 1935 erfolgte der nächste Schlag: Liebmann musste »gemäß Bestimmung der Reichsschrifttumskammer […] 707 Diese Tagebücher wurden mir von Regine Lockot zur Verfügung gestellt. Zusätzliche biografische Informationen zu Mette in Bernhardt (2000, S. 176f.). 708 Dieser Artikel begann mit den, so L.M. Hermanns, »zeittypischen Worten: ›Die Einstellung des ärztlichen Denkens auf das Volksganze‹« (Hermanns 1989, S. 49).
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als 25%iger ›Nichtarier‹« offiziell aus dem Dion-Verlag ausscheiden (Liebmann/ Mette 1970, S. 69). Eine Konsequenz des Buchverbotes war zudem, dass Mette die weitere Vorlesungstätigkeit am Berliner Psychoanalytischen Institut untersagt wurde (Hermanns 1989, S. 40). Dies dürften seine dortigen Psychoanalytiker-Kollegen so entschieden haben – denn das Institut war zu diesem Zeitpunkt formal noch eigenständig. Vielleicht befürchteten sie, das Verbot für Mettes Buch könnte ein schlechtes Licht auf das Institut werfen, und wollten sich von ihm distanzieren. In Mettes Tagebüchern ist allerdings nachzulesen, dass er mit seinen Institutskollegen in offenbar weiterhin gutem Kontakt blieb. Er notierte keinerlei kritisches Wort über sie, auch nicht in einem 1946 geschriebenen Brief an Werner Kemper, in dem er ebenfalls dazu Stellung nahm.709 Trug er deren Taktik mit, oder akzeptierte er sie zumindest? Möglicherweise gehörte es zu dieser Abwehrstrategie, dass er am 15.10.1935 aus der DPG austrat. Er selbst begründete das später damit, dass es ihm darum gegangen sei, »die Existenz seines Verlages insgesamt zu sichern und vor dem Verbot zu schützen« (ebd.). Glaubte er, seine offizielle Zugehörigkeit zu einer analytischen Organisation gefährde seine Verlagsgeschäfte? Wenn ja, dann nicht lange: Bereits am 9.9.1936 trat er wieder in die DPG, dann auch ins Deutsche Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie ein (Mette-Tagebücher). 1938 stellte er einen, pflichtgemäß mit »Arier«-Nachweis versehenen Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, dem offenbar stattgegeben wurde (ebd.). Schon 1935 hatten Mette und Liebmann beschlossen, wie sie 1970 schrieben, »die von uns vertretenen, dem Hitler-Faschismus widerstrebenden Ideen so zu tarnen, daß die Publikationen der Beschlagnahmung nach Möglichkeit entgingen« (Liebmann/Mette 1970, S. 69f.). Damit waren sie erfolgreich, auch bei Mettes eigenen Schriften. Sein 1939 veröffentlichtes Buch Der Weg zum Traum. Ein Beitrag zu seiner Psychologie blieb unbehelligt, obwohl auch hier, wie die rezensierende Zürcher Zeitung erkannte, »Verständnisbereitschaft für die Phänomene des Träumens und ihre ›tiefenpsychologische‹ Deutung« geweckt wurde. Allerdings, hieß es dort weiter, verzichte Mette »sowohl auf die übliche Terminologie wie auch auf die konkreteren ›anstößigen‹ Interpretationen« (zitiert in Hermanns 1989, S. 39). In der Tat fehlten zwar klare Verweise auf die Psychoanalyse, Sachkundige konnten aber Anleihen bei Freuds Traumdeutung ausmachen, zum Beispiel wenn Mette davon sprach, dass »jedem geschulten Traumdeuter auch der Ersatz einer Person oder Sache durch ihr ausgesprochenes Gegenteil vertraut« sei (Mette 1939, S. 17). Aber deutlicher und öfter als an Freud lehnte sich Mette hier an die 709 Dieser Brief, verfasst am 27.7.1946, wurde mir von Ludger M. Hermanns zur Verfügung gestellt.
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Jungsche Variante der Trauminterpretation an (z.B. ebd., S. 19, 24, 26, 48f.). Die Reaktionen in Deutschland waren geteilt. Die ärztliche Zeitschrift Hippokrates druckte einen Verriss: »Ein Buch, das nichts Neues bringt, aber noch sehr viel in unklaren Freudschen Ideen steckengeblieben ist. Es gehört einer vergangenen Zeitepoche an« (zitiert in Hermanns 1989, S. 39). M. H. Göring dagegen hob im Zentralblatt für Psychiatrie und Neurologie lobend hervor, dass »jeder, der tiefenpsychologisches Verständnis hat, das Mettesche Buch, das künstlerisch und anschaulich geschrieben ist, mit Genuß lesen« werde (zitiert in Mette 1940, S. 71). 1940 veröffentlichte Mette Die psychologischen Wurzeln des Dionysischen und Apollinischen. Ein neuer Versuch. 1963 schrieb er, dieses Buch »stellte den riskanten Versuch dar, das Allerwesentlichste der früheren Konzeptionen doch erneut in die Debatte […] zu stellen […]. Ein Einschreiten folgte diesmal denn auch nicht, obgleich in ausländischen Rezensionen die Freudsche Grundlage auch dieses Bändchens festgestellt wurde« (zitiert in Hermanns 1989, S. 40). Der Titel suggerierte jedoch mehr Ähnlichkeit mit dem indizierten Werk von 1934 als tatsächlich vorlag. Zwar spielte Nietzsche wieder eine Hauptrolle, und es wurde auch deutlich, dass Mette auf dem Boden der Tiefenpsychologie stand. Offene Psychoanalysebezüge und das meiste analytische Vokabular aber waren getilgt. Von »Unbewusstem« oder »Verdrängung« war auch diesmal, jedoch selten, die Rede; von den 1934 zahlreich verarbeiteten analytischen Quellen blieben nur einige wenige erhalten (Mette 1940, S. 69f.). Es war aber auch insgesamt ein fast vollständig neuer Text. J.H. Schultz schrieb in seiner Rezension im Zentralblatt für Psychotherapie ( Jg. 1941, Heft 4, S. 190), die Grundgedanken des Buches reichten »von der regressiv-befreienden Komik des ›Zwitters von Kindlichkeit und Reife‹, des Clowns ›dionysischen‹ Formates […] zur apollinischen ›Nachsommer‹-Klarheit Albert Stifters und zu den synkretistischen Schöpfungen echter Tragik«. Dem konnten vermutlich nur kulturell Hochgebildete viel abgewinnen. Daher dürfte es sich aus NS-Sicht kaum noch um ein besonders gefährliches Buch gehandelt haben. Dazu passt, dass J.H. Schultz resümierte, diesem Buch gebe »eine wirkliche deutsche Tiefenpsychologie ohne schulische Bindung Richtung« (ebd.).710 710 Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied sich Mette, in der DDR wirksam zu werden. Er distanzierte sich zunehmend von der Psychoanalyse, insbesondere von deren Tendenz, die gesellschaftliche Realität auszublenden, und bevorzugte nun Pawlow (und auch wieder Karl Marx). 1950 wurde er Mitglied der DDR-Volkskammer, 1956 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft im Gesundheitsministerium, 1958 Mitglied des Zentralkomitees der SED (siehe Bernhardt, S. 176f., 181ff.; Hermanns 1989, S. 42). Dennoch veröffentlichte er 1956, zum 100. Geburtstag Freuds, die einzige Freud-Biografie, die in der DDR erscheinen sollte, und betonte hier nicht nur Kritikwürdiges, sondern auch das, was er für Freuds bleibende Verdienste hielt (Mette 1958). 1985 starb Alexander Mette in Berlin (Ost).
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Für Carl Müller-Braunschweig711 benennt der Grinstein-Index in der fraglichen Zeit vier Publikationen. Die erste ist der Artikel Psychoanalyse und Weltanschauung712 in der mit immerhin 15.000 Exemplaren713 erscheinenden nationalsozialistischen Wochenzeitung Der Reichswart vom 22.10.1933.714 Darin bezeichnete er zunächst 1893 als »Geburtsjahr der Psychoanalyse« und wies auf die anfängliche Kooperation von Joseph Breuer und Sigmund Freud hin. Auf den Letzteren als »Schöpfer der Psychoanalyse« bezog er sich dann noch einmal, als er sich bemühte, falsche Vorstellungen von der Analyse auszuräumen. Hierzu nutzte er das – schon erwähnte – Freud-Zitat (Freud 1923a, S. 227f.), dem zufolge die Psychoanalyse keinesfalls »die Heilung neurotischer Beschwerden vom ›freien Ausleben‹ der Sexualität« erwarte, sondern durch das »Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste […] eine Beherrschung derselben« ermögliche (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 97). Vermutlich wollte sich Müller-Braunschweig so auch erneut von Wilhelm Reich abgrenzen. Er hatte offenbar auch erkannt, dass sich der NS-typische Vorwurf der Sexualfixierung gut durch Verweis auf den Todestrieb entkräften ließ: Nicht nur sexuelle Konflikte kennzeichneten das Triebleben, setzte er fort, sondern auch die »allen Menschen innewohnenden gewaltsamen, feindseligen, destruktiven Tendenzen«. Letztlich rekapitulierte er, wozu die Analyse seiner Meinung nach imstande sei: »Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die 711 Zu seiner Biografie siehe Lockot (2002, S. 118–126). 712 Bezüglich dessen der Grinstein-Index allerdings suggeriert, es wäre nur ein Neuabdruck eines bereits 1930 in psychoanalytischen Periodika veröffentlichten Textes. Darauf hat 1983 schon Helmut Dahmer aufmerksam gemacht (siehe auch Dahmer 1994a, S. 132f.; vgl. H. Müller-Braunschweig 1994; Schröter 2009, S. 9ff.; Lockot 2002, S. 141ff.). Bemerkenswerterweise nannte offenbar auch Reich einen Vortrag, den er wohl 1929 in der WPV hielt, Psychoanalyse und Weltanschauung (Reich 1986, S. 157). 713 ALA-Zeitungskatalog 1933 (Auskunft des Institutes für Zeitungsforschung vom 2.11.2009). 714 Der Reichswart (zeitweise erschienen mit den Untertiteln Wochenschrift für nationale Unabhängigkeit und deutschen Sozialismus bzw. Organ der Deutschen Glaubensbewegung (Staatsbibliothek Berlin, Ad 768 MR) war zwar eindeutig nationalsozialistisch ausgerichtet, jedoch im Vergleich zu Stürmer oder Angriff politisch gemäßigter. Schon die bloße Tatsache, dass es hier möglich war, offen für die Psychoanalyse einzutreten (in einer späteren Ausgabe wurde daran noch einmal sachlich angeknüpft), belegt die weiter gesteckten Toleranzgrenzen des Reichswart: Ein solcher Artikel wäre in den anderen beiden NS-Periodika undenkbar gewesen. Das lag nicht zuletzt daran, dass der Reichwart-Herausgeber Graf Ernst zu Reventlow eine teilweise tolerantere politische Haltung als Hitler und Goebbels hatte (vgl. Krebs 1959, S. 220–225). Neben an anderen Stellen ausgedrückter Wertschätzung urteilte Goebbels am 22.3.1935 über Reventlow: »Er ist und bleibt ein Außenseiter« (Goebbels 1992, Bd. 3, S. 855).
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den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen. Damit leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung neu zu dienen« (ebd.).
Der Artikel enthielt also zum einen korrekte Informationen über die Psychoanalyse und propagierte einige von deren Ideen. Zum anderen stellte er, insbesondere in seinen abschließenden Sätzen, eine offene Anbiederung an das NS-System dar. Es wäre allerdings unfair, Müller-Braunschweig allein diese Sätze anzulasten: Geschrieben hatte er den Text auf Bitten von Felix Boehm. Und das, was den wesentlichen Inhalt des Artikels ausmachte, war zuvor sogar mit der IPV-Leitung abgestimmt worden. Dazu später. Das Zentralblatt für Psychotherapie von 1939 (Heft 3, S. 168–176) enthält Müller-Braunschweigs Beitrag Forderungen an eine die Psychotherapie unterbauende Psychologie. Es handelte sich dabei ursprünglich um einen Vortrag, gehalten auf dem neunten Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie im Oktober 1937. Hier sprach Müller-Braunschweig zwar unter anderem über den Sinn der Lehranalyse, aber weder verwendete er den Namen »Freud« noch das Wort »psychoanalytisch«. Dennoch fielen typisch analytische Begriffe wie »Verdichtung«, »Verschiebung«, »Verdrängung«, »Widerstand«. Anscheinend hielt er nun die Psychoanalyse für unwissenschaftlich, denn er forderte nachdrücklich, der Psychotherapie durch eine erst noch zu schaffende Wissenschaft eine solide Basis zu geben. Konkrete Zeitbezüge stellte er nicht her. In der Zeitung Berliner Illustrierte Nachtausgabe vom 22.8.1939 findet sich unter der Überschrift »Wer ist denn nun hysterisch?« ein Interview mit Müller-Braunschweig. Dieser informierte hier, wenn auch erneut ohne offenen Freud-Bezug, auf teils klar psychoanalytische Weise über Hysterie, unbewusste Mechanismen und »Traumarbeit«. Es fiel auch das Freud-Wort vom Traum als »Hüter des Schlafs« (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 162). Im Doppelheft 4/5 des Zentralblattes für Psychotherapie, S. 273–287 stellte Müller-Braunschweig J. Meinertz’ Buch Psychotherapie – eine Wissenschaft! ausführlich vor und nutzte dies, um eigene Vorstellungen von einer zu entwickelnden integrativen Psychotherapie darzulegen: »[W]enn wir auf eine kommende deutsche Psychotherapie hoffen wollen, können wir keinen unorganischen Synkretismus der Schulen, auch keinen Machtkampf mit dem Ziel der gewaltsamen Unterdrückung des Partners wie in einer unglücklichen
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Ehe, auch keine faulen Angleichungen gebrauchen, sondern nur eine aus innerer lebendiger Auseinandersetzung und geistiger Bereicherung der Richtungen stammende schöpferische Synthese« (ebd., S. 274).
Genau dafür meinte er die passende Grundlage bei Meinertz zu finden, der unter anderem wie folgt argumentierte: »So unrichtig es ist, dem Sexuellen allein Bedeutung beizumessen, so darf man auch nicht sagen, das Sexuelle ›gebe‹ es eigentlich gar nicht, es sei nur Symbol für etwas anderes (für das ›Göttliche‹, wozu manche Jung-Schüler neigen, oder, bei der Individualpsychologie Adlers, nur Maske für das Geltungsstreben). Das Triebhafte hat seinen Eigenwert. Warum ihm den nicht gönnen?« (zitiert ebd.).
Müller-Braunschweig vermied es auch diesmal, Freud zu erwähnen. Das Wort »Psychoanalyse« tauchte zwar auf, aber nur in einem Satz von Meinertz (ebd., S. 278). Diverse weitere Meinertz-Zitate folgten, schließlich auch dieses: »[I]n unseren Tagen ist die uralte Ahnung, daß auch die Erkenntnis ihre bluthafte Verwurzelung, zumal im eigenen Volkstum besitzt, zur unwiderstehlichen Überzeugung geworden.« Wenige Zeilen später konstatierte Müller-Braunschweig, er sei »in der angenehmen Lage, dem Verfasser nicht nur in seiner Grundhaltung, sondern auch in allen wesentlichen Positionen zustimmen zu können« (ebd., S. 284). Zumindest indirekt erklärte Müller-Braunschweig damit wohl sein Einverständnis mit Meinertz’ »völkischer« Gesinnung.715 Vermutlich von Müller-Braunschweig selbst stammt die Behauptung, er habe nach seinem missglückten Versuch, im Frühjahr 1938 – nach der ÖsterreichAnnexion – das Wiener Psychoanalytische Institut und den Internationalen Psychoanalytischen Verlag in DPG- bzw. DIPFP-Einrichtungen zu überführen (Rothländer 2012, insbesondere S. 59–85), ein Publikationsverbot erhalten (Brecht et al. 1985, S. 160; Lockot 2002, S. 117). Dies wird sowohl durch den Beitrag von 1939 als auch durch das ebenso umfangreiche »Referat« von 1940 widerlegt. Der 1939 publizierte Text war zwar schon 1937 verfasst worden, ein wirkliches Publikationsverbot hätte aber die Veröffentlichung sämtlicher, nicht nur der neueren Texte verhindert.716 Es hätte auch Buchbesprechungen einschließen müssen, erst 715 Wenn auch die »völkische« einen wichtigen Beitrag zur nationalsozialistischen Ideologie lieferte, waren beide doch keineswegs deckungsgleich (siehe z. B. Mosse 1979, S. 5f.; Breuer 1999, S. 80–89). 716 Dass das Zentralblatt einen so langen, unbeeinflussbaren technischen Vorlauf hatte, dass sich ein 1938 gegen Müller-Braunschweig ausgesprochenes Verbot im dritten Heft des
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recht, wenn sie so außergewöhnlich lang waren (mehr als 14 Seiten) und so viele eigene Gedanken des Rezensenten enthielten wie Müller-Braunschweigs 1940er Zentralblatt-Beitrag. Dieser kann zudem frühestens 1939 entstanden sein: Das besprochene Buch war erst in jenem Jahr erschienen. Vermutlich unterlag MüllerBraunschweig also nur Publikationseinschränkungen, die wohl auch auf Fachpublikationen beschränkt gewesen sein dürften. Andernfalls wäre der Artikel in der Berliner Nachtausgabe vom August 1939 nicht erklärlich. Hans March717 war nicht nur Arzt und Psychoanalytiker, sondern 1933 bereits seit Jahren in der »Geschäftsstelle des Deutschen Sittlichkeitsbundes vom Weißen Kreuz« seelsorgerisch tätig (March 1933, S. 1). Im Dezember 1933 wurde er außerordentliches, im Mai 1936 ordentliches DPG-Mitglied.718 1941 stellte auch er – wie zuvor Mette – einen Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer (Lockot 1994, S. 100, Fn 26). Kennzeichnend für ihn ist eine Verbindung von Tiefenpsychologie und Religion, von progressiv und konservativ anmutenden Überlegungen. Für die Zeit des Dritten Reiches lassen sich sechs Publikationen Marchs nachweisen. Zwei Beiträge erschienen 1934 bzw. 1942 in theologischen Zeitschriften, 1936 veröffentlichte er den Artikel Ärztliche Haltung und die Diagnose Psychopathie in der Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung. Gelesen habe ich seine zwei schmalen Bücher – Bausteine zu einer evangelischen Sexualerziehung und Seelsorge (1933) und Vom Helfen. Ein Beitrag zur Selbsterkenntnis (1942) – sowie seinen Beitrag zur dritten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie: Pubertätskonflikte und Lebensaufgaben (Bilz 1941, S. 57–77). Bausteine zu einer evangelischen Sexualerziehung und Seelsorge erschien zwar 1933, bestand aber aus Texten, die March andernorts schon früher (damit auch vor seiner DPG-Mitgliedschaft) veröffentlicht hatte. Die aktuellen politischen Situationen, in denen diese Texte entstanden, werden von ihm nicht bewertet. March war, erfährt man hier, in seiner seelsorgerischen Arbeit permanent mit »Notschreien verzweifelter Menschenkinder« konfrontiert, die, einer, »wie sie meinen, christlichen« Notwendigkeit gehorchend, oft »schon jahrelang vergeblich« gegen vermeintlich »schmutzige Sünde[n]«, vor allem die der Onanie, Jahrganges 1939 – welches vermutlich im Frühsommer des Jahres erschien – immer noch nicht umsetzen ließ, halte ich für ausgeschlossen. 717 Nähere biografische Angaben zu ihm habe ich nur bei Regine Lockot (1994, S. 100, Fn) gefunden. Allerdings sammelt zurzeit auch Armin Pollmann Informationen über March, die zu einer späteren Veröffentlichung führen könnten (persönliche Mitteilung vom 14.6.2011). 718 IPV-Korrespondenzblatt 1934/20, S. 133, 1936/22, S. 435.
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»ankämpfen«. Dieser Kampf sei, so March, zum Scheitern verurteilt und auch »nie wirklich evangelisch«. Dem stellte er seine, abgesehen von der Gottgläubigkeit, sehr »freudianisch« klingende Haltung entgegen: »Sexuelle Triebe lassen sich nur begrenzt ohne Schaden unterdrücken oder verdrängen, sind sie doch gottgeordnete Lebenstriebe, deren sich kein Mensch an sich zu schämen braucht […]. Es gilt nur, sie ›mit Vernunft‹ zu leiten« (ebd., S. 2). Bezüglich der Onanie verwies er darauf, dass sie »von schätzungsweise 90 Prozent der Menschen zum mindesten vorübergehend« praktiziert werde (ebd., S. 39) und dies bereits bei ganz normalen Säuglingen beginne (ebd., S. 57). »Tatsächliche organische Schädigungen als direkte Folgen der Onanie« seien »mit Sicherheit überhaupt nicht nachzuweisen. Die ›schädlichen Folgen‹ entspringen […] den mannigfachen ängstlichen und schuldhaften Erwartungen, die der einzelne hegt, und schwinden mit deren Beseitigung« (ebd., S. 97).719 Das Wort Psychoanalyse fiel nicht, dennoch gebrauchte er mehrfach deren Vokabular (z.B. ebd., S. 40f., 45f.), berief sich einmal auch direkt auf Freud (ebd., S. 47) und sprach ansonsten gelegentlich von Tiefenpsychologie (ebd., S. 55). Im Anhang empfahl er unter anderem Schriften der Psychoanalytiker Freud, Pfister und Marcinowski, von Alfred Adler und dem – von Nationalsozialisten bald darauf verbotenen – Sexualforscher Max Marcuse, allerdings auch diverse »eugenische« Schriften wie Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens von Binding und Hoche (ebd., S. 100ff.). Vor der Lektüre aller »rein naturalistisch orientierten populären Aufklärungsschriften« hatte March zuvor gewarnt: Sie könnten die Gefahr heraufbeschwören, »noch nicht vorhandene Lüsternheit, noch unbewußt und unberührt schlummernde Triebenergien und -neigungen zu wecken« (ebd., S. 97). Bei der Lektüre der Schriften des – heute wohl nahezu vergessenen – Hans March bin ich auf ganz erstaunliche Vorwegnahmen gestoßen. So enthält Bausteine zu einer evangelischen Sexualerziehung und Seelsorge Erkenntnisse, wie sie erst Jahrzehnte später in der Familientherapie720 populär werden sollten. March schilderte nämlich auch die neurotisierende Wirkung verbreiteter elterlicher Verhaltensweisen (ebd., insbesondere S. 79–93). Das unerwünschte Kind egozentrierter Eltern könne beispielsweise von diesen »als Störfaktor« empfunden werden, sodass sie sich »mehr oder weniger bewußt gegen diesen Eindringling stellen. Der Kindermord, den man vorgeburtlich versäumte, kann dann in den mannigfachsten körperlichen und seelischen Mißhandlungen von beiden Eltern nachgeholt werden. Allenfalls
719 Deutliche Anklänge an die diesbezüglichen Thesen und Formulierungen W. Reichs oder zumindest bemerkenswerte Übereinstimmungen mit diesen. 720 Unter anderem in H.-E. Richters »Substituts«- und in H. Stierlins »Delegations«-Konzepten.
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räumt man dem Kind insoweit eine Lebens- und Existenzberechtigung ein, als es sich dem selbstisch engen Glück der Eltern in irgendeiner Weise ergänzend einfügt und dasselbe nicht zu stören wagt. Ein unbewußter seelischer Kompromiß […] bietet sich dadurch, daß man das Kind mit mancherlei idealen und ehrgeizigen Erwartungen und Forderungen besetzt, denen man […] einmal selbst nachstrebte, ohne sie möglicherweise für sich erreicht und erfüllt zu haben. So wird das Kind im engsten Sinne zur Fortsetzung des eigenen Ichs gemacht, als solches kann es […] mitgehegt und geliebt werden, soweit es diesen Ansprüchen gerecht zu werden vermag« (ebd., S. 80).
1951, in seinem Buch Kernfragen des Lebens. Von Not und Leid, von Kind und Ehe, vom Helfen, sollte er dieses Thema unter Rückgriff auf den obigen Text dann weit ausführlicher darstellen (March 1951, S. 42–74). Onaniekonflikte in den an ihn gerichteten Briefen standen erneut im Zentrum von Marchs 1940er Vortrag Pubertätskonflikte und Lebensaufgaben (abgedruckt in Bilz 1941). Einmal sprach er von »tiefenpsychologisch«, nutzte ansonsten aber kein analytisches Vokabular. Dass er auch Theorien des – diesmal ungenannt bleibenden – Freud vertrat, wird mehrfach deutlich. Unter Onaniekonflikten litten, so erfährt man nun, auch »Männer, die in irgendeiner Form einer Jugendarbeit stehen (Lehrer, Jugendführer usw.)« und deshalb Angst hätten, als »Führer« ungeeignet zu sein, sowie »aktiv in Turnen und Sport tätige Jugendliche, Träger des Sportabzeichens«. Wenn, so March weiter, »ein Jüngling« seine »Bitte um Hilfe in der Onanie- und Pollutionsfrage« 1931 damit begründet habe, er wolle »einen Körper, der strotzt vor Kraft, wie ihn jeder Deutsche braucht im kommenden Kampf«, so werde man »einer solchen Haltung sittlichen Ernst und männliche Zielsetzung nicht absprechen können. Erbbiologische Minderwertigkeit ist aus den Briefen nur selten herauszulesen. Ganz vereinzelt findet man Psychosen, Epilepsie, Fälle von offenbarer Verwahrlosung und ausgesprochener Psychopathie« (March 1940, S. 63). Ich kann nicht beurteilen, ob nicht vielleicht doch ein wenig Mut dazu gehörte, auch von »sittlich ernsten« Deutschen, gar »Führern«, öffentlich zu sagen, dass sie onanierten. Eine Affinität zur »Eugenik« wird erneut deutlich. Diese scheint bei March auch nach 1945 weiter bestanden zu haben.721 721 Dagmar Herzog zitiert March mit folgender Äußerung aus dem Jahr 1955: »Hinter uns liegt eine Zeit, die erfüllt war von den Forderungen und Erkenntnissen der Notwendigkeit der bewussten Rassenhygiene und wissenschaftlichen Eugenik. Wir nennen […] nur […] Hermann Muckermann, von dem das gewichtige Wort stammt, dass ›nur die Einund Dauerehe als rassenhygienischer Urquell für das kommende Geschlecht in Frage kommen kann‹. Es gibt keinen anderen Weg, die Abstammungsgrundlage rein zu erhalten. […] Wem heute noch das physische und psychische Gedeihen seines Volkes am Her-
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Bereits in diesem Vortrag klang ein Thema an, dem March ebenfalls große Bedeutung beimaß: die Psychologie des Helfens. Über die Sexualberatung hielt er fest: »Grundvoraussetzung zum richtigen Antworten ist jedoch, daß der Berater selbst angstfrei, ohne Skotom und Befangenheit die Gesamtthematik der in den Pubertätskonflikten wesenden Fragekomplexe in sein persönliches Leben eingeordnet hat, daß er selbst durch seine Pubertätskonflikte hindurch zu reifer Lebenshaltung fand« (ebd., S. 77).
In seinem 1942 erschienenen Büchlein Vom Helfen. Ein Beitrag zur Selbsterkenntnis formulierte er diese Gedanken weit gründlicher aus. Auch hier bezog sich March nicht explizit auf die Psychoanalyse, aber er nahm wesentliche Aspekte dessen vorweg, was der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer ab 1977 als »Helfersyndrom« bekannt machen sollte (vgl. Schmidbauer 1979). Nach einem bezüglich des NS-Systems eher zustimmend klingenden Anfangssatz schrieb March, nur wenige Menschen wüssten, dass »bewußtes und systematisches Helfenwollen seelischer oder sozialer Art erst aus einer tiefen und lebendig erfahrenen Kenntnis der eigenen und der fremden Seele geleistet werden kann«. Streng genommen gebe es »kein rein soziales Helfen ohne seelische Mitwirkung und Rückwirkungen«. Über die »seelischen Hintergründe und Strebungen des Helfers« – er benannte speziell Psychotherapeuten, Seelsorger und Vertreter »sozialer Fürsorge« – gebe es jedoch »noch kaum eine systematische Untersuchung« (March 1942, S. 3). zen liegt, der kann nicht eindringlich genug vor der Gefahr gewarnt werden, unter der tönenden Phrase fortschrittlicher Ehe- und Sexualreformen auf diesem Gebiet zu experimentieren« (Herzog 2005, S. 124). Uwe Kaminsky schreibt allerdings, dass March in den 1950er und 1960er Jahren im Rahmen der damals in der BRD geführten Debatte über Sterilisation deutlich auf deren unabsehbare Auswirkung »auf das mitmenschliche sittliche, soziale und kulturelle Leben« hingewiesen habe (Kaminsky o.J., S. 66 und Fn 29). March engagierte sich auch als Gutachter für NS-Opfer und schrieb Bücher bzw. gab solche heraus, die der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit dienten, wie Verfolgung und Angst in ihren leib-seelischen Auswirkungen (1960) oder Lebensschicksale in psychiatrischen Gutachten (1959). In letzterem Buch veröffentlichte er sogar ein eigenes »eugenisches« Gutachten von 1943 (March 1959, S. 241–276), allerdings vermutlich nicht in der Originalfassung. Zu dieser Vermutung komme ich, da er z.B. das »Schwärmen« für Hitler und den Nationalsozialismus seitens der begutachteten Patientin ohne Weiteres als Krankheitszeichen einordnete (ebd., S. 265). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich March auch nach 1945 in hohem Maße dem widmete, was Ernest Jones »sozio-politische Faktoren« nannte, und dass March damit innerhalb der Psychoanalyse eine aus meiner Sicht positive Ausnahme war.
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Des Weiteren bemühte er sich, durch »vorwiegend tiefenpsychologische Erkenntnisse« den Blick für »unbewußte Wurzeln des Helferdranges zu öffnen« (ebd., S. 8). Diese Wurzeln wies er zunächst in der Kindheit nach. Fehle hier zum Beispiel »das Erleben gesunder, reiner Liebe«, so bleibe »die Sehnsucht, sie zu finden, bestehen« und könne zum unbewussten Motiv des Helfens werden (ebd., S. 17). Hätten einen die Eltern »auch über die Kinderjahre hinaus« wie ein Kleinkind umsorgt, dann habe man sich damit identifiziert und versuche im »Helfer- oder Führerberuf« womöglich, »die Rolle des fürsorgenden, ratenden […] Vaters« zu übernehmen. Dementsprechend fände in den »sozialen oder karitativen Berufe[n]« »eine nicht unerhebliche Anzahl eigentlich lebensgehemmter und lebensunsicherer Menschen […] Unterschlupf« (ebd., S. 18f.). Wer aber auf diese Weise seine Pflegebefohlenen in »unmündige, hilflose Kinder« verwandeln und bevormunden wolle, könne »in Enttäuschung und Bitterkeit« enden (heute würde wohl von »Burnout« gesprochen), da die Schützlinge sich oftmals nicht in diese Rolle fügten. Ausführlich wandte sich March dann diversen anderen neurotischen Motivationen des Helfens und deren Auswirkungen auf Hilferesultat, Selbstbild und Selbstwertgefühl von Helfern zu (ebd., insbesondere S. 19–31). Erneut verband er dies mit religiös motivierten Aussagen, die – was ihm klar gewesen sein muss – auch als Kritik der damaligen gesellschaftlichen Situation verstanden werden konnten. So verwies er per Bibelzitat darauf, dass es vor Gott keinen Unterschied zwischen den Menschen gebe: »Da ist nicht mehr Jude oder Grieche, nicht mehr Knecht oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau; nein ihr seid allesamt eins in der Gemeinschaft mit Christus Jesus.« Zwar würden dadurch »Rassen-, Standes-, und Individualunterschiede nicht verneint«, diese würden »bestehen bleiben, solange die Welt besteht«. Durch »die Botschaft des Christentums« seien sie nur »in einem anderen Lichte gesehen« worden; unter den »Glaubensgenossen« sei »ein einzigartiges Gemeinschaftsleben« aufgebrochen, »voll Liebe und Hilfsbereitschaft über Rassen-, Klassen- und Familienunterschiede hinweg« (ebd., S. 4f.). Auch diese, wie mir scheint, bezüglich ihrer Analyse des Helfens bahnbrechende Schrift veröffentlichte March, geringfügig verändert, 1951 erneut: als Teil seines Buches Kernfragen des Lebens. Von Not und Leid, von Kind und Ehe, vom Helfen (March 1951, S. 75–126). Zu den wenigen Veränderungen, die er vorgenommen hatte, gehört der Anfang. 1942 hieß es: »Wohl noch keine Zeit war in einem Ausmaß wie die unsere von organisierten staatlichen und kommunalen Hilfs- und Erziehungsbestrebungen erfüllt« (March 1942, S. 3). Nun schrieb er, Deutschland war während der Zeit des Dritten Reiches
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»in einem Ausmaß, wie wohl nie zuvor, mit staatlichen und kommunalen Hilfs- und Erziehungseinrichtungen durchorganisiert. Es sei nur an die tönenden Namen wie ›NSV. = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt‹ […] erinnert. Damit wurde das Helfen […] zu einer propagandistischen Angelegenheit des Staates und weithin die Liebe ertötet, die doch die wesenhaft treibende Kraft einer sozialen Gesinnung sein sollte« (ebd., S. 75).722
Werner Kemper723 brachte es im Dritten Reich laut Grinstein-Index auf sieben Veröffentlichungen, darunter vier Zeitschriftenartikel mit Themen aus der Eheund Sexualberatung, erschienen zwischen 1940 und 1942. Mit zwei weiteren Beiträgen beteiligte er sich an Büchern bzw. Tagungsbänden: Die Indikation zur Psychotherapie (1938) und Zum Frigiditätsproblem (1940). Und schließlich veröffentlichte er 1942 auch noch ein eigenes Buch: Die Störungen der Liebesfähigkeit beim Weibe. Die Indikation zur Psychotherapie war der Eröffnungsvortrag der zweiten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, die im September 1938 in Düsseldorf stattfand. Der Text ist in deren Kongressbericht nachzulesen (Curtius o.J.). Zunächst teilte Kemper dort mit, »der Zusammenschluß der verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen« habe bereits zu »einer erfreulichen gegenseitigen Klärung und Befruchtung« geführt – und dies »bei Aufrechterhaltung der Eigenheiten der verschiedenen Richtungen« (ebd., 722 Armin Pollmann (persönliche Mitteilung vom 14.6.2011) hält über March unter anderem fest, dass dieser »trotz seiner exponierten ärztlichen Stellungen zu keiner Zeit Parteimitglied« war. Er vermutet, dass March durch »sein engagiertes Christentum gegen die nationalsozialistische Ideologie immunisiert« war. Andererseits müsse man »davon ausgehen, dass er in seinem beruflichen Feld Kenntnis von der Beteiligung einiger seiner ärztlichen Kollegen an der Euthanasie und anderen staatlich organisierten Verbrechen hatte und dass er schon mit diesem bloßen Wissen jahrelang in einem ethischen Dauerkonflikt lebte«. 723 Zu seiner Biografie siehe Roudinecso/Plon (2004, S. 530–533), hier allerdings mit diversen Ungenauigkeiten oder Fehlern, wie Hans Füchtner in seinem ausführlichen Beitrag zu Kempers Leben nachweist (Füchtner 2003). Richtig ist sicher, dass Kemper ein ausgesprochen widersprüchlicher, vielschichtiger und wohl auch vielfach taktierender Mensch war. Während er sich einerseits offenbar erfolgreich ins NS-System und ins DIPFP einfügte, hielt er andererseits zum Beispiel den Kontakt zu Otto Fenichel, trat noch 1937 in einer internationalen Tagung für Auffassungen von Wilhelm Reich und Edith Jacobssohn ein (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 580–583) und hielt noch 1943 Kontakt zu dem zum Tode verurteilten John Rittmeister, dessen Lehranalytiker er gewesen war. Auch hätte sich Wilhelm Reich sicher nicht noch 1939 mit Kemper getroffen (Füchtner 2003, S. 155), wenn er eine besonders negative Meinung von ihm gehabt hätte, geschweige denn ihm 1948 Verpflegungspakete nach Deutschland geschickt (Reich 2012, S. 5).
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S. 6). Ohne die Psychoanalyse direkt zu nennen, benutzte er dann ihr zugehörige Begriffe wie »Übertragungsneurose« oder »Konversionshysterie« (an der sich die Psychotherapiemethodik »weitgehend entwickelt« habe) und vermerkte, bei bestimmten Neurosen dürfte »die analytische Therapie allein berufen sein, wirklich kausale Therapie darzustellen« (ebd., S. 7ff.). Selbst bei passageren »Heilungskrisen« mit typisch psychotischer Symptomatik sei ihr Einsatz oft lohnenswert. Allerdings solle damit in keiner Weise »die Erbgesundheitsgesetzgebung mehr oder minder überflüssig« gemacht werden. Im Gegenteil werde jeder Therapeut »diese Gesetzgebung nur begrüßen können« (ebd., S. 14). Später fügte er hinzu, »insbesondere die ›großen‹ psychotherapeutischen Methoden sollten wirklich nur dem Kranken vorbehalten bleiben, der für das Volksganze gesehen diesen großen Einsatz lohnt« (ebd., S. 19). Kemper setzte sich auch mit zwei Einwänden gegen die Anerkennung »der sog. Tiefenpsychologie« auseinander, »also des Wissensgutes, das die Fachpsychotherapie insbesondere mittels der großen Analyse legal erworben zu haben glaubt«. Zunächst widersprach er der Behauptung, die Tiefenpsychologie sei nicht wissenschaftlich überprüfbar. Dann ging er auf die Meinung ein, dass deren »Schöpfer und Hauptträger […] zu weitgehend Juden bzw. jüdischen [sic] Einfluß ausgesetzt gewesen« seien und dass die tiefenpsychologischen »Erfahrungen an jüdischem Patientengut erworben« wurden, sodass sie »dem deutschen Menschen […] im tiefsten Wesen widersprechen und somit abzulehnen« wären (ebd., S. 14). Hier folgte zunächst der übliche Verweis auf »arische« Vorläufer. Aber Kemper betonte auch den Eigenwert »analytische[r] Tiefenpsychologie«: Diese »erwies sich […] als ein neues spezifisches psychotherapeutisches Instrument, durch das wir eine […] sehr tiefgehende, sinnvoll steuerbare zusätzliche Einwirkungsmöglichkeit auf bisher refraktäre Persönlichkeitsbereiche zu besitzen glauben« (ebd., S. 15). In seinem 1942 erschienenen Buch Die Störungen der Liebesfähigkeit beim Weibe akzentuierte Kemper wieder gelegentlich die Bedeutung des Unbewussten (Kemper 1942, S. 50, 162), verwendete Begriffe wie »Libido« (ebd., S. 122) und beschrieb – an Freud angelehnt, ohne ihn zu nennen – die Sexualentwicklung während der Ontogenese (ebd., S. 19ff.). Aber im selben Abschnitt, in dem er die »›große‹ tiefenpsychologische Psychotherapie« würdigte (S. 81ff.), schränkte er deren Anwendbarkeit erneut folgendermaßen ein: »Der Psychotherapeut wird sich in seiner Auswahl auf die Menschen zu beschränken haben, deren Gesamtpersönlichkeit solch hohen Einsatz lohnt. Insbesondere wird er den Typus des erbbiologisch Minderwertigen rechtzeitig zu erkennen und auszuschalten haben. Gerade hier erwachsen dem verantwortungsbewußten Arzt wieder menschlich schwierigste Entscheidungen.«
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Was er mit »ausschalten« und »menschlich schwierigsten Entscheidungen« meinte, lässt sich nicht eindeutig sagen. Hier kann sowohl gemeint gewesen sein, diese »Minderwertigen« aus dem Kreis der Therapiewürdigen auszuschließen, wie auch, sie der Sterilisation und Euthanasie zu überantworten. Das schon erwähnte, auch von Kemper mitentwickelte »Diagnose-Schema« erhöhte jedenfalls für einen Teil der DIPFP-Patienten das Risiko, der NS-Eugenik zum Opfer zu fallen. Wie noch zu berichten sein wird, kam es auch vor, dass ein DIPFP-Psychotherapeut sich offen dazu bekannte, ein »Todesurteil in Form einer Diagnose gestellt« zu haben (ZfP 1940, Heft 2/3, S. 114f.). Dass Kemper der »Eugenik« Positives abgewinnen konnte, geht aus den obigen Äußerungen klar hervor. Auch die Rassenideologie scheint er nicht grundsätzlich abgelehnt zu haben, ohne diese allerdings in zugespitzter Weise zu vertreten. So sprach er davon, dass eine sexualitätsablehnende Haltung »unzweifelhaft aber zugleich auch rassisch bedingt (also biologisch fundiert) sein kann«. Nicht »nur das allgemeine Lebensgefühl, sondern auch das Erlebnis der eigenen Leiblichkeit« sei »beim nordischen Menschen z.B. von dem des Asiaten verschieden« (ebd., S. 23).724 In seinem Buch lieferte Kemper aber vor allem sehr detaillierte Beschreibungen anatomischer Gegebenheiten, physiologischer Abläufe und psychosomatischer Störungen beim Geschlechtsverkehr und gab Informationen zu Prophylaxe und Therapie von Sexualstörungen. Wiederholt wandte er sich dabei gegen »Triebfeindlichkeit«, die er – wie vor ihm bereits Reich (ausführlich 1932 in Der Einbruch der Sexualmoral) – in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung verankert sah. Dem Patriarchat machte er auch zum Vorwurf, dass dessen jahrtausendelanger Einfluss »eine Einengung für das Weib in seinen gesamten geistigen und leiblichen Entfaltungsmöglichkeiten« sowie eine doppelte, die Frau diskriminierende Sexualmoral erzeugt habe – worunter auch die (weibliche) Sexualität leide. Eine solche ungerechtfertigte Abwertung der Frau sei »auch bei uns immer wieder anzutreffen« (Kemper 1942, S. 23–25). Das ließe sich lesen als Kritik an der ja auch im Nationalsozialismus verbreiteten Vorstellung, die Frau habe sich auf ihr Dasein als Hausfrau und Mutter zu konzentrieren. Kemper relativierte dies jedoch gleich wieder, indem er herausstrich, dass es sich bei der anzustrebenden Alternative zur patriarchalischen Einengung nicht um
724 Bei Brecht et al. (1985, S. 150) heißt es zu diesem Buch: »Werner Kemper äußerte sich an vielen Stellen auch implizit zustimmend zu nationalsozialistischen Vorstellungen.« Dass Kemper allerdings kein ausgesprochener Antisemit war, belegt Füchtner (2003, S. 155– 158).
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»die (von den Frauenrechtlerinnen vergangener Tage fälschlicherweise als Zielsetzung gewählte) Gewährung ›gleicher Rechte‹ (etwa in Bezug auf Beruf oder Wählbarkeit in Gesetzesvertretungen usw.) handelt, sondern um etwas ganz anderes, nämlich um die Anerkennung des wesensmäßigen ›Anderssein« des Weibes« (ebd., S. 24f.).
Damit befand er sich wieder im Einklang mit Vorstellungen von Teilen des NS-Lagers (siehe zum Beispiel die später im Text zitierten Ansichten Heinrich Himmlers über die Rolle der Frau). In einer teils bis in die Formulierungen hinein an Wilhelm Reichs Die Funktion des Orgasmus (Reich 1927, S. 21–28) erinnernden Art schilderte Kemper gegen Ende des Buches die Phasen des Orgasmus (Kemper 1942, S. 138–146): Die Ejakulation »geht mit einer flüchtigen geringen Bewußtseinstrübung einher […]. Die Atemsperre löst sich, nicht selten mit einem lauten Schrei, das Gefühl des Rückströmens vom Genitale auf den Gesamtkörper macht sich in einer Empfindung der Weite am Herzen bemerkbar« (ebd., S. 142f.). Bei Reich lauteten die entsprechenden Passagen: »[M]it der ersten samenfördernden Muskelkontraktion […] setzt […] eine mehr oder weniger starke Trübung des Bewußtseins ein; […] Im Augenblick der Akme wurde der Atem angehalten; jetzt wird er von heftigem Atmen abgelöst, das sich bei der Frau gewöhnlich in Schreien bemerkbar macht. […] [W]as wir Lösung der Spannung nennen […] [ist] vorwiegend ein Erfolg des Rückströmens der Erregung auf den Gesamtkörper« (Reich 1927, S. 25).
Hatten 1930 in der Weimarer Republik bei Reich ähnlich offene Formulierungen und detaillierte Beschreibungen, wie sie nun auch Kemper bei seiner Sexualaufklärung verwendete, dazu geführt, dass Reich auf den »Schund- und Schmutz«Index gesetzt wurde, scheint Kemper – zwölf Jahre später und im Faschismus – keine Probleme dieser Art bekommen zu haben. Von Kempers Zeitschriftenartikeln habe ich nur den bei Brecht et al. (1985, S. 151) abgedruckten Auszug aus Die Bedeutung des Seelischen für die Fruchtbarkeit beim Menschen (erschienen am 5.3.1943 in Die medizinische Welt) gelesen. Zu Beginn urteilte Kemper hier über »das Unfruchtbarkeitsproblem«: »Gerade im letzten Jahrzehnt […] – erst recht seit den Blutopfern des Krieges! – hat die ärztliche Kunst auf diesem Gebiet besonders schöne Erfolge aufzuweisen«, dies insbesondere in Form von neuen Diagnose- und Behandlungstechniken. Wesentlichen positiven Einfluss hätten aber auch die gesellschaftlichen Veränderungen. Die Geburtenziffer sei »seit der Machtübernahme durch die weltanschaulich andere Ausrichtung in die Höhe geschnellt«, »seit 1933« hätten »geschickte 377
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und zweckmäßige Sozialmaßnahmen« die mit der Kinderbetreuung verbundene finanzielle Belastung »wesentlich gemildert«. »Das wirklich Entscheidende« aber sei »ein seelischer Faktor: Die Wiedererweckung des verloren gegangenen Willens zum Kind«. Insgesamt wertete er diese Entwicklung als »geschichtlich einmaliges ›Massenexperiment‹«. Sich auf den führenden Rassebiologen und NS-Ideologen H. F. K. Günther berufend, sprach er dann von der Familie als »wichtigste[r] Keimzelle zur biologischen Bestandserhaltung«. »Volksbiologisch« gesehen werde durch das Fremdgehen von Ehepartnern »eine der für die Erhaltung des Volksganzen unerlässlichen Keimzellen gefährdet, vielleicht sogar zerstört«. Ein Problem seien diesbezüglich auch die »im Kriege, zumal in letzter Zeit« zunehmenden erektiven Potenzstörungen. Hier dürften »die Faktoren verantwortlich zu machen sein, die als seelische Belastung uns allen in diesem Kriege auferlegt sind […]. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß auch in normalen Zeitläuften bei einem durch große Aufgaben gefesselten Mann – etwa manchem Künstler in einer besonderen Schaffensperiode – normalerweise für oft recht erhebliche Zeitdauer keine oder nur geringe sexuelle Bedürftigkeit vorhanden war. Und für die meisten Männer, die […] den heutigen Krieg bewußt erleben, dürfte ein Zustand ähnlichen Ausgefülltseins durch die derzeitigen großen Beanspruchungen und Aufgaben bestehen.«
Kemper muss gewusst haben, dass die »derzeitigen großen Beanspruchungen und Aufgaben« innerhalb des Krieges nicht zuletzt im Massenmord bestanden: Man schrieb das Jahr 1943 und die systematische Vernichtung der Juden war kein Geheimnis in Deutschland (Longerich 2006). Dass vom NS-Staat »geschickte Sozialmaßnahmen« für die »arische« Bevölkerungsmehrheit ergriffen wurden, die auch von dieser anerkannt wurden (Aly 2005, S. 19–30, 36ff.), ist unbestreitbar. Dem Onlinehandbuch des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ist zu entnehmen, dass es »zahlreiche Fördermaßnahmen zur Geburt von mehr Kindern für deutsche Ehepaare« gab, »unter anderem Ehestandsdarlehen, die durch die Geburt von vier Kindern vollständig getilgt werden konnten. Ab dem fünften, später ab dem dritten Kind wurde eine Kinderbeihilfe gezahlt; Ehemänner konnten für Frau und Kinder Steuerfreibeträge in Anspruch nehmen. Deutsche Mütter von vier und mehr Kindern erhielten – in Analogie zum Ritterkreuz der Soldaten – seit 1939 das Mutterkreuz.«725 725 www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungspolitik/deutschland. html.
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Dies war jedoch nur die eine Seite der Medaille. »Dem Ziel der quantitativen Mehrung des deutschen Volkes und seiner rassischen Selektion« dienten zugleich »Eheverbote zwischen sogenannten arischen und nichtarischen Partnern in den Nürnberger Rassegesetzen und Zwangssterilisierungen für als minderwertig eingestufte Bevölkerungsgruppen«.726 Dies blendete Kemper ebenso aus wie die Tatsache, dass die von ihm gelobten Sozialmaßnahmen auch auf den Nachschub an künftigen Soldaten und auf die Züchtung der »Herrenrasse« ausgerichtet waren. Damit nimmt sein Artikel teils apologetischen Charakter an. Davon, dass er Psychoanalytiker war, schimmerte bei seinen Sätzen nichts mehr durch. Harald Schultz-Hencke727 war nach meinem Wissensstand derjenige, der in der NS-Zeit die meisten Arbeiten veröffentlichte. Helmut Thomä betont in seiner umfangreichen Schultz-Hencke-Kritik, dass dieser im Dritten Reich »in einer günstigeren Lage« gewesen sei als andere Analytiker, weil er bereits vor 1933 von wesentlichen analytischen Konzepten und von der analytischen Terminologie abgerückt war (Thomä 1963a, S. 46). Die wohl umfassendste Würdigung seines Wirkens als Beitrag für die Psychoanalyse haben 1977 Esther und Wolfgang Zander, Letzterer damals DPG-Vorsitzender, vorgenommen.728 Von den 16 bei ihnen aufgezählten Publikationen729 (Zander/Zander 1982, S. 343) werde ich hier vier berücksichtigen, darunter Schultz-Henckes Hauptwerk Der gehemmte Mensch. Gleich zu Beginn von Die Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel, 1934 im Zentralblatt für Psychotherapie veröffentlicht, verlieh Schultz-Hencke seiner zweifellos berechtigten Sicht Ausdruck, dass Psychotherapie keine »reine Wissenschaft« sei, sondern auch »praktisches, wertgerichtetes Eingreifen«, das »auch in die außerwissenschaftliche Sphäre« hineinwirke. Wie er dies dann konkretisierte, klingt jedoch nach Konzession an den seit 1933 in Deutschland herrschenden Geist oder Übereinstimmung mit diesem:730 726 ebd. 727 Biografische Informationen in Lockot (1994, S. 126–134). 728 Die Neo-Psychoanalyse von Harald Schultz-Hencke, auch veröffentlicht in Eicke (1982b). Für zusätzliche Informationen danke ich Steffen Theilemann, der sich intensiv um die Aufarbeitung der Lebens- und Werkgeschichte Schultz-Henckes bemüht. 729 Auch bei Schultz-Hencke kommen, wie bei anderen der bislang genannten Autoren, zahlreiche Rezensionen hinzu. 730 So schreibt der Kommunalwissenschaftler Kurt Jeserich 1936, die Wissenschaft wende sich »wieder mehr den Erscheinungen des Lebens zu«, werde dadurch »zu einer politischen Wissenschaft«, wobei »das Politische als die Gesamtheit aller den Lebensinteres-
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»In der Psychotherapie bestimmen Wertgefühl, Wille, Blut, Leben das Ziel und nicht die Wissenschaft. […] Gesundheit ist nicht etwa Wert an sich. […] Sie hat sich der Welt der Werte überhaupt einzufügen, wie sie ihren Niederschlag in einer Weltanschauung finden. Und diese ist stets wesentlich politisch mitbestimmt« (Schultz-Hencke 1934, S. 84f.).
Als Therapieziele benannte er einige Seiten später »Zucht, Disziplin, Dienstbereitschaft, Einordnung« (ebd., S. 94).731 Allerdings waren dies keine ausschließlich faschistischen, sondern teils typisch preußische, teils bereits weit vor 1933 vertretene »völkische« Werte. Abgesehen von diesen Sätzen gibt es in diesem Artikel keine Anklänge an das aktuelle politische Geschehen der damaligen Zeit. Eine eindeutig positive Haltung zu Aspekten des NS-Systems, wie sie Müller-Braunschweig und Kemper in ihren Beiträgen für den Reichswart bzw. Die medizinische Welt artikulierten, habe ich weder hier noch in den anderen drei Schriften Schultz-Henckes entdeckt. Zu Recht weist der Psychoanalytiker und Schultz-Hencke-Forscher Steffen Theilemann darauf hin, dass Schultz-Hencke den Begriff »Tüchtigkeit« nicht in Anbiederung an den NS-Jargon definierte, sondern als »Kraft, […] Bereitschaft und Fähigkeit zu lebendiger Expansion« (Theilemann 2010, S. 4; Schultz-Hencke 1934, S. 85). Manches, was Schultz-Hencke in Die Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel schrieb, scheint mir allerdings nur erklärlich, wenn er die politischen Verhältnisse entweder komplett ignorierte oder sie bejahte. Denn wie ließe es sich anders verstehen, wenn er 1934 – davon ausgehend, dass ein Neurotiker seine »expansiven Kräfte nicht beieinander« hätte – meinte: »Wer ihn von seiner Symptomatik befreit, gibt ihm seine Kraft […] zurück. Damit aber schenkt er der Gemeinschaft die Kräfte dieses Einzelnen. Der Gesunde verwendet sie dann in ihrem Dienst. Die Psychotherapie hat diese Aufgabe in erster Linie, dem Neurotiker seine expansiven Kräfte wieder voll zur Verfügung zu stellen« (ebd., S. 86).
sen des Volkes und der Durchführung seines Lebenskampfes dienenden Maßnahmen zu verstehen ist. […] Die alte Meinung, daß die praktische Bestimmung und Begründung einer Wissenschaft nach sozialen Wertgesichtspunkten nicht möglich und nicht zulässig sei, wenn sich die Wissenschaft nicht ihres Anspruchs auf Objektivität entäußern wolle, lehnen wir ab« (zitiert in Botsch 2006, S. 27). 731 Er formuliert hier zwar etwas indirekt, bezieht es aber speziell auf die Behandlung von Homosexuellen. Dennoch verstehe ich diesen Satz aus dem Kontext heraus so, dass er auch selbst, und zwar grundsätzlich, für diese Therapieziele plädiert.
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Wie harsch Schultz-Hencke sich von dem distanzierte, was er als analytische Orthodoxie verstand, wird ebenfalls in diesem Zentralblatt-Artikel deutlich: »Sollten die orthodoxen Anhänger der Psychoanalyse darauf beharren, ihre spekulativen Theorien unter allen Umständen vor dem berechtigten Verfall zu bewahren, und nur dieses Ganze von empirischer Wahrheit, Begriffsschiefheit und Spekulation ›Psychoanalyse‹ zu nennen, so wird deren verifizierbarer Grundbestand eben einen neuen Namen erhalten müssen« (ebd., S. 91f.).
Hier gibt es eine Parallele zwischen Schultz-Hencke und Wilhelm Reich. Dieser meinte ja zur selben Zeit ebenfalls, der Begriff »Psychoanalyse« sei so diskreditiert, dass dessen bewahrenswerte Inhalte nur unter einem alternativen Oberbegriff weitergeführt werden könnten. Darüber, was als bewahrenswert angesehen werden sollte, existierten zwischen ihm und Schultz-Hencke neben einigen Übereinstimmungen allerdings auch deutliche Differenzen, vor allem in der Bewertung der Sexualität: Die »gesunde Menschenpsychologie hat durchaus recht«, meinte Schultz-Hencke, »wenn sie die Sexual›theorie‹ ablehnt […]. Die Libidotheorie wird also fallen müssen und mit ihr alle zusätzlichen Spekulationen und korrespondierenden Begriffsschiefheiten.« Die analytische Literatur spreche zudem Kriminelle von Verantwortung frei, leite die Religion aus dem Ödipuskomplex her und behaupte, es gäbe »eine besondere psychoanalytische Pädagogik«. All dies habe aber »mit Wissenschaft nichts zu tun« (ebd., S. 93, 95). Gegenstand der Psychoanalyse sei »nicht etwa der Mensch überhaupt«, sondern ausschließlich der »gehemmte Mensch«. Er verwendete daher für seine Lehre den Namen »Desmologie« (von lateinisch desmo = Fessel) und meinte somit »die Lehre vom gehemmten Menschen« (ebd.).732 Im September 1938 war Schultz-Hencke einer der Redner bei der zweiten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie in Düsseldorf. Hier sprach er über Die Reichweite der Psychotherapie, was ein Jahr später auch im Tagungsband (Curtius o.J.) veröffentlicht wurde. Zu Beginn bezeichnete er als »unser Gebiet« das »der Psychotherapie und der sie fundierenden Tiefenpsychologie« (ebd., S. 68). Insbesondere ging es ihm darum, darzustellen,
732 Für Thomäs Vermutung, diese »Befreiung von den Fesseln« stehe in Zusammenhang mit jener Befreiung, die »im Jahre 1933 dem deutschen Volk verkündigt wurde« (Thomä 1963a, S. 61), finde ich keinen Beleg. Bernd Nitzschke (2003, S. 131) weist darauf hin, dass Schultz-Hencke, die von Freud selbst 1922 in »›Psychoanalyse‹ und ›Libidotheorie‹ gebrauchte Metapher ›Fessel‹ aufgreifend, […] die Psychoanalyse als Methode der Entfesselung [bezeichnete]«.
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für welche Störungen Psychotherapie am sinnvollsten angewandt werden könne. Von Tiefenpsychologie war dabei öfter die Rede, einmal auch vom »Analysieren« schwerer Neurotiker (ebd., S. 73), zudem vom Unbewussten als »innerhalb der tiefenpsychologischen Therapie entscheidend wichtige[m] und überall verwandte[m] Begriff« (ebd., S. 71). Auf direkte Aussagen zu Gesellschaft oder Psychoanalyse verzichtete er. 1940 schrieb Schultz-Hencke im Zentralblatt für Psychotherapie (Bd. 7, S. 336– 349) über Das Unbewußte in seiner mehrfachen Bedeutung. Eingangs erwähnte er, dass »bei allen in den letzten zwei Jahren erreichten theoretischen Übereinstimmungen doch noch sehr disparate Auffassungen« darüber bestünden, wie man mit der »großen Aufgabe, die die Psychotherapie zu lösen hat«, »fertig werden könnte«.733 Er nahm vier Arten des Unbewussten an: metaphysisches, kollektives, phylogenetisches und ontogenetisches. Für das ontogenetische Unbewusste schlug er den angeblich passenderen, von Ilse Döhl geprägten Begriff des »Entwussten« vor. Das Wort »psychoanalytisch« verwendete Schultz-Hencke nur einmal, mit Anführungszeichen versehen und, wie mir scheint, abwertend (ebd., S. 348). Der Name Freud fiel ebenfalls einmal, aber nur, um zu kritisieren, dass Freud in der Traumdeutung nicht auf Leibniz verwiesen habe. Denn, so habe er, Schultz-Hencke, bei Ilse Döhl gefunden: »Leibniz hat das Unbewußte im Jahre 1703 […] diskutiert und – alle Psychotherapeuten müssen das nachlesen! – dabei eigentlich sämtliche tiefenpsychologischen Positionen vollständig beschrieben. Unsere gesamte Tiefenpsychologie hat auf diesem Wege ein geradezu grandioses Fundament erhalten« (ebd., S. 337). 733 In einer Fußnote zu den »theoretischen Übereinstimmungen« verwies er auf Seite 14 des Buches Psychiatrische Erblehre des Psychiaters von Hans Luxenburger, der auch Autor der Zeitschrift Volk und Rasse war (Klee 2003, S. 385). Auf der von Schultz-Hencke bezeichneten Seite thematisierte Luxenburger methodologische Probleme. Auf Sätze, wie sie Ernst Klee (ebd.) aus Die medizinische Welt vom Juni 1933 zitiert (»Härten sind bei der Ausmerze unvermeidlich … Die Rasse steht höher als der einzelne Mensch«), verzichtete Luxenburger in diesem Buch, schrieb stattdessen sogar von »den Bedürfnissen der heutigen Fürsorge für die geistig Abnormen« (Luxenburger 1938, S. 8) und betonte mehrfach, zusätzlich zum Biologischen, die Bedeutung der sozialen Umwelt auch bei der Entwicklung von »Psychopathien« (ebd., S. 105–134). Andererseits unterstrich Luxenburger wiederholt die Notwendigkeit einer »Rassenhygiene« (z.B. ebd., S. 122, 124, 126). Dass er diese nicht konkreter beschrieb, dürfte auch daran gelegen haben, dass seinem Band ein zweiter zur »Psychiatrischen Rassenhygiene« folgen sollte, geschrieben von dem Psychiater und Mitverfasser des Sterilisationsgesetzes, Ernst Rüdin (siehe Klee 2003, S. 513). In seinem Tagebuch notierte Schultz-Hencke über Luxenburgers Buch: »Erbpathologie. Psychopathologie etc. Mit einigen unzulässigen Denkkonzessionen. Sonst erstaunlich gerade und klar« (zitiert in Theilemann 2010, S. 7).
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Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hatte jedoch nur eine gegen Descartes gerichtete philosophische »Konzeption des Unbewussten« entworfen (Buchholz/Gödde 2011, S. 22f.).734 So bemerkenswert dies auch ist, handelte es sich doch nicht um eine Freud ersetzende Grundlegung von Psychotherapie, schon gar nicht um eine vollständige Beschreibung tiefenpsychologischer Positionen. Das verdeutlicht auch die Lektüre des Buches, auf das sich Schultz-Hencke bezog: Ilse Döhls Bewußtseinsschichtung. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte ihrer Theorie, insbesondere durch Nachweis von Ursprüngen bei Leibniz.735 Ihre Schrift zeigt allerdings gleichfalls, dass es 1935 auch in der deutschen Universitätsphilosophie möglich war, sich relativ sachlich mit Freud auseinanderzusetzen.736 Gleichfalls 1940 erschien, als »Ergebnis eines 25jährigen Studiums, einer 18jährigen praktischen Arbeit« (Schultz-Hencke 1940b, S. 5), Schultz-Henckes Hauptwerk Der gehemmte Mensch. Grundlagen einer Desmologie als Beitrag zur Tiefenpsychologie. Auf die Psychoanalyse ging Schultz-Hencke hier mehr oder weniger direkt immer wieder ein – aber fast durchweg zu dem Zweck, sich von deren Thesen und Begriffen abzugrenzen. Dabei kam analytisches Vokabular vielfach zur 734 Ausführlicher bei Oberthür (2005; vgl. auch Goldmann 2005, S. 136f.). 735 Bei Johannes Oberthür finden sich für einen großen Teil der von Döhl im französischen Original verwendeten Textabschnitte Übersetzungen (Oberthür 2005). Ilse Döhls Buch wurde mir von Steffen Theilemann zur Verfügung gestellt. Er wies mich auch auf die wichtigen Unterschiede im Tonfall hin, die zwischen dem Buch und dem Zentralblatt-Artikel von Döhl bestehen. 736 Zwar behauptete Ilse Döhl, »das ganze Gebiet der Psychoanalyse, abgesehen von ihrer abwegigen Trieblehre, die Leibniz natürlich fern lag, ist formal […] von Leibniz umschrieben« (Döhl 1935, S. 26, ähnlich S. 73, wo die Trieblehre als »zersetzend« bezeichnet wird). Aber an anderen Stellen argumentierte sie differenzierter. So begann sie zwar indirekt mit dem NS-typischen Vorwurf, die Psychoanalyse sei »morgenländisch-jüdisch«, doch beschränkte sie sich nicht darauf: »Durch bestimmte neuere Psychologien, vor allem durch diejenige Sigmund Freuds, die im Kern zwar Wahres und Wesentliches enthalten, in der Form ihrer Beweisführung und Nutzanwendung aber zum Teil sehr weit über die Grenzen dessen hinausgehen, was unserm abendländischen Denken gemäß ist, wurde die uralte Frage nach der Existenz von unbewußt Seelischem während der letzten Jahrzehnte mehr und mehr in den Vordergrund gerückt« (ebd., S. 3). Abschließend urteilte sie, dass »psychologische Richtungen, die das Unbewußte in den Mittelpunkt stellen, […] in ihrer revolutionierendsten Gestaltung – derjenigen durch Sigmund Freud – ihren tiefgehenden und weitreichenden Einfluß als heftig wirkendes Stimulans für den Fortgang des geistesgeschichtlichen Prozesses [gewannen], vielleicht sogar nur infolge ihres herausfordernden Charakters, der fast jedermann im allgemeinen und erst recht fast jeden Fachmann zur Auseinandersetzung zwingt« (ebd., S. 97). Im dritten Beiheft zum 1941er Zentralblatt (S. 5–33), in Ilse Döhls Beitrag Gottfried Wilhelm Leibniz als Entdecker des Unbewussten und als Psychotherapeut, wurde ihr Tonfall allerdings aggressiver. Schultz-Hencke bezog sich jedoch nicht auf diesen Beitrag, sondern auf ihr vergleichsweise tolerantes Buch.
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Anwendung. Eine Darstellung der seiner Ansicht nach zu bejahenden Aspekte von Freuds Lehre sucht man allerdings vergebens. Auch Freuds Name fiel mehrfach, so wenn sich Schultz-Hencke fragte, ob er dessen Begriff des »Oralen«, auf den Mund als erogene Zone Bezogenen, beibehalten könne. Dass er sich dagegen entschied und einen anderen Terminus dafür kreierte,737 begründete er damit, dass »eine übertreibende, vereinseitigte, fanatisch propagierte Theorie« – also wohl die damalige analytische – ihm keine Chance ließe, Gehör zu finden, wenn er deren Sprache übernähme (ebd., S. 20). Gelegentlich formulierte er seine Differenzen mit Freud auch weniger strikt. Auch er widersprach zwar Freuds weitgehender Gleichsetzung von Sexualität und Liebe: »Zärtlichkeit ist keine ›zielgehemmte‹ Sexualität« (ebd., S. 32), betonte aber: »Ablehnung einer Begriffserweiterung bedeutet aber nicht das Streichen von Erkenntnissen. Was als sexuell nachweisbar ist, soll so registriert und bezeichnet werden, gleichgültig, ob das Faktum jemandem gefällt oder nicht« (ebd.). Über das »Zärtlichkeitsstreben« urteilte er anschließend: »Jedes Kind besitzt es normalerweise in großer Lebhaftigkeit. Eine kalte oder gar ablehnende Umwelt, sei diese Einzelperson oder Atmosphäre, kann hier sehr intensive Hemmungen setzen. […] Erstickte Fähigkeit zu zärtlichem Erleben, erworben im ersten oder zweiten Lebensjahr, kann die Kontaktfähigkeit eines Menschen in entscheidender Weise reduzieren bis nahezu aufheben. […] Und eine so gewonnene Kontaktlosigkeit = gehemmte Zärtlichkeit ist die Grundlage von mehr Erscheinungen der Psychopathologie, als man heute im allgemeinen annimmt. […] Ein wesentlicher Teil der normalen Selbstentfaltung besteht in der zärtlich liebenden Hinwendung zum anderen Menschen. Wer hier scheitert, hat unter Umständen das Leben verspielt« (ebd., S. 33f.).
Klarer und ausführlicher als Margarethe Seiff und Felix Schottlaender in ihren bereits ausgewerteten Artikeln widersprach Schultz-Hencke damit in der Analyse verbreiteten Auffassungen von der frühkindlichen Natur und Beziehungs(un)fähigkeit, die Franz Alexander so formuliert hatte: »Bei der Geburt ist das Kind nicht im geringsten an die Anforderungen des sozialen Lebens angepaßt; es ist […] ein asoziales Wesen. […] Diese Wahrheit wurde von Diderot vorweggenommen in seiner Behauptung, daß das ganz kleine Kind der
737 Und zwar »Das Wort kaptativ (von captare = greifen, hinlangen)«, mit dessen Hilfe er auch »nicht-sexuelle Strebungen und Haltungen habenwollender Art« einbeziehen wolle (Schultz-Hencke 1940, S. 20).
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zerstörungswütigste Verbrecher wäre, wenn es nur die Kraft hätte, seine Aggressionen auszuführen« (Alexander 1938, S. 69).
So einseitig Schultz-Hencke also den Schwerpunkt auf die oft zu pauschale Kritik der Psychoanalyse setzte, speziell die Sexualität nun zwar nicht mehr über-, dafür aber unterbewertete – in manchen Details erscheint mir seine Kritik konstruktiv und notwendig. Sie deckt sich zudem in Teilen mit Auffassungen anderer, später oft zusammen mit ihm unter dem Schlagwort »Neo-Psychoanalyse« subsumierter Kollegen (vgl. Chrzanowski 1982). Bezüge zu den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland vermied Schultz-Hencke auch in Der gehemmte Mensch völlig. Dass es »da draußen« überhaupt noch etwas Erwähnenswertes gab, kam nur an wenigen Stellen,738 etwa in der folgenden, zum Ausdruck: »Vom normalen Kind in der Schule, vom Ehepartner, vom Untergebenen und vom Vorgesetzten verlangen wir ein gar nicht unbestimmtes Maß an Anstrengung, wenn wir fordern, daß ihr Verhalten den üblichen Normen menschlichen Zusammenlebens entspricht. Mögen diese auch zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern sehr verschieden sein. Die das hier Dargestellte lesen, befinden sich in bestimmter Zeit und in bestimmtem Volke. Sie haben jene Erfahrung gemacht. Diese liefert ihnen den Maßstab für das, was man billige Forderung von Bereitschaft und Wille nennt, […] für die Strenge, mit der man an das Verantwortungsgefühl von Mitmenschen, Gliedern einer Gemeinschaft zu appellieren pflegt. Man kann sich dieses Maßstabes jederzeit bedienen. Nichts spricht grundsätzlich dagegen, es zu tun« (Schultz-Hencke 1940b, S. 93).
1940 im kriegsführenden, auf den Holocaust zusteuernden Dritten Reich geschrieben, erscheinen diese Worte entweder nichtssagend oder vieldeutig. Schultz-Hencke meinte, auch nach Kriegsende dazu stehen zu können. 1947 brachte er sein Buch in zweiter Auflage heraus – bis auf eine Korrektur im Untertitel unverändert.739 Das begründete er zum einen, indem er schrieb, er wolle zeigen, »was im Dritten Reich zwar unter Umgehung der gebotenen Zensur, aber doch immerhin möglich war, schließlich zu veröffentlichen«. Zum anderen wolle er nicht den An738 Auf S. 97 geht er kurz auf nach dem ersten Weltkrieg erschienene Literatur ein. 739 Es hatte nun den Untertitel Entwurf eines Lehrbuchs der Neo-Psychoanalyse. Ich habe diverse Seiten und Textstellen verglichen, aber nirgends eine Abweichung vom Original gefunden. Dass er als Abfassungsort für das Vorwort 1940 »Berlin«, 1947 »Kampen a. Sylt« angibt, scheint mir unerheblich.
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schein erwecken, »menschlich nicht erlaubte ›Anpassungen‹ an die heutige Lage« vorgenommen zu haben (Schultz-Hencke 1947, S. 6). Das sollte vermutlich heißen, er halte es nicht für vertretbar, aber wohl auch nicht für notwendig, seinen früher geschriebenen Text zu verfälschen, um Nachkriegsmaßstäben zu entsprechen. Was lässt sich also zusammenfassend über die angeführten Publikationen der (ehemaligen) DPG-Mitglieder im Dritten Reich sagen? Offene Kritik am Faschismus blieb nachvollziehbarerweise völlig aus. Gelegentlich, am deutlichsten bei March, war eine kritisch-distanzierte Sicht auf vom NS-Regime vertretene Normen zu spüren. Offene Zustimmung zu diesem Regime findet sich pauschal in Müller-Braunschweigs Reichswart-Artikel, konkreter vor allem in Kempers Beitrag für Die medizinische Welt. Scheunert erweckt in seinem Zentralblatt-Artikel ebenfalls den Eindruck, sich teilweise mit dem NS-Staat zu identifizieren – was zu seiner NSDAP-Mitgliedschaft passt. March schätzte offenbar zumindest die »Hilfs- und Erziehungsbestrebungen« des NS-Staates. Bei SchultzHencke scheint es eine, vielleicht nur in den ersten Jahren des Dritten Reiches bestehende Resonanz mit manchen der von den neuen Machthabern vertretenen Werte gegeben zu haben. Spätere seiner Formulierungen sind so unklar, dass sie ohne – bislang nicht vorliegende – biografische Zusatzinformationen nicht sinnvoll ausdeutbar sind. Dass Schultz-Hencke – entgegen den 1945 über ihn verbreiteten Gerüchten – weder Nationalsozialist noch Antisemit war, darüber scheint inzwischen weitgehend Konsens zu bestehen (Lockot 2002, S. 131ff.; Zander/Zander 1982, S. 299f.; Theilemann 2010, S. 17ff., Baumeyer 1971, S. 216–219). »Erbgesundheitspflege« wurde lange vor 1933 und weit über Deutschland hinaus von vielen Wissenschaftlern, Ärzten, Theologen und Politikern »rechter« wie »linker« Orientierung für wünschenswert oder gar für dringend erforderlich gehalten (Peglau 2000b). Dies mit faschistischer Gesinnung gleichzusetzen, wäre also nicht gerechtfertigt. Festzuhalten ist aber, dass sich Kemper (mehrfach und pauschal), Boehm (bezogen auf Sterilisationen) sowie andeutungsweise wohl auch March in den 1940er Jahren zustimmend zur »Eugenik« äußerten – als diese längst bekanntermaßen den »Euthanasie«-Massenmord einschloss (siehe dazu Brecht et al. 1985, S. 148; Klee 1997, S. 130–134, 193–219, 334–344). Zumindest Graber, Horney, Mette, Schottlaender und Schultz-Hencke bezogen sich offen auf die Analyse oder auf Freud. Schultz-Hencke und Graber taten dies auch noch 1940 bzw. 1941. Die Erwähnung der Psychoanalyse kann also zumindest bis zu diesem Zeitpunkt schon deshalb nie anhaltend verboten gewesen sein, auch nicht speziell für Psychoanalytiker. Dass die Analytiker so unterschiedlich von der Möglichkeit Gebrauch machten, sich auf die Freudsche Lehre zu beziehen, deutet darauf hin, dass dafür ihre indivi386
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duellen Risikoabschätzungen ausschlaggebend waren.740 Eine solche Abschätzung muss damals ein sehr schwieriges Unterfangen gewesen sein. (Auf die permanente Bedrohung durch den NS-Staat werde ich später noch einmal eingehen.) Mit heutigem Wissensstand lässt sich mutmaßen, dass das Risiko nicht sehr hoch war: Es ist nicht ein einziger Fall bekannt, in dem die Erwähnung Freuds oder der Psychoanalyse in einer Schrift staatliche Sanktionen nach sich gezogen hätte, die über das Verbot dieser Schrift hinausgingen. Wie schon die Verbotsindizes belegen, scheint selbst dieses Risiko nach 1933 immer geringer geworden zu sein. Der Einzige unter den in Deutschland verbliebenen (Ex-)DPG-Mitgliedern, den noch 1935 ein Verbot traf, war Alexander Mette. Und die Begründung dafür – zersetzende Tendenz und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – war so allgemein gehalten, dass man daraus nicht schließen muss, dass es gegen die Psychoanalyse an sich ging. Wie erwähnt, könnte es zumindest auch mit Mettes »Vereinnahmung« Nietzsches zu tun haben. Dass Graber von Reich geprägte Begriffe verwendete, dass auch Kemper an Reich anknüpfte, passt zu Reichs vormaliger Bedeutung innerhalb der Psychoanalyse. Offenbar wurden trotz aller offiziellen Ausgrenzung durch DPG und IPV auch in Deutschland einige seiner Erkenntnisse nicht nur für wesentlich empfunden, sondern auch weitergegeben. Der Grat zwischen Übernahme und Plagiat war allerdings schmal,741 und bei Kempers Reich-Anleihen wurde er wohl überschritten.742 Wenn man dabei Reichs Namen verschwieg, so schlug man zwei Fliegen 740 Für Boehm und Müller-Braunschweig mag noch das Problem hinzugekommen sein, dass sie nicht nur für sich selbst, sondern auch als Repräsentanten der in Deutschland verbliebenen Analytiker sprachen und handelten. 741 Man kann sich auch fragen, ob nicht der gesamten »neuen deutschen Seelenheilkunde« eine Tendenz zum Plagiieren anhaftete. Schließlich wollte man Freuds Erkenntnisse nutzen – ohne seine Urheberschaft angemessen zu würdigen. Auch Erich Rothackers schon erwähnte »Schichtentheorie der Seele« scheint, so verstehe ich Ulfried Geuters Einschätzung, zu Teilen ein Psychoanalyseplagiat gewesen zu sein (Geuter 1988, S. 475). Kurt Seelmann benennt für die Individualpsychologie nach 1933 ebenfalls »anonyme Ausbeutungen des Adlerschen Lehrgebäudes« (Seelmann 1982, S. 7). 742 Kemper fügte zwar insgesamt auch viel Eigenes hinzu. Dennoch wäre ein Verweis auf Reich, der sich der Sexualaufklärung bereits in sehr ähnlicher Weise angenommen hatte und Kemper persönlich gut bekannt war, angebracht gewesen. Kemper hätte auch die Möglichkeit gehabt, auf derartige Übernahmen zu verzichten oder diese zumindest im Nachhinein kenntlich zu machen. Als er aber 1952 sein Buch Die funktionellen Sexualstörungen veröffentlichte, schrieb er zwar: »Meines Wissens hat W. Reich als erster […] eine orgastische Potenz […] aufgestellt«, und verwies dazu auf Reichs Funktion des Orgasmus (Kemper 1952, S. 18). Auf die Anleihen, die er dort schon 1942 genommen hatte, verwies er jedoch nicht. Auch 1955, in Kempers Der Traum und seine (Be)Deutung, merkte er nur an, er, Kemper, habe in Störungen der Liebesfähigkeit beim Weibe »wirklich Neues zu Biologie, Psychologie und Pathologie des Orgasmus beigetragen« (Kemper 1955, S. 204).
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
mit einer Klappe: Die Wahrscheinlichkeit, mit der Psychoanalyseorganisation in Konflikt zu geraten, war geringer – und ebenso die Gefahr, in Schwierigkeiten mit Vertretern der NS-Ideologie zu geraten. In mehreren der aufgeführten Schriften, zum Beispiel bei Schottlaender, kam es nach meinen Maßstäben zu einer Verflachung analytischer Erkenntnisse, bei Müller-Braunschweigs Reichswart-Artikel sogar zu deren Pervertierung. Gelegentlich mündete, wie bei Schultz-Hencke, die Kritik einzelner analytischer Thesen in Verabsolutierungen der Gegenposition. Vielfach dürfte die Sorge, ob es ratsam sei, analytische Begriffe zu verwenden, zu vageren Formulierungen geführt und damit die Qualität der Texte beeinträchtigt haben. Das von mir als Kriterium für wissenschaftliche Produktivität angesehene angemessene Reflektieren gesellschaftlicher Faktoren unterblieb nahezu vollständig. Das sollte man nicht vorschnell als selbstverständlich abtun. Auch für die Psychoanalytiker dürfte gegolten haben, was bezüglich der Wissenschaften im Dritten Reich mehrfach konstatiert wurde: »Solange man sich auf dem Boden des Nationalsozialismus bewegte, war die Meinungsfreiheit geradezu grenzenlos« (Piper 2007, S. 357). Den Psychoanalytikern dürfte dieser Spielraum beispielsweise erlaubt haben, Aspekte von Erziehung, Familie und Partnerschaft kritisch zu hinterfragen. March, Schottlaender, Schultz-Hencke und Seiff machten davon bezüglich elterlicher Erziehungsnormen auch Gebrauch – jedoch unter weitgehendem Verzicht auf Zeit- oder Gesellschaftsbezug. Dennoch findet sich zumindest in Ansätzen hier auch Sozialkritik. Von Müller-Braunschweig, Schultz-Hencke und Boehm wurde die Psychoanalyse tatsächlich als Motor für Veränderungen beschrieben, die über das Individuelle hinausgehen. Doch diese Veränderungen liefen auf die Stärkung des NS-Systems bzw. eine zunehmende Anpassung an dieses System hinaus. Grabers Forderung nach Entmachtung der inneren Kontrollinstanz Über-Ich – mit der er Intentionen Reichs und Fenichels nahe kommt (Laska 1991) – weist allerdings in die Gegenrichtung. Graber deckte damit sowohl wesentliche seelische Zusammenhänge auf wie auch deren Verleugnung im damaligen Psychoanalysehauptstrom. In Bezug auf das Eltern-Kind-Verhältnis waren auch March, Schottlaender, Schultz-Hencke und Seiff um das Aufdecken wichtiger unbewusster Faktoren bemüht. Wissenschaftlich produktiv erscheint mir darüber hinaus vor allem, dass in mehreren Publikationen deutlich von dem im Psychoanalysehauptstrom vorherrschenden pessimistischen Menschenbild abgewichen wurde. Nicht nur wurde diesbezüglich wiederholt tatsächlich Kritikwürdiges benannt – wie Freuds Gleichsetzung von Liebe und Sexualität. Ein zu einseitig triebtheoretisches Herangehen wurde zudem bei Horney, Schottlaender, Schultz-Hencke und Seiff durch die Berück388
2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
sichtigung psychosozialer, meist jedoch nur innerfamiliärer Wechselwirkungen zu Teilen korrigiert. Bei Schottlaender fällt auf, dass er 1931 noch ohne Einschränkungen Freuds Todestriebthese vertreten hatte, 1937 aber von einer sozialen Verursachung von Aggression ausging. Vielleicht lässt sich das so einordnen: Dass die IPV bereit und in der Lage war, Mitglieder in bestimmtem Umfang zu disziplinieren und unerwünschte, auch fachliche Abweichungen zu bestrafen, hatte sie nicht erst im Fall Wilhelm Reich deutlich gemacht.743 Dieser von der IPV ausgeübte Anpassungsdruck dürfte jedoch die deutschen Analytiker umso weniger erreicht haben, je mehr sie gezwungen waren, sich von der IPV zu distanzieren. Vielleicht wuchs damit auch bei einigen die Bereitschaft, mit mancher zuvor zurückgehaltenen Idee hervorzutreten, die mehr oder weniger vom institutionalisierten Analysehauptstrom abwich? Gerade einiges, was Hans March zur neurotischen Motivation des Helfens und bezüglich gestörter innerfamiliärer Strukturen erkannte, ergänzte das psychoanalytische Wissen meiner Ansicht nach um wesentliche Aspekte. Es hätte daher mehr Aufmerksamkeit verdient – und diese umso leichter erhalten können, da March es nach 1945 erneut veröffentlichte. Stattdessen musste Wolfgang Schmidbauer in den 1970er Jahren das »Helfersyndrom« zum zweiten Mal entdecken. Liegt das möglicherweise an einem Tabu, demzufolge alles, was im NS-Staat entstand, nichts getaugt haben kann oder darf, also auch gar nicht gründlich gelesen zu werden braucht? Einiges spricht dafür, dass oftmals – bewusst oder unbewusst – einem solchen Tabu Folge geleistet wird.744 Ein Beispiel: Christine Diercks war langjährige Archivarin der Sigmund-Freud-Gesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung sowie bis 2008 Vorstandsvorsitzende der letzteren. Sie beschäftigt sich seit Langem intensiv mit der Psychoanalysegeschichte, hat dazu vielfach publiziert (Ash 2012, S. 674). 2012 urteilte sie, auf die »Tarnsprache« Bezug nehmend, die im Nationalsozialismus schreibende Analytiker oft verwendeten: »Was in diesen Jahren des NS-Terrors geopfert werden musste«, sei unter anderem gewesen: »ein auf Erkenntnis begründetes Denken, das mit differenzierten, hochkomplexen, theoriegesättigten, starken Begriffen operierte, das auf seine intellektuellen Wurzeln zurückgriff und sein Potential ausschöpfte« (Diercks 2012, S. 541f.). Schon 743 Schon zuvor war ja beispielsweise Sándor Ferenczi wegen rein fachlicher Differenzen mit Freud in Ungnade gefallen (Freud/Ferenczi 2005, S. 293–300; Cremerius 1994, S. 154–157). 744 Auch die in meiner Einleitung aufgezählten Aussagen über die angeblich totale Unterdrückung der Psychoanalyse im Nationalsozialismus lassen sich als Ausdruck dieser Tabuisierung verstehen.
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eine stichprobenartige Untersuchung unter nationalsozialistischer Herrschaft entstandener Publikationen, wie ich sie hier vorgenommen habe, belegt, dass eine so rigorose und pauschale Abwertung nicht gerechtfertigt ist. Diercks wertet jedoch offenbar ohne sorgfältiges Quellenstudium: Weder ihr Artikel noch das dazugehörige Literaturverzeichnis (ebd., S. 542–545) weisen auf diesbezügliche Recherchen hin. Erschienen sie ihr nicht nötig, da ja das Urteil über diese Zeit und die damalige analytische Literatur bereits feststeht? Fragwürdig ist darüber hinaus, dass ihre Formulierung den Umkehrschluss nahelegt: Was damals außerhalb des NS-Machtbereiches entstand, sei selbstverständlich durch »ein auf Erkenntnis begründetes Denken« gekennzeichnet gewesen, wie sie es beschreibt. Zu einer fairen Beurteilung des im Dritten Reich Publizierten würde tatsächlich gehören, es mit zeitgleich in demokratischen Ländern wie den USA oder Großbritannien erschienenen analytischen Schriften zu vergleichen. Dass auch Letztere ihr Potenzial nicht ausschöpften, belegt schon der Fakt, dass sie – wie herausgearbeitet – so lange nicht zum Faschismus Stellung bezogen und damit ihre aufklärerischen Wurzeln verleugneten. Der mit der »Medizinalisierung« der Analyse verbundene Bedeutungs- und Qualitätsverlust analytischer Forschung und Publikation war im Übrigen ein internationaler. Die in NS-Deutschland verbliebenen Analytiker waren nicht die Einzigen, die kaum noch gesellschafts- bzw. kulturkritische Schwerpunkte setzten.745 Für die Belletristik hat Jan-Pieter Barbian herausgearbeitet, dass nicht nur unliebsame Autoren verboten, verfolgt oder ermordet wurden, sondern zugleich auch »die Uniformität der Kultur im Dritten Reich durchbrochen werden konnte, eine nicht-nationalsozialistische Literatur gerade auch jüngerer Autoren veröffentlicht wurde, auf der man nach 1945 aufbauen konnte« (Barbian 2008, S. 11). Für die Psychoanalyse steht eine vorurteilsfreie und gründliche Bewertung dessen, was ihre Vertreter in jener Zeit in Deutschland publizierten, noch aus. Die folgenden Abschnitte werden bekräftigen, dass es im Dritten Reich weder ein dauerhaftes Verbot, die Psychoanalyse oder deren Schriften zu erwähnen, ge745 Vgl. diverse Stellen in Fenichel (1998), May (1982, S. 492–521), Jacoby (1985) sowie das Ergebnis der im Abschnitt 2.7. des vorliegenden Bandes vorgestellten Recherche. Michael Schröter schreibt, im Dritten Reich wurden »die Psychoanalytiker auf das Maß einer psychotherapeutischen Schule von mehreren reduziert«. Mit Verweis auf die von Otto Fenichel beschriebene Situation in den USA fügt er hinzu: »Und was in Deutschland politisch erzwungen wurde, geschah zur selben Zeit anderswo allein im Zuge eines immanenten Professionalisierungsprozesses« (Schröter 2001, S. 734; vgl. Schröter 2000b, S. 1146, 1149f., 1151–1155).
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geben haben kann, noch ein Gebot, dies kritisch zu tun. Auch waren die Analytiker nicht etwa die Einzigen, die offene, mit positiver Wertschätzung verbundene Bezüge zu Freuds Lehre herstellten.
2.15.3 Das Zentralblatt für Psychotherapie Diese Publikation, mit vollem Titel Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der medizinischen Psychologie und psychischen Hygiene, war das Organ der 1927 gegründeten Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie.746 Von Anfang an vorwiegend aus deutschen Mitgliedern bestehend, wurde diese Gesellschaft auch nach 1933 dominiert durch ihre deutsche, zunehmend »arisierte« Ländergruppe, die neugegründete Deutsche allgemeine ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie. Diese, geführt von M.H. Göring, war zugleich die einzige offizielle Interessenvertretung deutscher Psychotherapeuten im Dritten Reich (ZfP, Bd. 7, S. 140–144). C.G. Jung, Schweizer Staatsbürger und seit Juni 1933 Erster Vorsitzender der Allgemeinen Gesellschaft, fungierte von Heft 3/1933 an als alleiniger Herausgeber des Zentralblatts. Ab Heft 2/1936 wurde es von M.H. Göring mitherausgegeben, ab 1941 nur noch von ihm. Zu Beginn des Jahres 1941 hatte die Zeitschrift 303 Abonnenten, »darunter 41 Ausländer«. Ende 1941 war die Abonnentenzahl auf 380 gestiegen, davon 51 Ausländer (ZfP 1942, Bd. 14, S. 74). Ihre Auflagenhöhe ließ sich bislang nicht feststellen. Folgt man den Stichwortverzeichnissen, die die Jahresbände abschlossen, kam es hier zwischen 1932 und 1934 zu einem regelrechten Absturz, was die Aufmerksamkeit betraf, die der Psychoanalyse zuteil wurde747: War 1932 im Sachregister noch 104 Mal auf die Psychoanalyse verwiesen worden, fand sich dort 1934 nur noch ein einziger Verweis.748 Liest man jedoch die Beiträge, stellt man fest: In Wirklichkeit wurde auch in diesem Jahr »Psychoanalyse« wohl einige Dutzend Male benannt.749 1932 war laut Namensregister 93 Mal auf Sigmund Freud Bezug 746 Später erst in Überstaatliche, dann in Internationale Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie umbenannt. Auch die Zeitschrift trug zunächst einen anderen Namen. 747 1933 wurde kein Register abgedruckt. Die Zahl der Nennungen war aber weiter sehr hoch. 748 Bzw. zwei Verweise, wenn man das Stichwort »Psychosynthese kontra Psychoanalyse« hinzuzählt (ZfP, Bd. 7, S. 379). 749 Allein in C. G. Jungs Beitrag tauchte sie, wenn auch mit offensichtlich abwertend gemeinten Anführungszeichen, auf vier Seiten achtmal auf, in den Beiträgen von van der Hoop und von Bjerre jeweils auf sieben Seiten 13 Mal. In den Beiträgen von Bjerre und Carp
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genommen worden – 1934 angeblich nur noch 17 Mal (ZfP, Bd. 7, S. 373).750 Doch auch diese Zahlengabe war deutlich zu gering751 – ein nicht nur für das Zentralblatt charakteristischer Sachverhalt, der zeigt, dass sich die tatsächliche Intensität, mit der Psychoanalytisches im Dritten Reich behandelt wurde, nur bei genauerem Hinsehen erschließt.752 1935 sollten die – nun wieder realistischeren – Zahlen der angegebenen Verweise zunächst ansteigen, dann allmählich sinken. Eine vollständige Darstellung aller Textstellen, in denen auf Freud, andere analytische Autoren, die Psychoanalyse, deren Thesen und Vokabeln Bezug genommen wurde, würde den Rahmen sprengen: Zwischen 1934 und 1943753 belaufen sich allein die offiziellen Registerverweise für »Sigmund Freud« auf 146 Nennungen. Für wesentlicher als bloße Häufigkeiten halte ich allerdings Inhalt und Qualität der Erwähnungen. Ich werde mich daher im Folgenden auf mir repräsentativ erscheinende Beispiele beschränken, die ich chronologisch geordnet habe.754
750 751
752
753 754
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stand sie sogar jeweils im Titel (ZfP, Bd. 7, S. 1–16, 261–277, 317–340). Kaum ein Beitrag in diesem Jahresband kam gänzlich ohne direkte oder indirekte Bezüge zur Psychoanalyse aus. Einmal davon unter dem Stichwort »Freud und Jung«. Um nur drei Beiträge zu nennen: Bei Jung wird Freud auf 12 Seiten 24 Mal namentlich erwähnt, bei van der Hoop 16 Mal auf sechs Seiten, bei Kranefeldt (ZfP. Bd. 7, S. 24–38) steht Freud im Titel und mehrfach im Text. Ich halte es für wahrscheinlich, dass hinter den falschen Zahlenangaben im Register 1934 wie auch hinter dem Weglassen des Registers für den Jahresband 1933 eine bewusste Absicht steckte: Korrekte Angaben hätten jedermann ohne Mühe erkennen lassen, welch bedeutende Rolle die Psychoanalyse in der Zeitschrift spielte. Dazu würde es auch passen, dass ab 1935 wieder exaktere Angaben gemacht wurden: Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass das Verweisen auf analytische Begriffe und Autoren doch nicht so gefährlich war wie erwartet. Entsprechendes gilt beispielsweise auch für die später angeführte Münchner Wochenschrift oder für Oswald Bumkes Buch Gedanken über die Seele (Bumke 1941). Bei Bumke taucht Freuds Name allein auf den Seiten 205–221 auf vier Seiten auf (ebd., S. 210, 212, 214, 220), auf die im Namensverzeichnis nicht verwiesen wird (ebd., S. 345; eine für die Seite 219 angegebene Nennung fehlt allerdings wiederum). Auch das von Bumke angeblich nur einmal verwendete Wort »Psychoanalyse« findet sich bereits in der Einführung zweimal (ebd., S. 10, Fn 2, S. 11, Fn 3), später mehrmals erneut (z.B. ebd., S. 208, 210). Mehrere Verweise auf »Freuds Lehre« oder »Freuds Schule«, mit denen natürlich ebenfalls die Psychoanalyse gemeint ist, kommen hinzu (z.B. ebd., S. 186, 209). Auch für 1944 wurde kein Register erstellt. Ich habe dazu alle angegebenen Stellen zu »Freud« und »Psychoanalyse« gelesen sowie sämtliche Hefte nach weiteren Nennungen zumindest durchblättert, zum größten Teil aber auch gelesen. Natürlich ließe sich auch hier eine wesentlich genauere und systematischere Textanalyse erstellen. Auf weitere wichtige Textstellen aus diesem Zentralblatt werde ich in anderen Buchabschnitten zu sprechen kommen.
2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
In den beiden ersten Zentralblatt-Heften von 1933 wurde die Psychoanalyse ohnehin noch oft, ausführlich und anerkennend behandelt. So schrieb Felix Mayer einen Beitrag Zur Frage der Sublimierung, Dorian Feigenbaum veröffentlichte seinen »Vortrag, gehalten zu Ehren von Professor Freuds 75. Geburtstag«, und für Kurse des Sommersemesters des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts wurde geworben (ebd., Bd. 6, S. 18ff., S. 26ff., S. 65). In Heft 3, veröffentlicht im Herbst 1933, schlug dann die politische Wende zu Buche. C.G. Jung verkündete im »Geleitwort«, dass von nun an die »schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie […] nicht mehr verwischt werden« sollen (ebd., S. 139). Aber im anschließenden Beitrag schrieb der niederländische Analytiker Johannes Hermanus van der Hoop: »Die neuen psychoanalytischen Methoden, die sich nicht mit der Freudschen Psychoanalyse identifizieren (Adler, Stekel, Jung, Maeder), sind doch aus letzterer abgeleitet […]. Daher ist es nötig, erst das Wesen der Psychoanalyse näher zu betrachten« (ebd., S. 147f.). Dem ließ van der Hoop eine ausführliche, würdigende Diskussion der Psychoanalyse inklusive sachlicher Kritik einiger Details folgen (ebd., S. 148–161). 1934 steigerte C.G. Jung seine Anwürfe zu offenem Rassismus: »Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk voraussetzen. Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt daher nach meiner Erfahrung ein Unbewußtes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen lässt. […] Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische […]. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, dass sie jüdische Kategorien […] unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte […]. Freud […] kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus […] eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments« (ebd., Bd.7, S. 9).
Der »Jungianer« G.R. Heyer schrieb im Anschluss, Freuds und Adlers Formulierungen seien »vielfach abwegig, ihre systematisierenden Versuche unhaltbar, ihre Übertreibungen geradezu wahnhaft, das Semitische in ihrer Psyche und Psychologie uns wesensfremd«. Doch hinter der »zeit- und rassebestimmte[n] Auffassung« werde, so Heyer weiter, »auch das ›Gute‹ klar« – bei Freud insbesondere die wertvolle Leistung, das Unbewusste erforscht zu haben (ebd., S. 21f.). W.M. Kranefeldt behauptete im nächsten Beitrag: Die versteckte Basis der Psychoanalyse sei Freuds »leidenschaftlicher Monotheismus, sein Jahweismus« (ebd., S. 35). 393
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Gleichwohl war einem der sicherlich von Jung gemeinten »germanischen Nachbeter« Freuds, Georg Groddeck (DPG-Mitglied und betroffen von den Bücherverboten), und seinem Buch Der Mensch als Symbol, 1933 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschienen, im selben Heft eine positive Rezension gewidmet (ebd., S. 109). Selbst ein ausdrücklich als Nationalsozialist auftretender Therapeut wie Kurt Gauger verdammte Freud nicht in Bausch und Bogen. Ein 1934 wiedergegebener Vortrag Gaugers begann mit der Ankündigung, »daß der Sinn meiner Ausführungen ein politischer ist, wie ich ja auch in der Uniform des Soldaten der Politik, des SAMannes vor Ihnen stehe«. Die Psychoanalyse kritisierte er danach als »eindeutig für die materialistische Weltanschauung Stellung« nehmend, daher den »Bereich des Seelischen seines Eigenwertes« beraubend (ebd., S. 159). Doch wenig später hieß es: »Wir bestreiten […] nicht den Wert einiger Thesen der Freudschen Psychoanalyse, die auf Grund […] naturwissenschaftlicher Beobachtung des menschlichen Seelenlebens formuliert wurden« (ebd., S. 165). Der ehemals mit der Psychoanalyse verbundene Hans von Hattingberg bemängelte im selben Jahresband, Freud sehe nur das Individuum und verliere dabei die »Beziehung zum größern überindividuellen Ganzen« aus dem Auge (ebd., S. 99). Dennoch könnten die Ärzte Freuds Werke, »die eine politisch begeisterte Jugend (von ihrem Standpunkt aus mit Recht) verbrannte [, nicht entbehren]. Wir müssen und dürfen uns zu dem bekennen, was wir seiner Arbeit verdanken, gleichviel, daß wir seine Irrtümer ablehnen, weil wir auf seinen Schultern stehend, weiter gelangt sind« (ebd., S. 103). Auch mit den nur 17 angegebenen Nennungen im Register lag Freud im Jahrgang 1934 sogar weiter auf Platz eins der namentlichen Erwähnungen – vor Jung mit 15 Nennungen.755 Und selbst Wilhelm Reich wurde noch dreimal genannt. Der Schwede Ivan Bratt bekundete seine »Übereinstimmung mit der Reichschen Auffassung« des neurotischen Charakters (ebd., S. 287). Der Niederländer E.A.D.E. Carp kritisierte erst die gesamte Psychoanalyse, die mittels freier Assoziation die »Denkdisziplin« des Patienten ausschalte und so dafür sorge, dass dieser »seine individuelle Selbständigkeit zum Behufe des Analytikers preisgibt«. Dann setzte er, sprachlich nicht völlig korrekt, fort: »Es ist mir bekannt, dass führende Psychoanalytiker (u.a. Wilhelm Reich in seinem kürzlich erschienenen Werk über Charakteranalyse […]) empfehlen, systematisch im Anfange jeder psychoanalytischen Behandlung die […] Widerstände abzubrechen [sic] und diese ›Widerstandsanalyse‹ von größter Bedeutung erachten« (ebd., S. 318f.).
755 Einmal davon unter dem Stichwort »Freud und Jung«.
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
J.H. van der Hoop schließlich kritisierte »einzelne Analytiker«, die »ihre moralischen Grundsätze […] mit der Psychoanalyse gleichsetzen«, und ergänzte in der Fußnote: »Dies zeigt sich an dem Beispiel Reichs, der die Psychoanalyse mit bestimmten kommunistischen und sexuellen Prinzipien gleichsetzt« (ebd., S. 337).756 1935 gewann Jung mit 44 zu 38 angegebenen Namensnennungen gegenüber Freud die Oberhand. Aus dem Repertoire des Internationalen Psychoanalytischen Verlags wurde in diesem Jahr Theodor Reiks Der unbekannte Mörder rezensiert. Reik war nicht nur jüdischer Herkunft, sondern auch vormaliges Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) und von den Bücherverboten betroffen. Der Rezensent lobte sein »überaus originelle[s] Buch, dessen reicher Inhalt einem kurzen Referat widerstrebt« (ebd., Bd. 8, S. 63). Besprochen wurde auch Der Seelenarzt. Handbuch für seelische Gesundheit, das von Wilhelm Stekel herausgegeben worden war. Stekel fand sogar in M.H. Göring einen interessierten Rezensenten: »Wesentlich sind die neuen Gesichtspunkte, die Stekel der Psychotherapie gebracht hat […]. Jeder Psychotherapeut sollte sich auch mit diesen Fragen beschäftigen« (ebd., S. 53).757 Geradezu eine Laudatio auf Freud veröffentlichte J.H. van der Hoop: »Ich sehe in der Psychoanalyse die objektivste Psychotherapie, die wir jetzt besitzen und bemühe mich, diese so gut wie möglich auszuüben. Ich bewundere an Freud nicht nur die Genialität seiner Methode und seiner Einsichten und die meisterhafte Genauigkeit, mit der er und seine Schüler dieses ungeheure neue Gebiet durchforschen, sondern vor allem seinen moralischen Mut zur Wahrheit, um den mancher Forscher ihn beneiden kann« (ebd., S. 171).
Zu kritisieren sei an der Analyse vor allem, ergänzte er, dass ganzheitlichen Zusammenhängen, Idealen, Einflüssen von Familie, Beruf, Nationalität, Rasse, Religion zu wenig Augenmerk zuteil werde (ebd., S. 172f.). H. Krisch monierte, das Unbewusste sei »leider durch Freud so diskreditiert worden, daß heute jeder Laie, wenn er nur den Ausdruck Unterbewußtsein hört, zwangsläufig an perverse Sexualität denkt« (ebd, S. 231).
756 Bratt, Carp und van der Hoop schrieben das für skandinavische bzw. niederländische »Sonderhefte«, die jedoch integriert wurden in die Zentralblattausgaben von 1934. 757 Vielleicht war allerdings M.H. Göring an Stekel auch gerade wegen dessen Differenzen zu Freud interessiert.
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Auch der Jahrgang 1936 zeigte Freud mit 20 Verweisen auf Platz zwei der Namensnennungen. Heft 6 enthielt unter der Überschrift »Psychoanalyse« eine zweieinhalbseitige Rubrik mit Rezensionen des Almanachs der Psychoanalyse, von Freuds Selbstdarstellung, von Richard Sterbas (WPV-Mitglied) Handwörterbuch der Psychoanalyse758 und von Anna Freuds Das Ich und die Abwehrmechanismen. Die zu diesen Büchern mitgeteilten Informationen waren sachlich bis ausdrücklich anerkennend. So urteilte der schweizerische Psychiater Otto Briner über Anna Freuds Buch: »[E]in Standardwerk der psychoanalytischen Literatur […] in einer selten klaren und anschaulichen Sprache geschrieben […] besonders wertvoll […]. Allen, die sich für die neuesten Forschungsergebnisse der Psychoanalyse und für die daraus resultierenden pädagogischen Forschungsergebnisse interessieren, sei das Buch warm empfohlen« (ebd., Bd.9, S. 373ff.).
1937/38, in Band 10, wurde Freud (15 Verweise) nicht nur von Jung, sondern auch von G. Heyer in der Anzahl der Nennungen überholt. Nun gab es in den Rezensionen keine eigene Rubrik »Psychoanalyse« mehr. Das erste Heft brachte einen längeren Artikel Zur geistigen Problematik der Psychotherapie von Viktor Frankl (der schon ein Jahr später, nach dem Österreich»Anschluss«, als Jude von NS-Berufsverboten betroffen sein sollte und 1942 in ein Konzentrationslager eingeliefert wurde). Frankl bezog sich ausführlich auf Psychoanalyse und Individualpsychologie als »große historische Repräsentanten« geisteswissenschaftlicher Entwicklungstendenzen (ebd., Bd. 10, S. 33ff.). Im selben Heft wurde Ernest Jones’ Imago-Artikel Die Psychoanalyse und die Triebe von DPG-Mitglied Ewald Roellenbleck759 positiv rezensiert – unter klarer Bezugnahme auf die Triebtheorie: »Jones, Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, ist einer der ältesten Mitstreiter Freuds, seine psychoanalytischen Beiträge gehören seit Jahrzehnten zu den wesentlichsten und selbständigsten Arbeiten auf diesem Wissenschaftsgebiet […]. Behandelt wird die Entwicklung der psychoanalytischen Triebtheorie […]. Ob nun von Sexualtrieben und Ichtrieben gesprochen wurde, oder, wie heute, von Lebens- und Todestrieben, eines erhielt sich unverändert durch diese Wandlungen: der dualistische Charakter der psychoanalytischen Trieblehre« (ebd., S. 50).
758 Erste bis dritte Lieferung (Schlagworte von »Abasie« bis »Energie«). 759 Biografische Angaben zu ihm in Hermanns (1991, S. 116f.).
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Bereits auf der nächsten Seite des Zentralblatts begann eine ausführliche Rezension von Karen Horneys The neurotic personality of our time (ebd., S. 51–55). Rezensent Edgar Herzog hielt dieses Buch zwar offensichtlich auch deshalb für »anregend aufschlussreich«, weil sich Horney in mancher Hinsicht von Freud abgrenzte – nutzte diesen Sachverhalt aber nicht zu Attacken gegen Freud, sondern verwies unter anderem auf Horneys wiederholt ausgesprochene, dankbare »Anerkennung der grundlegenden Leistung Freuds«. Karen Horneys schon erwähnter Artikel Das neurotische Liebesbedürfnis eröffnete dann Heft 2 des 10. Bandes. J. Meinertz billigte der Psychoanalyse die »durchaus berechtigte Fragestellung« zu, inwiefern seelische Abläufe triebhaft bedingt seien, meinte jedoch, Zirkelschlüsse in den diesbezüglichen Antworten der Analytiker zu entdecken sowie eine grundsätzliche Ignoranz gegenüber der »Welt der Werte« (ebd., S. 113f., 118). 1938 begann Fritz M. Meyer in Heft 3 seinen Beitrag Der Gewinn der Neurose mit der Frage: »Was ist eine Neurose?« Er schrieb dann weiter: »In dem Schrifttum der drei großen Forscher der gesunden und kranken Seele finden wir zahlreiche Erklärungsversuche dieses Begriffs.« Diese Forscher zitierte er nun in der Reihenfolge: Freud, Adler, Jung (ebd., S. 166). Im selben Heft verwies Edgar Herzog auf eine Ausgabe des American Journal of Sociology, zu der »sieben hervorragende Psychologen« beigetragen hätten, deren Namen »auch in Deutschland alle bekannt sind: Alfred Adler, Franz Alexander, Trigant Burrow, Elton Mayo, Paul Schilder, David Slight, Harry Stack Sullivan« (ebd., S. 183) – also überwiegend Psychoanalytiker. Das Doppelheft 4/5 wurde vermutlich im Juli 1938 veröffentlicht, also nach dem Österreich-»Anschluss« und Freuds erzwungener Emigration nach Großbritannien und während bereits die Liquidierung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages lief. In diesem Heft wies Otto Briner auf den im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschienenen Almanach der Psychoanalyse hin: »Neben Originalbeiträgen enthält der Almanach eine geschickte Auswahl aus allen Gebieten der analytischen Forschung, die in letzter Zeit in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind. S. Freud ist mit drei Abhandlungen vertreten: Moses ein Ägypter; Wenn Moses ein Ägypter war [also Texten, in denen sich Freud, wenn auch ohne offenen Bezug zum Faschismus, mit Wurzeln des Antisemitismus auseinandersetzte – A.P.] und Die endliche und die unendliche Analyse« (ebd., S. 279).760
760 Konkret handelte es sich um die gesamte erste Abhandlung Moses, ein Ägypter, die ersten drei Abschnitte der Abhandlung Wenn Moses ein Ägypter war … (Freud 1989a, S. 457) und um die »letzten achteinhalb Absätze von Abschnitt VI« der Schrift Die endliche und die unendliche Analyse (ders. 1989b, S. 352).
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Über dreieinhalb Seiten wurde im selben Heft das Buch Die psychotherapeutischen Schulen positiv besprochen, in dem Freuds, Jungs und Adlers Denk- und Therapierichtungen als gleichberechtigt angesehen wurden – eine Einschätzung, die offensichtlich auch der Rezensent teilte (ebd., S. 280–284). Heft 6/1938 enthielt den Vortrag Felix Schottlaenders über Die Mutter-Kind-Beziehung in ihrer Bedeutung für die Neurosenentstehung. 1939 behauptete Freud mit 25 Nennungen wieder den zweiten Platz hinter Jung (37 Erwähnungen). Die »wissenschaftlichen Aufsätze« im ersten Heft eröffnete G.H. Grabers bereits besprochener Artikel Die Widerstandsanalyse und ihre therapeutischen Ergebnisse. Heft 3/1939 wurde mit einem Beitrag Über die psychokathartische Behandlung von R. Krauss eröffnet, der mit dem Satz begann: »Im Jahre 1893 haben Breuer und Freud in Wien Studien über die Hysterie veröffentlicht.« Dann bescheinigte er beiden die Urheberschaft dieser Art von Behandlung und ergänzte: »Freud ist von der von ihm psychokathartisch genannten Methode zu der psychoanalytischen übergegangen« (ZfP, Bd. 11, S. 129). Im selben Heft finden sich MüllerBraunschweigs Forderungen an eine die Psychotherapie unterbauende Psychologie (ebd., S. 168–176). Heft 4 des Jahrganges enthielt Scheunerts Über psychotherapeutische Kurzzeitbehandlungen (ebd., S. 206–220). W.M. Kranefeldt bescheinigte »Freud, Adler, Stekel«, eine »wider die Seele gerichtete Psychotherapie jüdischer Mentalität« zu vertreten, wobei er »jüdisch« nicht polemisch, sondern »im charakterisierenden Sinne« meine: als Misstrauen gegenüber der Seele, ein Zug, der freilich »dem konventionellen Begriff von Wissenschaftlichkeit sehr wohl entspricht« (ebd., S. 249). In Heft 5 wurde Freud einmal mehr vorgeworfen, zu einseitig materialistisch zu denken (ebd., S. 313). Im selben Jahr 1939 richtete übrigens Oluf Brüel an M.H. Göring den Vorschlag, im Zentralblatt einen Nachruf auf den im September 1939 verstorbenen Sigmund Freud aufzunehmen – was Göring keinesfalls rundweg ablehnte. Er bestand nur darauf, das selbst zu klären und kein Bild von Freud beizufügen. Letztlich erschien dann allerdings doch kein Nachruf (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–2). 1940 blieb Freud, 13-mal angeführt, auf Platz zwei der Nennungen. Heft 1 brachte unter anderem eine Rezension zu Felix Mayers Die Struktur des Traumes, in der der Rezensent beschrieb, wie Mayer »seine Traumeinteilung in die Systeme Freuds und Jungs einfügt. Freud dringt auf dem Wege lautsprachlichen Denkens zu wohlgeahnten, noch ›unerklärten‹ Tiefen vor« (ZfP, Bd. 12, S. 56). F.M. Meyer schrieb: »Der Traum ist und bleibt das wahrste Spiegelbild unseres Ich oder, wie Freud sagt, die via regia zum Unbewußten« (ebd., S. 34). 398
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S. Morita verwies auf Freuds Erkenntnis des Sinns hysterischer Symptome: eine Entdeckung, »für die wir danken müssen« (ebd., S. 48). W. Kemper stellte ein sprachwissenschaftliches Buch über die Antike vor und kommentierte die dort zahlreich aufgelisteten Bezeichnungen für Genitalien: »Fürwahr ein Symbolreichtum, dem gegenüber die so oft kritisierte psychoanalytische Sexualsymbolik geradezu verblaßt!« (ebd., S. 190). C. Müller-Braunschweig besprach, wie erwähnt, im Doppelheft 4/5 J. Meinertz’ Buch Psychotherapie – eine Wissenschaft! (ebd., S. 273–287). Heft 6 begann mit einer Ehrung Leonhard Seifs zu dessen 75. Geburtstag. Seifs psychoanalytische Wurzeln wurden in ihrer Bedeutung relativiert, aber nicht völlig unterschlagen: »Er suchte zunächst Fühlung mit C.G. Jung, dann gründete er mit Jung und Freud die Internationale Psychoanalytische Gesellschaft [sic] im Jahre 1910. Schon 1919 wandte er sich von Freud ab« (ebd., S. 321). Im selben Heft schrieb Harald Schultz-Hencke über Das Unbewußte in seiner mehrfachen Bedeutung (ebd., S. 336–349). Ebenfalls in Band 12 lobte J.H. Schultz eine »lebendige und vorurteilsfreie Einführung in die Psychotherapie«, in der »die Schulen« vorgestellt wurden, dabei unter anderem »Freuds Libidotheorie«, »Ödipuskomplex«, »Übertragung«, »Sublimierung« (ebd., S. 350). In Band 13 (1941/42) tauchten neben Jung auch Goethe, Klages, J.H. Schultz, Kretschmer, Kant und E.R. Jaensch öfter auf als Freud, der neunmal genannt wurde. Rezensent Hans Schärli aus Zürich äußerte »Erstaunen« über die »ironisch-sarkastischen Auslassungen« von Ludwig Klages »gegen die psychoanalytische Schule« und begrüßte den Versuch, »die graphologischen Befunde Klages’ mit den psychologischen Ansichten Freuds, Adlers und Jungs in Verbindung zu bringen« (ebd., Bd. 13, S. 71). Gertrud Fuhge vermerkte in ihrer Besprechung von Havellock Ellis’ Freuds influence on the changed attitude toward sexuality, Freud sei, Ellis zufolge, »als der Meister des Denkens und der Sprache anzuerkennen, die meisten seiner Resultate aber müssten einer radikalen Kritik unterzogen werden […]. Durch seine Darstellungsweise hat er in besonderem Maße dabei mitgewirkt, die Haltung unserer Kulturwelt gegenüber der Sexualität zu verändern« (ebd., S. 348).
Im »3. Beiheft« zum 1941er Zentralblatt, S. 5–33, fand sich neben dem bereits erwähnten Beitrag von G.H. Graber Ilse Döhls Artikel »Gottfried Wilhelm Leibniz als Entdecker des Unbewussten und als Psychotherapeut«. Hier ging es der Autorin offenbar nicht zuletzt darum, kundzutun, dass »der Weg zur Erforschung und Lenkung unbewußter seelischer Funktionen niemals über Freud und seine Schule gegangen« wäre, wenn Leibniz’ Anschauungen früher Beachtung 399
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gefunden hätten (ebd., S. 8). Psychoanalyse sei »fremdrassische[r] Scharfsinn«, dem es gelungen sei, »eine Fiktion der Seele zu konstruieren«, der aber durch seine »zersetzenden Folgerungen« den »allgemeinen Widerstand gegen den Begriff des Unbewußten heftig verschärft« habe (Döhl 1941, S. 7). In Band 14 (1942/43) lag Freud mit zehn Nennungen hinter R. Bilz, M.H. Göring, Heyer, Jung, Nietzsche, J.H. Schultz und Seif. Im Doppelheft 1/2 wurden die Jahresberichte verschiedener DIPFP-Zweigstellen veröffentlicht. Diesen zufolge waren 1939/40 unter anderem Veranstaltungen zu folgenden Themen durchgeführt worden: »Über das Problem der Übertragung«, »Über das Unbewußte«, »Die Fehlleistungen«, »Über Traumdeutung«, »Trieb- und Reaktionsbildung« und »Der Ödipuskomplex« (ZfP, Bd. 14, S. 61f.). Im selben Heft wurde Koenig-Fachsenfelds Buch Wandlungen des Traumproblems von der Romantik bis zur Gegenwart besprochen. Dazu hieß es: »Noch vor nicht allzu weit zurückliegender Zeit war man geneigt, das Traumproblem engstens nur mit dem Namen Freuds zu verbinden.« Am Ende des Buches, so der Rezensent weiter, »erhält man in die Besonderheiten der Anschauungen der Vertreter der drei bekannten Schulen – Freud, Adler, Jung – zum Traumproblem ausführlichen Einblick« (ebd., S. 87ff.). In Heft 3/4 musste sich der Autor von Die natürliche Behandlung und Heilung der Nervenkrankheiten vom Rezensenten vorwerfen lassen: »So leicht kann man aber die Ergebnisse der modernen Psychologie nicht abtun. Verf. wird weder Freud noch Jung […] gerecht« (ebd., S. 206). Im selben Heft fand sogar Wilhelm Reich noch einmal Erwähnung. Oluf Brüel rezensierte (in schlechtem oder schlecht übersetztem Deutsch) Harald Schjelderups Neurosen und der neurotische Charakter und vermerkte dazu unter anderem: »Dieses Buch gibt eine Übersicht über die Gesichtspunkte des Autors nach ca. 15jähriger Arbeit mit der Psychoanalyse.« Schjelderup zeige drei Hauptwege zum Umgang mit Neurosen auf: »Der dritte Ausweg wird hier vom Autor besonders empfohlen. Dieser besteht nach dem Autor nicht mehr in einer eigentlichen Psychoanalyse […]: Bald als eine Art vertiefte psychische Anamnese, bald als eine mehr weitgehende Charakteranalyse nach Reich und schließlich als die Behandlungsform, die man ›Vegetoterapi‹761 nennt« (ebd., S. 185).
761 »Vegetotherapie« – von Schjelderup hier falsch oder dem Norwegischen entsprechend geschrieben – war in den 1930er Jahren eine von Reichs Bezeichnungen für seine Körperpsychotherapie.
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Zusammen mit den Erwähnungen Reichs durch Bratt, Carp und van der Hoop belegt dies, dass selbst Reich nicht derart verpönt war, dass er überhaupt nicht mehr erwähnt werden durfte. In Heft 5 dieses Jahrgangs besprach Werner Kemper Karl Bonhoeffers Buch Nervenärztliche Erfahrungen und Eindrücke und erwähnte dabei, dass »der Psychotherapeut […] mit Genugtuung« eine gewisse Nähe zu Bonhoeffer feststellen werde, unter anderem wenn dieser urteile, dass es »ein Verdienst der Freudschen Psychoanalyse gewesen ist, daß […] in der Psychiatrie therapeutische Ansätze sich zu zeigen begannen« (ebd., S. 307). Von Band 15 existieren offenbar nur zwei Doppelhefte. Dem Heft 1/2, Bd. 16 von 1944 – mit dem das Zentralblatt sein Erscheinen einstellen sollte – ist folgende Mitteilung beigefügt: »Infolge unvorhergesehener zeitbedingter Umstände hat sich das Erscheinen des Heftes 5/6 Band XV verzögert. Dieses Heft wird in den nächsten Wochen erscheinen.« Dazu scheint es aber nicht mehr gekommen zu sein.762 In den beiden publizierten Doppelheften von Band 15 meldeten sich Psychoanalytiker nur noch – dies aber mehrfach – als Autoren von Rezensionen nichtpsychoanalytischer Literatur zu Wort. In Heft 1/2 schrieb der zwar an der Psychoanalyse sehr interessierte, aber nicht zu den Psychoanalytikern zu rechnende Fritz Mohr (Cristofano 2007, S. 27, 59) über die Behandlung der, von ihm als Krankheit angesehenen, Homosexualität. Er schlug »als einzige, wirklich dauernde Erfolge bringende Behandlung die tiefenpsychologische, analytische« vor, diese müsse allerdings durch anderes ergänzt werden, da »die Analyse allein nicht im Stande [sei], etwas Dauerndes zu schaffen« (ZfP, Bd. 15, S. 18f.). Im selben Heft bemerkte W. Morgenthaler, Nicht-Analytiker und Herausgeber von Rorschachs Psychodiagnostik: »Im Gegensatz zum Assoziationsexperiment von Jung, zum freien Assoziieren und zur Traumdeutung der Psychoanalyse, fragt Rorschach nicht nach dem Inhaltlichen« (ebd., S. 27). In Heft 3/4 (ebd., S. 100, 118) erwähnte Beitragsautor Wilhelm Laiblin den – jüdischen – Wiener Analytiker Theodor Reik und charakterisierte den »Vorgang der Sublimierung« als »unentbehrliche Grundlage alles kulturellen und geistigen Fortschritts der Völker und jedes Einzelnen«. Schließlich war auch im Doppelheft 1/2 von 1944 noch mehrfach von Tiefenpsychologie und vom Unbewussten die Rede. Im Nachruf auf den am 19.3.1944 verstorbenen Hans von Hattingberg, mit dem das Heft begann, erfuhr der Leser 762 Laut Auskunft des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums der Humboldt-Universität vom 20.5.2011 ist weder im dortigen noch im Bestand einer anderen deutschen Bibliothek ein Zentralblatt-Heft 5/6 von 1943 vorhanden oder auch nur bekannt. Ein zusammenfassendes Namens- und Sachregister dieses Jahrgangs ist daher auch nicht verfügbar.
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zwar nicht, dass dieser auch mehrere Jahre Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gewesen war. Aber immerhin hieß es: »Mit der Psychotherapie war v. Hattingberg bereits sehr früh in Verbindung gekommen. 1911 schon sehen wir ihn als Schriftführer der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft [sic].«763 Als hervorhebenswert wurde Hattingbergs »bekannter Aufsatz über ›Die analytische Erschütterung‹« von 1928 angesehen (ebd., Bd. 16, S. 1f.).764 Auch dass am DIPFP unter seiner Federführung »das Thema der Übertragung tiefgründig behandelt« wurde, vermerkte der Nachruf. Im Zentralblatt für Psychotherapie, der für innerhalb Deutschlands wirkende Psychotherapeuten entscheidenden Zeitschrift, blieb es also bis zur Einstellung ihres Erscheinens möglich, würdigend von »Psychoanalyse« zu sprechen – von »Tiefenpsychologie« ohnehin – und zentrale analytische Termini wie »Übertragung«, »Projektion« und »Libido« zu gebrauchen, ohne sich davon zu distanzieren. Das geschah sowohl in den »wissenschaftlichen Beiträgen« der Zeitschrift wie auch in den oft ausführlichen Buch- und Artikelbesprechungen. Letztere bezogen sich allerdings ab 1940 nur noch gelegentlich direkt auf Publikationen, die von Psychoanalytikern verfasst waren, öfter aber auf Autoren, die auch die Bedeutung von Freud würdigten – neben, vor allem, Jung und Adler. Die Rezensionen waren zumeist mit Angaben zu Verlag, Seitenzahl und Preis versehen: »Freud, Sigm., Selbstdarstellung, Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1936, 107 S., Geh. [geheftet], RM [Reichsmark] 3,50, geb. [gebunden] RM 5,-«, hieß es da zum Beispiel (ebd., Bd. 9/1936, S. 375). Und in allen Heften wurden die Rezensionen eingeleitet durch die Mitteilung: »Sämtliche in diesem Heft besprochenen oder vom Verlag angezeigten Bücher sind in allen deutschen Buchhandlungen zu erhalten.« Mit anderen Worten: Die gesamte hier erwähnte analytische Literatur galt als in Deutschland legal verkäuflich. Eine Rezension im Zentralblatt war aber immer auch eine Werbung – und das schon aufgrund der gegebenen Zusatzinformationen, natürlich selbst dann, wenn es sich um eine kritische Besprechung handelte. 763 Einen Verein dieses Namens gab es nicht, die IPV kommt aber auch nicht in Betracht. Laut Auskunft von Michael Schröter vom 24.5.2011 könnte hier der Internationale Verein für medizinische Psychologie und Psychotherapie gemeint sein, dessen Schriftführer Hattingberg damals war. 764 Unter »analytischer Erschütterung« hatte er verstanden, dass Psychotherapiepatienten durch Konfrontation mit ihrem Unbewussten ihren bisherigen neurotischen Halt verlieren. Als Hattingberg 1928 diesen Beitrag veröffentlichte, hatte er sich bereits formal und inhaltlich von der psychoanalytischen Organisation abgegrenzt, bezog sich also auch nicht ausschließlich auf Freud (vgl. Hattingberg 1943, S. 26; Mühlleitner 1992, S. 134).
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Da Freud und andere im Zentralblatt rezensierte analytische Autoren gleichzeitig NS-Bücherverboten unterlagen, heißt das: Es wurde vielfach für verbotene Literatur geworben. Zumindest soweit man hier psychoanalytische Erkenntnisse auch positiv bewertete, wurden diese Erkenntnisse damit zugleich propagiert. Ich habe nur sehr wenige Fälle entdeckt, in denen Diffamierungen der Psychoanalyse klar dem nationalsozialistischen Geist folgten, indem sie die Analyse wegen ihres vermeintlich jüdischen Charakters rassistisch attackierten.765 Im 1934er Beitrag von C. G. Jung geschah dies am ausführlichsten und vehementesten. In dieser Hinsicht wesentlich knapper gehalten war der 1941er Beiheft-Artikel von Ilse Döhl. Dass Döhl sich bemühte, die Urheberschaft wesentlicher psychoanalytischer Erkenntnisse für Freud-Vorgänger zu reklamieren, war zwar eine im Dritten Reich gebräuchliche Argumentation – neu oder NS-typisch war daran aber nur, dass dezidiert auf das »Ariertum« dieser Vorgänger hingewiesen wurde (vgl. z.B. Bumke 1931). Auch Heyer und Kranefeldt nutzten antisemitisches Vokabular. Die meisten Anwürfe gingen jedoch über das schon vor 1933 gegen Freuds Schöpfung Vorgebrachte766 nicht hinaus. Eine Ballung an Aggressivität, Antisemitismus und grundsätzlicher, sich über ganze Seiten hinziehender Abwertung, wie sie die 1934er Auslassungen C.G. Jungs kennzeichnete, blieb einmalig im Zentralblatt für Psychotherapie. Lobende, zustimmende oder um Neutralität bemühte Erwähnungen der Psychoanalyse, in sachlichem Ton vorgetragene Detailkritiken überwogen bei Weitem: Von derartigen Statements habe ich in meiner obigen Zusammenstellung nur den kleineren Teil zitiert.
765 Ohne Bezugnahme auf die Psychoanalyse wurde im Zentralblatt des Öfteren die Bedeutung von »Rassenhygiene« und »Rassentrennung« betont. Das Thema »Erbbiologie und Rassenkunde« erhielt auch eine eigene Rubrik in den Referaten, zu der unter anderen M.H. Göring, E. Herzog und J.H. Schultz beitrugen (ZfP, Bd. 10, S. 301ff.). 766 Vgl. zum Beispiel die entsprechenden Zitate im Abschnitt »Psychoanalyse und Sexualwissenschaft« des vorliegenden Buches, die frühere Kritik an der Psychoanalyse im Zentralblatt für Psychotherapie, z.B. ZfP., Bd. 5, S. 779ff., die Dokumente in Cremerius (1981) oder die im Gesamtregister der Gesammelten Werke Freuds genannten Verweise zu den Stichworten »Psychoanalyse, Widerstände gegen d.« bzw. »Psychoanalyse, Vorurteile« (Freud 1999, S. 464f.). Auch wenn Kranefeldt Freud »Jahweismus« vorwarf, ging er damit nicht über bereits früher erhobene Anschuldigungen wegen angeblicher »talmudistischer Spitzfindigkeit« und Ähnlichem hinaus (Cremerius 1981, S. 9; vgl. auch Brecht et al. 1985, S. 88). Hans-Martin Lohmann schreibt über die Situation in Österreich vor 1938: »Natürlich galt die Freudsche Psychoanalyse in den Augen der meisten Konservativen und Katholiken als ›jüdische Wissenschaft‹« (Lohmann 2006a, S. 8). Bereits Gudrun Zapp informiert ausführlich über die rassistischen Anwürfe »arischer« Psychotherapeuten gegen die Analyse (Zapp 1980, S. 70–112).
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Eine weitere zeitgenössische, auch für den Bereich der Psychotherapie wesentliche Fachzeitschrift belegt: Dieser Umgang mit der Psychoanalyse war keine Ausnahme.
2.15.4 Das Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Diese von Karl Bonhoeffer herausgegebene Zeitschrift war ein »referierendes Organ«, d.h. ihre Ausgaben bestanden ausschließlich aus Rezensionen und Buchhinweisen. Sie hatte den Anspruch, über die gesamten, weltweiten Entwicklungen in Neurologie und Psychiatrie zu berichten und dabei »alle wichtigen Publikationen« einzubeziehen, darunter diverse deutsche medizinische Fachblätter. Pro Jahr erschienen bis zu sechs, oft recht voluminöse Bände. Über die Auflagenhöhe dieses Zentralblatts konnte ich bislang ebenfalls nichts in Erfahrung bringen. Unklar ist auch, ob vielleicht Bonhoeffer selbst auf die Auswahl zu besprechender Bücher Einfluss nahm. Er stand der Psychoanalyse zumindest nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, befürwortete den Nationalsozialismus nicht und war mit Angehörigen des antifaschistischen Widerstands verwandt. Ich habe nur Stichproben aus den Jahrgängen 1934, 1937, 1939, 1940, 1941, 1942 und 1943 untersucht.767 Spätere Bände sind, vermutlich wegen der Papierrationierungen, bis Kriegsende nicht mehr erschienen. Dabei habe ich jeweils nur eine – die erfolgversprechendste – der vielen Rubriken berücksichtigt: »Psychologie und allgemeine Psychopathologie«.768 Es dürfte also andernorts – zum Beispiel in der Rubrik »Therapie« – weitere Erwähnungen analytischer Schriften geben. Ein wichtiger einleitender Hinweis vor jedem Band dieses Zentralblattes lautete: »Zum Referat eingeforderte Monografien und Bücher werden besprochen, wenn ein Exemplar zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wird, andernfalls erfolgt nur Aufnahme des Titels.« Was hier rezensiert wurde – auch an psychoanalytischen Publikationen – lag also zuvor in Buch- oder Zeitschriftenform vor und war ganz sicher auch auf legalem Wege beschafft worden. Um aus der beeindruckenden Fülle analytischer Rezensionen nur wenige Beispiele herauszugreifen: 1934 wurde innerhalb eines von mehreren längeren 767 Zu finden sind diese Bände in der Berliner Staatsbibliothek (Kk 387 a/10) und der Charité Berlin (ZHGB, Gesch. d. Med., 7C 333). 768 Nur in dem 1943 als letztem vor Kriegsende erschienenen Band habe ich auch andere Rubriken berücksichtigt.
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Blocks mit fast durchweg positiven Rezensionen analytischer Literatur unter anderem Freuds Neue Folge der Vorlesungen ausführlich und anerkennend besprochen. Rezensentin war die DPG-Angehörige und ehemalige BonhoefferAssistentin Käthe Misch-Frankl (ebd., Bd. 69, S. 185ff.) 1937 beschäftigte sich eine der vielen Besprechungen analytischer Schriften erstaunlicherweise sogar mit einem – in der Internationalen Psychoanalytischen Zeitschrift erschienenen – Artikel der seit zwei Jahren inhaftierten und seit September 1936 wegen Hochverrats verurteilten Edith Jacobssohn: Beitrag zur Entwicklung des weiblichen Kinderwunsches (ebd., Bd. 83, S. 38). Rezensent Hans Christoffel, schweizerischer Psychoanalytiker und IPV-Mitglied, beschrieb den »Wert dieser ebenso knappen wie inhaltsreichen Darstellung«, indem er sich auf »oral-sadistische Einverleibungswünsche«, »anale und urethrale Geburtsphantasien und -praktiken«, »Penisbeobachtung beim Vater«, unfreiwillige Zeugenschaft beim elterlichen Verkehr und »genitale Einverleibungswünsche« bezüglich »des väterlichen Penis« bezog. War das nicht genau jene schon 1933 von der Leipziger Volkelt-Kommission angeprangerte Häufung »sexualpathologische[r] Erfahrung«, die angeblich »oft das Pornographische« streife? Im selben Jahr wurde auch ein in der Imago veröffentlichter Beitrag von Karl Landauer rezensiert: Die Affekte und ihre Entwicklung (ebd., S. 284ff.). Hier wurde Landauer zwar auch kritisiert – aber nur, weil er nach Meinung des Rezensenten hinter Freud zurückblieb. Das war insofern kein Wunder, als der Rezensent selbst Psychoanalytiker war: der damals in Leningrad lebende und arbeitende Lajos Szekely – wie Landauer ebenfalls jüdischer Herkunft (Hermanns 1992–2012, Bd. I/2, S. 89–139). 1939 wurden mindestens 40 analytische Publikationen zumindest sachlich, teils klar anerkennend, mit deutlichen Bezügen zur Psychoanalyse rezensiert, darunter Schriften von F. Alexander, W. Stekel, M. Balint, L. Kubie, M. Schmiedeberg, H. Nunberg, H. Meng, N. Hoel, K.R. Eissler, M. Grotjahn und B. Berliner (ZfNP, Bd. 91, S. 439, 446–451, Bd. 92, S. 38–44, 260). 1943 erfuhr man in der Rezension eines Buches von J.H. van der Hoop: »Auch die medizinische Psychologie ist ein Produkt des Fachmannes, in casu des Arztes (Breuer, Freud) […]. Die psychoanalytische Psychologie kann beanspruchen, die Grundlage des menschlichen Seins enthüllt zu haben« (ebd., Bd. 103, S. 50ff.). Der Rezensent von Kurt Seelmanns individualpsychologischem Buch Kind, Sexualität und Erziehung bemerkte dagegen: »Erfreulicherweise hält sich Verf. von den psychoanalytischen Sexualschnüffeleien und Symboldeutungskünsten der Freudschen Schule durchweg ferne« (ebd. S. 437). In diesem letzten Band dieses Zentralblatts, der noch vor Kriegsende erschien, hatte das Seelische allgemein deutlich an Bedeutung verloren gegenüber »Hirnsteckschüssen« und anderen Kriegsfolgen, sodass die 405
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Psychotherapie insgesamt sehr kurz kam. Aber immerhin wurden auch hier unter anderem Schriften der Psychoanalytiker Heinrich Meng (ebd., S. 108), Gustav Bally (ebd., S. 141, 476) und John Rickmann (ebd., S. 139) kurz und ohne kritische Bemerkungen erwähnt, ebenso Rudolf Bruns Allgemeine Neurosenlehre. Biologie, Psychoanalyse und Psychohygiene leib-seelischer Störungen (ebd., S. 123). Auch im Zentralblatt für Psychiatrie und Neurologie ist also eine hohe Zahl von Erwähnungen analytischer Literatur zu konstatieren und ein bemerkenswert toleranter Umgang damit. Hier blieb es ebenfalls möglich, Freud und die Psychoanalyse zu würdigen, geschah jedoch mit der Zeit seltener. Auch in dieser Fachzeitschrift wurden diverse Publikationen von Autoren rezensiert, die Buchverboten unterlagen. Analog zum Zentralblatt für Psychotherapie scheint es nur gelegentlich zu Diffamierungen gekommen zu sein. Kritik oder Schmähung der Psychoanalyse, die über schon vor 1933 erhobene Anwürfe hinausgingen, habe ich bei meiner Stichprobenuntersuchung nicht entdeckt. Wilhelm Reichs Massenpsychologie wurde natürlich auch hier totgeschwiegen. Reich selbst taucht jedoch zum einen 1939 innerhalb einer Rezension zu Nic Hoels Pseudodebilität auf, die, so heißt es da, »ausgehend von den Grundanschauungen der Psychoanalyse, und insbesondere den Schriften Wilhelm Reichs«, argumentiere (ebd., Bd. 93, S. 44). Zum anderen wurde auch Reichs Charakteranalyse rezensiert – und zwar ausgerechnet vom Führer der deutschen Seelenheilkunde, M.H. Göring. Zu diesem Zwecke war das Buch, wie schon erwähnt, im September 1933 direkt beim Internationalen Psychoanalytischen Verlag angefordert worden (AOI).769 Dass es dann tatsächlich zu einer Rezension kam, ist umso erstaunlicher, als Reich auch in der Charakteranalyse, insbesondere im Vorwort und im letzten Abschnitt des Buches, seine therapeutischen und politischen Auffassungen zusammenführte: »Ich habe mich bemüht zu zeigen, daß die Neurosen Ergebnisse der patriarchalischfamiliären und sexualunterdrückenden Erziehung sind, daß ferner ernsthaft nur eine Neurosenprophylaxe in Frage kommt, zu deren praktischer Durchführung im heutigen gesellschaftlichen System alle Voraussetzungen fehlen, daß erst eine grundsätzliche Umstülpung der gesellschaftlichen Institutionen und Ideologien, die von dem Ausgang der politischen Kämpfe unserer Jahrhunderts abhängt, die Voraussetzungen einer umfassenden Neurosenprophylaxe schaffen wird« (Reich o.J., S. 11).
Unter diese Sätze schrieb Reich: »Berlin, im Januar 1933«. An anderen Stellen wird deutlich, dass er sich jene Umwälzung als eine sozialistische vorstellte, 769 AOI, Correspondence, Box 1, Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
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die auch psychoanalytische Erkenntnisse und sexualreformerische Erfordernisse berücksichtigte. Ein Jahr später konterte M.H. Göring in seiner ZentralblattRezension: Reich »glaubt, daß das gesellschaftliche System der Zeit vor der nationalsozialistischen Revolution – denn in dieser Zeit ist das Buch geschrieben – nicht die Voraussetzungen in sich trage, um die Neurosenprophylaxe durchzuführen, daß erst eine grundsätzliche Umstülpung der gesellschaftlichen Institutionen und Ideologien […] die Voraussetzungen […] schaffen werde. Die Umstülpung hat mit einer gewaltigen Intensität begonnen, aber sicher nicht in der Form, wie Verf. es sich gedacht hatte, sondern in entgegengesetzter. Das neue Deutschland wehrt sich dagegen, dem sexuellen Triebleben die überragende Bedeutung zu geben, die es von Freud und seinen Schülern erhalten hat und der Verf. die Krone aufsetzt« (ZfNuP, Bd. 69, S. 188).
2.15.5 Zwei medizinische Wochenschriften In den deutschen Ärztejournalen, die sich nicht auf Psychisches spezialisiert hatten, war die Psychoanalyse auch vor 1933 offenbar nur eine Randerscheinung (Elliger 1986, S. 149–162; vgl. Cremerius 1981, S. 19f.). Für zwei dieser Journale770 habe ich den Umgang mit dem Thema Psychoanalyse für die NS-Zeit überprüft. Die Überprüfung war nur eine grobe; ich habe alle Stichwortverzeichnisse sämtlicher infrage kommender Jahrgänge nach »Freud«, »Psychoanalyse« und »Tiefenpsychologie« durchsucht. In der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlichte am 3.3.1933 Hans von Hattingberg einen würdigenden, nur Details kritisierenden Artikel Zur Entwicklung der analytischen Bewegungen (Freud, Adler, Jung). Am 5.5.1933 wurde der Almanach der Psychoanalyse und am 12.5.1933 Freuds Neue Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse wohlmeinend rezensiert (DMW, Bd. 1/1933, S. 328–333, Bd. 2/1933, S. 703, 743). In der Münchener Medizinischen Wochenschrift wurden am 17. bzw. 24.2.1933 der Almanach bzw. die Neuen Vorlesungen gewürdigt, am 10.11.1933 vermerkte Rezensent G. Heyer positiv, dass ein Buchautor »die historische Bedeutung Freuds dankbar anerkannt« habe. Das von Heyer rezensierte Buch von H. Egyedi hatte allerdings den Titel Die Irrtümer der Psychoanalyse. Eine Irrlehre mit einem genialen Kern. Am 12.1.1934 veröffentlichte E. Heun den anerkennenden Beitrag Psychotherapie in der modernen Tiefenpsychologie (Freud, 770 Komplett einsehbar in der Bibliothek des Institutes für Medizingeschichte der Charité Berlin unter den Signaturen BER 578/876 bzw. 578/e.
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Adler, Jung). Ende 1934 wurde ein Beiheft zur Internationalen Psychoanalytischen Zeitschrift ( J. Hermann: Die Psychoanalyse als Methode) durch Heyer besprochen: »Eine durch Bildung, Niveau und Klarheit des Denkens ausgezeichnete Arbeit methodologischen Inhalts, aus der auch ein Freuds Schule nicht angehöriger Analytiker vieles lernen wird« (MMW, Bd. 1/1933, S. 275, 316, Bd. 2/1933, S. 1791, Bd. 1/1934, S. 52–57, Bd. 2/1934, S. 1863). In den Stichwortverzeichnissen tauchten in beiden Wochenschriften die Psychoanalyse oder Freud771 bis Kriegsende dann nur noch äußerst selten auf. Diese Stellen zähle ich im Folgenden vollständig auf. 1935 mokierte man sich darüber, dass mit der angeblich als schädigend entlarvten Psychoanalyse immer noch Kinder behandelt wurden (MMW, Bd. 1/1935, S. 518). 1938 wurde kommentarlos vermeldet, die »von Freud geleiteten« Publikationen Imago und Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse »haben aufgehört zu erscheinen«; bald darauf hieß es: »In Norwegen ist die Psychoanalyse verboten worden« (ebd., Bd. 2/1938, S. 1056, 1216). Im selben Jahr erschien eine Rezension M.H. Görings, die genauerer Betrachtung wert ist. Er tadelte den bekannten Psychiater Oswald Bumke, weil dieser sich in seinem Buch Die Psychoanalyse und ihre Kinder. Eine Auseinandersetzung mit Freud, Adler und Jung (1938) so ausführlich mit der Freudschen Psychoanalyse befasse: »Weiß der Verf. nicht, daß Freud für uns längst wissenschaftlich abgetan ist?«772 Zudem mute es »heute eigenartig an, wenn Bumke, um Freud wissenschaftlich zu stürzen, als Gewährsmänner außer sich selbst namentlich drei Juden anführt: [Rudolf ] Allers, [Arthur] Kronfeld und [Erwin] Straus« (ebd., S. 1485). Bumke, den er als »Gelehrten aus der alten Zeit« abkanzelte, »dessen Geschlecht erst aussterben müsse, bevor die materialistische Einstellung Freuds überwunden ist«, 771 Mehrfach war der dort genannte Freud der mit Sigmund nicht verwandte Paul Freud. 772 Das dürfte sich auch darauf bezogen haben, dass Bumke – wie schon 1931 – schrieb, seine Kritik richte sich »viel mehr gegen die Methode der Psychoanalyse als gegen ihre Ergebnisse«, Freud sei ein »selbständiger Denker«, der »das Format« gehabt hätte, »eine neue Seelenkunde zu schaffen« (Bumke 1938, S. 10, 12, 14). Diverse von Göring als Herausgeber des Zentralblattes für Psychotherapie abgesegnete Äußerungen belegen allerdings ebenso wie später zitierte Mitteilungen von Göring selbst, dass er auch 1938 nicht der Meinung gewesen sein kann, Freud sei komplett »wissenschaftlich abgetan«. Eher dürfte sich Göring durch ausführliche Thematisierungen der Psychoanalyse wie die von Bumke daran gehindert gesehen haben, die ihm genehmen Teile von Freuds Schöpfung möglichst unaufällig zu vereinnahmen. Auch wenn Bumke darüber schrieb, »welche Gefahr die Psychoanalyse für die Seele eines jeden Volkes bedeutet und wie schlecht sie gerade für unser Volk paßt« (ebd., S. 2), stand er im Widerspruch zu der Wertung der Psychoanalyse als »sehr modernes medizinisches Fach«, die Göring bald darauf sogar im Völkischen Beobachter veröffentlichen sollte – siehe unten.
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
gab Göring mit auf den Weg, er solle sich »nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit der Tiefenpsychologie befassen« (ebd., S. 1485f.).773 Görings Ärger dürfte insbesondere entfacht haben, was Bumke nur geringfügig verklausuliert über die »neue deutsche Seelenheilkunde« zu sagen hatte. Nicht alle, die sich seit 1933 »von den psychoanalytischen Lehren abgewandt« hätten, schreibt Bumke, hätten sich auch »innerlich umgestellt«. Einige hätten »ihre psychoanalytischen Ansichten und […] Behandlungsarten einfach getarnt« und verkauften sie seitdem als »deutsche Psychologie«: »[D]iese Helden haben sich hinter Jungs breitem Rücken […] versteckt. Wie peinlich, dass sich ihr Meister immer wieder zu seiner Herkunft von der Psychoanalyse bekennt!« (ebd., S. 2). Doch auch Jungs eigene Methode müsse, so Bumke, aus verschiedenen Gründen bekämpft werden (ebd., S. 141).774 773 Gerade die »materialistische Einstellung« Freuds kritisierte jedoch auch Bumke (z.B. 1938, S. 10f.). Positiv hob Göring unter anderem hervor, dass Bumke die große Bedeutung von Unbewusstem und Sexualität anerkenne (MMW, Bd. 2/1938, S. 1485). Görings Kritik an Bumke macht eine ohnehin fragwürdige Mitteilung von Ernest Jones noch fragwürdiger. Jones behauptet, Bumke habe seine sowieso schon »vernichtende Anklage gegen Freud« 1931 zu dem Buch Die Psychoanalyse. Eine Kritik erweitert, das wiederum »in seiner zweiten Auflage den Nazis als Standardquellenwerk zu diesem Thema dienen sollte« (Jones 1984, Bd. 2, S. 139). Auch 1931 hatte Bumke jedoch betont, er halte Freud »für eine der bedeutendsten geistigen Erscheinungen der letzten Jahrzehnte«, seine Schriften für Produkte eines »ungewöhnlich geistreichen und selbstständigen Denkers«, dem »wir […] auf manchen Gebieten wertvolle Erkenntnisse verdanken«. Manche richtige Anschauung wäre ohne Freuds »Vorarbeit heute noch nicht möglich«, auch Bumkes »eigene Auffassung von den sich widersprechenden Strebungen in der menschlichen Seele« verdanke sich zu Teilen wohl »der kritischen Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Schriften«. Aber: »Freuds Dogmen« lehne er ab, »mehr noch als den Inhalt seiner Lehre bekämpfe ich seine Methode, weil sie allem ins Gesicht schlägt, was für mich exakte und damit nachprüfbare wissenschaftliche Forschung bedeutet« (Bumke 1931, S. 5). Er prophezeite: »Am Ende werden das Unbewußte, die Psychoanalyse und die Individualpsychologie ihren ursprünglichen Wortsinn wieder erhalten – wir glauben ja alle an das Unbewußte, analysieren alle die Psyche unserer Patienten.« Die besondere Methode Freuds werde dann jedoch »verschwinden« (Bumke 1931, S. 75). Bumke wurde später förderndes SS-Mitglied, kooperierte mit dem NS-Staat und identifizierte sich auch in seinen Fachschriften gelegentlich mit diesem (Klee 2003, S. 84; Bumke 1941, S. 148, Fn 1, 151, Fn 3). Seine Kritik an der Psychoanalyse wurde in einzelnen Sätzen härter (Bumke 1938, S. 59f.), die Wertschätzung Freuds vorsichtiger (ebd., S. 10, 12). Dass Bumke als häufig zitierte Quelle in Angriffen »der Nazis« – Jones schreibt nicht, wen er meint, nennt keine Belege – gegen die Psychoanalyse auftaucht, konnte ich nicht entdecken. Eine zweite Auflage des Bumke-Buchs von 1931 hat es zudem offenbar nicht gegeben. Vermutlich meinte Jones Bumkes, von Göring rezensiertes Buch von 1938, dessen erster Teil weitgehend Bumkes Schrift von 1931 entsprach, dann jedoch mit völlig neuen Texten fortsetzte und auch einen anderen Titel hatte. 774 Bumke ordnete den zu dieser Zeit in NS-Deutschland noch recht unangefochtenen Jung (Lockot 2002, S. 104f.) nicht nur als verkappten »Freudianer« ein, sondern widmete des-
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2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
Im Jahrgang 1939 der Münchener Medizinischen Wochenschrift vermerkte O.v. Zimmermann in der Rezension einer Schrift M.H. Görings : »[W]ir [müssen] das Störende, was uns die Juden in die Tiefenpsychologie gebracht haben, entfernen und müssen im Gegensatz zu Freud geschlechtliche Begriffe nicht auf Kinder anwenden« (ebd., Bd. 2/1939, S. 1370). Bemerkenswerterweise ist im Stichwortverzeichnis zu diesem Band der Münchener Wochenschrift weder ein Verweis auf »Freud« noch auf »Tiefenpsychologie« zu finden. Insofern ist es wahrscheinlich, dass beide Begriffe, vielleicht auch »Psychoanalyse«, öfter Erwähnung fanden, ohne dass sich dies im Stichwortverzeichnis niederschlug.
2.15.6 Der Völkische Beobachter und weitere Publikationen Wie berichtet, konnte Carl Müller-Braunschweig zwei Artikel in Nichtfachzeitschriften veröffentlichen – 1933 im Reichswart und 1939 in der Berliner Illustrierten Nachtausgabe –, in denen er psychoanalytisch argumentierte, in ersterer auch mit klarer Bezugnahme auf die Freudsche Lehre. Am 9.2.1941 fanden sich auch in der populären Koralle – Wochenschrift für Unterhaltung, Wissen, Lebensfreude psychoanalytische (sowie jungianische und adlerianische) Erkenntnisse, als Lebenshilfe angeboten von dem tiefenpsychologisch interessierten Arzt Otto Kankeleit.775 Unter der Überschrift »Dein Traum weiß mehr von Dir als Du!« berichtete er, unterstützt durch großzügige Illustrationen, über Unbewusstes, Verdrängung, Widerstände und Traumsymbole und schloss, der Traum könne »Warner, Erzieher, Berater, Kritiker sein, doch muß er richtig verstanden werden«. Die »Arbeit des Seelenarztes« bestehe darin, »dieses Traumwissen zu deuten« und »der Heilung der Neurose dienstbar zu machen«.776 Ich habe nicht nach weiteren ähnlichen Veröffentlichungen gesucht, nehme aber an, dass es sie gegeben hat. Wenn dem so wäre, hieße das: Freuds Wissen wurde,
sen spezifischen Ansichten eine umfangreiche Polemik (Bumke 1938, S. 88–149). Falsch sei zum Beispiel Jungs zentraler Gedanke eines »kollektiven Unbewussten« – der aber, wie Bumke wissen musste, von manchen NS-Psychotherapeuten hoch geschätzt wurde. Dennoch schrieb er triumphierend: »Ja, so ist es: ziehen wir aus Jungs großer Pyramide ein einziges Steinchen, nämlich die Hypothese von der Vererbung erworbener Eigenschaften heraus, so fällt das ganze Gebäude in sich zusammen« (ebd., S. 141). 775 Kankeleit hatte 1933 in Berlin das Buch Die schöpferische Macht des Unbewussten veröffentlicht (siehe www.kankeleit.de/otto/). 776 Den Hinweis auf diesen Artikel verdanke ich Wolfgang Leuschner, der mir am 30.10.2011 auch eine Kopie zugänglich machte.
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2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen
ohne ihn zu nennen, auch im Dritten Reich – in einem bislang unbekannten Umfang – weiterhin popularisiert, wurde weiterhin zusehends »Allgemeinwissen«. Dass es auch außerhalb von Fachmedien nicht strikt tabuisiert gewesen sein kann, die Analyse positiv zu erwähnen, belegt sogar der Völkische Beobachter. Dieser war nicht nur die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung (1938/39 knapp eine Million Exemplare), sondern auch das führende Organ der NSDAP, »gleichsam staats- wie parteioffiziell« (Frei/Schmitz 1999, S. 99ff.), herausgegeben vom NS»Chefideologen« Alfred Rosenberg. Am 3.12.1938 veröffentlichte dort M. H. Göring auf Seite fünf den Beitrag Deutsche Seelenheilkunde. Ein deutsches Wissenschaftsgebiet, das fast ausschließlich in jüdischen Händen lag. Diesem Motto entsprechend lautete einer der Kernsätze: »Ist auch […] beim Ausbau gerade dieser Tiefenpsychologie ganz unzweifelhaft weitgehend jüdischer Einfluß unter Führung von Freud und Adler mit am Werk gewesen, so ist das urtümliche Wissen jener Bereiche, um die sich eine Tiefenpsychologie bemüht, in kulturell bedeutsamen Zeiten einem Volke, und zwar gerade seinen bodenverbundenen Gliedern, allezeit vertraut gewesen.«
Schon diesen Beitrag, in dem die Wichtigkeit der Tiefenpsychologie und des Unbewussten mehrfach betont wird, charakterisierte eher Distanzierung von der Psychoanalyse als deren Diffamierung; das Wort »Psychoanalyse« wurde allerdings vermieden. Ein halbes Jahr später verzichtete M.H. Göring auf diese Zurückhaltung. Am 14.5.1939 wurde im Völkischen Beobachter unter der Überschrift »Auch die ersten Kindheitseinflüsse bestimmen die Lebensgestaltung« ein Göring-Interview verarbeitet. In dem eine ganze Zeitungsseite in Anspruch nehmenden Artikel (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 141) ging es unter anderem um die Frage, »wie es kam, daß die Psychoanalyse, die ein sehr modernes medizinisches Fach darstellt [!], einst [!] so zersetzend gewirkt hat.« Antwort: »Unbestreitbar hat die Kirche schwere Erziehungsfehler gemacht. Mit der Unterdrückung alles Sexuellen bereitete sie schließlich den Boden für den Einfall der Juden in das Gebiet der Psychoanalyse.« »Für den Deutschen«, erfuhr man anschließend einmal mehr, sei es aber »gar nicht nötig«, sich den jüdisch infizierten Teil der Analyse anzueignen, da er über die »Erkenntnis der im Unbewußten schlummernden Kräfte« ja bereits durch Leibnitz und Carus verfüge. Dann hieß es weiter: »Nur die Aufschließung des Unbewußten«, wozu insbesondere die Träume »wesentliche Anhaltspunkte« lieferten, ermögliche ein erfolgreiches »Bekämpfen« von Neurosen. Diese wiederum seien »zu einem großen Teil« durch Erziehungsfehler, vor allem aus der Zeit »bis zum 6. Lebensjahre«, verursacht. Indem er hier Neurotisierung hauptsächlich 411
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus
auf Erziehung – und nicht auf Triebkonflikte – zurückführte, folgte M.H. Göring weniger den damaligen Standpunkten Sigmund oder Anna Freuds als vielmehr den bereits zitierten Auffassungen von Harald Schutz-Hencke, Margarete Seiff, Felix Schottlaender – oder Wilhelm Reich. »Außerordentlich wichtig« sei für die Neurosenprophylaxe, hieß es weiter, die sexuelle Aufklärung: »Es sollte zu einem feststehenden Erziehungsgrundsatz werden, daß jede Kindesfrage beantwortet und nicht mit Ausflüchten wie zum Beispiel ›dazu bist du noch zu klein‹, abgetan wird.« Vermischt mit NS-Ideologie und gekoppelt an die gängige Umdeutung, bei der Psychoanalyse handele es sich um eine vorfreudsche, »arische« Errungenschaft, propagierte also – zumindest an diesem Tag – sogar der Völkische Beobachter analytische Grunderkenntnisse und lobte die Psychoanalyse, nicht etwa nur die Tiefenpsychologie, als ein »sehr modernes medizinisches Fach«. Auch das belegt, wie gut Teile der Freudschen Lehre in das nationalsozialistische System integriert waren. Als dieser Artikel im Mai 1939 im Völkischen Beobachter erschien, wartete Wilhelm Reich in Norwegen noch auf seine Ausreise in die USA. Dort sollte er seine letzten 18 Lebensjahre verbringen. Er ahnte nicht, dass er auch in Amerika diffamiert und verfolgt werden würde. Selbst das Verbrennen seiner Bücher musste Reich erneut erleben. Einer der Anlässe für dieses in der US-Geschichte wohl beispiellose Vorgehen gegen einen Wissenschaftler war, dass er die in der Massenpsychologie des Faschismus formulierten Erkenntnisse zuvor auf »linke« Bewegungen – und darüber hinaus – verallgemeinert hatte. Wenden wir uns ein letztes Mal Reichs Biografie zu.
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Wilhelm Reich nach 1945
3.1
Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA
Bereits 1939 wurde Reich vom FBI observiert. Das war nicht ungewöhnlich: Die meisten der in die USA Emigrierten waren alsbald geheimdienstlichen Nachforschungen ausgesetzt (Stephan 2007, S. 10). Das erste Dokument in Reichs FBIAkte stammt vom 7.12.1939 (Bennett 2010, S. 53), es wurde also nur dreieinhalb Monate nach seiner Ankunft verfasst. Ende April 1941 hieß es in einem weiteren FBI-Schreiben über Reich, er sei »eine potentiell gefährliche Bedrohung für die innere Sicherheit«.777 Am 3.11.1941 kommentierte Reich gegenüber Alexander Neill die im Sommer des Jahres eingetretene kriegerische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und der Sowjetunion: »Der Kampf Stalins gegen Hitler beweist nicht, daß sein System kein Hitlersches ist. […] Natürlich, jetzt kämpft er, weil er muß, aber ich glaube, Du zweifelst doch nicht daran, daß er es viel lieber gehabt hätte, an Hitlers Seite gegen die Demokratien kämpfen zu können. […] Wir müssen zwar gegen Hitler kämpfen, wo wir können, aber wir müssen nicht für Stalin kämpfen« (Neill/Reich 1989, S. 100f.).
Am 11.12.1941 traten auch die USA in diesen Krieg ein. Einen Tag danach kam Reich, wie zahlreiche andere Emigranten, als »gefährlicher feindlicher Aus777 »a potentially dangerous threat to internal security« (siehe Bennett/Peglau 2014, S. 53).
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3 Wilhelm Reich nach 1945
länder« in Haft. In den mehr als drei Wochen seiner Inhaftierung wuchs seine Angst vor Abschiebung nach Deutschland oder Verbringung in ein Lager mit tatsächlichen Nazis – wobei Letzteres eine durchaus realistische Befürchtung war. Währenddessen wurden sein Haus durchsucht, Dokumente und Bücher beschlagnahmt und er mehrfach verhört – all dies unbeschadet der Tatsache, dass er ein exponierter Antifaschist gewesen war und seine, zumal erzwungene, deutsche Staatsbürgerschaft längst beendet war (Reich 1999b, S. 128–137; Bennett 2010). Trotz oder vielleicht auch wegen778 dieser Behandlung entwickelte Reich eine teils naiv anmutende Idealisierung der politischen Strukturen der USA (vgl. Neill/Reich 1997, S. 76f., 102, 122, 424ff.). Parallel dazu wurde seine Absage an den Kommunismus sowjetischer Prägung immer vehementer. Sozialistische oder marxistische Ideen lehnte er zwar weiterhin nicht völlig ab, ging jedoch auf größere Distanz. Am 6.8.1942 ließ er Neill wissen: »Ich möchte auch nicht mehr für einen Marxisten gehalten werden; und dies trotz der Tatsache, daß ich Marx’ Errungenschaften heute höher schätze und besser verstehe als damals« (ebd., S. 121). 1946 schrieb er im Vorwort zur Neuauflage der Massenpsychologie, die marxistische Sicht sei »überholt durch grundsätzliche neue Vorgänge […]. Die marxistischen Parteien in Europa versagten und gingen unter (das ist nicht schadenfroh gesagt!), weil sie den Faschismus des 20. Jahrhunderts, eine grundsätzlich neue Erscheinung, mit Begriffen zu fassen versuchten, die dem 19. Jahrhundert entsprachen, […] weil sie es versäumten, die […] Entwicklungsmöglichkeiten, die jeder wissenschaftlichen Theorie anhaften, lebendig zu halten« (Reich 1986, S. 20).
Nachdem Reich bereits in Skandinavien seine Forschungen um biologische Aspekte erweitert hatte, führten ihn diese in den USA tiefer hinein in soziologische, medizinische und ökologische Themen. Auch Schwangerschaft, Geburt779 und wieder vermehrt Erziehung gerieten in seinen Blick – nicht nur, weil dies die konsequente Fortsetzung seiner Ideen über Neurosenprophylaxe war, sondern auch aufgrund privater Konstellationen. Kurz nach seiner Ankunft in New York hatte Reich seine spätere zweite Ehefrau kennengelernt, die damals 30-jährige deutsche Emigrantin Ilse Ollendorff. Dass er mit ihr 1944 den Sohn Peter in die Welt 778 Im Sinne einer Identifikation mit dem in diesem Fall ja wirklich übermächtigen Aggressor. Zudem: Wohin hätte er nun noch fliehen sollen? 779 Wobei er vieles vorwegnahm, was sich Jahrzehnte später unter Überschriften wie »Pränatale und perinatale Psychologie« oder »Natürliche Geburt« wiederfinden sollte (vgl. Janus 1993).
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3.1 Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA
setzte, veränderte Reichs Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Kindern wesentlich (vgl. Rubin Reich 2008). Immer wichtiger wurde ihm Alexander Neills Idee der demokratischen, nichtautoritären780 Erziehung und das auch von Neill vertretene Konzept der »Selbstregulierung«:781 Menschen besitzen Anlagen zu gesundem, kreativem, prosozialem Verhalten, die sich in einer förderlichen Umgebung selbsttätig entfalten. Dazu müssten jedoch, so Reich, bereits die frühesten Blockierungen der Selbstregulation, wie sie zum Beispiel durch medizinalisierte Geburtspraktiken verursacht würden, verhindert werden. Andernfalls käme es schon hier zu einschneidenden körperlich-seelischen Störungen, welche die Basis schüfen für spätere Neurosen: »Mit der Anerkennung des Unbewussten ist keineswegs das letzte Wort gesprochen, sondern es ist selbst das künstliche Produkt eines viel tiefergehenden Prozesses, der Unterdrückung des Lebens im neugeborenen Kind« (Reich 1997b, S. 333). Die Therapieform, mit der er sich diesem und anderen Problemen nun näherte, hatte sich allerdings wesentlich verändert im Vergleich zu den körperpsychotherapeutischen Ansätzen seiner Berliner und skandinavischen Zeit. Während Reich sich zunehmend auf die direkte Arbeit mit Körper, Energie, »Plasmasystem« konzentrierte, gerieten therapeutische Beziehung, Lebensgeschichte und Psyche der Patienten immer mehr in den Hintergrund. Aus Reichs Sicht war diese Entwicklung ein notwendiger Fortschritt (Reich 1999a, S. 472f.). In meinen Augen wurde hier Fortschreiten mit zu großem Verlust erkauft.782 Aus Psychoanalyse und Körperpsychotherapie wurde Körpertherapie.783 780 Gegen die entstellende Darstellung dieses Konzepts als antiautoritäre Erziehung hat sich Neill oft, aber oftmals vergeblich gewehrt. 781 Spätestens 1931 verwendete auch Reich diesen Begriff: in seiner Schrift Der sexuelle Kampf der Jugend (Reich 1931a, S. 61). Auf diese Stelle machte mich Philip Bennett aufmerksam. Ausführlich zur Selbstregulierung: Reich 1983. In Masse und Staat von 1935 nimmt Reich Bezug auf »Engels und Lenin über die Selbststeuerung«. 782 Gesprochen werden sollte nun in der Behandlung nur noch möglichst wenig, da die »Wortsprache regelmäßig auch als Abwehr funktioniert«, der »körperliche Bewegungsausdruck« ohnehin relevanter sei (Reich 1999a, S. 476). Bei Reichs sehr aktivem, bestimmenden therapeutischen Vorgehen, z.B. dem wiederholten »Induzieren« von Atmung (ebd., S. 531), war wohl auch kaum noch Platz für das Durcharbeiten von Übertragung und Projektion. Traten »sehr intensive Haßimpulse« auf, »klärte« er diese allerdings weiterhin mit »charakteranalytischen Methoden im psychologischen Bereich« (ebd., S. 559; vgl. auch Dahmer 1973, S. 385–388). Der konkrete Fall, an dem Reich dies in der 1949er Neuauflage der Charakteranalyse exemplifizierte, war allerdings der einer schwer schizophren gestörten Patientin. Möglicherweise ging er in leichteren Fällen anders, »psychologischer« vor. 783 Spätere Körpertherapeuten, die sich auf Reich beriefen, vertieften diese Richtung (vgl. Lassek, S. 79, 188).
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3 Wilhelm Reich nach 1945
In den Mittelpunkt seiner Forschungen stellte Reich zunehmend die Beschäftigung mit der von ihm »Orgon« genannten Lebensenergie – ein Phänomen, das deutliche Parallelen aufweist zu dem, was in China als Chi, in Indien als Prana und in der voreinsteinschen Physik als Äther784 bezeichnet wurde. Auch bezüglich des élan-vital-Konzeptes Henri Bergsons gab es, wie bereits erwähnt, Übereinstimmungen (Reich 1987, S. 28; vgl. Danzer 2011, S. 18–29). Nicht nur für die Heilung von Krebs und anderen schweren Krankheiten, auch für das Wieder-in-Fluss-Bringen erstarrter klimatischer Verhältnisse über Wüstengebieten meinte Reich damit einen Schlüssel in der Hand zu haben. Wenn sowohl Krebs wie Wüstenbildung auf Blockaden im Fluss der Lebensenergie zurückzuführen waren, sollte es, so Reich, auch in beiden Fällen heilend sein, diese Blockaden aufzulösen: Beim Patienten zum Beispiel mittels des die Lebensenergie konzentrierenden Orgon-Akkumulators, bei permanentem Ausbleiben von Regen zum Beispiel mittels des »Cloud-busters«, Wolkenbrechers (Sharaf 1996, S. 313– 401).785 Die Ergebnisse seiner Orgon-Forschung bezog Reich auch in die gravierend veränderte und erweiterte Fassung der Massenpsychologie des Faschismus ein, die er 1946 in englischer Sprache herausbrachte.786 Hier nahm er zunächst eine 784 Dazu, dass entgegen verbreiteten Annahmen die Nichtexistenz des »Äthers« nie experimentell nachgewiesen wurde, siehe Collins/Pinch (1999, S. 39–71). 785 Zu aktuellen Anwendungen von Reichs Orgon-Forschungen siehe zum Beispiel www.or gonelab.org oder www.desert-greening.com. 786 Nachdem Reich inzwischen auch für die Massenpsychologie zu der Auffassung gelangt war, dass »jedes Parteischlagwort«, auf das er in der ersten Fassung von 1933 zurückgegriffen hatte, »sinnlos geworden war«, nahm er weitreichende »Veränderungen in der Terminologie« vor: »Die Begriffe ›kommunistisch‹, ›sozialistisch‹, ›klassenbewußt‹ etc. wurden durch soziologisch und psychologisch eindeutige Worte wie ›revolutionär‹ und ›wissenschaftlich‹ ersetzt« (Reich 1986, S. 24). Auch »die Entdeckung der biologischen Energie, des Orgons«, habe Umformulierungen notwendig gemacht. Dass dies nicht in jedem Fall zu besserer Verständlichkeit führte, lassen bereits folgende Beispiele ahnen: »Das Marxsche Wort ›Bewußtsein‹ wurde durch ›dynamische Struktur‹, die ›Bedürfnisse‹ wurden durch ›orgonotische Triebprozesse‹ ersetzt, ›Tradition‹ durch ›biologische und charakterliche Versteifung‹ etc, etc.« (ebd., S. 24). Erschien die Originalfassung vermutlich vielen als zu kommunistisch, dürfte es nun vielfach Unverständnis oder Abwehr hervorgerufen haben, dass Reich die »Orgonomie« einbezog. Dennoch verkaufte sich das Buch nach Reichs Angaben gut und wurde 1949 von der New Yorker Zeitung PM als das Buch benannt, »das in der Public Library am häufigsten verlangt werde« (Reich 1995, S. 236). Um die Veränderungen in Wortwahl und Inhalt, die Reich vornahm, zu illustrieren, sei noch einmal an den »klassenbewusste[n] Arbeiter« erinnert, den er 1933 beschrieben hatte. Damals, in der Erstfassung, sah er ihn als denjenigen, der die kleinbürgerliche Struktur in sich außer Funktion gesetzt hat und sich selbst aufgrund des Bewusstseins, »der notwendigerweise
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3.1 Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA
wesentliche Ergänzung vor. Die menschliche Charakterstruktur, so schrieb er gleich zu Beginn des neuen Vorwortes, bestünde aus drei Schichten: »In der oberflächlichen Schichte seines Wesens ist der durchschnittliche Mensch verhalten, höflich, mitleidig, pflichtbewußt, gewissenhaft.« Darunter liege jedoch eine »mittlere Charakterschichte, die sich durchweg aus grausamen, sadistischen, sexuell lüsternen, raubgierigen und neidischen Impulsen zusammensetzt«. Dies entspreche dem Freudschen Unbewussten. Darunter sei schließlich der »biologische Kern« verborgen, der dem Menschen ermögliche, »ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier« zu sein (Reich 1986, S. 11) – die Basis der »Selbstregulations«-Fähigkeit. In meinen Worten beschrieben: Es gibt einen angeborenen »guten« Kern in uns, der lieben und geliebt werden möchte, Zärtlichkeit, Kontakt, Kommunikation und angemessenen, wenn nötig auch aggressiven Gefühlsausdruck braucht. Diese Bedürfnisse werden – zumindest im Patriarchat – nicht ausreichend befriedigt, was Trauer, Schmerz und Wut entstehen lässt. Auch diese Gefühle dürfen zumeist nicht ausgedrückt werden und stauen sich daher an, bis sie destruktive Ausmaße annehmen. Da solcherart angestaute Gefühle nicht ausgelebt werden können und dürfen, werden sie hinter einer Fassade sozialer Angepasstheit verborgen und niedergehalten. Das entfremdet uns zum einen von uns selbst und macht uns zum anderen zu »Zeitbomben« – man könnte auch sagen: potenziellen Faschisten, Stalinisten, Fundamentalisten usw. Destruktiv orientierte Menschengruppen oder Gesellschaftssysteme können auf diese Persönlichkeitsstruktur zurückgreifen. Zum Beispiel indem sie unserer zweiten, destruktiven Schicht Ventile, Alibis oder Feindbilder anbieten, um den dort aufgestauten seelischen Druck zu reduzieren, nach dem Motto: »Lasst uns in den Krieg ziehen gegen die wirklich Bösen!« Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, welche Vorstellung von Faschismus Reich inzwischen entwickelt hatte und in der neuen Fassung der Massenpsychologie vorstellte: aufsteigenden Klasse anzugehören«, als Führer fühlt (Reich 1933, S. 99f.). 1946 hieß es an gleicher Stelle, »der fachbewußte Arbeitende, also derjenige, der die Untertanenstruktur in sich außer Funktion gesetzt hat«, fühle sich selbst als Führer »aufgrund des Bewußtseins, lebensnotwendige gesellschaftliche Arbeit zu leisten« (Reich 1986, S. 76; Hervorhebung von mir – A.P.). Jene »seelischen Energien einer durchschnittlichen Masse«, die ein Fußballspiel oder eine kitschige Operette miterlebt, sollten nun nicht mehr zu den rationalen Zielen der Arbeiter-, sondern zu denen »der Freiheitsbewegung« gelenkt werden (Reich 1933, S. 55, 1986, S. 51). Die Ausgaben von 1933 und 1946 vergleicht auch Schmeling (1997, S. 35–45).
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3 Wilhelm Reich nach 1945
»[Im] charakterlichen Sinne ist ›Faschismus‹ die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung. Der mechanistisch-mystische Charakter der Menschen unserer Epoche schafft die faschistischen Parteien und nicht umgekehrt. Der Faschismus wird auch heute noch, infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder Japaner aufgefasst […]. Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge […]. Demzufolge gibt es einen deutschen, italienischen, spanischen, anglosächsischen, jüdischen und arabischen Faschismus […]. Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn, je nach politischer Konjunktur, nur im Deutschen oder Italiener und nicht auch im Amerikaner und Chinesen sucht; wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt, wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten« (ebd., S. 13–15).
Damit lag Reich wieder quer zum Zeitgeist. Denn 1945 hatte ja nicht nur in Deutschland, sondern auch international ein intensives Bemühen eingesetzt, vormalige Duldung und Unterstützung der Hitler-Diktatur, Mitwissen und Mitschuld am NS-Terror (Pauwels 2001, S. 186–212; Karski 2011, S. 447–472, 529–541; Breitmann 1999; Bayerlein 2008) vergessen zu machen. Zudem nutzten speziell Sowjetunion und USA die Verurteilung der NS-Verbrechen auch, um sich selbst als Gegenpole des Bösen zu stilisieren (Pauwels 2001, S. 154f.) und von eigenen Verbrechen in den Stalinschen Lagern787 oder in Hiroshima788 abzulenken. Schon insofern enthielten bereits diese Sätze aus dem neuen Vorwort der Massenpsychologie wieder eine enorme Sprengkraft. Und ich denke, sie tun das bis heute, zumal: Wer will sich schon die eigene, anerzogene Destruktivität bewusst machen? Wer will sich seine Kindheit und die Rolle, die Eltern und andere Erzieher darin spielten, unter diesem Gesichtspunkt noch einmal vergegenwärtigen?
787 In Dahmer (2009h, S. 490 und Fn 4) sind Vermutungen über Opferzahlen und diesbezügliche Literaturquellen zusammengefasst. 788 Der US-amerikanische Historiker Gar Alperovitz hat detailliert nachgewiesen, dass der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki keineswegs »kriegsnotwendig« war, sondern dass hier zehntausende Menschen in erster Linie dem US-Machtkalkül kaltblütig geopfert wurden, um durch demonstrativen Einsatz der neuen Waffe die »Position gegenüber […] der Sowjetunion […] außerordentlich stärken« zu können (Alperovitz 1995, S. 17).
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3.1 Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA
Dass er jetzt nicht mehr nur auf die massenpsychologischen Verhältnisse im Dritten Reich und bei dessen Verbündeten abzielte, sondern eine viel weiter gehende Vorstellung von Faschismus entwickelt hatte, machte Reich auch deutlich, indem er bereits im Vorwort von »Faschismus, ob schwarz oder rot« sprach (Reich 1986, S. 23).789 Inzwischen wohl endgültig ohne Hoffnung, dass in der Sowjetunion eine Rückkehr zur sozialistischen Revolution gelingen könnte, hielt er den Zeitpunkt für gekommen, seinen SU-kritischen 1935er Text Masse und Staat – und damit auch seine Analyse der »autoritär-nationalistischen« bis »faschistischen« »Entartung« der Sowjetunion – öffentlich zu machen (ebd., S. 190–255).790 Dies dürfte auch der Grund gewesen sein, warum die ersten heftigeren Gegenreaktionen von der Zeitschrift The New Republic kamen, die von einflussreichen amerikanischen »Linken« dominiert wurde. Dass gerade dieses Journal auf Reich aufmerksam wurde, könnte außerdem damit zusammenhängen, dass hier ohnehin Interesse an der Psychoanalyse bestand und Analytiker wie Gregory Zilboorg, Abram Kardiner oder, mehrfach, Karl Menninger publizierten (Fenichel 1998, Bd. 2, S. 986, 1342, 1606, 1651, 1673). Von Karl Menninger könnte auch die Anregung gekommen sein, sich in der New Republic mit Reich zu befassen. Als Leiter der bekannten Menninger-Klinik und Präsident der weltweit größten nationalen Analytikerorganisation American Psychoanalytic Association (APA)791 war er nicht nur einer der einflussreichsten Psychoanalytiker (May 1982, S. 1628). Er stand offenbar auch psychoanalytischen Faschismustheorien, die Soziales einbanden, ablehnend gegenüber. Dafür spricht seine 1942 veröffentlichte Rezension von Erich Fromms Escape from Freedom. Diese Buchbesprechung war, so berichtet Otto Fenichel, mit einer »Fülle von persönlichen Attacken und augenfälliger Ungerechtigkeit« gespickt und wertete speziell Fromms Versuche, Erklärungen für das Phänomen des Nationalsozialismus zu finden, deutlich ab (Fenichel 1998, Bd. 2, S. 1606). Für Menninger war auch Reich nachweislich ein Begriff. Nicht nur muss er ihn bereits (bzw. spätestens) zur Kenntnis genommen haben, als beide 1934 dem Luzerner IPV-Kongress beiwohnten.792 1942 kam von Menninger auch »die erste Reaktion der amerika789 Den Ausdruck »roter Faschismus« (Reich 1997b, S. 123; Neill/Reich 1989, S. 565) nutzte unter anderem auch FBI-Chef J. E. Hoover 1947 auf einer Rede vor dem House Committee on Un-American Activities (Stephan 1998, S. 25, 353). 790 Die zitierten Formulierungen finden sich hier auf S. 196ff., 216, 254. Auch dieser Text wurde von Reich überarbeitet, ohne allerdings die entscheidenden inhaltlichen Aussagen abzuwandeln. 791 Die APA handelte in mancher Hinsicht relativ autonom von der IPV (vgl. May 1982, S. 507ff.). 792 Siehe IPV-Korrespondenzblatt 1935/21, S. 143. Anschließend veröffentlichte Menninger einen Bericht über den Kongress im Bulletin of the International Psychoanalytic Association,
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3 Wilhelm Reich nach 1945
nischen Psychoanalyse« (ebd., S. 1629) auf Reichs neu erschienenes Internationales Journal für Sexualökonomie und Orgon-Forschung. In einer Besprechung schrieb Menninger dazu: »Um die Grundidee zu erfassen, sollte man den ›Vegetotherapie‹ benannten Artikel lesen. Der Patient entspannt sich auf der Couch und lernt so zu atmen, wie es erforderlich ist, um einen Orgasmus zu bekommen. Zum Glück nennt sich das nicht Psychoanalyse […]. Selbst in den verrücktesten Beiträgen lässt sich fast immer wenigstens noch ein einziger guter Gedanke finden – in diesem Fall war mir das nicht möglich« (zitiert ebd.).793
Der »Vegetotherapie«-Artikel, auf den sich Menninger hier bezieht, stammte allerdings nicht von Reich, sondern von dessen ehemaligem norwegischen Mitstreiter, dem Psychiater Odd Havrehold.794 Am 2.12.1946 veröffentlichte die New Republic eine Rezension der Massenpsychologie, verfasst von dem »links«-orientierten, psychoanalysekundigen795 Psychiater Frederic Wertham. Er würdigte Reich zunächst als einen der »brillantesten Wiener Psychoanalytiker«, dessen Beiträge zur Therapietechnik weithin anerkannt seien. Auch dass Reich sich gesellschaftlichen Fragen zugewandt und Marx studiert hatte, schien ihm des Lobes wert. Jetzt aber, mit der 1946er Massenpsychologie, sei Reich reaktionär geworden, er lenke mit Nazi-ähnlichen Parolen vom politischen Kampf ab. Wertham rief daher die Intellektuellen in »Wissenschaft, Literatur oder Journalismus« auf, ihre Kenntnisse zu verwenden, um gegen »die Art von Psycho-Faschismus« ins Feld zu ziehen, wie sie »Reichs Buch darstellt«.796 Reichs eindeutig gegen Faschismus und patriarchalischen Autoritarismus gerichtete Auffassungen wurden also gezielt in die gegenteilige Ecke
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1935, Heft 16, S. 120 (siehe www.pep-web.org/document.php?id=bip.016.0120a&PHPSE SSID=qr19jlc7r9jb0asgqdmr5m2pe3). James DeMeo teilte mir mit, Menninger sei nicht nur auf dem Kongress gewesen, sondern habe während seines Europa-Aufenthaltes auch Freud in Wien besucht. Übers. A.P. Fenichel, der den kompletten Text wiedergibt, nennt keine Quelle. Möglicherweise erschien diese Besprechung im Menninger Bulletin. Er schrieb hier unter dem Pseudonym »Walter Frank« (Fenichel 1998, Bd. 2, S. 1605; vgl. Rothländer 2010, S. 162, Fn 612). Grinstein 1956–1960 verzeichnet sieben, zwischen 1941 und 1949 entstandene Arbeiten Werthams mit Bezug zur Psychoanalyse, darunter Freud now von 1949 und eine Einführung für ein Buch von Wilhelm Stekel (Grinstein, Bd. 4, S. 2061). Bekannt wurde Wertham später damit, dass er gegen die angeblich kriminalisierende Wirkung von Comics zu Felde zog. Übers. A. P. Philip Bennett stellte mir eine Kopie des Artikels von Wertham zur Verfügung.
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gedrückt: ein auch weiterhin gegen ihn angewendetes Totschlagargument, wie wir später noch sehen werden. Anfang 1947 veröffentlichte die ebenfalls zum »linken« Spektrum gehörende Journalistin Mildred Brady einen New-Republic-Artikel (Der neue Kult um Sex und Anarchie), in dem sie das Thema Reich zunächst nur streifte. Ein weiterer Artikel Bradys in The New Republic, betitelt: Der seltsame Fall des Wilhelm Reich, nahm im Frühjahr 1947 Reichs Bemühungen, »Orgon«-Energie zur Heilung von, auch sexuellen, Störungen zu verwenden, zum Anlass, ihn der Scharlatanerie, Geschäftemacherei und Pornografie zu bezichtigen. Reich verspräche seinen Patienten, durch Benutzung der Orgon-Akkumulatoren automatisch orgastische Potenz zu erlangen. Da Brady offenbar annahm, Reich sei noch immer Psychoanalytiker, ermahnte sie die psychoanalytische Organisation, etwas gegen den wachsenden »Reich-Kult« zu unternehmen. Damit bezog sie sich vermutlich auf die Resonanz von Reichs Ideen unter jungen US-amerikanischen Intellektuellen, Künstlern und Literaten.797 Sollte, so Brady weiter, die Psychoanalyseorganisation nicht gegen diesen »Reich-Kult« vorgehen, müsse sie »vom Staat zur Disziplin gerufen werden« (Sharaf 1996, S. 433; Greenfield 1995, S. 60–65). Im International Journal of Psychoanalysis (Heft 28/1947 – siehe www.peb-web. org) war 1947 allerdings zunächst einmal eine recht ausgewogene Rezension der 1946er Massenpsychologie zu lesen. Der Analytiker Abram Blau kritisierte dort zwar unter anderem Reichs »esoterisches Orgon-Konzept« und seine (Über-) Betonung sexueller Unterdrückung als Ursache autoritärer Verhältnisse. Aber Blau bilanzierte: »Reich präsentiert eine interessante Beschreibung des Mystizismus, seiner gewaltigen emotionalen Macht und seiner Verwendung durch viele soziale Gruppen zu schändlichen Zwecken. […] Seine Beobachtung sozialer Vorgänge zeigt ungewöhnlichen 797 Zeuge davon wurde auch hier wieder der inzwischen in den USA lebende Franz Jung. Anknüpfend an die Wirkung, die Reich in Berlin gehabt hatte, sprach Jung nun von einer »zweite[n] Welle der Reich-Begeisterung unter der Jugend«, die er »in New York im Anfang der 40er Jahre im Künstler- und Poetenviertel Greenwich Village« »gesehen und erlebt« habe: »Vom Washinton Syuare [sic] bis hinauf zur vierzehnten Straße bis zum Union Square wurden die Thesen Reichs zum gesellschaftlichen Verfall leidenschaftlich diskutiert« (F. Jung 1982, S. 42). Es sei »bekannt genug«, so Jung weiter, »daß die literarische Elite, die heute [gemeint ist: in den frühen 1960er Jahren – A.P.] zur jungen Generation in den USA gerechnet wird, […] in starkem Maße von Reich beeinflußt wurde« (ebd.). Allgemein scheint aber der Bekanntheitsgrad des jetzt recht zurückgezogen lebenden Reich in den USA geringer gewesen zu sein als zuvor in Europa (vgl. Sharaf 1996, S. 320ff.).
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Scharfblick und eine bemerkenswerte Fähigkeit, soziologische, ökonomische und psychologische Fakten zu verbinden. Seine Erkenntnis, dass der Faschismus nicht nur eine ›politische Idee‹ ist, sondern auch eine bösartige emotionale Haltung, welche die menschliche Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen, in allen Nationen durchdringt, ist ausgesprochen beachtenswert« (Übers. A.P.).
Mit einer solchen öffentlichen Wertung sollte Blau jedoch offenbar die Ausnahme bleiben. Mildred Bradys Artikel wurde in verschiedenen Zeitschriften, eine davon – Everybody’s Digest – mit Millionenauflage, komplett oder auszugsweise nachgedruckt (Sharaf 1996, S. 434f.). Auch das Bulletin of the Menninger Clinic übernahm im März 1948 die Mitteilungen Bradys »als offizielle Position […] vollständig« (ebd., S. 435). Das belegt: APA-Präsident Karl Menninger trug zumindest wesentlich dazu bei, dass die Anti-Reich-Kampagne ins Rollen kam. Und es legt nahe, dass ihm Mildred Brady keine Unbekannte war.798 Dass 1951 im Cosmopolitan ein – ebenfalls mit Zitaten aus dem Brady-Artikel gespickter – Beitrag unter der Überschrift »Sind Psychoanalytiker wahnsinnig?« erschien (Greenfield 1995, S. 108), dürfte zusätzlich dafür gesorgt haben, dass sich manche Analytiker einmal mehr von der Vorstellung bedroht fühlten, mit Reich in einen Topf geworfen zu werden. Reich wiederum war nun gegenüber der Psychoanalyse und deren meisten Vertretern zwar verständlicherweise kritisch eingestellt – blieb aber ambivalent. Dies belegt auch das Interview, das er 1952 dem Analytiker und Mitbegründer des Freud-Archivs, K.R. Eissler, gab. Nach jahrelanger Arbeit mit der von ihm entwickelten Charakteranalyse und Körpertherapie und nach gründlicher Beschäftigung mit den Einflüssen, die der Verlauf von Schwangerschaft, Geburt und 798 Menninger könnte sie möglicherweise bereits 1934 kennengelernt haben, falls zutrifft, dass sie, zusammen mit ihrem Gatten, dem Ökonomen Robert A. Brady, als Gast am Luzerner IPV-Kongress teilgenommen hat. Dies schreibt – allerdings ohne sichere Quellen zu benennen – Jim Martin in Wilhelm Reich and the Cold War, S. 288 (persönliche Mitteilung von Philip Bennett). Mildred Bradys Interesse an der Psychoanalyse ist zudem dadurch belegt, dass sie 1951 im International Journal of Psychoanalysis eine Arbeit des Analytikers K.R. Eissler besprach (Grinstein 1956–1960, Bd. 1, S. 224). Reich kommentierte die Verbindung zwischen Menninger und Brady am 29.11.1948 in seinem Tagebuch: »Warum macht ein Psychoanalytiker wie Herr Dr. Karl Menninger gemeinsame Sache mit einer Klatschspaltenjournalistin wie Brady beim Töten der Wahrheit, beim Diffamieren meines Namens […]?« (Reich 2012, S. 27f., Übers. A.P.).
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frühester Lebenszeit auf Menschen haben, grenzte er sich dort so von der Psychoanalyse ab: »Freud […] war sehr erfolgreich dabei, bis zu der Grenzlinie vorzustoßen, wo sich die Sprache entwickelt, etwa zu Beginn des dritten Lebensjahres. Und dann blieb er stecken. Die Charakteranalyse setzte hier fort. Ich ging weiter bis zum nonverbalen, körperlichen Ausdruck, ging sogar noch weiter bis dahin, wo sich das Kind in der Gebärmutter bildet. Die Psychoanalyse weiß nichts davon, kann es nicht wissen. Das ist kein Vorwurf. Ich will damit nicht sagen, Psychoanalyse sei schlecht oder untauglich. Ich sage: Sie ist eine Psychologie. Und Psychologie muss sich an Psychologie halten, an psychologische Arbeiten und Ideen. Meine Arbeit setzte sich fort hinein in den bio-energetischen Gefühlsausdruck« (Reich/Eissler 1972, S. 26f.; Übers. A.P.).
Wiederholt betonte Reich hier, er habe nicht mehr das geringste Interesse an der psychoanalytischen Bewegung (ebd., S. 6, 26). Aber nur wenige Zeilen nachdem er dies zum zweiten Mal bekundete, kam er auf seine Entdeckung zu sprechen, dass sich von Geburt an biologische Energie im Menschen anstaue und dass ohne Auflösung dieser Stauung keine Lösung sozialer Probleme möglich sei – und er setzte hinzu: »Ich habe großes Interesse daran, diesen Gesichtspunkt in die psychoanalytische Bewegung einzubringen« (ebd., S. 26; Übers. A.P.). Dieses Anliegen wird auch dadurch untermauert, dass Reich dem Freud-Archiv im Jahr 1951 eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten übergab.799 Sigmund Freud wurde von Reich zwar ebenfalls nicht von sachlicher Kritik ausgenommen. Ihm jedoch fühlte er sich weiterhin in einer Weise verbunden, die idealisierende Züge hatte. Dass sein Ausstoß aus der Psychoanalyseorganisation gerade von deren Spitze, also von Freud ausgegangen sein musste, scheint Reich noch immer nicht vermutet zu haben. Dem Eissler-Interview wurde später folgende, von 1954 stammende Einschätzung Reichs vorangestellt: »Hinter mir liegt eine Zeit, welche letztlich einen kleinen Teil des Freudschen Gedankensystems aufgegriffen hat, aber den Mut Freuds, für sich allein zu stehen, völlig über Bord geworfen hat, sein Festhalten an einigen fundamentalen Wahrheiten, seinen ungebrochenen Sinn dafür, rücksichtslos zu benennen, was richtig ist – mit 799 Wie ich den detaillierten, 18 Seiten umfassenden Inhaltsangaben in den Archives of the Orgone Institute (AOI, Sigmund Freud Archives, Ernest Jones re. Freud biography) entnehmen konnte, ist diese Sammlung weit umfangreicher, als sich aufgrund der knappen Information dazu auf den Internetseiten der Library of Congress (memory.loc.gov/service/ mss/eadxmlmss/eadpdfmss/2006/ms006052.pdf ) annehmen lässt.
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anderen Worten: eine Zeit, die das grundlegende Erforschen menschlicher Emotionen geopfert hat zugunsten kleiner, unbedeutender Vergünstigungen wie Karriere, leicht verdientes Geld, problemlose Anerkennung durch Institutionen, welche ihre Existenz hauptsächlich der Verleugnung genau jener Lebenszusammenhänge verdanken, die sie vorgeben zu enthüllen« (ebd., o.S.).800
Durch die Pressekampagne gegen Reich war 1947 auch die in den USA für Arzneimittelzulassung zuständige Food and Drug Administration (FDA) auf ihn aufmerksam geworden. Eine jahrelange Observierung begann (Greenfield 1995, S. 66–106). Auf Betreiben der FDA kam es schließlich im Februar 1954 zum Prozess gegen Reich wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz (ebd., S. 357). Das Ergebnis des gegen ihn angestrengten Prozesses war im März 1954 unter anderem die Verfügung, dass sämtliche Gerätschaften, die als in Zusammenhang mit Orgon-Energie stehend angesehen wurden, und »alle geschriebenen, gedruckten und graphischen Materialien«, die auf eine Anwendung der Orgon-Energie abzielten, »vernichtet werden müssen«. Alle weiteren Schriften Reichs, in denen das Wort »Orgon« vorkam – entsprechende Anmerkungen dazu gab es nun in nahezu allen englischsprachigen Neuausgaben von Reichs Büchern – durften nicht weiter vertrieben werden (ebd., S. 385f.). APA-Sekretär Richard L. Frank schrieb am 19.4.1954 an den medizinischen Direktor der FDA: »Die American Psychoanalytic Association möchte die Food and Drug Administration für ihr effektives Vorgehen in dieser Situation loben. Dr. Reich und seine Mitarbeiter sind keine Mitglieder der American Psychoanalytic Association, und ihre Theorien und Aktivitäten sind allen unseren Theorien und Praktiken fremd … Unglücklicherweise waren wir nie in der Position, seine Aktivitäten in irgendeiner Form zu überwachen oder kontrollieren zu können« (zitiert in Sharaf 1996, S. 515).
Die erneuten Verfolgungserfahrungen machten es Reichs offenbar immer schwerer, seine seelischen Probleme zu kompensieren (vgl. Priese 1999). David Boadella schreibt über Reichs letzte Lebensjahre: »Von nun an gingen paranoide 800 Das – von mir übersetzte – Zitat befindet sich vor dem Inhaltsverzeichnis des Buches; eine Seitenzahl ist dort nicht angegeben. Im Interview selbst sagte Reich: »Wenn Freud nicht existiert hätte, wenn er nicht das Unbewusste, die Triebtheorie, die prägenitale Entwicklung des Kindes entdeckt hätte, hätte ich nicht weitergehen können hinein in das Gebiet der Bio-Energetik« (Eissler/Reich 1972, S. 32).
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Vorstellungen mit vollkommen rationalen Überlegungen und Einsichten Hand in Hand« (Boadella 1988, S. 296). Das erschwerte es anderen zunehmend, mit ihm zu kooperieren oder auch nur in Kontakt zu bleiben. Rückblickend urteilte der ihm seit 1936 in Freundschaft verbundene Alexander Neill: »Es war unmöglich, mit Reich zusammenzuarbeiten. Er war ein Mann, der alles oder nichts wollte. Man mußte seinen Weg gehen, und jeder Andersdenkende wurde rausgeworfen.« Aber Neill schrieb auch: »Ich hatte das große Glück, ihn zu kennen, von ihm zu lernen und ihn zu lieben« (Neill 1975, S. 176, 179). Mehrere Berufungen Reichs scheiterten, zögerten aber die Umsetzung der Verfügung bis 1956 hinaus. Mittels einer fadenscheinigen Begründung der Behörden (entgegen den gerichtlichen Auflagen sei inzwischen der Aufbewahrungsort der Schriften verändert worden), wurden nun auch jene Bücher in die Vernichtung einbezogen, die eigentlich nur aus dem Vertrieb genommen werden sollten (Greenfield 1995, S. 299). Der tatsächlichen Durchführung fielen dann sogar sämtliche vor Ort greifbaren Publikationen zum Opfer. An mehreren Tagen im Jahr 1956 wurden nun Reichs Geräte zerhackt und seine Schriften verbrannt (ebd., S. 287–302).801 Die »bei weitem größte« Zerstörungsaktion fand am 23.8.1956 in New York statt: »Knapp 6 Tonnen« Schriften Reichs und seiner Mitarbeiter, insgesamt »im Wert von rund 15000 Dollar [gingen] in Flammen auf«, darunter Reichs Die Funktion des Orgasmus, Die sexuelle Revolution, Charakteranalyse und die Massenpsychologie des Faschismus (ebd., S. 298, 302). Reich teilte einem der an den Vernichtungen beteiligten Inspektoren mit, »daß seine Bücher in Deutschland verbrannt worden seien und daß er nie damit gerechnet habe, daß so etwas noch einmal passieren würde« (ebd., S. 293).802 Da Reich darauf beharrte, Gerichte hätten nicht über wissenschaftliche Erkenntnisse zu befinden, kam er nicht allen gerichtlichen Auflagen nach. Daraufhin wurde er wegen Missachtung des Gerichtes zu zwei Jahren Haft verurteilt. Diese Haft trat er am 11.3.1957 an (ebd., S. 267, 304ff., 357). Knapp acht Monate später, am 3.11.1957, starb Wilhelm Reich 60-jährig im Gefängnis an Herzversagen.
801 Werner Fulds Behauptung, auch »der private Besitz von Schriften Reichs war verboten und wurde strafrechtlich verfolgt«, ist so realitätsfern wie manches andere, was Fuld über Reich mitteilt (Fuld 2012, S. 115f.). Weder wird Derartiges in der Klage gefordert (Greenfield 1995, S. 376f.) noch in der gerichtlichen Verfügung (ebd., S. 383–387) festgelegt. 802 Vier Jahre nach seinem Tod durften seine Bücher, so Bernd A. Laska, wieder gedruckt werden. Dies sei »stillschweigend« geregelt worden, um »das Aufsehen zu vermeiden, das früher oder später wegen dieses Zensuraktes – weniger wegen des Falles Reich – entstanden wäre« (Laska 2008, S. 127).
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»Die Nachricht von seinem Tod war niederschmetternd«, schrieb Alexander Neill, »aber dieses Gefühl wich bald einer Art Erleichterung. Erleichterung zu wissen, daß mein Freund nun den Quälereien seiner Feinde entzogen war, denn das Gefängnis muß die Hölle für ihn gewesen sein. […] Durch staatliche Restriktionen an der Arbeit gehindert, seine Bücher verboten, ein großer Teil seiner wissenschaftlichen Apparate verkauft, um die hohen Geldstrafen bezahlen zu können – ich sah keine Zukunft für ihn in Amerika. […] Ich habe ganz stark das Gefühl, daß der Unterschied zwischen Reich und allen anderen Wissenschaftlern, die ich kennengelernt habe, in seiner außerordentlichen Vitalität lag, in seiner Aufnahmebereitschaft, seiner Menschlichkeit, die sich so sehr von dem prosaischen, oft langweiligen Wesen orthodoxer Wissenschaftler abhob, die auf dem Boden bleiben müssen, weil sie nicht fliegen können. Reich ist so hoch hinauf geflogen, daß ich für meinen Teil, ehrlich gesagt, nie habe folgen können. Wenn die Gegner des Lebens, in deren Hand unser Leben zur Zeit liegt, die Welt nicht zerstören, dann besteht die Möglichkeit, daß Leute, die heute noch nicht geboren sind, eines Tages verstehen werden, was Reich gemacht und was er entdeckt hat« (zitiert in Boadella, S. 336f.).
Die Öffentlichkeit, schreibt Reich-Biograf Bernd A. Laska, »nahm Reichs Tod kaum zur Kenntnis« (Laska 2008, S. 128). Auch sein Werk drohte in Vergessenheit zu geraten. In den USA engagierte sich der Reich-Infant-Trust unter anderem mit Ausgaben aus Reichs Nachlass dafür, Reich vor dem Vergessen zu bewahren. In Europa wurde Reich erst durch die Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre wieder einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Dies war allerdings ein eher vorübergehender Effekt,803 zudem verbunden mit diversen Fehldeutungen. So wurde er zum einen hauptsächlich als »marxistischer Psychoanalytiker« eingeordnet – was ja gewiss nicht den »ganzen« Reich umfasst. Zum anderen wurde er als Kronzeuge für den Anspruch auf »freie Liebe« aufgerufen. Auch dem hätte Reich vermutlich kritisch gegenübergestanden. Am 8.5.1946 hatte er an Alexander Neill geschrieben: »Wenn unterdrückte Menschen das Wort frei verwenden, so meinen sie damit stets ein wahlloses Herumficken« (Neill/Reich 1989, S. 236). Verkürzungen seines Werks blieben typisch für viele, die sich Reich nun zu803 Schon 1976 konnten Grunberger und Chasseguet-Smirgel ihr Buch Freud oder Reich?, mit dem sie wohl in erster Linie auf diese kurzzeitige Reich-Renaissance reagierten, mit dem spürbar von Erleichterung geprägten Satz beginnen: »Der Einfluß von Wilhelm Reich scheint nachzulassen« (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 7).
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3.1 Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA
wandten. Dazu Bernd A. Laska bei einem Vortrag auf dem Seminário Wilhelm Reich im Goethe-Institut São Paulo, Brasilien im Jahr 2002: In der »1968er« Stidentenbewegung »galt der frühe, der ›europäische‹, der politische Reich als aktuell: der Kommunist, der Freudo-Marxist und Sexualrevolutionär. Seine Schriften, allesamt in deutscher Sprache (nur einige übersetzt), wurden ohne Erlaubnis der Rechteinhaber nachgedruckt und erzielten eine weite Verbreitung. Dennoch: nicht Reich war der Theorie-Guru der Studenten von Berlin bis Berkeley, sondern sein ebenfalls freudomarxistischer Gegenspieler, der damals noch aktive Philosoph Herbert Marcuse. Während die einstigen Anhänger des frühen Reich den späten als Geisteskranken schmähten, spielen die heutigen Reichianer, also meist Therapeuten oder/und Orgonomen,804 Reichs marxistische Phase als juvenile ideologische Verblendung herunter.«805
Als »linke« Studenten Reich wiederentdeckten, war er innerhalb der Psychotherapie beider deutscher Staaten längst ein weitgehend Unbekannter geworden. Erst zu Beginn der 1980er Jahre sollte sich daran etwas ändern.806 In der DDR begannen einige Psychotherapeuten, intern stärker auf ihn Bezug zu nehmen (Geyer 2011, S. 170, 448, 576f.). In Westdeutschland lenkte die Redaktion der Zeitschrift Psyche die Aufmerksamkeit auf die bis dato verhohlene Geschichte der in NS-Deutschland verbliebenen »Freudianer«, was einen Sturm der Entrüstung auslöste (Dahmer 1994a, 1997, S. 169f.; Nitzschke 1997, S. 93, Fn 35; Lohmann 1994). Als Zeitzeuge spielte dabei auch Wilhelm Reich eine wichtige Rolle. Das leitete einen Prozess ein, der dazu führte, dass die in den Psychoanalyseorganisationen über ihn tradierten Klischees in den 1990er Jahren gelegentlich auf Widerspruch aus den eigenen Reihen stießen. In den letzten Jahren der DDR verwies der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der Reichsche Ansätze in seine Arbeit einfließen ließ, auch öffentlich – ab März 1989 ebenfalls in Gesprächen, die ich für den DDR-Rundfunksender DT 64 mit ihm führte – immer wieder auf die Bedeutung von Reichs Erkenntnissen über therapeutische Prozesse und psychosoziale Zusammenhänge (vgl. Maaz 1991; Peglau 2001).
804 Also primär an Reichs Lehre von der Orgon- oder Lebensenergie Interessierte. 805 www.lsr-projekt.de/poly/ptwrefeito.html. 806 Dazu trugen unter anderem die von Bernd A. Laska herausgegebenen Wilhelm-ReichBlätter (Laska 1975–1982), die Zeitschrift Emotion. Beiträge zum Werk von Wilhelm Reich, die in Berlin (West) gegründete Wilhelm-Reich-Gesellschaft und die Vorlesungsreihen von Bernd Senf bei.
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3 Wilhelm Reich nach 1945
Die grundsätzliche Beurteilung Reichs durch Psychoanalytiker, Psychoanalysehistoriker und andere Autoren aus dem Umfeld der Psychoanalyse hat sich dennoch nicht geändert. Dafür will ich einige wenige Beispiele herausgreifen.
3.2
Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich im Kontext der Psychoanalyse
3.2.1
Diffamierung
Bereits in der Überschrift ihres erstmals 1997, dann 2002 noch einmal veröffentlichten Beitrages verdeutlichen die Psychoanalytiker Sebastian Hartmann807 und Siegfried Zepf, dass sie Reich lächerlich machen wollen: »Sankt Wilhelm oder die wahre Wahrheit eines ›wahren Sozialisten‹«. Tatsächlich gibt es, wie schon Helmut Dahmer (Dahmer 1973, S. 418f.) dargelegt hat, Parallelen zwischen Reich und den »wahren Sozialisten«,808 die Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer Deutschen Ideologie zu verspotten suchten: »Der wahre Sozialist geht davon aus, daß der Zwiespalt von Leben und Glück aufhören müsse«, er unterstelle, dass dieser Zwiespalt weder in der Natur noch im Menschen, der ja ebenfalls ein »Naturkörper sei«, existiere und »daß das Leben in jeder Äußerung Genuß bringen soll« (zitiert in Hartmann/Zepf 1997, S. 235). Eine Naivität wie die Letztere hat Reich zwar nie von sich gegeben, aber ansonsten hätte er dem wohl weitgehend zugestimmt.809 Hartmann und Zepf meinen offenbar, Reich bereits ad absurdum geführt zu haben, indem sie hier Marx und Engels als von ihnen nicht hinterfragte Autoritäten ins Spiel bringen. Reich könne sich zwar auf den Philosophen Ludwig Feuerbach berufen, aber auch der habe sich geirrt (ebd.).810 Dass es eine Vielzahl konkurrie807 Bei Ersterscheinen des Beitrags 1997 noch in Ausbildung zum Analytiker (Fallend/ Nitzschke 1997, S. 366). 808 Auch Bernd Nitzschke (1997b) und Helmut Dahmer (1973) greifen diese Parallelen auf, jedoch wesentlich differenzierter als Hartmann/Zepf. 809 Die zweite, im Titel des Beitrages enthaltene Anspielung dürfte sich darauf beziehen, dass Marx und Engels in der Deutschen Ideologie einige Kontrahenten mit dem Vorsatz »Sankt« verächtlich machen wollten, so den Philosophen Max Stirner. Dass Stirner jedoch genauerer Betrachtung wert ist, lässt sich in Laska (2000a,b) nachlesen. 810 Welch hohen Stellenwert der junge Freud Feuerbach beimaß, erwähnen sie ebenfalls nicht: »Unter allen Philosophen verehre und bewundere ich diesen Mann am meisten«, schrieb er 1875 (zitiert in Gay 2006, S. 39). Freud ließ sich verschiedentlich, zum Beispiel
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3.2 Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich
render Menschen- und Weltbilder gibt, über deren Geltung das letzte Wort nicht gesprochen ist,811 ignorieren die Autoren ebenso wie die Tatsache, dass inzwischen hinlänglich erwiesen ist, wie realitätsfern speziell das von Marx und Engels entworfene Bild in mancher Hinsicht war. Um Reich hier Kontra zu geben, taugen die Väter des »wissenschaftlichen Kommunismus« schon deshalb nur begrenzt. Ein zweiter wichtiger Kritikpunkt ist für Hartmann und Zepf Reichs »Biologismus«, also sein Versuch, Erklärungen für menschliches Verhalten in biologischen Zusammenhängen zu suchen. Damit Reich widerlegen zu wollen, ist schon insofern unredlich, weil er ganz gewiss nicht »biologistischer« war als Freud, der im Gegensatz zu Reich soziale Aspekte grundsätzlich weit weniger einbezog, Krieg, Gewalt und Unterdrückung letztlich für triebhaft-biologisch verursacht hielt und behauptete, die Familie sei nun einmal »biologisch begründet« (Sterba 1978, S. 212f.; vgl. Sulloway 1979, S. 41–51, 558, 565–568).812 Reichs spätere Forschungen bzw. die aus diesen abgeleitete Idee einer kosmischen Orgon- oder Lebensenergie (Sharaf 1996, S. 313–459; Boadella 1988, S. 131–256) rücken Hartmann und Zepf sogar in die gedankliche Nähe des Faschismus (Hartmann/ Zepf 1997, S. 223). Dass gerade Reich nicht in diese Ecke gehört, tangiert sie nicht: Sein antifaschistisches Engagement taucht mit keiner Silbe auf. Stattdessen steigern sie die Heftigkeit ihrer Anwürfe: »So konsequent wie die in gewisser Weise vollzogene Abkehr von der Psychologie war auch Reichs Hinwendung zu einer allumfassenden Weltreligion, die hinsichtlich ihres totalitären Anspruchs […] der tatsächlichen Totalität der faschistischen Gesellschaft […] in nichts nachstand. Schon auf der Erscheinungsebene bestand eine gewisse thematische Übereinstimmung zwischen der Reichschen ›Naturreligion‹ und dem Naturmythos faschistischer Propaganda. […] Reich hat […] das ›Natur‹gesetz des Faschismus, das eins des Todes war, zum Grundgesetz des Lebens mystifizierend verklärt« (ebd., S. 243–246). bezüglich seiner Sicht auf Religion, von Feuerbach inspirieren. Beide waren, urteilt Peter Gay, in mehrfacher Weise »kongenial« (ebd.). 811 Siehe zum Beispiel Fahrenberg (2011) und Danzer (2011). 812 Hans-Martin Lohmann bescheinigt Freud eine »hartnäckige und eigensinnige Option für die Biologie« und zitiert dafür zahlreiche Belege (Lohmann 2006b). Erinnert sei hier auch noch einmal an den Freud-Brief an Bernfeld vom 22.5.1932, in dem Freud meint, dass es »keine anderen Motive für menschliches Handeln gibt« als die sich aus den Trieben ergebenden. Natürlich ließe sich diskutieren, ob nicht jede Überbetonung des Biologischen reaktionäre Ausdeutungen erleichtert – ich denke: ja. Aber das ist für Hartmann und Zepf nicht das Thema. Sie weisen daher zwar auf Freuds Relativierungen seines Biologismus hin (Hartmann/Zepf 1997, S. 228f.), Reichs ebenfalls lebenslang weit über das Biologische hinausgehendes, nicht zuletzt auf soziale Zusammenhänge gerichtetes Interesse unterschlagen sie jedoch.
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An diese Unterstellung lässt sich eine sinnvolle Sachdebatte kaum mehr anknüpfen. Wäre jeder, der glaubte, globale, bis ins Biologische reichende Erklärungen für die menschliche und nichtmenschliche Existenz zu haben, in die Nähe des Faschismus zu rücken, beträfe das auch Freud, spätestens mit seiner Theorie von Lebens- und Todestrieb.813 Auch der Todestrieb, so könnte man mit Hartmann und Zepf formulieren, hat »das ›Natur‹gesetz des Faschismus, das eins des Todes war, zum Grundgesetz des Lebens mystifizierend verklärt«. Ich halte diesen Vorwurf bezüglich der Freudschen Theorie aber für genauso abwegig wie bezüglich der Reichschen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Reich die Natur verklärte – was ja tatsächlich auch viele Nationalsozialisten taten – wäre der daraus abgeleitete Vorwurf einer geistigen Nähe zum Faschismus ebenso befremdlich wie der Schluss: Heinrich Himmler begeisterte sich für die Kräuterheilkunde (Wuttke-Groneberg 1982, S. 187–213), also ist diese faschistoid. Was viele Nationalsozialisten bejahten – wie zum Beispiel die Werke Friedrich Schillers oder die Einführung der Ausbildung zum Diplom-Psychologen (Geuter 1988, S. 309) – wurde nicht deshalb schon nationalsozialistisch. Ich kenne keine einzige Stelle, aus der hervorginge, dass Vertreter des NS-Systems Reich beigestimmt hätten – auch nicht seiner angeblichen »Naturreligion«. Bezüglich der Lehre Sigmund Freuds nahmen Nationalsozialisten dagegen mehrfach Brauchbarkeitserwägungen vor und endeckten dabei durchaus Verwertbares. Dennoch war auch Freud kein geistiger Faschist. Hartmann und Zepf genügt es jedoch nicht, Reich als geistigen oder intuitiven Faschisten zu denunzieren.814 Die so oft gegen ihn eingesetzte Schizophreniezuschreibung muss zusätzlich herhalten, um einen, wohl spätestens auf Mitte der 1930er Jahre angesetzten »wissenschaftlichen ›Realitätsverlust‹ [Reichs] als Folge seiner eigenen psychischen Erkrankung« suggerieren zu können (Hartman/Zepf 1997, S. 234). Hartmann und Zepf bemühen sich auch hier nicht um Belege,
813 Auch Teilen von Verhaltenstherapie, systemischer Therapie und Neuropsychoanalyse wären dann solche Vorwürfe zu machen. 814 Reich habe, schreiben sie, »ebenso feinfühlig wie verblendet auf die Wirklichkeit des Faschismus« reagiert und »die Pseudonatur der faschistischen Gesellschaft als unhintergehbare erste Natur gedanklich abgebildet«. Und: »So verrückt auch die Reichsche Naturreligion anmutet, so war sie doch nichts anderes als der gedankliche Reflex eines Sensitiven, eines blinden Sehers, auf den objektiven ›Wahnsinn‹. […] Reich war kein Chronist seiner Zeit. Er war deren tragische Inkarnation« (Hartmann/Zepf 1997, S. 244ff.). Dass sie ein Stück zurückrudern, indem sie zwischendurch auch einmal sagen, »Reich war kein Reaktionär« (ebd., S. 246), wirkt erst recht unglaubwürdig, da sie ihm schon auf der ersten Seite ihres Beitrags sowohl »reaktionärsten Biologismus« bescheinigen als auch dass er »den reaktionären Denkformen seiner Zeit […] zum Opfer« gefallen sei (ebd., S. 223).
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3.2 Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich
sondern geben Gerüchte und Vorurteile unreflektiert weiter. Mehrfach sind sie es dann, die die Realität aus den Augen verlieren und durch grobe Fehlzuordnungen das wünschenswerte Niveau wissenschaftlichen Arbeitens verlassen.815 815 So behaupten sie, ein von Reich erst in die zweite Neuausgabe der Charakteranalyse von 1949 eingefügter Abschnitt stamme von 1935 (Hartmann/Zepf 1997, S. 228). Tatsächlich wurde er im »Winter 1948/49« geschrieben, wie Hartmann und Zepf der seit 1975 auf Deutsch vorliegenden Reich-Biografie von Ilse Ollendorff hätten entnehmen können (Ollendorff 1975, S. 127). Doch bereits oberflächliche Kenntnis von Reichs therapeutischer Entwicklung ermöglicht die Einordnung, dass die Standpunkte und Vorgehensweisen, die Reich dort beschreibt, aus späterer Zeit stammen. Da Reich im selben, von Hartmann und Zepf missgedeuteten Abschnitt schreibt: »Die Orgontherapie konzentriert unsere Arbeit […] am biologischen Kern des Organismus. Wir verließen den Bereich der Psychologie, auch den der ›Tiefen‹-Psychologie«, können Hartmann und Zepf ihre Fehldatierung für folgendes weitere Fehlurteil nutzen: »Reichs Abschied von der Psychoanalyse, von Psychologie überhaupt«, sei 1942 »schon lange her«, mit »der Entwicklung der Orgontherapie hatte er 1935 endgültig den Bruch vollzogen« (Hartmann/Zepf 1997, S. 228). Da die Autoren »Orgontherapie« nahezu gleichsetzen mit »reaktionärste[m] Biologismus«, diesen wiederum mit geistiger Nähe zum Faschismus (ebd., S. 223), erwecken sie den Eindruck, Reich sei – zumindest seit 1935 – geistiger Faschist. Diese fälschliche Vordatierung spielt also eine entscheidende Rolle für die Argumentation der Autoren. Wie beschrieben, begann Reich in Wirklichkeit erst 1936 mit Experimenten, die 1938 zur Beschäftigung mit einem Phänomen führten, das er ab 1939 Orgon- oder Lebensenergie nannte. Das hätten Hartmann und Zepf problemlos bei den Reich-Biografen Sharaf und Boadella sowie bei Reich selbst nachlesen können, letzteres seit 1994 auf Englisch, seit 1997 zusätzlich auf Deutsch (Reich 1997a, S. 292–295). Die Bezeichnung »Orgontherapie« ist noch späteren Datums. In den Briefen an Alexander Neill taucht sie erstmals 1947 auf, laut Ilse Ollendorff machte Reich 1948 auf einer Konferenz den Vorschlag, diesen Begriff einzuführen (Neill/Reich 1989, S. 261; Ollendorff 1975, S. 121). Auch wenn Reich dazu widersprüchliche Aussagen machte: Von einem endgültigen Bruch mit der Psychoanalyse oder gar mit der Psychologie kann bei seriöser Betrachtung für ihn zu keinem Zeitpunkt die Rede sein (vgl. z.B. Reich 1997b; Reich/Eissler 1972, S. 26f.). Mit einem Reich-Zitat zu dem von ihm ab 1937 verwendeten, 1939 näher ausgeführten Konzept der »Arbeitsdemokratie« (Bennett 2010, S. 56f.; Laska 2008, S. 145) gehen Hartmann und Zepf analog um. Diesen Passus, der – wie schon bei Sharaf 1996, S. 383 nachlesbar – 1946 erstmals gedruckt wurde, datieren sie auf 1933 (Hartmann/Zepf 1997, S. 230). Offenbar haben sie nicht registriert, in welchem Umfang Die Massenpsychologie des Faschismus von 1946 von der Urfassung von 1933 abweicht: Sie bezeichnen sowohl das deutschsprachige Original wie auch die gravierend veränderte und erweiterte englischsprachige Neuausgabe zusammenfassend als Reich »1933b«. Ein letztes Beispiel für die mangelnde Seriosität dieses Beitrags: Reich wird »die Verkürzung des Menschen auf den Status eines Menschentieres« vorgeworfen (ebd., S. 229) – ein Begriff, den Reich tatsächlich verwendete. Aber eben auch Freud (Freud 1939a, S. 208). Für die Aufnahme in die überarbeitete und ergänzte Neuauflage des Bandes, in dem der Beitrag erschien, sahen die Autoren offenbar keine Notwendigkeit, ihre Fehler zu korrigieren (siehe Fallend/Nitzschke 2002b, S. 229–252).
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3 Wilhelm Reich nach 1945
Der Beitrag von Hartmann und Zepf ist also ein besonders eklatantes Beispiel für das, was Bernd Nitzschke zu Recht eine »bis in die Gegenwart anhaltende Rufmordkampagne« nennt (Nitzschke 1997a, S. 91).
3.2.2
Abwertung
Weniger grundsätzlich und eher beiläufig formulierte Michael Schröter, Soziologe und ausgewiesener Psychoanalysehistoriker, in jüngerer Zeit Kritik an Reich. Er warf zum einen die Frage auf, ob Reich »mutig oder realitätsblind« war, als er »in einer Zeit allgemeiner Furcht und Ungewissheit […] die rote Fahne« zeigte (Schröter 1998, S. 179). Außerdem mutmaßte er, es könne statt »realistischer Scharfsicht« »auch Zufall« gewesen sein, dass Reich urteilte, Psychoanalyse und Nationalsozialismus seien unvereinbar. Schließlich habe Reich ja auch »ein andermal großspurig prophezeit […], dass die Psychoanalyse in nicht allzuferner Zeit in die Entscheidung über die Kämpfe unseres Jahrhunderts [die Revolution] mächtig eingreifen wird‹« (ebd., Fußnote S. 182).816 Letzterem hat schon Helmut Dahmer (Dahmer 2009e, S. 322) entgegengehalten: Auch Freud glaubte an die globale Bedeutung der Psychoanalyse. Diese sei, schrieb Freud 1925, »nicht mehr eine Hilfswissenschaft der Psychopathologie, […] vielmehr der Ansatz zu einer neuen und gründlicheren Seelenkunde, die auch für das Verständnis des Normalen unentbehrlich wird. Man darf ihre Voraussetzungen und Ergebnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen; der Weg ins Weite, zum Weltinteresse, ist ihr eröffnet« (Freud 1925d, S. 73; Hervorhebung von mir – A. P.).
Darüber hinaus meinte Freud, das, womit »die Psychoanalyse das Ich belehren« wolle, nämlich dass es »nicht Herr im eigenen Hause«, sondern unbewussten Motiven unterworfen sei, sei die empfindlichste Kränkung der »Eigenliebe der Menschheit«817 – eine noch empfindlichere Kränkung als die Entdeckungen, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht und der Mensch dem 816 Bezieht sich auf ein wohl im März oder April 1934 verfasstes Schreiben Reichs an die Empfänger der Fenichel-Rundbriefe, wiedergegeben in Fenichel, Bd. 1, S. 73. Die hier herangezogene Formulierung findet sich sinngemäß allerdings bereits in dem schon zitierten Brief Reichs an die Leitung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages vom 17.4.1933. 817 Hervorhebung von mir – A.P.
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3.2 Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich
Tierreich entstammt (Freud 1917a, S. 7–12). Auch dies belegt, welch tiefgreifende Wirkung er selbst seiner Schöpfung beimaß.818 Reich als Einzelnem vorzuwerfen, dass er an »eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform« glaubte, halte ich ebenfalls für wenig angemessen. Schließlich teilten diesen Glauben mit Reich nicht nur, wie bereits beschrieben, etliche Zeitgenossen inklusive mancher Psychoanalytiker, sondern zumindest bis 1990 viele Millionen Menschen auf dem Erdball, darunter, verstärkt noch einmal nach 1968, auch zahlreiche westliche Intellektuelle. Welchen Sinn hätte es also, dies ausgerechnet Reich vorzuwerfen? Zudem gehörte Reich, wie beschrieben, zu denjenigen, die bereits in den 1930er Jahren – und damit weit früher als viele andere – diese Hoffnung öffentlich korrigierten. Im selben Jahr 1934, als er sich auch in seinen Publikationen von Illusionen über den Kommunismus verabschiedete, war – um nur einen derjenigen zu nennen, die damals indirekt Reichs Weg kreuzten – der spätere SPD-Führer Herbert Wehner hauptamtlicher Kominternfunktionär. Der freilich blieb das noch weitere acht Jahre (Weber/Herbst 2008, S. 1002). Ein Zufallsprodukt (wie es Michael Schröter nahelegt) waren Reichs Thesen über den Faschismus zudem ganz gewiss nicht, wie ich anhand Reichs diverser Vorarbeiten für die Massenpsychologie nachgewiesen habe. Und die daraus von Reich abgeleiteten Annahmen über künftige Entwicklungen lassen sich dementsprechend ebenso wenig als voraussetzungslos-zufällige Prophetie abtun. Was schließlich die von Michael Schröter angeführte These Reichs über die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Faschismus betrifft, hier zunächst nur eines: Warum eine Vorhersage, wenn sie denn tatsächlich eintritt (was in diesem Falle noch zu diskutieren sein wird), als weniger realistisch einzustufen wäre, weil deren Urheber sich an anderen Stellen irrte, ist mir grundsätzlich nicht klar. Ich würde auch nicht auf die Idee kommen, aufgrund von Freuds Fehlprognosen bezüglich des Faschismus – dazu später – seinen sonstigen Erkenntnissen über politische Zusammenhänge automatisch ihren Wahrheitsgehalt abzusprechen. Abgewandelt wiederholt Michael Schröter seine Kritik an anderer Stelle. Mit Bezug auf eine aus dem Jahr 1935 stammende Aussage Reichs über die Vergänglichkeit des Faschismus meint er: »[Was] prima vista wie eine realistische Prognose erscheint, stellt sich anders dar, wenn man liest, dass Reich zugleich als gläubiger Kommunist ›eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform‹ erwartete« (Schröter 818 Wobei er auch darauf verwies, dass Philosophen wie Schopenhauer vor ihm ähnliche Gedanken aussprachen (Freud 1925d, S. 12).
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3 Wilhelm Reich nach 1945
2009, S. 1093, Fn 10).819 Dass Reich jedoch – zumal noch 1935 – kein »gläubiger Kommunist« war, habe ich ebenfalls bereits hinlänglich belegt (vgl. dazu auch Dahmer 2009e; Fallend/Nitzschke 1999).
3.2.3
Beschweigen
Auch im Kreis und im Umfeld der Psychoanalytiker gibt es einige wenige, die sich dafür engagieren, Reich angemessenere Beachtung zu verschaffen. Insbesondere das von Karl Fallend und Bernd Nitzschke herausgegebene Buch Der »Fall« Wilhelm Reich und Fritz Erik Hoevels Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse sind hier zu nennen. Als Therapiemethodiker der 1920er Jahre wird Reich auch sonst in der psychoanalysehistorischen oder psychoanalytischen Literatur gelegentlich, meist eher kurz, erwähnt – so in dem 2011 erschienenen Buch 100 Years of the IPA. Auf seine Aktivitäten für die analytische Organisation in den 1920er Jahren wird dort ebenfalls verwiesen (Loewenberg/Thompson 2011b, S. 554). Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung hat Reich 2007 in ihrer Reihe »Die großen Kontroversen« sogar sechs später veröffentlichte Vorlesungen gewidmet, in denen sein Wirken in der Wiener Zeit inklusive der Sexualberatung kompetent gewürdigt, sein späteres Werk zumindest fair dargestellt wurde (Diercks/ Schlüter 2009, S. 174–231) – leider mit einer Ausnahme: Der 1933er Massenpsychologie werden die diesbezüglichen Mitteilungen kaum gerecht (ebd., S. 191– 203). Aber immerhin wird das Buch überhaupt einer Auseinandersetzung für Wert befunden. Wie schon erwähnt, beschränkt sich die Würdigung von Reichs massenpsychologischen Erkenntnissen im Freud-Handbuch dagegen auf zwei Sätze (Bayer/ Lohmann 2006, S. 278). Ansonsten ist hier der gesellschaftskritische Reich offensichtlich nicht gewollt. Alfred Krovoza, zeitweiliger Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Sigmund-Freud-Instituts, schrieb das abschließende Kapitel über »Politische Psychologie«. Bei Freud beginnend, würdigt er unter anderem 819 Der Satz, auf den sich Michael Schröter hier bezieht, stammt aus einem Artikel, in dem Reich seinen Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung IPV beschreibt. Der entsprechende Absatz lautet: »Die Leitung der I.P. V. hat die reaktionären Strömungen der heutigen Zeit auf ihrer Seite. Die Sexpol kämpft gegen den Strom. Doch die Geschichte lehrt, dass reaktionäre Zeitströmungen, und mögen sie noch so eindrucksvoll und einschüchternd sein, auch vergehen. Eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform wird die heutigen Vertreter der Wissenschaft und ihre ergebenen Funktionäre in nicht geringe Verlegenheit versetzen« (Reich 1935c, S. 60 bzw. www.lsr-projekt.de/zpps/zpps5.html#ausschluss).
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Fenichel, Simmel, Fromm, Horkheimer, Adorno, Marcuse und Mitscherlich als Vertreter politischer Psychologie und Psychoanalyse und widmet sich speziell dem Thema Massenpsychologie (Krovoza 2006, S. 428). Aber Wilhelm Reich kommt nicht vor, obwohl niemand politischere Psychoanalyse gemacht hat als er. Schon 1996 hatte Krovoza einen Sammelband mit Psyche-Beiträgen aus mehreren Jahrzehnten herausgegeben: Politische Psychologie. Ein Arbeitsfeld der Psychoanalyse. Im Vorwort820 betont er, es gehe ihm darum, »die Ressourcen sichtbar zu machen, die die Psychoanalyse für eine Politische Psychologie bereithält« (Krovoza 1996, S. 20). Als erster Autor folgt dann Paul Parin, der zweimal beiläufig auf Reich verweist (Parin 1996, S. 30, 38). So schreibt Parin über die Reaktion der Analytiker auf den deutschen Faschismus: »Die geistigen Angriffswaffen […] mußten vorerst ruhen. Wer Ausfälle wagte, wurde eliminiert (Wilhelm Reich)« (ebd., S. 30). Erwartet man aber nun, in Parins Artikel oder sonst irgendwo in diesem Buch eine Würdigung Reichs als wesentlichen Vertreter politischer Psychoanalyse zu finden, wird man enttäuscht: Reich kommt gar nicht weiter vor.821 Noch konsequenter blendet Peter Gay, Ehrenmitglied der American Psychoanalytic Association, Reich in der heute wohl am weitesten verbreiteten FreudBiografie aus. 2006 erschien sie in dritter Auflage auf Deutsch. Auf den über 900 Seiten erwähnt der ansonsten hervorragend informierte Gay Reichs Namen kein einziges Mal und unterschlägt auch gleich noch den ganzen Luzerner IPV-Kongress von 1934.822 Natürlich tut Gay das nicht, weil Reich ihm nicht bekannt wäre. In einem seiner früheren Bücher nennt er ihn: »Liest man die Namen derer, die in Berlin ausgebildet wurden und selber ausbildeten – Sándor Rado, Franz Alexander, Karen Horney, Otto Fenichel, Melanie Klein und Wilhelm Reich – so merkt man, daß das [Berliner Psychoanalytische] Institut an jener erregenden Atmosphäre teilhatte, die so bezeichnend für die Kultur der Weimarer Zeit war« (Gay 1987, S. 58).
820 Das Vorwort stimmt teilweise mit Krovozas Beitrag im Handbuch überein. 821 Das Buch enthält allerdings kein Stichwort- oder Namensverzeichnis. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der Name »Reich« noch an anderer Stelle fällt. Beim Durchblättern habe ich jedoch keine weiteren Erwähnungen gefunden. Tiefgründiger könnten diese schon deshalb nicht sein, weil dazu sicherlich auf Schriften von Reich hätte verwiesen werden müssen – was laut Literaturverzeichnis nicht stattfindet. Auch in Krovozas Einführungstext wird Reich nicht erwähnt. 822 Auf diesen Sachverhalt hat schon 1997 Bernd Nitzschke hingewiesen (Nitzschke 1997a, S. 74, Fn 12). Auf meine im August 2009 über Gays Verlag an Gay weitergeleitete Anfrage zu seinem Umgang mit Reich habe ich keine Antwort erhalten.
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3 Wilhelm Reich nach 1945
»Vergessen« gibt es laut Freud nicht: Hinter allem menschlichen Tun stecken Motive. Und: Je gravierender die Verzerrung der Realität, desto stärker dürfte das dahintersteckende Motiv sein bzw. die Angst, diese Realität könnte doch zutage treten. Dass Freud damit auch bezüglich der inneranalytischen Reich-Verdrängung recht haben dürfte, belegt das Folgende (wiedergegeben nach Fallend/ Nitzschke 2002a, S. 23f.). 1997 schlug der Psychologe und Psychotherapeut Hilarion Petzold in einem offenen Brief an Psychoanalysefunktionäre vor, Reich anlässlich seines 100. Geburtstages zu »rehabilitieren« und seinen Ausschluss aus DPG und IPV rückgängig zu machen. Die IPV reagierte überhaupt nicht. DPG-Vertreter Günther Schmidt erklärte: »Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit dem Ausschluss Reich formal Unrecht geschehen ist.« Er setzte jedoch fort: »Geschehenes Unrecht ist nicht mehr korrigierbar.« Rosemarie Eckes-Lapp, ebenfalls DPG-Funktionärin, ergänzte: »Der Ausschluss Wilhelm Reichs zum damaligen Zeitpunkt, 1933/34, […] war politisch motiviert und ist, was seine psychoanalytische Kompetenz zum damaligen Zeitpunkt betrifft, zu Unrecht erfolgt.« Aber: »Eine heutige Bezeichnung W. Reichs als Psychoanalytiker und eine posthume Wiederaufnahme ist wegen seiner späteren theoretischen Entwicklung nicht möglich. Das würde seinen vielfältigen Ideen und Aktivitäten nicht entsprechen und auch dem psychoanalytischen Profil der heutigen DPG nicht entsprechen.« Letzteres mag stimmen. Unbewusstes bewusst zu machen, Verdrängtes aufzudecken – an dieser zentralen Freudschen Zielstellung gemessen, blieb Wilhelm Reich jedoch zeitlebens (auch) Psychoanalytiker.823
823 2007, zu Reichs 110. Geburtstag, wurde immerhin auf Initiative von Regine Lockot und unter Beiteiligung weiterer Psychoanalysehistoriker aus DPG und DPV sowie Mitgliedern der Berliner Wilhelm-Reich-Gesellschaft am ehemaligen Wohnhaus von Wilhelm, Annie, Eva und Lore Reich, in der Schlangenbader Str. 87 in Berlin-Wilmersdorf eine Gedanktafel eingeweiht (www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/bezirk/gedenktafeln/reich.html).
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4
Einordnungen und Erklärungen
Das bisher Mitgeteilte wirft zahlreiche Fragen auf. Wie lässt sich die relative Toleranz von NS-Verantwortlichen im Umgang mit psychoanalytischer Literatur und analytischen Inhalten erklären? Wie passt die symbolische Vernichtung der gesamten Freudschen Lehre am 10. Mai 1933 zur weitgehenden Duldung analytischer Schriften, zur anhaltenden Werbung in Fachzeitschriften und zur partikularen Wertschätzung im Völkischen Beobachter? Wie war es möglich, dass verbotene Literatur beworben wurde? Warum verringerte sich die Präsenz der Psychoanalyse in den Fachmedien während der 1940er Jahre? Weshalb herrschte in internationalen analytischen Publikationen bis 1940 Schweigen zum Thema Faschismus – und wieso wurde dieses Schweigen danach gebrochen? Wie »unpolitisch« war die Psychoanalyse vor, während und nach dem Dritten Reich tatsächlich? Zur Beantwortung dieser und anderer Fragen will ich Fakten und Überlegungen zusammentragen, die zugleich weiter verdeutlichen werden, welche die Bedingungen waren, unter denen die Psychoanalyse im Nationalsozialismus wirkte.824 Gelegentlich werden sich dabei auch Vergleiche mit Aussagen Wilhelm Reichs über den Faschismus anstellen lassen. Mehrfach wird mir kein so tiefgründiges Ausloten möglich sein, wie ich es für wünschenswert hielte. Das liegt zum einen
824 Das Verhältnis zwischen Psychoanalytikern und NS-Staat werde ich allerdings nicht umfassend darstellen. Wer Genaueres über die Arbeits- und Lebenssituation der damaligen Analytiker in Deutschland wissen will, wird insbesondere in den Büchern von Regine Lockot (Lockot 1994, 2002) fündig. Von vielen, vor allem emigrierten Analytikern liegen in der von Ludger M. Hermanns herausgegebenen Reihe Psychoanalyse in Selbstdarstellungen (Hermanns 1992–2012) beeindruckende Schilderungen vor.
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4 Einordnungen und Erklärungen
an der Vielfalt der hier angeschnittenen Themen, mit denen ich zum Teil erstmals konfrontiert war. Zum anderen liegt es daran, dass für manches Thema, wie zum Beispiel den Umgang mit Sexualität im Nationalsozialismus, umfassende wissenschaftliche Studien, auf die ich hätte aufbauen können, bislang nicht veröffentlicht wurden.825 Trotz dieser Einschränkungen erscheint mir das Folgende mitteilenswert, auch als Grundlage weiterführender Diskussionen und Forschungen.
4.1
NS-Funktionäre und Psychoanalyse
Thomas Mann schrieb 1939 über Hitlers Einmarsch in Wien: »Wie muss ein Mensch wie dieser die Analyse hassen! Ich habe den stillen Verdacht, daß die Wut, mit der er den Marsch auf eine gewisse Hauptstadt betrieb, im Grunde dem alten Analytiker galt, der dort seinen Sitz hatte, seinem wahren und eigentlichen Feinde« (Mann 1991, S. 98f.). Dass Hitler solche, vielleicht unbewussten Gefühle hatte, ist nicht völlig auszuschließen. Freud als »wahren und eigentlichen« Feind anzusehen, hätte aber einen Kenntnisstand Hitlers über psychosoziale Zusammenhänge und das aufklärerische Potenzial der Psychoanalyse vorausgesetzt, den ich ihm nicht zutraue. Der einzige mir bekannte Hitler-Biograf, der behauptet, Hitler hätte Freud gelesen, ist Werner Maser, und bei ihm findet sich dazu keinerlei Beleg (Maser 1997, S. 283). Der Historiker Timothy Ryback, der Hitlers private Bibliothek untersuchte, fand in den Beständen des – so Ryback – »Büchernarren« Hitler keine psychoanalytische, tiefenpsychologische oder psychologische Literatur (vgl. Ryback 2008, S. 265–276). Auch in Hitlers Monologen im Führerhauptquartier ( Jochmann 2000) oder in Rauschnings Gesprächen mit Hitler (Rauschning 1940) gibt es nicht einmal Andeutungen für eine Beschäftigung mit der Analyse. Stattdessen verfestigt sich beim Lesen der letztgenannten beiden Quellen der Eindruck, dass Hitler an Sichtweisen anderer immer nur so weit interessiert war, wie diese seine eigenen zu bestätigen schienen. Konkurrierenden, zumal komplexen Erklärungsansätzen scheint er nicht viel Zeit gewidmet zu haben. In Ian Kershaws Hitler-Biografie (Kershaw 1998, vgl. insbesondere Bd. 1, S. 63, 610) sowie in diversen thematisch ähnlich gelagerten Arbeiten (Fest 2006, 2007; Hamann 1996; Bullock 1999; Shirer 1990; Zitelmann 1998), auch in Freud-Biografien (Gay 2006; Jones 1984; 825 Das haben mir auch verschiedene Nachfragen bei Historikerinnen bestätigt. Sybille Steinbacher schreibt dazu: »Für eine künftig noch zu schreibende Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reiches wäre es jedenfalls zentral, den kulturellen Übereinkünften in Bezug auf die Geschlechterordnung nachzugehen« (Steinbacher 2009, S. 104).
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4.1 NS-Funktionäre und Psychoanalyse
Sulloway 1983), konnte ich keine Hinweise auf eine mögliche Freud-Lektüre Hitlers entdecken. Auch die Behauptung Anna M. Sigmunds (in ihren Ausführungen zur Sexualität im Dritten Reich), Hitler habe detailliert zu Freudschen Annahmen Stellung bezogen (Sigmund 2008, S. 33), erweist sich als haltlos: Hitler ist in der von ihr als Quelle angegebenen Zeitschrift Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden (August/September 1933) zwar auf dem Titelblatt abgebildet, er zeichnet aber keineswegs als Autor des erst mehrere Seiten später beginnenden Hetzartikels gegen die Psychoanalyse.826 Dass hier Die Psychoanalyse des Juden Sigmund Freud – so der Beitragstitel – unter anderem als »jüdische Seelenvergiftung« verunglimpft wurde, belegt jedoch, dass Hitler-Intimus Julius Streicher die Psychoanalyse gekannt haben dürfte: Er war Mitherausgeber dieses Blattes. Die größte greifbare »Nähe« zwischen Hitler und Freud scheint darin zu bestehen, dass sich auch Hitler (wie Goebbels) für Gustave Le Bons Psychologie der Massen interessiert haben soll – was ja auf Freud, wenngleich mit gänzlich anderen Prämissen, ebenfalls zutraf (Reuth 1991, S. 112; Kershaw 1998, Bd. 1, S. 807; Freud 1921c, S. 76–87). Spätestens anlässlich der Bücherverbrennung hätte Hitler die Existenz und Bedeutung der Psychoanalyse allerdings ohnehin zur Kenntnis nehmen müssen. Auf jeden Fall stand Freud für vieles, was Hitler 1933 schon seit Längerem (Reuth 2009) hassenswert erschien: Verwurzelung in der jüdischen Kultur, umfassendes Interesse an internationaler Kunst, Kultur und Geschichte, hohe Wertschätzung der Individualität, hohes Maß an Intellektualität und gediegener bürgerlich-humanistischer Bildung, Glaube an die Möglichkeit rationaler Welterkenntnis – und Pazifismus. Während Hitler wiederholt den Pazifismus als Grundübel verteufelte (Kershaw 1998, Bd. 1, S. 371, 389, 419, 560), bekannte sich Freud in seinem 1933 veröffentlichten Briefwechsel mit Albert Einstein einmal mehr827 zur Gegenposition: »Wir sind Pazifisten, weil wir es aus organischen Gründen sein müssen. […] Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozess aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen 826 Auf meine diesbezügliche Nachfrage an Anna M. Sigmund, die im Januar 2010 über ihren Verlag an sie weitergeleitet wurde, habe ich keine Antwort erhalten. 827 Schon 1915, in Zeitgemäßes über Krieg und Tod, hatte er geschrieben: »[M]an kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen und das Aufhören der Kriege herbeisehnen« (Freud 199l, S. 325). Der Kriegsbeginn hatte bei Freud allerdings noch teils patriotische Gefühle ausgelöst (Freud/Abraham 2009, Bd. 1, S. 420–462).
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4 Einordnungen und Erklärungen
ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz« (Freud 1933b, S. 25f.).
Bei allem, was Hitler an der Psychoanalyse widerwärtig gewesen sein mag, scheint er gegen Psychotherapie jedoch nichts gehabt zu haben.828 Das ist schon insofern erstaunlich, als Psychotherapie in den 1930er Jahren in erster Linie Konzepte Freuds und seiner Ex-Mitstreiter Jung und Adler beinhaltete. Freud dominierte hier schon deshalb, weil die Gedankengebäude der beiden Letztgenannten gerade bezüglich der therapeutischen Praxis weit weniger ausgearbeitet waren.829 Als Oberbegriff für die Schulen von Freud, Adler und Jung hatte sich der Begriff »Tiefenpsychologie« eingebürgert, über den Freud 1914 festgehalten hatte, dass »mit der ›Tiefenpsychologie‹ nichts anderes gemeint ist als die Psychoanalyse« (Freud 1914d, S. 83).830 Die Anwendung der Tiefenpsychologie, zu der nun ebenfalls Ludwig Klages und andere gerechnet wurden (Elliger 1986, S. 146), war auch das Kernstück dessen, was ab 1936 das Deutsche Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie für sich reklamierte. Sehr verknappt: Die Arbeit des DIPFP basierte im Wesentlichen auf tiefenpsychologischer Therapie – und tiefenpsychologische Therapie basierte im Wesentlichen auf Freud.831 828 In dem 1934 veröffentlichten Artikel Der Nationalsozialismus als Überwinder des Zeitalters der Neurose – ein bemerkenswerter Titel – wurden Hitlers (und Goebbels’) Aktivitäten von J. Hobohm sogar in die Nähe von Psychotherapie gerückt: »Durch Selbstzucht, durch Straffheit, durch Üben, durch Wagen und Kämpfen, durch Gymnastik und Sport muß der Mensch in die natürlich-harmlos zuversichtliche, mutige Seelenhaltung hineingewöhnt werden. (…) In diesem Sinne wird das bisher innerlich kranke deutsche Volk in die Kur genommen. Nach einem groß angelegten psychotherapeutischen Heilplan wird vorgegangen. Die Auseinandersetzungen Adolf Hitlers, des Meisters der Suggestion, über die Suggestivkraft der Propaganda (siehe ›Mein Kampf‹), die Tätigkeit des Propagandaministeriums, der täglich mit Händen zu greifenden [sic] Einfluß der Presse, der Redner, der festlichen Veranstaltungen etc. lassen die Planmäßigkeit erkennen, mit der dem Volke die Wahrheit eingehämmert wird. Die angewandte therapeutische Methode ist die der Suggestion« (in Wuttke-Groneberg 1982, S. 122). 829 Siehe für Adler Bruder-Bezzel (1995, S. 260), für Jung Frey-Wehrlin (1982, S. 251f.). 830 Dieses Wort erschien erstmals 1910 bei Eugen Bleuler im Druck, der es bereits auf Freuds Lehre bezog. Michael Schröter weist jedoch darauf hin, dass Freud die Übernahme dieser Bezeichnung dadurch erleichtert worden sein könnte, »dass das Wort, noch ohne terminologischen Anspruch, in den Diskussionen der Wiener ›Mittwoch-Gesellschaft‹ schon früher aufgetaucht war: In einem Referat vom 11.12.1907 führt Max Graf die ›hübschen, aber leicht mißverständlichen Worte unseres Freundes [Max] Kahane‹ an, ›der die Tiefenpsychologen und die Oberflächenpsychologen unterscheidet‹« (Schröter i.V.). 831 1941 wurde das Fach »Tiefenpsychologie und Psychagogik« auch in die Diplomprüfungsordnung für die neugeschaffene Ausbildung zum Diplom-Psychologen aufgenommen (Elliger 1986, S. 145).
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4.1 NS-Funktionäre und Psychoanalyse
Vor diesem Hintergrund ist es erst recht bemerkenswert, dass von Hitler am 27.9.1938 auf ein entsprechendes Dank- und Grußtelegramm, das ihm M. H. Göring zu Beginn einer Fachtagung gesandt hatte,832 folgende Antwort kam: »Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für ihr Treuegelöbnis und für die Meldung von der Errichtung eines Deutschen Institutes für Psychologische Forschung und Psychotherapie. Ich wünsche Ihrer Arbeit guten Erfolg« (zitiert in Curtius o.J., S. 4). 1940, anlässlich einer weiteren Tagung, konnte M.H. Göring mitteilen, auch der Reichsorganisationsleiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, habe erkannt, »wie wichtig die Tiefenpsychologie nicht nur für die Medizin, sondern für alle Zweige des Lebens ist, vor allem auch für die Wirtschaft« (Bilz 1941, S. 7, 9). Wieder erhielt Hitler ein Telegramm.833 Diesmal antwortete er: »Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für die mir anlässlich ihrer 3. Tagung telegraphisch bekundete treue Einsatzbereitschaft und sende meine besten Wünsche für den Erfolg Ihrer Tagung« (zitiert in Bilz 1941, S. 10). Ob Hitler sich selbst mit dem, was er da telegrafisch befürwortete, befasst hatte, ist unklar. Zumindest jemand in seiner Nähe, vielleicht in seinem Sekretariat, muss entschieden haben, welche eingehenden Telegramme beantwortet wurden und in welcher Weise. Wahllos wurden hier ganz sicher nicht »beste Wünsche für den Erfolg« ausgesprochen. Von Goebbels sind mir bislang keine direkten Äußerungen zu Freud oder zur Psychoanalyse bekannt.834 Dass allerdings ein Mann, der so interessiert daran 832 Mit dem Wortlaut: »Im Namen der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie gebe ich Ihnen, mein Führer, das Gelöbnis unverbrüchlicher Treue. Zugleich melde ich Ihnen die durch den Reichsärzteführer erfolgte Errichtung eines Deutschen Institutes für Psychologische Forschung und Psychotherapie, dessen oberste Aufgabe die Arbeit für die leibseelische Gesundheit unseres Volkes im nationalsozialistischen Geiste ist« (Curtius o. J., S. 4). 833 Diesmal hieß es: »Tief beeindruckt von den gewaltigen Ereignissen des letzten Jahres« – seit 1939 tobte der Zweite Weltkrieg – halte die Gesellschaft ihre Tagung ab und versichere, »auch auf unserem Gebiet alles einzusetzen, durch Stärkung des Arbeitswillens und der Arbeitsfreudigkeit die Wehrhaftigkeit und Leistung zu steigern« (Bilz 1941, S. 10). 834 Nicht einmal in der 32(!)-bändigen vollständigen Ausgabe der Goebbels-Tagebücher tauchen Sigmund Freud, die Psychoanalyse oder Wilhelm Reich auf (Mitteilung des Institutes für Zeitgeschichte München vom 3.12.2010 nach Durchsicht der Registerbände und Suche in der digitalisierten Fassung der Tagebücher). Ich halte es aber für durchaus möglich, dass in der Vielzahl seiner Publikationen, insbesondere in Zeitungsartikeln, solche Bezugnahmen doch irgendwo vorkommen.
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4 Einordnungen und Erklärungen
war, Menschen zu manipulieren, sich dem analytischen Erkenntnisschatz völlig verschlossen haben sollte, kann ich mir schwer vorstellen. Ein Verbindungsglied stellte offenbar Freuds in den USA lebender Neffe Edward Bernays dar, einer der »Väter« der Public Relations. Er ließ Thesen Freuds in seine Anleitungen zur Meinungsmanipulation einfließen, behauptete: »Wenn wir die Mechanismen und Motive der Massenseele verstehen, ist es uns nun möglich, die Massen nach unserem Willen zu kontrollieren und zu führen, ohne dass sie es mitbekommen« (Bernays 1928, S. 47–48). Sein erstes Buch zu diesem Thema, Crystallizing Public Opinion (Bernays 1923), wurde laut Bernays Angaben auch von Goebbels zu Rate gezogen (Fossel i. V.).835 Doch wie Florian Fossel mitteilt, wurde Freud in diesem Buch nur einmal namentlich erwähnt, sonst nur indirekt auf ihn Bezug genommen. Fossel entdeckte allerdings eine weitere Möglichkeit, wie Goebbels auf Freud gestoßen sein könnte. Der deutsche Offizier Kurt Hesse hatte 1922 das Buch Der Feldherr Psychologos: Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft geschrieben. Dort »nimmt Hesse direkt Bezug auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse, indem er die libidinöse Bindung des Soldaten zu seinem Feldherrn beschreibt (Hesse 1922, 189–190). Das Buch dürfte Goebbels bekannt gewesen sein und wird heute noch in der militärischen Ausbildung verwendet« (ebd.).
Über Himmler erfährt man von dessen Masseur Felix Kersten, der ReichsführerSS habe 1940 während der Massage auch die Psychoanalyse thematisiert. Vermutlich bezogen auf die Therapeuten des DIPFP836 habe er gesagt: »Sie sind eine Arbeitsgemeinschaft, die die menschliche Seele in Stücke reißt, angeführt von Sigmund Freud, ihrem jüdischen Ehrenpräsidenten – obwohl sie ihn klammheimlich verleugnen oder entthronen, um ihre eigenen Zwecke zu erreichen« (zitiert in Cocks 1997, S. 289).837 Nun gilt zwar das nachträglich zusammengestellte Erinnerungsbuch Kerstens als recht fragwürdige Quelle (Longerich 2008, S. 394). Doch der Schluss des Zitates enthält Kenntnisse über die Situation der DIPFP-Analytiker, über die Kersten wohl nicht verfügt haben konnte. Das könnte bedeuten, dass er hier Himmlers Äußerung authentisch wiedergibt. Ein Hinweis auf eine gewisse Kompetenz in Sachen Analyse findet sich auch bezüglich des 1934 auf Hitlers Befehl hin ermordeten SA-Führers Ernst Röhm. 835 Auch Bernays oder seine Schriften werden in den Goebbels-Tagebüchern nicht genannt (Auskunft des Institutes für Zeitgeschichte München, 3.3.2016). 836 Auch Cocks (1997, S. 228) nimmt an, dass sich Himmler hier auf das DIPFP bezieht. 837 Rückübers. ins Deutsche A. P.
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4.1 NS-Funktionäre und Psychoanalyse
Hans Blüher berichtet über ein Treffen im Sommer 1933 in Trier, bei dem der »sehr intelligente und überraschend gebildete Röhm« seine eigenen und Hitlers homosexuelle Anteile, man könnte fast sagen, analysiert habe: »Röhm kannte natürlich die meisten Werke über das ihm lebensnahe und sympathische Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe: so die Bücher von Karl Schurz, Iwan Bloch, Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld […]. Er behauptete nun, daß Hitler einen unbewußten Verdrängungs- und Sublimierungsprozess durchmacht, was ihm, einem anscheinend kongenitalen Impotenten, wohl nicht schwer gefallen sei« (Blüher 1966, S. 66).
Einige Formulierungen Rosenbergs deuten darauf hin, dass er Freuds Werke nicht nur, wie die zitierte Mitteilung im Völkischen Beobachter vom 29.8.1930 nahe legt, kannte, sondern auch gelesen haben könnte. So schrieb er, der Marxismus wittere »im Unterbewußtsein bereits die Stunde der Abrechnung, und er greift zum Mittel einer neuen Volkshypnose«, oder: »Ob bewußt oder unbewußt« stünden »alle Pazifisten in Deutschland« im Dienst von Juden (Rosenberg 1940, S. 602, 610). Da Freud den Begriff des Unbewussten allerdings weder als Erster noch als Einziger verwendete, kann sich Rosenberg hier auch auf andere Quellen bezogen haben. Bei Hermann Göring ist es eindeutig erwiesen, dass er eine Meinung zur Psychoanalyse hatte. Zum einen stand er spätestens ab 1933 im Kontakt mit seinem mit den Geschicken der Psychoanalyse nun eng verflochtenen Vetter Matthias Heinrich Göring und diskutierte mit ihm auch dessen weiteres Vorgehen bezüglich der Psychotherapie (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–2). Zum anderen ging Hermann Göring (wie auch andere Staatsdiener – Lockot 2002, S. 226f.) »zum Analytiker«, genauer gesagt, er konsultierte – vermutlich auf Empfehlung seines Vetters – im letzten Kriegsjahr heimlich Harald Schultz-Hencke mehrfach in dessen Wohnung. Dabei sei es vor allem um Görings Drogenabhängigkeit gegangen, berichtet der Psychoanalytiker Otto Haselhoff, der zu dieser Zeit in Schultz-Henckes Wohnung einquartiert war (Lockot 1994, Fußnote S. 240). Also maß auch Reichsmarschall Göring der Psychoanalyse heilende Wirkung bei. Schon in der höchsten NS-Führungsschicht wurde die Psychoanalyse also unterschiedlich und nicht durchweg negativ bewertet. Dies könnte ein Grund für den widersprüchlichen Umgang mit der Analyse im Dritten Reich gewesen sein. Allerdings herrschte ohnehin zwischen vielen NS-Funktionären ein Konkurrenzkampf, von Historikern als »Ämter-Darwinismus« und »zersetzende Polykratie« beschrieben (Kater 2006, S. 527). Und: »Der polykratischen Praxis 443
4 Einordnungen und Erklärungen
[…] entsprach ein Polyzentrismus auf der Ebene der Ideen, die […] in zahlreichen ideologischen Grundfragen divergierten« (Breuer 2005, S. 55).838 Auch auf tieferen Führungsebenen wurden widersprüchliche Positionen gegenüber der Freudschen Lehre vertreten. Der einflussreiche NS-Kulturfunktionär Otto von Kursell bezeichnete die Psychoanalyse 1933 als »jüdisch-marxistische Schweinerei« (Brecht et al. 1985, S. 102), ließ sich allerdings bald eines Besseren belehren. Der NSDAP-Dezernent für Hochschulangelegenheiten Franz Wirz entgegnete 1936 »überängstlichen, gesinnungstreuen Einwänden […] deutscher Psychotherapeuten gegen Freud«: »Wir wissen doch alle, daß die Wassermannsche Reaktion [= Syphilis-Nachweis – A. P.] von einem Juden [Paul Ehrlich – A. P.] entdeckt worden ist, es wird doch aber niemand in Deutschland so verrückt sein, diese Reaktion nicht mehr anzuwenden« (zitiert in Boehm 1978, S. 303).839 Ähnlich argumentierte Martin Staemmler in seinem Beitrag Das Judentum in der Medizin. Auch er betonte, dass er »die Größe eines Ehrlich nicht herabsetzen« wolle und die Leistungen anderer bedeutender jüdischer Ärzte anerkenne. Andererseits verwies er auf angebliche Schädigungen durch jüdische Ärzte, die deren Nützlichkeit überwiegen würden. Zur »Freudsche[n] Psychoanalyse« hieß es dann, Analytiker sollten ihre Forschungen »an einem Menschenmaterial machen, das rassemäßig zu ihnen gehört«, da von ihnen alles »in die sexuelle Sphäre« hineingezogen werde. Allerdings sei »durchaus anzuerkennen«, dass »Vorgänge im Unterbewußtsein ihren verderblichen Einfluß auf die Funktion der Körperorgane auszuüben imstande sind« und daher »erkannt« und »beseitigt« werden müssten (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 89). Wie erwähnt, erschien sein Artikel in diversen, teils weit verbreiteten NS-Medien. Brauchbarkeitserwägungen, wie Wirz und Staemmler sie anstellten, dürften eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, dass es bis 1945 nicht zu einem Pauschalverbot analytischer Literatur kam. Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, eine »Zentralinstanz« hätte hier das Für und Wider in Bezug auf die Psychoanalyse abgewogen und dann eine Richtlinie zum Umgang mit analytischer Literatur vorgegeben. Die einzige derartige »Instanz«, die in der Lage gewesen wäre, verbindliche Weisungen für die hier ja gleichzeitig tangierten Ebenen der Kultur-, Wissenschafts- und 838 Zu den vergeblichen Bemühungen Rosenbergs um eine »weltanschauliche« Einheit siehe Piper (2007, S. 323–434). Gideon Botsch weist allerdings darauf hin, dass es sich bei der NS-Polykratie nicht »um ein völlig unstrukturiertes Chaos, das von dauernder Konkurrenz geprägt wäre«, handelte und dass sich »zumindest auf der ›mittleren Ebene‹ […] auch Kooperation erkennen« ließ (Botsch 2006, S. 20). 839 Über Wirz erfährt man in Rothländer (2012, S. 73) unter anderem, dass er »kein radikaler Nationalsozialist« war und »der Psychoanalyse durchaus wohlgesonnen gegenüber« stand.
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4.2 Freud über den Faschismus
Medizinpolitik herauszugeben, wäre Adolf Hitler gewesen. Zwar griff auch er gelegentlich durch selbstherrliche »Führer-Entscheidungen« in die Literaturverbote ein (Barbian 1993, S. 541ff.), aber das geschah selten – und nichts deutet auf einen derartigen Eingriff in Sachen Psychoanalyse hin.840 Wie wir schon gesehen haben, stellte gerade das »Feld der Schrifttumspolitik« zudem »ein Paradebeispiel« für die Polykratie von Ämtern und Personen dar (Piper 2007, S. 341). Aber nicht nur bestanden für Nationalsozialisten bemerkenswerte Spielräume für unterschiedliche Positionen gegenüber der Psychoanalyse. Die Analyse selbst (erst recht die »Tiefenpsychologie«, die den »arisch« gesinnten C.G. Jung einschloss) präsentierte sich längst mit einer Vielzahl von individuellen Auslegungen und widerstreitenden Standpunkten. Dass man auch gegenüber dem Faschismus keine gemeinsame Haltung fand (vgl. Fenichel 1998, Bd. 1, S. 35ff.), dürfte damit zusammenhängen, dass nicht einmal Sigmund Freud in der Öffentlichkeit explizite Stellungnahmen dazu abgab.
4.2
Freud über den Faschismus
Nach der im März 1933 erfolgten Veröffentlichung von Freuds 1932 verfassten Brief Warum Krieg? meldete sich Freud erst 1937 mit dezidierter Kulturkritik zurück: Im Almanach der Psychoanalyse erschienen zwei Auszüge aus Der Mann Moses und die monotheistische Religion (vgl. Meyer-Palmedo/Fichtner 1999, S. 56–59). Die erst 1939 in Gänze veröffentlichte Schrift durchzieht ebenso die Auseinandersetzung mit jüdischem Selbstempfinden wie mit den psychischen Hintergründen des Antijudaismus (vgl. Jones 1984, Bd. 3, S. 422–427; Yerushalmi 1992; Assmann 2000, S. 229, 241f.; Brumlik 2006, S. 238–259), also mit einer auch für das NS-Regime entscheidenden Komponente. Natürlich reagierte Freud damit auch auf den politischen »Rechts«-Ruck in Europa. Explizit hat er sich jedoch in der Öffentlichkeit kaum auf den Faschismus bezogen.841 Daher 840 Insgesamt scheint Hitler kaum Interesse gezeigt zu haben, umfassender über deutsche Veröffentlichungen informiert zu werden (Krings 2010, S. 407ff., 485f.). 841 Grunberger und Chasseguet-Smirgel mutmaßen, »die Tatsache, daß sich Reich auf seine Weise in einem Werk von knapp 350 Seiten« – tatsächlich umfasst Reichs Massenpsychologie nur 288 Seiten – »mit dem faschistischen Phänomen auseinandersetzte«, könnte Freud »den Mut genommen« haben, sich auf eine »Schlacht an zwei Fronten« einzulassen: »gegen den Faschismus auf der einen Seite und gegen den Reichschen Einsatz der Psychoanalyse beim Verständnis dieses Phänomens auf der anderen Seite« (Grunberger/ Chasseguet-Smirgel 1979, S. 134). Einmal mehr schimmert hier durch, wie ernst auch
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4 Einordnungen und Erklärungen
wird man im Register von Freuds Gesamtausgabe (Freud 1999) auch nicht fündig unter den Stichworten »Faschismus«, »Nationalsozialismus«, »Nazismus«, »Drittes Reich«, »Bücherverbrennung« oder »Hitler«.842 Zwei Angaben sind allerdings verzeichnet unter »Nationalsozialistische Revolution«. Die eine, die auf Freuds im Juni 1938 bereits im britischen Exil verfasste zweite Vorrede zur Abhandlung Moses, sein Volk und die monotheistische Religion verweist, führt (fast) ins Leere. An der angegebenen Stelle findet sich nur die auf die Besetzung Österreichs abzielende Formulierung: »Und dann kam plötzlich die deutsche Invasion« (Freud 1939a, S. 159). Zwei Seiten vorher jedoch stößt man auf Folgendes: »Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Wir finden mit Erstaunen, daß der Fortschritt ein Bündnis mit der Barbarei geschlossen hat. In Sowjetrussland hat man es unternommen, etwa 100 Millionen in der Unterdrückung festgehaltener Menschen zu besseren Lebensformen zu erheben […], aber dabei unterwarf man sie dem grausamsten Zwang und raubte ihnen jede Möglichkeit der Denkfreiheit. Mit ähnlicher Gewalttätigkeit wird das italienische Volk zu Ordnung und Pflichtgefühl erzogen. Man empfindet es als Erleichterung von einer bedrückenden Sorge, wenn man im Fall des deutschen Volkes sieht, daß der Rückfall in nahezu vorgeschichtliche Barbarei auch ohne Anlehnung an irgendeine fortschrittliche Idee vor sich gehen kann.«843
Dies hatte Freud im März 1938, also noch vor der deutschen Invasion, geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war die gesamte Abhandlung bis auf weiteres nicht zur Veröffentlichung gedacht (ebd., S. 158f.). 1939, in Großbritannien, wurde das Manuskript dann doch publiziert. Die oben zitierten Sätze daraus sind schon das Ausführlichste, was Freud der Öffentlichkeit ausdrücklich zum Faschismus mitgeteilt hat.844 Die zweite im Register der Gesammelten Werke vermerkte Stelle (aus derselben Abhandlung) lautet nämlich nur: »[M]an braucht sich nicht zu diese Autoren Reich als Gegenpart Freuds nehmen. Dass Freud in erster Linie wegen Reichs Massenpsychologie auf eine eigene Faschismusmusanalyse verzichtete, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich: Freuds diesbezügliche Zurückhaltung passt genau zu der von ihm hochgradig mitbestimmten IPV-Linie gegenüber dem Faschismus. Mir sind zudem keinerlei Hinweise bekannt, dass Freud über ein solches Publikationsvorhaben auch nur nachgedacht hat. 842 Auch das Durchsuchen digitaler Fassungen von Freuds Gesamtwerk belegt: Freud hat dieses Thema nahezu völlig umgangen. 843 Ähnlich hatte sich Freud auch schon in einem Brief an Marie Bonaparte vom Juni 1933 geäußert (siehe Jones 1984, Band 3, S. 217f.). 844 Als Redner trat er 1933 allerdings aufgrund seiner Kieferkrebserkrankung schon lange nicht mehr auf. Was er in Briefen zu dieser Thematik geäußert hat, kann in Ermangelung einer vollständigen Ausgabe seiner Briefe noch nicht abschließend beurteilt werden.
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4.2 Freud über den Faschismus
wundern, daß in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet« (ebd., S. 198). Dieser inhaltlich fragwürdige Satz845 ist der einzige, in dem Nationalsozialismus und Antisemitismus explizit im Zusammenhang Erwähnung finden.846 In dem, was Freud ansonsten zur Judenfeindlichkeit veröffentlichte, kommt ein solcher Bezug nicht vor. In Ein Wort zum Antisemitismus, ebenfalls 1938 im Londoner Exil verfasst, sprach Freud davon, dass »die letzten Judenverfolgungen« ihm Anlass für dieses kurze, wenig offensive Statement gegeben hätten (Freud 1938a, S. 779). Bemerkenswert ist jedoch, dass er diesen Artikel in der linken Emigrantenzeitschrift Die Zukunft. Ein neues Deutschland. Ein neues Europa!, die von Willi Münzenberg herausgegeben wurde, veröffentlichte. Prompt tauchte Freud damit dann auch – gemeinsam mit anderen Autoren der Zukunft wie Max Hodann, Ludwig Marcuse, Thomas, Heinrich und Erika Mann, Carl Zuckmayer, Alfred Döblin und Aldous Huxley – als »Feind Deutschlands« in den »geheimen Lageberichten« des Sicherheitsdienstes auf (Boberach 1984, Bd. 2, S. 241). Auch in den bislang veröffentlichten Briefwechseln – zum Beispiel mit seinen Kindern (Freud 2010), mit den Schriftstellern Arnold Zweig und Stefan Zweig oder den Kollegen Sándor Ferenczi und Max Eitingon – setzt Freud sich nicht tiefgreifend mit dem Faschismus auseinander.847 Manche Zeile in den Briefen an Arnold Zweig848 zeigt aber deutlich, welche Sorgen sich Freud über die wach-
845 Die christliche Religion und deren Vertreter waren durch den NS-Staat auch nicht ansatzweise einer solchen Verfolgung ausgesetzt wie die jüdische Religion. Stattdessen kam es vielfach zur Kooperation zwischen Kirchen- und NS-Funktionären (vgl. Klee 1995). 846 Freud dürfte 1930 in Das Unbehagen in der Kultur sicher auch die Hitler-Bewegung eingeschlossen haben, als er schrieb, »daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief« (Freud 1930, S. 474). Allerdings klingt seine Formulierung so, als ob er auf die gesamte »völkische« Bewegung, auch in deren früheren Ausprägungen, anspielte. 847 Vgl. z. B. Freud/Eitingon (2004, S. 903); Freud/Ferenczi (2005, S. 303); Hegener/Lockot (2006, S. 83ff.). Bekannt geworden sind zwei angebliche Aussprüche Freuds zum Faschismus. Ein bereits erwähnter bezieht sich auf die Bücherverbrennung. Der zweite auf die Zeit kurz vor seiner Emigration 1938: Freud habe gefragt, ob er einer ihm abverlangten Bestätigung, von den Besatzern gut behandelt worden zu sein, hinzufügen dürfe: »Ich kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen« (Jones 1984, Bd. 3, S. 268). Bernd Nitzschke machte mich am 31.10.2011 darauf aufmerksam, dass sich jedoch in der hier zur Debatte stehenden Erklärung, die Freud vor seiner Ausreise unterzeichnete, kein solcher oder ähnlicher Satz findet (vgl. auch Rothländer 2012, S. 107, Fn 218). 848 Diese liegen allerdings nur in einer gekürzten Ausgabe vor.
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4 Einordnungen und Erklärungen
sende Faschisierung Europas machte. »Die Analyse kann unter dem [italienischen – A.P.] Faschismus nicht besser gedeihen als unter dem Bolschewismus und dem [deutschen – A.P] Nationalsozialismus«, heißt es da am 13.6.1935. Soweit dies als aktuelle Bestandsaufnahme gemeint war, traf es wohl zu, als Prognose jedoch nicht: Die Psychoanalyse wurde unter Hitler am wenigsten, aber auch unter Mussolini weniger unterdrückt als unter Stalin.849 Am 22.6.1936 schrieb Freud: »Österreichs Weg zum Nationalsozialismus scheint unaufhaltbar. Alle Schicksale haben sich mit dem Gesindel verschworen.« Und am 20.12.1937: »Die Regierung hier [in Österreich – A.P.] ist eine andere, aber das Volk ist dasselbe, in der Anbetung des Antisemitismus durchaus einig mit den Brüdern im [deutschen – A.P.] Reich. Die Kehle wird uns immer enger zugeschnürt, wenn wir auch noch nicht erwürgt werden« (Freud/A. Zweig 1984, S. 118f., 142f., 163; vgl. S. 76f., 96f., 132.). Am 22.2.1938, nur drei Wochen vor dem »Anschluss« Österreichs, klang Freud in einem Brief an seinen Sohn Ernst dagegen optimistischer: »Ob das Ende wirklich so sein wird wie in Deutschland, darf man noch immer bezweifeln. Die katholische Kirche ist sehr stark und wird großen Widerstand leisten. Unser [Bundeskanzler] Schuschnigg ist ein anständiger, mutiger und charaktervoller Mensch. Am Tag nach seiner Rückkehr [von einem Treffen mit Hitler am 12.2.1938, wo dieser die Beteiligung von Nationalsozialisten an der österreichischen Regierung erzwang – A.P.] hat er drei Vertreter der jüdischen Großindustrie zu sich eingeladen, um ihnen zu versichern, daß die Juden hier nichts zu befürchten haben. So lange er dabei ist, natürlich; was geschehen wird, wenn er gehen muß, ist eine andere Frage. […] Im schlimmsten, nicht sehr wahrscheinlichen Fall, daß Leben und Freiheit hier gefährdet sind, muß mich eine kurze Automobilfahrt über Pressburg in Sicherheit bringen« (Freud 2010, S. 440).
849 Vgl. Kadyrow (2010, S. 221f.); R. u. E. Fischer (1982, S. 701); Bernhardt (2000, S. 188–191); Gaddini (1982, S. 651–662); Mehler (2010). Dem italienischen Faschistenführer hatte Freud drei Jahre zuvor in Form einer Widmung in einem Buch bescheinigt, dass er – wohl »in Anspielung auf die von Mussolini geförderten archäologischen Ausgrabungen« (Jones 1984, Bd. 3, S. 216) – im »Diktator den Kulturheros« erkenne. »Dies geschah«, vermerkt Josef Rattner, »also nach elf Jahren faschistischer Herrschaft über Italien, nach der Ermordung zahlreicher italienischer Sozialistenführer […], Mussolini […] bereitete durch Aufrüstung den kommenden Krieg vor« (Rattner 1988, S. 18). Allerdings wählte Freud, für den es auch eine Rolle gespielt haben dürfte, dass Mussolini Österreich ein gewisse Unabhängigkeit von Deutschland zu garantieren schien und weit weniger antisemitisch auftrat als Hitler, als Geschenk ausgerechnet sein pazifistisches Buch Warum Krieg? (Jones 1984, Bd. 3, S. 216).
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4.2 Freud über den Faschismus
Vielleicht wollte Freud hier auch seinen Sohn beruhigen. Verwunderlich ist dennoch zum einen die Einschätzung Kurt Schuschniggs. Wenn dieser zwar auch nicht durchweg antisemitisch agierte (vgl. Königseder 2005, S. 55), verzichtete seine Christlichsoziale Partei doch keineswegs auf judenfeindliche Äußerungen und Maßnahmen und stellte sich gegenüber den Nationalsozialisten sogar gelegentlich »als die wahren, die besseren Antisemiten dar« (ebd., S. 56–61; vgl. Langer 1986, S. 85f.). Seit 1934 führte Schuschnigg zudem eine Diktatur, die als »Austro-Faschismus« bezeichnet wurde, da sie Elemente vor allem des italienischen, teils aber auch des deutschen Faschismus übernahm. Massiv wurden hier insbesondere »linke« Kräfte unterdrückt, ohne dass dies jedoch zum gleichen blutigen Terror wie in Hitler-Deutschland führte (vgl. Neugebauer 2005; Gardiner 1989, S. 49–83) – eine Entwicklung, die Freud wiederum recht genau vorhergesehen hatte (Freud 2010, S. 428). Durch die mit den Regierungen unter Dollfuß, dann Schuschnigg einhergehende »Auflösung, Demontage und Illegalisierung wichtiger bildungs- und kulturpolitischer Einrichtungen im ›Roten Wien‹« wurde, so schreibt Elke Mühlleitner, »die Psychoanalyse eines wesentlichen Teils ihres Publikums beraubt und war von ihrem ganzen kulturellen und intellektuellen Wirkungs- und Einflussbereich isoliert.« Dem wachsenden Druck des Austro-Faschismus begegneten die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), ähnlich wie ihre deutschen Kollegen, »mit relative[r] Anpassung und entpolitisierte[r] Haltung« (Mühlleitner 2005a, S. 15f.). Marie Langer berichtet, 1934 »beschloß der Stab um den ›Herrn Professor‹, wie alle Freud nannten, daß kein Analytiker sich in einer verbotenen Partei betätigen und schon gar nicht deren Mitglieder als Patienten behandeln durfte«.850 Man beugte sich sogar dem Folgenden: »An allen Versammlungen der Psychoanalytischen Vereinigung wie an allen Schul-, Vereins- und sonstigen Versammlungen in Wien nahm damals ein Polizist teil« (Langer 1986, S. 88–90).851 Dennoch war die WPV auch anderweitig »von der politischen Reaktion betroffen«. So wurden 1934 der Analytiker und Sozialist Josef Karl Friedjung und 1935 die Analytikerin und Sozialdemokratin Edith Buxbaum vorübergehend interniert. Andere entgingen diesem Schicksal durch Emigration. Insgesamt verließen zwischen 1933 und 1938 28 Wiener Analytiker ihren Wohnort852 (Mühlleitner 2005a, S. 15f., 19f.; Kaufhold 2003, S. 44f.). 850 Das betraf die österreichischen Kommunisten und Sozialdemokraten und die mit NSDeutschland kollaborierenden Nationalsozialisten. 851 Das bestätigt auch Reichmayr (1994, S. 118). 852 Aus Elke Mühlleitners Formulierung geht nicht hervor, ob es sich dabei immer um Emigration handelte. Vgl. auch Mühlleitner (2005a, S. 23), wo sie 150 Analytiker und Ausbildungskandidaten erwähnt, die 1902–1938 Österreich verließen (vgl. auch Reichmayr 1996, S. 111–192).
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4 Einordnungen und Erklärungen
Das Gesamtprädikat »anständig« dürfte Schuschnigg also schwerlich zukommen. Und Schuschniggs vermeintliche Charakterstärke konnte einen Hitler, der in Österreich einen großen Teil der Bevölkerung auf seiner Seite hatte – wie es Freud am 22.12.1937 ja selbst richtig eingeschätzt hatte – nicht aufhalten. Arnold Zweig kommentierte daher in einem Brief an Freud vom 4.6.1938 rückblickend: »Und daß Ihr alle solange, so Schuschnigg-gläubig in einer Stadt sitzen bliebt, bis der Müll euch wie eine Lawine zudeckte!« (Freud/A. Zweig 1984, S. 169).853 Auch Freuds Einschätzung der katholischen Kirche als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus erwies sich als eine Illusion – was aufgrund der damals allgemein bekannten Verbindungen römischer und österreichischer Kirchenfunktionäre mit NS-Deutschland854 ebenfalls vorhersehbar war. Am 15.3.1938, nur drei Tage nach dem deutschen Einmarsch, versicherte Kardinalprimas Innitzer Hitler der Loyalität der österreichischen Katholiken. Weitere drei Tage später gelobten die höchsten katholischen Würdenträger Österreichs Hitler ihre volle Unterstützung und übermittelten ihm ihre Segenswünsche sowie ihre Überzeugung, dass »durch das Wirken der nationalsozialistischen Bewegung die Gefahr des alles zerstörenden gottlosen Bolschewismus abgewehrt wurde« (Kershaw 1998, Bd. 2., S. 131; vgl. Hanisch 2005). Und Freud sollte bald zu spüren bekommen, wie sehr Freiheit und Leben für ihn und die Seinen unter der NS-Herrschaft gefährdet waren: Seine Wohnung und Praxis wurden durchsucht, teilweise geplündert, Tochter Anna zum Gestapo-Verhör abgeführt. Es war schließlich auch keine kurze Autofahrt ins slowakische Pressburg (heute Bratislava), die ihn rettete, sondern die Flucht nach Großbritannien im Juni 1938 – für die Marie Bonaparte, Ernest Jones und andere, mittels internationaler diplomatischer Unterstützung, der NS-Führung mühsam die Erlaubnis abgerungen hatten. Drei der vier in Österreich zurückbleibenden Schwestern Freuds wurden in Treblinka ermordet, eine starb unter ungeklärten Umständen in Theresienstadt (Gottwalt 2004). Sigmund Freud wurde 1939 vom Sicherheitsdienst auf die Liste der 17 gefährlichsten Wissenschaftler der »Systemzeit« gesetzt (Rothländer 2012, S. 87). Freud teilte, und auch das dürfte einer der Gründe für sein Schweigen gewesen sein, die verbreitete Hoffnung, Hitler würde bald »abwirtschaften« (Hegener/ Lockot 2006, S. 83ff.). Um in der Zwischenzeit die Existenz der Analyse in Deutschland nicht zu gefährden, riet er – und darin folgte ihm die Internationale Psychoanalytische Vereinigung –, Konfrontationen mit dem NS-System nach Möglichkeit 853 Paul Parin schreibt, dass »jeder intelligente Zeitungsleser« den »Anschluss« Österreichs »voraussehen konnte« (Parin 1996, S. 31). 854 Ausführlich beschrieben bei Brechenmacher (2007).
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4.3 Antifaschistisches Engagement
zu vermeiden.855 Allerdings behielten er und die IPV diese Orientierung auch bei, nachdem klar wurde, dass die Hitler-Episode länger andauern würde als erhofft. Ob Freuds Anpassungskurs eine vernünftige Option war, darüber wird bis heute gestritten (z.B. Schröter 2009; Becker 2010). Unstrittig ist hingegen, dass er nicht den gewünschten Erfolg brachte. Durch die Judenverfolgung wurde ein Großteil der europäischen Analytiker zur Emigration gezwungen und in diverse Staaten versprengt; mindestens 23 von ihnen – davon die meisten Ungarn wie Zsigmond Pfeifer – starben durch faschistischen Terror oder wurden in den Tod getrieben (Hermanns 2001, S. 46; Th. Mueller 2000, S. 6; Brecht et al. 1985, S. 76–85).856
4.3
Antifaschistisches Engagement
Während die psychoanalytische Organisation nie einen offiziellen Protest gegen den Faschismus verlautbaren ließ, engagierten sich einzelne Analytiker und Ausbildungskandidaten durchaus in nennenswertem Maße gegen das Hitler-Regime und dessen Verbündete. Wie erwähnt waren mehr als 120 Analytiker, unter ihnen viele Emigranten, im Kriegseinsatz für die USA tätig bzw. schrieben Beiträge zu militärpsychologischen, -psychiatrischen oder -medizinischen Themen. Ernst Kris analysierte ab 1938 im Londoner Exil für die BBC die NS-Propaganda und setzte dies später in den USA fort (Mühlleitner 1992, S. 188). Ernst Simmel beteiligte sich an der USamerikanischen Rundfunkpropaganda gegen das Dritte Reich (Aichhorn/Schröter 2007, S. 15; Hermanns/Schultz-Venrath 1993, S. 12). Über gegen NS-Deutschland gerichtete Aktivitäten von Psychoanalytikern im Rahmen geheimdienstlicher Studien werde ich später berichten. IPV-Präsident Jones und andere Analytiker, insbesondere solche, denen – wie Otto Fenichel – die Emigration in die USA gelungen war, bemühten sich intensiv darum, weiteren Kollegen die Ausreise aus Deutschland und den von Deutschen besetzten und bedrohten Gebieten zu ermöglichen (vgl. Steiner 2011, S. 558–578). Iseult Grant Duff sprach 1934 im Londoner Analytikerkreis über Hitlers Mein Kampf, und der spätere Analytiker Heinrich Löwenfeld referierte, wie erwähnt, 855 Vgl. dazu auch die Mitteilungen Felix Boehms in Brecht et al. (1985, S. 100ff.). 856 L. M. Hermanns nennt 23, Th. Mueller dagegen 27 Analytiker bzw. der Analyse nahestehende Opfer. Die Unterschiede ergeben sich aus den jeweils verwendeten Abgrenzungskriterien.
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4 Einordnungen und Erklärungen
1935 in der Prager Volkshochschule Urania Zur Massenpsychologie des Faschismus. 1936 wiederholte er dies vor Prager Psychoanalytikern, eingeladen von Otto Fenichel (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 287, Fn 169, und S. 349). Wilhelm Reich machte seine Faschismuskritik ohnehin weiter öffentlich. Mehrere Analytiker oder Ausbildungskandidaten waren direkt an Widerstandshandlungen beteiligt, so die bis 1939 in Wien ausharrende US-Amerikanerin Muriel Gardiner, die in Berlin eine Ausbildung absolvierende Österreicherin Edith Taglicht oder die Norweger Nic Waal (vormals Hoel) und Harald Schjelderup (Gardiner 1989, S. 85–121; Mühlleitner 2005b, S. 116 und Fn 150; Fenichel 1998, Bd. 2, S. 1954; Nilsen 2010, S. 197–293).857 Auch von zwei DPG-Mitgliedern ist bekannt, dass sie zum Widerstand gehörten oder zumindest mit diesem in engem Kontakt standen. Edith Jacobssohn, die 1930 in die DPG aufgenommen wurde, stellte ihre Wohnung nach 1933 für Zusammenkünfte der Widerstandgruppe »Neu Beginnen« zur Verfügung, hielt Referate bei deren Treffen, therapierte zwei Frauen aus diesem Kreis und unterstützte diese bei der Flucht aus Deutschland (Mühlleitner 2005b, S. 115–121).858 Nachdem die Gestapo im Sommer 1935 ein Archiv von »Neu Beginnen« entdeckte, wurden Mitglieder der Gruppe verhaftet, am 24.10.1935 auch Jacobssohn. Felix Boehm distanzierte sich daraufhin gegenüber Ernest Jones »von dem grenzenlosen Leichtsinn einer jüdischen Kollegin« (Schröter 2005b, S. 170). Auch IPV-Generalsekretärin Anna Freud kritisierte Jacobssohns politisches Engagement: »[W]as wir bei [Wilhelm] Reich […] kennengelernt haben, stimmt für alle ähnlich eingestellten Mitglieder. Rücksicht auf die Vereinigung ist ihnen fremd« (Mühlleitner 2005b, S. 126) – Widerstand gegen Hitler als Rücksichtslosigkeit gegenüber der Analyseorganisation. Trotzdem engagierte sich nicht nur Fenichel, sondern auch Jones intensiv für Jacobssohns Freilassung. Jones stellte
857 Auch Dietfried Müller-Hegemann absolvierte in Berlin 1936–1943 eine analytische Ausbildung. In der DDR wurde er ein wichtiger Gesundheitspolitiker, trat als Psychoanalysegegner hervor und erhielt eine Anerkennung als »Opfer des Faschismus« (Bernhardt 2000, S. 178f.). Letzteres bezog sich auf seine Angabe, er habe zu einer widerständischen Gruppe innerhalb der Berliner Charité gehört (ebd., S. 178). Diese Angabe wurde jedoch von mehreren Kollegen, die ihn längere Zeit kannten, als unglaubwürdig angesehen (persönliche Mitteilung von Michael Geyer, 15.1.2013). Während zu Gardiners Aktivitäten diverse Zeugenaussagen vorliegen und über Waal und Taglicht dokumentiert ist, dass sie inhaftiert waren, habe ich keine Hinweise gefunden, dass solche Zeugnisse auch über Müller-Hegemann veröffentlicht wurden. 858 Die Aussagen darüber, wie stark Jacobssohn in die Widerstandsgruppe einbezogen war, sind widersprüchlich (Mühlleitner 2005b, S. 120f.).
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4.3 Antifaschistisches Engagement
dann jedoch »auf Boehms Wunsch hin« – der wohl befürchtete, Jacobssohns Verhaftung könne die bislang erreichte Etablierung der DPG im Dritten Reich gefährden – seine Bemühungen ein (Lockot 1994, S. 42; Mühlleitner 2005b, S. 122–127). Im September 1936 wurde Edith Jacobssohn wegen Hochverrats verurteilt. 1938 gelang ihr die Flucht, die sie letztlich in die USA führte. Die der Reformpädagogik nahestehende Lehrerin Käthe Dräger war seit 1930 in der KPD-Kontrahentin KPDO859 organisiert. Seit 1933 beteiligte sie sich am Widerstand (Winkelmann 2007, S. 86f.). Gleichzeitig begann sie eine Lehranalyse bei Carl Müller-Braunschweigs Gattin Ada. »Gleich zu Beginn«, so Dräger 1975 im Gespräch mit einem Kollegen,860 habe sie erklärt, »dass sie Kommunistin sei und befürchte, dass Psychoanalytiker das für neurotisch halten könnten. Ada Müller-Braunschweig habe sich dazu jedoch nicht geäußert«, doch spätere Mitteilungen über Drägers Widerstandsaktivitäten »so aufgenommen, als ob das ganz natürlich wäre« (ebd., S. 95f.). Nach Edith Jacobssohns Verhaftung wurde Dräger von ihrer Lehranalytikerin allerdings vor die Wahl gestellt: entweder Fortführung der Lehranalyse oder des antifaschistischen Widerstands. Sie sicherte zu, sich aus Letzterem herauszuhalten, und durfte die Analyse fortsetzen (ebd., S. 96f.). 1936 schloss sie ihre Ausbildung ab und wurde in die DPG aufgenommen. Spätestens ab 1937 spielte Dräger in der illegalen Arbeit der KPDO eine zentrale Rolle. Sie bildete mit anderen Genossen deren Berliner Komitee genannte Reichsleitung, schrieb und verteilte antifaschistische Schriften, hielt den Kontakt zu regionalen Widerstandsgruppen, zur Auslandsleitung der KPDO und zu Angehörigen inhaftierter Genossen. Einer ihrer Mitstreiter erinnerte sich später an sie sogar als »den führenden politischen Kopf« des Komitees (ebd., S. 92f.). Das verheimlichte sie nicht nur während des Dritten Reichs, sondern verschwieg es zeitlebens, auch in ihrer 1971 in der Psyche veröffentlichten Bilanz der NS-Zeit (ebd., S. 98f.; Hermanns 1991, S. 118; Dräger 1984).861 Über ihre Gründe lässt 859 Die von Thalheimer und Brandler geführte KPD-Abspaltung, die unter anderen jene Zeitschrift Arbeiterpolitik herausbrachte, in der wohlwollend über Reichs Wiener Sexualberatung informiert worden war. 860 Der Psychoanalytiker Hans Müller-Braunschweig, Sohn von Drägers Lehranalytikerin, befragte sie zu ihrem Leben. Das bislang unveröffentlichte Interview wird von Ilka Winkelmann mehrfach zitiert. 861 Auch im Interview mit H. Müller-Braunschweig sparte sie das aus. Eine weitere Quelle ergänzt dieses Bild und belegt, dass ein solcher vermutlich durch Verdrängung gekennzeichneter Umgang mit der eigenen Vergangenheit auch die Qualität der therapeutischen Arbeit mindert. Der zeitweise in Berlin ausgebildete Psychoanalytiker Hartmut Radebold kann nur Dräger meinen, wenn er über seine Lehranalytikerin berichtet, sie sei während des Dritten Reiches »Vorstandsmitglied einer kommunistischen Untergrundpartei« und »sehr gefährdet« gewesen. Radebolds Erlebnisse als Kind im Zweiten Weltkrieg seien in
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4 Einordnungen und Erklärungen
sich nur spekulieren. Abgesehen davon, dass sie wohl grundsätzlich bemüht war, wenig Persönliches publik zu machen, könnte sie befürchtet haben, von »national gesinnten« Deutschen auch nach 1945 als Verräterin abgestempelt zu werden. Darüber hinaus dürfte ihr bewusst gewesen sein, dass ihre psychoanalytischen Kollegen ihr Handeln als leichtsinnig und rücksichtslos hätten einstufen können, auch noch im Nachhinein. Hinweise darauf, dass Felix Boehm oder Anna Freud ihre diesbezügliche Haltung jemals korrigierten, habe ich nicht gefunden. Seitens IPV, DPG oder DPV scheint bis zum heutigen Tag keine ausdrückliche offizielle Würdigung des antifaschistischen Widerstands ihrer Mitglieder und Kandidaten erfolgt zu sein.862 Einen noch höheren Preis als Edith Jacobssohn zahlte John Rittmeister für sein politisches Engagement. Ursprünglich eher »jungianisch« ausgerichtet, dann jedoch – nicht zuletzt wegen Jungs NS-Sympathien – von diesem abgerückt, schloss er sich 1937 dem DIPFP an und übernahm hier unter anderem vertretungsweise die Leitung der Poliklinik. DPG- oder IPV-Mitglied wurde er nicht, absolvierte jedoch innerhalb der »Arbeitsgruppe A« der ehemaligen DPG-Analytiker eine Ausbildung (Hermanns 1994; Brecht et al. 1985, S. 170). Er versteckte jüdische Mitbürger vor Verfolgungen und verhalf ihnen noch nach Kriegsbeginn zur Ausreise. 1941 kam er – ohnehin pazifistisch orientiert und am Marxismus interessiert – in Kontakt mit Harro Schultze-Boysen. Bald darauf beteiligte er sich an der Abfassung von Flugblättern der »Roten Kapelle«. In einem davon, überschrieben mit »Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk!«, hieß es: »Wir müssen endlich Schluß machen mit dem alten deutschen Irrglauben, der Staat sei ein höheres Wesen, dem man sich blind anvertrauen dürfe. Der Staat ist heute nichts als ein großer Apparat, der in die Hände einiger Ehrgeizig-Skrupelloser gefallen ist. Diese bedienen sich der Staatsapparatur, um die ganze Welt nach ihren unreifen und schiefen Vorstellungen umzukrempeln […].
der Lehranalyse dennoch kein Thema gewesen: Sie »erschienen ihr für meine Entwicklung unwichtig. Eine ähnliche Erfahrung haben viele meiner Kolleginnen und Kollegen in ihrer Lehranalyse gemacht« (Der Spiegel 13/2013, S. 140f.). 862 Soweit aus eigenen Reihen stammende Analytiker zu Opfern des Faschismus wurden, wird dagegen darauf verwiesen (vgl. zum Beispiel die historischen Darstellungen auf den Webseiten von DPV und DPG). Speziell für das Angedenken an John Rittmeister – der ja zugleich Widerständler und Opfer war – enagagierten bzw. engagieren sich Analytiker wie Ludger M. Hermanns, Walter Bräutigam, Hubert Speidel und Michael Geyer (vgl. Hermanns 1994, 2001; Bräutigam 1987).
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4.3 Antifaschistisches Engagement
Wir retten uns und unser Land nur dann, wenn wir den Mut finden, uns in die Kampffront gegen Hitler einzureihen« (zitiert in Rittmeister 1992, S. 129).
Am 23.9.1942 inhaftiert, wurde Rittmeister am 23.2.1943 zum Tode verurteilt und am 13.5.1943 in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet (Brecht et al. 1985, S. 170ff.).863 Auch der Österreicher Karl Motesiczky, der seine analytische Ausbildung bei Wilhelm Reich begonnen und bei August Aichhorn fortgesetzt, aber nicht abgeschlossen hatte, bezahlte seine Hilfe für jüdische Mitbürger mit Haft in Auschwitz und Tod. 1980 wurde er von der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« geehrt (Rothländer 2010, S. 321–339; Nitzschke 2011). 2006 wurde auch Nic Waal posthum diese Ehre zuteil (Nilsen 2010, S. 206). Die Geschichte der in Deutschland verbleibenden Psychoanalytiker hatte ihren Schwerpunkt jedoch nicht im Widerstand, sondern in Kooperation und Kollaboration.864 863 Ein 1989 gegründetes, tiefenpsychologisch-analytisch ausgerichtetes Ausbildungsinstitut in Kiel trägt heute seinen Namen. Außer einem Bild mit der Angabe »Das Institut wurde nach dem Nervenarzt und Psychoanalytiker John F. Rittmeister (1898–1943, s. Foto) benannt« habe ich auf der Institutswebseite jedoch keine Informationen zu ihm gefunden, nicht einmal dazu, warum und wie er 1943 gestorben ist (www.john-rittmeister-institut. de/, letzte Abfrage 14.1.2013). Die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR verlieh seit 1979 für Verdienste »bei der Entwicklung der Psychotherapie und ihrer Institutionalisierung in der Medizin« die John-Rittmeister-Medaille. Zu dieser Namensgebung kam es, berichtet Michael Geyer, weil Rittmeister der einzige Psychotherapeut war, »dessen Leben und Sterben […] mit den ideologischen Prinzipien des Staates« in Übereinstimmung zu bringen war. Bis 1994 wurde diese Medaille an 21 Personen verliehen (Geyer 2011, S. 849f.). 864 Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass der größte Teil dieser Analytiker Ärzte waren. Das Selbstverständnis dieses Berufsstandes war schon in der Weimarer Republik (zusätzlich zu einem »Bekenntnis zur Nation und zum deutschem Geist«) geprägt »1. durch ein ausgeprägtes Elitebewußtsein, 2. durch die Vorstellung von einer Exklusivität des Arztberufes, die weder durch Studium oder Wissen, sondern nur durch die angeborene Persönlichkeit des Arztes zu erreichen ist« (Schmiedebach 1980, S. 64). Diesem Selbstbild kamen die Nationalsozialisten in hohem Maß entgegen – und konnten so der »arischen« Ärzteschaft recht verführerische Offerten machen. 1934 verkündete Rudolf Hess: »Nationalsozialismus ist nichts anderes als angewandte Biologie« (Lifton 1988, S. 36). 1937 erklärte »Reichsärzteführer« Gerhard Wagner, der Arzt solle, »wie mir der Führer erst vor einigen Wochen wieder gesagt hat, in erster Linie mit Volksführer sein« und endlich wieder »Priesterarzt« werden (Wuttke-Groneberg 1982, S. 356). Wagners Nachfolger im Amt, Dr. Leonardo Conti, setzte 1943 noch eins drauf: »Niemand ist nötiger, um das Schicksal des deutschen Volkes in die Bahnen zu lenken, die zum biologischen Aufstieg führen, als der Arzt« (ebd., S. 354).
455
4 Einordnungen und Erklärungen
4.4
Das 1933er Memorandum
Auf Bitten von Felix Boehm, dem designierten »arischen« Vorsitzenden der DPG, verfasste Carl Müller-Braunschweig (bald darauf ebenfalls DPG-Vorstandsmitglied) im Sommer 1933 ein »Memorandum«, um, so Boehm, »die bisherigen Verdienste unseres Institutes zu schildern, von [Wilhelm] Reich’s in Berlin bekanntgewordenen Ansichten deutlich abzurücken und zu zeigen, wie die Ps.A. die wertvollen Seiten jedes Menschen fördere« (Brecht et al. 1985, S. 105). Wesentliche Passagen dieses Memorandums fanden sich dann nahezu wörtlich unter der Überschrift »Psychoanalyse und Weltanschauung« am 22.10.1933 in dem schon erwähnten Artikel Müller-Braunschweigs in der nationalsozialistischen Wochenschrift Der Reichswart. Aber bereits das Memorandum enthielt – allerdings erst am Ende einer sachlichen achtseitigen Darstellung von Geschichte, Gegenwart und möglichen Perspektiven der DPG und des Berliner Psychoanalytischen Instituts – jene weiter oben zitierten Formulierungen über die Verwendbarkeit der Psychoanalyse im Nationalsozialismus (Schröter 2009, S. 9ff.).865 In dieser ursprünglichen Fassung lauteten sie: »Die Psychoanalyse bemüht sich nicht allein – auf körperlichem Gebiete – sexuell unfähige Menschen zu sexuell fähigen zu machen, sondern überhaupt auf allen Gebieten des Menschen unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebesund opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung neu zu dienen« (zitiert in Lockot 2002, S. 141ff.).
Umso befremdlicher ist es, von Felix Boehm dazu Folgendes zu erfahren: »Nun bat ich Jones als Präsidenten der I. P. V. um eine Unterredung. An dieser nahmen im Haag am 1.10.33 Jones, van Ophuijsen, Müller-Br. und ich teil. […] die Unterredung dauerte ca. 6 Stunden. Müller-Br. und ich erzählten alles, was wir bis jetzt über die Geschicke der PsA wussten, u. a. verlas Müller-Br. das von ihm verfasste
865 Das im Reichswart verwendete Freud-Zitat aus »Psychoanalyse« und »Libidotheorie« (siehe weiter oben) wurde im Memorandum noch nicht verwendet. Michael Schröter hat mir die Möglichkeit gegeben, den Originaltext des Memorandums einzusehen.
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4.4 Das 1933er Memorandum
Memorandum; die Unterredung führte zu einer vollkommenen Übereinstimmung. Alle bis dahin von uns unternommenen Schritte wurden von Jones gutgeheissen. Er versprach uns866 weitestgehende Förderung und Unterstützung und schrieb sofort in diesem Sinne an Anna Freud. Darauf erhielt ich einen Brief von Anna Freud vom 17.10., aus dem ich zitiere: ›[…] Jones hat mir auch schon geschrieben und von dem867 sehr erfreulichen Verlauf der Zusammenkunft berichtet. Dass ich Ihnen ein Überwinden aller Schwierigkeiten in der nächsten Zukunft wünsche, brauche ich Ihnen wohl nicht extra zu sagen‹« (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 106f.; Hervorhebungen von mir – A.P.).
Da es sich bei Boehms Text, aus dem dieses Zitat stammt, um einen bereits 1934 verfassten, wohl an die IPV-Leitung weitergereichten Bericht handelt,868 den auch die dort namentlich genannten Personen in die Hand bekommen haben dürften, wird er sich an die Wahrheit gehalten haben.869 Das bedeutet, dass auch IPV-Präsident Jones die oben zitierten Sätze aus dem Memorandum kannte und billigte.870 Inwieweit die IPV-Sekretärin Anna Freud – und durch sie oder Jones auch Sigmund Freud – über das Memorandum informiert war, muss offen bleiben. Dass Jones ihr »den sehr erfreulichen Verlauf der Zusammenkunft berichtet« haben könnte, ohne das Memorandum zu erwähnen, halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Müller-Braunschweig wurde wegen dieser Sätze im Memorandum nicht nur offenbar von keinem Mitglied der IPV-Leitung gerügt, 1950 sollte er sogar der von der IPV anerkannte Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung werden. »Die psychoanalytische Welt sah in Müller-Braunschweig den Repräsentanten der Psychoanalyse in Deutschland«, berichtet Helmut Thomä (Thomä 1963a, S. 77).871 Den anderen DPG-Mitgliedern wurden 1933 sowohl Memorandum als auch Reichswart-Artikel erst nachträglich bekanntgemacht und lösten bei diesen unter866 Im Original »und« statt »uns« (siehe Brecht et al. 1985, S. 107). 867 Im Original »der« statt »dem« (siehe ebd.). 868 Er wurde im Londoner Archiv der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft archiviert (siehe Stempel ebd., S. 99). 869 Mir ist auch keine Stellungnahme bekannt, welche die dortige Darstellung Boehms in den zitierten Punkten bestreitet. 870 So wertet dies auch bereits Bernd Nitzschke (1997a, S. 97ff.). 871 Dies hat Bernd Nitzschke bereits ausführlich dargestellt und kritisiert (Nitzschke 1997a, S. 85, 104–111). Noch 1935 sahen Jones, Eitingon und Anna Freud »in Müller-Braunschweig keinen uneigennützigen, vertrauensvollen Vertreter der Psychoanalyse. Jones meinte nun, daß Müller-Braunschweig mit einer Verbindung der psychoanalytischen Philosophie mit dem quasi-theologischen Konzept der nationalsozialistischen Ideologie kokettiere und antisemitisch eingestellt sei« (Lockot 1994, S. 37).
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4 Einordnungen und Erklärungen
schiedliche, von Verständnis bis Empörung reichende Reaktionen aus (Schröter 2009, S. 1100f.). Auch Wilhelm Reich entdeckte den Reichswart-Artikel und druckte ihn 1934 in der ersten Ausgabe seiner Exil-Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie unter der Überschrift »›Unpolitische‹ Psychoanalyse« ab (ZPPS, Bd. 1, H.1 1934, S. 74ff.). Für eine weitere Ausgabe seiner Zeitschrift verfasste er einen Kommentar:872 »Die Verbrennung der Bücher Freuds im ›Dritten Reich‹ hatte dem genannten Vorstandsmitglied [gemeint ist Müller-Braunschweig – A.P.] die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Faschismus offenbar nicht klar genug demonstriert. Als zur Emigration gezwungenes Mitglied der deutschen psa. Vereinigung erkläre ich hiermit, daß der genannte Artikel von Müller-Braunschweig eine Schande für die gesamte psychoanalytische Wissenschaft und Bewegung darstellt. Die psychoanalytischen Forschungsergebnisse […] widersprechen […] dem Nationalsozialismus wie jeder reaktionären Moral- und Weltauffassung. Als kulturpolitische Bewegung muß sie [die Psychoanalyse – A.P.] sich anläßlich der Bücherverbrennung etc. zum Todfeind des Nationalsozialismus erklären. Der gegenwärtige deutsche Reichskanzler handelte, das sei hier nachdrücklichst betont, von seinem Standpunkt aus, durchaus folgerichtig, als er die Bücher des ›Untermenschen‹ Freud verbrennen ließ.873 Um so größer ist die Schande der Bestrebungen führender Analytiker, sich gleichschalten zu lassen« (zitiert in Fenichel 1998, Bd. 1, S. 103f.).
Spätestens durch diesen Zweitabdruck wurde Müller-Braunschweigs ReichswartArtikel auch anderen, nichtdeutschen Analytikern im Wortlaut bekannt. Das beweist jene Besprechung von Reichs Exilzeitschrift, in der Robert Wälder behauptet hatte, dass die »vorliegenden ›wissenschaftlichen Bestrebungen‹ [Reichs] mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben«. Dort monierte Wälder nämlich auch, dass Reich unter der Überschrift »›Unpolitische‹ Psychoanalyse« ein Zitat des Analytikers Richard Sterba wiedergegeben habe. Dass dieses Zitat jedoch nur die Einleitung für den im Anschluss daran beginnenden Nachdruck des Reichswart-Beitrags bildete, verschwieg Wälder.874 Da Wälders Besprechung in der Imago erschien (Imago 1934, Bd. 20, S. 504– 872 Vielleicht schloss Reich sich Fenichels Meinung an, dass der Reichswart-Artikel für sich spräche (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 104). Jedenfalls kürzte er seinen Text dann für die Veröffentlichung als Vorbemerkung zu Ein Widerspruch der Freudschen Verdrängungslehre (ZPPS Bd. 1, H. 2 1934, S. 115). 873 Direkte Einflussnahme Hitlers auf die Bücherverbrennung ist nicht erwiesen. Dass Reich auch selbst betroffen war, scheint er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst zu haben. 874 Darauf verweist bereits Bernd Nitzschke (1997a, S. 92ff.).
458
4.5 Hauptakteure, Protegés
507) und diese von Freud selbst herausgegeben wurde, muss auch Freud diese Rezension und damit auch die Existenz der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie zur Kenntnis genommen haben.875 Mit dem Nachdruck des Reichswart-Artikels und anderen Beiträgen in seiner Zeitschrift war und blieb Reich der einzige Analytiker, der seine Kollegen öffentlich davor warnte, sich mit dem Faschismus einzulassen. Was dieses Sich-Einlassen im Einzelnen bedeuten würde, konnte jedoch auch er noch nicht ahnen.
4.5
Hauptakteure, Protegés
»Als der Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht kam«, erinnerte sich M.H. Göring 1934, »hatte es den Anschein, als ob unter der neuen Regierung für die Psychotherapie kein Platz mehr wäre.« Dies führte er vor allem darauf zurück, das sich die Psychotherapeuten »nicht genügend mit der Rassenhygiene beschäftigt« hätten, die Rassenhygieniker wiederum »nicht tief genug in die Tiefenpsychologie eingedrungen« seien (Göring 1934, S. 11). Die als jüdisch verfemte Psychoanalyse inklusive ihrer Therapiemethode war, wie schon eingangs beschrieben, zudem spezifischen Angriffen ausgesetzt. »Ende Mai wurden Freud’s Werke in Berlin öffentlich verbrannt […]. Jetzt wurde die Situation brenzlich«, reflektiert Felix Boehm (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 102). Insbesondere Boehm und DPG-Vorstandsmitglied Carl Müller-Braunschweig bemühten sich unverzüglich um Gegenmaßnahmen. (Bernd Nitzschke sieht in Müller-Braunschweig sogar den »Kopf hinter Boehm«: »Boehm war der Organisator, Müller-Braunschweig der Mann für die ›Weltanschauung‹.«)876 Dabei kam ihnen eine NS-interne Entwicklung entgegen: »War die Bücherverbrennung noch vorwiegend das Werk eifriger wie völkisch eifernder Bibliothekare und der Deutschen Studentenschaft, […] so wurde die reguläre 875 Ich kann mir allerdings ohnehin kaum vorstellen, dass Reich darauf verzichtet haben sollte, Freud seine Zeitschrift zuzusenden. Andere, von ihm ab 1933 veröffentlichte Schriften wie die Massenpsychologie des Faschismus sandte er jedenfalls an Freud (vgl. Davis/ Fichtner 2006). 876 Persönliche Mitteilung am 25.8.2009. 1938 sollte, so schreibt Elke Mühlleitner, die IPV Richard Sterba dafür kritisieren, dass er sich nicht bereit erklärte, in Wien eine ähnliche Rolle einzunehmen wie Boehm in Deutschland, also die Weiterführung psychoanalytischer Arbeit im Faschismus zu leiten. Als »Arier« wäre er dafür infrage gekommen (Mühlleitner 2003, S. 26).
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4 Einordnungen und Erklärungen
Buchunterdrückung zur Domäne staatlicher, halbstaatlicher oder der Partei nahe stehender Instanzen« (zitiert in Sauder 1985, S. 79).
Zunächst frischte Boehm eine alte Bekanntschaft auf. Bereits während seiner Studienzeit in Riga und durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der dortigen Studentenschaft Rubonia hatte Boehm Kontakt zu Otto von Kursell (1884–1967) gehabt.877 Kursell, Meisterschüler von Franz von Stuck, wurde dann ein recht bekannter Maler, schloss sich schon 1922 der NSDAP an und investierte sein Talent unter anderem in diffamierende Karikaturen jüdischer Politiker und in Hitler-Porträts. Er war zudem, ebenfalls seit der gemeinsamen Rubonia-Mitgliedschaft, Vertrauter von Alfred Rosenberg. Im Mai 1933 arbeitete er auf zweifache Weise mit Rosenberg zusammen. Zum einen war er Kampfbundgeschäftsführer für Berlin-Brandenburg. Er saß also weit oben in jener Rosenberg-Organisation, die den Bücherzensurausschuss ins Leben rief und Hans Volkelt mit der Bewertung psychoanalytischer Schriften beauftragte. Auch als Redaktionsmitglied des Völkischen Beobachters war Kursell Mitstreiter Rosenbergs. Gleichzeitig betätigte er sich als Referent im Kultusministerium und als Direktor der Berliner Hochschule für bildende Künste (Piper 2007, S. 58–62). Seine Nähe zu Rosenberg belegt auch Folgendes: Eine Woche nach der Bücherverbrennung, am 18.5.1933, fand zur »Klärung verschiedener wichtiger Organisationsfragen« im Berliner Stadtschloss eine Kampfbundsitzung statt, zu der Rosenberg nur drei Funktionäre einlud. Einer von ihnen war Otto von Kursell (BA RS 56 I/88, Bl. 23–24). Boehm, der auch vor 1933 zumindest einmal wieder Kontakt mit Kursell gehabt hatte, hielt diesen für eine »durchaus zuverlässige Persönlichkeit« und »wußte, daß er mich sehr schätzte« (Brecht et al. 1985, S. 102). Bei seinen – wohl noch im Mai sowie am 9. und 11.8.1933 stattfindenden – Besuchen (ebd., S. 104) gelang es Boehm tatsächlich, wie er berichtet, den erklärten Antisemiten und Antikommunisten Kursell zum Umdenken bezüglich der Psychoanalyse zu bewegen. Zum einen, indem er einen ehemaligen Psychoanalysepatienten, der nun NSDAP-Mitglied war und »eine gewisse Rolle« im Kampfbund spielte, Zeugnis für die Heilwirkung der Analyse ablegen ließ. Zum anderen durch die Mitteilung 877 Die Identität Kursells im Zusammenhang mit der Psychoanalysegeschichte wurde 2003 erstmals von K. Dittrich und W. Schmidt auf Altenstadt aufgedeckt (Schröter 2009, S. 1097 und Fn 16). Ernst Piper veröffentlichte 2007 die bislang umfangreichsten Informationen zu Kursells Biografie, auf die ich mich im Folgenden auch stütze. Michael Schröter (ebd.) ergänzte weitere im Zusammenhang mit der Psychoanalyse stehende Details. Zeitgleich verhalf auch mir Werner Treß zu Aufschlüssen über Kursell, die ich im Bundesarchiv Berlin und durch Kontakt mit dem Enkel Gregor von Kursell komplettieren konnte.
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4.5 Hauptakteure, Protegés
bzw. Behauptung, dass Freud »sich durchaus gegen den Marxismus äußert. Es machte auf K. [Kursell] sichtlich einen starken Eindruck zu erfahren, daß Freud Antimarxist ist« (ebd.; vgl. auch Schröter 2009, S. 1097ff.). Zudem war eine klare Distanzierung von Wilhelm Reich vonnöten: »Bekanntlich war Reich häufig öffentlich als Kommunist und Psychoanalytiker aufgetreten, wobei er seine Ansichten als Ergebnis der Psychoanalyse hingestellt hatte. In unzähligen Flugschriften war in Berlin vor Reich gewarnt worden. Gegen dieses Vorurteil hatte ich zu kämpfen« (Brecht et al. 1985, S. 102).
Auch für Kursell war Reich also kein Unbekannter. Der von Boehm umgestimmte Kursell verhinderte anschließend eine beabsichtigte Aktion des Kampfbundes878 gegen die DPG (ebd.). Wie gelang ihm das? Ich vermute, indem er sich – zumindest auch – an Rosenberg wandte. Dass ein bereits geplanter Schlag gegen die DPG ohne Rosenbergs Billigung abgesagt werden konnte, erscheint mir ebenso unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass dieser Schlag zuvor nicht mit Rosenberg abgestimmt worden sein sollte. Obwohl Kursell für Berlin und Brandenburg das Sagen hatte, funktionierte auch der Kampfbund nach dem »Führer-Prinzip«, und Rosenberg war ebenso machthungrig wie kontrollsüchtig. Außerdem war die DPG keine Berliner, sondern eine deutsche Gesellschaft, die Psychoanalyse kein lokales, sondern ein ausgesprochen überregionales Phänomen – eine Tatsache, der ja auch in den »Feuersprüchen« Rechnung getragen wurde. Brachte Kursell also vielleicht, ausgerüstet mit Boehms Argumenten, bei Rosenberg ein partielles Umdenken bezüglich der Psychoanalyse zustande? War Rosenberg demnach auch Wilhelm Reich – als Feindbild – ein Begriff ? Ich halte beides für möglich. Es würde auch die mögliche Zustimmung Rosenbergs zum Abblasen jener Aktion plausibler machen. Sollte sich Kursell mit Rosenberg 1933 über die DPG verständigt haben, hätte er mit Sicherheit auch erwähnt, dass mit Boehm 878 Laut Boehm teilte Kursell mit, dass »beim ›Kampfbund für deutsche Kultur‹ ein Schreiben eingelaufen sei, aufgrund dessen eine Aktion gegen uns fest beschlossen sei«. Das könnte auch bedeuten, dass eine andere Institution diese Aktion beabsichtigte und den Kampfbund nur informierte. Das halte ich jedoch für äußerst unwahrscheinlich. Erstens wüsste ich nicht, warum der Kampfbund darüber hätte informiert werden sollen, kollegiale Kooperation war weit weniger üblich unter NS-Organisationen als Konkurrenz. Zweitens hatte Kursell ja schon eine »eventuelle« Aktion des Kampfbundes angekündigt. Und drittens verschob Kursell zunächst diese Aktion und konnte sie dann durch eine Rückzugsanweisung (er nennt es »cessat«) ganz verhindern. Das kann ihm nur innerhalb des Kampfbundes möglich gewesen sein.
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4 Einordnungen und Erklärungen
einer seiner – und Rosenbergs – ehemaligen »Korpsbrüder« Führer der deutschen Psychoanalytiker war. Rosenberg könnten auch Verwandte Boehms in diesem Zusammenhang ein Begriff gewesen sein: »Zwei Brüder Boehms und zwei seiner Onkel (Brüder der Mutter) waren ebenfalls Mitglieder der Rubonia«, berichtet Regine Lockot (Lockot 2002, S. 115). Auch das könnte es Rosenberg erleichtert haben, eine mögliche Brauchbarkeit der Psychoanalyse neuerlich zu erwägen. Falls es eine solche Unterredung zwischen Kursell und Rosenberg gegeben hat und falls es Kursell dabei gelungen ist, Rosenberg ein Stück vom Psychoanalysefeindbild abzubringen, dürfte das wesentlichen Einfluss auf das weitere Schicksal der Psychoanalyse und ihrer Schriften gehabt haben. Es könnte auch dazu beigetragen haben, dass der Leipziger Volkelt-Kommission freie Hand gelassen wurde und deren relativ milde Verbotsvorschläge von Rosenberg akzeptiert wurden. Sicher ist, dass Boehm im Herbst 1938 von M. H. Göring mit dem ersten Telegramm Hitlers zur DIPFP-Gründung ausgestattet und zu einem Treffen mit Rosenberg geschickt wurde, in der Hoffnung, »durch Vermittlung von Alfred Rosenberg, der Korpsbruder von Boehm ist, einen Artikel in sämtliche Ausgaben des V. B. [Völkischen Beobachters] lancieren zu können« (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–5). Offenbar als Resultat dieses Treffens erschien am 3.12.1938 jener bereits erwähnte Artikel Deutsche Seelenheilkunde. Boehm hatte mit Görings Anliegen also wohl bei Rosenberg Gehör gefunden. Auch Matthias Heinrich Göring (1879–1945)879 war einer derjenigen, die nun plötzlich zu Macht gelangten. Vermutlich gab es im Dritten Reich niemanden, der auf den Umgang mit der Psychoanalyse mehr direkten Einfluss nahm als er. Göring, Nervenarzt und »Adlerianer«, war im Sommer 1933 Vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie geworden – nicht zuletzt, weil die hier maßgeblichen Ärzte Hoffnungen in Görings verwandtschaftliche Beziehungen setzten. Diese aktivierte er auch umgehend, indem er im Herbst 1933 bei einem Treffen »mit [m]einem Vetter Hermann die Lage der Psychotherapie besprach«, wobei Hermann Göring sich angeblich »sehr für die Psychotherapie einsetzte« (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–2). Auch ansonsten hielt M. H. Göring privat und beruflich Kontakt zu seinem mächtigen Verwandten (Lockot 2002, S. 85). Bereits Anfang Januar 1934 scheint M.H. Göring auch in die Bewertung von Fachliteratur einbezogen gewesen zu sein. Zentralblatt-Schriftleiter Walter Cimbal schickte dem Verleger Hirzel am 21.1.1934 die Druckbögen für das 879 Weitere biografische Information zu ihm siehe Lockot (2002, S. 79–87).
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4.5 Hauptakteure, Protegés
»Deutsche Sonderheft« des Zentralblatts für Psychotherapie, verbunden mit der Bitte, ein Exemplar davon »über Herrn Prof. Göring an die ›Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums‹ […] mit dem Antrag zu senden, das ›Deutsche Heft‹ mit allen amtlichen Mitteln zur Förderung zu empfehlen und zu verbreiten«. »Diese Reichsstelle«, heißt es weiter bei Cimbal, »hat außerordentlich große Reichweite und Vollmachten, und es wird bei den vorzüglichen Beziehungen und der Bedeutung, die Herr Prof. Göring besitzt, zweifellos möglich sein, die Reichsstelle für das Werk zu interessieren« (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–2). Anscheinend ergab sich daraus ein direkter Kontakt zwischen der – an das »Amt Rosenberg« gebundenen – Reichsstelle und Cimbal. Am 29.3.1934 schrieb Reichsstellenmitarbeiter Bernhard Payr an Cimbal: »Wir sind gern bereit, die angegebenen Bücher880 einer Prüfung zu unterziehen […]. Für den Fall eines positiven Prüfungsergebnisses sind wir bereit, ein werbetechnisches Gutachten zum fünffachen Ladenpreis des betreffenden Werkes zur Verfügung zu stellen, von dem dann offiziell Gebrauch gemacht werden kann« (ebd.). Vielleicht war es auch eine wohl kalkulierte Geste in Richtung des (Bücher-) Zensors Rosenberg, dass M.H. Göring im Mai 1934 in seiner Eröffnungsansprache zum Allgemeinen ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Bad Nauheim verkündete: »Was ist die tiefste Wurzel, an der wir anfassen müssen? Dietrich881 stellt den Willen in den Vordergrund, Rosenberg die Idee […]. Wir Psychotherapeuten verstehen Rosenberg, wenn er sagt, daß es keinen Willen ohne Idee gibt« (ebd.). Auch 1936, in einem Vortrag zur ersten DIPFP-Versammlung (ZfP, Bd. 9, S. 290–296), berief sich Göring, vermeintlich »entwurzelte Arier« analysierend, auf Rosenberg. Letztlich wurde jedoch, wie berichtet, Goebbels mit seiner Reichsschrifttumskammer für die Literaturzensur noch wichtiger als Rosenberg. M.H. Göring arbeitete aber auch der Goebbels-Kammer zu. Das belegen mehrere, zwischen Januar und März 1937 verfasste Briefe (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–5). Am 4.1.1937 hatte sich der niederländische Analytiker J.H. van der Hoop an Göring gewandt, »mit der Bitte, mich bei der […] Reichsschrifttums880 Möglicherweise verwechselt Payr hier Bücher und Zeitschriften oder nutzte eine in diesem Fall unpassende Standardformulierung. Welche »Bücher« hier ansonsten gemeint sein könnten, wüsste ich nicht. 881 Gemeint war vermutlich der promovierte Nationalökonom und NS-Pressechef Otto Dietrich, auf den sich Göring auch andernorts (ZfP 1936, S. 295) bezog. Dietrich äußerte sich vielfach zu Fragen von »Weltanschauung« und Wissenschaft inklusive »philosophischen Problemen des Nationalsozialismus«, dies oft in einer Weise, die im Widerspruch zu Auffassungen Rosenbergs stand (Krings 2011, S. 278–290, 507).
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4 Einordnungen und Erklärungen
kammer mit ein paar Zeilen einzuführen«, damit sein in Bälde erscheinendes Buch Bewußtseinstypen und ihre Beziehung zur Psychopathologie auch in Deutschland vertrieben werden dürfe. Göring teilt daraufhin der Kammer mit, dass er van der Hoops Buch für »wissenschaftlich einwandfrei« halte, der Autor »von der Freudschen Psychoanalyse etwas abgerückt« sei und sich »der Jungschen Psychoanalyse zugewandt« habe. Außerdem: »Dr. van der Hoop ist arisch.« Am 28.2.1937 schickte der Niederländer Göring das nun erschienene Buch mit der Bemerkung: »Ich hoffe, daß Sie die Sache günstig beurteilen werden.« Am 4.3.1937 sandte Göring der Reichsschrifttumskammer sein Gutachten. Es endete mit dem Satz: »Ich habe keine Bedenken, das Buch für den deutschen Buchhandel freizugeben.« Görings promptes, effektives Reagieren und seine Wortwahl (»freigeben«) scheinen mir darauf hinzudeuten, dass er schon über Routine im Abarbeiten derartiger Vorgänge sowie über gewisse Entscheidungsbefugnisse verfügte.882 1941 kam Göring einer Bitte des französischen Analytikers (und langjährigen Mitgliedes auch der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung) René Laforgue nicht in gleicher Weise nach, obwohl Laforgue ihm zuvor über seine Schrift L’ homme au service de sa destineé mitgeteilt hatte: »Die Veröffentlichung meines Buches wird als wichtiges Beispiel dafür dienen, daß man sich nicht zu scheuen braucht, auch unter den neuen Verhältnissen, zur Verwirklichung unserer Ideale von Leistung und Psyche weiterzuarbeiten und daß gerade der Nationalsozialismus diese Weiterarbeit fördert, indem er die Menschen zu einer gesünderen Auffassung von Menschentum, Leben und Schaffen zu bringen versucht« (ebd.).883
Laforgues Buch beurteilte Göring in einem Brief an ein anderes DIPFP-Mitglied dennoch als »so psychoanalytisch und die Vermengung mit Jungschen Ansichten so unklar, daß wir von deutscher Seite einen Druck nicht befürworten können«. Es sei »nicht nur politisch untragbar (zum Beispiel die Annahme, daß das jüdische Wesen durch Umwelteinflüsse und nicht rassisch bedingt ist), sondern auch wissenschaftlich mangelhaft« (ebd.). Das entsprechende Gutachten dazu verfasste diesmal DIPFP-Mitarbeiter Hans von Hattingberg. Auch er betonte, dass dieses Buch »keineswegs gedruckt werden sollte, […] weil nicht nur Einzelheiten, sondern 882 Auch andere Anfragen wurden in diesem Zusammenhang an ihn gestellt. So erkundigte sich am 2.2.1939 Herbert Linden bei Göring, ob dieser wisse, ob der Autor Paul Wohlfahrt, der 1938 im Archivio Generale Di Neurologica, Psichiatria e Psicoanalisi veröffentlicht hatte, Jude sei (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–5). 883 Einzelheiten zu Laforgue auch bei Roudinesco (1988).
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4.5 Hauptakteure, Protegés
die gesamte Auffassung und Deutung abgelehnt werden müssen« (ebd.). Welcher Stelle dieses Gutachten letztlich vorgelegt wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Auf den meist recht umgänglichen Göring (Spitzname am Institut: »Pappi«) Einfluss zu nehmen, dürfte jedenfalls eine wichtige Chance gewesen sein, den Umgang mit psychoanalytischen Schriften mitzugestalten. Göring war aber nicht der einzige Angehörige des DIPFP, der bezüglich der Bewertung von Fachliteratur an einer Schaltstelle saß. 1935 versuchten Boehm und Müller-Braunschweig, auch den Psychotherapeuten Werner Achelis (1897–1982)884 von der Brauchbarkeit der Psychoanalyse für den Nationalsozialismus zu überzeugen (Brecht et al. 1985, S. 116ff.) Achelis, ansonsten vor allem C.G. Jung zugewandt, stand 1926–28 im Schriftwechsel mit Freud und schon vor 1930 in mehrjährigem Kontakt zu Müller-Braunschweig (ebd.), war also mit der Analyse vertraut. 1933 NSDAP-Mitglied geworden, betätigte er sich 1935 laut Boehm unter anderem als Leiter eines »weltpolitischen Schulungslagers« (ebd.). Im Herbst 1935 trafen sich Boehm und MüllerBraunschweig mit Achelis und dessen Freund, dem NS-Ärztefunktionär und jungianisch ausgebildeten Psychotherapeuten Kurt Gauger. Und wieder spielte, wie Boehm mitteilt, die Distanzierung von Wilhelm Reich eine Schlüsselrolle: »Bei der Erörterung der Frage des Zusammenhanges von Weltanschauung und Psa. kam ich auf den Ausschluss von Reich zu sprechen und drückte mich folgendermaßen aus. Als Freud mir im April 1933 das Mandat zur Vertretung der Psa. in Deutschland übergegeben hat, hat er als eine Voraussetzung für meinen Amtsantritt das Ersuchen an mich gestellt, Reich auszuschließen. Reich ist dann […] schon im Juli 1933 aus unserer Gesellschaft […] ausgeschlossen worden. Sofort ergriff Dr. Achelis sein Notizbuch und machte sich eine Notiz. Ich glaubte im Moment, er wolle es schwarz auf weiß haben, daß Reich schon im Sommer 1933 ausgeschlossen worden ist« (ebd., S. 117f.).
Wozu wollte er es »schwarz auf weiß« haben? Doch sicher, um diese ihm so wichtig erscheinende Information an interessierte Stellen weiterzugeben. Darüber, welche das gewesen sein könnten, macht Boehm keine Angaben. Von Gauger vermutete Boehm, dass dieser beauftragt sein könne, für die Gestapo ein Gutachten über die DPG anzufertigen.885 884 Informationen zu dessen Biografie siehe Roelcke (1996, S. 24ff.). 885 Als Resümee der Unterredung habe Gauger gesagt: »Wenn ich z. B. von der Gestapo aufgefordert werden würde, ein Gutachten über Ihre Gesellschaft abzugeben, so könnte ich es vielleicht in dem Sinne abgeben: Die Psa. ist freilich von dem Juden Freud in Wien
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4 Einordnungen und Erklärungen
1935, auf dem 7. Allgemeinen Kongress für Psychotherapie in Bad Nauheim, äußerte Werner Achelis dann in der »Generaldiskussion«: »Psychotherapie in Deutschland kann nur zur vollen Funktion kommen, wenn sie sich nicht autistisch um sich und ihre ›Sexualprobleme‹ dreht, sondern das Instrument wird, das den durch die nationalsozialistische Revolution in Bewegung gekommenen Charakterbildungsprozess unterbaut. Nicht ›Reinheit‹, resp. Nichtreinheit des Trieblebens ist das Problem, sondern Unverfälschtheit. Auf dieser Basis lässt sich auch über die Haltbarkeit Freudscher Thesen wissenschaftlich diskutieren« (ZfP, Bd. 8, Heft 6, S. 362).
Achelis wurde dann nicht nur Mitglied im DIPFP, sondern auch (vermutlich ab 1937) unter Leitung von M.H. Göring maßgeblicher »Lektor« für das Gebiet »Tiefenpsychologie/Psychotherapie« im »Amt Rosenberg«.886 Dabei könnte ihm zugutegekommen sein, dass er aus einer bedeutenden Bremer Familie stammte,887 von der zwei weitere Angehörige im NS-Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wirkten bzw. gewirkt hatten: Hans und Johann Daniel Achelis.888 1954, in einem Brief an Alexander Mitscherlich, beschrieb Werner Achelis seine Lektorentätigkeit für das »Amt Rosenberg« so: »Ursprünglich war unsere spezielle Fachliteratur von einem total unzuständigen Philosophie-Professor in Nürnberg begutachtet worden, was u.U. bei Weiterbestehen geschaffen worden, von ihr ist aber auf deutschem Boden ein eigener Zweig gewachsen, welcher in den Händen von Deutschen ruht« (Brecht et al. 1985, S. 116ff.). 886 Zur dortigen Lektorentätigkeit siehe Barbian (1993, S. 277ff.). 887 Siehe www.archive.org/details/diefamilieacheli00leip. 888 Der Kirchenhistoriker Hans Achelis war 1933 Rektor der Universität Leipzig. Er kommentierte die Bücherverbrennung am 14.5.1933 in einer Rede so: »Wenn jetzt die Jugend den Kampf eröffnet gegen die schlechte Literatur …, so jauchzen wir der Jugend zu« (Klee 2005, S. 10). Eine wichtigere Rolle im Machtgefüge aber spielte der 1931 außerordentlicher Professor gewordene Physiologe Johann Daniel Achelis. Von 1933 bis September 1934 war er als Referent im Rang eines Ministerialrats im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung für die Universitäten zuständig und galt als »Architekt der Säuberung der Hochschulen« (Klee 2003, S. 10, wikipedia). In seiner ministeriellen Funktion kam er auch in Berührung mit dem Gebiet der Psychotherapie – und mit der DPG. Boehm erfuhr von J.D. Achelis im Frühjahr 1933, dass Hans von Hattingberg Dozent für Psychotherapie an der Berliner Universität geworden war. Wohl im September 1933 gab J.D. Achelis den »letzte[n] Anstoss zur Abfassung des schon mehrfach genannten Memorandums« durch Boehm und Müller-Braunschweig, da er von ihnen »eine schriftliche Darlegung unserer Wünsche« verlangte, bevor er einer Unterrichtserlaubnis zustimmen könne (was allerdings nie geschah). Dieses Memorandum reichten sie dann zunächst auch bei ihm ein (Brecht et al. 1985, S. 102f., 106f.; Schröter 2009, S. 1099).
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4.5 Hauptakteure, Protegés
dieser Zustände zu völlig untragbaren Verlagssperren hätte führen müssen, so etwa den Publikationen C.G. Jungs gegenüber, die sich bereits auf der abschüssigen Ebene in Richtung auf den Index befanden. Nach langen und zähen Bemühungen war es nun […] Göring gelungen, […] daß unser Institut bzw. er als sein Leiter zum Hauptlektor für das Sachgebiet Tiefenpsychologie-Psychotherapie eingesetzt wurde, wir also als einzig damals kompetente Stelle in der Lage waren, unsere eigene Fachliteratur zu begutachten. Im Rahmen dieser Sachlage war nun ich als der Leiter der Literarischen Abteilung unseres Institutes derjenige, dem es oblag, die politischen Gutachten […] zu erstatten, die dann von Göring selbst, dem ja im Grunde jede Kompetenz dazu fehlte, nominell unterzeichnet wurden. Jedenfalls habe ich es nicht erlebt, daß an von mir erstatteten Gutachten von seiner Seite irgendetwas geändert wurde« (BA Koblenz B/339/513, S. 3; Hervorhebung von mir – A.P.).
Darüber hinaus hatte das DIPFP, wie schon erwähnt, gute Beziehungen zu weiteren Personen und Institutionen, die ebenfalls eigenständige Literaturzensur, -bewertung oder -förderung betrieben, so zum Innenministerium, zur Deutschen Arbeitsfront und zum Kultusministerium (Lockot 2002, S. 195, 207ff.) Zudem war das Institut offenbar gewillt, den Umgang mit Psychologie und Psychotherapie in Medien und Verlagen zunehmend selbst zu kontrollieren. Unter anderem zu diesem Zweck wurde 1939 jene »Literarische Abteilung« gegründet, die Werner Achelis leitete (ebd., S. 198f.). In seinem Arbeitsplan formulierte er, das DIPFP sei zur »Organisationszentrale für den praktischen Einsatz der medizinischen Psychologie« geworden, insbesondere da »psychologisches Denken […] in der Arbeit der verschiedenen Behörden und Organisationen eine immer größere Rolle« spiele. Darum bedürfe das Institut »eines gesonderten Organs«, das laufend die Wahrnehmung der Institutsarbeit in Öffentlichkeit und Behörden »kontrolliert und nach Möglichkeit sinnvoll steuert« – eben die »Literarische Abteilung«. Hierzu würden »ein umfangreiches Archiv« und ein »Zeitungsausschnittbüro« aufgebaut, »das die Gesamtheit der Richtungen und Strömungen, Impulse und Meinungen, Doktrinen und Kundgebungen, wie sie in der Öffentlichkeit besteht, im Spiegel der Presse auffängt«. Dabei gehe es unter anderem um »[l]aufende Unterrichtung der Institutsleitung über alle wesentlichen Vorgänge in der Öffentlichkeit, soweit sie das […] psychologisch-dynamische Denken, insbesondere akute Ereignisse betreffen […], Steuerung der Berufspolitik, Vertretung von Standesfragen der Behandelnden Psychologen in der Öffentlichkeit und vor Behörden« (ZfP, 1. Sonderheft 1940, S. 21f.). Regelmäßig wurden nun, so schreibt Regine Lockot, diverse Tageszeitungen nach diesen Gesichtspunkten durchforstet (Lockot 2002, S. 199). Dass insgesamt jedoch recht wenig von diesen ehrgeizigen Plänen umgesetzt wurde, legt schon Achelis’ abschließende Bemerkung nahe, dass »ein aktives pressemäßiges Eingreifen 467
4 Einordnungen und Erklärungen
des Institutes […] vorläufig vor den kriegsbedingten Aufgaben des Institutes noch zurückzustehen« habe (ZfP, 1. Sonderheft 1940, S. 22). Hans von Hattingberg nahm in seinem »Arbeitsplan der Forschungsabteilung«, ebenfalls von 1939, sogar ausdrücklich Stellung zum Punkt »Kontrolle [!] des Schrifttums«: »Die Besprechung von Publikationen, die unser Fach betreffen in der medizinischen Presse, soll überwacht und so organisiert werden, daß eine geschlossene einheitliche Stellungnahme zum Ausdruck kommt […]. Auch in den Veröffentlichungen unserer Mitglieder ist dort, wo es um das Grundsätzliche geht, eine einheitliche Ausrichtung anzustreben« (ebd., S. 20).
Weder die eine noch die andere hier angestrebte Einheitlichkeit ist nach meinem Eindruck zustande gekommen.889
4.6
»Neue deutsche Seelenheilkunde«
Am 6.9.1933 teilte M.H. Göring Walter Cimbal in einem Brief Einzelheiten darüber mit, wie er sich das Zustandekommen einer NS-gemäßen Psychotherapie vorstelle. Er halte es auch, schrieb er, für wünschenswert, weiterhin »einen Vertreter der Freudschen Psychoanalyse dabei [zu] haben; sonst sieht es so aus, als ob wir sie gleich abhalftern wollen. Was meinen Sie zu Schultz-Hencke? Wir müssen auch den alten Psychoanalytikern unbedingt Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern, ob sie dem neuen Staat etwas bringen können« (zitiert in Lockot 2002, S. 140).
Als Hindernis für die reibungslose Vereinnahmung psychoanalytischen Wissens dürften sich M.H. Göring nicht nur die Vorbehalte anderer Nationalsozialisten entgegengestellt haben. Insbesondere Reichs vom NS-Staat aufmerksam verfolgtes antifaschistisches Engagement, Freuds im März 1933 publiziertes890 Warum Krieg? sowie ab 1937 die Auszüge aus Der Mann Moses müssen es erschwert haben, dass »zersetzende« Potenzial der Psychoanalyse zu negieren. Auf diese Weise 889 Zu vermerken ist zum Thema Protegés ebenfalls, dass auch J.H. Schultz sich »für die Psychoanalyse, die er zwar nicht für ausreichend, aber für unentbehrlich halte, eingesetzt habe« (zitiert in Lockot 2002, S. 147). Das macht auch seine positiven Äußerungen in den Zentralblättern erklärlicher. 890 Siehe die Editorische Vorbemerkung in Freud (1989a, S. 272).
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4.6 »Neue deutsche Seelenheilkunde«
könnten Reich und Freud auch indirekt Anteil daran gehabt haben, die schuldhaften Verstrickungen ihrer Kollegen ins NS-System zu begrenzen: Ein rundum verlässlicher Bundesgenosse für M.H. Göring wurde die Psychoanalyse niemals. 1934 zitierte Göring im Eröffnungsbeitrag des »Deutschen Heftes« des Zentralblattes für Psychotherapie zunächst »[e]ins der wertvollsten Worte für uns Psychotherapeuten«, nämlich »die Äußerung Adolf Hitlers […] auf dem Nürnberger Parteitag 1933: […] ›Man wird eine dauernde Heilung kranker Zustände nur dann erreichen, wenn man ihre Ursachen kennt.‹« Dies nahm Göring als Bekräftigung dafür, dass »[j]eder Mensch […] unter Ablegung seiner Empfindlichkeit bereit sein [muß], rücksichtslos sein Innenleben aufzudecken; ob er es allein kann oder einer Hilfe – mögen wir sie Psychagogik, Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie nennen – bedarf, läßt sich nicht ohne weiteres sagen« (Göring 1934, S. 12f.). Zwei Jahre danach verschaffte die Gründung des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP), später oft als »GöringInstitut« bezeichnet, Göring die entscheidende Basis, um der »neuen deutschen Seelenheilkunde« näherzukommen. Am 10.3.1936 hatte Anna Freud gegenüber Ernest Jones die aktuelle Situation des Berliner Psychoanalytischen Institutes noch so beschrieben: »Merkwürdigerweise floriert die Arbeit. Es kommen neue Kandidaten, die Kurse werden besucht, die verschiedenen Krankenanstalten schicken im Überfluß Patienten zur Behandlung. Sogar die offiziellen Stellen glauben an die Ernsthaftigkeit der Analyse und an ihre therapeutische Wirksamkeit« (zitiert in Freud 1996, S. 371).
Im selben Monat teilte Felix Boehm der Medizinalabteilung des Innenministeriums die Bereitschaft der von ihm vertretenen Analytiker mit, sich am Aufbau des DIPFP zu beteiligen. DPG-Mitglieder übernahmen hier wichtige Funktionen, Boehm wurde Schriftführer (Schröter 2010, S. 1144–1150; Boehm 1978, S. 304). »Ohne die Psychoanalytiker«, konstatiert Dierk Juelich, »hätte die Psychotherapie während des Nationalsozialismus im ›Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie‹ nicht die eminent wichtige Bedeutung erhalten, wie es der Fall war« ( Juelich 1991, S. 91). Die offizielle Gründung des DIPFP erfolgte am 14.6.1936 (Boehm 1978, S. 303f.). Michael Schröter beschreibt, wie auffällig das Institut »im Organisatorischen an die freudianische Tradition anknüpfte. Es übernahm vom Berliner Psychoanalytischen Institut nicht nur die Räume mitsamt Bibliothek,
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4 Einordnungen und Erklärungen
die Poliklinik und den Dreiklang von Vorlesungen/Seminaren, Lehranalyse und Supervision, sondern auch das Prinzip einer Psychotherapeutenausbildung außerhalb der Universität« (Schröter 2001, S. 734).
Bereits 1937 konnte Felix Boehm intern mitteilen: »An der Wand des Institutes hinge nun wieder das Bild Freuds; allerdings neben dem Bild des Führers, das er aufzuhängen gezwungen war« (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 552). Im selben Jahr hatte sich die DPG auch von Sigmund Freud die nachträgliche Zustimmung für ihren DIPFP-Beitritt eingeholt (Hermanns 1982, S. 165). In der psychoanalytischen Abteilung des Instituts wurden, zeitweise unter Tarnbezeichnungen, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Analytiker ausgebildet und Analysen durchgeführt (Brecht et al. 1985, S. 164ff.; Hermanns 1989, S. 28–33; Bräutigam 1984); gegen Unterschrift blieben den Ausbildungskandidaten Freuds Werke zugänglich (Dräger 1994, S. 49). Michael Schröter teilt nach Durchsicht der Mitgliederkartei des DIPFP mit, »die Ausübung der Psychoanalyse« habe sich unter anderem hinter Ausdrücken wie »große tiefenpsychologische Behandlung«, »Tiefenpsychologie (Entwicklungspsychologie)« sowie »wirkliche psychotherapeutische Behandlung von langer Dauer« verborgen. Aber auch »Psychoanalyse« sei gelegentlich eingetragen worden, allerdings nicht von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern, sondern von den Therapeuten Gebsattel und Muthmann (Schröter 2000a, S. 19 und Fn 6). Dietfried Müller-Hegemann, der seine analytische Ausbildung am DIPFP 1936 begonnen hatte, sprach später von dem »höchst lebhafte[n] Interesse der faschistischen Machthaber […] an der Tiefenpsychologie«, das zum Aufbau des Instituts geführt habe (zitiert in Bernhardt 2000, S. 186). Geoffrey Cocks schreibt: Die Nationalsozialisten konnten »das Bedürfnis nach psychologischer Betreuung und Hilfe, innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Reihen, schlechterdings nicht ignorieren«. Und Freud war nun einmal »für alle psychotherapeutischen Denkschulen, wie groß auch die Unterschiede zwischen ihnen waren, eine unverzichtbare gemeinsame Quelle« (Cocks 1983, S. 1072, 1076; vgl. auch Schröter 2001, S. 727). Ernest Jones teilte auf dem IPV-Kongress im August 1936 in Marienbad mit, die Psychoanalyse sei im Dritten Reich »›neben anderen Richtungen der Psychotherapie‹ anerkannt. Auch habe sie noch immer ›ihre Selbstständigkeit hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit und der Lehrtätigkeit bewahrt‹« (zitiert in Nitzschke 1997a, S. 75). Dies war jedoch ein beschönigender Blick auf die Realität. Schon Anfang 1934 hatte die DPG ihren Mitgliedern verboten, Menschen zu behandeln, die als Kommunisten oder auf andere Weise in »hochverräterische« Aktivitäten hätten verwickelt sein können – und die den Analytikern daher 470
4.6 »Neue deutsche Seelenheilkunde«
»Dinge« mitteilen könnten, »welche wir anzeigen müssen« (Schröter 2005b, S. 164f.).891 Wirklich freies Assoziieren seitens der Patienten dürfte damit ebenso unmöglich geworden sein wie freies Handeln als Therapeut – was negative Auswirkungen auf jegliche wissenschaftliche Arbeit gehabt haben muss, die auf der Auswertung dieser Behandlungen beruhte. Am DIPFP kamen dann Vorgaben wie diese hinzu: »Die Mitglieder des Institutes haben bei den poliklinischen ebenso wie bei den Privatpatienten unbedingt Aufzeichnungen zu machen […]. Oft sind 10 Jahre [Archivierung] nicht ausreichend, denn es kommen von Behörden und anderen Stellen später häufig Anfragen über ehemalige Patienten« (ZfP, 1942, 1/2, S. 66).892 Zur Schaffung einer »neuen deutschen Seelenheilkunde« bemühten sich »Adlerianer«, »Jungianer«, »Freudianer« und Vertreter weiterer Richtungen am DIPFP gemeinsam darum, ihre Positionen kompatibel zu machen (Schröter 2009, S. 1103–1107).893 Wie erwähnt war »Tiefenpsychologie« der dabei zunehmend akzeptierte Oberbegriff. In dem Wunsch, die Psychoanalyse somit von der akademischen Psychologie abzugrenzen, stimmten die Anhänger der »neuen deutschen Seelenheilkunde« offenbar mit Freud überein. Auch für sie war das Unbewusste eine zentrale Kategorie.894 Welche Vorstellungen M. H. Göring 1936 zur Integration der Psychoanalyse entwickelt hatte, geht aus seinem im Zentralblatt für Psychotherapie veröffentlichten Vortrag auf der ersten Mitgliederversammlung des DIPFP hervor. Hier pflichtete er zunächst der Ansicht bei, dass es nicht darauf ankomme, »ob auch in der Psychotherapie die nationalsozialistische Idee zu finden sei«, sondern lediglich darauf, »ob die Psychotherapie der nationalsozialistischen Idee dienstbar gemacht werden könne«. 891 Dieses Vorgehen belegt im Übrigen auch, wie genau man sich über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Klaren war, einschließlich ihrer bedrohlichen Aspekte. 892 Vgl. auch die diesen Schilderungen ähnlichen Mitteilungen Bernhard Kamms in Brecht et al. (1985, S. 164). 893 Die Bereitschaft, Gemeinsamkeiten zu finden, war aber nicht durchweg vorhanden. So betonte der »Jungianer« W.M. Kranefeldt 1934: »Freud und Jung gehören nicht zusammen. Ihre Wege haben sich eine Zeitlang berührt. Seither schienen sie für den Außenstehenden etwas Gemeinsames zu haben, was sie in Wirklichkeit nie gehabt haben« (Kranefeldt 1934, S. 35). Wohl als erste deutsche Forscherin stellte Gudrun Zapp ausführlich kontroverse Standpunkte »arischer« Psychoanalytiker und nichtanalytischer Psychotherapeuten während der NS-Zeit gegenüber (Zapp 1980, insbesondere S. 70–129). 894 Laplanche und Pontalis schreiben 1973 in Vokabular der Psychoanalyse, S. 563: »Wollte man die Freudsche Entdeckung in einem Wort zusammenfassen, so wäre es das des ›Unbewußten‹.« Das scheint mir aufgrund der vielen Vorläufer allerdings fragwürdig (siehe auch Buchholz/ Gödde 2005). Zumindest müsste man es wohl auf das »dynamische Unbewusste« eingrenzen.
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4 Einordnungen und Erklärungen
Dann fuhr er fort: »Leider hat niemand vor Freud die Erkenntnisse des Unbewußten praktisch verwertet. Die Anwendungsmöglichkeit uns zu zeigen, ist das Verdienst Freuds. Seine Methode ist Allgemeingut aller Psychotherapeuten geworden. Viel wichtiger als die Methode ist aber die Weltanschauung.« Mit anderen Worten: Wer sich zum Nationalsozialismus bekenne, dürfe auch weiter an Sigmund Freud anknüpfen, wenn das dem Nationalsozialismus dienlich sei. Er setzte fort: »Die Weltanschauung beginnt, sobald wir nach dem Inhalt des Unbewußten fragen.« Und hier gelte es zu lernen, »arische« und jüdische Inhalte zu unterscheiden (ZfP, Bd. 9, Heft 5, S. 290–296).895 Man verfüge also, sollte das wohl heißen, über ein rein »arisches« Unbewusstes, für dessen Heilung man notgedrungen auf die Methode zurückgreifen müsse, die der Jude Freud zuerst gefunden hatte. 1940 war man mit der angestrebten Integration schon deutlich weiter vorangekommen. Auf der dritten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, die in Wien stattfand, erklärte M.H. Göring in seiner Eröffnungsansprache, man wolle sich hier mit der »Tiefenpsychologie im allgemeinen« befassen und zeigen, dass »die Tiefenpsychologie in das ganze menschliche Leben hineingreift«. Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti habe schon 1933 zum Ausdruck gebracht, dass Gesundheit und Leistungsfähigkeit davon abhingen, ob der Arzt den Menschen als Ganzheit sehe und behandle. Zu dieser Ganzheit gehöre »auch das Unbewußte im Menschen. Unsere [ärztliche] Gesellschaft sieht es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, den Ärzten, den Pädagogen, überhaupt allen Volksgenossen, die sich mit Menschenführung befassen, nicht zuletzt auch in der Wehrmacht und in der Wirtschaft, zuzurufen: Vergeßt das Unbewußte nicht! Glaubt doch nicht den Menschen als Ganzes zu erfassen, wenn ihr vor dem Unbewußten die Augen schließt!« (Bilz 1941, S. 8).
Manche Ärzte und Erzieher, so Göring weiter, lehnten das Unbewusste noch immer ab, weil sie es für eine »jüdische Konstruktion« hielten. »Gerade in Wien« wolle er »energisch dagegen Stellung nehmen« und Leibniz als den ursprünglichen Entdecker des Unbewussten benennen. Zudem könne »nur dann das Höchstmaß der Leistung erreicht werden«, wenn Bewusstes und Unbewusstes harmonierten. Und »der Führer« verlange nun einmal von den Psychotherapeuten, immer wieder »auf die Möglichkeiten der Leistungssteigerung« hinzuweisen (ebd., S. 8ff.). Veröffentlicht wurde Görings Rede dann 1941 im Tagungsband. 895 Das passte zu den schon zitierten Thesen Jungs aus dem Zentralblatt für Psychotherapie.
472
4.6 »Neue deutsche Seelenheilkunde«
Wie umfangreich die inhaltlichen und begrifflichen Übernahmen aus der Psychoanalyse durch die »neue deutsche Seelenheilkunde« letztlich waren, wird nicht nur im Zentralblatt für Psychotherapie vielfach deutlich. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch ein Vortrag des Nicht-Analytikers Fritz Mohr über Die Behandlung der Neurosen durch Psychotherapie, gehalten auf der zweiten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie im September 1938 in Düsseldorf. Im Tagungsband, publiziert 1939, lässt sich Folgendes nachlesen: »Die moderne Psychotherapie geht aus von der Tatsache, daß unbewußte, in der persönlichen Kindheit oder in der Urzeit der Menschheit liegende, dem Triebleben angehörende Erinnerungen, Einübungen oder Bilder auch im Leben des erwachsenen Kulturmenschen eine ausschlaggebende Rolle spielen, daß also Geltungstrieb, Machthunger,896 Sexualität und alles, was mit den Fortpflanzungsvorgängen zusammenhängt, daß Anschlußbedürftigkeit und sonstige Gemeinschaftserscheinungen und soziale Instinkte unser Leben bis ins kleinste hinein bestimmen, daß aber auch innere Konflikte zwischen religiösen bzw. Weltanschauungsidealen und diesen Triebregungen uns mehr zerspalten, als wir wissen. […] Man hat an dem Begriff des Unbewußten an sich herumgemäkelt […], daß es ein Hilfsbegriff ist, […] daß wir nur seine Wirkungen kennen. Aber daß diese Wirkungen da sind, daß wir uns in irgendeiner Weise damit auseinandersetzen […] müssen, das muß von allen Seiten zugegeben werden. Man hat an dem Begriff Verdrängung Anstoß genommen. Aber kann irgend ein Mensch leugnen, daß wir tausendfach im Leben Dinge vergessen oder beiseite schieben, die uns unangenehm sind? […] Daß überall da, wo Menschen Zusammenhänge, die ihnen peinlich sind, erkennen sollen, sich innere Widerstände erheben, bejahen alle psychotherapeutischen Schulen. […] Die Bedeutung der Träume als eines Mittels zur Erkennung unbewußter Wünsche und Regungen wird von allen zugegeben […]. Das, was man analytisch den Wiederholungszwang genannt hat […], entspringt ebenfalls einer allgemein menschlichen Tendenz […]. Auch die Tatsache der Uebertragung der Affekte auf den behandelnden Arzt wird ernsthaft von keiner Schule bestritten und findet ihre Analogie im sonstigen Leben in allen zwischenmenschlichen Beziehungen […]. In die Uebertragung spielt bekanntlich vor allem die Erinnerung an die Vater- und Mutterbindung stark hinein. […]
896 Diese beiden letzten Begriffe deuten, ebenso wie die »Anschlußbedürftigkeit und sonstige Gemeinschaftserscheinungen«, auf die Übernahmen von Adler hin.
473
4 Einordnungen und Erklärungen
Auch Willenstherapieformen897 sind […] vorhanden in der Uebung des freien Assoziierens, das besonders den kultivierten, also reflektierten Menschen oft außerordentlich schwer zu werden pflegt […].898 Man sieht aus allem Bisherigen, das möchte ich zum Schluß noch einmal unterstreichen: Die gemeinsamen Grundlagen und Berührungspunkte aller seelischen Behandlungsmethoden sind so groß, daß demgegenüber die Unterschiede für die Wirkung nur sehr wenig in Betracht kommen« (Curtius o.J., S. 53ff., 60, 66).
Nähme man Freuds früher erwähnte Definition zur Grundlage, der zufolge sich jede Forschungsrichtung Psychoanalyse nennen dürfe, die Übertragung und Widerstand anerkennt, so wäre also wohl auch »neue deutsche Seelenkunde«: Psychoanalyse.899 Auf jeden Fall konnte die »neue deutsche Seelenheilkunde« niemals grundsätzlich konträr zum Inhalt der Psychoanalyse (oder der Individualpsychologie) stehen oder diese pauschal bekämpfen: Sie hätte in erheblichem Maß gegen sich selbst gekämpft.
4.7
»Arisierung«
Aber gab es für die am DIPFP angestrebte Integration in die »neue deutsche Seelenheilkunde« nicht ein entscheidendes Hindernis, da die Psychoanalyse doch als »jüdisch« galt? Doch davon konnte man sich distanzieren, zum Beispiel indem man angebliche »arische« Urheberschaften für Kernkonzepte der Analyse geltend machte. Der »Arisierungs«-Strategie muss auch entgegengekommen sein, dass sich die DPG Ende 1935 von ihren noch verbliebenen jüdischen Mitgliedern trennte. Hintergrund war die kurz zuvor im Oktober 1935 erfolgte Verhaftung Edith Jacobssohns. Felix Boehm sah sich dadurch wohl genötigt, befürchteten negativen Reaktionen der NS-Machthaber bis hin zum »Verbot überhaupt der Psa. in Deutschland« etwas entgegenzusetzen: 897 Bezieht sich vermutlich auf Otto Ranks spezielles Therapieverständnis, vgl. Leitner (1997). 898 Hervorhebungen bis hierhin von mir – A.P. 899 Im 1941er Tagungsband findet sich der Widerstandsbegriff auch wieder im Vortrag des schwedischen Analytikers Poul Bjerre über Die Rolle des Unbewußten bei der Leistungssteigerung. Dieser begann so: »Wenn man ein Experiment machen würde, um zu erfahren, was verschiedene Menschen unmittelbar zu dem Titel dieses Vortrages assoziieren, würden alle Psychoanalytiker wahrscheinlich mit den Worten ›Widerstand-Hemmung‹ reagieren. […] Die Rolle des Unbewußten wird einem klar, wenn man den Begriff Widerstand richtig zu erfassen lernt« (Bilz 1941, S. 174).
474
4.7 »Arisierung«
eine eigenständig herbeigeführte »Arisierung« (Brecht et al. 1985, S. 117–127; May 2000, S. 72–79; Schröter 2005b).900 NS-Gesetze, die solches Handeln verlangt hätten, lagen zu dieser Zeit noch nicht vor (Essner 2002, S. 243ff.).901 Dem durch Boehm ausgeübten entsprechenden Druck – den der dazu eigens nach Berlin gekommene IPV-Präsident Jones bekräftigte – beugten sich im Dezember 1935 die verbliebenen jüdischen Analytiker und Analytikerinnen und verließen die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft.902 Jones stellte dies später, im Bericht an den 14. IPV-Kongress, so dar: »Zu Weihnachten vorigen Jahres fanden es die jüdischen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für notwendig, ihre Mitgliedschaft zurückzulegen« (IZP, Bd. 23/1936, S. 164f.). Auch Boehm kommentierte den Sachverhalt in einem Memorandum vom 29.1.1936 – und machte dabei deutlich, dass er selbst von rassistischen Vorurteilen nicht frei war. Michael Schröter, der dieses Memorandum entdeckt hat, zitiert, »die Psychoanalyse habe als ›Nacherziehung‹ von Menschen, ›welche nicht realitätsgerecht zu leben verstehen, eine immer größere Bedeutung bekommen‹ […]. Wir Psychoanalytiker sind der Ansicht, daß nur Arier diese Nacherziehung in unserem Staate erfolgreich leisten können. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft besteht jetzt nur aus Ariern« (Schröter 2009, S. 1122).
900 Auch Mitteilungen von Achelis und Gauger ließen ihn nach seinen Angaben in diese Richtung denken (Boehm in Brecht et al. 1985, S. 118f.). 901 Zweifellos erzeugte das NS-System auch da, wo es noch keine entsprechenden Gesetze geschaffen hatte, einen enormen Anpassungsdruck. Auch ein bloßer Aufruf, »jüdische Mitglieder aus Vorständen und Ausschüssen zu entfernen«, wie ihn das Groß-Berliner Ärzteblatt im April 1933 veröffentlichte (Schröter 2004, S. 26), muss solchen Druck ausgelöst haben. Ähnlich sortierten z.B. die Buchverlage schon auf bloßen »Wunsch« des Propagandaministeriums hin unliebsame Bücher aus. Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, vertrat 1943 den Standpunkt, Gesetze seien »für den Verwaltungsführer vielfach nur Richtpunkte in dem großen Rahmen, in dem er sich zur Erreichung des Volkszieles […] nach seinem freien Ermessen betätigen soll« (zitiert in Botsch 2006, S. 22). 902 Erich Fromm und andere abwesende jüdische DPG-Mitglieder erfuhren erst später, dass sie aus der DPG-Mitgliederliste gestrichen worden waren (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 143, 149f.; Brecht et al. 1985, S. 128). Fromm beschwerte sich darüber bei IPV-Präsident Jones, der ihm daraufhin die freie IPV-Mitgliedschaft anbot, »die Fromm später unter ähnlichen Umständen wieder verlor wie einige Jahre zuvor die DPG-Mitgliedschaft: Als er Anfang der 1950er Jahre seinen Namen nicht mehr auf der IPV-Mitgliederliste fand, fragte er nach, was das zu bedeuten habe. Daraufhin erhielt er die ›diplomatische‹ Antwort, die IPV-Statuten hätten sich geändert. Er könne sich jedoch erneut bewerben. Ob er das aber wolle, wo sich seine Ansichten doch schon so weit von den Positionen Freuds entfernt hätten …? Fromm verstand den Hinweis und verzichtete ›freiwillig‹ auf eine Neubewerbung« (Fallend/Nitzschke 2002a, S. 17).
475
4 Einordnungen und Erklärungen
»Arisiert« erschienen die Deutschen Analytiker 1936 NS-Funktionären nun sogar als Speerspitze gegen die »jüdische« Psychoanalyse verwertbar. Bernd Nitzschke und Karl Fallend schildern den entsprechenden Vorgang: »Die DPG-Funktionäre glaubten, die DPG müsse ihren Status als Zweigvereinigung der IPV erst einmal aufgeben, um dem Göring-Institut beitreten zu können. Also kündigten sie die IPV-Mitgliedschaft der DPG. Das war jedoch ein Fehler. […] In einem an Matthias Heinrich Göring gerichteten Brief schreibt dazu Staupendahl (der Bevollmächtigte des Dezernenten für Hochschulangelegenheiten Franz Wirz, der dem Stab beim ›Stellvertreter des Führers‹ angehörte), er habe dem ›Pg. Blome‹ bereits mitgeteilt: ›Die deutsche Gruppe muss unter allen Umständen bei der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft (richtig: Vereinigung – K.F./B.N.) bleiben, weil sie sich in Opposition zu der Freudschen Lehre begeben hat. Sie hätte sonst nirgends Gelegenheit, vor einem internationalen Forum die Freudsche Lehre abzutun und damit dem jüdischen Geiste der Psychoanalyse gegenüberzutreten. Wir dürfen den Kampfmöglichkeiten nicht aus dem Wege gehen, sondern müssen im Gegenteil jede Gelegenheit ergreifen, den Gegner zu stellen‹ […]. Und so nahm die DPG die bereits ausgesprochene Kündigung wieder zurück und blieb mit Zustimmung des IPV-Vorstands als nunmehr ›judenreine‹ und auf Hitlers Mein Kampf eingeschworene Truppe Zweigvereinigung der IPV« (Fallend/Nitzschke 2002a, S. 17f.).
Als IPV-Unterorganisation allerdings sollte die Gruppe der »arischen« Analytiker dann doch nicht mehr in Erscheinung treten. Ihre Instrumentalisierung durch den sich radikalisierenden NS-Staat schritt jedoch voran. Damit wuchs auch die Gefahr schuldhafter Verstrickung.
4.8
Zuarbeiten zur »Eugenik«
1934 war das »Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« in Kraft getreten. Damit knüpften die Nationalsozialisten an »eugenische« Bestrebungen an, die seit Ende des 19. Jahrhunderts im »linken« wie im »rechten« Lager, unter Ärzten, Biologen, Theologen und anderen Berufsgruppen weit verbreitet waren (vgl. zum Folgenden auch Klee 1997, S. 15–33; Peglau 2000b; May 2009, S. 6f.). Statt mittels ärztlicher Kunst »sieche Existenzen« künstlich am Leben zu erhalten, sollten schon nach Meinung des Zoologen Ernst Haeckel »hunderttausende von unheilbaren Kranken, namentlich Geisteskranke, Aussätzige, Krebskranke« lieber »durch eine Morphium-Gabe von ihren namenlosen Qualen« befreit werden (Trus 1995, S. 30ff.). Emil Kraepelin glaubte, die Psychiatrie müsse not476
4.8 Zuarbeiten zur »Eugenik«
wendigerweise gegen die »genetischen Degenerationen«, die »psychopathisch Minderwertigen«, gegen die Gefahr der »moralischen Entartung«, gegen die »›geborenen Verbrecher‹ und sozialen Störer« eingesetzt werden (Güse/Schmacke 1980, S. 92). Der schweizerische Psychiater Auguste Forel berichtete: »Ich ließ auch ein hysterisches 14jähriges Mädchen kastrieren, deren Mutter und Großmutter Kupplerinnen und Dirnen waren« – dies mit dem erklärten Ziel, »die defekten Untermenschen allmählich […] zu beseitigen und dafür bessere, sozialere, gesündere und glücklichere Menschen zu einer immer größeren Vermehrung zu veranlassen« (zitiert in Dörner 1993, S. 31). 1895 veröffentlichte der Arzt Alfred Ploetz, auf den der Begriff »Rassenhygiene« zurückgeht, das Buch Die Tüchtigen unserer Rasse und der Schutz der Schwachen und plädierte dafür, dass einem »schwächlichen oder mißgestalteten« Neugeborenen »von dem Ärzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet wird, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium« (zitiert in Klee 1997, S. 17f.). Ploetz war nicht nur ein Freund August Bebels, sondern auch selbst Sozialist. Wichtige sozialdemokratische Politiker wie Julius Tandler, Karl Kautsky oder Alfred Grotjahn, der Vater des Psychoanalytikers Martin Grotjahn, waren ebenfalls von der Notwendigkeit der »Eugenik« überzeugt (Kappeler 1995) – ohne dass es ihnen allerdings um »Arisierung« gegangen wäre.903 Auch der Religionspädagoge Ernst Thrändorf lehnte es ab, »leistungsfähige Menschen zugunsten völlig leistungsunfähiger Menschen verkommen« zu lassen. Theologieprofessor Titius befand es für richtig, »›Idioten‹ ebenso zu beseitigen, wie ›irgendwelche sonstige, die Aufgabe störende Naturkeime‹«. Der Theologe Ludwig Lemme meinte, Staatsbehörden hätten das Recht, »unterwertiges« Leben zu beenden, wenn die Betroffenen kein Seelenleben hätten, das zur Religiosität fähig sei. 1920 schließlich veröffentlichten der Psychiater (und erbitterte Psychoanalysegegner) Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding die schnell populär werdende Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Darin hieß es, das Dasein der »geistig Toten«, der »Ballastexistenzen« sei »absolut zwecklos […]. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke« (Klee 1997, S. 22–26). 903 Karl Kautsky schrieb 1910: »Die menschliche Technik zerstört das Gleichgewicht in der Natur, mindert die Anforderungen im Kampf ums Dasein und erleichtert damit körperlich und geistig minderwertigen Individuen nicht bloß die Erhaltung, sondern auch die Fortpflanzung […]. So wird der Sozialismus […] auch Gesundheit und Kraft bringen und die Krankheit als Massenerscheinung ausrotten. Ein neues Geschlecht wird entstehen, stark, schön und lebensfroh wie die Helden der griechischen Heroenzeit, wie die germanischen Recken der Völkerwanderung« (zitiert in Kappeler 1995, S. 3f.).
477
4 Einordnungen und Erklärungen
Die Befürwortung von Sterilisation und Euthanasie war also nichts spezifisch Nationalsozialistisches – wohl aber deren radikale, sich institutionalisierende und zum hunderttausendfachen Massenmord ausweitende Anwendung. Um »Erbkranke« zu erfassen und der Sterilisation zuzuführen, wurden Gesundheitseinrichtungen ab 1934 aufgefordert, grundsätzlich »erbbiologische« Daten der Patienten mitzuerfassen, zu dokumentieren und bei Verlangen an staatliche Stellen weiterzugeben. Das führte zu ca. 400.000 Sterilisationen an Menschen zwischen 10 und 60 Jahren, zu vielfachen schweren seelischen und/ oder körperlichen Folgeschäden sowie zu ca. 6.000 Todesfällen. Weitere im Zuge der Sterilisation bereits »Erfasste« fielen später der Euthanasie zum Opfer (HinzWessels 2004, S. 101ff., 168ff.). Auch am DIPFP galt die Norm, den Festlegungen des »Gesetz[es] zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« zu entsprechen,904 was unter anderem M.H. Göring mehrfach bekräftigte905 (Peglau 2007, S. 136ff.). Dass das Erbgesundheitsgesetz »Psychopathien« nicht explizit miteinbezog, führte in der Folge zu Kontroversen. Namhafte deutsche Psychiater wie Kurt Schneider standen einer Einordnung von »Psychopathien« als Erbkrankheiten jedoch skeptisch gegenüber. Dennoch entwickelte, offenbar aus eigenem Antrieb, 904 Einige Zitate aus dem Zentralblatt für Psychotherapie 1942, Heft 1/2 mögen das belegen. J.H. Schultz: »[A]n erster Stelle (steht) eine gründliche psychiatrische Erfassung jedes Klienten, auch wenn er nur zu einer ›Eheberatung‹ od. dgl. kommt […]. Die Erfahrung unserer Poliklinik geht dahin, daß alle ernsthaften und gesundungswilligen Kranken durchaus einsichtig und dankbar sind […], während allerdings asoziale Psychopathen oder gemeinschaftsfeindliche Schizoide und ähnliche Minderwertige dazu neigen, ›beleidigt‹ zu sein […]. Dabei muss die Lebens- und Gemeinschaftswertigkeit der Kranken eingeschätzt und berücksichtigt werden, damit die produktiv-heilerischen Potenzen unseres Institutes für werthafte Persönlichkeiten erhalten bleiben […], kann doch z.B. die Heilarbeit ergeben, daß ein unheilbarer erbmißgebildeter Psychopath bei der poliklinischen Aufnahme als Neurose verkannt wurde« (ebd., S. 15f.). Die »Jungianerin« Olga von KoenigFachsenfeld zur »Erziehungshilfe« am Institut bzw. in dessen Zweigstellen: »Erbbiologische Gesichtspunkte werden nachdrücklich wahrgenommen, da erbkranke Kinder […] nicht psychotherapeutisch behandelt werden […]. Alle im Verlauf der Therapie erforderlichen Verhandlungen mit Behörden und Dienststellen, Überweisungen an andere Ärzte, in Heime usw. haben über die Erziehungshilfe zu gehen […]. Wie wichtig gut geführte Krankengeschichten für unsere Arbeit sind, hat auch die Poliklinik wieder und wieder betont […]. Wir brauchen sie [unter anderem] aus Gründen der Vertretung unserer Arbeit gegenüber Behörden« (ebd., S. 27–30). Parallel dazu wurde ohnehin die ärztliche Schweigepflicht staatlicherseits systematisch unterhöhlt (Rüther 1997). 905 Zum Beispiel indem er zum »Abfassen von Zeugnissen und Gutachten« am Institut mitteilte: »Es geht nicht an, daß wir etwa schreiben […], Es liegt keine Geisteskrankheit vor […], der Strafrichter muß erfahren, ob ein Angeklagter Psychopath ist, d. h. erbmäßig abnorm ist […]. Mit anderen Worten, ob er noch zu einem brauchbaren Mitglied der Volksgemeinschaft werden kann oder nicht« (ebd., S. 36).
478
4.8 Zuarbeiten zur »Eugenik«
eine Arbeitsgruppe des DIPFP ein »Diagnose-Schema«, das für angeblich unheilbare »Psychopathen« genau diese Einordnung vornahm (Knebusch 2005). Zu dieser Arbeitsgruppe gehörten die »Freudianer« Felix Boehm, Werner Kemper, Carl Müller-Braunschweig, »Neo-Freudianer« Harald Schultz-Hencke, Ex»Jungianer« John Rittmeister, die »Jungianer« G. Heyer, W. Kranefeldt und W. Achelis, die »Adlerianer« M. H. Göring und Edgar Herzog sowie die sich keiner Therapieschule (mehr) zurechnenden, sich aber als Tiefenpsychologen verstehenden Hans v. Hattingberg und J.H. Schultz.906 Im Februar 1940 wurde das Schema im Institut vorgestellt und im Heft 1940, 2/3 des Zentralblattes für Psychotherapie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, anschließend wurde es angewendet (Boehm 1942, S. 81). Das bedeutete unter den im Institut gut bekannten907 gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Zusätzlich wurden nun weitere ca. 10 bis 15 Prozent der eigenen Patienten (ZfP 1939, Bd. 11, S. 52) mit einer Stigmatisierung versehen, die nicht nur zur Sterilisation, sondern – spätestens seit 1939 (vgl. dazu Peglau 2000a, S. 66f.) – auch zur Euthanasie führen konnte. Und offenbar bereits geführt hatte, wie das Referat belegt, mit dem J.H. Schultz dieses Diagnoseschema im Institut bzw. im Referatabdruck des Zentralblattes für Psychotherapie präsentierte: »Wir sind übereinstimmend [!] der Ansicht, daß es auch eine hysterische Psychopathie, eine Entartungshysterie gibt, die völlig unheilbar ist. […] [E]s gibt ganz zweifellos diesen erblich-degenerativen, psychopathischen, unheilbaren hysterischen Typ. Meistens scheint es sich hier um eine sehr durchschlagende Vererbung zu handeln. Die wenigen Fälle, wo ich dies Todesurteil in Form einer Diagnose gestellt habe [!], zeigten das deutlich; Sie wissen, dass im neuen Scheidungsrecht in Deutschland mit Recht diese Form der Hysterie als Scheidungsgrund gilt; denn es kann keinem Mann zugemutet werden, mit einer solchen Bestie zu leben« (ZfP 1940, Heft 2/3, S. 114f.; Hervorhebung von mir – A.P.).
906 Denkbar wäre, dass einige von ihnen nur ihren Namen dafür hergaben, aber nicht wirklich aktiv mitwirkten. Distanziert hat sich meines Wissens keiner der Genannten. Die Einordnung Edgar Herzogs zu den »Adlerianern« habe ich aus Lockot (2002, S. 193) übernommen. Zumindest später wandte er sich aber offenbar (auch) Jung zu. 907 Teilweise waren die DIPFP-Mitglieder wohl auch aus »erster Hand« informiert. So hielt der Leiter der Euthanasieaktion »T4«, Herbert Linden, der auch Mitglied im Verwaltungsrat des Institutes war, dort Vorträge über »Erb- und Rassenpflege« (Brecht et al. 1985, S. 148). Über den ohnehin schnell wachsenden Bekanntheitsgrad der »Euthanasie« in der deutschen Bevölkerung berichtet ausführlich Klee 1997, 130–134, 193–219, 334–344. L.M. Hermanns weist in diesem Zusammenhang auch auf die »›Arbeitsteilung‹ zwischen Psychiatrie und Psychotherapie‹ hin (Hermanns 1982, S. 163).
479
4 Einordnungen und Erklärungen
Regine Lockot schreibt in diesem Zusammenhang: »Die Diagnose entschied über Leben und Tod des Patienten. Indem ein phänomenologisches Diagnoseschema empfohlen wurde, versuchten [!] wohl Psychotherapeuten, die Diagnosen so zu stellen, dass die Patienten von dem Euthanasie-Programm verschont blieben« (Lockot 2002, S. 220f.). Einzelne Institutsmitglieder, so Regine Lockot weiter, »waren als Psychiater in Kliniken tätig. Eine Psychoanalytikerin, die Assistenzärztin in Buch bei Berlin war, berichtete davon, dass sie die Meldebögen des RMDI [Reichsministerium des Inneren – A.P.] auszufüllen hatte. Da sie ahnte, welchem Zweck sie dienen sollten, habe sie möglichst [!] keine ›tödlichen Diagnosen‹ gestellt« (ebd., S. 223).
Über dieselbe Analytikerin, Ingeborg Kath, ergänzt Regine Lockot an anderer Stelle, dass sie nach eigener Aussage nur alte Patienten ausgewählt habe, »die sowieso bald gestorben wären« (Lockot 1994, S. 78). 1950 wurde Kath dann eines der sechs Gründungsmitglieder908 der von Carl Müller-Braunschweig geführten Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (ebd., S. 243f.). Allein der im Zentralblatt für Psychotherapie 1942, Heft 1/2, S. 65 f. veröffentlichte Bericht Felix Boehms für das Jahr 1941 nennt bezüglich der 464 Poliklinikpatienten 93 Diagnosen, die Sterilisation und Euthanasie nach sich ziehen konnten: 8 Fälle Debilität, 8 Fälle Epilepsie, 22 Fälle Schizophrenie, 38 Fälle manisch-depressive Erkrankung, 17 Fälle Psychopathie. Später wurde der von der Euthanasie betroffene Personenkreis durch die verantwortlichen NS-Funktionäre wesentlich ausgeweitet und umfasste – neben vielen anderen Gruppen – weitere »Störungen«, die auch in der Arbeit des DIPFP eine Rolle spielten: »Schulversager«, »Verwahrloste«, »Kriegsneurotiker und -hysteriker«, »Homosexuelle« (Peglau 2000a, S. 67). Die Wahrscheinlichkeit, dass mit solchen Stigmatisierungen oder den oben aufgelisteten Diagnosen behaftete DIPFP-Patienten der Euthanasie zum Opfer fielen, dürfte zumindest immer dann hoch gewesen sein, wenn sie anschließend in Krankenhäuser oder Heilanstalten kamen. Denn hier erfolgte der intensivste Zugriff durch die Euthanasiemaschinerie, die bis Kriegsende mehr als 200.000 Menschenleben auslöschte. 908 Außer Kath und Müller-Braunschweig waren das Käthe Dräger, Hans March, Gerhart Scheunert, Margarete Steinbach (Hermanns 2010, S. 1159f. u. Fn 4, hier auch Details zur DPV-Gründung).
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4.9 Tiefenpsychologische Kriegsführung
4.9
Tiefenpsychologische Kriegsführung
Wie schon erwähnt, hatte Kurt Hesse, Autor von Der Feldherr Psychologos, 1922 seine nachhaltig wirksamen Ausführungen u. a. auf Thesen aus Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse gestützt (Fossel i. V.). Ab 1930 war Hesse bei der Heeresbildungsinspektion tätig. 1933 knüpfte er in der Schrift Persönlichkeit und Masse im Zukunftskrieg, einer offenkundig fiktiven »Diskussion jüngerer Offiziere«, erneut an die Psychoanalyse an. So verwendete er mehrfach den von Freud geprägten Begriff »Ich-Trieb« und legte einem »Mitdiskutanten« in den Mund: »Als Freud kürzlich die Frage nach dem Todestrieb stellte, suchte ich sie auch für den Soldaten zu beantworten, in dem Sinne, ob es den deutschen Menschen aus dem Unterbewußten heraus in das große Opfer des Weltkrieges getrieben hat« (Hesse 1933, S. 32). Die Antwort blieb er schuldig. Hesse sollte auch für die psychologische Kriegsführung des NS-Regimes bedeutsam werden: Von 1939 bis 1941 leitete er die Abteilung Heerespropaganda beim Oberkommando der Wehrmacht. Ob er dabei weiterhin auf Freud zurückgriff, war bislang nicht zu klären. In Publikationen von Albrecht Blau, ab 1938 führendes Mitglied der »Propagandakompanien« der Wehrmacht, klingen ebenfalls tiefenpsychologische Positionen an. In der »nur für den Dienstgebrauch« bestimmten, vermutlich auch von Edward Bernays inspirierten Abhandlung Propaganda als Waffe, die er 1935 für das Oberkommando des Heeres anfertigte, konstatierte Blau: »Wir wissen, daß der Ablauf des Lebens sich vollzieht in bewußten und unbewußten Abläufen.« Darauf habe die »Werbung« einzuwirken (Blau 1935, S. 8). Da »die psychologische Masse von ihren Trieben beherrscht und ihre Urteilskraft gering ist«, müssten sich »Werbeinhalte vornehmlich an das Gefühl wenden« (ebd., S. 10), auf »Triebe« abzielen, die wiederum auf »Bedürfnisbefriedigung« gerichtet seien. Der »Werbeinhalt« solle »die Beseitigung von Unlustgefühlen oder die Erwerbung von Lustgefühlen« suggerieren, dazu am »Triebhaft-Unbewußten« ansetzen. Spezielle Anknüpfungspunkte hierfür seien »Selbstwertgefühl«, »Geltungsbedürfnis« und »Machtstreben« (ebd., S. 16–17). Die am häufigsten angewandte »Werbemethode« sei die »Propaganda«, also die »planmäßige Beeinflussung der Meinungsbildung mit positiven Werbeinhalten«, die »auf alle Triebe gleichmäßig ausgerichtet« sei (ebd., S. 22). Im Weiteren wendete Blau diese und diverse andere Thesen auf die Propaganda für das NS-System und gegen dessen »Feinde« an. Mit Beginn des zweiten Weltkriegs beteiligte sich auch das DIPFP daran, die »Wehrkraft« zu steigern, zunächst durch Begutachtung von kriegsgeschädigten Soldaten (Roth 1987, S. 40). Wie Karl Heinz Roth anhand von Dokumenten des Militärarchivs nachwies, konnte sich das Institut innerhalb der Luftwaffe beträchtlichen Einfluss verschaffen (vgl. Cocks 1997, S. 210, 308–314). Das dürfte 481
4 Einordnungen und Erklärungen
dadurch begünstigt gewesen sein, dass Hermann Göring als Luftwaffenchef fungierte, hatte aber auch damit zu tun, dass die für die einfachen »Landser« übliche Aversions»therapie« – Stromstöße u. ä. – für das hochqualifizierte fliegende Personal nicht infrage kam (Roth 1987, S. 35). Schon rechtzeitig hatte sich das DIPFP daher auf die »Prävention und Behandlung künftiger ›Kriegsneurosen‹« spezialisiert: »Die Mitarbeiter der Berliner Poliklinik hatten eine Reihe von Sanitätsoffizieren in ›Menschenführung‹, im Handhaben ›therapeutischer Gemeinschaften‹ und natürlich in analytischer Neurosenlehre geschult. Danach waren diese Offiziere an die Leitungsstäbe der Luftwaffe abkommandiert worden« (ebd., S. 35).
Die tiefenpsychologisch-analytische Behandlung etablierte sich letztendlich als »ultima ratio der Kriegsneurotikerbehandlung in der Luftwaffe«, dem waren allerdings »Hierarchien von suggestiven und ›kleinen‹ Verfahren vorgeschaltet«. M. H. Göring, H. v. Hattingberg und J. H. Schultz hielten diesbezüglich »die Fäden zusammen und sorgten für eine reibungslose Zusammenarbeit mit der Poliklinik des Institutes« (ebd., S. 34f.). Zu den Aufgaben des DIPFP gehörten ab 1944 des Weiteren: psychologische Kriegsführung, Ausbildung von Militärpsychologen und Behandlung von Soldaten, die an Massenexekutionen teilgenommen hatten; Schultz-Hencke arbeitete über »Fragen der Anwendung der Tiefenpsychologie innerhalb der Wehrpsychologie« (Lockot 2002, S. 209f., 206f.). Boehm beteiligte sich Ende 1944 – als »Beauftragter« von M.H. Göring – an der Erarbeitung von Vorschlägen zur »Begutachtung von Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht«, in denen homosexuelle Soldaten Verbrechern gleichgesetzt wurden (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 156f.). Ebenfalls als Göring-Vertreter wirkte Werner Kemper 1942 bei der Erstellung von »Richtlinien der Wehrmachtspsychiater für die Beurteilung psychogener Reaktionen von Soldaten« mit.909 Für Fälle »dauerhafter Rückfälligkeit oder schwerer Abartung« wurde hier »vorgeschlagen, an geeigneten Orten Abteilungen zu schaffen, damit sowohl die Truppe wie die Heimat von der zersetzenden Wirkung dieser besonderen Menschen bewahrt bleiben«. In der Praxis dürfte das in der Regel auf die Versetzung in Strafkompanien hinausgelaufen sein – was, wie auch damals schon bekannt war, oft einem Todesurteil gleichkam (ebd., S. 150ff.). Auch Alexander Mette erklärte sich 1944, einer Aufforderung Felix Boehms folgend, bereit, als Sachverständiger in Wehrmachtsprozessen tätig zu werden, was zumindest einmal – am 4.1.1945 – tatsächlich geschah (Mette-Tagebücher). 909 Hans Füchtner bezweifelt Kempers Beteiligung mit Begründungen, die mir nicht zwingend erscheinen (Füchtner 2003, S. 165–171).
482
4.9 Tiefenpsychologische Kriegsführung
Zugleich wurden am DIPFP völkerpsychologische Untersuchungen durchgeführt »über die Sowjetunion, die USA, England, Frankreich und die Tschechoslowakei, um die ›schwachen Punkte‹ des Feindes zu erkennen« (Lockot 2002, S. 195ff., 209ff.). In der dazugehörigen Literaturliste tauchte neben Hitlers Mein Kampf und Gustave Le Bons Psychologie der Massen auch Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse auf (Cocks 1997, S. 306). In den letzten beiden Kriegsjahren wurde der Etat des Institutes, dem »der besondere Status der ›Kriegswichtgkeit‹ zuerkannt« worden war, »immens aufgestockt« (Lockot 2002, S. 209). Ab 1944 hatten M. H. Göring, Hattingberg und Schultz »zusammen mit den Mitarbeitern der Poliklinik […] eine Menge zu tun, um durch ›wehrgeistige‹ Schulungskurse, durch die Weitervermittlung des ›autogenen Trainings‹ und der ›kleinen Psychotherapie‹ an die Truppenärzte« der durch die steigende Zahl von Abschüssen wachsenden »Angst entgegenzuwirken und den Korpsgeist der Luftwaffe wieder aufzubauen« (Roth 1987, S. 45). Wie einflussreich das DIPFP war, zeigte sich auch 1944 an der von »Oberfeldarzt Prof. Dr. J. H. Schultz« verfassten »Anweisung für Truppenärzte über Erkennung und Behandlung von abnormen seelischen Reaktionen (Neurosen)«. Auf 19 Seiten fasste Schultz die von der Luftwaffe übernommene Position des Institutes zusammen und definierte: »Eine Neurose ist eine funktionelle Störung, bei der das Gesamtverhalten des ganzen Menschen besonders hinsichtlich seiner Trieb- und Affektseite von entscheidender Bedeutung ist. Das Problem der Neurose ist also eigentlich ein seelisches, ein psychologisches« (Roth 1987, S. 69). Das sorgte für einen harschen Protest, den Max de Crinis, Chef der Psychiatrischen Klinik der Charité und SS-Standartenführer, am 8.2.1945 an seinen Vorgesetzten, den »Reichsarzt SS und Polizei«, Ernst-Robert Grawitz, richtete: »Die Überheblichkeit und Selbstbeweihräucherung des Tiefenpsychologischen Institutes […] wäre ja noch zu ertragen, untragbar jedoch erscheint es mir, mit diesem neuerstandenen Freudianismus die klare naturwissenschaftliche Grundeinstellung unserer Ärzte in der Waffen-SS unsicher zu machen« (ebd., S. 8). Das NS-System, so lässt sich bis hierhin zusammenfassen, profitierte von mehreren, teils prominenten »Freudianern« und von diversen Freudschen Erkenntnissen.910 Wie die Geschichte John Rittmeisters zeigt, konnten Widerstand und Kollaboration (bei der Erstellung des »Diagnose-Schemas«) in ein und dersel910 Geoffrey Cocks schreibt: »Psychoanalytiker im nationalsozialistischen Deutschland halfen systematisch dem Regime dann am besten, wenn sie gut arbeiteten« (Cocks 2010, S. 52). Ob dieser Aussage zuzustimmen ist, hängt davon ab, was man unter »gutem« Arbeiten versteht.
483
4 Einordnungen und Erklärungen
ben Person zusammenfallen. Und zumindest von Ingeborg Kath liegt, wie auch von dem Nicht-Psychoanalytiker J.H. Schultz, ein Selbstzeugnis vor, das eine direkte Beihilfe zu den Euthanasiemorden belegt. Auch den im Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie arbeitenden Analytikern gelang also nicht, was ohnedies ein Unding ist: innerhalb eines Systems und mit dessen Anerkennung zu wirken, ohne Anteil an dem zu haben, was dieses System an Schuld auf sich lädt. Warum also hätten die verantwortlichen Nationalsozialisten das komplette Schriftgut einer Wissenschaftsrichtung ächten sollen, die sich ja (wenn auch wesentlicher Inhalte beraubt) durchaus als verwendbar im Sinne des NS-Staates herausstellte? Damit die Psychoanalytiker langfristig diesem Staat weiter nützlich sein konnten, mussten sie natürlich auch die Möglichkeit haben, auf eigene Fachliteratur zurückzugreifen und Informationsaustausch in Form von Publikationen zu pflegen. Welchen Sinn hätte es da gehabt, wenn M.H. Göring in seiner Funktion als Zentralblatt-Herausgeber zugelassen hätte, dass die theoretische Grundlage dieser Analytiker im führenden Fachorgan ständig öffentlich demontiert oder diffamiert worden wäre? Doch damit ist der Umgang mit psychoanalytischer Literatur in den Zentralblättern noch nicht erschöpfend erklärt.
4.10
Geheimhaltung und Medienlenkung
M.H. Görings Engagement und Toleranz können unmöglich so weit gegangen sein, dass er wissentlich verbotene analytische Publikationen bewerben ließ. Aber wusste M.H. Göring, wussten die Rezensenten der Zentralblätter überhaupt, dass ein Teil der Schriften, die sie besprachen, verboten war? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Der entscheidende Verbotsindex, die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«, war und blieb ja geheim! Neben den Zensoren kannten nur die Verantwortlichen des Börsenvereins, die betroffenen Verlage und Bibliotheken diese Listen, durften aber diese Kenntnis nicht weitergeben, nicht einmal an die Buchgrossisten oder die Inhaber der Buchläden. So beklagte die Zeitschrift Der Buchhändler im neuen Reich, dass Thomas Manns Bücher auch nach dessen Ausbürgerung 1936 »ungehindert feilgeboten und verkauft werden«, und leitete daraus die Forderung ab: »[D]er deutsche Buchhändler hat hier Gelegenheit zu beweisen, daß er – ohne Verbote – weiß, was zu tun ist.« »Verbotslisten […] gab es nicht«, erinnerte sich entsprechend ein damaliger Buchhändler: »Allein aus 484
4.10 Geheimhaltung und Medienlenkung
Selbsterhaltungsgründen müssten wir so etwas gekannt haben. Das ›gesunde Volksempfinden‹ des Buchhändlers hatte hier zu sprechen und zu entscheiden« (zitiert in Schäfer 1983, S. 14). So kam es, dass »im Buchhandel stets auch verbotene Literatur kursierte, die dann über aufwendige Razzien der Gestapo oder des SD beschlagnahmt werden musste« (Barbian 2008, S. 23; vgl. ders. 1993, S. 586–602). Allein zwischen Oktober 1936 und Juni 1937 gab es bei einer »Säuberungsaktion« in Buchhandlungen und Büchereien ca. 300.000 solcher Beschlagnahmungen (Barbian 2010b, S. 306f.). Selbst die betroffenen analytischen Autoren dürften in der Regel höchstens indirekt – eben durch die erwähnten Beschlagnahmungen ihrer Bücher oder durch erzwungene Auflösungen von Verlagsverträgen – erfahren haben, dass sie auf den Verbotslisten des Propagandaministeriums standen. Offiziell mitgeteilt wurde es ihnen nie.911 Dafür, dass auch M. H. Göring die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« nicht kannte, spricht zudem seine schon erwähnte Stellungnahme zu der Schrift von René Laforgue. Hätte Göring gewusst, dass auch Laforgue auf dieser Liste stand (siehe oben), hätte er wohl von vornherein auf eine Begutachtung verzichtet oder zumindest auf das Verbot verwiesen. Die bis in die 1940er Jahre hinein offenbar recht günstigen Möglichkeiten, die Psychoanalyse in Fachpublikationen darzustellen, dürften aber zudem ebenfalls mit der »Polykratie« zusammenhängen: Der Kampf mehrerer MöchtegernPressezaren gegeneinander behinderte auch im Pressewesen das Zustandekommen einer einheitlichen »Linie« (Krings 2011, S. 483–486; Frei/Schmitz 1999, S. 21f.). Hinzu kamen typische Probleme autoritärer Herrschaft und Medienlenkung, »denn noch die umsichtigste Zensur vermag nicht allen ›Lenkungsbedarf‹ vorherzusehen. Bei schätzungsweise 80.000 bis 100.000 Anweisungen, die im Laufe der Jahre ausgegeben wurden, waren Widersprüche und Fehler programmiert« (ebd., S. 34). Zur Unmöglichkeit einer vollständigen Kontrolle dürfte jedoch die Bereitschaft hinzugekommen sein, bei Bedarf nur dosiert zu gängeln, war doch die NS-Presseleitung keineswegs »unfähig zu jeder Differenzierung […]. Von unterschiedlichen Zeitungen wurde ein durchaus unterschiedliches Maß an Anpassung erwartet bzw. verlangt. Einem Blatt 911 Wohingegen, wie gezeigt, die durch das Innenministerium vorgenommenen Verbote ausländischer, also auch von Exilanten verfasster Schriften bis 1936 im Reichsanzeiger veröffentlicht wurden.
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4 Einordnungen und Erklärungen
wie der Frankfurter Zeitung, die auch als Aushängeschild gegenüber dem Ausland galt, mutete man weniger zu als einer […] katholischen Provinzzeitung oder einem bürgerlich-großstädtischen Generalanzeiger« (ebd., S. 35).912
Entsprechend lässt sich mutmaßen, dass auch wissenschaftliche Zeitschriften, die ohnehin vergleichsweise wenige Menschen erreichten, an einer längeren Leine liefen. Erst recht, wenn sie auch im Ausland gelesen werden sollten – was auf beide oben herangezogenen Zentralblätter zutraf. Es scheint mir daher möglich, dass zwar an »höheren Stellen« früher oder später aufgefallen sein dürfte, dass in den Zentralblättern verbotene Schriften besprochen wurden – dies jedoch bewusst toleriert wurde. Für einen absichtsvoll lockereren Umgang mit Wissenschaftspublikationen sprechen auch weitere Regelungen. Zum einen, dass – neben Gelegenheitsschriftstellern – die Verfasser wissenschaftlicher Werke die einzige Autorengruppe bildete, die von der Zwangsmitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer befreit war (Adam 2010, S. 22). Zum anderen wurde in der »Anordnung des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer« von 1935 für »rein wissenschaftliches Schrifttum« eine Sonderregelung aufgenommen: Normalerweise von der Verbotsverordnung ausgenommen, sollte es nur indiziert werden, wenn es »der Herr Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« – also Bernhard Rust – »wünscht oder damit einverstanden ist«.913 Die wie gezeigt spärliche analytische Literatur, die dennoch nach 1935 verboten wurde, galt, so könnte man mutmaßen, also entweder nicht als »rein wissenschaftlich« oder wurde auf Wunsch oder mit Billigung von Rust verboten. Dass Goebbels dem im NS-Machtgefüge eher schwachen Rust hier tatsächlich größeren Einfluss gewährte, ist allerdings unwahrscheinlich. Mit jener halbherzig zugestandenen Nische für die Wissenschaft war es dann 1940 ohnehin vorbei. Nun hieß es nur noch: »Über die Aufnahme in die Liste entscheidet der Herr Reichsminister für Volksbildung und Propaganda; bei wissenschaftlichen Werken im Einvernehmen mit dem Herrn Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« (Reprint der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«, Anordnung von 1940, o. S.). Aber selbst nach dem erwähnten Totalverbot für »voll- und halb912 Über die – in manchem Aspekt den Vorgängen bei den Psychoanalytikern ähnelnde – Anpassung der Journalisten an die Vorgaben des Dritten Reiches berichtet sehr differenziert Krings (2011, S. 186–210). 913 Siehe Reprint der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« (o. S.), wo diese Anordnung 1938 übernommen wurde.
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4.11 Wissenschaftspolitik
jüdische« Autoren von 1940 galten für fachwissenschaftliche Publikationen »Übergangsbestimmungen«. So durften entsprechende »Sammelwerke, Handbücher und wissenschaftliche Zeitschriften« zumindest ausverkauft, teilweise mit Einverständnis des Propagandaministeriums sogar neu aufgelegt werden (Barbian 1993, S. 530). Dafür, dass dies auch psychoanalytische Literatur einschloss, habe ich keine Hinweise finden können. Der im Dritten Reich übliche Umgang mit Wissenschaften und Wissenschaftlern liefert weitere Erklärungen für die relative Toleranz gegenüber der Psychoanalyse.
4.11
Wissenschaftspolitik
Derjenige höhere NS-Funktionär, der am konsequentesten die Haltung vertrat, dass sich auch die Wissenschaft der nationalsozialistischen Weltanschauung unterzuordnen habe, war Rosenberg. Hätte er zu entscheiden gehabt, wäre vom traditionellen Wissenschaftsbetrieb in Deutschland wahrscheinlich wenig übrig geblieben. Aber auch hier konnte er sich nicht durchsetzen (Piper 2007, S. 353–365). Wie es auf diesem Sektor stattdessen zuging, hat Götz Aly für das Zusammenspiel von Wirtschaftsexperten und Politikern so beschrieben: »Innerhalb politisch und gewaltsam gezogener Grenzen bewahrte das NS-System eine bemerkenswert lebendige Differenz der Ansichten und politisch-fachlicher Vorschläge« (Aly 2005, S. 353). Für die Wissenschaft im Allgemeinen formuliert Ernst Piper: »Solange man sich auf dem Boden des Nationalsozialismus bewegte, war die Meinungsfreiheit geradezu grenzenlos. […] Der Impuls zur Kontrolle wurde oftmals von der Konkurrenz, die die neuen Wissenschaftseliten sich gegenseitig machten, überwuchert: ›Im Ergebnis existierten so im Nationalsozialismus unterschiedlichste wissenschaftliche Ansätze und Strömungen weiter, die im Rahmen der politisch beaufsichtigten Meinungsvielfalt recht frei agierten‹« (Piper 2007, S. 357).
Die – in Details ebenfalls von Rosenbergs Vorstellungen abweichenden914 – Ansprüche, die NSDAP-Pressechef Otto Dietrich 1934 an die Wissenschaftler stellte, fasst der Dietrich-Biograf Stefan Krings so zusammen: 914 Insbesondere Dietrichs Verweis auf »universalistisches Denken« war Rosenberg ein Dorn im Auge. Dementsprechende Auseinandersetzungen führten dazu, dass Dietrich diese Formulierung in Zukunft vermied – und mit anderen Worten das Gleiche zum Ausdruck brachte (Krings 2011, S. 283–290).
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4 Einordnungen und Erklärungen
»Der NS-Staat gewährt Wissenschaftlern Freiraum, sofern sie sich dem ›universalistischen Denken‹ und den Belangen der ›Volksgemeinschaft‹ […] unterordnen. […] Wissenschaftliche Erkenntnisse stünden niemals im Widerspruch zu den ›Lebensgesetzen‹ einer Gemeinschaft: ›Tun sie es, dann beweisen sie, dass sie falsch sind‹« (Krings 2011, S. 283).
Auch Reichserziehungsminister Bernhard Rust verkündete 1936 in einem Festvortrag anlässlich der 550-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, der Nationalsozialismus sei »so felsenfest von der Richtigkeit seiner elementaren Entdeckungen für alle Gebiete des geistigen Lebens überzeugt, daß er es nicht nötig hat, die Wissenschaft zu reglementieren« (zitiert in Botsch 2006, S. 2). Umgekehrt sah der in der NS-Zeit weithin bekannte Psychologe Ernst Rudolf Jaensch als Kriterium der Gültigkeit der nationalsozialistischen Ideen deren Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen an – worunter er allerdings nicht zuletzt seine eigene biologistisch-rassistische Typenlehre verstand (Geuter 1985b, S. 185–192). Insgesamt kam es im Dritten Reich – insbesondere durch Übereinstimmungen in den Interessen von Wehrmachts- und Hochschulpsychologen – zum »Vorantreiben der professionellen Entwicklung der Psychologie« (Geuter 1985a, S. 163f., 167). Dies drückte sich, wie bereits erwähnt, 1941 auch in der Einführung eines universitären Studiums zum Diplom-Psychologen aus (ebd., S. 164). Für die Psychotherapie konstatiert Regine Lockot ebenfalls »[r]ein technokratisch gesehen […] einen Professionalisierungsschub« (Lockot 2010, S. 1207). Stellten sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in NS-Deutschland nicht infrage, konnten auch Vertreter der »Geisteswissenschaften« Anglistik, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Keltologie, Musikwissenschaft, Slawistik und Sprachwissenschaft, teils mit durchaus bemerkenswerten Ergebnissen, weiterhin forschen und publizieren (Hausmann 2002).915 Noch 1938/39 kam ein Bericht für den SS-Sicherheitsdienst zu der Einschätzung, »gerade auf dem kulturpolitisch wichtigen Gebiet der Germanistik« herrsche nach wie vor »ein ausgesprochen liberaler Wissenschaftsbetrieb […], in dem eine Menge von gegnerischen oder zumindest reaktionären und liberalen Kräften […] am Werk ist« (zitiert ebd., S. 66). Da es keine einheitliche NS-Ideologie gab und die »Polykratie« grassierte, war der erwähnte »Boden des Nationalsozialismus«, auf dem man stehen sollte, allerdings ein ungewisser. In der Praxis lief es vielfach darauf hinaus, sich den – 915 Speziell zur Germanistik siehe auch Lerchenmüller/Simon (1999). Darüber, in welchen Phasen nach 1945 die Situation der Wissenschaften im Nationalsozialismus erforscht wurde, informiert Botsch (2006, S. 14).
488
4.11 Wissenschaftspolitik
ebenfalls nicht unbedingt verlässlichen – Kalkülen, Ansichten oder Spleens spezieller NS-Gönner zu unterwerfen. Ein Beispiel dafür liefert das Gebiet der Ur- und Frühgeschichte. Hier begaben sich manche, auch renommierte Forscher freiwillig unter die Schirmherrschaft Heinrich Himmlers und seiner SS-»Ahnenerbe«-Organisation. Hintergrund war, dass Himmler – im Vergleich zu dem ebenfalls hochgradig an »Arier-Geschichte« interessierten Rosenberg – »dem einzelnen immer noch einen gewissen Spielraum« zugestand. Im »Ahnenerbe« fanden diese Wissenschaftler daher eine Nische, dort »durften sie, zwar im Geheimen, doch mit Himmlers stiller Billigung, ihre ihnen am Herzen liegenden Forschungsvorhaben ausführen, solange sie sich den von oben dekreditierten Aufgaben widmeten« (Kater 2006, S. 73f., 20f., 43–46). Allerdings durften sie auch Himmlers persönliche Überzeugungen zur deutschen Vorgeschichte nicht infrage stellen, zum Beispiel diese: »Arier stammten nicht vom Affen ab wie der Rest der Menschheit, sondern seien göttergleich vom ›Himmel‹ auf die Erde herabgestiegen. Vor ihrer Erdengeburt aber seien sie als lebendige Keime im ›ewigen‹ Eis des Weltraumes konserviert gewesen« (ebd., S. 50). Die Parallelen zwischen den Arbeits- und Forschungsbedingungen der Ur- und Frühgeschichtler und denen der Psychoanalytiker scheinen mir beachtlich. Letzteren boten nicht Himmler und »Ahnenerbe«, sondern der von Hermann Göring gestützte M.H. Göring und das DIPFP eine Nische. Dort hatten sie, auch für ihre Publikationen, ebenfalls einigen Spielraum. Sie hatten zwar nicht auf kosmische Arierkeime Rücksicht zu nehmen, aber dafür auf M.H. Görings Forderung, Mein Kampf zur Pflichtlektüre jedes Psychotherapeuten zu machen (vgl. Zentner 2009) – wegen des »inneren Gehaltes« dieses Werks (ZfP 1934, Bd. 7, S. 133). Ihren Freiraum erkauften sich die Analytiker durch Mitverantwortung und Mitschuld. Dasselbe galt für die von Himmler beschäftigten Ur- und Frühgeschichtler. Viele von ihnen fanden sich nach 1939 im »Kriegseinsatz« wieder, forschten in den besetzten Gebieten nach Spuren »arischer« Kultur und beteiligten sich an der groß angelegten Plünderung dortiger Museen, Bibliotheken, Galerien und anderer kultureller und wissenschaftlicher Institutionen (Kater 2006, S. 149–158). Dass im medizinischen Bereich der »Stiftung Ahnenerbe« bei »Experimenten« mit KZ-Insassen und bei »anthropologischen Untersuchungen« Hunderte teils bestialisch ermordet wurden (ebd., S. 227–264), war ihnen entweder nicht bekannt oder wurde verdrängt. Dass sie ein immer mörderischer werdendes System bedienten, muss aber auch ihnen – ebenso wie den DIPFP-Analytikern – noch vor Kriegsende klar geworden sein.
489
4 Einordnungen und Erklärungen
Die Psychoanalyse war ja aber nicht nur eine Wissenschaft wie andere. Nicht zuletzt in Form von Freuds Schriften – für deren literarische Qualität ihm, wie erwähnt, 1930 der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main verliehen wurde – war sie längst auch zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschsprachigen Kultur geworden. Wie im Dritten Reich mit Kunst und Kultur, speziell mit Literatur umgegangen wurde (vgl. dazu Klemperer 1990, 2006; Jacobs 2010, S. 173–291; Stresau 1948; Lubrich 2009), musste die Psychoanalyse und ihre Publikationen daher ebenfalls tangieren.
4.12
Kulturrichtlinien
Hans-Dieter Schäfer schreibt in seinem Buch Das gespaltene Bewusstsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945, das Dritte Reich sei »von einem tiefen Gegensatz zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Praxis gekennzeichnet« gewesen. Die »von Rechtfertigungs- und Legitimationsinteressen abhängige Forschung und Publizistik« habe diesen Gegensatz nach 1945 jedoch nicht reflektiert, sondern stattdessen »Propagandaformeln und den Terror gegen Minderheiten mit der umfassenden Wirklichkeit identifiziert« (Schäfer 1983, S. 146). Ebenso wie »das deutsche Volk nach dem ›Zusammenbruch‹ Hitler als Übermächtigen dämonisierte, um die Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit abzuwehren, so übertrieben viele Schriftsteller und Publizisten die Durchsetzung der reaktionären Kunstpolitik, blendeten ihre eigenen Arbeiten aus und entwirklichten das kulturelle Leben des Dritten Reiches. […] Ohne Zweifel wollte der Führerstaat die mit einer lebendigen Kultur verbundene individuelle Freiheit unnachsichtig zerstören, gleichzeitig musste er eine politikfreie Sphäre fördern, um die Mehrheit der Bevölkerung auf Dauer an sich zu binden« (ebd., S. 7).
Zum damaligen kulturellen Leben gehörten, wie Schäfer zeigt, eben nicht nur Terror, Unterdrückung und Kontrolle.916 Bezüglich des Buchmarkts berichtet er: 916 Über die Presse teilt er mit: »So konnte man in Deutschland bis 1939 – mit Ausnahme sozialistischer und kommunistischer Blätter – fast alle ausländischen Zeitungen kaufen. […] Zwar indizierten die Polizeipräsidien einzelne Nummern mit ›deutschfeindlichen Artikeln‹ und führten Verbotslisten, doch erst 1938/39, mit der Verschärfung der englischdeutschen Pressekampagne, häuften sich die Beschlagnahmen« (Schäfer 1983, S. 163). Die Deutsche Radio-Illustrierte (Auflage über eine Million) »brachte 1937 neben den 11 deutschen Sendern die Programme von dreißig« ausländischen Stationen, noch 1939 war
490
4.12 Kulturrichtlinien
»Die Schriften von [Karl] Jaspers waren auch nach dessen Lehrverbot weiter im Handel erhältlich.« »Die meisten österreichischen und Schweizer Verlage hatten im Reich Dependancen und konnten ihre Produktion nahezu ungehindert ausliefern.« Ein Zeitzeuge habe »noch 1940 die im Oprecht Verlag« – dessen Repertoire schon 1938 komplett verboten worden war – »erschienenen Ausgewählten Gedichte von Karl Kraus« über eine deutsche Buchhandlung bezogen. Bis 1939 war es »in Zeitungen und Zeitschriften üblich […], in Rubriken Neue Bücher aus dem Ausland anzuzeigen und in Kurzrezensionen vorzustellen«. Dazu ein weiterer Zeitzeuge: »Eine Kontrolle der Titel erfolgte nie.« Eine NS-Zeitschrift sprach 1939 sogar davon, dass die Leser »auf dem Umwege über die ausländische Übersetzungsliteratur« – zeitgenössische Statistiken zählten 3,25 Millionen übersetzte Bücher – »wieder genau mit den selben negativen Werten vertraut« gemacht würden, »die wir erst mühsam aus dem deutschen Schrifttum selbst ausgeschieden haben«.917 Selbst die »Ausschaltung jüdischer Autoren wurde«, laut Schäfer, »nicht immer konsequent durchgeführt«; als Beispiele dafür nennt er unter anderem André Maurois, Paul Claudel, Paul Valéry (ebd., S. 13–16). »Vier der auf sechs Bände geplanten Ausgabe der Gesammelten Schriften Franz Kafkas konnten 1935 offiziell erscheinen; nach dem Verbot wurden trotzdem die beiden übrigen Bände veröffentlicht.« Da das Börsenblatt aufgrund von Handelsverträgen die Anzeigen »außerdeutscher jüdischer Verlage« nicht ablehnen konnte, kam es dazu, wie die NS-Zeitschrift Neue Deutsche Literatur bissig vermerkte, dass selbst NSDAP-Blätter in »liebevoller Unkenntnis« jüdische Autoren besprachen (ebd., S. 20). Wie schon erwähnt, wurde auch für psychoanalytische Bücher weiterhin im Börsenblatt geworben. So fand sich hier am 7.12.1934 eine ganzseitige Anzeige für den 1935er Almanach der Psychoanalyse,918 der unter anderem Beiträge von Sigmund und Anna Freud, Paul Federn, Otto Fenichel, Imre Hermann und Helene Deutsch enthielt. Noch »bis zum Jahr 1936«, so schreibt Lydia Marinelli, »konnte es »üblich, daß die Zeitschriften mit ihrem ›großen Europaprogramm‹ warben und sich in der Anzahl der [Rundfunk-]Stationen zu übertreffen suchten« (ebd.). 917 Ergänzend zu Schäfers Mitteilung, dass erst durch den Kriegseintritt von Großbritannien bzw. den USA dem großen Erfolg amerikanisch-englischer Kriminal- und Gesellschaftsromane ein Ende gemacht wurde, lässt sich bei Barbian (2004, S. 67) nachlesen: Margaret Mitchells Vom Winde verweht hatte sich zwei Tage nach Auslieferung der deutschen Übersetzung im September 1937 bereits 12.000 mal, im Juli 1941 276.900 mal verkauft. 918 Siehe die Abbildung im Dokumentenanhang des vorliegenden Bandes. Zwei Seiten weiter befand sich eine ebenfalls ganzseitige Anzeige für das Buch Benito Mussolini: Gedanken und Worte, das von dem österreichischen Journalisten Hans Kafka »mit dem Versuch einer ›Psychologie des Staatsmannes‹« versehen worden war.
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4 Einordnungen und Erklärungen
der Internationale Psychoanalytische Verlag im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Anzeigen schalten« (Marinelli 2009, S. 83 und Fn 158). Voraussetzung war jedoch, so Schäfer zur allgemeinen Situation im Börsenblatt, dass die dort erwähnten oder beworbenen Publikationen einen Inhalt hatten, der »weder offen noch zwischen den Zeilen919 […] Kritik am Hitler-Regime übte« (Schäfer 1983, S. 15). Diese Voraussetzung traf auch auf den Almanach der Psychoanalyse von 1935 zu.920 Ähnlich wie mit der Literatur wurde, so beschreibt es Schäfer, auch mit der bildenden Kunst, dem Theater, dem Kino und der Musik verfahren.921 Wesentliche NS-Maßstäbe setzten sich nur sehr allmählich, nach Kriegsbeginn schneller, aber meist nicht vollständig durch. Wirklich einheitliche Maßstäbe waren oft gar nicht vorhanden.922 Insbesondere der Umgang mit der Belletristik weist bemerkenswerte Parallelen zur Behandlung der psychoanalytischen Literatur auf. Am 10. Mai 1933 waren auch Erich Kästners Bücher mit einem »Feuerspruch« bedacht worden. Auch seine »sämtlichen Schriften« wurden 1935 verboten, und er war zeitweise erheblichen Schikanen ausgesetzt. Dennoch konnte er in Deutschland verbleiben, 919 Dem widerspricht jedoch, dass es, wie bereits erwähnt, durchaus Bücher gab, deren »zwischen den Zeilen« geäußerte Kritik toleriert wurde. 920 Vgl. www.archive.org/details/AlmanachDerPsychoanalyse1935. 921 Vgl. dazu auch die Darstellungen in Sarkowicz (2004) und Barbian (2010a), die Schäfers Sicht bestätigen und mit weiteren Forschungsergebnissen ergänzen. Kontroverse Sichtweisen zu Schäfer reflektiert Treß (2011, S. 29–31). 922 »Als in der Ausstellung ›Entartete Kunst‹ [1937] ein Grammophon Strawinskys Feuervogel als Beispiel der Kulturzersetzung reproduzierte, gehörte der Komponist im Dritten Reich noch immer zu den populärsten und am häufigsten gespielten ausländischen Musikern« (Schäfer 1983, S. 23). Noch 1938 nahm Strawinsky in Berlin mit den Berliner Philharmonikern eine Schallplatte auf – während NS-Kritiker, so H.-D. Schäfer weiter, nicht müde wurden, ihn als »Kulturbolschewisten« und seine Werke als »seelenlos gestalteten Konstruktivismus« und »rassefremde Musik eines in jüdischen Kreisen geförderten Geräuschkomikers« zu attackieren (ebd., S. 24f.). Auch für die Musik galt: »Wer politisch mitmachte, durfte sogar ansonsten verfemte musikalische Techniken und Materialien verwenden, allerdings musste er deren ›jüdisch-bolschewistischen‹ Hintergrund verleugnen« (Heister 2004, S. 333). Oder, wie es der »Hauptstellenleiter Musik« im »Amt Rosenberg« formulierte: Selbst aus der – vielfach als »Produkt jüdischen Geistes« geschmähten – atonalen Musik könne »eine wertvolle Kunst herauswachsen, wenn nur der Mensch blutmäßig und charakterlich einwandfrei und schöpferisch ist, der dahintersteht« (zitiert ebd.). Andererseits konnte aber in den 1940er Jahren das bloße »Spielen aller amerikanisierenden Jazzweisen« zu KZ-Haft führen (Schäfer 1983, S. 171; siehe dazu auch Guse 1992).
492
4.12 Kulturrichtlinien
mehrere Jahre lang wurden noch Bücher von ihm in hohen Auflagen gedruckt und verkauft, einer seiner Romane verfilmt und im Kino gezeigt (Barbian 2008, S. 145–183). Später durfte er unter einem Pseudonym unter anderem das Drehbuch für den »Münchhausen«-Film mit Hans Albers verfassen, ein »absolutes Prestige-Objekt des Staates« (ebd., S. 172). Öffentliche Verdammung und (teils inoffizielle) Weiterverwendung schlossen sich also auch hier nicht aus. Ähnlich erging es Ernst Glaeser (ebenfalls durch einen »Feuerspruch« geächtet und komplett verboten): Als Glaeser 1939 aus dem Schweizer Exil nach Deutschland zurückkehrte, erhielt auch er vom Propagandaministerium eine »Arbeitsgenehmigung«.923 Andere »keineswegs systemkonforme Autoren« wie Erich Ebermayer, Axel Eggebrecht, Hans Fallada, Walter von Molo, Ernst von Salomon und Frank Thiess konnten für den »staatlich kontrollierten« Film Drehbücher schreiben (ebd., S. 21). Günter Weisenborn, »der zum Widerstandskreis der ›Roten Kapelle‹ gehörte, durfte sogar noch während seiner Gefängnishaft mit ausdrücklicher Duldung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD die Exposees zu einem antienglischen Drama mit dem Titel ›Marlborough‹ und zu dem Berliner Volksstück ›Die Tiedemanns‹ verfassen« (ebd., S. 25).
Durchaus erfolgversprechend war es, wenn man – wie es auch Erich Kästner tat – nichts mehr veröffentlichte, was den nationalsozialistischen Maßstäben hätte widersprechen können. Denn, so stellt Jan-Pieter Barbian im Hinblick auf die Ausschlussentscheidungen der Reichsschrifttumskammer fest, »abgesehen von besonders exponierten Fällen« zählten »nicht die politische Haltung vor 1933, sondern das politische Verhalten und die literarischen Arbeiten nach 1933« (ebd., S. 19). Auf dieser Basis durfte beispielsweise der Schriftsteller Walter Bauer »trotz des vollständigen Verbots seiner vor 1933 erschienenen Bücher Kammermitglied bleiben« (ebd., S. 18). In dem Maße, wie auch die Institutionen und Vertreter der Psychoanalyse am Verhalten und an den Veröffentlichungen nach 1933 gemessen wurden, hatten sie gute Chancen, im Dritten Reich ebenfalls Gnade zu finden. Jedenfalls nachdem sie 1934 mit Wilhelm Reich den einzigen öffentlichen »Quertreiber« aus ihren Reihen entfernt hatten. 923 Diese war allerdings gebunden an die Auflage, ein Pseudonym zu verwenden, sowie an die (falsche) Erwartung, Glaeser werde sich in einem neuen Romanprojekt kritisch mit den Emigranten auseinandersetzen. 1943 wurde diese Arbeitsgenehmigung de facto wieder zurückgenommen (Barbian 2010b, S. 205f.).
493
4 Einordnungen und Erklärungen
Auf diese Weise hatten sie auch denjenigen ausgegliedert, der am unverblümtesten das Geschlechtsleben thematisierte. Auch damit – und das dürfte für die IPV-Leitung ebenso klar wie erwünscht gewesen sein – verlor die Psychoanalyse an Anstößigkeit für die Vertreter des NS-Systems. Dass Letztere Wilhelm Reichs Sexualaufklärung, wie er sie in Sexualerregung und Sexualbefriedigung praktiziert hatte, weiter ablehnten, ließ sich schon daraus schließen, dass sie die Kampagne gegen »Schmutz und Schund« fortführten. Ohnehin brachten mehrere Nationalsozialisten 1933 öffentlich zum Ausdruck, dass ihnen an der Psychoanalyse insbesondere deren Umgang mit dem Thema Sexualität zuwider war. So konnte man, wie erwähnt, in Martin Staemmlers Beitrag Das Judentum in der Medizin lesen, für den Psychoanalytiker bestehe der Mensch »nur noch aus einem Geschlechtsorgan […], um das herum der Körper vegetiert« (Staemmler 1933, S. 207). Doch welche Haltung gegenüber der Sexualität setzte sich tatsächlich in den folgenden zwölf Jahren durch? Und was bedeutete das für die Psychoanalyse?
4.13
Sexualität im Dritten Reich
In der Forschung gilt, so schreibt die Historikerin Dagmar Herzog, »der deutsche Faschismus […] noch immer als im Kern sexualfeindlich« (Herzog 2005, S. 21).924 Udo Pini formuliert in seinem Buch Leibeskult und Liebeskitsch. Erotik im Dritten Reich: »Die Gefühle wurden so gleichgeschaltet wie Organisationen und Vereine«, die Geschlechter seien voneinander »wegorganisiert worden«, Mädchen konnten »nur potentielle Mütter sein«. Erotik habe es nur »scheinbar« gegeben, sie sei »als Feinsinn unterdrückt« worden, abhandengekommen, habe »keinen Platz« gehabt »in der Welt, die im Höchsttempo Unheil ausbrütete« (Pini 1992, S. 9–11). »Niemals kann es der politischen Reaktion gelingen«, hatte schon Wilhelm Reich in der Massenpsychologie des Faschismus prophezeit, »der revolutionären Sexualpolitik ein eigenes sexualpolitisches Programm entgegenzusetzen, das anders wäre als restlose Unterdrückung und Verneinung des Geschlechtslebens« (Reich 1933b, S. 257f.). Nach 1945 warfen ver924 Sybille Steinbacher benennt Herzogs Studie Zur Politisierung der Lust (Herzog 2005), auf die ich im Folgenden wiederholt Bezug nehmen werde, als »herausragend unter den Publikationen zur Sexualgeschichte« und »grundlegend« zur »Bedeutung der Sexualität im Nationalsozialismus« (Steinbacher 2011, S. 14, 380). Das belegt allerdings gleichzeitig, wie wenig hier erforscht ist: Herzog widmet dem Thema »Sexualität im Dritten Reich« im Wesentlichen nur die Seiten 15–81 ihres Buches. Bezüglich der »Bedeutung der Sexualität im Nationalsozialismus« verweist Steinbacher außerdem auf fünf Zeitschriftenartikel weiterer Autorinnen (ebd.).
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schiedene Zeitgenossen925 dem Nationalsozialismus jedoch gerade seine sexuelle Freizügigkeit und »Unmoral« vor und betonten, auch diese müssten überwunden werden, wenn man das Dritte Reich überwinden wolle (Herzog 2005, S. 11). Wie war es wirklich? Etwas, das einem ausgearbeiteten »sexualpolitischen Programm« gleichkäme, gab es im Dritten Reich tatsächlich nicht. Juden, andere »Fremdrassige«, Kommunisten, Schwule, »Volksfeinde« und »Ballastexistenzen« wie die angeblich »Geisteskranken« waren in der Tat auch massiver Unterdrückung ihres Geschlechtslebens ausgesetzt. Zunächst natürlich schon deshalb, weil Menschen, deren Freiheit, Unversehrtheit oder Leben bedroht sind, die in permanenter Angst oder Erniedrigung leben, eingesperrt und gequält werden, neben allem anderen zumeist auch eine erhebliche Einschränkung in ihrer Möglichkeit zu lustvoller sexueller Betätigung erleiden. Bereits 1933 wurden auch konkrete sexualunterdrückende Maßnahmen ergriffen, unter anderem gegen – vor allem männliche – Homosexuelle. Die treibende Kraft dahinter war Heinrich Himmler, den wohl ebenso die unbewusste Furcht vor eigenen homoerotischen Anteilen motivierte wie die bewusste Befürchtung, nationalsozialistische »Männerbünde« wie die SS könnten durch Homosexualität gefährdet oder in der Öffentlichkeit diskreditiert werden (Longerich 2008, S. 55–61, 241–250; Mosse 1987, S. 213–220).926 1934 hatte Himmler wesentlichen Anteil an der Liquidierung der SA-Spitze, für die der Bevölkerung auch die Homosexualität Ernst Röhms und anderer SA-Führer als Grund suggeriert wurde (Longerich 2008, S. 183, 2010, S. 269). 1936 schuf Himmler die »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung« (Longerich 2008, S. 248). Folterungen und Ermordungen von Schwulen wurden immer mehr zu »typischen Merkmalen des Nationalsozialismus« (Herzog 2005, S. 18).927 Die Verfolgung von Homosexuellen wurde keineswegs geheim gehalten. Gerade deshalb illustrieren die Betrachtungen über Wesen, Entstehung und Behandlung der 925 Herzog benennt im Weiteren insbesondere Kirchenfunktionäre und Autoren der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Liebe und Ehe, die diese Kritik äußerten (Herzog 2005, S. 91–104). 926 Aus denselben Beweggründen setzte sich Himmler – entgegen den Auffassungen Hitlers – auch für eine Beibehaltung der Prostitution ein (Mosse 1987, S. 209). 927 Gegen etwa 100.000 Männer, bilanziert Jens Dobler, wurde polizeilich ermittelt, 50.000 wurden zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt, zwischen 5.000 und 10.000 in KZs gebracht. Hier lag, so wird geschätzt, deren Todesrate bei 60 Prozent (siehe lernen-ausder-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/7819/2010-03-08-Schwulenverfolgung -im-Nationalsozialismus).
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Homosexualität, die der schon erwähnte Fritz Mohr, tiefenpsychologischer Psychotherapeut und DIPFP-Mitarbeiter, 1943 veröffentlichte, wozu Psychotherapie verkommen kann, wenn sie herrschenden Normen kritiklos übernimmt.928 Mohr meinte, lobend hervorheben zu müssen, dass »der Staat durch sein scharfes Vorgehen gegen Homosexualität unserer psychotherapeutischen Arbeit insofern vorgearbeitet [hat], als durch die äußerst ungemütliche Lage, in die die Homosexuellen heutzutage gebracht sind, der eigene Wunsch, aus dieser Situation herauszukommen, bei einer größeren Zahl solcher Menschen und in stärkerem Maße als früher hervorgetrieben und damit die Behandlungsbereitschaft ihnen nähergelegt wird. Staat und Psychotherapie gehen hier also vollkommen Hand in Hand« (ZfP 1943, Heft 1/2, S. 16).
Mohr distanzierte sich zudem von dem »sattsam bekannte[n] Magnus Hirschfeld« und vertrat einige Freudsche Thesen (ohne ihn zu nennen), wie »die allen Menschen angeborene Bisexualität«. Da er von einer psychischen Verursachung der Homosexualität ausging, (»ihre Grundlage« sei die »asoziale Gesamthaltung«), hielt er auch »Spontanheilungen« durch »einfache Aufklärung« für möglich. »In allen anderen Fällen ist die einzige, wirklich dauerhafte Erfolge bringende Behandlung die tiefenpsychologische, analytische.« Da diese allein nicht ausreiche, habe »das Prinzip der Übung aller die Heterosexualität fördernden Faktoren einzusetzen« (ebd., S. 1, 13, 15, 18f.). Letztere Vorstellung wurde offenbar auch von J. H. Schultz geteilt und im DIPFP auf extreme Weise in »therapeutische« Praxis umgesetzt: Ein schwuler Patient musste, um nicht ins KZ zu kommen, im Beisein einer Kommission mit einer Prostituierten sexuell verkehren. Zur perversen Logik der damaligen Verhältnisse gehörte, dass dieser, wohl von Schultz initiierte, entwürdigende Vorgang dem Patienten vermutlich das Leben rettete (Lockot 2002, S. 225). Dem hält Geoffrey Cocks entgegen: »Indem sie ein Leben auf eine solche Weise retteten […], leisteten Schultz und das Institut dem gesamten tödlichen Nazisystem Vorschub, welches tausende ähnliche Fälle zu Verfolgung und Tod verdammte« (Cocks 1997, S. 296).929
928 Die Mohr-Biografin Cristofano schreibt dazu, Mohr »betont lediglich, daß durch das Vorgehen des Staates die Behandlungsbereitschaft wächst, eine Tatsache, die er im Sinne seiner Definition von Homosexualität sehr begrüßt, ohne die staatlichen Maßnahmen tatsächlich zu loben« (Cristofano 2007, S. 109). Diesen Entschuldigungsversuch straft meines Erachtens allein schon Mohrs letzter Satz Lügen. 929 Übers. A. P. Zur Sexualität im Dritten Reich vgl. auch Cocks (1997, S. 285–304).
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Ein weiterer massiver Eingriff in das Geschlechtsleben von ca. 400.000 Menschen waren die bereits 1933 beschlossenen, 1934 per »Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« angeordneten Zwangssterilisationen.930 Von Todesstrafe und KZ-Einweisung bedroht waren auch ausländische Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, wenn sie sich auf sexuelle Kontakte mit »Ariern« einließen (Longerich 2008, S. 613). Den hier beteiligten Deutschen drohten zumindest Misshandlungen durch rassistischen Mob und Gefängnis. Allein im Jahr 1942 gab es ca. 9.000 diesbezügliche Gerichtsverfahren (Bleuel 1979, S. 295–300).931 Jüdische Häftlinge durften auch die in Konzentrationslagern eingerichteten Bordelle nicht besuchen (Peglau 2000c, S. 42). Aber schon die Tatsache, dass solche Bordelle überhaupt existierten, weist darauf hin, dass das Dritte Reich nicht durchweg sexualunterdrückend wirkte (vgl. dazu auch Mosse 1987, S. 193–226). Eine breite, bunt gemischte Fraktion führte allerdings Reinheit, Keuschheit, Monogamie usw. im Schilde und argumentierte eher sexualfeindlich. Die »Forderung des sexuellen Sichauslebens« wurde dabei als eine – so 1938 der Arzt Ferdinand Hoffmann – »typisch jüdisch-liberalistische« oder – so der »Rassekundler« Hans F.K. Günther – als ein Überbleibsel aus dem Weimarer »Zwischenreich vor 1933« gebrandmarkt (Herzog 2005, S. 34f.). Viele Tugendwächter rekrutierten sich aus kirchlichen Kreisen. Joseph Lortz (prominenter Priester und Kirchenhistoriker sowie NSDAP-Mitglied) schrieb 1933 in seinem Katholischen Zugang zum Nationalsozialismus:
930 Laut Gesetzestext waren sie vorzunehmen bei folgenden Störungen, soweit diese »erblich« seien: »Schwachsinn«, Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankung, Epilepsie, »Veitstanz« (Huntingtonsche Chorea), Blindheit, Taubheit oder schwere körperliche Missbildung (Gütt/Rüdin/Ruttke 1934, S. 56). Zu Letzteren wurden unter anderem gerechnet: Kleinwuchs, spastische Lähmungen, Muskelschwund, fehlende Gliedmaßen, ausgeprägte Klumpfüße, angeborene Hüftverrenkungen oder Nachtblindheit (Klee 1991, S. 38). Ferner sah das Gesetz Sterilisation bei schwerem Alkoholismus vor – und zielte dabei auf Alkoholmissbrauch als angeblich typisches Merkmal für die eigentlich anvisierte Personengruppe: »Unheilbare Psychopathen« – ein ebenso fragwürdiger wie schwammiger Begriff, der in der Umsetzung des Gesetzes auch weit ausgedehnt wurde. Bereits von der Sterilisation betroffene Personen fielen, wie schon erwähnt, ab 1939 vielfach den Euthanasiemorden zum Opfer. 931 Der Vorwurf der »Rassenschande« führte zwischen 1935 und 1943 zu 2.211 Verurteilungen von Männern zu Haftstrafen zwischen zwei und 15 Jahren sowie zu sechs Todesurteilen. Frauen waren hier laut Gesetz straffrei gestellt, gerieten jedoch in Einzelfällen aus demselben Grund in »Schutzhaft« oder in Konzentrationslager (Przyrembel 2003, S. 499, zitiert in de.wikipedia.org/wiki/Rassenschande; vgl. auch Essner 2002, S. 219–240; Schneider 2010).
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»Wir Katholiken haben in unzähligen Pressekampagnen, Broschüren, Predigten, Versammlungsbeschlüssen und Parlamentsanträgen gegen Schund und Schmutz unermüdlich protestiert. Aber diese Leistung blieb stark im Bereich des Theoretischen; denn wir waren nicht der Staat. Hingegen dem Nationalsozialismus steht nun die Macht der Verwirklichung zur Seite« (zitiert ebd., S. 55f.).
Die katholische Monatsschrift Kirche im Volk begrüßte ebenfalls »die scharfen Maßnahmen gegen die verschiedenen Formen der öffentlichen Unsittlichkeit« und setzte hinzu: »[W]ir stehen restlos hinter den Bemühungen der Regierung« (ebd., S. 56). Tatsächlich gab es zunächst eine Reihe sexualunterdrückender Maßnahmen, die auf die gesamte Bevölkerung zielten. So wurden 1933, angeblich auf Hitlers persönlichen Wunsch hin, Bordelle und Verhütungsmittel verboten. Beide Verbote wurden jedoch später wieder gelockert bzw. aufgehoben, nicht zuletzt, weil Kriegsführung ohne Kondome und Bordelle unmöglich erschien. Deutschland wurde im Zuge des Krieges sogar der »größte Bordellbetreiber Europas«, wobei maßgeblich weibliche KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene gezwungen wurden, den Männern zu Willen zu sein (Sigmund 2008, S. 263–283). In deutschen Verkaufsautomaten von U- und Eisenbahnstationen und in öffentlichen Toiletten waren laut Zeitzeugen Kondome »im Überfluss« vorhanden (Herzog 2005, S. 32). Auch J. H. Schultz wies, allerdings recht beiläufig, in seinem populären Sexualberatungsbuch Geschlecht-Liebe-Ehe auf den Nutzen von Verhütungsmitteln hin ( J.H. Schultz 1942, S. 113). Die Strafen für Abtreibungen hatte das NS-Regime zwar verschärft – dennoch fanden Schwangerschaftsabbrüche weiterhin vielfach statt (Bleuel 1979, S. 275f.). Kirchenvertreter sollten sich alsbald enttäuscht darüber äußern, was der NS-Staat in puncto Sexualunterdrückung zuwege brachte. 1936 beklagte der katholische Priester Matthias Laros eine »entsetzliche Verwilderung und Überreizung des sexuellen Triebes«; »alle hemmenden Schranken der Tradition« seien »niedergetreten«, die »Überbetonung des Sinnlich-Sexuellen« habe »das ganze öffentliche und private Leben ergriffen«. Auch von evangelischer Seite wurde dem NS-Regime zwar »Unterstützung für den Antisemitismus« zugesagt, jedoch »öffentliche Schelte für die Sexualpolitik« erteilt, zum Beispiel wegen einer »Tendenz zur Nacktkultur« (Herzog 2005, S. 60f.) – deutliche Belege dafür, dass auch andere Bestrebungen den Umgang mit Sexualität beeinflussten. So gab es diejenigen, die Sexualität als staatsbürgerliche Pflichterfüllung offensiv förderten. Einer der Autoren der 1968 erschienenen Sittengeschichte des II. Weltkrieges erinnerte sich, wie er 1936 »morgens um sechs beim Frühnachrichten498
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dienst« die Ansage hörte: »›Deutscher Mann, hast du heute schon deine Pflicht getan? – Bedenke, daß das deutsche Volk nur bestehen kann, wenn auch du …‹. Und dann folgte die unverblümte Aufforderung, die Frau noch schnell zu begatten, ehe man zur Arbeit gehe« (Gaspar et al. 1968, S. 310). Um Lust, Erotik, Partnerschaft ging es dabei wohl kaum. Um die für die »Herrenrasse« effektivsten Fortpflanzungsbedingungen zu erkunden und etwaige Vermehrungshindernisse zu beseitigen, wurden zahlreiche gynäkologisch-sexualkundliche »Experimente« und oft tödlich verlaufende entsprechende »Untersuchungen« von KZ-Häftlingen durchgeführt (Herzog 2005, S. 16). Am weitesten gingen die Visionen über die »Zucht« von »Ariern« wohl bei Heinrich Himmler. Musste er deren Verwirklichung in seinem »Lebensborn«Projekt zwar auf die Zeit nach dem erhofften Endsieg verschieben, so versuchte er doch schon, entsprechende Weichen zu stellen, unter anderem mittels einer »rassenmäßigen« »Grobauslese« in den besetzten Ostgebieten sowie der Verschleppung von ausreichend »germanisch« erscheinenden Kindern und Zehntausenden »rassisch« akzeptablen jungen Frauen als potenzielle künftige Gebärerinnen ins »Altreich« (Longerich 2008, S. 612ff.). Ab 1941 dachte Himmler über Sexualität auch in anderem Zusammenhang nach. Unzufrieden mit der durch Unterdrückung und Strafe erreichten Arbeitsleistung der KZ-Häftlinge, erwog er positive Stimulanzien: als erste Stufe »die Zuteilung von Zigaretten«, als zweite »ein kleiner Lohn«. Und als dritte »muß in jedem Lager die Möglichkeit sein, daß der Mann einmal oder zweimal in der Woche das Lagerbordell besuchen kann« (zitiert in Sigmund 2008, S. 280f.). Am 11. Juni 1942 wurde im KZ Mauthausen auf Himmlers Befehl hin das erste Lagerbordell eingerichtet, weitere folgten unter anderem in Buchenwald, Sachsenhausen und Auschwitz.932 Aber selbst die Überlegungen des »Reichsführers SS« enthielten zum Thema Sexualität nicht ausschließlich Zynisch-Pragmatisches und rein Widerwärtiges. So sprach sich Himmler »offen […] gegen eine Tabuisierung des Geschlechtsverkehrs vor der Ehe und gegen die Diskriminierung von unehelichen Geburten aus« (Longerich 2008, S. 247), ferner »gegen jede gesetzliche oder […] stimmungsmäßige allzu große moralische Einschränkung im Verhältnis vom Mann 932 Zunächst durften dort laut Himmler nur »verdorbene Frauen« zum Einsatz kommen: weibliche KZ-Häftlinge mit Prostitutionserfahrungen und professionelle Prostituierte. Ab 1943 wurde auf eine solche Vorauswahl immer weniger Wert gelegt. Pro Geschlechtsverkehr waren 15–20 Minuten sowie die liegende Stellung vorgesehen; Aufseher konnten durch Gucklöcher den Vorgang kontrollieren, so beschreibt es Sigmund (2008, S. 280ff.). Sollte das so zutreffen (Sigmunds Buch enthält einiges an Hinterfragenswürdigem), wäre erst recht fraglich, wie viel sexuelle Lust hier möglich war.
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zum Mädel« (ebd., S. 382). Er verurteilte »Tendenzen […], Frauen als Menschen zweiter Klasse zu behandeln«, als »typisch christliche Einstellung« (ebd., S. 245). Sicherlich weil er selbst in dieser Situation steckte, förderte und deckte er auch bei anderen SS-Angehörigen ehebrecherische »Zweitehen« mit einer »liebenden Frau« (ebd., S. 389). Das deutsche Volk sei, so schätzte er ein, »sexuell absolut in Unordnung, […] und wir müssen uns darüber im Klaren sein: wenn ein Volk in seinen allernatürlichsten Lebensgesetzen […] nicht in Ordnung ist, so ist das für das Ganze Dynamit« (ebd., S. 388). Damit meinte er allerdings ganz sicher nicht die massenhaft verbreiteten Sexualhemmungen durch ödipale Verstrickungen, sondern die unzureichende Berücksichtigung angeblich »blutsmäßiger« Gegebenheiten. »Arisierungs«-Bestrebungen prägten auch die Zehn Leitsätze für die Gattenwahl des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, in denen gefordert wurde: »Wähle als Deutscher nur einen Gatten gleichen oder artverwandten Blutes!« Neben »Du sollst Dir möglichst viele Kinder wünschen!«, wurde dann als Maxime allerdings auch benannt: »Heirate nur aus Liebe!« (Bleuel 1979, S. 254). Von anderen Nationalsozialisten wurde die lustvolle Seite der Partnerschaft klar betont. 1936 verfasste der mit »Rassefragen« beschäftigte Arzt Walter Gmelin den Essay Bevölkerungspolitik und Frühehe. Hier wertete er Sex vor der Ehe als positiv, als »gesunde Reaktion gegen gesellschaftliche Hemmungen und gegen Moralprediger«, als Zeichen dafür, dass Menschen »im geschlechtsreifen Alter den ihnen von der Natur mitgegebenen Trieb befriedigen«. Im selben Jahr schrieb der Jurist Rudolf Bechert zur Verteidigung eines Gesetzentwurfes, der unter anderem die Gleichbehandlung unehelicher Kinder fördern sollte: »Niemand zweifelt, daß die unehelichen Verbindungen um ein Vielfaches die Ehen übertreffen.« Nicht bloß die Lebenserfahrung, auch »die gesamte menschliche Kultur« beweise, dass »die in der Geschlechterliebe wurzelnden unehelichen Verbindungen […] höchsten sittlichen und ästhetischen Wert darstellen können«. Ein weiterer NS-Arzt schrieb, es sei »ein Heiliges, ein Großes um den naturgewollten, spontan auf Betätigung drängenden Geschlechtstrieb«; der Mensch, »dessen größtes individuelles Glücksempfinden im Zustandekommen des Geschlechtsaktes liegt«, sei imstande, diesen »bewußt auf die Ebene von Ewigkeitswerten zu heben«, nur »widernatürliche Scheinheiligkeit« und »pfäffische Heuchelei« hätten den Sexualtrieb »zu etwas Niedrigem und Gemeinen herabgewürdigt« (zitiert in Herzog 2005, S. 39ff.). Zur Aufwertung des Sexualtriebs trug auch J. H. Schultz mit seiner Schrift Geschlecht-Liebe-Ehe bei, die 1942 in dritter Auflage (56.000–85.000) erschien. Darin behandelte er Themen wie »Es gibt keine Krankheiten durch Onanie«, »Voreheliches Geschlechtsleben«, »Örtliche Geschlechtsempfindung«, »Sexueller Drang«, »Entjungferung«, »Scheidenkrampf«, »Liebesanpassung im Liebesspiel« und »Vorfeier und Nachfeier«. Dagmar Herzog bemerkt zu Schultz’ 500
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»ermutigenden, lustbejahenden Tipps zum Thema Sexualität«, dass sie »denen des NS-Gegners und linken Sexualrevolutionärs Wilhelm Reich irritierend ähnlich seien« (ebd., S. 45). Tatsächlich finden sich in Aufbau und Inhalt einige Parallelen zu Reichs sexualaufklärerischen Schriften.933 Zum »wichtigsten Sprachrohr derjenigen, die Prüderie für sträflich und unnatürlich hielten und den sexuellen Äußerungen des [»arischen«! – A.P.] Menschen eine potenziell transzendentale Bedeutung zuschrieben«, wurde im Dritten Reich die 1935 gegründete SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps (ebd., S. 43). Diese Zeitschrift argumentierte zur Homosexualität – deren Ausleben sie entschieden verdammte – mit Sätzen, die so klingen, also ob auch psychoanalytische Thesen mitschwingen könnten: »Vor allem aber wissen wir, dass jeder Mensch in seiner Entwicklung eine Periode unbewusst durchläuft, in der er für das Gift [der gleichgeschlechtlichen Liebe] in einem gewissen Grade empfänglich ist.« Denn »das Triebleben erwacht in einem Altersstadium, in dem das andere Geschlecht noch nicht als bewusstes Wunschbild erscheinen kann« (zitiert ebd., S. 46).934 933 So zum Beispiel, wenn Schultz schrieb, dass Jugendlichen, denen eine sexuelle Betätigung nicht möglich sei, »schwere Unlustempfindungen, Arbeitshemmungen, Verstimmungen, Angstzustände« drohten. Daher riet er zunächst zur Onanie: »Hier ist zweifellos, besonders, wenn es sich um Jugendliche jenseits des 16. Lebensjahres handelt, eine vernünftige und geregelte geschlechtliche Selbsthilfe ein direktes Heilmittel.« Dies sei keinesfalls unnatürlich, denn: »Unnatürlich ist […] bei sachlicher Betrachtung gewissenhafter Art nicht, daß ein körperlich gesunder, vollreifer Jugendlicher sich gelegentlich durch geschlechtliche Selbsthilfe entlastet, sondern daß er ohne entsprechenden Partner des anderen Geschlechts lebt. Wenn man bedenkt, daß vor hundert Jahren gar nicht selten Mädchen mit 16 und 17 Jahren heirateten und im Beginne der zwanziger Jahre schon eine Reihe gesunder Kinder geboren hatten, und damit die geschlechtliche Lebensführung weiter Teile der Bevölkerung aller zivilisierten Länder vergleicht, so leuchtet ohne weiteres ein, wo hier die Unnatur zu suchen ist« (Schultz 1942, S. 72f.). Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, hatte Wilhelm Reich in Sexualerregung und Sexualbefriedigung in ähnlichem Zusammenhang geschrieben: »Die Onanie des Jugendlichen ist bei uns nur ein Ersatz des Geschlechtsverkehrs«, und auf den freieren Umgang mit Sexualität bei Naturvölkern verwiesen. Auch er benannte eine Vielzahl von psychosomatischen Problemen, die aus erzwungener Enthaltsamkeit entstünden (Reich 1929, S. 33–35). 934 Das Schwarze Korps und andere NS-Zeitschriften druckten auch regelmäßig Aktfotos ab, die sich von entsprechenden, als dekadent abgelehnten Bildern der Weimarer Zeit oft nur durch die Überschriften oder die angebliche »Rassereinheit« der Modelle unterschieden. Auch die Freikörperkultur fand im Schwarzen Korps einen begeisterten Fürsprecher. So wurde dort das – sich im Dritten Reich 200.000-fach verkaufende – Buch Mensch und Sonne. Arisch-olympischer Geist mit diversen Nacktfotos (auch von Männern), Tipps für Nacktwanderungen, Nacktgymnastik bis hin zu nacktem Skifahren wegen dessen »starker und freudiger Bejahung des Körpergefühls« gepriesen (Adam 2010, S. 107ff.).
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Freizügige Darstellungen leichtbekleideter bis nackter Frauen waren im NSStaat in Form von Fotos, Zeichnungen, Karikaturen, Malereien, Skulpturen, im Kino, bei diversen Revuen oder Umzügen offenbar ebenfalls keine Seltenheit.935 Der Journalist und Publizist Heinrich Hauser, der seit 1938 überwiegend im USamerikanischen Exil lebte, berichtete von einem Berlinaufenthalt im Sommer 1939: »Beobachter des Berliner Nachtlebens können sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich die Leute ganz bewußt zügellosem Genuß hingeben« (Hauser 2009, S. 215). Eine dabei zur Anwendung kommende »Droge ist die zur Schau gestellte Nacktheit. Noch 1937 konnten die Illustrierten den amerikanischen Nackttänzerinnen die Bescheidenheit der anständig bekleideten deutschen Tänzerinnen gegenüberstellen. […] Doch seit dem letzten halben Jahr ist davon nicht mehr viel übrig. Was in den Berliner Shows gezeigt wird, ist so gewagt und freizügig wie nirgendwo auf der Welt. […] Das Satireblatt Simplicissimus etwa bringt gewagtere Fotos als die berüchtigte Vie Parisienne. Was früher als ›verwerfliche jüdische Sinnlichkeit‹ gebrandmarkt wurde, gilt nun als gesunde Lebensfreude, die die Geburtenrate stimuliert – und damit politisch wertvoll ist!« (ebd.).
Zur Malerei vermerkt Joachim Petsch, dass sich hier der nationalsozialistische »Mutterkult« – gefördert unter anderem durch »Muttertag« und »Mütterverdienstkreuz« – kaum auswirkte: »Die Vorstellung von der ›Gebärmaschine‹ Frau ist ein Klischee, das durch die künstlerische Praxis nicht belegt werden kann.«936 Nachweisbar ist hingegen ein kontinuierlicher Anstieg weiblicher Aktdarstellungen auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« zwischen 1937 und 1944, wo unter anderem »nordische schlanke junge Schönheiten […] das Postulat des rassischen weiblichen Körperkults« erfüllten (Petsch 2004, S. 255ff.). Und es blieb nicht nur bei Worten und Bildern. Schon 1934 erhielten BDMFührerinnen die »streng geheime« »Anweisung, die ihnen anempfohlenen jungen Mädchen zum vorehelichen Geschlechtsverkehr zu ermutigen« (Herzog 2005, S. 36). »Vom Reichsparteitag 1936 kehrten 900 BDM-Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren schwanger nach Hause zurück« (Schäfer 1983, S. 137). In der Hitlerjugend sei Promiskuität, urteilten ein Jahr später die Deutschland-Berichte 935 Eine Fülle von entsprechenden Dokumenten findet sich zum Beispiel in Pini (1992). 936 Auch die Historikerin Sybille Steinbacher schreibt, dass »der nach Kriegsende weit überschätzte Mutterkult für die Lebenswirklichkeit vieler Frauen keineswegs zentrale Bedeutung« hatte (Steinbacher 2009, S. 98).
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der Exil-SPD, »der tatsächlich akzeptierte Zustand« (Herzog 2005, S. 37).937 In den Deutschland-Berichten wurde auch mitgeteilt, dass bei den Bällen der NSOrganisation »Kraft durch Freude« (KdF) »jeder auf seine Rechnung kam, der einmal die Schranken konventionellen Lebens überspringen wollte«, und dass auf den KdF-Kreuzfahrten die »Erotik wahre Triumphe« feiere (zitiert in Schäfer 1983, S. 159). Mittels einer neuen Gesetzgebung, die unter anderem das Zerrüttungsprinzip berücksichtigte, erleichterte der NS-Staat 1938 Scheidungen und Wiederverheiratungen (Herzog 2005, S. 66).938 »Spätestens 1942«, schreibt Dagmar Herzog, »ermutigte das Regime zu ehelicher Untreue auch außerhalb der Eliten von Militär und SS und idealisierte sogar jene Frauen, die Verständnis für die Affären ihrer Männer aufbrachten«. Und: »Das Fremdgehen wurde zum gesetzlich verbrieften Recht des Mannes« – jedenfalls, wenn bestimmte Rahmenbedingungen eingehalten wurden (ebd., S. 66f.). Ab 1939 bewirkte der Krieg unter deutschen Soldaten sexuelle Verrohung bis hin zu Massenvergewaltigungen und mit Massenmord verbundenen sexuellen Perversionen (Beck 2004, Hamburger Institut für Sozialforschung 2002, S. 566–569; Heer 1995, S. 78–81; Mühlhäuser 2010, S. 73–155). Mit zunehmender Kriegsdauer kam es in Deutschland »unbestreitbar zu einer Lockerung der sexuellen Sitten« (Herzog 2005, S. 76). Der Grund dafür war offenbar nicht nur die wachsende existenzielle Bedrohung durch die heranrückenden Fronten, sondern auch, dass den Frauen an der »Heimatfront« immer mehr Verantwortung und Selbstständigkeit abverlangt wurde: »[I]hre Handlungsräume erweiterten sich angesichts der militärischen Erfordernisse schlagartig« (Steinbacher 2009, S. 100). Zumindest ein 937 Auch Reich zitiert 1934 in der Broschüre Was ist Klassenbewusstsein? (Raubdruck o. J., S. 20f.) aus dem Brief eines seiner deutschen Anhänger u. a. Folgendes: »Die Jungen und Mädchen der Hi[tler]-Jugend und des Bundes deutscher Mädel haben eine ungeahnte Freiheit in Schule und Elternhaus, die sich natürlich auch in geschlechtlicher Betätigung und Freundschaft auswirkt.« Doch das wollte Reich nicht gelten lassen und wiederholte, dass dies keine Freiheit sein könne, da es ja unter faschistischen Rahmenbedingungen stattfände. Diese Passage – auf die mich am 24.4.2016 Gerhard Hanloser aufmerksam machte – ist in Reich 1934a/b/c noch nicht enthalten. 938 Offenbar waren durch dieses neue Gesetz aber auch psychisch Kranke zusätzlichen Diffamierungen und teils existenziellen Bedrohungen ausgesetzt. Darauf lässt zumindest J. H. Schultz’ weiter oben zitierte Bemerkung über den »erblich-degenerativen, psychopathischen, unheilbaren hysterischen Typ«, der hier als Scheidungsgrund berücksichtigt sei – und zur Euthanasie führen konnte – schließen. Ernst Klee zitiert aus dem Scheidungsantrag eines Euthanasiearztes, der seine Ehefrau 1944 als »schizoid«, »gefühlskalt« und »hysterisch« diagnostizierte, um sich von dieser trennen und einer Geliebten zuwenden zu können (Klee 1997, S. 227).
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4 Einordnungen und Erklärungen
Teil von ihnen, so Dagmar Herzog, nutzte das für »sexuelle Tabubrüche« und um »ihre eigene Version der Gleichberechtigung zu leben« (Herzog 2005, S. 79f.).939 Was sich Mitglieder der NS-Eliten wie Goebbels und Streicher an sexuellem Agieren gestatteten, wurde schon so häufig beschrieben (zum Beispiel in Bleuel 1979, S. 7–10; Sigmund 2008, S. 53–89), dass es nicht nötig ist, darauf ausführlicher einzugehen. Erwähnenswert scheint mir dennoch, dass auch Hitler – über dessen Sexualität bis heute vor allem Gerüchte kursieren940 – sicher nicht gänzlich sexualfeindlich eingestellt war, was allein schon seine Frauenbeziehungen nahelegen. Vielleicht kann man dem ehemaligen »Führer«-Vertrauten Hermann Rauschning glauben, wenn er berichtet, Hitler habe gesagt: »Ich hasse diese Prüderie und Sittenschnüffelei […]. Unser Aufbruch hat nichts mit bürgerlicher Tugend zu tun. Wir sind der Aufbruch der Kraft unserer Nation. Meinetwegen auch der Kraft ihrer Lenden. Ich werde keinem meiner Leute ihren Spaß verderben« (zitiert in Bleuel 1979, S. 11). Goebbels hielt am 30.1.1939 in seinem Tagebuch fest, dass Hitler für Eingriffe in Kabarettprogramme vorgab, man habe »stur gegen politische Witze, aber um so großzügiger in erotischer Hinsicht« zu sein (Longerich 2010, S. 403). Noch einmal der Zeitzeuge Heinrich Hauser im Jahre 1939: »Selbst der Führer, der oberste deutsche Puritaner, applaudierte einem Nacktballett in München und billigt damit die Tendenz zu mehr Freizügigkeit auf der Bühne« (Hauser 2009, S. 215).941
939 Sybille Steinbacher schreibt jedoch, »›Emanzipation‹ […] dürfte der denkbar falsche Begriff sein, um Tätigkeit, Selbstverständnis und den Prozess der Aneignung militärischer Normen bei Frauen zu beschreiben, denn ihr Einsatz für die ›Volksgemeinschaft‹ hatte mit Ansprüchen auf die rechtliche und soziale Gleichberechtigung nichts zu tun. Frauen ging es keineswegs um individuelle Rechte und die Chancengleichheit der Geschlechter – deren Ungleichheit vielmehr vorausgesetzt und anerkannt wurde« (Steinbacher 2009, S. 101). 940 Zwei Beispiele für letztlich unbewiesene Vermutungen hierzu präsentieren Machtan (2001) – der Hitler als Homosexuellen sieht – und Longerich (2010, S. 167–170), der eine erotische Beziehung zwischen Hitler und Magda Goebbels annimmt. 941 Hitler verbarg auch nicht vor der Öffentlichkeit, dass er sich manche sublimierte sexuelle Freude gönnte. Seinen Lieblingsmaler Adolf Ziegler, der aus ersichtlichen Gründen den Spitznamen »Meister des deutschen Schamhaares« trug, ernannte er zum Professor und Präsidenten der Reichskammer der Bildenden Künste. Seit 1937 hing zudem über dem Kamin in der Wohnhalle des Münchner »Führerbaus« Zieglers Triptychon Die vier Elemente, das Hans-Peter Bleuel so beschreibt: »[E]in Gemälde, auf dem vier hockende Schönheiten mit strammen Schenkeln und straffen Brüsten, symbolisch garniert mit Fackel, Ähren, einem Topf Wasser und wehenden Haarzotteln, die ›Freude am gesunden Körper‹ ideologiegerecht demonstrieren« (Bleuel 1979, S. 241f.).
504
4.13 Sexualität im Dritten Reich
Dagmar Herzog fasst das in sich widersprüchliche Verhältnis des NS-Systems zur Sexualität so zusammen: »Entgegen der häufig fälschlicherweise vorgebrachten Behauptung, im Dritten Reich sei unterschiedslos jeder sexuell unterdrückt worden, bestimmte der Nationalsozialismus in Wirklichkeit, wer mit wem Sex haben durfte. Die Verfolgung und Folterung Homosexueller beispielsweise lieferten den Hintergrund für die ständigen Empfehlungen, heterosexuellen Kontakten freudig nachzugehen […]. Legitimation des Terrors und Aufforderung zur Lust gingen Hand in Hand« (Herzog 2005, S. 25).
Auch Sybille Steinbacher urteilt: »Die rassistische Sexualmoral ging mit allerlei Privilegien für heterosexuelle ›Arier‹ einher« (Steinbacher 2011, S. 42). Wilhelm Reichs Erwartung einer »restlose[n] Unterdrückung und Verneinung des Geschlechtslebens« erfüllte sich also nur für Minderheiten der deutschen Bevölkerung. Wie groß diese Minderheiten allerdings waren, darauf werde ich in Kürze zurückkommen. Was bedeutete das bisher Aufgeführte für die Psychoanalytiker? Vor allem eines: Auch auf dem Feld von Sexualpolitik und Sexualmoral hatten sie es im NS-Staat nicht ausschließlich mit erbitterter Gegnerschaft zu tun. Es gab keinen gesellschaftlichen Konsens im Dritten Reich, Sexualität zu tabuisieren oder nicht zu erforschen. Einzelne NS-Vertreter fanden es im Gegenteil äußerst wichtig, sich dem zuzuwenden. Dass in den zitierten Zentralblättern des Öfteren die Freudsche Triebtheorie und mit ihr verbundene Konzepte und Termini auftauchten und anerkennend auf sie Bezug genommen wurde, wird somit verständlicher: Die Psychoanalyse hatte auch als Sexualwissenschaft Wesentliches zu bieten. Dass man sich als Psychoanalytiker ebenfalls offen und öffentlich zum Geschlechtsleben einschließlich dessen seelischer Aspekte äußern konnte, belegt Werner Kempers Buch Die Störungen der Liebesfähigkeit beim Weibe aus dem Jahr 1942. Auch dass Kemper dabei gelegentlich analytische Begriffe und Denkmodelle verwendete, zog offenbar keine Konflikte mit staatlichen Stellen nach sich. Allerdings hatte er sich an Vorsichtsmaßnahmen gehalten, die er 1944 in einem Brief an August Aichhorn schilderte. Das gesamte »libido-theoretische Coordinatensystem« werde, so teilte er dort mit, im Dritten Reich als anstößig empfunden. Deshalb habe man sich »all die Jahre hier« mit einem »sprachschöpferischen« Vorgehen geholfen. Entsprechende Ersatzvokabeln schlug er nun auch Aichhorn vor: »Trotzphase« statt analer Phase, »reife Form der Sexualität« statt Genitalprimat, »Mundwelt« statt oraler Phase; die Begriffe infantile Sexualität, Inzest- und Kastrationskomplex, Lustprinzip und Partialtrieb sollten besser nur umschrieben 505
4 Einordnungen und Erklärungen
werden, auch bei Ödipuskomplex, Organlust und Sadismus sei Vorsicht geboten (Th. Aichhorn 2004, S. 50f.). Wie schon berichtet, berücksichtigten jedoch verschiedene Autoren, die in den Zentralblättern über die Psychoanalyse schrieben, derartige Sprachregelungen zumindest nicht durchweg. Erinnert sei an die Rezension des schweizerischen Psychoanalytikers Hans Christoffel aus dem Jahr 1937, die Formulierungen wie »oral-sadistische Einverleibungswünsche«, »anale und urethrale Geburtsphantasien und -praktiken« oder »Penisbeobachtung beim Vater« enthielt (ZfNP 1937, Bd. 83, S. 38). Nirgends findet sich ein Hinweis, dass diese Veröffentlichung oder die mehrfachen Benennungen des »Ödipuskomplexes« im Zentralblatt für Psychotherapie Sanktionen ausgelöst hätten.942 Aber musste man aus den Vorwürfen, die der Psychoanalyse von Nationalsozialisten gemacht wurden, zwangsläufig ableiten, dass das gesamte »libido-theoretische Coordinatensystem« von ihnen verpönt wurde? Inwieweit entsprach Freuds Auffassung der Sexualität, wie er sie 1933 vertrat, dem Bild, dass NS-Autoren zur gleichen Zeit von ihr entwarfen? Nehmen wir als Beispiel den schon erwähnten Beitrag Die Psychoanalyse des Juden Freud in der Deutschen Volksgesundheit aus Blut und Boden, August/September 1933, S. 15f. Dort wurde man eingangs damit bekannt gemacht, welche Vorstellungen der Beitragsautor über die Triebe habe: Das Leben sei »eine Schule […], in der wir die Überwindung der Triebe zu lernen haben. Diese Aufklärung gibt dem Kranken neue Kraft, und statt der Flucht in die Krankheit wird er den Kampf mit dem Leben wieder aufnehmen. Die Neurose ist geheilt.« Ergebnis der Psychoanalyse sei im Gegensatz dazu, »daß der um die Beherrschung des Trieblebens kämpfenden Patientenseele der letzte ethische Halt endgültig genommen und sie in die asiatische Weltanschauung ›Genieße, denn morgen bist du tot!‹ hinabgestoßen wird«. Nach Freud sei »der Geschlechtstrieb der Grundtrieb der Seele, auf den der ganze Lebensinhalt zurückgeführt werden muß. Ekel, Scham, Moral, Aesthetik, Autorität, Gewissen, ja Religion, Wissensdurst, Kunstsinn entstehen nur aus der Sexualität.« Die »schmutzige Fantasie Freuds« deute Sexualität sogar schon »in die Kinderseele« hinein, suggeriere, der »dauernde Trieb« müsse Erfüllung finden: »in der Jugend durch Onanie […], später durch Geschlechtsverkehr (gleich ob ehelich oder außerehelich), sonst würde man krank!« (ebd.). 942 Allerdings taucht der Begriff »Ödipuskomplex« seltener in den Zentralblättern und Tagungsbänden auf als anderes analytisches Vokabular. Hier dürfte sich aber auch ausgewirkt haben, dass sich Analytiker wie Schultz-Hencke ohnehin von Freuds Triebtheorie lösten und auf dessen entsprechende Begriffe verzichteten.
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4.13 Sexualität im Dritten Reich
Sowohl dieser Autor als auch Martin Staemmler, der ja geschrieben hatte, dass die Psychoanalyse »jede geistige Regung, jede Ungezogenheit des Kindes mit in die sexuelle Sphäre« hineinziehe (Staemmler 1933, S. 207), empfanden offensichtlich die Freudsche These einer kindlichen Sexualität als besonders verwerflich. An dieser These hatte Freud auch zu dem Zeitpunkt, als diese Kritik erhoben wurde, keine Abstriche gemacht. Ungezügelte und andauernde Triebbefriedigung, wie sie ihm in der Deutschen Volksgesundheit als Ziel unterstellt wurde, hatte er jedoch niemals als wünschenswert angesehen. Seitdem er dem Sexualtrieb den Todestrieb entgegengestellt hatte, ging auch der Vorwurf der Sexualitätsfixierung ins Leere. Phänomene wie kindliche »Ungezogenheit« oder die quälende »Gewissens«-Instanz Über-Ich wurden nun oftmals mit der vermeintlich angeborenen inneren Destruktivität in Verbindung gebracht (Alexander 1938, S. 69; Freud 1923b, S. 281ff.). Wesentlich mehr von dem, was hier von den beiden »rechten« Autoren gerügt wurde, traf wieder einmal auf Thesen zu, die Wilhelm Reich vertrat – wie die Notwendigkeit kontinuierlicher lustvoller Sexualbetätigung – bzw. die Reich vom frühen Freud übernommen hatte, wie die Bewertung des Sexualtriebes als zentrales Motiv menschlichen Handelns. Das lässt vermuten, dass sowohl Staemmler wie auch der in der Deutschen Volksgesundheit Schreibende943 Freud nur sehr oberflächlich zur Kenntnis genommen und sich möglicherweise durch Auffassungen Reichs in ihren Vorurteilen über die Psychoanalyse bestärkt gefühlt hatten. Hätte der Autor der Deutschen Volksgesundheit Freud gelesen, wäre ihm vielleicht sogar aufgefallen, wie nahe dieser ihm in manchen seiner Forderungen nach »Überwindung« der Triebe stand. Zum »libido-theoretischen Coordinatensystem« gehörte eben auch Freuds schon zitierte Absicht, durch das »Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste […] eine Beherrschung derselben« zu erzielen und den »Neurotiker […] von den Fesseln seiner Sexualität« zu befreien (Freud 1923a, S. 227f.). Das lässt Zweifel aufkommen, ob die von Kemper empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen in vollem Umfang berechtigt waren. Es bedeutet zusätzlich: Psychoanalysevertreter wie Felix Boehm hatten 1933 nicht nur gute Argumente, um die Psychoanalyse vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, sie sei marxistisch. Ebenso konnten sie belegen, dass die bezüglich der psychoanalytischen Sexualtheorie erhobenen Vorwürfe zu Teilen nicht bzw. nicht mehr zutreffend waren. Und sie konnten auch hier wieder darauf verweisen, dass derjenige, der die beanstandeten Auffassungen am deutlichsten vertrat, Wilhelm Reich war – von dem man sich als Psychoanalyseorganisation ja ohnehin zu trennen gedachte. Vielleicht sind wir damit einer weiteren Erklärung dafür auf der Spur, warum die Psychoanalyse weit 943 Gudrun Zapp listet ihn als H. Wiehl auf (Zapp 1980, S. 246). In der mir vorliegenden Zeitschrift ist der Beitrag jedoch nicht namentlich gekennzeichnet.
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4 Einordnungen und Erklärungen
weniger unterdrückt wurde, als das nach der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 zu erwarten gewesen wäre.
4.14
Die (nachlassende) Reflexion der Psychoanalyse
Wenn die Psychoanalyse und die Analytiker vom NS-System nach dem Mai 1933 also gar nicht gezielt verfolgt wurden, warum schrieben Letztere dann nicht öfter analytische Artikel? Und warum verringerten sich in den 1940er Jahren die Erwähnungen der Freudschen Lehre sowohl im Zentralblatt für Psychotherapie als auch in dem für Neurologie und Psychiatrie? Hier will ich zunächst noch einmal eine Formulierung Hans-Dieter Schäfers aufgreifen. Wie schon zitiert, schreibt er, der Terror gegen Minderheiten sei zu Unrecht mit der umfassenden Wirklichkeit des Dritten Reiches identifiziert worden (Schäfer 1983, S. 146). Tatsächlich bildeten Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, »Geisteskranke«, »Erbkranke«, »Asoziale« und andere von den Nationalsozialisten angefeindete Gruppen944 Minderheiten in der deutschen Bevölkerung. Und tatsächlich hatte dagegen die übergroße Mehrheit der Bevölkerung in vielfacher Hinsicht bemerkenswerte Spielräume. Sie wurde auch – wie es Götz Aly in Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus eindrucksvoll belegt – materiell bis in die späten Kriegsjahre hinein gut versorgt (vgl. dazu auch Schäfer 1983, S. 192–195), nicht zuletzt auf Kosten von enteigneten und ermordeten Juden und den Bevölkerungen der besetzten Gebiete. Aber heißt das, dieser Mehrheit der Deutschen ging es – im umfassenden Sinn – gut oder waren sie gar relativ frei in ihren Entscheidungen?945 Hier einige Argumente, die dagegen sprechen und auch das Verhalten der Psychoanalytiker nachvollziehbarer machen: 1933 hatte Deutschland ca. 65 Millionen Einwohner. Bedenkt man, dass hier über 500.000 Juden lebten, dass es vielleicht etwa eine Million deutsche Homosexuelle beiderlei Geschlechts gegeben haben könnte,946 dass die Zahl der »Geis944 Allein Goebbels benannte öffentlich zusätzlich unter anderem »Intellektuelle«, »Reaktion«, »Pfaffen«, »Meckerer und Miesmacher«, »Kaffeetanten« (Menschen, die 1938 trotz Kaffeeverknappung angeblich demonstrativ lange Schlangen vor den entsprechenden Geschäften bildeten) (siehe Longerich 2010, S. 404f.). 945 Eine genauere Zahlenangabe habe ich diesbezüglich nicht finden können, mir aber von Jens Dobler bestätigen lassen, dass diese Schätzung im Bereich des Möglichen liegt. 946 Übernähme man Freuds Sichtweise, der Mensch sei durch einen angeborenen Todesoder Destruktionstrieb eine »wilde Bestie […], der die Schonung der eigenen Art fremd
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4.14 Die (nachlassende) Reflexion der Psychoanalyse
teskranken« von NS-Experten auf 300.000 geschätzt wurde (Klee 1997, S. 53), dass letztlich 400.000 »Erbkranke« sterilisiert wurden, dass KPD und SPD 1932 zusammen etwa 1.300.000 Mitglieder hatten (Krinn 2007, S. 66), dann heißt das: Hitlers »Machtergreifung« war eine offene Kampfansage an mehr als drei Millionen Deutsche. Wenn nicht gar an deutlich mehr: Immerhin hatte es 1932 ca. 13 Millionen »Links«-Wähler gegeben. Mehr oder weniger bedroht gefühlt haben dürften sich die Angehörigen dieser insgesamt sehr umfangreichen Minderheit zunächst wohl alle, ob ihnen das nun bewusst war oder ob sie es verdrängten (vgl. auch Longerich 2010, S. 299f.). Im Unterschied zu Juden und anderen »Fremdrassigen«, exponierten »Linken«, »Geistes- oder Erbkranken« und offen schwul Lebenden gab es für die meisten anderen von ihnen allerdings Möglichkeiten, »überzulaufen«. Viele taten es und bildeten nun einen Teil jener Bevölkerungsmehrheit, die sich anpasste oder mehr oder weniger begeistert mitmachte.947 Aber konnte diese Mehrheit – zu der auch die meisten DIPFP-Analytiker gehörten – tatsächlich das Gefühl haben, mit dem NS-Terror überhaupt nicht gemeint zu sein? Hinter der Gewalt gegen Andersdenkende oder »Andersartige« steckte doch auch die Botschaft an die Allgemeinheit: Wehe dir, wenn auch du jemals zu sehr von unseren Normen abweiist«, könnte man mutmaßen: Da diesem Trieb im Faschismus diverse Befriedigungsmöglichkeiten geboten wurden, müsste es den meisten »Ariern« einschließlich der DIPFP-Analytiker seelisch zeitweise recht gut gegangen sein; endlich konnten sie ohne schlechtes Gewissen oder energiezehrende Sublimierung den biologisch vorgegebenen Mord- und Zerstörungsgelüsten nachgehen. Verzichtet man auf diese These, ergibt sich auch für die NS-Zeit ein anderes Bild: Obwohl sich viele Deutsche etablieren konnten und es vielen lange materiell gut ging, obwohl vielen das NS-Regime nichtmaterielle Wünsche wie den, »dazuzugehören« (vgl. Bräuniger 2006), erfüllte – zumindest unbewusst dürften die meisten von ihnen unter dem sich erhöhenden Druck zu Verdrängung und Schuldübernahme gelitten haben. Zieht man das Drei-Schichten-Modell der Seele heran, das Reich in der 1946er Ausgabe der Massenpsychologie beschrieben hat, könnte man sagen: Selbst diejenigen, die sich in der oberflächlichsten Schicht ihrer Seele mit dem NS-Aggressor identifizierten und ihre in der mittleren Schicht angestaute Destruktivität auf die angebotenen Feindbilder richteten, dürfte es in ihrem »guten Kern« belastet haben, wenn mit rassistischen oder politischen Begründungen zu Staatsfeinden erklärte Nachbarn, Kollegen, Bekannte oder Freunde erniedrigt, verfolgt, verhaftet oder »abtransportiert« wurden. 947 Frank Bajohr und Michael Wildt beziffern für 1939 5,3 Millionen NSDAP-Mitglieder, weitere »knapp 12 Millionen Angehörige in den Parteigliederungen wie SA, SS, HJ u. a.« und – wenn alle »angeschlossenen und betreuten Verbände wie Deutsche Arbeitsfront, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, Deutsches Frauenwerk« einbezogen werden, insgesamt »rund 68 Millionen Mitglieder in der nationalsozialistischen Organisationswelt«. Letztere Zahl ergibt sich allerdings nur, wenn die vielfachen Doppelmitgliedschaften nicht abgezogen werden (Bajohr/Wildt 2009, S. 18).
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4 Einordnungen und Erklärungen
chen solltest! Der aus Wien stammende, acht Jahre in deutschen KZs inhaftierte spätere Psychoanalytiker Ernst Federn betonte daher immer wieder, auch in einem Interview, das ich 1994 mit ihm führte: »Die Deutschen waren das erste Opfer des Nationalsozialismus« (Peglau 2000c, S. 42; vgl. auch Bajohr/Wildt 2009, S. 10). Nach 1940 weiteten sich die Vorstellungen des NS-Systems, wer als feindlich oder schädlich anzusehen sei, immer mehr aus. So erwuchs aus der Ermordung der als »geisteskrank« Deklarierten eine Bedrohung aller »Unproduktiven« und »Störer« – auch unter den »Ariern«. Als ausreichende Begründung für die Euthanasie galten schließlich Begründungen in Krankenhausakten wie »unangenehmer Patient«, »Querulant«, »nicht beliebt«, »onaniert viel«, »[h]at nichts geleistet«, »[a]rbeitet nichts« oder Diagnosen wie Arteriosklerose, Tuberkulose, Krebs, Typhus, Geschlechtskrankheiten, Kinderlähmung, starke Kurzsichtigkeit, Bettnässen und Kriegsverletzungen (Klee 1997, S. 122, 435, 446). Hinzu kamen »Schulversager«, Fürsorgezöglinge und einfach »Alte«, später »Wehrunwürdige«, »Kriegsneurotiker und -hysteriker«, politische Gegner, unangepasste Jugendliche, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter (ebd., S. 350, 363f.). Als am 3.8.1941 Bischof Clemens Galen warnte, damit sei »grundsätzlich der Mord […] an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, […] an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben« (zitiert ebd., S. 334), blieb er damit bereits hinter der Realität zurück: Längst schon wurde auch die Euthanasie zur grundsätzlichen »Reinigung des Volkskörpers« verwendet. Nur offiziell wurden die Euthanasiemorde bald darauf eingestellt, inoffiziell gingen sie bis zum Kriegsende weiter, mit, wie erwähnt, mehr als 200.000 Opfern (ebd., S. 417–456; vgl. auch Peglau 2000a,b). Je mehr das NS-Regime militärisch in die Defensive geriet, desto mehr wuchs »sowohl die Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung als auch die Neigung der Verfolgungsbehörden, kritische Äußerungen energischer zu ahnden«; von 1941 bis 1944 kam es zu einem rapiden Anstieg politisch motivierter Todesurteile (Schlüter 2006, S. 87–95). 90 Prozent der gegen Deutsche gerichteten Todesurteile des Volksgerichtshofs wurden nach Oktober 1942 verhängt (Aly 2006, S. 143). War anfangs zum Beispiel auch für Goebbels’ Umgang mit den von ihm dirigierten Filmschaffenden eine gewisse »Milde« typisch, so sorgte er später persönlich dafür, dass mehrere von ihnen wegen »defätistischer Äußerungen«, Zweifel am Endsieg oder »Führer«-Witzen hingerichtet wurden (Moeller 2004, S. 146).948 948 So geschah es dem Dramaturgen und UfA-Pressechef Richard Düwell 1944 wegen der Bemerkung, die NS-Filme würden alle mit »brauner Soße« gemacht (ebd., S. 164, außerdem: www.spiegel.de/spiegel/print/d-45935462.html). Selbst der Maler und Hitler-Günstling Adolf Ziegler kam 1943 vorübergehend in ein Konzentrationslager, weil er in privaten
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4.14 Die (nachlassende) Reflexion der Psychoanalyse
Diese schwer kalkulierbare und eindeutig anwachsende Bedrohung durch das NS-System dürfte, zusammen mit der Tatsache, dass die Analytiker als »Freudianer« ohnehin einem gewissen Misstrauen staatlicher Stellen ausgesetzt waren, der entscheidende Grund gewesen sein, warum sich die DIPFP-Analytiker in ihren Publikationen selten und in den 1940er Jahren noch seltener auf die Analyse bezogen. Ein zweiter wesentlicher Punkt war, dass es durch die Emigration und Vertreibung vieler analytischer Autoren und die Auflösung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages im Jahr 1938 immer weniger deutschsprachige psychoanalytische Schriften gab, die hätten besprochen werden können. Bereits seit 1933 litt der Internationale Psychoanalytische Verlag unter großen Verkaufseinbußen. Zum Jahresende 1933 wurde Die Psychoanalytische Bewegung eingestellt, 1937 die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, die »als Begründung den Verlust aller Abonnenten durch die politische Situation in Deutschland angibt. Auch in den Zahlen der zwischen 1933 und 1936 veröffentlichten Bücher spiegeln sich die durch Politik verursachten Absatz- und Produktionsschwierigkeiten: 1933 wurden noch sechs Bücher produziert, was bereits um vieles weniger war als in den Vorjahren, 1934 sank die Zahl auf vier und 1935 auf nur mehr zwei« (Marinelli 2009, S. 83).
1938/39 wurden, Hitlers Vorgabe folgend, »mit den Phrasen im deutschen Kulturleben aufzuräumen«, die belletristischen Verlage und Zeitschriften stärker kontrolliert, mit Kriegsbeginn die Zensurbestimmungen insgesamt »immer enger gehandhabt«. Hinzu kamen die kriegsbedingte Abkapselung gegenüber dem »feindlichen« Ausland und den von dort stammenden Schriften, schließlich die Papierkontingentierung und die Verringerung von Druckkapazitäten durch die zunehmend erfolgreichen Bombenangriffe der Alliierten (Schäfer 1983, S. 25; Barbian 2010b, S. 371–383). So wurden in der Nacht zum 4.12.1943 beim Angriff auf Leipzig, das Zentrum des deutschen Buchhandels, »516 Verlage, Grosso-, Kommissions- und Sortimentsbuchhandlungen, Leihbüchereien und Reisebuchhandlungen mit schätzungsweise 50 Millionen eingelagerten Büchern vernichtet. Hinzu kamen noch die Zerstörungen der Graphischen Betriebe, der Druckereien, Schriftgießereien und Buchbindereien« (ebd., S. 381). Gesprächen Vorstellungen über Friedensverhandlungen mit Großbritannien entwickelt hatte (Dahm 2004, S. 197).
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4 Einordnungen und Erklärungen
Könnte auch die am 26.9.1942 erfolgte Verhaftung des Analytikers John Rittmeister wegen Beteiligung am Widerstand zur nachlassenden Erwähnung analytischer Schriften beigetragen haben? Jedenfalls stieg die Furcht der DIPFPAnalytiker vor Repressalien verständlicherweise erneut an. Man sah sich auch gezwungen, die analytische »Arbeitsgruppe A« umzubenennen in »Arbeitskreis für Kasuistik und Psychotherapie« (Lockot 2002, S. 211). Doch wussten die zuständigen staatlichen Stellen – und akzeptierten damit de facto –, dass die erneute Umbenennung der analytischen Arbeitsgruppe weder personelle noch wesentliche inhaltliche Veränderungen beinhaltete. Rittmeisters Inhaftierung oder Hinrichtung lösten auch keinerlei staatliche oder sonstige Maßnahmen gegen die DIPFP-Analytiker aus (Cocks 1997, S. 334). Auch wurde ja noch 1943, im Jahr dieser Hinrichtung, dem DIPFP mitsamt den dort arbeitenden Analytikern »Kriegswichtigkeit« zugesprochen. Insofern scheint mir wahrscheinlich, dass für die sich verringernden Analyse-Rezensionen und -Erwähnungen in den Zentralblättern eher die zuvor genannten Faktoren ausschlaggebend waren. Vielleicht allerdings hielten sich manche, die zuvor die Psychoanalyse verteidigt hatten, in Folge von Rittmeisters Verhaftung doch wieder mehr zurück, vielleicht bekamen Psychoanalysegegner wieder Aufwind. Max de Crinis, der Direktor der Psychiatrischen Klinik der Charité, teilte am 3.4.1944 dem »Beauftragten für medizinische Wissenschaft und Forschung« beim »Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen«, Professor Paul Rostock, bezüglich des DIPFP »vertraulich« mit, »daß vor einem Jahr einer der eifrigsten Mitarbeiter (Dr. Rittmeister) wegen Spionage hingerichtet wurde«, und setzte dann fort: »Leider hat das Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie die jüdische Richtung der Freundschen [sic] Psychoanalyse nicht aufgegeben, und die deutsche Psychiatrie wird in der nächsten Zeit wohl auch genötigt sein, gegen diese Entartungserscheinungen, die ein nationales Mäntelchen tragen, vorzugehen« (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 172).
Unklar bleibt jedoch, ob auch de Crinis hier – analog zum Beispiel zur Argumentation im Völkischen Beobachter vom 14.5.1939 – zwischen einer für ihn unakzeptablen jüdischen und einer ihm annehmbar oder gar wichtig erscheinenden nicht-jüdischen Ausrichtung der Psychoanalyse unterscheiden wollte. Immerhin hatte er, wie erwähnt, 1940 die Dissertation des Psychoanalytikers Wilhelm Bitter betreut, die reichlich psychoanalytisches Vokabular und Verweise auf analytische Literatur enthielt (Lockot 2007, S. 21).
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4.15 Das lange Schweigen der Analytiker
4.15
Das lange Schweigen der Analytiker
Es bleibt die Frage nach den Gründen für die anhaltende Vermeidung des Themas Faschismus in den internationalen psychoanalytischen Publikationen. Erinnern wir uns: Erst ab 1940 setzte bei einigen, vor allem in den USA lebenden Analytikern die Tendenz zu einer offeneren Auseinandersetzung mit dem NS-Regime ein. Warum zu diesem Zeitpunkt, warum erst zu diesem Zeitpunkt? Was die DIPFP-Analytiker betraf, so hätten sie zwar versuchen können, außerhalb Deutschlands erscheinenden Medien unter Pseudonymen NS-kritische Beiträge anzubieten. In psychoanalytischen Blättern hätten sie aber wohl keine Chance gehabt, mit einem solchen Beitrag abgedruckt zu werden. Und selbst bei Verwendung eines Pseudonyms hätten sie sich damit in Lebensgefahr gebracht. Es ist allerdings unklar, wer von ihnen zusätzlich zu John Rittmeister dem NSSystem kritisch genug gegenüberstand, um überhaupt interessiert daran gewesen zu sein, solche Beiträge zu verfassen. Die aus Deutschland emigrierten Analytiker und Analytikerinnen waren dagegen in einer anderen Situation. Schon dass sie zur Emigration gezwungen waren, musste sie zu Kritikern des Dritten Reiches machen. Sie hatten zwar, wie Michael Schröter schreibt, »Kraft der internationalen Organisation der FreudSchule relativ günstige Berufschancen im Ausland« und konnten »auf Unterstützung von dort zählen« (allerdings einmal mehr mit der Ausnahme Wilhelm Reich); sie waren damit »unter den damaligen Emigranten aus Deutschland privilegiert« (Schröter 2009, S. 1089). Aber auch für sie galt: Wer in Europa nach einem sicheren Exilort suchte, musste unter Umständen begründete Angst haben, durch etwaige politische Aktivitäten in seinem Gastland negativ aufzufallen, Verdienstmöglichkeiten einzubüßen und schlimmstenfalls ausgewiesen zu werden. Oft waren die Alltagsprobleme drückend und somit auch kreativitätshemmend. Yela Löwenfeld, die Frau von Heinrich Löwenfeld, berichtet über das Prager Exil: »[U]nsere Existenz war trostlos. Gehaßt von den Tschechen als Deutsche, unangenehm begrüßt von den jüdischen Bürgern, daß wir Schwarzraben kommen, arm und arbeitslos […]. We felt unwanted and at the same time helpless« (zitiert in Mueller 2000, S. 99).949
949 Um hier nur ein weiteres Beispiel zu nennen: George Gerö berichtet in The handwriting on the wall von seinen schweren Jahren im skandinavischen und später im US-amerikanischen Exil (Gerö 1994, insbesondere S. 210–219, mehr zum Schicksal emigrierter Analytiker insbesondere in Hermanns 1992–2012).
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4 Einordnungen und Erklärungen
Die deutsche Regierung bemühte sich zudem, mit anderen europäischen Ländern Absprachen zu treffen, die es dort lebenden Emigranten erschweren sollten, NS-kritische Publikationen zu vertreiben. Das gelang ihr 1937 mit Österreich und der Tschechoslowakei, 1938 mit Jugoslawien und Polen (Longerich 2010, S. 364ff.). Dass Emigranten befürchteten, durch NS-Kritik Verwandte zu gefährden, die im deutschen Einflussgebiet verblieben waren und der dort praktizierten »Sippenhaft« ausgesetzt waren, ist gut nachvollziehbar. Bezüglich Erich Fromm wies mich Rainer Funk darauf hin, dass dieser seine Mutter erst nach den Pogromen der »Reichskristallnacht« im November 1938 dazu bewegen konnte, sich um Ausreise zu bemühen – was ihr im März oder April 1939 dann endlich glückte.950 Für die deutschen, ab 1938 auch für die österreichischen Emigranten war außerdem der lange Arm des NS-Staatsapparates bedrohlich. Wie erwähnt, konnte nach Paragraf zwei des am 14.7.1933 verabschiedeten »Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit« ein »Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt«, zur Ausbürgerung einschließlich der schon beschriebenen »Nebenstrafen« führen, wovon letztlich mehr als 39.000 deutsche Bürgerinnen und Bürger betroffen waren. Wer speziell in die USA emigriert war und dort »linke« antifaschistische Äußerungen machte, lief Gefahr, vom FBI, das »Linke« und »Rechte« zum Feindbild »Communazis« verschmolz (Stephan 2007, S. 15–35), observiert und verfolgt zu werden (vgl. dazu Bennett 2010a). Was der Historiker Peter Schwarz bezüglich österreichischer Exilorganisationen in den USA feststellt, dürfte zudem auch für deutsche Emigranten gegolten haben: Sie »litten sowohl unter der mangelnden Unterstützung der teilweise mit deutschnationalen Ideen sympathisierenden ›Altimmigranten‹ als auch unter der politischen Enthaltsamkeit jüdischer Emigranten, die durch ein riskantes, politisches Engagement ihre Einbürgerung bzw. Aufenthaltsgenehmigung gefährdet sahen« (Schwarz 2008, S. 522).
Wesentlich dürfte auch gewesen sein, dass es zumindest bis 1939 noch recht intakte Beziehungen zwischen NS-Deutschland und den USA gab, wozu ein teilweise sehr lebhafter Kulturaustauch gehörte (Schäfer 1983, S. 161–177). 950 Zahlreiche andere Angehörige der Verwandtschaft Fromms schafften dies nicht mehr und kamen ums Leben (persönliche Mitteilung Rainer Funks vom 21.5.2012, vgl. auch Funk 2009).
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4.15 Das lange Schweigen der Analytiker
Nicht nur hatte die NSDAP in ihren Anfängen von den antisemitischen Ideen und wohl auch vom Geld des US-Magnaten Henry Ford profitiert (Reuth 2009, S. 221–232). Auch später hielten einflussreiche Personen und US-Kreise Hitler, insbesondere wegen dessen Antisowjetismus, noch lange für förderungswürdig (Pauwels 2001, S. 42–49). Die »hitlerfreundliche Stimmung der Westmächte erlosch erst, als das [NS-]System ihre wirtschaftlichen und politischen Positionen militärisch bedrohte« (Schäfer 1982, S. 163). Und davon konnte, was die USA betraf, frühestens 1939 die Rede sein. Am 28.4.1939 hatte Hitler in einer Rede erstmals versucht, US-Präsident Roosevelt öffentlich lächerlich zu machen (Kershaw 1998, Bd. 2, S. 254). Im September 1939 folgte dem deutschen Überfall auf Polen der Kriegseintritt Großbritanniens, dem die USA ab 1940 in großem Umfang Waffen lieferten. Im Sommer 1941 kam es zu ersten militärischen Konfrontationen mit den USA, im Dezember desselben Jahres folgten die wechselseitigen Kriegserklärungen; die militärischen Auseinandersetzungen entwickelten sich nun tatsächlich zum Weltkrieg. Große Teile der Weltöffentlichkeit dürften Hitler jetzt erstmals als eine reale Gefahr wahrgenommen haben, sodass auch das Interesse an Informationen und Publikationen über den Faschismus stieg. Zu erinnern ist hier auch an eine Überlegung des Hitler-Biografen Joachim Fest, der meinte: »Wenn Hitler 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen […] zu nennen.« Sebastian Haffner zitiert das zustimmend in seinen Anmerkungen zu Hitler, belegt allerdings, dass eine solche Bewertung Hitlers eine Fehleinschätzung gewesen wäre (Haffner 1992, S. 43ff.). Dennoch unterstreicht dies, dass Hitler vor Beginn des Zweiten Weltkrieges auch international keineswegs durchweg negativ wahrgenommen wurde. In vielen Einzelfällen dürften die hier aufgeführten äußeren Bedingungen gut nachvollziehbar machen, warum insbesondere emigrierte Psychoanalytiker sich nicht in eindeutiger Weise in der Öffentlichkeit gegen den Faschismus wandten. Warum aber das Schweigen der Psychoanalytiker insgesamt so anhaltend war, erklären sie nicht. Zunächst bestand die Gruppe der Psychoanalytiker ja niemals ausschließlich aus Emigranten. Erst ab 1938 waren zunehmend auch außerhalb Deutschlands lebende Analytiker gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Zu dieser Zeit betrug die Zahl der Mitglieder der psychoanalytischen Organisationen weltweit 560 (Diem-Wille 2005, S. 70). Viele von ihnen lebten in den USA (hier waren es 190 – ebd.) oder in Großbritannien, der Schweiz und in anderen Ländern, in denen es, zumindest für Nichtemigranten, keine grundsätzlichen Hindernisse für das Publizieren von 515
4 Einordnungen und Erklärungen
NS-kritischen Auffassungen gegeben haben dürfte. Einem Teil der in die USA Emigrierten verschaffte die Einbürgerung, die hier im Durchschnitt nach sechs Jahren erfolgte,951 noch in den 1930er Jahren größere Sicherheit. Auch hatten nicht alle von ihnen Verwandte in Europa, die durch öffentliches Auftreten gegen den Faschismus hätten gefährdet werden können. Die Kommunistenphobie des FBI bedeutete auch nicht, dass man eingeschritten wäre, wenn in einer psychoanalytischen Fachpublikation eine etwas gründlichere Auseinandersetzung mit dem NS-System erfolgt wäre. Zudem hätte man eine solche Auseinandersetzung ja gar nicht zwangsläufig von einer »linken« Position aus führen müssen – das Dritte Reich ließ sich von sehr unterschiedlichen Standpunkten aus kritisieren, was bürgerlich-demokratische, national-konservative, monarchistisch, pazifistisch oder christlich orientierte NSGegner auch vielfach taten (Krohn et al. 2008, S. 469–678; Mann 1975).952 Um gegen prodeutsche Propaganda anzugehen und »der internationalen Öffentlichkeit ein besseres Bild von der deutschen Situation zu vermitteln und sie um Unterstützung zu bitten, verfassten Exilanten Zeitungsartikel und Flugschriften, veranstalteten Informationsveranstaltungen und Vorlesungsreihen und organisierten Ausstellungen […]. Neben der Gründung von politischen Gruppen spielte die Etablierung von Zeitschriften und Zeitungen [sowie das Verfassen von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Drehbüchern usw. – A.P.] eine wichtige Rolle in der politischen, sozialen und kulturpolitischen Arbeit der Exilanten« (Unger 2009, S. 89f.; vgl. auch Huder 1983, S. 8).
Für das über Mitglieder »linker« Parteien hinausgehende Spektrum solchen Engagements stehen Namen wie die der Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler und Künstler Hannah Ahrendt, Bertolt Brecht, Albert Einstein, Hanns Eisler, Ernst Fraenkel, Oskar Maria Graf, Alfred Kantorowicz, Walter Janka, Fritz Lang, Erika, Klaus, Heinrich und Thomas Mann, Anna Seghers, Franz Werfel und Stefan Zweig (ebd., S. 28f., 60f., 91–107). Auch Teile jener Berufsgruppe, der ja die meisten Analytiker angehörten, der Ärzteschaft, bewiesen in ihrem Internationalen Ärztlichen Bulletin, dass solche Auseinandersetzungen möglich waren.
951 So berichtet Otto Fenichel (in Mühlleitner 2008, S. 383; vgl. dazu Peters 2008). 952 Hier werden unter der Überschrift »Politisches Exil und Widerstand aus dem Exil« in Einzelbeiträgen unter anderem dargestellt: Sozialdemokraten, Kommunisten, linke Kleingruppen, Gewerkschafter, Christen und Konservative, Liberale, Pazifisten, die pädagogischpolitische Emigration und die »Volksfront für Deutschland«. Zum politischen Engagement speziell der österreichischen Exilanten siehe Krohn et al. (2008, S. 519–543).
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4.15 Das lange Schweigen der Analytiker
Warum aber beteiligten sich die Analytiker so gut wie nicht daran? Ich meine, dies dürfte zum einen Ausdruck der von Freud und IPV durchgesetzten Appeasement-Politik gegenüber den »rechten« Regimes gewesen sein. Dass Wilhelm Reich 1934 auf dem Luzerner Kongress nicht zuletzt deshalb seine IPV-Mitgliedschaft aberkannt wurde, weil er dem zuwider gehandelt hatte, muss zusätzlich für eine entsprechende Disziplinierung der Analytiker gesorgt haben. Aber auch andere Aspekte dürften hier hineingespielt haben. Freud hatte die Psychoanalyse ja zunehmend als eine objektive »Forschungsmethode, ein parteiloses Instrument, wie etwa die Infinitesimalrechnung« (Freud 1927c, S. 360),953 verstanden. Je mehr diese Auslegung übernommen wurde – und viele der um Freud organisierten Analytiker übernahmen offenbar ohnehin recht kritiklos dessen Auffassungen (vgl. Kurzweil 1995, S. 58–99) –, desto unwesentlicher konnte der Blick auf politische Rahmenbedingungen erscheinen. Hätten die Analytiker gar versucht, den Faschismus detaillierter aus psychosozialen Zusammenhängen abzuleiten, wären sie unweigerlich in inhaltlichen Widerspruch zu Freuds Todestriebthese geraten. Denn mit dieser These – so zumindest der Anspruch – waren ja die tiefsten Wurzeln von Destruktivität, also auch von Faschismus, bereits benannt. Dass dies so gesehen wurde, illustriert auch das Gespräch, dass ich 1994 mit Ernst Federn führte. Ich hatte ihn gefragt, welche Erklärung er für die Brutalität hatte, der er unter anderem in deutschen KZs ausgesetzt war, und ob er den Todestrieb dafür verantwortlich gemacht habe. Er antwortete: »Ja, da hat man sich schon gesagt: Der Freud hat Recht. Also, so gesehen, war ich nicht überrascht« (Peglau 2000c, S. 42; Peglau 2014d). Vielleicht lag es an einer ähnlichen Haltung, dass selbst ein so politischer Kopf wie Ernst Simmel 1937 zu jenen wenig erhellenden Aussagen kam, der Erfolg der Nazibewegung beruhe auf Überwältigung des Ichs durch unbewusste Instinkte und die Bücherverbrennung sei im Wesentlichen eine, keineswegs überraschende, Manifestation des Todestriebes in einer Kollektivseele. Freuds späten Charakterisierungen von »objektiver« Psychoanalyse und dem bösartigen Trieb im Menschen zu folgen, dürfte also gleichfalls ein enormes Hindernis für eine konstruktive Beschäftigung mit dem Phänomen Faschismus gewesen sein.954 Nimmt man die sicherlich nicht nur bei Reich, sondern auch vielen anderen Analytikern vorhandenen autoritären Abhängigkeitsgefühle gegenüber Freud
953 Spezielle Methode innerhalb der Differential- und Integralrechnung. 954 Zur Einordnung der Todestriebhypothese in Freuds Werk siehe Brumlik (2006, S. 147–194), zu biologischen, philosophischen und therapietheoretischen Hintergründen der Entstehung siehe Dahmer (2009n). Freud hat diese Hypothese sicher nicht bewusst entwickelt, um die Psychoanalyse damit salonfähiger und unpolitischer zu machen, aber genau dazu ließ sie sich gut verwenden. Und Freud hatte offensichtlich nichts dagegen.
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4 Einordnungen und Erklärungen
hinzu (vgl. Cremerius 1995, S. 24–28; Fromm 1989f., S. 52–57), lässt sich mutmaßen: Für die 1940 einsetzende Tendenz zu offenerer Konfrontation mit dem NS-Regime könnte, neben dem wachsenden Weltkriegsengagement der USA, auch Freuds Tod im September 1939 eine Rolle gespielt haben. Wer den Wunsch hatte, sich offensiver in die Politik zu mischen, musste nun nicht mehr den realen oder fantasierten Zorn des Übervaters fürchten. Allerdings war Freud zunehmend weniger in der Lage gewesen, die immer umfangreicher und internationaler werdende psychoanalytische Organisation seinen Wünschen entsprechend zu beeinflussen. Das hatte schon vor 1933 seine Niederlage beim Versuch, die »Laienanalyse«955 durchzusetzen, gezeigt. IPV-Präsident Ernest Jones agierte sicher auch nicht als bloßes Sprachrohr Freuds, wenn er im August 1934 auf dem Luzerner IPV-Kongress eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem NS-Regime ablehnte und sich damit von Reich abgrenzte. Es ist sicher auch kaum Freud, der ja krankheitsbedingt längst nicht mehr bei IPV-Kongressen anwesend war, anzulasten, wenn Otto Fenichel meinte, die »Linksfreudianer« nahezu konspirativ auf den 1936er Marienbader Kongress vorbereiten zu müssen: »[W]ir sollten auf diesem Kongress in keiner Weise ›politisch‹ auftreten«, schrieb er und schlug ein Vorabtreffen »über die prinzipiellen Fragen unserer Arbeit« an einem Ort vor, »der in der Nähe von Marienbad, aber doch weit genug davon entfernt liegt, um nicht andere Analytiker zu treffen« (zitiert in Mueller 2000, S. 116). Thomas Mueller kommentiert: »Dies alles deutet darauf hin, wie klar sich Otto Fenichel darüber war, daß er bezüglich seiner politischen Haltung und seiner Auffassung von gesellschaftsorientierter, politischer Psychoanalyse viele Feinde hatte, auch und gerade im Kreis der etablierten IPV-Mitglieder« (ebd.). Der »linke« Psychoanalytiker György (später George) Gerö hatte das in einem Brief an Fenichel am 30.8.1935 noch weit drastischer bewertet: »Mir scheint, daß die wichtigste Aufgabe zunächst darin besteht, jenen Leuten in der IPV, die nicht völlig verblödet sind, jene systematische Verdrängung der Realität, jene imbezille Verwechslung des Weltgeschehens mit Behandlungsstunden bewusst zu machen, die die meisten Analytiker treiben« (zitiert ebd., S. 115).
Nicht nur Freud, sondern auch die IPV-Führung und zahlreiche IPV-Mitglieder – Gerö spricht gar von den »meisten« – setzten also klar auf ein Image politischer Neutralität. 955 Als Möglichkeit, die psychoanalytische Therapie auch durch Nichtmediziner offiziell ausüben zu lassen.
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4.15 Das lange Schweigen der Analytiker
Aber heißt das, dass sich unter den Analytikern keine politisch denkenden und handelnden Personen befanden? Zum einen war natürlich auch in der NS-Zeit vieles von Analytikern Geschriebene politisch brisant, bei näherem Hinsehen hatte manches sicher auch dann Bezüge zur aktuellen Situation in Deutschland bzw. Europa, wenn diese Situation nicht konkret benannt wurde. Auch solche allgemeiner gehaltenen Diskussionen – über das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Führern und Geführten, realitätsverzerrende Massensuggestion usw. – konnten für das Verständnis des aktuellen Zeitgeschehens wertvoll sein, jedenfalls dann, wenn sie nicht auf dem Todestrieb als letzter Erklärung beharrten.956 Dafür, warum manch einer, der sich entschloss, dass NS-System in seinen Schriften anzugreifen, dies nicht ausdrücklich tat, gibt auch der sich lange als Individualpsychologe verstehende Manès Sperber eine mögliche Begründung. 1937 verfasste er, schon im französischen Exil, Die Analyse der Tyrannis, die 1939 veröffentlicht wurde (Sperber 1975, S. 19). Dort versuchte Sperber, wie er später schrieb, »das totalitäre Modell […] herauszuarbeiten, also nicht namentlich das Hitler- oder das Stalinregime darzustellen, sondern nur das zur Geltung zu bringen, was beiden gemeinsam war. Neben den naheliegenden sachlichen Gründen hatte ich auch einen taktischen Grund, zumindest scheinbar im Abstrakten zu bleiben, das heißt kein einziges Mal das Dritte Reich oder die Sowjetunion […] namentlich zu bezeichnen […]. Griff ich die Nazis nicht namentlich an […], so gefährdete es den deutschen Leser viel weniger, selbst wenn man den Essay bei ihm entdeckte« (ebd., S. 18).957 956 Daniel Pick verweist darauf, dass auch Anna Freuds 1937 veröffentlichter Terminus »Identifikation mit dem Aggressor« – als psychischer Abwehrmechanismus – für das Verständnis des Faschismus nützlich war (Pick 2009, S. 140). Natürlich ließ sich alles, was menschliches Verhalten verstehbarer machte, auch dafür nutzen, Faschisten und deren Anhänger zu verstehen oder zu entlarven. Das heißt aber nicht – wie Pick nahezulegen scheint –, dass hier absichtsvoll zum oder gar gegen den Faschismus Stellung genommen werden sollte. Dies lag in jener Zeit nicht im Interesse der IPV-Leitung, zu der auch Anna Freud gehörte. Ein Beispiel, wie psychoanalytische Begriffe, in diesem Fall »kleinianische«, zum »Zu«- statt zum »Aufdecken« der Realität benutzt werden können, beschreiben Elisabeth Roudinesco und Michel Plon: Brasilianische Analytiker stellten während der Militärdiktatur die »politische Unterdrückung als eine Geschichte des bösen Objektes oder der projektiven Identifizierung« dar (Roudinesco/Plon 2004, S. 132). Daniel Pick löst auch sonst sein Versprechen, eine intensive Beteiligung von Analytikern am Kampf gegen NS-Deutschland nachzuweisen, nicht ein, kündigt jedoch die weitere Bearbeitung dieses Themas an (Pick 2009, S. 137). Ich danke Knuth Müller dafür, dass er mich auf diesen Artikel aufmerksam machte. 957 Auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« tauchte Sperber nicht auf, die Analyse der Tyrannis wurde aber von den Nationalsozialisten nach deren Einmarsch
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4 Einordnungen und Erklärungen
Allerdings beurteilte er dieses Verwenden von »Deckworten« im Nachhinein als »naiv erscheinenden Tarnversuch«, dem »totale Erfolglosigkeit« beschieden gewesen sei (Sperber 1987, S. 13). Der zweite Grund, warum es falsch wäre, den damaligen Psychoanalytikern rundweg politisches Denken und Engagement abzusprechen, ist folgender: Viele engagierten sich durchaus – und mit ihrem Fachwissen – gegen den Faschismus. Nur eben: nicht öffentlich.
4.16
Unpolitische Psychoanalyse?
4.16.1 Psychoanalytiker und US-Geheimdienste Die Recherchen des Psychologen Knuth Müller, auf die ich mich im Folgenden durchweg stütze, haben eine umfangreiche Kooperation zwischen Psychoanalytikern und US-Geheimdiensten ergeben.958 Da die von ihm ausgewerteten – übrigens im Wesentlichen öffentlich zugänglichen – Dokumente teils stark zensiert in Frankreich eingestampft (Patka/Stančić 2005, S. 186). Auch Alfred Adler hat übrigens »die Nazis in Deutschland oder die Austrofaschisten in Österreich nicht konkret« benannt in seinen Schriften (Bruder-Bezzel 2009, S. 17). Und auch bei der Individualpsychologie empfinde ich das als Widerspruch zu deren aufklärerischen Anspruch, den Adler beispielsweise 1926 so formuliert hatte: »So rückt die Individualpsychologie in die Reihe oder an die Stelle der ganz großen Bewegungen, die den Fortschritt der Menschheit dadurch zu fördern trachten, daß sie der Allgemeinheit dienen und die Hindernisse auf diesem Weg deutlich hervorzuheben suchen« (zitiert in Rattner 2000, S. 132). 958 Eine der wenigen, die bereits in einer psychoanalysehistorischen Arbeit auf diese Zusammenarbeit hingewiesen hat, ist Regine Lockot (Lockot 2007, S. 15–18). Diese Kooperation beschränkte sich nicht auf Psychoanalytiker: »Die Liste bekannter Anthropologen, Soziologen, Biologen, Psychologen, Psychiater und anderer Vertreter akademischer und nichtakademischer Herkunft, die sich für eine Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Geheimdienst erwärmen ließen, ist lang. So arbeiteten zum Beispiel Theodor Adorno, Gregory Bateson, Ruth Benedict, Felix Gilbert, John Herz, Herta Herzog, Max Horkheimer, Morris Jannowitz, Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse, Paul Massing, Margaret Mead, Robert Merton, Barrington Moore, Franz Neumann, Talcott Parsons, Edward Shils, Hans Speier, Paul Sweezy, Carl Zuckmayer« zur damaligen Zeit für US-Geheimdienste. Und: »Schließlich diente sich auch Allen Dulles’ persönlicher Agent Nr. 488, C.G. Jung, dem [Geheimdienst] OSS an und lieferte seine ganz eigenen kriegsrelevanten Einschätzungen – auch in Bezug auf Hitlers Psychobiografie.« Aber auch Gesprächstherapie-»Vater« Carl Rogers engagierte sich in diesen Zusammenhängen (K. Müller 2012b, S. 44f.). Ausführlich zu alledem: Müller (2012c).
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4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
und Textpassagen und Namen oftmals geschwärzt wurden (K. Müller 2012b, S. 71), ist nicht auszuschließen, dass weit mehr Analytiker beteiligt waren. Die Resultate dieser um 1940 beginnenden Kooperation drangen in der Regel entweder nie oder erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit.959 Zwischen 1940 und 1943 verfasste der Analytiker Henry Murray mehrere Geheimdienststudien mit »Persönlichkeitsanalysen« Adolf Hitlers. Erik Erikson lieferte interne Beiträge über die »Nazi-Mentalität« und die »Durchführbarkeit psychologischer Observationen in Internierungslagern« (beide 1940), »Hitlers Rede vom 30. September 1942«, die »Vernehmung deutscher Kriegsgefangener« (1943), »Anti-Nazi Propaganda« (1945) oder »U-Boot-Psychologie«. Ernst Kris erstellte zwischen 1941 und 1944 gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern eine Studie zur NS-Rundfunkpropaganda (ebd., S. 51–53).960 Ernst Simmel entwickelte das Konzept einer »propagandistischen ›Kurzwellenradiopsychotherapie‹ für das deutsche Volk«, die er so erläuterte: »Das wesentliche Ziel psychologischer Frühattacken ist es, panikartige Zustände zu evozieren, die eine effektive Abwehr lähmen. […] In Radiosendungen eingeschmuggelt, beeinflussen sie den mentalen Zustand des Zuhörers umso stärker, je weniger er sich dieser Sendungen bewusst ist« (ebd., S. 50; Übers. Knuth Müller). Für psychoanalytische Zuarbeiten entstand 1941 sogar eine eigene, allerdings kurzlebige Geheimdienstabteilung unter der Leitung des Analytikers961 Walter C. Langer, die zunächst versuchte, der weitverbreiteten Skepsis gegenüber Kriegseinsätzen entgegenzuwirken. Als sogenanntem »psychoanalytical advisor« gelang es Langer bald, »für dieses Projekt eine Reihe bedeutender Kollegen zu gewinnen: Franz G. Alexander, Siegfried Bernfeld, Otto Fenichel, Thomas M. French, M. Ralph Kaufman, Lawrence S. Kubie, William C. Menninger sowie den schon erwähnten Murray« (ebd., S. 46f.).
959 Eine Ausnahme bildet die bereits in Europa begonnene Arbeit Erik Erikson, die er 1940 unter dem Titel On Nazi Mentality beim US-Geheimdienst einreichte. 1942 veröffentlichte er sie dann als Hitlers Imagery and German Youth (so Friedmann, S. 166–176 – laut einer persönlichen Information von Knuth Müller am 19.6.2011). Walter Langers Hitler-Studie wurde erst 1973 als The mind of Adolf Hitler publiziert. 960 Kris konnte hier auf bereits in Großbritannien von ihm erstellten Analysen über NS-Rundfunkpropaganda aufbauen, die sich auch in dem erwähnten Artikel in der American Imago von 1941 niederschlugen. 961 Knuth Müller weist darauf hin, dass Langer, ebenso wie der später aufgeführte Bingham Dai, kein Mitglied des Amerikanischen oder des Internationalen Psychoanalytikerverbandes war, aber analytische Ausbildungen durchlaufen hatte und in einschlägigen Fachpublikationen auch als Psychoanalytiker bezeichnet wird.
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4 Einordnungen und Erklärungen
Wie umfangreich die Zusammenarbeit zwischen Analytikern und US-Geheimdienst war, zeigt auch das Folgende: »Am 6. und 20. Oktober 1941 verfasste Langer zwei Memoranden […], aus denen hervorgeht, dass zu dieser Zeit rund 100 Mitglieder der APA an psychoanalytischen [Geheimdienst]-Projekten mitgearbeitet hätten. Ausgehend vom Stand der APAMitgliederanzahl im Jahr 1941 von insgesamt 236 (inklusive aller affiliierten und Ehrenmitglieder), waren demnach mehr als 42% aller APA-Mitglieder Mitarbeiter des US-amerikanischen Geheimdienstes – bei Ausschluss der außerordentlichen und Ehrenmitglieder liegt der Prozentsatz bei rund 50%. Darüber hinaus berichtet Langer im Memo vom 20. Oktober, dass sich die APA als Organisation geschlossen zur geheimdienstlichen Mitarbeit bereit erklärt habe. Somit wurde die APA als Gesamtorganisation integraler Bestandteil geheimdienstlicher Aktivitäten« (K. Müller 2012a, o.S.).
Allerdings, so Knuth Müller weiter, scheint deren Mitarbeit »bis auf wenige Ausnahmen […] keinen wesentlichen Einfluss auf Entscheidungen [der Geheimdienste] und auf daraus resultierende, kriegsrelevante Regierungsentscheidungen ausgeübt zu haben« (ebd.). Analytiker waren dann auch zugegen bei einer »geheimdienstlich organisierten und finanzierten Konferenzreihe über ›Germany after the War‹ […], welche zwischen April und Juni 1944 an der Columbia University in New York City abgehalten wurde. […] Teilnehmer dieser […] Konferenzreihe waren neben Erikson unter anderem die Psychoanalytiker Franz G. Alexander, Sydney G. Biddle, Carl Binger, Gustav Bychowsky, Thomas M. French, Erich Fromm, Heinz Hartmann, Ives Hendrick, Edith Jackson, Marion E. Kenworthy, Robert P. Knight, Ernst Kris, Marianne Kris, Lawrence S. Kubie, Nolan D.C. Lewis, Bertram D. Lewin, Adolf Meyer, John A.P. Millet und Robert Waelder. […] Bei dieser Konferenz standen zum Beispiel ›Fragen der deutschen Charakterstruktur und Möglichkeiten ihrer Veränderung sowie […] Perspektiven der Politik im besetzten Deutschland im Zusammenhang mit politischen Stimmungen in den USA‹ im Vordergrund« (K. Müller 2012b, S. 52f.).
Die hier partizipierenden Emigranten handelten, so urteilt Knuth Müller, »aus innerer Notwendigkeit und/oder Überzeugung heraus, ihren ganz eigenen Beitrag zum Kampf gegen den deutschen Faschismus« und später auch gegen dessen japanischen Bündnisgenossen zu leisten, sowie »aus Dankbarkeit gegenüber ihrem Aufnahmeland« (ebd., S. 46).
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4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
Zwar werfen Zuarbeiten für Geheimdienste wohl immer schwierige moralische Fragen auf. Für die Zeit von 1924 bis 1972 wird dies in den USA noch dadurch unterstrichen, dass an der Spitze des FBI der ausgewiesene Antidemokrat und fanatische Kommunistenhasser J. Edgar Hoover stand. Dennoch ist das beschriebene Engagement der Analytiker gut nachvollziehbar, als Beteiligung an den antifaschistischen Bestrebungen auch zu würdigen. Auf das, was Knuth Müller hier herausgearbeitet hat, könnte die internationale Psychoanalyse also, meine ich, vor allem stolz sein. Könnte – denn in deren offizieller Geschichtsschreibung kommt es bislang gar nicht vor (vgl. z.B. Loewenberg/Thompson 2011b). Allerdings ist die Geschichte dieser Kooperation damit nicht vollständig. Im Mai 1941 war der Analytiker John Millet zum Vorsitzenden des neu begründeten »Committee on Morale« der APA ernannt worden, zu dem zunächst auch A. A. Brill, M. Ralph Kaufman, David M. Levy und William C. Menninger gehörten. Am 25.5.1941 wurde Millet von diesem Komitee beauftragt, einen Fragebogen für alle 472 amtlichen, Ehren- und außerordentlichen APA-Mitglieder zu entwerfen, um zu erfahren, ob in deren Praxen »Material aus erster Hand vorhanden ist, das Auskunft über die Auflösung faschistischer und kommunistischer Einstellungen während einer Analyse geben […] könnte« (K. Müller 2016, o. S.). Dieses Vorhaben kündigte das Komitee auch in der Zeitschrift Psychoanalytic Review an. Eine der vorgegebenen Fragen lautete: »Sind Sie im Besitz wichtigen analytischen oder historischen Materials, das sich mit dem Vorhandensein faschistischer, kommunistischer oder ähnlicher Einstellungen bei Patienten in Ihrer Praxis oder in der Ihrer Kollegen beschäftigt?« Um die Übersendung dieses Materials wurde gebeten (ebd.). In einem zweiten, im Oktober 1941 an denselben Personenkreis verschickten Fragebogen wurde diese Frage so variiert: »Können Sie dem Komitee analytisches Material oder Material aus Fallgeschichten zur Verfügung stellen, das sich mit dem Problem revolutionärer Einstellungen oder Unzufriedenheit mit dem sozialen und politischen Status Quo beschäftigt?« (ebd).
Das war verbunden mit einem eindeutigen Hinweis auf die diesbezüglich beabsichtigte Kooperation der APA mit dem ersten zentralisierten US-amerikanischen Geheimdienst »Office of the Coordinator of Information«. Knuth Müller fasst zusammen, was sich aus den 268962 zurückgesandten Fragebögen ergibt:
962 Da mehrere Positionen gleichzeitig angekreuzt werden konnten, belief sich die Zahl der abgegebenen Stimmen auf 356.
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4 Einordnungen und Erklärungen
»88 abgegebene Stimmen votierten für eine Sammlung analytisch-klinischen Materials […] und Überstellung der Ergebnisse an den Geheimdienst; 38 Stimmen sprachen sich gegen das Vorhaben aus; 29 ließen die Bereitschaft erkennen, vorhandenes klinisches Material zur Verfügung zu stellen; 159 Stimmen erklärten, kein solches Material zu besitzen, und 42 besaßen keinerlei Bereitschaft zur Datenweitergabe [… D.] h. fast jede dritte Stimme votierte für das Vorhaben […]. Rechnet man nun die Stimmen der grundlegenden Methodengegner mit jenen zusammen, die unabhängig von vorhandenem oder nicht vorhandenem Datenmaterial keinerlei Bereitschaft ausdrückten, dieser Aufforderung nachzukommen, kommt man auf einen Stimmenanteil von rund 23 Prozent.«
Ein Teil der daraufhin beim Moral-Komitee eingehenden Therapieberichte und weiteren Patientendaten wurde unter Federführung von Franz Alexander Anfang 1942 in anonymisierter Form dem geheimdienstlichen »Office of Fact and Figures« zugestellt, das den Erhalt des Datenmaterials »dankend bestätigte«, dem Material aber »momentan nicht die Aufmerksamkeit schenken könne, die es verdiene« (ebd.). Auch weiterhin fanden die Analytiker mit dieser von ihnen selbst initiierten Zuarbeit bei den Geheimdiensten nicht die Resonanz, die sie erhofft hatten – so bilanzierte es auch Karl Menninger auf dem im Mai 1942 stattfindenden APA-Kongress (ebd.). Von führenden US-Analytikern bzw. deren Moral-Komitee wurde also zum einen für gut befunden, patientenbezogene Informationen zum therapeutischen Geschehen an Geheimdienste weiterzugeben; zum anderen wurden kommunistische Haltungen mit faschistischen gleichgesetzt und revolutionäre sowie das US-System kritisch reflektierende Einstellungen gleichermaßen pathologisiert. Beides wurde vom übergroßen Teil der mit der APA verbundenen Therapeuten ohne Protest akzeptiert. Kein Wunder, dass von einer »tendenzlosen« Psychoanalyse auch in den USA dann wohl kaum noch die Rede sein konnte, wie Knuth Müller in Auswertung der zurückgesandten Fragebögen ebenfalls zeigt. Stattdessen fand sich dort mehrfach die klare Zielsetzung der Therapeuten, »die Stärkung der Kriegsmoral voranzutreiben« und den vermeintlich neurotischen Pazifismus in »patriotische Einsatzbereitschaft – in manchen Fällen auch bis hin zum Dienst an der Waffe« umzuwandeln: »Ein ›Ja‹ zum Kriegseinsatz war demnach Kennzeichen eines realitätsbezogenen und damit weniger neurotischen Erlebens« (ebd.). Ab 1942 sollten von den Geheimdiensten zusätzliche Projekte initiiert werden, für die ebenfalls psychologische, wohl auch ärztliche Kompetenz benötigt wurde. Und wieder wurde man – nicht nur, aber auch – bei Psychoanalytikern fündig. Zum einen entwickelte und testete Henry Murray, unterstützt von weiteren Analytikern wie Bingham Dai, David M. Levy und Ausbildungskandidaten wie Alfred Stanton, 524
4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
»Stressinterviews« zur Auswahl künftiger Agenten. Deren Anwendung führte bei manchen Probanden zu »lähmenden […] Angstattacken« und »Ohnmachtsanfällen«. Zudem nahmen US-Geheimdienste, so Knuth Müller, Menschenversuche in Angriff, um ein »Wahrheitsserum« zu finden. Anfang 1943 wurde mit entsprechenden Versuchsreihen begonnen, bei denen unter anderem Meskalin, Barbiturate, Skopolamin, dann Cannabis zum Einsatz kamen. Die Verabreichung dieser Stoffe führte bei den Versuchspersonen teilweise zu heftigen körperlichen Abwehrreaktionen und »starken psychischen Beeinträchtigungen«, mindestens in einem Fall zu einer längeren stationären Behandlung. An der Versuchsplanung und -durchführung wirkte zumindest ein Psychoanalytiker mit: Lawrence Kubie (K. Müller 2012b, S. 54–59). Als es nach Kriegsende nicht mehr gegen den Faschismus, sondern im Zuge des Kalten Krieges nun erst recht gegen den Kommunismus ging, waren erneut Analytiker mit dabei. Ab 1947 wurden illegale und inhumane Menschenversuche mit »Wahrheitsdrogen« wie Meskalin oder LSD durchgeführt, teils »vor oder nach psychochirurgischen Eingriffen«. Die von der »Abteilung experimentelle Psychiatrie« des New York State Psychiatric Institute vorgenommenen, wieder der Geheimhaltung unterliegenden Versuche wurden nun finanziert vom chemischen Korps der US-Armee; mit der CIA bestand eine enge Zusammenarbeit. Die Patienten waren über die wahre Natur dieser Experimente nicht informiert, erhofften sich stattdessen wohl zum Beispiel Heilung von Depressionen. Jetzt engagierten sich hier – manche von ihnen möglicherweise ohne den wahren Charakter der Experimente zu kennen – Analytiker und Ausbildungskandidaten wie James P. Cattell, Lawrence C. Kolb, John A. Cook, Sidney Malitz, Margaret O. Strahl, Robert A. Senescu und Nolan Lewis. Letzterer trug auch zur Vorbereitung dieser Versuche bei, indem er – neben dem Anästhesisten Henry K. Beecher – im Rahmen eines »Spezialauftrages für die US-amerikanische Regierung medizinische NaziExperimente« in deutschen Konzentrationslagern auswertete (ebd., S. 60–64). Am 8. Januar 1953 fiel diesen Versuchen ein Patient zum Opfer: Harold Blauer, ein 42-jähriger Tennisprofi. Die ihm gegen seinen Willen verabreichten, letztlich tödlichen Injektionen hatte er von Cattell bekommen (ebd., S. 68). Kooperationen mit US-Geheimdiensten endeten aber nicht in den 1950er Jahren. Die CIA, so Knuth Müller, »besaß bis in die jüngere Vergangenheit hinein Interesse an psychohistorischen Biographieentwürfen durch Psychoanalytiker. Beispiele dafür sind die beiden CIAPsychoanalytiker Jerold M. Post und Joseph D. Lichtenberg. Post arbeitete 21 Jahre (1965–1986) für die CIA und begründete u. a. das CIA Center for the Analysis of Personality and Political Behavior. Lichtenberg nahm in den frühen 1970er Jahren
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4 Einordnungen und Erklärungen
für die CIA an Studien über Führungspersonen fremder Nationen und mögliche Überläufer teil und arbeitete darüber hinaus als Berater in Personalangelegenheiten für das US-Außenministerium« (ebd., S. 51, Fn 75).
Diverse auch von Psychoanalytikern unterstützte Studien, unter anderem »mit in das Gehirn implantieren Elektroden zur emotionalen und verhaltensorientierten Fernsteuerung des Menschen963 […] fanden schließlich Eingang in ein 1963 erstelltes CIA-Foltermanual namens ›KUBARK Counterintelligence Interrogation Manual‹. KUBARK wurde letztendlich zur Blaupause der jüngsten CIA-Folterungen der Bush- und Obama-Administrationen im Rahmen des sogenannten ›War on Global Terror‹, da es die wissenschaftlich untersuchten Aspekte psychologischer Kernmerkmale zur Brechung der Persönlichkeit eines Menschen systematisch zusammenfasst« (K. Müller 2012a, o.S.).
Neben allen ethischen Problemen, die dem Geschilderten anhaften, bedeutet es auch: Im Verborgenen widmete sich sowohl nach 1933 als auch nach 1945 eine erhebliche Zahl von Analytikern sehr wohl Bestrebungen, zum Wechsel sozialer Bedingungen beizutragen, also dem Ziel, über das Ernest Jones 1934 geurteilt hatte, »daß jeder, der solchen Impulsen nachgibt, im selben Grad als Analytiker verliert«. Jones’ Behauptung, dass »Politik und Wissenschaft sich nicht besser vermischen als Öl und Wasser« (IZP-Korrespondenzblatt 1935/21, S. 113f.), war (auch) damit ad absurdum geführt worden. Aber noch 1949 sollte Jones zu Protokoll geben: »Seit der letzte [psychoanalytische] Kongreß vor elf Jahren stattfand, haben große und furchtbare Ereignisse die Welt erschüttert. […] Natürlich ist die Versuchung groß, neben denjenigen Faktoren, denen unser spezielles Interesse gilt, auch noch sozio-politische Faktoren zu berücksichtigen und unsere Ergebnisse soziologisch zu reformulieren.964 Doch können wir stolz darauf sein, dieser Versuchung – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – energisch widerstanden zu haben« (zitiert in Dahmer 2009g, S. 352).
963 Speziell hier waren beteiligt, so Knuth Müller: John C. Lilly, Robert G. Heath und Russell R. Monroe. 964 Insoweit Jones meinte, dass die Psychoanalyse nicht ihre Spezifik verleugnen bzw. nicht Soziologie anstelle von Psychoanalyse anbieten sollte, teile ich seine Meinung. Ziel seiner Argumentation war aber offenbar vor allem, positiv hervorzuheben, dass zum einen der gesellschaftstheoretische Kontext individueller Verhaltensweisen weiterhin verleugnet wurde und zum anderen die Psychoanalyse »reine« Wissenschaft geblieben sei, sich also von soziopolitischen Fragestellungen ferngehalten habe. Zumindest Letzteres ist, wie beschrieben, definitiv falsch.
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4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
Mit »wir« kann Jones nur die IPV-Mitglieder gemeint haben. Doch dass ausgerechnet er, IPV-Präsident von 1932 bis 1949, von einer so umfangreichen Aktivität etlicher IPV-Mitglieder, der gesamten APA und anderer Analytiker, wie sie die Kooperation mit den US-Geheimdiensten darstellte, nichts gewusst haben sollte, ist undenkbar. Dass sich deutsche Analytiker durch ihre Mitarbeit am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie ab 1936 offiziell in den NS-Staat integrierten, war ihm bestens bekannt. Dass sie Zuarbeiten für Sterilisation und Euthanasie vornahmen, stand wie erwähnt sogar im Zentralblatt für Psychotherapie.965 Psychoanalytiker auf beiden Seiten des Atlantiks agierten also während der Zeit des Nationalsozialismus in politisch brisanten Zusammenhängen, brachten ihr Fachwissen für und gegen den Faschismus ein. Außerdem, wie beschrieben, auch gegen den Kommunismus: sowohl im DIPFP als auch innerhalb der US-amerikanischen Geheimdienstforschungen. Vielleicht deutete Ernest Jones’ 1936 geäußerte Hoffnung, dass die in der Sowjetunion angeblich »›beginnende Toleranz der Wissenschaft gegenüber‹ auch der Psychoanalyse zugute kommen wird«, auf die Bereitschaft hin, auch hier wiederum gleichzeitig mit der Gegenseite zu paktieren?966 Dass Jones Behauptung, »sozio-politische Faktoren« seien unberücksichtigt geblieben, auch für andere Phasen der Psychoanalysegeschichte unzutreffend war, will ich an einigen weiteren Beispielen demonstrieren.
965 Es ist davon auszugehen, dass Jones auch diese Publikation geläufig war. Auch nicht alle US-amerikanischen oder emigrierten Analytiker standen übrigens »eugenischen« Maßnahmen grundsätzlich ablehnend gegenüber. Nolan D. C. Lewis beispielsweise war Mitglied der American Society of Human Genetics, die ebenfalls »eugenisches« Gedankengut vertrat. Der Ernst Rüdin-Schüler Franz Kallmann, ein emigrierter jüdischer Eugeniker, war Direktor dieser Organisation. Die Psychoanalytiker Lewis und Sándor Rado sorgten dafür, dass er seine humangenetischen Ideen auch am New York State Psychiatric Institute verbreiten konnte (persönliche Information von Knuth Müller, 19.6.2011). 966 Max Eitingon scheint zwar die Spionage für den Kommunismus bzw. die Sowjetunion unterstützt zu haben, dies stand aber offenbar in keinem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Psychoanalytiker oder mit den analytischen Organisationen (Pfeifer 2012 in www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13640). Über kommunistische Aktivitäten innerhalb US-amerikanischer Psychoanalytikerorganisationen, insbesondere in den 1940er Jahren, informiert internationalpsychoanalysis.net/2012/04/01/psychoanalysis-of -the-left-and-far-left-at-yivo/.
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4 Einordnungen und Erklärungen
4.16.2 Freud und die Soziopolitik Der erste Psychoanalytiker, der der Versuchung nachgab, »soziopolitische Faktoren« zu berücksichtigen, war Sigmund Freud. Ein soziopolitischer Faktor war bereits von entscheidender Bedeutung dafür, dass es überhaupt zur Entstehung der Psychoanalyse kam: der weit verbreitete und gesellschaftlich tabuisierte sexuelle Missbrauch von Kindern, den Freud anfangs bei nahezu allen seinen Patientinnen und Patienten als tiefere Ursache ihrer Neurosen annahm (Freud 1896c; vgl. Masson 1984, S. 19–75). Wie Johannes Reichmayr nachweist, »waren Sozialdemokraten und politisch Linksstehende ein nicht wegdenkbarer Teil der frühen psychoanalytischen Bewegung« (Reichmayr 1994, S. 27). Auch Freud selbst ignorierte keinesfalls grundsätzlich die Notwendigkeit sozialer Veränderungen. Selten wurde das allerdings so deutlich wie in den folgenden Sätzen aus dem 1905 veröffentlichten Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten: »Es lässt sich laut sagen, was diese Witze flüstern, daß die Wünsche und Begierden des Menschen ein Recht haben, sich vernehmbar zu machen neben der anspruchsvollen und rücksichtslosen Moral, und es ist in unseren Tagen in nachdrücklichen und packenden Sätzen gesagt worden, daß diese Moral nur die eigennützige Vorschrift der wenigen Reichen und Mächtigen ist, welche jederzeit ohne Aufschub ihre Wünsche befriedigen können.967 Solange die Heilkunst es nicht weitergebracht hat, unser Leben zu sichern, und solange die sozialen Einrichtungen nicht mehr dazu tun, es erfreulicher zu gestalten, so lange kann die Stimme in uns, die sich gegen die Moralanforderungen auflehnt, nicht erstickt werden. Jeder ehrliche Mensch wird wenigstens bei sich dieses Zugeständnis endlich machen. Die Entscheidung in diesem Konflikt ist erst auf dem Umwege über eine neue Einsicht möglich. Man muß sein Leben so an das anderer knüpfen, sich so innig mit anderen identifizieren können, daß die Verkürzung der eigenen Lebensdauer überwindbar wird, und man darf die Forderungen der eigenen Bedürfnisse nicht unrechtmäßig erfüllen, sondern muß sie unerfüllt lassen, weil nur der Fortbestand so vieler unerfüllter Forderungen die Macht entwickeln kann, die gesellschaftliche Ordnung abzuändern« (Freud 1905c, S. 121).
Der Glaube an die Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen schien auch mitzuschwingen, als Freud 1907 zunächst feststellte, dass eine sinnvolle Sexualerziehung überall dort unmöglich ist, wo Staaten diese »in den Händen der Geistlichkeit belassen haben«, und dann fortfuhr: »So bewährt es sich denn 967 Helmut Dahmer nennt einleuchtende Argumente, warum sich Freud hier auf Ferdinand Lassalle bezogen haben könnte (Dahmer 2012b, S. 75, Fn 74).
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4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
wieder einmal, wie unklug es ist, einem zerlumpten Rock einen einzigen seidenen Lappen aufzunähen, wie unmöglich es ist, eine vereinzelte Reform durchzuführen, ohne an den Grundlagen des Systems zu ändern!« (Freud 1907c, S. 27). Offenbar nicht zuletzt zum Zwecke derartiger Veränderungen erwog Freud 1910, sich bzw. die Psychoanalyse an bestehende Organisationen zu binden. Dafür kam für ihn unter anderem der Beitritt zu einem »Internationalen Orden für Ethik und Kultur« infrage, dessen Attraktivität er gegenüber C.G. Jung so schilderte: »Angezogen hat mich der praktische, aggressive wie protektive Zug des Programms, die Verpflichtung, die Autorität des Staates und der Kirche in einzelnen Fällen, wo sie greifbares Unrecht tun, direkt zu bekämpfen und so gegen die großen Gegner der P(sycho) A(nalyse) […] mittels eines größeren Aufgebotes von Personen und anderer Methoden als der wissenschaftlichen Arbeit gerüstet zu sein« (Freud/Jung 1974, S. 325).
Etwa zeitgleich damit regte Freud – wie erwähnt – den mit der österreichischen Sozialdemokratie verbundenen Alfred Adler an, er möge beim nächsten Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung erörtern, ob die Psychoanalyse »zu einer ganz bestimmten freiheitlichen, in Erziehung, Staat und Religion reformatorischen Weltanschauung drängt, die notwendiger Weise die Anhänger der P(sycho) A(nalyse) zum Anschlusse an eine gewisse Partei im praktischen Leben auffordert« (zitiert in Falzeder 2010, S. 1120f.). Mit letzterer Idee machte dann, wie beschrieben, Wilhelm Reich einige Jahre später ernst. 1911 beteiligte sich Freud an einer Umfrage der Zeitschrift Der Sturm, dem »Hauptorgan des deutschen Frühexpressionismus«, und sprach sich hier klar gegen ein in Deutschland geplantes Gesetz aus, das den Handel mit Verhütungsmitteln kriminalisieren und damit deren Verwendung verhindern sollte (May 2009, S. 378, 388). Im selben Jahr unterzeichnete Freud – der »möglicherweise Mitglied im Bund für Mutterschutz« war (ebd., S. 398) – auch einen Aufruf der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform, in dem die Ehe als »Zwangsinstitution« gebrandmarkt wurde, die zu Doppelmoral und Diskriminierung unehelicher Kinder führe. Die Auswirkungen des gestörten Sexuallebens müssten, hieß es in diesem Aufruf weiter, »wirksam bekämpft und verhütet werden« (zitiert ebd.). Die Positionen, mit denen Freud sich hier identifizierte, ähnelten also jenen, die später Reich vertrat.
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4 Einordnungen und Erklärungen
Doch auch, nachdem er die Todestrieb-These konstruiert hatte, übte Freud Kritik an politischen und sozialen Zuständen. Mit Werken wie Das Unbehagen in der Kultur oder Die Zukunft einer Illusion wandte er sich gesellschaftlichen und kulturellen Fragen zwischen 1920 und 1930 sogar am intensivsten zu (vgl. Dahmer 2012a, S. 15f.). In dem letztgenannten Buch schrieb er: »Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben. […] Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Anzahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu halten, noch es verdient« (Freud 1927c, S. 333).
Ebenfalls 1927 – also im Jahr von Reichs SPÖ-Beitritt – unterschrieb Freud »einen Aufruf zur Unterstützung der Sozialdemokratie« im österreichischen Wahlkampf (Lohmann 2006a, S. 8). Bereits 1924, anlässlich seines 68. Geburtstages, war Freud »von der sozialdemokratischen Stadtregierung zum ›Bürger der Stadt Wien‹ ernannt worden« (ebd.). 1930–32 bemühte sich Freud um die Psychoanalyse eines US-Präsidenten (Freud/Bullit 2007; vgl. Roazen 2007). 1933 wurde seine Debatte mit Albert Einstein über die Grundlagen von Kriegen im 20. Jahrhundert veröffentlicht (Freud 1933b). Zur selben Zeit nahm er in der letzten seiner Neuen Vorlesungen nicht nur, wie erwähnt, recht ambivalent zum Bolschewismus Stellung, sondern tat zudem kund, »auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie« (Freud 1933a, S. 194). Auch wenn diese Vereinfachung anzuzweifeln ist (vgl. Dahmer 2001, S. 53–70; 2009c), belegt sie zumindest eines: Eine Kluft zwischen Psychoanalyse und Soziologie, wie Jones sie suggerierte, hat Freud nicht gesehen.968 Doch Freuds Haltung zum soziopolitischen Engagement war widersprüchlich. Von der »Verführungstheorie« rückte er bereits 1898 ab, verlagerte den realen Missbrauch weitgehend in die Phantasie der Patientinnen und Patienten 968 1913 zählte Freud in Das Interesse an der Psychoanalyse (Freud 1913j) die Wissenschaftsrichtungen auf, die seiner Ansicht nach durch die Psychoanalyse Bereicherung finden könnten. Hier nannte er neben Psychologie, Sprachwissenschaft, Philosophie, Biologie, Entwicklungs- und Kulturgeschichte, Kunstwissenschaft und Pädagogik auch die Soziologie.
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4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
(Masson 1986, Peglau 2014c). 1908 hielt er Otto Gross, der auf dem Salzburger Psychoanalytikerkongress von der Perspektive gesprochen hatte, »die sich mit der Entdeckung des ›psychoanalytischen Prinzips‹, d.h. der Erschliessung des Unbewussten auf die Gesamtprobleme der Kultur und den Imperativ der Zukunft richtet«, entgegen: »Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben« (Gross 2000, S. 62).969 1914 wies Freud in einer Replik auf James Putnam dessen »unerfüllbare Forderung« zurück, dass sich die Psychoanalyse »in den Dienst einer bestimmten sittlich-philosophischen Weltanschauung finden sollte« (Freud 1914d, S. 71). Insbesondere die Todestrieb-Hypothese intendierte dann eine verzerrte Wahrnehmung der äußeren Realität; Freuds Deutung der Psychoanalyse als »parteiloses Instrument« und Naturwissenschaft kam hinzu. 1933 schrieb Freud, dennoch brisante »soziopolitische Faktoren« berührend, über die »psychoanalytische Erziehung«, diese nehme »eine ungebetene Verantwortung auf sich, wenn sie sich vorsetzt, ihren Zögling zum Aufrührer zu modeln. Sie hat das Ihrige getan, wenn sie ihn möglichst gesund und leistungsfähig entläßt« (ebd., S. 162). Durch das Ausblenden von Gesellschafts- und Zeitbezügen bekommt Freuds Äußerung eine gewisse Nähe zu Schultz-Henckes etwa zeitgleicher Orientierung auf »Tüchtigkeit« (so auch Cremerius 1994, S. 121). Schon Freuds folgende Worte setzten jedoch deutlich andere Akzente: »In ihr selbst« – also der psychoanalytischen Erziehung970 – »sind genug revolutionäre Momente enthalten, um zu versichern, daß der von ihr Erzogene im späteren Leben sich nicht auf die Seite des Rückschritts und der Unterdrückung stellen wird« (Freud 1933a, S. 162).971 Und es gab auch jenen Freud, der auf politische Gegebenheiten in einer Weise reagierte, die nahezu zwangsläufig schuldhafte Verstrickungen nach sich ziehen musste. Das straft Ernst Jones’ Statement von 1934 am deutlichsten Lügen, der »Meister unserer Schule« habe es »immer verstanden«, seine humanitären Wünsche »getrennt von seiner wissenschaftlichen Arbeit zu halten, die deshalb nie in ihrer Reinheit gelitten hat« (IZP-Korrespondenzblatt 1935/21, S. 114). Wie »unrein« dagegen die Realität oft aussah, wie sehr auch Freud Politik und Wissenschaft mehrfach »vermischte«, zeigte bereits der 1918 in Budapest stattfindende psychoanalytische Kongress. Mit Ausnahme von Siegfried Bernfeld 969 Darauf verwies mich Bernd A. Laska (vgl. Laska 2003, S. 141). 970 Nicht über die analytische Therapie, wie es Cremerius (1994, S. 103) schreibt. 971 Was er mit der folgenden Aussage, »revolutionäre Kinder« seien »in keiner Hinsicht wünschenswert«, meint, erschließt sich mir nicht, da ich nicht weiß, was Freud unter einem »revolutionären Kind« verstand.
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4 Einordnungen und Erklärungen
hatte es auch in den zurückliegenden Kriegsjahren keinen »Freudianer« gegeben, der öffentlich als Kriegsgegner oder Pazifist hervorgetreten wäre (Reichmayr 1994, S. 53). Stattdessen waren ärztliche Analytiker »im Rahmen des Sanitätswesens wie alle Militärpsychiater dazu da, die Kampfkraft der Armee aufrechtzuerhalten«. Bei dem 1918er IPV-Kongress trugen dann die meisten Analytiker Uniformen (ebd., S. 53f.). Hier waren aber auch offizielle Regierungsvertreter Deutschlands, Österreichs und Ungarns zugegen, die Interesse hatten an analytischen Erkenntnissen zu sogenannten »Kriegsneurosen«: Traumatisierungen durch Kampfhandlungen, welche die weitere Verwendbarkeit von Soldaten beeinträchtigten. Es ging also darum, weiterhin möglichst viel »Menschenmaterial« für die Schlachten zur Verfügung zu stellen. Ferenzci, Simmel und Abraham leisteten durch Vorträge ihren Beitrag dazu, Jones steuerte für deren spätere Veröffentlichung ebenfalls einen Vortragstext bei. Freud stellte dieser Veröffentlichung ein Vorwort voran, in dem es hieß: »[D]as hoffnungsvolle [!] Ergebnis dieses ersten Zusammentreffens war die Zusage, psychoanalytische Stationen zu errichten, in denen analytisch geschulte Ärzte Mittel und Muße finden sollten, um die Natur dieser rätselvollen Erkrankungen und ihre therapeutische Beeinflussung durch Psychoanalyse zu studieren.« Offenbar mit Bedauern fügte er hinzu: »Ehe noch diese Vorsätze ausgeführt werden konnten, kam das Kriegsende« (Freud et al. 1919, S. 3; vgl. Gay 2006, S. 423f.; Jones 1984, Bd. 2, S. 238f.). Dabei war sich Freud sehr wohl über die ethische Problematik solcherart Behandlung im Klaren, wie spätere Ausführungen von ihm belegen: »Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst Kriegsbeamter […]. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges musste auch die Tätigkeit des Arztes verwirren« (Freud 1955, S. 708f.).972
Dieser taktierende, seine Skrupel beiseite schiebende, später zum Faschismus öffentlich weitgehend schweigende Freud scheint unter denen, die sein Werk in seinem Namen fortsetzten, am meisten Resonanz erfahren zu haben. Yosef H. Yerushalmi, Professor für jüdische Geschichte und Kulturwissenschaften, schrieb 1992 in einem »Monolog mit Freud«: 972 Ausführlicher dazu in der unveröffentlichten Dissertation von Knuth Müller (2012c). Er machte mich auch auf den zitierten Freud-Text aufmerksam (vgl. auch Reichmayr 1994, S. 52–63; Roth 1987).
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»Sie haben uns, Herr Professor, bei Ausbruch eines Krieges verlassen, dessen ganzes Grauen Sie ebensowenig ahnen konnten wie die Vernichtung eines Drittels des jüdischen Volkes. Sie waren auch der Meinung: ›Volkspsychosen sind gefeit gegen Argumente‹.973 In der Geschichte gibt es aber Situationen, in denen Protest, auch wenn er wirkungslos bleibt (wir haben seither auch das Gegenteil erlebt), ethisch geboten ist. Meines Wissens hat zwischen 1939, als es schon nichts mehr zu verlieren gab, und dem Ende des Zweiten Weltkrieges weder in Nazideutschland noch in den besetzten Ländern je ein offizielles Organ einer offiziellen psychoanalytischen Organisation auch nur ein einziges Mal die Stimme erhoben, sei es gegen die Vernichtung der Juden, sei es gegen die Vernichtung der Psychoanalyse« (Yerushalmi 1992, S. 145).
Zwei von Elisabeth Roudinesco und Michel Plon974 beschriebene Sachverhalte zeigen, dass die IPV auch noch weit nach Freuds Tod ähnliche Strategien anwandte wie zu Zeiten des Nationalsozialismus. Glaubt man an die Existenz eines Wiederholungszwanges, der umso stärker wirkt, je tiefer verdrängt das frühere Geschehen ist, könnte man meinen, ihn hier am Wirken zu sehen.
4.16.3 Wiederholungen 1964 errichtete General Branco in Brasilien eine 20 Jahre währende Diktatur, die insbesondere in ihrer Anfangszeit mit Verschleppungen und Folterungen einherging. In Brasilien existierte zu dieser Zeit bereits eine gut entwickelte psychoanalytische Organisation. Die IPV-Leitung entschloss sich, »›neutral‹ zu bleiben: Sie äußerte weder Verurteilungen noch Stellungnahmen für oder gegen das Regime. In der Tradition der [19]30er Jahre lag das Ziel darin, keiner Regierung irgendeinen Grund zu geben, die Ausübung der Psychoanalyse zu verbieten« (Roudinesco/Plon 2004, S. 132). 1973 wurde Leão Cabernite – dessen Lehranalytiker der 1948 im IPV-Auftrag nach Brasilien gegangene Werner Kemper war (ebd., S. 530f.) – Präsident einer der beiden brasilianischen Analytikervereinigungen. Cabernite war ein Analytiker, der den Militärmachthabern »sehr nahe« stand. Er nahm »zwischen 1971 und 1974 Amilcar Lobo Moreira zum Schüler, der Stabsarzt der militärischen Diktatur 973 Das formulierte Freud am 4.7.1923 in einem Brief an Leyens (siehe Yerushalmi 1992, S. 169, Erklärung zu Fn 26; vgl. Jones 1984, Bd. 3, S. 122f.). 974 Trotz der zahlreichen Fehler, die in deren Buch enthalten sind, scheint mir das im Folgenden Zitierte stimmig, da ich Entsprechendes auch in anderen Publikationen (z.B. Füchtner 2003, 2010; Wallerstein 2005) gefunden habe.
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4 Einordnungen und Erklärungen
und Folterer im Dienst der Diktatur war« (ebd., S. 132). Dieser Fakt wurde durch eine Untergrundzeitschrift aufgedeckt und von der brasilianischen Psychoanalytikerin Helena Bessermann-Vianna der IPV bekannt gemacht. IPV-Präsident Serge Lebovici setzte sich mit Cabernite und David Zimmermann, dem Präsidenten der lateinamerikanischen Psychoanalytikervereinigung, in Verbindung. Zimmermann und Cabernite verfassten daraufhin ein Dementi und behaupteten, Amilcar Lobo zu beschuldigen diene einem »Komplott zur Destabilisierung der brasilianischen Psychoanalyse«. Helena Bessermann-Vianna bezahlte für ihr Engagement einen hohen Preis: Ihre brasilianische Analytikergesellschaft »lehnte es zwei Jahre ab, sie als ordentliches Mitglied anzuerkennen, obwohl sie angesichts ihrer Laufbahn Anspruch darauf gehabt hätte. Schlimmer noch, der Verwaltungsrat […] beschuldigt sie der Beschuldigung eines unschuldigen Menschens [sic] (Amilcar Lobos), des Plagiats und der Respektlosigkeit […]. Später wurde Helena Opfer eines Attentatsversuchs durch die brasilianische Polizei, die von Amilcar Lobo informiert worden war. Erst 1980 wurde sie endgültig rehabilitiert, als ein ehemaliger Gefangener die Gräueltaten Amilcar Lobos öffentlich bekannt machte. Dennoch gaben weder Cabernite noch Zimmermann noch Lebovici ihre Schandtaten aus dieser Zeit zu« (ebd., S. 133).975
»In den Jahren der Diktatur und auch danach«, so Elisabeth Roudinesco und Michel Plon weiter, »blühte allerdings der Freudianismus in Brasilien weiter auf« (ebd.). Hans Füchtner schließt »aus dem brasilianischen Beispiel […]: Die Behauptung von Psychoanalytikern, Psychoanalyse könne in nichtdemokratischen Gesellschaften nicht gedeihen, ist eine selbstgefällige Mär« (Füchtner 2010, S. 246). Ging es hier um offene Unterstützung von Staatsterror, beschränkt sich das zweite Beispiel auf dessen mehrjähriges Beschweigen. 1976 errichtete General Videla in Argentinien für neun Jahre »neben dem Chile Pinochets eines der blutigsten Regimes des lateinamerikanischen Kontinents […]. Unter dem Tarnnamen »Vermisste« […] wurden dreißigtausend Menschen gefoltert und hingerichtet« (ebd., S. 53). Die Militärs wandten sich unter anderem gegen »linke« Strömungen und gegen die Psychoanalyse – was 975 Es gibt zu diesen Ereignissen inzwischen mehrere, in Details voneinander abweichende Darstellungen. Aber selbst im anscheinend bislang letzten Statement dazu aus IPV-Sicht (Wallerstein 2005) wird keine wesentliche Korrektur an der obigen Darstellung nahegelegt, sondern nur ein differenzierteres Agieren Lebovicis behauptet.
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4.16 Unpolitische Psychoanalyse?
auch die argentinische Psychoanalytikerorganisation zu spüren bekam. Die IPVFührung beschloß auch hier, »›neutral‹ zu bleiben, um dem Regime keinen Vorwand für die Zerstörung ihrer Einrichtungen zu geben. Als sie unter Druck gesetzt wird, in der Frage der ›verschwundenen‹ Analytiker aktiv zu werden, setzen sich die offiziellen Vertreter zusammen, um zu beschließen, nichts zu tun […]. Nach einer dreijährigen Debatte […] werden am IPA[=IPV]-Kongress in New York 1979 die Verstöße gegen die Menschenrechte in Argentinien schließlich doch noch verurteilt, trotz der Position des ausführenden Präsidenten Edward Joseph, der nicht davor zurückschreckte, die vom Regime des Generals Videla begangenen Verbrechen als ›Gerücht‹ zu qualifizieren« (ebd., S. 53).
Es fällt allerdings schwer, die Tatsache, dass in diesem Falle das Schweigen letztlich doch beendet wurde, als Zeichen für eine grundsätzliche Veränderung hin zu mehr Selbstkritik und politischem Engagement zu deuten, wenn man in die eingangs schon erwähnte offizielle Selbstdarstellung der IPV von 2011 hineinschaut. IPV-Präsident Charles Hanly findet im Vorwort nur Gründe, Hundert Jahre IPV – so der Buchtitel – zu feiern (Loewenberg/Thompson 2011a, S. XXX). Die Herausgeber beschreiben die Publikation als »stolze Aufzeichnung unserer Kämpfe, Entwicklung und unseres Wachstums im letzten Jahrhundert« (ebd., S. 5). Der Inhalt kreist jedoch um die Darstellung einer, wenn auch internationalen Vereinsgeschichte. Die einzelnen Beiträge sind nach Ländern gegliedert. Im Beitrag über Brasilien wird nur in sehr allgemeiner Weise auf einige Probleme der dortigen Psychoanalyseorganisation während der Militärdiktatur hingewiesen. Im Beitrag zu Argentinien findet sich zu den oben beschriebenen Vorgängen kein einziges Wort (ebd., S. 263–269, 275). Auch die intensive Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten bleibt vollends ausgeblendet (ebd., S. 244–259). Immerhin werden jedoch die Verhaltensweisen der Wiener und der Deutschen Analytikervereinigung zwischen 1933 und 1945 sowie der Anteil, den die IPV daran hatte, einer teils kritischen Würdigung unterzogen (Bronnen 2011; Hermanns 2011). Auch Wilhelm Reich wird mehrfach und ohne Diffamierung benannt und in seiner Aktivität für die analytische Organisation und die Entwicklung der Therapie gewürdigt (Loewenberg/Thompson 2011b , S. 554). Seine Erkenntnisse über psychosoziale Wechselwirkungen finden keine Erwähnung.
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Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
Die Rolle der Psychoanalyse im Nationalsozialismus auf die eines Opfers zu reduzieren, wäre falsch. Psychoanalytiker waren auch Mittäter, schweigende und beschönigende Zeugen und Opponenten des Faschismus. Das ist seit den 1980er Jahren wissenschaftlich dokumentiert (siehe insbesondere Cocks 1983; Brecht et al. 1985; Lohmann 1994; Lockot 2002). Eine der wesentlichsten zusätzlichen Erkenntnisse, die sich aus meinen Recherchen ergaben, ist, dass Psychoanalyse, Psychoanalytiker und psychoanalytische Literatur976 weit stärker in das NS-System integriert waren, als von damaligen Psychoanalytikern im Nachhinein meist zugegeben wurde bzw. heute zumeist angenommen wird. Die gegen die Psychoanalyse und ihre Schriften gerichteten Maßnahmen fielen dementsprechend weit weniger hart aus, als in zahlreichen – auch psychoanalysehistorischen – Arbeiten behauptet wird.977 976 Dass hier eine Übereinstimmung existiert, erscheint logisch: Psychoanalyse und psychoanalytische Literatur sind nicht zu trennen. Freuds Schriften sind eine entscheidende Basis der Analyse, nicht zuletzt durch ihre Publikationen erlangte die Analyse Weltgeltung und erlangten die Analytiker eine verbindende Identität. Der Umgang mit der Psychoanalyse musste also immer Einfluss auf die Behandlung analytischer Literatur haben. Umgekehrt musste sich in der Behandlung dieser Literatur die Stellung der Psychoanalyse in der Gesellschaft wiederspiegeln – auch im Nationalsozialismus. 977 Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer ist daher noch immer zuzustimmen, wenn sie feststellen: »Obwohl ›Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten‹ ein wesentliches Prinzip psychoanalytischer Arbeit darstellt, ist ein Großteil der Analytiker nicht in der Lage, dieses Prinzip auf die Ära des Nationalsozialismus anzuwenden« (Brainin/Kaminer 1982, S. 989). Das illustrieren wohl auch zwei von M. G. Ash gegenübergestellte Statements Anna Freuds. 1946 schrieb sie an August Aichhorn: »Die Zerstörung der Psychoanalyse in 1938 war logisch unabwendbar. Die Psychoanalyse kann nur dort gedeihen, wo Freiheit
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5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
Die Psychoanalyse in ihrer Gesamtheit wurde keinesfalls vom Nationalsozialismus verfolgt. Wenn Psychoanalytiker zu Opfern des NS-Systems wurden, dann nie, weil sie Psychoanalytiker waren, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft oder widerständigen, insbesondere politisch »linken« Äußerungen oder Aktivitäten.978 Der einzige Psychoanalytiker, der wegen seines politischen Engagements 1933 aus Preußen, vermutlich dann auch aus Deutschland ausgewiesen und 1939 ausgebürgert wurde, war Wilhelm Reich (2.12, 2.13). Konsequent unterdrückt wurde nur ein sehr kleiner Teil der Psychoanalyse (und der Individualpsychologie), nämlich deren offen gesellschaftskritische, insbesondere »linke« Ausrichtung. Wesentliche Teile des therapeutischen analytischen Wissens wurden dagegen von NS-Verantwortlichen toleriert und pragmatisch genutzt. Mit Massenpsychologie und Ich-Analyse fand sogar einer von Freuds Hauptbeiträgen zum Verständnis sozialer Zusammenhänge Aufnahme in die Materialsammlung des Deutschen Institutes für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP) zur psychologischen Kriegsführung. Von einem pauschalen Verbot oder gar einer »Ausrottung« kann also weder bezüglich der Psychoanalyse noch ihres Vokabulars oder ihrer Schriften die Rede sein. In den ersten Monaten des Dritten Reiches hatte sich die Situation allerdings noch ganz anders dargestellt. Offenbar gab es Bemühungen, gegen die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft vorzugehen. Der am 10.5.1933 öffentlichkeitswirksam ausgerufene »Feuerspruch« verdammte nicht nur Sigmund Freud,
des Gedankens herrscht. Die neue Freiheit in Österreich wird, so denke ich, neues Leben für die psychoanalytische Arbeit bedeuten.« »Unmittelbar vor diesem lapidaren Satz«, so Ash, »gratulierte Anna Freud Aichhorn dafür, die Praxis der Psychoanalyse und damit ›die Tradition des Institutes‹ nach 1938 weitergeführt zu haben: ›Dass es Ihnen gelungen ist, in den schweren Zeiten des Nationalsozialismus und des Krieges ohne Unterbrechung an der Psychoanalyse weiterzuarbeiten, zu lehren und zu heilen und damit die Tradition des Institutes weiterzuführen, erfüllt mich mit Bewunderung.‹ Dass diese beiden Sätze nicht widerspruchsfrei miteinander zu verbinden sind, scheint ihr damals nicht klar gewesen zu sein« (Ash 2010, S. 14). 978 Auch M. G. Ash schreibt: »Die Gegnerschaft dieser [gemeint ist die nationalsozialistische – A.P.] wie auch anderer Diktaturen [was sich wohl auf das von ihm zuvor erwähnte faschistische Italien, auf die brasilianische und argentinische Militärdiktatur sowie auf kommunistische Regimes bezieht – A.P.] richtete sich im Allgemeinen eher gegen die politischen Auffassungen bzw. gegen die ›rassische‹ Zugehörigkeit von AnalytikerInnen als gegen die Psychoanalyse als Praxis.« Mit Letzterer meint er wohl »die Praxis psychoanalytischer Ausbildung und Therapie« (Ash 2012b, S. 24). Dass es auch eine Praxis psychoanalytischer Gesellschaftskritik gibt, thematisiert er hier nur indirekt und eher abwertend in einer Fußnote (ebd., S. 25, Fn 78).
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sondern dessen ganze »Schule«; das Verbrennungsritual war somit eindeutig gegen die analytische Lehre und die analytischen Schriften in ihrer Gesamtheit gerichtet. Doch die Radikalität dieses Auftaktes fand keine Fortsetzung, nachdem der Vernichtungswut »rechter« Studenten das pragmatischere Herangehen von NS-Funktionären und von ihnen eingesetzter Experten folgte. Zusätzlich zu Sigmund Freud liegen nur für drei weitere Analytiker Hinweise vor, dass auch ihre Bücher in die Verbrennungen einbezogen wurden: Anna Freud, Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich (2.1). Die ebenfalls noch im Mai 1933 eingeleiteten Publikationsverbote gingen bereits von Maßstäben aus, die im Vergleich zu denen, die bei der Indizierung politisch »links« stehender Schriften angewandt wurden, deutlich toleranter ausfielen. Ein Komplettverbot psychoanalytischer (und individualpsychologischer) Literatur war nie geplant und ist auch nie erfolgt (2.2–2.5). Mit wenigen Ausnahmen wie Wilhelm Reich (ab 1933), Sigmund und Anna Freud (ab 1935) wurde nur gegen spezielle Schriften, nicht pauschal gegen Gesamtwerke analytischer Autoren vorgegangen. Bis zum April 1940, als eine NS-Anordnung alle »voll- und halbjüdischen« Autoren unter Totalverbot stellte, unterlag der weitaus größte Teil analytischer Schriften keiner Indizierung. Wie sich an zahlreichen Beispielen darstellen ließ, traf es auch nicht zu, dass Freuds Name, seine Erkenntnisse und die von ihm kreierten Begriffe ab 1933 in Deutschland grundsätzlich nur noch in diffamierender Weise erwähnt werden durften. Sowohl im führenden deutschen Fachjournal, dem Zentralblatt für Psychotherapie, als auch im Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie wurde häufig, offen und oft eindeutig positiv zu Aspekten von Freuds Lehre Stellung genommen und Freudsche Terminologie verwendet – von Psychoanalytikern wie von Nichtpsychoanalytikern; und das, bis diese Fachzeitschriften 1943 bzw. 1944 kriegsbedingt eingestellt wurden (2.15.3, 2.15.4). Klare Diffamierungen, die über das hinausgingen, was der Analyse schon vor 1933 zur Last gelegt wurde, Attacken, die sich als »typisch nationalsozialistisch« einordnen ließen, waren in diesen Fachblättern eine ausgesprochene Seltenheit. Wenn Thomas Köhler in seiner Untersuchung der »Anti-Freud-Literatur« vermerkt, im Zentralblatt für Psychotherapie seien Psychoanalyse und Freud, »wenn überhaupt, so im allgemeinen abschätzig erwähnt« worden (Köhler 1996, S. 25), entspricht auch das nicht den Tatsachen. Die stattdessen vielfachen Erwähnungen der Psychoanalyse geschahen dort nicht zuletzt per Rezension – von einem 1933 erfolgten »Sistieren«, also Abbrechen der Rezensionstätigkeit, wie es Tillmann Elliger behauptet, kann keine Rede sein, allerdings von einer deutlichen Verringerung, wie Elliger sie auch nachweist (Elliger 1986, S. 36–46). Zudem befand sich, was da an Analyse-Literatur rezensiert wurde, zumeist weiterhin auf dem deutschen Buchmarkt. Und nicht nur das: Es wurden sogar zahlreiche, durch das NS-Propagandaministerium verbotene analytische Schriften 539
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oder Autoren in diesen Artikeln gewürdigt, durch diese Rezensionen – bis 1936 auch durch entsprechende Anzeigenwerbung im Börsenblatt – beworben. Hintergrund dafür war, dass die meisten NS-Verbotslisten geheim gehalten wurden. Die »polykratischen« Züge des NS-Machtapparates spielten ebenfalls hinein (4.1) sowie weitere NS-interne Widersprüche im Umgang mit Wissenschaft, Kultur, Medien und sexuellen Normen (4.10–4.13). Zumindest einmal, im Mai 1939, findet sich ein vorsichtiges Lob einer »arisch« verstandenen Psychoanalyse sogar im Völkischen Beobachter, nicht nur die damals auflagenstärkste deutsche Tageszeitung, sondern auch das führende Organ der NSDAP (2.15.6). Auch auf Fachtagungen und in den dazugehörigen, der Öffentlichkeit zugänglichen Tagungsbänden wurde psychoanalytisches Gedankengut deutlich und wertschätzend einbezogen; hier wie an anderen Stellen mit dem Versuch verbunden, dafür »arische« Wurzeln kenntlich zu machen. Der Begriff des Unbewussten – zwar nicht von Freud stammend, aber erst durch ihn mit psychotherapeutischem Inhalt gefüllt – wurde zum zentralen Bezugspunkt der »neuen deutschen Seelenheilkunde«. Diese definierte sich selbst vielfach ganz unverblümt als »Tiefenpsychologie« (4.6): ein Begriff, den auch Freud seit 1913 verwendete, um seine Therapierichtung zu charakterisieren. Indem die »neue deutsche Seelenheilkunde« der Übertragung und dem Widerstand wesentliche Bedeutung zuerkannte, genügte sie zudem einer der Definitionen, die Freud selbst von Psychoanalyse gegeben hatte. Die »neue deutsche Seelenheilkunde« konnte, so ließ sich herausarbeiten, die Psychoanalyse niemals pauschal bekämpfen: Sie hätte in erheblichem Maß gegen sich selbst gekämpft. »Arische« Psychoanalytiker durften denn auch ihre Praxen offiziell in NSDeutschland weiterführen. Die staatlichen Krankenkassen, die »Deutsche Arbeitsfront« und damit die hinter Letzterer stehende NSDAP stellten sogar Geld für die Behandlungstätigkeit des DIPFP zur Verfügung, förderten damit also auch die dort keinesfalls durchweg unter »Tarnbezeichnungen« durchgeführten psychoanalytischen Behandlungen (2.15.2, 4.6). Dass all dies möglich war, lag nicht zuletzt an der weitreichenden Anpassung der in Deutschland verbliebenen Analytiker und der ihnen dabei gewährten Unterstützung durch die IPV. Nicht-jüdische deutsche Psychoanalytiker leisteten diverse Zuarbeiten zum NS-System, die zwangsläufig zu schuldhafter Verstrickung führten (insbesondere 4.4–4.9). Die internationale Analytikerorganisation flankierte diese Entwicklung mit jahrelangem weitgehenden Beschweigen des Faschismus und nahezu völligem Ausblenden faschistischer Verbrechen in ihren Berichten und in den Publikationen ihrer Mitglieder (insbesondere 2.7, 4.15). Auf dem Hintergrund des erwähnten relativ toleranten Umgangs der NS-Verantwortlichen mit der Freudschen Lehre wird dies zumindest verständlicher. 540
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Die Integration wesentlicher Aspekte der Psychoanalyse ins Dritte Reich war – und hier sind die beiden Schwerpunkte meiner Arbeit untrennbar verbunden – nur möglich, nachdem sich die deutsche und internationale Analytikerorganisation 1933/34 des einzigen Kollegen entledigt hatte, der schon zuvor eindeutig als Kommunist und Antifaschist in Erscheinung getreten war (1.4.1–1.4.9, 1.4.15) und nun auch öffentlich gegen den NS-Staat auftrat und publizierte (insbesondere 2.8): Wilhelm Reich. Wie hätten IPV und DPG andernfalls gegenüber den NS-Verantwortlichen dagestanden, wenn eines ihrer Mitglieder weiterhin gegen den Faschismus agitiert hätte? Wie hätten sie begründen können, dass sie dies gestatteten oder dass dies alles mit Psychoanalyse nichts zu tun habe? Die Toleranz, die der Psychoanalyse und ihren Schriften im Nationalsozialismus gewährt wurde, beruhte also unter anderem darauf, dass die Psychoanalyseorganisation den Dissidenten Reich aus ihren Reihen entfernt hatte.979 Für dessen Ausschluss hatten Freud und die hier agierenden Analytiker, wie gezeigt, über den Wunsch nach politischer Anpassung hinaus noch weitere Gründe: Reichs eigenständige Psychoanalysevariante stellte das Menschenbild und das therapeutische Vorgehen vieler Analytiker inklusive Freuds öffentlich infrage (insbesondere 1.4.10, 1.4.11) und hielt ihnen die Alternative einer weiterhin aufklärerischen, gesellschaftskritischen Psychoanalyse entgegen. Dass diese Konfliktlage nicht zu einer persönlichen Feindschaft Freuds gegenüber Reich führte, dass sich Freud für Reich vermutlich lebenslang sogar eine gewisse Wertschätzung bewahrte, ließ sich zeigen (1.5., 2.9.5). Reichs Verhalten und seine Publikationen (2.6, 2.8.2) beweisen auch, dass es möglich gewesen wäre, außerhalb Deutschlands eine offensive Psychoanalyse des Faschismus bzw. gegen den Faschismus zu betreiben und zu veröffentlichen. Schon deshalb gebührt Reich ein ehrenvoller Platz in der Psychoanalysegeschichtsschreibung. Ich denke, ich habe zudem deutlich machen können: Entgegen heute oftmals üblicher (Ab-)Wertungen (3.2) war Reich einer der innovativsten und kreativsten Psychoanalytiker, der Erkenntnisse erlangte, von denen viele noch immer bedeutsam sind. Es ist also notwendig – und das ist eine weitere zentrale Aussage meines Buches –, eine Neubewertung, genauer: Aufwertung Wilhelm Reichs innerhalb der Wissenschaftsgeschichte vorzunehmen.980 Insbesondere gilt für die meisten Psychoanalytiker, dass sie sich mit seinen Erkenntnissen auf psychosozialem 979 Auf diesen Zusammenhang weist auch Bernd Nitzschke (2013, S. 118) hin. 980 Dass inzwischen Helmut Dahmers Auswahl wichtiger Texte der analytischen Sozialpsychologie, in die er auch Reich aufgenommen hatte, erneut veröffentlicht wurde (Dahmer 2013), könnte ebenfalls zu einer angemessenen Einordnung Reichs beitragen.
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Gebiet und deren Konsequenzen für das Selbstbild und die inhaltliche Ausrichtung der Psychoanalyse endlich – erstmals – gründlich auseinandersetzen sollten. Reichs Bekanntheitsgrad war, so ergaben meine Nachforschungen, für einen Psychoanalytiker ungewöhnlich hoch (1.4). Gestützt auf die Organisationsstrukturen der KPD erlangten er und seine »linke« Psychoanalyseausdeutung in Deutschland eine öffentliche Wirksamkeit, die Freud 1933 sogar befürchten ließ, seine Lehre könne hier mit Reichs Auffassungen verwechselt werden. Es könnte auch mit Reichs Wirken zusammenhängen, wenn einige Nationalsozialisten – völlig zu Unrecht – von der Psychoanalyse insgesamt als einem »typisch jüdisch marxistischen Produkt« sprachen und die Psychoanalyse zunächst noch mehr als die Adlersche Individualpsychologie – die traditionell der Sozialdemokratie nahestand – zum politischen Gegner erklärten. Seit Langem bzw. seit eh und je unzutreffend waren die Vorwürfe aus NS-Kreisen, die Psychoanalyse sei auf den Sexualtrieb fixiert und strebe dessen ungezügelte Befriedigung an. Beides ließ sich mit weit mehr Berechtigung über Reich behaupten (1.3, 4.13). Es wäre daher in mehrfacher Hinsicht verständlich, wenn wichtige Nationalsozialisten mit der Psychoanalyse deutlich weniger Probleme hatten und toleranter mit ihr umgingen, nachdem sie – zum Beispiel durch Felix Boehm – erfuhren, dass Reich aus den analytischen Organisationen ausgeschlossen worden war. Reichs vom NS-Staat sorgfältig registriertes antifaschistisches Engagement dürfte wiederum dazu beigetragen haben, dass die Vereinnahmung psychoanalytischen Wissens durch M. H. Göring und andere Nationalsozialisten nicht so reibungslos wie erwünscht vonstatten ging. Auf diese Weise könnte Reich auch eine noch tiefgreifendere Kollaboration der »arischen« Analytiker mit dem NSSystem erschwert haben. Als erster Analytiker widmete Wilhelm Reich den psychischen Grundlagen des Dritten Reiches eine umfangreiche, 1931 begonnene, im Spätsommer 1933 veröffentlichte Arbeit: die Massenpsychologie des Faschismus (2.8). Damit und mit weiteren Publikationen wie der Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie blieb er für mehrere Jahre der einzige Psychoanalytiker, der sich öffentlich ausführlich mit dem Faschismus – dann auch: mit dem Stalinismus (2.10) – auseinandersetzte. Dass er sein wissenschaftliches Instrumentarium auf die beiden bedeutendsten politischen Strömungen der damaligen Zeit anwandte, macht es umso absurder, wenn ausgerechnet ihm für die 1930er Jahre ein »wissenschaftlicher ›Realitätsverlust‹« attestiert wird – und das ausgerechnet von Vertretern der psychoanalytischen Berufsgruppe, deren eigene »Realitätsverluste« in der NS-Zeit doch noch längst nicht hinreichend aufgearbeitet sind (3.2.1). Reich ist zudem offenbar bis heute neben Erich Fromm der einzige Analytiker 542
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geblieben, der sich tiefgründiger um ein geschlossenes psychoanalytisches Verständnis des Faschismus bemühte (2.7). Dafür, dass die Erinnerung an Reichs Bedeutung später immer mehr verlosch, ist, so ließ sich zeigen, die Art und Weise, wie in den 1930er Jahren mit ihm und seinem Werk umgegangen wurde, entscheidend. 1933, am Ende seiner Berliner Zeit, stand Reich nicht nur anpassungswilligen DPG- und IPV-Funktionären und dem um sein Lebenswerk bangenden Freud, sondern auch dogmatischen KP-Funktionären und zur Macht gelangten Nationalsozialisten im Weg. Kommunisten und Analytiker waren sich darin einig, dass Reich ihre eigene Lehre geschädigt habe, indem er sie mit der jeweils anderen verband (insbesondere 1.4.11, 1.4.14). Allerdings bekam Reich innerhalb der kommunistischen Organisation und Lehre nie so viel Einfluss, wie er ihn innerhalb der Psychoanalyse gehabt hatte. Während die Analytiker sich von einem ihrer wichtigsten Mitstreiter und Ideengeber distanzierten,981 stießen die Kommunisten einen Außenseiter ab, den sie nur vorübergehend und begrenzt hatten gewähren lassen. Auch der Streit mit den KPD-Funktionären hatte jedoch brisante Züge, da er Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Kommunisten ebenso berührte wie die Frage, ob sich Psychoanalyse und Marxismus, die damals für Reich und andere als avancierteste Positionen der Aufklärung galten, zu einer umfassenden Theorie von Mensch und Gesellschaft verbinden lassen. Sowohl Kommunisten als auch Psychoanalytiker hatten bereits Maßnahmen gegen Publikationen von Reich getroffen, bevor die NS-Bücherverfolger mit weit radikaleren Mitteln zum Zuge kamen. Dass sie Reichs Schriften ab 1933 so gründlich unterdrückten (2.1.4, 2.5, 2.6) – weit konsequenter als die sonstigen Schriften der Psychoanalyse –, ist nachvollziehbar. Ein »jüdischer Kommunist« war ihr Feindbild Nummer Eins. In Reichs Fall kam die angeblich ebenfalls jüdische Psychoanalyse einschließlich offener Thematisierung – auch frühkindlicher – Sexualität sowie der Forderung nach gleichberechtigtem Umgang der Geschlechter und Generationen miteinander hinzu. Reich kombinierte Ideen Freuds, die die menschliche Existenz vom »Innenleben« ausgehend revolutionieren konnten, mit expliziten Konzepten für eine »äußere«, sexuell-partnerschaftliche, familiäre und kommunistische Revolution. Schon dadurch musste er vielen Nationalsozialisten mehrfach verhasst sein.
981 Peter Freudl spricht passenderweise von einem »Turm-« statt von einem »Bauernopfer«, denn der »Bauer ist im Schachspiel die schwächste Figur […]. Mir erscheint er [Reich] mehr als der Turm in der Schlacht, der die besten psychoanalytischen Traditionen gegen Freud und gegen die Nazis hochhielt« (Freudl 2001, S. 145).
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Bereits im skandinavischen Exil, mehr noch in den USA, verschob sich Reichs Forschungsschwerpunkt. Eine völlige Abkehr von Freud und dessen Lehre vollzog er jedoch nie. Dass er Die Massenpsychologie des Faschismus 1946 zur Auseinandersetzung mit »rechten« wie »linken« autoritären Ordnungen ausweitete, war einer der Gründe für seine erneute Verfolgung und die erneute Verbrennung seiner Bücher, diesmal in den USA. Reichs Inhaftierung und seinem Tod folgte ein Tradieren von Fehl- und Vorurteilen, die ihren Ursprung oft in jenen Diffamierungen hatten, die bereits in den 1930er Jahren von seinen Kollegen in die Welt gesetzt worden waren (3). Was bedeutete die Ausgrenzung Reichs für die Entwicklung der Psychoanalyse? Bernd Nitzschke kommentiert die Geschehnisse innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung von 1933 und 1934 so: »Der Skandal liegt dabei noch nicht einmal so sehr im Wunsch Freuds begründet, Reich aus der DPG (und damit aus der IPV) ausschließen zu lassen; er liegt vielmehr in den Umständen der Erfüllung dieses Wunsches begründet. Denn der Ausschluß Reichs […] und die Anerkennung der neuen Politik der DPG-Führung gegenüber dem Hitler-Regime erfolgten gleichzeitig. Das aber heißt: Im selben Augenblick, in dem man Reich eine unzulässige ›Vermischung‹ von Politik und Psychoanalyse vorwarf, akzeptierte und verteidigte man die von Boehm und Müller-Braunschweig praktizierte Vermischung von Psychoanalyse und (Anpassungs-)Politik!« (Nitzschke 1997a, S. 81; vgl. auch Cremerius 1997, S. 158–161).
Horst-Eberhard Richter urteilt über Reichs Hinauswurf: »Gewiß war Reich ein komplizierter, streitbarer Charakter. […] Daß er insbesondere durch die ›Massenpsychologie des Faschismus‹ die neuen Machthaber in Deutschland reizte und das Berliner Psychoanalytische Institut in noch größere Schwierigkeiten als die schon bestehenden bringen konnte, lag auf der Hand. Aber Tatsache war, daß Reich […] die Wahrheit vertrat […]. Man warf den Mann hinaus, der offen und unmißverständlich klarmachte, daß die Leitvorstellung einer durch Autoritätsgehorsam gleichgeschalteten ›Volks- und Rassegemeinschaft‹ dem Menschenbild der Psychoanalyse unversöhnlich gegenüberstand.982 […] Rückblickend kann man wohl sagen, daß der Präzendenzfall Reich einen Wendepunkt in der offiziellen Grundhaltung der Psychoanalyse darstellte. Aus der Selbstschutzmaßnahme in der Verfolgungssituation wurde eine 982 Wie die Tatsachen zeigen: gänzlich »unversöhnlich« eben leider nicht. Und ein einziges Menschenbild der Psychoanalyse gab es 1933 schon längst nicht mehr.
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grundsätzliche Marginalisierung der gesellschaftskritischen Psychoanalyse« (Richter 2003, S. 37, 40).
Fiel durch diese Marginalisierung nur irgendeines von vielen analytischen Spezialgebieten weg? Der selbst vom NS-Terror betroffene Psychoanalytiker Hans Keilson schreibt: »Wenn die Psychoanalyse aufhört, zu demaskieren, das Ungeheure zu entlarven und sich mit der Arroganz und dem Machtmißbrauch unkontrollierbarer Herrschaftsstrukturen widerspruchslos zu arrangieren versucht, hört sie auf, ›skandalös‹ zu sein, was sie von Anfang an gewesen ist, sie denaturiert ihren eigenen Anspruch und reduziert sich selbst zu irgendeiner Therapieform, die selbst noch in Zeitläuften tiefster Unfreiheit zu gebrauchen ist« (in Brecht et al. 1985, S. 6).983
Die Psychoanalyse als irgendeine Therapieform, die noch in Zeiten tiefster Unfreiheit zu gebrauchen ist – und auch gebraucht wurde: Dorthin waren auf dem 13. IPV-Kongress in Luzern die Weichen gestellt worden.984 Durch die Vorgänge in Luzern war die Psychoanalyse nicht nur für das NS-Regime weit verwertbarer geworden – sie hatte gleichzeitig ihre »Medizinalisierung« vorangetrieben. Noch 1926 hatte Freud an Paul Federn geschrieben: »Solange ich lebe, werde ich mich dagegen sträuben, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt wird« (zitiert in Fallend et al. 1985, S. 129). Doch genau das geschah bald darauf – und Freud, dessen Schriften bis zu seinem Lebensende tatsächlich weit über therapeutische Inhalte hinaus gingen, hatte durch seine Verdikte gegen Wilhelm Reich und gegen die Konfrontation mit den »rechts«-autoritären Regimes erheblichen Anteil daran. Die weitere Entwicklung in Deutschland fasst Helmut Dahmer pointiert zusammen:
983 Dazu passt auch, dass Siegfried Bernfeld 1932 bezüglich der Anerkennung der Psychoanalyse in der Sowjetunion mitteilte: »Im wesentlichen findet die Psychoanalyse, wie überall, nur als Klinik oder Psychologie des Sexualtriebes oder Psychologie des Unbewußten Geltung; die Expansion auf die Erforschung geistiger, kultureller, und gesellschaftlicher Gebiete wird ihr nicht gestattet« (Bernfeld 1972, S. 95). Das »wie überall« verweist allerdings auch darauf, dass der Tendenz, über das Therapeutische hinauszugehen, nicht nur in offen autoritären Systemen Widerstand entgegenschlug. Bernfeld führt dies im Anschluss dann auch für »Westeuropa und Amerika« aus. 984 Ähnlich Dahmer (1997, S. 179).
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»Vier, fünf Jahrzehnte später ist darum der vorherrschende Typus des Psychoanalytikers nicht der des Citoyens und Kulturkritikers, sondern der des gut verdienenden Kassenarztes,985 der die Öffentlichkeit meidet, sich vom politischen Leben und von theoretischen Debatten fernhält, um – wie es heißt – seine ›therapeutische Kompetenz‹ zu kultivieren. Anstelle der ›Untergrundbewegung‹ von einst […] sind bürokratisch verwaltete Vereine mit Hunderten von aufstiegsorientierten ›Normopathen‹ getreten« (Dahmer 2009f, S. 334f.).
Auch Sigmund Freud dürfte die Möglichkeit einer solchen Entwicklung bewusst gewesen sein. Kurz bevor er 1933 verlangte, von Reich »befreit« zu werden, erfuhr man von ihm in den Neuen Vorlesungen, dass die Psychoanalyse zwar als Therapie begonnen habe. Aber, so setzte er fort, »nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehaltes, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen« (Freud 1933a, S. 169).986
Doch schon kurz nachdem Freud dies veröffentlichte,987 bestand die »Betätigung« vieler Deutscher (und nicht weniger Österreicher) darin, Adolf Hitlers »Machtergreifung« zu bejubeln; bald darauf betätigten sie sich als Mitläufer, Mitwisser, Mörder. Die Psychoanalyse jedoch schreckte nun davor zurück, die Motive dieses massenhaften Verhaltens einzelner Individuen aufzudecken. Später schwieg die IPV nicht nur zu den Verbrechen weiterer Diktaturen, sondern auch »zum Vietnam-Krieg und anderen Kriegen, zur Unterdrückung von Minoritäten (Negern und Homosexuellen), zum Verbot der Interruptio, zum Kinderelend (Gewalt an Kindern und sexuellem Mißbrauch von Kindern) und zum Jugendelend durch Arbeitslosigkeit« (Cremerius 1995, S. 21). Wenn die Psychoanalyse heute – nach einem vorübergehenden, der 1968er Studentenbewegung zu verdankenden Popularitätszuwachs – kaum noch ge-
985 Mittlerweile durch die Berufsgruppe der Psychologen und im Bereich der analytischen Kinder- und Jugendtherapie durch weitere soziale Berufe ergänzt. 986 Hervorhebung von mir – A.P. Der Satz geht zu Ende mit: »freilich eine prima inter pares«. Die Therapie, die Freud hier meint, ist aber mit Sicherheit eine, die noch immer im wechselseitigen Austausch steht mit den nicht-therapeutischen Aspekten der Psychoanalyse. 987 Laut Freuds eigener Aussage war das Erscheinungsdatum der 6.12.1932 (Freud/Eitingon 2004, Bd. 2, S. 841).
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sellschaftlich relevant ist,988 dann lässt sich das nicht in erster Linie mit dem fast 70 Jahre zurückliegenden nationalsozialistischen Terror, mit Zweitem Weltkrieg, Emigration und Vertreibung begründen. Natürlich schwächte all dies die europäische Analytikerorganisation. Doch es hätte nicht zwangsläufig dazu führen müssen, dass sich in der weltweiten Psychoanalyse dauerhaft die Tendenz durchsetzte, sich auf Medizinisch-Therapeutisches zu konzentrieren. Das Entstehen und Erstarken autoritärer Regimes hätte die aufklärerischen Züge der Psychoanalyse auch bestärken können, lag darin doch eine Chance, wenn nicht gar Notwendigkeit zu genauerer Gesellschaftsanalyse – wie Wilhelm Reichs Schriften belegen.989 Auch fand die verstärkte »Medizinalisierung« der Psychoanalyse keineswegs nur in NS-Deutschland statt, sondern zeitgleich nicht zuletzt in den nun zum »analytischen Hauptland« aufsteigenden USA (vgl. Jacoby 1985; Fenichel 1998). Mittlerweile ist der vorübergehenden Schwächung der analytischen Organisation auch längst eine gewaltige Ausdehnung gefolgt: die Zahl der IPV-Mitglieder stieg von 560 im Jahr 1938 auf gegenwärtig über 12.000 (Hanly 2011, S. XXIV). Dennoch unternahmen auch in den Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des Faschismus offenbar weder die US-amerikanischen
988 Die Sigmund-Freud-Zentralbuchhandlung berichtet: »Seit längerem schon befindet sich psychoanalytische Literatur im Buchhandel auf dem Weg ins Abseits: Die Zahl der Neuerscheinungen und Übersetzungen sinkt beständig, Verlage, insbesondere große, ziehen sich zunehmend aus diesem nicht mehr eben lukrativ erscheinenden […] Geschäftszweig zurück. […] Mehrere Faktoren, die additiv wirken, begründen diese Situation hauptsächlich: Das gesellschaftliche Interesse an Psychoanalyse ist derzeit absolut gering. Das an analytischer Literatur interessierte Leseumfeld ist, verglichen mit den Verhältnissen in den 70-er und 80-er Jahren, zahlenmäßig erheblich zusammengeschrumpft. […] Die Volumina der Ankäufe sind in diesem Segment seitens staatlicher (Universitäts-)Bibliotheken, wie auch bei psychoanalytischen Instituten selbst, an einem nie gekannten Tiefpunkt angelangt […]. Eine Trendwende ist nicht erkennbar« (www.zentralbuchhandlung.de/ konzept.html). Im Psychologie-Studium an deutschen Hochschulen spielt die Psychoanalyse nicht einmal mehr als Therapie eine wesentliche Rolle. Während sich z.B. im Lehrbuch Klinische Psychologie und Psychotherapie die Verhaltenstherapie, deren Vokabular und Techniken durch das gesamte Buch ziehen, wird in diesem knapp 1000-seitigen Band die Psychoanalyse auf ganzen fünf Seiten erwähnt (Wittchen/Hoyer 2006, S. 424–427, 555). Selbst in meinem Studium der Klinischen Psychologie an der Ost(!)-Berliner HumboldtUniversität von 1976 bis 1981 wurde der Psychoanalyse weit mehr Aufmerksamkeit zuteil. Auch eine 2012 gegründete Initiative von Psychologiestudenten beklagt, »dass im Studiengang Psychologie zwar ausführlich über die Verhaltenstherapie, nicht aber über analytische Psychotherapie hinreichend informiert wird«, und engagiert sich dafür, die Psychoanalyse wieder gleichberechtigt abzuhandeln (www.psychoanalyse-universität.de/index. html). 989 Darauf machte mich Bernd A. Laska aufmerksam.
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Analytiker noch die IPV Anstrengungen, um das aufklärerische Potenzial der Freudschen Lehre zu mobilisieren.990 Die gegenwärtige Bedeutungsarmut der Psychoanalyse hat daher meiner Ansicht nach maßgeblich mit dem durch Analytiker selbst hergestellten und beibehaltenen »entpolitisierten« Image der Analyse zu tun, mit der weitgehenden Verweigerung ihrer offiziellen Organisationen und der meisten ihrer Mitglieder, sich als Psychoanalytiker öffentlich an gesellschaftskritischen Diskussionen und Veränderungsprozessen zu beteiligen, sowie mit der Reduktion der Psychoanalyse auf Psychotherapie.991 Damit haben die Analytiker auch ihren Gegnern in die Hand gearbeitet, die nun fragen können: Eine Therapie unter vielen, die aber viel langwieriger und kostenaufwendiger ist als andere, kann man die nicht einfach weglassen?992 »Unpolitisch« war die Psychoanalyse natürlich niemals, erst recht nicht 1933/34. Schon die Entscheidung, sich den faschistischen Machthabern anzupassen, war eine politische, der Ausschluss Reichs ebenso. Psychoanalytiker brachten ihr Fachwissen dann in politisch brisanten Zusammenhängen sowohl für als auch gegen den Faschismus ein. Sie hatten schon damals nur die Wahl, welche Art von Politik sie unterstützen oder auch selbst vertreten wollten. Und daran hat sich, wie ich an einigen Beispielen zu zeigen versucht habe, bis heute nichts geändert. Auch Reich wurde von der IPV nicht ausgeschlossen, weil er politisch aktiv war, sondern weil er eine »gewisse« politische Tätigkeit einforderte, die zu Konflikten mit dem NS-System geführt und so das Weiterbestehen der institutionalisierten Psychoanalyse in Deutschland zusätzlich gefährdet hätte. Darüber hinaus ließen sich seine politischen Aktivitäten gut als Alibi benutzen, um einen längst auch mit seinen fachlichen Auffassungen missliebig gewordenen Kollegen auszusondern – ohne dessen inhaltliche Häresien zu diskutieren. Ein Teil dieser Auffassungen war 990 Vgl. May (1982, S. 492–521). Auch in Loewenberg/Thompson (2011b) habe ich nichts entdecken können, was darauf hindeutet, dass eine solche Neuorientierung angestrebt wurde oder wird. 991 Auch Elke Mühlleitner zieht aus der »Vorgeschichte von 1938« diese »politische[n] Schlussfolgerungen«: »Politische Abstinenz […] und Innenschau haben der Psychoanalyse insgesamt geschadet. […] Im Blick auf aktuelle Verhältnisse kann man sagen, dass eine wache und engagierte Anteilnahme und die Einmischung der Psychoanalytiker in öffentliche Debatten notwendig sind« (Mühlleitner 2005a, S. 26; vgl. auch Fallend et al. 1985, S. 130). 992 Vgl. dazu als ein Beispiel von vielen die Intentionen, »den aktuellen Bedarf an Psychotherapie durch Einsparungen bei den […] Langzeittherapien gegenfinanzieren zu wollen« (erwähnt in der Resolution der Berliner Psychotherapeutenkammer, 3.12.2012).
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allerdings Jahre zuvor ähnlich auch von Sigmund Freud und anderen Analytikern vertreten worden. Ebenso hatten einige von ihnen Interesse bis Wohlwollen nicht nur gegenüber »linken« politischen Ansätzen im Allgemeinen, sondern auch gegenüber dem spezifisch kommunistischen Sozialexperiment Sowjetunion an den Tag gelegt. Doch dies – wie dann später auch ihre Versuche, Psychoanalyse und Physik zu verbinden – wollten die Analytiker offenbar in den 1930er Jahren bei sich selbst nicht mehr wahrhaben und bekämpften entsprechende Projekte dann stellvertretend bei Wilhelm Reich: ein in der Psychoanalyse gut bekannter, »Projektion« genannter Abwehrvorgang. Die Psychoanalyse, die ansonsten den Anspruch erhebt, die Vergangenheit bewusster zu machen und Verdrängungen aufzuheben, bemüht sich seitdem in Bezug auf Wilhelm Reich erfolgreich um das Gegenteil. Ausgegrenzt wurde damit gleichzeitig das von Reich ausgearbeitete Konzept einer Psychoanalyse ohne pessimistisch-individualistisches Menschenbild, ohne angeblich angeborenen Sadismus und Masochismus, ohne Aggressions- oder gar Todestrieb,993 ohne unvermeidlichen Ödipuskomplex und schicksalhaften Wie993 Nicht nur die Aggressions-, sondern auch die Todestriebhypothese sind innerhalb der Psychoanalyse nach wie vor recht lebendig. Ende der 1970er Jahre konstatierte Peter Ziese: »Wenn man von der Frustrationstheorie absieht, wird das Vorhandensein eines Aggressionstriebes in der analytischen Literatur nicht mehr bestritten« (Ziese 1982, S. 341). Über die Todestriebtheorie urteilte Ziese dagegen, dass diese »heute in der psychoanalytischen Literatur kaum mehr eine Rolle spielt« – und referierte auf den nächsten Seiten ausgerechnet diejenige Analytikerin, die insbesondere für das Festhalten an diesem Trieb steht: Melanie Klein (Ziese 1982, S. 343f.). Da die »Kleinianer« inzwischen zu den einflussreichsten Schulen der Psychoanalyse gehören und auch die ebenfalls einflussreiche Schule Jacques Lacans weiterhin auf die Existenz dieses Triebes setzt, muss man wohl sagen: Der Todestrieb ist heute unter Psychoanalytikern populärer als zu Freuds Zeiten. Dazu passt auch das Folgende. Im 2006 erschienenen Freud-Handbuch benennt der Sozialpsychologe Alfred Krovoza, Mitteilungen des Psychoanalytikers Martin Wangh zitierend, als noch immer gültige »Schwerpunktsetzung« für »psychoanalytische Politische Psychologie«: Der Impuls, den Todestrieb »die Oberhoheit über Eros gewinnen zu lassen«, sei als Problem »heute allgegenwärtig« (Krovoza 2006, S. 428). Ein anderes Beispiel entstammt einem Tagungsbericht von 2012: »Der Psychoanalytiker und Affektforscher Rainer Krause (Saarbrücken) betonte, dass die Psychoanalyse, therapeutisch mit Aggression und Destruktivität befasst, sich insbesondere um das Verstehen der Täterschaft bemühen sollte. Er sprach über die ›Freude am Morden‹, die in uns allen angelegt sei. […] In eindrucksvollen Fallgeschichten der Behandlung dreier Kinder von Nazi-Kollaborateuren zeigte Krause die ›narzisstisch-lustvollen Anteile der Destruktivität‹, die auch der Analytiker in seiner Arbeit mit solchen Patienten zunächst automatisch abwehre. Nur ein innerer offener Zugang zu diesen ›fulminanten Zerstörungskräften‹ erlaube es, diese zu bearbeiten und ermögliche es dem Einzelnen, sie zu kontrollieren« (Schon 2012). Der Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer formuliert daher ganz zu Recht in der Gegenwartsform: Der Aggressions- bzw. Todestrieb ist »der große Flop der Psychoanalyse« (Bauer 2011, S. 16, vgl. Vogt
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derholungszwang, ohne Straf-»Bedürfnis«, notwendige Triebunterdrückung und vermeintlich wünschenswerte Fremdsteuerung durch Über-Ich-Implantierung,994 dafür aber mit einer Vorstellung von leib-seelischer Gesundung und Gesundheit, stärkerer Einbeziehung von Gefühl und Körper in die Behandlung sowie Beschreibungen komplexer Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft.995 Auch dies wäre natürlich keine »perfekte« Psychoanalyse gewesen, schon weil Reich Freuds Überbetonung des Sexuellen beibehielt und 1934 noch nicht jegliche Idealisierung des Sowjetkommunismus abgelegt hatte.996 Aber Reichs Konzept hätte einen wesentlich konstruktiveren Ansatzpunkt für notwendige Weiterentwicklungen abgegeben als das, was nach dem Luzerner Kongress noch als Psychoanalyse-Leitbild übrig war (vgl. auch Dahmer 1995; 2012a, S. 28). 1990 hat der Psychoanalytiker Paul Parin gefragt, »ob die Psychoanalyse, so beschädigt, wie sie sei, überhaupt noch in unsere Welt passe, oder ob sie überaltert sei, ein romantisches Relikt wie die Postkutsche, eine obsolete messianische Utopie« (Cremerius 1995, S. 43). Man kann sich ebenfalls fragen, ob Freuds Urteil, dass es sinnlos ist, »einem zerlumpten Rock einen einzigen seidenen Lappen aufzunähen«, nicht auch für das Konglomerat zutrifft, dass sich mittlerweile hinter dem Namen Psychoanalyse verbirgt.997
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2001). Im einflussreichen Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie grenzen sich Helmut Thomä und Horst Kächele dagegen klar von Todes- und Aggressionstriebhypothesen ab (Thomä/Kächele 1996, S. 153–166). Viele Analytiker unterlassen es, so Clifford Yorke, britischer Psychoanalytiker und ehemaliger Mitarbeiter von Anna Freud, gegenüber der Freudschen Triebtheorie überhaupt eine Position zu beziehen (Yorke 2002, S. 7). Bernd A. Laska fasst daher treffenderweise wesentliche von Reichs therapeutischen Intentionen unter dem (zuerst wohl von Fenichel notierten) Motto zusammen: »Wo Über-Ich war, soll Ich werden!« (Laska 1991). Dies ist natürlich gemeint als Entgegensetzung zu Freud, der – von einem weitgehend asozialen Trieb-Es ausgehend – formulierte: »Wo Es war, soll Ich werden!« Zu Recht weist Laska allerdings daraufhin, dass Reich es vorgezogen hätte, wenn erst gar kein Über-Ich entstünde (ebd.). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Grunberger und Chasseguet-Smirgel 1976 glaubten, Reich lächerlich machen zu können, indem sie ihm und allen anderen »Anbetern der Illusion« das Motto unterstellten: »Wo Ich war, soll Es werden!« (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 158). Da Reich in der tiefsten Ebene dieses »Es« wertvolle prosoziale biologische Grundlagen vermutete, die das bewusste Ich nur bereichern könnten, geht dieser Herabwürdigungsversuch jedoch ins Leere. Einzelne dieser Punkte finden sich auch in anderen analytischen Konzepten, diese Gesamtheit jedoch nicht. Etwas ausführlicher zu einer »Psychoanalyse nach Reich«: Peglau 2015c, S. 465–469. Seriöse Kritik an Reichs damaligen Standpunkten findet sich zum Beispiel in Dahmer (1973, 2009b, 2012d). Eine in diesem Punkt ähnliche Kritik äußert auch Clifford Yorke: »Die Psychoanalyse befindet sich in schlechtem Gesundheitszustand. Ihr Verfall lässt sich seit sehr vielen Jahren
5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
Mit Sicherheit bedeutungsvoll ist und bleibt dagegen – trotz aller Widersprüche und Unzulänglichkeiten – Freuds eigenes Werk. Wesentliche von ihm entdeckte bzw. ausgearbeitete Wahrheiten, wie der prägende Einfluss der Lebensgeschichte und die gravierende Bedeutung des Unbewussten für alle menschlichen Daseinsebenen, sind noch längst nicht ausreichend in das allgemeine (Selbst-)Bewusstsein eingedrungen, sollten also dringend weiterhin vermittelt und verbreitet werden. Die bislang unzureichend geklärte Frage, wie der Mensch auf dem Grunde seines Wesens beschaffen ist, wird sich ohne die Einbeziehung Freudscher Erkenntnisse ebenfalls nicht zufriedenstellend beantworten lassen. Gerhard Danzer formuliert daher als Gretchenfrage der Anthropologie des 21. Jahrhunderts »Wie hältst Du’s mit der Psychoanalyse?« und setzt fort: »Kritik an den Konzepten Freuds ist legitim und sinnvoll, seine Lehre jedoch zu übergehen disqualifiziert den Ignoranten als rückständig und kulturarm« (Danzer 2011, S. 188). Auch der »im wesentlichen noch vorfreudianisch« argumentierenden Soziologie legt Helmut Dahmer nahe, Freud endlich auszuwerten, um Phänomene wie »die Furcht vor Fremden« oder den »Haß auf Andersartige« erklären zu können (Dahmer 2001, S. 12, 26, 71–82). Die Keimzelle der Psychoanalyse – die analytische Therapie – ist ja zudem noch vorhanden, hat auch umfangreiche Weiterentwicklungen erfahren. Allerdings ist es für die therapeutische Praxis ebenfalls nicht ohne negative Wirkung geblieben, dass jahrzehntelang die Bedeutung der Außenwelt abgewertet und die Wahrnehmung der Innenwelt durch pessimistische Annahmen verzerrt wurde (vgl. Cremerius 1995, S. 29–34). Therapeuten, die glauben, dass es darum geht, sich mit kaum kaum noch verhehlen. Durch Euphemismen wird die Krankheit beschönigt: tiefe Spaltungen werden als ›Vielfalt‹ bezeichnet, und der ›Pluralismus‹ ermöglicht es der professionellen Identität, ihr Siechtum unter dem Schutzmantel einer Internationalen Vereinigung zu verbergen. […] Wenn die Psychoanalyse überleben soll – gegenwärtig scheint sie sich eher darauf zu konzentrieren, ihren eigenen Untergang zu verwalten – dann sicher nicht durch einen Eklektizismus […]. Die entscheidende Frage muß lauten: Inwieweit sind die analytische Theorie und Praxis in den von Freud entwickelten […] Grundprinzipien verwurzelt?« (Yorke 2002, S. 7, 141). Johannes Cremerius urteilt: »Als Begründer der Psychoanalyse fürchtete Freud ebenso wie der andere große Erneuerer des 19. Jahrhunderts, Karl Marx, daß seine Idee nur überleben könne, wenn er sie – wie jener vor ihm – durch eine ›Internationale‹, eine autoritär-hierarchisch verwaltete Organisation, schützte. […] Zwar hat die ›Psychoanalytische Internationale‹ internationale Macht gewonnen, aber Freuds Ideen wurden dieser Macht und ihrer Erhaltung weitgehend geopfert. Die Funktionen, die ihr einmal Sinn gaben – eine aufklärerische, gesellschaftskritische Wissenschaft am Leben zu erhalten – übt sie nicht mehr aus. Sie ist anachron geworden (Erdheim 1987). Was in ihr überlebt hat, ist die ›gefesselte Psychoanalyse‹« (Cremerius 1995, S. 14). Helmut Dahmer hat bereits 1983 wesentliche – und bis heute nicht erfüllte – Forderungen zusammengefasst, denen sich eine nicht mehr »eingeschüchterte Psychoanalyse« zu stellen hätte (Dahmer 1994b).
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5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
veränderlichen (Trieb-)Strukturen auszusöhnen, dürften den Patienten (und sich selbst) viel zu enge Grenzen für Veränderungsmöglichkeiten zubilligen. Und natürlich muss es die Wirksamkeit einer Psychotherapie erheblich einschränken, wenn ihr ein realitätsfernes Menschenbild zugrunde liegt und entscheidende, neuroseverursachende und -unterhaltende Faktoren in der Gesellschaft ignoriert werden. Dennoch glaube ich, ein Neustart der Psychoanalyse auf dem, wie es Freud formulierte, »Weg ins Weite, zum Weltinteresse« ist nicht gänzlich ausgeschlossen. Er dürfte umso leichter fallen, je mehr frühere Fehler wie das Gleichsetzen individueller und gesellschaftlicher Verhältnisse vermieden werden998 und je mehr die Psychoanalyse in sinnvollen Austausch mit anderen Wissenschaften tritt (vgl. Cremerius 1995, S 44–49; Rattner 1987; Nitzschke 2000, S. 237–245; Rattner/ Danzer 2010, insbesondere S. 123–144) – ohne allerdings ihre Spezifik als »unnatürliche«, Natur- und Geisteswissenschaften zu etwas Neuem kombinierende Wissenschaft (Dahmer 2012c) zu verleugnen. Dieser Spezifik gerecht zu werden, bedeutet ebenfalls, die intersubjektiven Aspekte der Psychoanalyse zu betonen: Während sich analytischer Therapeut und Patient, analytischer Autor und Leser zueinander in Beziehung setzen, verändern sich beide – und erhalten Impulse für die Veränderung ihrer (auch gesellschaftlichen) Lebensumstände (ebd., S. 121; 2012f, S. 210).999 Das Werk Sigmund Freuds und mancher seiner, nicht zuletzt dissidenter Nachfahren bietet deshalb nach wie vor Ansatzpunkte, die »noch manche Götzendämmerung und manche Sozialrevolution inspirieren« werden (Dahmer 2012a, S. 28). Ohne Berücksichtigung von Erkenntnissen, wie Freud, Reich und Fromm sie gesammelt haben, sind, so meine ich sogar, nachhaltig erfolgreiche gesellschaftliche Umwälzungen überhaupt nicht möglich. Oder wie Reich es formulierte: »Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann« (Reich 1934b, S. 283). 998 Noch der IPV-Newsletter vom September 2012 tut jedoch kund, es sei »an der Zeit, daß wir uns der Aufgabe stellen, ›ein analytisches Modell zu entwickeln, das die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit als einen Organismus betrachtet, dessen Verfasstheit der Persönlichkeit eines Individuums entspricht‹« (www.ipa.org.uk/de/Newsletters/Editorial_Septem ber.aspx). 999 Schon in den Briefen an Wilhelm Fließ (Freud 1986) finden sich diverse Beispiele dafür, dass Freud nicht nur auf seine Patienten verändernd einwirkte, sondern deren Erkenntnisse auch Freuds Wissen über sich selbst erweiterten. Freuds Schriften sind auch eines der besten Beispiele dafür, dass ein analytischer Autor seinen Lesern Selbsterkenntnismöglichkeiten erschließt, indem er diese an seinem eigenen Bewusstwerdungsprozess teilhaben lässt.
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5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
Hier scheint mir auch der richtige Ort zu sein, um abschließend noch einmal auf Reichs These der Nichtvereinbarkeit von Psychoanalyse und Nationalsozialismus einzugehen. Keinesfalls bin ich bereit, ihm diesbezüglich uneingeschränkt zuzustimmen.1000 Diese Aussage Reichs erwies sich in ihrer Pauschalität als eindeutig falsch:1001 Sowohl Psychoanalytiker als auch psychoanalytische Erkenntnisse funktionierten in erheblichem Maße im und für den deutschen Faschismus. Der am DIPFP zum Psychoanalytiker ausgebildete Dietfried Müller-Hegemann sprach später sogar von einer »Zuneigung des Faschismus zur Tiefenpsychologie« als einer »Lehre, die die Behebung der psychischen und auch gesellschaftlichen Konflikte ohne Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse verspricht, die die Menschen als ungesellschaftliche, triebbeherrschte, aggressionsbestimmte Wesen auffaßt« (Müller-Hegemann 1955, S. 108). Eine pauschale Zuneigung »des« Faschismus zu »der« Tiefenpsychologie hat es ganz sicher nicht gegeben, schon gar nicht zu »der« Psychoanalyse. Nicht nur ihr Unpolitisch-Tun erleichterte allerdings in der Tat die Integration in den NS-Staat: Wer kriegerische oder »Rassen«-Konflikte anzetteln wollte, dem kamen auch Auffassungen entgegen, die den Drang zu Grausamkeit und Krieg als normales menschliches Wesensmerkmal werteten. Insofern war das Todestriebkonzept ebenfalls geeignet, die Abneigung von Nationalsozialisten gegenüber der Analyse zu reduzieren.1002 Zudem ließ es sich verwenden, um den Vorwurf der Sexualfixierung zu entkräften – was Carl Müller-Braunschweig in seinem Reichswart-Artikel auch nutzte. Allerdings wich die Psychoanalysevariante, die Müller-Braunschweig da entwarf, und das, was sich dann tatsächlich unter dem Namen Psychoanalyse im NS-Staat behaupten konnte, wesentlich von dem ab, was Reich gemeint hatte: eine Psychoanalyse, in der die zentrale Rolle der Libidotheorie durch keinen Todestrieb relativiert war, die frühkindliche Sexualität offen würdigte, gesellschaftliche Ursachen von Neurosen aufdeckte und zur Errichtung des Sozialismus beitrug. Und diese Psychoanalyse wäre tatsächlich unverträglich für das NS-System gewesen, nicht nur wegen deren »Links«-Orientierung: Ein faschistisches Regime, das zugelassen hätte, dass seine destruktiven, krankmachenden Aspekte kritisch hinterfragt wer1000 Und dementsprechend auch Michael Schröter nicht, der ebenfalls urteilt: »Im Rückblick kann man sagen: Psychoanalyse und Nationalsozialismus waren unvereinbar« (Schröter 2009, S. 1124). 1001 Erst recht unzutreffend war Reichs Behauptung, dass die Psychoanalyse »nur im Lager der politischen Linken und nie im Lager der Rechten ihre Funktion erfüllen kann« (wiedergegeben in Fenichel 1998 Bd.1, S. 97). Als Reich dies schrieb, rechnete er mit Sicherheit noch die Sowjetunion zum »linken Lager«. Doch dort wurde ja die Psychoanalyse letztlich weit konsequenter unterdrückt als in NS-Deutschland. 1002 Explizite NS-Kritik am Todestriebkonzept ist mir auch nirgendwo ins Auge gefallen.
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5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz
den, hätte sich selbst die Grundlagen entzogen. Dass Adolf Hitler keine Bewegung anführte, die daran interessiert war, kritisiert zu werden, ließ sich schon vor 1933 zweifelsfrei feststellen. Reich konnte also sinnvollerweise gar nicht zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen, als dass Psychoanalyse, wie er sie verstand, mit dem NS-System unvereinbar war. Daraus lässt sich meiner Meinung nach auch etwas Wesentliches für gegenwärtige Diskussionen über die Kompatibilität von Psychoanalyse und Faschismus schlussfolgern. Diese Diskussionen kranken meist daran, dass nicht klargestellt wird, was man überhaupt unter Psychoanalyse verstehen will.1003 Doch wie erwähnt gibt es hierfür diverse Definitionsvorschläge. Je mehr man aber meint, die Analyse als vorwiegend abstrakt-wissenschaftlich, »unpolitisch«, medizinisch-therapeutisch, als »Technik« ansehen zu wollen, desto mehr müsste man zugeben, dass diese Psychoanalyse mit dem Faschismus nachweislich gut vereinbar war – und es wohl jederzeit wieder wäre: Einer solchen Analyse muss(te) die Anpassung an Systemwechsel leicht fallen. Im Gegensatz zu 1933 müsste die internationale Psychoanalyseorganisation heute offenbar nicht einmal eine exponierte gesellschaftskritische Fraktion zum Schweigen bringen, um diese Anpassung zu vollziehen. Je mehr man Psychoanalyse jedoch als Form von Aufklärung, als auch kultur- und gesellschaftskritisches Verfahren versteht, umso unvereinbarer mit destruktiven, unterdrückenden Systemen ist sie tatsächlich. Das heißt zugleich: Wer ernsthaftes Interesse daran hat, dass in Zukunft Verstrickungen der Psychoanalyse in Staatsverbrechen wie in NS-Deutschland und Brasilien oder in inhumane Geheimdienstpraktiken wie in den USA vermieden werden, müsste konsequenterweise schon deshalb eine gesellschaftskritische Psychoanalyse fordern. Bei den Bemühungen um eine solche Psychoanalyse ließe sich anknüpfen an das, was nicht zuletzt Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Erich Fromm an aufklärerischen Positionen vertraten. Ob die psychoanalytischen Organisationen derartige Anstrengungen unterstützen werden, ist äußerst fraglich – aber auch nicht zwingend nötig für einen Neuanfang. Gerade weil Freuds Schöpfung so viel mehr ist als eine Therapiemethode, ist sie für alle Menschen, die sich selbst und ihre Welt erkennen und konstruktiv verändern wollen, in vielen Punkten bedeutsam und anwendbar. Sie lässt sich auf ganz verschiedene Weise weiterentwickeln und weiterdenken.
1003 Ein aktuelles Beispiel dafür gibt M.G. Ash (2012b, S. 23–27). Vgl. auch Füchtner (2010, S. 246f.).
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Anhang
Dokumente und Abbildungen
Die meisten im Weiteren vorgestellten Dokumente haben im Original ein deutlich größeres Format und sind bereits dort oft schwer lesbar. Sie hier verkleinert wiederzugeben, hätte bei vielen bedeutet, auf Lesbarkeit zu verzichten. Ich habe mich deshalb für einen Kompromiss entschieden: Die Dokumente wurden ganz oder zu Teilen abgeschrieben und dem Original so ähnlich wie möglich nachgestaltet, gelegentlich unter Verwendung originaler Elemente. Den jeweiligen Quellenangaben lässt sich entnehmen, wo Einsicht in die Originaldokumente genommen werden kann. A. P.
557
Anhang
Wilhelm Reich * 24. März 1897 in Dobrzanica, Österreich-Ungarn † 3. November 1957 in Lewisburg, Pensylvania, USA Das Foto zeigt ihn um 1930 in der Umgebung von Berlin. Es wurde vom Institutsarchiv der New York Psychoanalytic Society zur Verfügung gestellt.
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Dokumente und Abbildungen
Sigmund Freud * 6. Mai 1856 in Freiberg, Mähren, österreichisches Kaiserreich † 23. September 1939 in London Das Foto von Hans G. Casparius entstand 1939 in London. Es wurde von der Sigmund Freud Privatstiftung Wien zur Verfügung gestellt und mit Erlaubnis der Stiftung Deutsche Kinemathek abgedruckt.
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Anhang
Tageszeitung der Kommunistischen Opposition Deutschlands Wilhelm Reich: Sexualerregung und Sexual-
mit den Details des Geschlechtsaktes selbst be-
befriedigung (Münster-Verlag, Wien). Dieses kleine Heft, das erste aus der Reihe
schäftigt. Wir stehen wohl kaum im Verdacht,
der Schriften der sozialistischen Gesellschaft
Prüderie abzulehnen, aber es fragt sich doch, ob
für Sexualberatung und Sexualforschung Wien,
diese nahezu in Rezeptform gegebenen Anlei-
zeichnet sich vor anderen seiner Art dadurch
tungen für die Allgemeinheit von Nutzen sind;
aus, daß es die Fragen der Sexualität in enge und
hier spielt individuelle Veranlagung doch eine zu
richtig gesehene Verbindung mit der herrschen-
entscheidende Rolle, als daß solche Gebrauchs-
den Gesellschaftsordnung bringt. Das kommt
anweisungen Sinn haben könnten. Aber wegen
besonders in den im Anhang wiedergegebenen
seiner grundsetzlichen Einstellung zu den Fra-
50 Fragen und Antworten zum Ausdruck. We-
gen verdient die kleine Schrift Beachtung.
diese ins Einzelnste gehende Beschreibung aus
niger wertvoll ist der Teil der Schrift, der sich
D.F.
Kampfblatt der national- fozialiftifchen Bewegung Großdeutfchlands
Sigmund Freud erhält den Goethe-Prei$. Der Goethe-Prei$ der Stadt Frankfurt wurde die$mal Professor Sigmund Freud, dem weltberühmten Wiener Gelehrten und Schöpfer der Psychoanalyse, so jubelt mit Zinken und Posaunen die „Israel. Gemeindeztg.“ in Nr. 10, verliehen. Der Goethe-Prei$, der größte wissenschaftliche und literarische Prei$ Deutschland$, wird dem Au$gezeichneten am 28. August, dem Geburt$tage Goethe$, im Rahmen einer
großen Feierlichkeit in Frankfurt a. M. überreicht werden. Die Prei$summe beträgt 10 000 Mark. – Daß von namhaften Gelehrten die ganze Psychoanalyse de$ Juden Sigmund Freud al$ höchst unwissenschaftliche$ Geschwafel und Geschwätz abgelehnt wird, weiß man. Der große Antisemit Goethe würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erführe, daß ein Jude einen Prei$ bekommt, der seinen Namen trägt.
Reich-Rezension in Arbeiterpolitik, 27.2.1930. Quelle: Bibliothek BA Berlin. Freud-Erwähnung in Völkischer Beobachter, 29.8.1930. Quelle: Zeitungsarchiv Staatsbibliothek Berlin (ZAS).
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Dokumente und Abbildungen
Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Die Rote Fahne Zentralorgan der Kommunistischen Partei Oesterreichs (Section der Kommunistischen Internationale)
Prei$ 15 Groschen
Wien, Sonntag, 19. Oktober 1930
13. Jahrgang. Nr. 248
Kämpfer gegen den Faschismus Da$ sind die Kandidaten der au$gebeuteten Massen der Betrieb$arbeiter und Arbeit$losen, Führer im revolutionären Kampf gegen Faschi$mu$ und Arbeiterverrat. Arbeiter au$ Werk, Schacht und Hütte, Vertreter der werktätigen Frauen und der wahlrecht$beraubten kämpfenden Jugend, der schaffenden Kleinbauern und der notleidenden Mittelständler.
3. Alsergrund–Währing–Döbling Wir veröffentlichen nachstehend die KandiBeauvale Robert, Gemeindearbeiter; datenliste der Kommunistischen Partei… Mautner Rudolf, Metallarbeiter; Wien: Popek Franz, Bauarbeiter; Guttmann Martha, Fürsorgerin; 1. Innere Stadt–Landstraße–Wieden Fabri Vilma, Hau$halt; Hallak Wenzel, Bauarbeiter; Amei$bichler Stefan, Metallarbeiter; Dr. Schönhof Egon, Rechtsanwalt; Kreutner Rudolf, Meiereiarbeiter; Mönch Anna, Hau$halt; Breuer Kitty, Angestellte. Ezapira Jacob, Buchhalter; Keglik Aloi$, Buchdrucker. 2. Mariahelf–Neubau–Josefftadt Jekel Otto, Ga$arbeiter; Barborik Angele, Heimarbeiterin; Rothe Franz, Redakteur; Dr. Wertheim, Johanne$, Schriftsteller; Kamesch Otto, Graphiker.
…
7. Rudolf$heim–Ottakring–Hernal$ Koplenig Johann, Schuhmacher; Haa$ Ludwig, Metallarbeiter; Dr. Reich Wilhelm, Arzt; Hetocag Josef, Bauarbeiter; Skav$ Josef, Glüher;
KPÖ-Kandidatur W. Reichs für den Nationalrat in Die Rote Fahne (Wien), 19.10.1930, Zeitungsbestand Österreichische Nationalbibliothek Wien.
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Anhang
Polizeipräsidium Berlin Abteilung IV – Th 5402 – ___________ Schund- und Schmutzbekämpfung Sexualerregung– und Sexualbefriedigung.
B e s c h l u ß Betrifft: Psch 5410/316. Auf den Antrag des Landesjugendamts Westfalen vom 11.6.30 hat die Prüfstelle Berlin für Schund= und Schmutzschriften in der Sitzung vom l.Juli 1930, an der teilgenommen haben: Amtsgerichtsrat Dr. B e h l als Vorsitzender, Schriftsteller Robert Breuer “ Beisitzer der Gruppe Schriftsteller Julius Bab “ “ “ “ Verlagsdirektor Reinhold Thieme “ “ “ “ Verlagsbuchhändler Handelsgerichtsrat Fritz Th. Cohn “ “ “ “ August Albrecht “ “ “ “ Jugendpfarrer L.Suderow “ “ “ “ Lehrer Ernst Stapelfeldt “ “ “ “ Lehrer Georg Szulmistrat “ “ “ “ Dr.H.Bach “ Protokollführer,
I, I, II, II, III, III, IV, IV,
e n t s c h i e d e n : Der Antrag, die Schrift "Sexualerregung und Sexualbefriedigung" (Schriften der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung in Wien, Nr. l) von Dr.med. Wilhelm Reich, III.Aufl., Münster-Verlag, Wien, in die Liste der Schund= und Schmutzschriften aufzunehmen, wird abgelehnt.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e : Die Schrift "Sexualerregung und Sexualbefriedigung“ des Dr.med. Wilhelm Reich, die als erstes Heft der "Schriften der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung in Wien“ erschienen ist, macht es sich zur Aufgabe, Aufklärung über brennende Fragen des Sexuallebens in weiten Volksschichten zu verbreiten. Sie gliedert sich in zwei Teile: der erste behandelt in fortlaufender
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Dokumente und Abbildungen
Darstellung Sexualfragen, insbesondere solche der Empfängnisverhütung und des Geschlechtsaktes. Im zweiten Teil werden die Antworten auf 50 Fragen wiedergegeben, die an den Verfasser im Anschluß an seine Vorträge gerichtet worden sind. Die Behandlung der erörterten Probleme geschieht nach Maßgabe der sozialistischen Weltanschauung und der wissenschaftlichen Überzeugung des Verfassers. Insoweit hat sich die Prüfkammer mit der Schrift nicht zu befassen. Die Art des Vortrages ist ernsthaft und verantwortungsbewußt. Der Verfasser gibt seine Erfahrungen und seine Ratschlage zur Lösung der Sexualnot, insbesondere auch jugendlicher Personen, in klarer und prägnanter Weise. Es handelt sich um eine populär-wissenschaftliche Arbeit, die von einem nicht zu verkennenden Idealismus getragen ist. Die rein rationalistische Behandlung des Themas kann mit "Zynismus" niemals verwechselt werden. Auch der Frage- und Antwortteil ist rein sachlich gehalten, fordert die Jugend zum Verantwortungsbewußtsein in sexuellen Dingen auf (vgl. Frage 29 u.a.) und verweist sie, soweit öffentliche Erörterung nicht angebracht erscheint, an die Sexualberatungsstelle. Es handelt sich also um eine mit Ernst und mit tiefem Mitgefühl für die Not breiter Volkskreise geschriebene Broschüre, die aus denselben Gründen wie die Schrift von E.Höllein "Gegen den Gebärzwang" (vgl. die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 6.11.28 -Pr -Nr.35) als Schund- oder Schmutzschrift nicht angesehen werden kann. Dadurch rechtfertigt sich die ergangene Entscheidung.
gez. Dr. B e h l Vorsitzender.
Beschluss der Prüfstelle Berlin für Schund- und Schmutzbekämpfung vom 1.7.1930 zu Reichs Schrift Sexualerregung und Sexualbefriedigung. Quelle: LA APr.Br.Rep. 030 Nr. 17203.
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Anhang
Die „Welt am Abend“ rief und alle kamen
Der Massensturm gegen den § 218 Ueberfüllte Versammlungen im Friedrichshain und in den Pharussälen Dr. Reich ließ den Papst in seiner Enzyklika regelrecht Spießruten laufen. Temperamentvoll und mit Witz zerpflückte er die Enzyklika, und die zahlreichen Zwischenrufe und Anfragen zeigten, wie die Versammelten mitgingen. Nach Schluß der Versammlung
wurde er von vielen Versammlung$besuchern umringt, die ihn um Material gegen die Enzyklika baten. Verständlich, daß die au$gelegten Kampfbroschüren gegen die Enzyklika einen gewaltigen Absatz fanden.
LITERATUR-RUNDSCHAU DER ROTEN FAHNE
Marxistische Sexualpolitik Dr. Wilhelm Reich, der Verfasser zahlreicher sexualtheoretischer Schriften, der gewesene Leiter der Wiener Sexualberatung$stelle, beginnt am Montag, dem 13. April, abend$, Punkt 20 Uhr, im Zentralschullokal der Marxistischen Arbeiterschule, Gartenstraße 25, am Stettiner Bahnhof, seine Vortrag$reihe über marxistische Sexualökonomie und Sexualpolitik. Heute, wo
der Kampf um den § 218, im Zusammenhang mit der Verhaftung und der empörenden Behandlung von Dr. Friedrich Wolff und Frau Dr. Kienle, aktueller und notwendiger al$ je zuvor ist, werden die Vorträge von Dr. Wilhelm Reich bestimmt ein besondere$ Interesse erwecken. Hörgebühr, Mitglieder proletarischer Organisationen 30 Pf., Erwerb$lose 20 Pf., sonst 50 Pf.
W. Reich in den Berliner Pharus-Sälen, in Die Welt am Abend, 26.3.1931. Kursbeginn in der MASCH, in Die Rote Fahne, 11.4.1931. Quelle für beides: ZAS.
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Dokumente und Abbildungen
Vorwärts geht’s
inheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz
Mit der neuen Jugend zum siegreichen Kampf für den Sozialismus
„DIE WARTE“ AUS DEM INHALT: 1. Kommunale Beratungsstellen. 2. Geschlechtsleben und Strafrecht. 3. Der nächste Schritt. 4. Bericht von der Einigungskonferenz. 5. Front gegen Korruption. 6. Statuten-Entwurf. 7. „Nicht einmal ein Kind…“
Kampforgan für proletarische Sexualpolitik und für die Herstellung der Einheit aller sexualpolitischen Organisationen.
Die Warte Mai/Juni 1931, Titelblatt. Quelle: Bibliothek BA Berlin.
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Anhang
MASCH Marxistische Arbeiterschule
Die Hochschule der Werktätigen •Kurse und Arbeitsgemeinschaften für Anfänger u. Fortgeschrittene•Lehrerschulen Diskussionabende, Sonderveranstaltungen u. Führungen
Groß-Berlin
1931–32 ERSTES TRIMESTER XX. Medizin, Hygiene, Sexualreform Abendkurse. 175 Die Hauptfunktionen des menschlichen Körpers. Dr. H i r s c h. 6 Doppelstunden, jeweils am Donnerstag, dem 14., 21., 28. Januar, 4., 11., 18. Februar. Beginn 20 Uhr. Zentrales Schullokal. 176 Krankheit und Klasse. (Einführung in die Zusammenhänge zwischen Krankheiten und sozialer Lage.) Dr. L e o F r i e d I ä n d e r. 10 Doppelstunden, jeweils am Mittwoch, dem 13., 20., 27. Januar, 3., 10., 17., 24. Februar, 2., 9., 16. März. Beginn 20 Uhr. Zentrales Schullokal. 177 Geschichte der Sexualmoral. Dr. W i l h. R e i c h. 4 Doppelstunden, jeweils am Montag, dem 1., 8., 15., 22. Februar. Beginn 20 Uhr. Zentrales Schullokal. 178 Sexualökonomie und marxistische Sexualpolitik. Dr. W i l h. R e i c h. 4 Doppelstunden, jeweils am Montag, dem 29. Februar, 7., 14., 21. März. Beginn 20 Uhr. Zentrales Schullokal. 179 Normales, gehemmtes und krankhaftes Geschlechtsleben. Dr. F r i t z F r ä n k e l. 6 Doppelstunden, jeweils am Mittwoch, dem 13., 20., 27. Januar‚ 3., 10., 17. Februar. Beginn 20 Uhr. Schule Kreuzberg. 180 Arbeitsgemeinschaft zur Ausbildung von Referenten für marxistische Sexualpolitik. (Vorbedingung: Teilnahme an marxistischen Grundkursen.) Vorherige Anmeldung erforderlich. Dr. W i I h. R e i c h. 11 Doppelstunden, jeweils am Mittwoch, dem 13., 20., 27. Januar, 3., 10., 17., 24. Februar, 2., 9., 16., 23. März. Beginn 20 Uhr. Schule Rosenthaler Platz. 181 Fragen der Geburtenregelung. Dr. R e n i B e g u n. 5 Doppelstunden, jeweils Dienstag, dem 23. Februar, 1., 8., 15., 22. März. Beginn 20 Uhr. Zentrales Schullokal.
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Dokumente und Abbildungen
Auszug aus dem Lehrerverzeichnis Alexander, Dr. E. Begun, Dr. Reni Biha, Otto Bischof, Fritz Dahlem, Franz (MdR.) Duncker, Dr. Hermann Einstein, Prof. Albert Eisler, Hanns Friedländer, Dr. Leo Friedländer, Dr. Paul Gropius, Prof. Walter Halle, Prof. Felix Heartfield, John Heckert, Fritz (MdR.) Hoernle, Edwin (MdR.)
Kisch, Egon Erwin Kuczynski, Jürgen Lantosch, Dr. Barbara Möricke, Fritz (MdR.) Münzenberg, Willi (MdR.) Neubauer, Dr. Theo (MdR.) Piscator, Erwin Reich, Dr. Anni Reich, Dr. Wilhelm Renn, Ludwig Schneller, Ernst (MdR.) Swienty, Dr. Wilh. Taut, Prof. Bruno Weigel, Helene Zweig, Hannah
Auszüge aus dem MASCH-Programm 1931/32. Quelle: Bibliothek BA Berlin. Schicklerhaus, Berlin-Mitte, ehemaliger Standort der MASCH-Zentrale (Foto: Gudrun Peters, 2007).
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Anhang
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2
3
Lore1, Eva2 und Anni3 Reich, 1931 aufgenommen von W. Reich auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Schlangenbader Straße in Berlin-Wilmersdorf. Zur Verfügung gestellt von Lore Rubin Reich.
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Dokumente und Abbildungen 15. Jahrgang / Nr. 168
Berlin, Sonntag 14. August 1932
Die Rote Fahne
Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschland$ (Sektion der Kommunistischen Internationale)
Prof. Freud für den Anti-Kriegskongreß Wie wir erfahren, ist der Aufruf an die Aerzte aller Länder, der zur Unterstützung de$ von Henri Barbusse veröffentlichten Aufruf$ zum Weltkongreß gegen den Krieg herau$gegeben wurde, auch von dem bekannten Wiener Professor Dr. Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, unterzeichnet worden. Mit der Unterzeichnung diese$ Aufruf$ hat Sigmund Freud sich u.a. zu folgenden Sätzen bekannt: „Wir unterzeichneten deutschen Aerzte begrüßen den Aufruf Henri Barbusse$ zum Kampf gegen einen neuen Krieg. Wir
Aerzte kennen den Schrecken de$ Kriege$ am besten, weil wir noch heute die irreparablen Gesundheit$schäden de$ letzten Kriege$ täglich sehen. Trotz der fortdauernden Vernichtung von Kulturwerten durch den Krieg und obwohl die Greuel de$ Weltkriege$ nicht unvergessen bleiben, sind schon wieder Kräfte am Werke, die den Au$weg aus der Wirtschaft$krise in einem neuen Krieg sehen wollen… Bedroht ist in erster Linie die Sowjetunion. Ein Angriff auf diese$ Land, das den friedlichen Aufbau will, bedeutet einen neuen Weltkrieg. Deshalb rufen wir Unterzeichneten die Aerzte aller Länder auf, gegen den Krieg zu kämpfen und den Anti-Krieg$kongreß am 27. und 28. August zu beschicken.“
Sigmund Freud in der Roten Fahne, 14.8.1932. Quelle: ZAS.
569
Anhang
Als Grundlage für die symbolische Handlung im Verbrennungsakt ist die im folgenden gegebene Aufstellung zu benutzen und möglichst wörtlich der Rede des studentischen Vertreters zugrunde zu legen. Da es praktisch in den meisten Fällen nicht möglich sein wird, die gesamten Bücher zu verbrennen, dürfte eine Beschränkung auf das Hineinwerfen der in der folgenden Aufstellung angegebenen Schriften zweckmässig sein. Es wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass trotzdem ein grosser Haufen Bücher verbrandt wird. Die örtlichen Veranstalter haben dabei jegliche Freiheit. 1. Gegen Klassenkampf und Materialismus Für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung Marx, Kautsky 2. Gegen Dekadenz und moralischen Verfall Für Zucht und Sitte in Familie und Staat Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner 3. Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat Für Hingabe an Volk und Staat F.W. Foerster 4. Gegen seelenzerfasernde Ueberschätzung des Trieblebens Für den Adel der menschlichen Seele Freud‘sche Schule, Zeitschrift Imago 5. Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer grossen Gestalten Für Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit Emil Ludwig, Werner Hegemann 6. Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung Für verantwortungsbewusste Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus Theodor Wolff, Georg Bernhard 7. Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges Für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit Erich Maria Remarque 8. Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache Für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes Alfred Kerr 9. Gegen Frechheit und Anmassung Für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist Tucholsky, Ossietzky Mit Heil Hitler
‘
Führer der DSt gez. Krüger
Hauptamtsleiter gez. Leistritz.
Rundschreiben der Deutschen Studentenschaft vom 9.5.1933 mit den Feuerspruch-Vorgaben. Quelle: www.hdbg.de.
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Dokumente und Abbildungen
2.) Schreiben: An die Bundespolizeidirektion in Wien. Ihr Schreiben vom 17. 4. 33 - Pr.Zl.IV-2642/33-. --Anbei übersende ich ein Verzeichnis der bisher aus dem Freistaat Preussen ausgewiesenen österreichischen Staatsangehörigen. Die Ausweisung ist wegen ihrer Betätigung in der kommunistischen Bewegung erfolgt. --Liste der aus dem Freistaat Preussen ausgewiesenen österreichischen Staatsangehörigen. --1) Lilli
S z a n t o , 1.
7.
10 Budapest geboren,
2) Heinrich R o s n e r , Nationale nicht bekannt, 3) Irma
S c h r ö t t e r
4) Karl
S u r m a
,
,
13.
5) Tony L ö w e n t h a l 6) Alexander 7) Dr.
9) Peter
Leopold
K a
2. ,
K a t z ,
t
z
,
W e i m a y r
,
17.
11.
11.
97 Tarnowitz geboren, 11.
03
O4
25.
98 Wien geboren,
Wien geboren,
Berlin geboren, 5.
11) Josef S c h l e s i n g e r ,
Wien geboren,
89 Upsala geb.,
3.
8.
,
91
Wilmersdorf geboren,
16.
15.
26.
9.
02
6.
S t r a s s e r
8) Otto B i t t n e r ,
10) Franz
26.
07
24.
München
3.
12) Dr.
Wilhelm
R e i c h ,
24.
7.
13) Karl
M o t e s i e z k y,
27.
5.
97
geboren,
02 Gänserndorf geboren, Dobzaniza geboren,
04 Wien geboren.
Gestapo-Schreiben vom 5.5.1933. Quelle: Werkblatt 2/1998, S. 34.
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Anhang
- 1 -
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Schriftsteller, deren sämtliche Werke vom Buchhandel nicht mehr vertrieben werden sollen
Hirschfeld, Magnus: Gesamte Veröffentlichungen. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft schildert und verteidigt der Verfasser mit Vorliebe sexuelle Entartungen und Perversionen. Hodann, Max: Sämtliche Schriften. Kommunistischer Autor, der sich das Gebiet der Aufklärung erwählt hat. Koch, Adolf; Schriften aus dem Verlag E.Oldenburg, Leipzig Der Verfasser vereinigt Nacktkultur und kommunistische Ethik in unerfreulicher Weise. Krauss, Friedrich Salomo: Sämtliche Veröffentlichungen. Seine Werke sind für die Allgemeinheit nicht geeignet. Putti, Eugen: Sämtliche Veröffentlichungen. Pornographischer Autor. Reich, Wilhelm, Wien: Sämtliche Veröffentlichungen. Behandelt die sexuellen Probleme ausschliesslich vom sozialistischen und psychoanalytischen Standpunkt. Schertel, Ernst: Sämtliche Schriften. Der z.Zt wohl fruchtbarste pornographische Schriftsteller! Schlegel, J.C.: Sämtliche Schriften. Autor des Schmutzes und Schundes. Schmitz, Alexander, Wien: Sämtliche Schriften. Kleiner aber betriebsamer pornographischer Schriftsteller! Theilhaber, Felix A.: Sexualwissenschaftliche Schriften. Kommunistischer Autor. Vorberg, Gaston: Die sexualwissenschaftlichen Schriften. Für den allgemeinen Verkauf nicht geeignet. Wulffen, Erich: Sämtliche sexualwissenschaftlichen Veröffentlichungen seit 1923, da sie für den allgemeinen Verkauf nicht geeignet sind.
Erster Vorschlag eines Gesamtverbotes für W. Reich durch den Leipziger Zensurausschuss, 16.6.1933. Quelle: LA A Pr.Br. Rep. Nr. 16939, Blatt 50.
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Erläuterung zu der Liste: Psychoanalyse und Individualpsychologie -----------------------------------------------------------------
Die Kommission liess sich bei der Auswahl von folgenden zwei Grundsätzen leiten: 1. unangetastet bleiben soll dasjenige Schrifttum, in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern und denen, die sie wissenschaftlich weiterbildeten, dargestellt wird. Von dem geistigen Bilde dieser Art des Denkens und Forschens soll kein irgend wesentlicher Zug getilgt werden. 2. auszumerzen dagegen ist dasjenige Schrifttum, das ohne von dem Grundsatz 1 betroffen zu werden - mit Sinn und Geist der Nationalsozialistischen Bewegung in einem nicht erträglichen Widerspruche steht. Die Anwendung des Grundsatzes 2 führte zu folgenden Hauptgesichtspunkten, unter denen die Tilgung zu fordern ist: a. blosse Ausbreitung der Lehre, oft in popularisierender Weise und zu billigem Preis, b. Ausmünzung der Lehre für marxistische, kommunistische oder pazifistische Propaganda, c. Vorstösse in die einzelnen Gebiete geistigen Lebens,die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern, d. Übergriffe in das Gebiet des Erziehertums und des religiösen Lebens, e. unnötige Häufung und Sammlung von Einzelfällen der sexualpathologischen Erfahrung, die oft das Pornographische streifen.
Zur Durchführung dieser Grundsätze ist zu bemerken: Schriften, die nach Grundsatz 1 zu erhalten sind, verfallen nach Grundsatz 2 der Beanstandung, soweit es sich um Einzelausgaben handelt, die nur dem Ziele a dienen; so haben wir uns z.B. bei Freud verhalten. Schriften, bei denen ein zunächst durch Grundsatz 1 geschützter Autor in besonders scharfer Form gegen 2 a-e verstösst, verfallen ebenfalls: z.B. Adler Individualpsychologie in der Schule (wegen 2 d). Serienwerke sind nach ihrer Grundeinstellung beurteilt worden; zweifelhafte Einzelstücke einer solchen Serie wurden danach entschieden, ob die Serie im Ganzen zu 1 oder 2 gehört. Sämtliche Sonderdrucke von Zeitschriften sind beanstandet worden wegen 2 a.
Von der Überzeugung durchdrungen, dass die Grundgedanken der Psychoanalyse und der Individualpsychologie ihre systematische Ausführung und Vollendung in dem vorhandenen Schrifttum gefunden haben, würde das Weitererscheinen von Zeitschriften nicht mehr einem berechtigten inneren Wachstum des Ideengutes, sondern nur noch einem der Gesichtspunkte dienen, unter denen nach dem Grundsatz 2
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Anhang
eine Beanstandung stattfinden muss. Infolgedessen ist gefordert worden, das Weitererscheinen einer Reihe von Zeitschriften zu verhindern. Darüber hinaus haben wir uns aber entschliessen müssen, bei solchen Zeitschriften, die von Beginn ihres Bestehens an unter einen der Gesichtspunkte 2 a-e fielen, die Zurückziehung auch der vorhandenen Bestände zu fordern.
Hans Volkelt: Erläuterung zur Liste Psychoanalyse und Individualpsychologie, wahrscheinlich Mitte Juni 1933, Quelle: HADB 840/4/1, Bl. 230f. Die erhalten gebliebenen Karteischränke und -kästen in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig (Fotos: Andreas Peglau).
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Dokumente und Abbildungen
1 65 u n d
P s y c h o a n a l y s e I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e
Schriftenreihen Almanach der Psychoanalyse. Bd 1 ff. Wien: Internat.Psychoanalyt. Verl. 1926 ff. Dienen nur der Ausbreitung der Lehre. Imago-Bücher. Bd 1 ff. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1925 ff. Die Serie hat als Ziel, Grundfragen der Geisteswissenschaften psychoanalytisch umzudeuten. Individuum und Gemeinschaft. Schriften der internat.Ges.f. Individualpsychologie, hrsg.von Alfred Adler, Leonhard Seif, Otto Kaus. H.l ff. München: Bergmann 1926 ff. Hat als Hauptziel, die zersetzende Lehre in breite Schichten hinauszutragen. Schwer erziehbare Kinder. Eine Schriftenfolge hrsg. von Otto u. Alice Rühle. Bd 1 ff. Dresden: Verlag Am andern Ufer 1926 ff. Getragen von marxistischer Grundeinstellung. Schriften zur angewandten Seelenkunde hrsg. von Sigmund Freud. Bd 1 ff. Leipzig, Wien: Deuticke 1913 ff. Rücken im wesentlichen geistige Güter u.ihre Träger einseitig in das Blickfeld der Psychoanalyse und begünstigen damit gleichermassen die Ausbreitung dieser Lehre wie eine Ankränkelung jener Werte. Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung. Nr 1 ff. München: Ernst Reinhardt 1912 ff. Dienen nur der Ausbreitung.
Einzelschriften Adler, Alfred: Individualpsychologie in der Schule. Vorlesungen für Lehrer u.Erzieher. Leipzig: S.Hirzel 1929. Untergräbt die Forderungen jeder nationalsozialistischen Erziehung.
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Adler, Otto: Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes. Berlin: Kornfeld 1924 Auf Lüsternheit zielende Ausmalung sexueller Vorgänge. Allwohn, Adolf: Die Ehe des Propheten Hosea in psychoanalytischer Beleuchtung. Giessen: Töpelmann 1926 = Beihefte z.Zeitschrift f.d. alttestamentliche Wissenschaft. 44. Irreführende Anwendung innerhalb der Religions-Psychologie. Bernfeld, Siegfried: Vom Gemeinschaftsleben der Jugend. Beiträge z. Jugendforschung. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1922 = Quellenschriften z.seelischen Entwicklung. Bd 2. Atmet jüdischen Geist. Sexualistisch verzerrend. Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. 2.Aufl. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1928. Herabsetzung des Erziehertums. Bracken, Helmut von: Die Prügelstrafe in der Erziehung. Dresden: Verlag Am andern Ufer 1926. Marxistische Entstellung von Erziehungsfragen. Deutsch, Helene: Psychoanalyse der Neurosen. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1930 Dient nur der Ausbreitung. Deutsch, Helene: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktion. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1925 = Neue Arbeiten z. ärztlichen Psychoanalyse. 5. Überspitzung der Sexualtheorie. Döring, Woldemar Oskar: Psychoanalyse und Individualpsychologie. Lübeck: Colemann 1928. Dient der Ausbreitung. Federn, Paul u. Heinrich Meng: Das psychoanalytische Volksbuch. Bd 1.2. Stuttgart: Hippokrates-Verlag 1928. Dient der Ausbreitung. Feller, P.M.: Antisemitismus. Versuch einer psychoanalyt. Lösung des Problems. Berlin: Verl.d.Archivs f. angewandte Psychologie 1931 = Archiv f. angewandte Psychologie. Buch 1. Schlägt nationalsoz.Gesinnung ins Gesicht. Ferenczi, S.: Bausteine zur Psychoanalyse. Bd 1.2. Wien: Internat. Psychoanalyt. Verl. 1927 Enthält im wesentlichen Sonderdrucke aus der sowieso beanstandeten Zeitschrift f. Psychoanalyse u.wirkt durch die Auswahl besonders überspitzt u. unsauber.
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Dokumente und Abbildungen
Ferenczi, S.: Versuch einer Genitaltheorie. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1924 = Internat.psychoanalytische Bibliothek. 15. Überspitzung der Freud´schen Sexualtheorie. Ferenczi, S.: Populäre Vorträge über Psychoanalyse. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1922 = Internat.psychoanalytische Bibliothek.13. Dient nur der Ausbreitung. Freud, Anna: Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen. Stuttgart, Leipzig: Hippokrates-Verlag 1930. Dient der Ausbreitung zersetzender Lehren. Freud, Anna: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1929. Sexualistische Verzerrung des Bildes der Kindheit, zu pädagogischer Pfuscherei anleitend. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Leipzig, Wien: Deuticke 1930. Als Sonderausgabe (außerhalb der Gesammelten Werke) nicht zu erhalten. Graber, Gustav Hans: Psychoanalyse und Heilung eines nachtwandelnden Knaben. Baden-Baden: Merlin-Verl. 1931. Propagandistische Ausmünzung eines Einzelfalls. Groddeck, Georg: Der Seelensucher. Wien: Internat.Psychoanalyt. Verl. 1921 Verbreitet psychoanalytische Lehren in Romanform und vergröbert sie zugleich. Hitschmann, Eduard: Gottfried Keller. Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten und Motive. Wien: Internat.Psychoanalyt. Verl. 1919 = Internat. psychoanalytische Bibliothek. 7. Einseitig psychoanalytische Betrachtung des Dichters G. Keller. Hollos, Istvan: Hinter der gelben Mauer. Stuttgart: HippokratesVerl. 1928. Kulturzersetzend. Hug-Hellmuth, Hermine: Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1923 = Quellenschriften zur seelischen Entwicklung. 1. Zerrbild einer jugendl.Entwicklung, dazu als literarische Fälschung entlarvt. Individualpsychologie und Pädagogik. Von H.Francke … Berlin: S.Mittler u. Sohn 1927 = Schule und Leben. H.10. Widerstreitet den Forderungen nationalsozialistischer Erziehung.
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Kaplan, Leo: Psychoanalytische Probleme. Leipzig, Wien: Deuticke 1916. Religionsfeindlich. Klein, Melanie: Die Psychoanalyse des Kindes. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1932. Verderbliche Ratschläge für Erzieher, auf unsinniger psychologischer Grundlage. Kolnai, Aurel: Psychoanalyse und Soziologie. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1920. Psychoanalyt.Verzerrung der Gemeinschaftsprobleme. Kovač, Leopold: Gedankenübertragung. Plauderei über Psychoanalyse. Graz: Dt.Vereins-Druckerei 1927. Dient nur der Ausbreitung. Künkel, Fritz u.Ruth: Die Grundbegriffe der Individualpsychologie und ihre Anwendung in der Erziehung. Berlin: A.Hoffmann 1929. Dient nur der Ausbreitung dieser Lehre innerhalb des Erziehertums. Künkel, Fritz u.Ruth: Mensch und Gemeinschaft. Kleine Schriften z. Individualpsychologie. Berlin: A.Hoffmann 1925. Dient nur der Ausbreitung und wirkt dadurch zersetzend. Laforgue, René: Libido, Angst und Zivilisation. Psychoanalyt.Studien. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1932. Psychoanalytische Entstellung von Kulturfragen. Lazarsfeld, Sofie: Sexuelle Erziehung, Wien, Leipzig: M.Perles 1931 = Richtige Lebensführung. Dient nur der Ausbreitung individualpsychologischer Sexualtheorien. Lungwitz, Hans: Über Psychoanalyse. Leipzig, Wien: E. Oldenburg 1924 = Schule der Erkenntnis. Dient nur der Verbreitung. Müller-Braunschweig, Carl: Das Verhältnis der Psychoanalyse zu Ethik, Religion und Seelsorge. Schwerin i.M.: F.Bahn 1927 = Arzt und Seelsorger. H. 11. Religionsfeindlich. Pfister, Oskar: Zum Kampf um die Psychoanalyse. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1920 = Internat.psychoanalytische Bibliothek. 8. Pazifistisch und religionsfeindlich. Pfister, Oskar: Die psychoanalytische Methode. Leipzig: J.Klinkhardt 1924 = Pädagogium. Bd 1. Nur propagandistisch.
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Dokumente und Abbildungen
Pfister, Oskar: Analytische Seelsorge. Einführung in die prakt. Psychoanalyse f.Pfarrer u.Laien. Göttingen: Vandenhoeck u.Ruprecht 1927. Gefährdet die Reinheit echter Religiosität. Pfister, Oskar: Was bietet die Psychoanalyse dem Erzieher? 2. Aufl. Leipzig: J.Klinkhardt 1923. Reich, Wilhelm: Die Funktion des Orgasmus. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1927 = Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse. 6. Unrein. Reik, Theodor: Freud als Kulturkritiker. Wien, Leipzig: M.Präger 1930. Irreführende Apotheose. Reik, Theodor: Der Schrecken und andere psychoanalytische Studien. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1929. Dient nur der Ausbreitung der Lehre. Reik, Theodor: Wie man Psychologe wird. Wien: Internat.Psychoanalyt. Verl. 1927. Dient – im Sinne des reisserischen Titels – im wesentlichen nur der Verbreitung. Rühle, Otto u.Alice: Sexualanalyse. Psychologie des Liebes- und Ehelebens. Rudolstadt: Greifenverl. 1929. Sexualistisch und kommunistisch. Rühle-Gerstel, Alice: Freud und Adler. Dresden: Am andern Ufer 1924. Marxistische Ausmünzung der Psychoanalyse. Rühle-Gerstel, Alice: Der Weg zum wir. Dresden: Am andern Ufer 1927. Marxistisch. Schulte-Vaarting, Hermann: Neubegründung der Psychoanalyse. Berlin-Friedenau: Pfeiffer 1930. Dient nur der Ausbreitung der Lehre. Stekel, Wilhelm: Masken der Sexualität. Wien: Knepler 1924. Pansexualisierende Auffassung der Persönlichkeit. Stekel, Wilhelm: Unser Seelenleben im Kriege. Psycholog. Betrachtungen eines Nervenarztes. Berlin: Salle 1916. Zum Pazifismus versteckt propagandistisch erziehend. Stekel, Wilhelm: Störungen des Trieb- und Affektlebens. Bd 1-5. Berlin, Wien: Urban u.Schwarzenberg 1912. Nur eine Sammlung sexualpatholog. Fälle, die als „Lektüre“ verderblich wirkt.
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Storfer, Adolf Josef: Marias jungfräuliche Mutterschaft. Berlin: Barsdorf 1914 = Neue Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtslebens. 1. Religionsfeindlich. Urbantschitsch, Rudolf: Selbsterkenntnis mit Hilfe der Psychoanalyse. Wien, Leipzig: M.Perles 1926. Dient nur der Verbreitung. Wanke, Georg: Psychoanalyse. Halle a.D.: Marhold 1926. Dient nur der Ausbreitung. Wassilko-Serecki, Zoe: Eltern wie sie sein sollen. Das Erziehungsbuch von heute und morgen auf psychoanalyt.Grundlage. Leipzig, Berlin: Otto Beyer 1931. Nimmt Psychoanalyse für nahezu alle Erziehungsratschläge in Anspruch und dient damit der Ausbreitung der Lehre. Wittels, Fritz: Die Psychoanalyse. Neue Wege der Seelenkunde. Wien: Steyrermühl-Verl. 1926 = Tagblatt-Bibl.Nr. 538-540. Dient nur der Verbreitung. Wittels, Fritz: Die Technik der Psychoanalyse. München: Bergmann 1926. Dient nur der Ausbreitung psychoanalytischer Technik, dabei unverantwortlich oberflächlich und unvorsichtig. Zulliger, Hans: Unbewusstes Seelenleben. Stuttgart: Franckh 1924. Dient nur der Ausbreitung, dabei verflachend und vergröbernd.
Sonderdrucke aus psychoanalytischen Zeitschriften, die auszuschalten sind, da sie in dieser Form nur der Verbreitung dienen. Bernfeld, Siegfried u.Sergei Feitelberg: Energie und Trieb. Psychoanalyt. Studien z.Psychophysiologie. Wien: Internat.Psychoanlyt. Verl. 1930. Aus: Imago. Bd 15. 1929. Bernfeld, Siegfied: Die heutige Psychologie der Pubertät. Kritik ihrer Wissenschaftlichkeit. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1927. Aus: Imago. Bd 13. 1927. Boehm, Felix, Otto Fenichel u.Wilhelm Reich: Über den Ödipuskomplex. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1931. Aus: Internat.Zeitschrift f. Psychoanalyse. Bd 17. 1931.
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Dokumente und Abbildungen
Bonaparte, Marie: Aus der Analyse einer mutterlosen Tochter. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1931. Aus: Internat.Zeitschrift f. Psychoanalyse. Bd. 15. 1929. Bd 16. 1930. Brunswick, Ruth Mack: Die Analyse eines Eifersuchtswahns. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1929. Aus: Internat.Zeitschrift f. Psychoanalyse. Bd 14. 1928, H.4. Brunswick, Ruth Mack: Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose“. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1929. Aus: Internat.Zeitschrift f. Psychoanalyse. Bd 15. 1929, H.1. Daly, C.D.: Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1927. Aus: Imago. Bd 13. 1927. Ferenczi, S.: Zur Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1925. Aus: Internat.Zeitschrift f. Psychoanalyse. Bd 11. 1925. H.1. Freud, Sigmund: Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1924. Aus: Jahrbuch d.Psychoanalyse. Bd 6. 1914. Fromm, Erich: Die Entwicklung des Christusdogmas. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1931. Aus: Imago. Bd 16. 1930. Giese, Fritz: Psychoanalytische Psychotechnik. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1924. Aus: Imago. Bd 10. 1924. H.1. Hermann, Imre: Gustav Theodor Fechner. Eine psychoanalyt.Studie. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1926. Aus: Imago. Bd 11. 1925. Kaiser, Hellmuth: Franz Kafkas Inferno. Wien: Internat. Psychoanalyt.Verl. 1931. Aus: Imago. Bd 17. 1931. Laforgue, René: Jean Jaques Rousseau. Eine psychoanalyt.Studie. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1930. Aus: Imago. Bd 16. 1930. Langer, Georg: Die jüdischen Gebetriemen. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1931. Aus: Imago. Bd 16. 1930.
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Anhang
Malinowski, Bronislaw: Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1924. Aus: Imago. Bd 10. 1924, H.2/3. Pfister, Oskar: Elternfehler. Wien: Verl.d.Zeitschrift f.psychoanalyt. Pädagogik 1929. Aus: Zeitschrift f.psychoanalyt.Pädagogik. Jg.3. Reik, Theodor: Dogma und Zwangsidee. Eine psychoanalyt.Studie zur Entwicklung der Religion. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1927. Aus: Imago. Bd 13. 1927. Sarasin, Philipp: Goethes Mignon. Eine psychoanalyt.Studie. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1930. Aus: Imago. Bd 15. 1929. Wolffheim, Nelly: Psychoanalyse und Kindergarten. Wien: Verl.d. Zeitschrift f. psychoanalyt.Pädagogik 1930. Aus: Zeitschrift f.psychoanalyt.Pädagogik. Jg.4. Zulliger, Hans: Zur Psychologie der Trauer und Bestattungsgebräuche. Wien: Internat.Psychoanalyt.Verl. 1924. Aus: Imago. Bd 10. 1924, H.2/3.
Listen des Kampfbundes für deutsche Kultur vom August 1933. Quelle: BA NS 8/288, Bl. 165-171.
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Dokumente und Abbildungen
Die Psychoanalyse de$ Juden Sigmund Freud
„Ach, Herr Doktor, ich habe ja so fürchterliche Kopfschmerzen.“
„So, bitte, dann legen Sie sich mal auf den Diwan und sprechen jeden Gedanken au$, der Ihnen gerade einfällt.“
„Braten – Heilquelle – Löschblatt – Taschentuch – Dolch – –“
„Halt! Dolch! Jetzt haben wir$. Der Gedanke Dolch zeigt Ihre sexuellen Wünsche. Ihre Kopfschmerzen kommen also daher, daß Sie in Ihrer Ehe keine Befriedigung finden. Darau$ ergibt sich von selbst, wie Sie geheilt werden können – – – “
Illustrationen zu „Die Psychoanalyse des Juden Freud“ in Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden, 08/09 1933, Seite 15.
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Anhang
Vorderdeckel der Erstausgabe von W. Reichs Massenpsychologie des Faschismus 1933.
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Dokumente und Abbildungen
Vorderdeckel der Tarnausgabe der Massenpsychologie des Faschismus 1933 (Buch zur Verfügung gestellt durch Heinz Peter).
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Anhang
VO R R E D E Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgründendem, den alten Freiheitszielen der arbeitenden Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus. Aber der Kampf gegen das neuerstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, für die natürlichen Rechte der arbeitenden und schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeutung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer betroffenen Menschen, für die Beseitigung dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung wird weitergehen. Doch kommt es nicht nur darauf an, dass er weitergeht, sondern in erster Linie ob, wie und in welcher Zeit er zum Siege des internationalen Sozialismus führen wird. Die Formen, unter denen sich die Machtergreifung des Nationalsozialismus vollzog, erteilten dem internationalen Sozialismus eine unauslöschliche Lehre: dass die politische Reaktion sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirklichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern nur durch Weckung echter revolutionärer Begeisterung, nicht mit bürokratisierten Parteiapparaten, sondern nur mit innerlich demokratischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbeiterorganisationen und überzeugten Kampftruppen schlagen lassen wird. Sie belehrten uns, dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Entmutigung der Massen führt, wenn die eiserne Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirklichkeit enthüllt. Jahrelange sexualärztliche und politische Arbeit innerhalb der Organisationen der Arbeiterschaft, im besonderen ihrer Jugend, gab mir die unerschütterliche Überzeugung, dass die Klasse, die von den „gottgesandten“ Führern des „dritten Reiches“ als „Untermenschen“ ins Joch gespannt wird, in sich die Zukunft der Menschheit birgt, weil sie mehr Kultur, Ehre, natürliche Sittlichkeit und Wissen um das lebendige Leben enthält, als in allen Schmökern der bürgerlichen Moralphilosophie und in den Phrasen der politischen Reaktion gefordert wird, freilich eine andere Kultur, eine andere Ehre, eine andere Sittlichkeit, weil sie keine schmierige Kehrseite in der Praxis hat. Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden gedrückt, enttäuscht, duldend sich verhalten, ja sogar, wenn auch in guter Überzeugung, dem Faschismus folgen, so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhänger von der sozialistischen Mission des Nationalsozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie auch über Deutschland gebracht hat, ein mächtiger Aktivposten für die sozialistische Zukunft. W. Reich, Massenpsychologie des Faschismus, aus der ersten und zweiten Seite der Vorrede.
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Dokumente und Abbildungen
VO RWO RT Ein Sturm der Erhebung braust über unser Volk hinweg. Mit starker Hand hat der Nationalsozialismus unter Gottes Führung Materialismus und Bolschewismus, Individualismus und Liberalismus, überhaupt alles undeutsche und unchristliche aus unserm öffentlichen Leben hinweggefegt, er hat jene erdhaften Kräfte der deutschen Seele und des deutschen Bluts freigelegt, die in gewaltigem Zusammenklang dem deutschen Volk nun ein neues Haus bauen sollen. Eine neue Ordnung von Herrschaft und Dienst, von Führung und Nachfolge, von Arbeit der Stirn und der Faust ist aufgerichtet, die alte künstliche Teilung in Klassen zerbrochen. Aber alles das wäre eitel Tand, wäre „Schmutz und Unrat“, wie der Apostel sagt, „wenn wir Christum nicht haben“, wenn dieser äusserlichen Erhebung nicht auch die mystische Erhebung folgte. Schon hören wir die geheimen Quellen des Blutes rauschen, schon sehen wir die neue Geisteswelt „im Spiegel und wie im Rätselwort“ (ICor. 11,13). Oh, könnten wir sie doch schon „von Angesicht zu Angesicht“ schauen! - Springet ihr Bäche, rauschet ihr Quellen, möge Euch Gott zusammenfliessen lassen zu jenem grossen Strom, der auch aus unserm Herzen hinwegspült alle Erinnerung an das Vergangene, damit, was hinter uns, in Nacht versinkt und wir nach vorn ausgestreckt dem wundervollen Kampfpreis nachjagen (Phil. 3,13—16). „Seid sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen“, sagt der Herr. Noch ist das Werdende Geheimnis. Doch „was verborgen ist, soll offenbar werden“. Jahrelange seelsorgerische und mildtätige Arbeit innerhalb der Organisationen der Arbeiterschaft, im besonderen ihrer Jugend, gab mir die unerschütterliche Überzeugung, dass die Klasse, die von den „gottgesandten“ Führern des „dritten Reiches“ als „Untermenschen“ ins Joch gespannt wird, in sich die Zukunft der Menschheit birgt, weil sie mehr Kultur, Ehre, natürliche Sittlichkeit und Wissen um das lebendige Leben enthält, als in allen Schmökern der bürgerlichen Moralphilosophie und in den Phrasen der politischen Reaktion gefordert wird, freilich eine andere Kultur, eine andere Ehre, eine andere Sittlichkeit, weil sie keine schmierige Kehrseite in der Praxis hat. Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden gedrückt, enttäuscht, duldend sich verhalten, ja sogar, wenn auch in guter Überzeugung, dem Faschismus folgen, so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhänger von der sozialistischen Mission des Nationalsozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie auch über Deutschland gebracht hat, ein mächtiger Aktivposten für die sozialistische Zukunft.
W. Reich, Massenpsychologie des Faschismus, Tarnausgabe, aus der ersten und zweiten Seite des Vorworts.
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Anhang
Reichswart
Nationalsozialistische Wochenschrift u. Organ des Bundes Völkischer Europäer / ORGANE DE L‘ALLIANCE RACITE EUROPENNE
Psychoanalyse und Weltanschauung Von Dr. Carl M ü l l e r - Braunschweig.
Legt man da$ Geburt$jahr der Psychoanalyse auf da$ Jahr 1893, in welchem Breuer und Freud gemeinsam die vorläufige Mitteilung „Ueber den psychischen Mechani$mu$ histerischer Phänomene“ veröffentlichen, dann sind nunmehr 40 Jahre psychoanalytischer Forschung verflossen. Seither ist die Psychoanalyse Gegenstand der gegensätzlichsten Stellungen gewesen, auf der einen Seite fand sie Anerkennung bi$ zur begeisterten Bewunderung, auf der anderen Seite Ablehnung bi$ zur erbitterten Bekämpfung. Die gegenwärtige Gesamtlage fordert erneute Einwertung. Will man sich vergegenwärtigen, wa$ Psychoanalyse ist, so bilden die Vorwürfe und Mißverständnisse, denen sie auf ihrem Entwicklung$wege ausgesetzt war, einen guten Leitfaden. E$ hieß von Anfang an, die Psychoanalyse überbewerte die Sexualität, sie erkläre alle$, auch die höchsten und heiligsten Dinge au$ ihr. Die neurotischen Erkrankungen beruhten auf einem mangelnden Sichau$leben, e$ gelte also, die Hemmungen fallen zu lassen, sich au$zuleben, um nicht in eine Neurose zu verfallen. Wie hebt sich von diesem primitiven Mißverständni$ die wirkliche psychoanalytische Lehre ab? Die Psychoanalyse hat niemal$ die Behauptung
588
aufgestellt, e$ gäbe nur Sexualtriebe. Sie hat auch nie die Neurosen allein au$ der Sexualität abgeleitet, sondern vielmehr aus einem K o n f l i k t zwischen dem I c h , der P e r s ö n l i c h k e i t de$ Menschen und seinem Triebleben. Und nicht allein au$ einem Konflikt mit der Sexualität, wie man sie populärerweise versteht, sondern überhaupt aus einem Konflikt mit seinem gesamten Trieb- und Affektleben, also z. B. auch mit den allen Menschen innewohnenden gewaltsamen, feindseligen, destruktiven Tendenzen. Der Neurotiker ist ein Mensch, der an der Lösung solcher Konflikte gescheitert ist, ein Mensch, dem e$ nicht gelungen ist, diese Regungen unter die ordnende und beherrschende Macht seine$ geistigen Ich$ zu bringen. Der Neurotiker hat den zum Mißglücken verurteilten Versuch gemacht, sich den lästigen Impulsen seine$ Trieb- und Affektlebens dadurch zu entziehen, daß er den Kopf in den Sand steckte, sich so verhielt, al$ wären seine Impulse überhaupt nicht vorhanden. Durch ein solche$ Verhalten sind aber da$ Triebleben und die Affekte nicht au$ der Welt zu schaffen, ein solche$ Verhalten, von der Psychoanalyse al$ – mißglückende – Verdrängung oder Abwehr bezeichnet, läßt da$ Trieb- und Affektleben vielmehr in einem
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nun dem Ich gar nicht mehr zur Verfügung stehenden mehr oder weniger unbewußten Dunkel wuchern und neurotische (hysterische, zwangsneurotische) Symptome hervortreiben. Der neurotisch Kranke, selbst wenn er jetzt den besten bewußten Willen hätte, er kann dieser Symtome nicht Herr werden, er kämpft vergeblich gegen seine Arbeit$unfähigkeit, seine leichte Ermüdbarkeit, seine Schlaflosigkeit, seine Angst, seinen Kopfschmerz, seine Zwang$impulse und Zwangsgedanken und wie die Unzahl der Symptome heißen mag. Hier setzt der psychoanalytische Therapeut ein. Er hilft dem Patienten, den Weg, auf dem die Symptome entstanden sind, wieder rückwärt$ gehen, führt ihn zu den ursprünglichen, von ihm nicht gelösten Konflikten zurück und läßt ihn diese neu und glücklicher lösen. Um da$ zu erreichen, muß er da$ im unbewußten Seelenleben Wuchernde dem Patienten bewußt machen, damit dieser fähig wird, mit voller Verantwortung da$ nachzuholen, wa$ er seinerzeit, den Kopf in den Sand steckend, nur zu einer Scheinlösung zu bringen vermochte. Man sieht an dieser Stelle, wie die Psychoanalyse dazu kam, die Vorgänge de$ unbewußten Seelenleben$ zu studieren. Sie wurde dazu genötigt bei der Absicht, den seinen Symptomen hilflo$ au$gelieferten Patienten wieder zur Verfügung über sich selbst zu helfen. Zu zeigen, wie e$ möglich ist, die Gesetze de$ unbewußten Seelenleben$ zu studieren, ist hier nicht der Ort, nur, daß und warum e$ notwendig war. Nach den obigen Au$führungen verstehen wir, mit welchem Recht der Schöpfer der Psychoanalyse in einem kurzen Ueberblick über die Psychoanalyse im „Handwörterbuch der Sexualwissenschaft“ Bonn 1925 (abgedruckt auch in „Freud, Gesammelte Schriften“, Band XI, S. 201 ff.) sagen konnte: „Ein böse$ und nur durch Unkenntni$ gerechtfertigte$ Mißverständni$ ist e$, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte
die Heilung neurotischer Beschwerden vom „freien Au$leben“ der Sexualität. da$ Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine B e h e r r s c h u n g derselben, die durch die vorgängige B e d r ä n g u n g nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, daß die Analyse den Neurotiker v o n den Fesseln seiner Sexualität befreit.“ Ein anderer, der Psychoanalyse gemachter Vorwurf, der sich zum Teil mit dem soeben erörterten deckt, ist der, die Psychoanalyse gehe al$ Wissenschaft wie al$ Praxi$ von ungeistigen, materialistischen Vorau$setzungen au$. Nach ihr sei der Mensch einseitig al$ ein rein triebhafte$ Wesen anzusehen. Diese Auffassung ist durch da$ bereit$ Gesagte schon ad ab$urdum geführt: wenn die Neurose au$ einem mißglückenden Kampf de$ Ich$ de$ Menschen mit seinem Trieb- und Affektleben hervorgeht, so ist damit bereit$ gesagt, daß e$ für die Psychoanalyse im Leben$hau$halt de$ Menschen nicht nur Triebe und Affekte gibt, sondern auch die Instanz de$ „Ich“, einer synthetischen, regulierenden, au$gleichenden Funktion, die da$ Streben und die Aufgabe hat, eine immer mehr zu erweiternde Herrschaft über da$ „E$“, eben jenen Inbegriff de$ rein Triebhaften zu gewinnen. Innerhalb diese$ „Ich“ findet sich al$ weitere Differenzierung da$ „Ueber-Ich“, dessen Hauptfunktion sich mit dem deckt, wa$ wir von jeher al$ G e w i s s e n kennen. Die sehr subtilen Wechselbeziehungen zwischen Ueber-Ich, Ich und E$ in ihrer Bedeutung beim Gesunden wie beim neurotisch Kranken sind seit langem wichtiger Gegenstand der psychoanalytischen Forschung. Der Vorwurf de$ Ungeistigen, Materialistischen ist gegenüber der Psychoanalyse ungerechtfertigt, denn jene synthetischen Kräfte de$ Ich und – zumindest der Intention nach – die idealen Forderungen und Wertungen de$ Ueber-Ich sind geistiger Art, ungeach-
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tet de$ Umstande$, daß die Psychoanalyse erforscht hat, wie sehr, und nicht nur beim neurotisch Kranken, sondern auch beim Normalen, immerfort Beziehungen gefährlicher Art zwischen den genannten drei seelischen Instanzen bestehen, da$ Ich und da$ Ueber-Ich ständig gleichsam Bestechungen, Verführungen und Verfälschungen von seiten de$ E$ ausgesetzt sind, die da$ Ich zu faulen Kompromissen veranlassen und da$ Ueber-Ich dazu bestimmen, unter der Flagge von Idealen sehr wenig ideale Tendenzen zu verfolgen. Ungeachtet dieser komplizierten und gefahrvollen seelischen Struktur de$ Menschen, ja vielleicht gerade w e g e n ihr, ergibt sich für die Gesamtauffassung vom Menschen der Aspekt eine$ dramatischen Kampfe$ zwischen seinen geistigen und seinen triebhaften Kräften, ein heroischer Aspekt, der ihn nur ehren kann. Der Psychoanalyse ist oft der Vorwurf gemacht worden, sie sei al$ Forschung und Therapie zersetzend und undeutsch. Sie ist al$ Wissenschaft, wie jede Wissenschaft, au$einanderlegend, analysierend. Aber da$ ist nicht gleichbedeutend mit auflösend und zersetzend. Die Psychoanalyse will, al$ Wissenschaft wie al$ Therapie, die unbewußten Anteile der Persönlichkeit, die den neurotisch kranken Menschen in der Betätigung eine$ ungebrochenen, aufbauenden, schöpferischen Wollen$ einengen und behindern, seiner bewußten Verfügung und Verantwortung wieder zuführen. Dadurch wirkt sie nicht a u f lösend, sondern e r lösend, befreiend und aufbauend. E$ ist zuzugeben, daß sie ein gefährliche$ Instrument in der Hand eine$ destruktiven Geiste$ ist, und daß e$ darum entscheidend ist, wessen Hand diese$ Instrument führt. Leider ist die Psychoanalyse zum Teil dadurch in Mißkredit geraten, daß sie
von Personen ausgeübt worden ist , die e$ nicht für nötig gehalten haben, sich jener umfänglichen Au$bildung und strengen Schulung zu unterziehen, die für eine sachgemäße und gewissenhafte theoretische und praktische Au$übung unbedingte Voraussetzung bildet. Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu leben$tüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, leben$fremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten in$ Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebe$unfähige und egoistische Menschen zu liebe$- und opferfähigen, am Ganzen des Leben$ Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehung$arbeit und vermag den gerade jetzt neu herau$gestellten Linien einer heroischen, realität$zugewandten, aufbauenden Leben$auffassung wertvoll zu dienen. Wir geben zu, daß nicht bei allen Veröffentlichungen de$ psychoanalytischen Schrifttum$ diese positive und schöpferische Grundhaltung deutlich genug hervortritt. Ebenso, daß e$ angesicht$ der verwickelten Problematik der wissenschaftlichen Analyse für den Nichtfachmann schwer ist, sich ein zutreffende$ Urteil zu bilden. Man muß auch immer daran denken, daß die Psychoanalyse, indem sie sich mit so heiklen Thematen, wie dem konfliktbeladenen Thema de$ Verhältnisse$ de$ Menschen zu seinem Triebleben befaßt, niemal$ erwarten darf, daß die Menschen von vornherein freudig nach ihr greifen, sondern daß sie ihr zunächst immer mit einer Scheu gegenüberstehen werden, die normalerweise erst dann weichen kann, nachdem eine sehr entsagung$reiche und intensive Au$einandersetzung mit ihr stattgefunden hat.
Carl Müller-Braunschweig, Psychoanalyse und Weltanschauung, Reichswart, 22.10.1933. Quelle: Zeitschriftenbestand Staatsbibliothek Berlin.
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C. G. JUNG: ZUR GEGENWÄRTIGEN LAGE DER PSYCHOTHERAPIE F r e u d und A d l e r haben den S c h a t t e n , der alle begleitet, sehr deutlich gesehen. Die Juden haben diese Eigentümlichkeit mit den Frauen gemein; als die physisch Schwächeren müssen sie auf die Lücken in der Rüstung des Gegners zielen, und wegen dieser, durch jahrhundertelange Geschichte aufgezwungenen Technik, sind die Juden selber dort, wo andere am verwundbarsten sind, am besten gedeckt. Infolge ihrer mehr als doppelt so alten Kultur sind sie sich der menschlichen Schwächen und Schattenseiten in viel höherem Maße bewußt als wir und darum in dieser Hinsicht viel weniger verwundbar. Auch haben sie es dem Erlebnis der antiken Kultur zu verdanken, daß es ihnen möglich ist, mit vollem Bewußtsein in wohlwollender, freundlicher und duldsamer Nachbarschaft ihrer eigenen Untugenden zu leben, während wir noch zu jung sind, um keine „Illusionen“ über uns zu haben, überdies sind wir vom Schicksal damit betraut, Kultur noch zu schaffen (wir haben sie nämlich nötig), wozu sogenannte Illusionen in der Form von einseitigen Idealen, Überzeugungen, Plänen usw. unerläßlich sind. Der Jude als Angehöriger einer etwa 3000jährigen Kulturrasse, ist wie der gebildete Chinese in einem weiteren Umkreise psychologisch bewußt als wir. Infolgedessen ist es auch für den Juden im a l l g e m e i n e n weniger gefährlich, sein Unbewußtes negativ zu bewerten. Das arische Unbewußte dagegen enthält Spannkräfte und schöpferische Keime von noch zu erfüllender Zukunft, die man nicht ohne seelische Gefährdung als
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Kinderstubenromantik entwerten darf. Die noch jungen germanischen Völker sind durchaus imstande, neue Kulturformen zu schaffen, und diese Zukunft liegt noch im Dunkeln des Unbewußten in jedem einzelnen, als energiegeladene Keime, fähig zu gewaltiger Flamme. Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk zu ihrer Entfaltung voraussetzen. Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt darum nach meiner Erfahrung ein Unbewußtes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen läßt. Abgesehen von gewissen schöpferischen Individuen ist der Durchschnittsjude schon viel zu bewußt und differenziert, um noch mit den Spannungen einer ungeborenen Zukunft schwanger zu gehen. Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, daß sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich s i n d , unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund als kindisch-banalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch Jahrzehnte des Antisemitismus verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist von F r e u d ausgegangen. Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit erstaunten Augen blickt, eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments. Eine Bewegung, die ein ganzes Volk ergreift, ist auch in jedem einzelnen reif geworden.
C. G. Jung in Zentralblatt für Psychotherapie, Bd. 7/1934, S. 8f.
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Vorlaeufiger Bericht ueber Walter Hoffmann. _________________________________________________________________ Walter Hoffmann, Emigrant aus Berlin, ca 22 Jahre. Unter dem Pseudonym "Kolbenhoff“ hat er Im Reich-Verlag ein Buch erscheinen lassen "Untermenschen“ ( nicht marxistisch). Seit der Zeit fuehlt er sich dem Reich verpflichtet. Daraus ist eine allgemeine, auch politisch-weltanschauliche Uebereinstimmung geworden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird H. sich in der morgigen Aussprache mit der Partei zu Reich bekennen und dann ausgeschlossen werden. H. ist seit dem Sommer 1933 in Kopenhagen. Er ist nicht vom Hilfskomitee unterstuetzt worden oder doch nur kurze Zeit. Jetzt lebt er wahrscheinlich von schriftstellerischen Arbeiten und Zuwendungen aus Reich-freundlichen Kreisen. Dr.Reich, bis zum Sommer 1933 in der K.P.D. wurde ausgeschlossen, weil er, ohne die Genehmigung der Partei auch nur zu beantragen, ein psychoanalytisches Buch (durchaus antimarxistisch) veroeffentlicht hat. Er veroeffentlicht auch heute noch psychoanalytische Aufsaetze in "Sexuell Oplysning“. 14.Maerz 1934. H. nimmt keinerlei fuehrende Stellung bei den Reichleuten ein. Er ist persoenlich ein harmloser, unbedeutender Mensch. 14.Maerz 1934.
Gestapobericht über W. Hoffmann und W. Reich, 1934. Quelle: BA RY 1/I/ 2/3/92/ Bl. 87/ 88.
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Deutfcher Reichsanzeiger Preußifcher Staatsanzeiger. und
Bekanntmachung Auf Grund de$ §-7 der Verordnung de$ Herrn Reich$präsidenten zum Schutze de$ deutschen Volke$ vom 4. Februar 1933 habe ich folgende Druckschriften in Preußen wegen Gefährdung von Sitte und Anstand beschlagnahmt: … „G e s c h l e c h t $ r e i f e , E n t h a l t s a m k e i t , E h e m o r a l “ von Dr. Wilhelm Reich, verlegt vom Münster-Verlag, Wien. Berlin, den 26. September 1933. Der Polizeipräsident in Berlin, Abt.IV, J. A.: V o r w e r k . Bekanntmachung Ich habe auf Grund der Verordnung de$ Reich$präsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 die Verbreitung der nachstehend genannten au$ländischen Druckschriften im Inland bi$ auf weitere$ verboten: „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ (Kopenhagen, Dänemark) Berlin, den 30. April 1935. Der Reich$- und Preußische Minister des Innern, J. A.: Dr. G i s e v i u $ . Bekanntmachung Ich habe auf Grund der Verordnung de$ Reich$präsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 die Verbreitung der nachstehend genannten au$ländischen Druckschrift im Inland bi$ auf weitere$ verboten: Alle Druckschriften der Politisch-psychologischen Schriftenreihe der Sex. Pol. (Verlag für Sexualpolitik) (Kopenhagen, Dänemark, auch Prag, Tschechoslowakei und Zürich, Schweiz) Berlin, den 6. Mai 1935. Der Reich$- und Preußische Minister des Innern, J. A.: D a l u e g e .
Verbote Reichscher Schriften im Deutschen Reichsanzeiger, veröffentlicht am 29.9.1933, 3.5.1935, 8.5.1935. Quelle: ZAS.
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Dokumente und Abbildungen 5786 Nr. 285, 7. Dezember 1934.
A m
Künftig erscheinende Bücher.
1 4 .
D e z e m b e r
Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel.
e r s c h e i n t
d e r
ALMANACH DER PSYCHOANALYSE 19 3 5 Mit 6 Porträts. In Leinen RM 4.–, in Halbleder RM 8.– Mit der diesjährigen Ausgabe erscheint Der Almanach der Psychoanalyse das zehnte Mal und zeigt aus diesem Anlaß einen besonders mannigfaltigen Querschnitt, durch die in stetem Anwachsen begriffene psychoanalytische Literatur
I N H A LT Si gm u n d Freud . I m re Her m an n . R i ch ard Ster ba . San d or R ad o . . . Pau l Fed er n . . . O t to Fen i ch el . . A l ex an d er Szalay A n n a Freu d . . . .
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Hei n r i ch Meng . . . Fr i t z R ed l . . . . . . . Han s Zu l l i ger. . . . . Hel en e D eu t s ch . . . Fr an z A l ex an de r . . Mar i e Bon ap ar te. . . Hen r i C od et. . . . . . Ed ward G l over und Mor r i s G i n s b er g . .
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Psycho - Analy sis Das psycho analytisch Sinnvo lle Die psycho analytische The r apie Das A ngstpro ble m Die Zunahme de r Süchtigke it Zur unbew ußte n Ve r st ändigung Die anste c ke nde Fe hlhandlung Die Er z ie hung de s K le inkinde s vo m p s ychoa na ly tis chen St a ndpunkt aus Die r ichtige Be handlung sche inbar str a f f ä lliger K inder Ge danke n übe r die W irk ung e ine r Phim os eop er a tion Pädago ge n ve r falle n de m Fluche der Lä cherlichkeit Do n Quijote und Do nquijotismus Be me rk unge n übe r Falst af f Das magische De nke n be i de n Pr imitiven Das magische De nke n im Allt agsle b en
. . . Sympo sium übe r die Psycho lo gie von K r ieg u nd Fr ieden
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG / WIEN
Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, 7.12.1934, ganzseitige Anzeige für den Almanach der Psychoanalyse. Quelle: Staatsbibliothek Berlin.
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VIII.
Psychoanalyse
Almanach der Psychoanalyse 1937. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1937. 272 S. Leinen RM. 4,-, Halbl. RM. 8,-. Überblick über den derzeitigen Stand der psychoanalytischen Forschung auf den verschiedensten Teilgebieten. Enthält u. a. eine Originalarbeit von S. F r e u d : Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis. Analyse eines Erlebnisses während eines Besuches auf der Akropolis 1904, das dem Autor seither immer wieder in der Erinnerung aufgetaucht war. Die Aufklärung ergibt gleichzeitig einen Beitrag zum Verständnis der „Entfremdungsgefühle“. T h o m a s M a n n ist mit seinem Festvortrag im Wiener Akademischen Verein anläßlich des 80. Geburtstages von F r e u d vertreten. F e d e r n (Ichgrenzen, Ichstärke und Identifizierung) und B i b r i n g (Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie) liefern Beiträge zur analytischen Theorie. Pädagogische Fragen werden von A i c h h o r n (Die narzistische Übertragung des „jugendlichen Hochstaplers“), A n n a F r e u d (Triebangst in der Pubertät) und R i c k m a n n (über Kindererziehung) behandelt. Zum Thema angewandte Psychologie gehören die Aufsätze von H i t s c h m a n n (Zur Entstehung des Kinderbuches v. Selma Lagerlöf „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“), G 1 o v e r („Utopien“), K r i s (Zur Psychologie älterer Biographik) und R e i k (Vom Wesen des jüdischen Witzes). Der Band enthält ferner noch Arbeiten von fünf weiteren Autoren. Die meisten Aufsätze sind ohne spezielle Vorkenntnisse verständlich. O . B r i n e r - Bern.
Freud, Anna, Das Ich und die Abwehrmechanismen. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1936. 208 S. Brosch. RM. 4,50, geb. RM. 6,-. Dieses Buch der Tochter von Sigmund F r e u d ist ein Standardwerk der psychoanalytischen Literatur. Es ist in einer selten klaren und anschaulichen Sprache geschrieben, wobei besonders angenehm auffällt, daß die Autorin spekulativen Theorien gegenüber zurückhaltend ist, dafür aber das Material an zahlreichen, sehr ins596
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truktiven Beispielen, vorwiegend aus Kinderanalysen, erhärtet. Das Werk ist auch deswegen besonders wertvoll, weil es neue Blickpunkte in der psychologischen Analyse der Gesamtpersönlichkeit gibt. Freilich setzt die Lektüre des Buches eine gewisse Vertrautheit mit der psychoanalytischen Terminologie voraus. … Im letzten Abschnitt gibt A. Fr. eine aufschlußreiche Darstellung der Psychologie des Pubertätsalters, ein bis dahin in der psychoanalytischen Literatur sehr stiefmütterlich behandeltes Gebiet. Die Pubertät bringt eine starke quantitative und qualitative Veränderung der Triebansprüche mit sich, gegen die das Ich in seiner Triebfeindlichkeit energische Abwehrbestrebungen entgegensetzt. „Die Steigerung der Phantasietätigkeit, die Durchbrechung zur prägenitalen, also perversen sexuellen Befriedigung, die Aggressivität und Kriminalität bedeuten Teilerfolge des Es. Das Auftreten von Ängsten, die asketischen Züge, die Steigerung von neurotischen Symptomen und Hemmungserscheinungen (und die Intellektualisierung des Trieblebens) sind die Konsequenzen der erhöhten Triebabwehr, also Teilerfolge des Ichs.“ Bald bricht die eine Seite mehr durch, bald die andere; Art und Leistungsfähigkeit der Abwehrmechanismen bestimmen schließlich den Ausgang des Kampfes. Es ergeben sich daraus neue überraschende Gesichtspunkte zur Frage der Neurosenverhütung und Kindererziehung, auf die die Verf. an verschiedenen Stellen eingeht. — Allen, die sich für die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Psychoanalyse und für die daraus resultierenden pädagog. Forderungen interessieren, sei das Buch warm empfohlen. O . B r i n e r - Bern.
Freud, Sigm., Selbstdarstellung. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1936. 107 S. Geh. RM. 3,50, geb. RM. 5,—. Als selbständige Schrift mit fünf Bildbeilagen erscheint die „Selbstdarstellung“, die 1925 im IV. Band des Sammelwerkes „Die Medizin 597
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der Gegenwart in Selbstdarstellungen“ von L. R. G r o t e (Verlag von Felix Meiner, Leipzig) herausgegeben wurde. Sie bietet im wesentlichen das, was der Verfasser bereits 1914 in seiner Schrift „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ veröffentlichte. Erweitert sind Angaben über Jugend und Studentenzeit, sowie eine „Nachschrift 1935“. Die letztere gibt einige Daten aus der Bewegung im Verlauf der letzten zehn Jahre. G. H. G r a b e r - Stuttgart.
Sterba, Richard, Handwörterbuch der Psychoanalyse. Erste bis dritte Lieferung. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1936. Je 32 S. brosch. zu je RM. 5,—. Die ersten 3 Lieferungen enthalten Termini von „Abasie“ bis „Energie“ (seelische). Freud selbst bezeichnet in einem Schreiben an den Verfasser, das in faksimilierter Wiedergabe die erste Lieferung einleitet, das Werk „als eine wertvolle Hilfe für den Lernenden“ und anerkennt „die Präzision und Korrektheit der einzelnen Angaben“. Die einzelnen Begriffsinhalte sind allgemein verständlich und ausführlich erläutert, so daß der Verfasser der Aufgabe einer eindeutigen Bestimmung in erfreulicher Weise gerecht wird. Den Schlagworten ist jeweils eine Übersetzung ins Englische und Französische beigefügt. Das Werk, das einen Umfang von etwa 24 16seitigen Druckbogen erhalten soll, verspricht für den Interessenten eine sehr schätzenswerte Arbeit zu werden. G. H. G r a b e r - Stuttgart.
Rezensionen psychoanalytischer Literatur, Zentralblatt für Psychotherapie, Bd. 9/1936, Hft. 6, aus den Seiten 373 ff.
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Almanach der Psychoanalyse 1938. Internationaler Psychoanalytischer Verlag Wien. 1937. 256 S. 2 Abbildungen. Preis: Lwdbd. 4.- RM. Neben Originalbeiträgen enthält der Almanach eine geschickte Auswahl von Arbeiten aus allen Gebieten der analytischen Forschung, die in letzter Zeit in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind. S. F r e u d ist mit drei Abhandlungen vertreten: Moses ein Ägypter; Wenn Moses ein Ägypter war und Die endliche und die unendliche Analyse. In den beiden ersten Arbeiten verficht F. auf Grund von etymologischen Ableitungen und Vergleichungen aus der Mytologie die ketzerische Hypothese, daß Moses kein Jude, sondern ein Ägypter aus königlichem Hause war, der die Juden mit der von Ikhnaton (Amenhotep) gegründeten Atonreligion bekannt machte und sich zum Herrscher über dieses Volk erhob, als die Ägypter von der Atonreligion wieder abfielen. Aus der Arbeit, Die endliche und die unendliche Analyse, ist nur das eine Kapitel enthalten, worin F. auf den Vorsokratiker Empedokles als Vorläufer seiner Theorie über Sexual- und Destruktionstriebe hinweist, da E. die Welt auf zwei Prinzipien aufgebaut wissen wollte, nämlich auf Liebe und Streit. Von M e n n i n g e r stammt ein Beitrag zum Thema Psychiatrie und Medizin. In einer sehr interessanten Arbeit setzt sich S t e n g e l mit der Prüfungsangst und Prüfungsneurose, sowohl des Prüflings, wie des Prüfenden, auseinander. C h r i s t o f f e l weist in einem Aufsatz auf den englischen Psychiater Henry Maudsley hin, der bereits 1867 Anschauungen über das Unbewußte und eine Trieblehre entwickelt hatte, die in mancher Hinsicht den Gedankengängen, wie sie später von F r e u d durchgeführt wurden, entsprechen. M e n g äußert sich über das Wesen und Aufgabe der seelischen Hygiene. Ferner enthält der Almanach von 13 weiteren Autoren Beiträge zur sozialen Frage, über Pädagogik, angewandte Psychologie und psychoanalytische Theorie. O. B r i n e r - Bern.
Rezensionen psychoanalytischer Literatur, Zentralblatt für Psychotherapie, Bd. 10/1938, Hft. 4/5, S. 279.
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Dr.Wilhelm Reich
Oslo,den 15.April 1939 Drammensveien 110 H.
An die Deutsche Gesandtschaft in Oslo Oslo ____________________________________ Ich möchte hiermit schriftlich festhalten, was ich gestern in Gegenwart zweier Zeugen, des Herrn Advokaten Annaeus Schjödt,Oslo, und Mrs. Constance Tracey, London, dem Beamten sagte, der meine Passangelegenheit abzufertigen hatte. Der Pass lautete auf den Namen Wilhelm Israel Reich. Er entsprach daher nicht den Papieren, die ich, ausgestellt von den früheren österreichischen Behörden, im Besitz habe. Ich hatte um keine Namensänderung angesucht. Die von Ihnen durchgeführte Namensänderung ist daher unrechtmässig. Aus diesem Grunde konnte ich das Dokument nicht akzeptieren. Ich könnte keinem Beamten an irgendeiner Stelle der Welt klarmachen, weshalb mein Passname und mein Name auf den übrigen Papieren nicht übereinstimmen. Desgleichen musste ich ein Dokument zurückweisen, das in offenkundig diffamierender Weise eine Person einer bestimmten Nationalität zu brandmarken beabsichtigt. Ich erkläre ausserdem, dass ich auf die deutsche Staatsbürgerschaft verzichte, solange unzutreffende Namensausfertigungen auf offiziellen Dokumenten offiziell gutgeheissen werden. Ich habe den Pass unterschrieben, als er noch nicht ausgefüllt war. Ich hätte es nicht getan, wenn mir seine Abfassung bekannt gegeben worden wäre. Meine Unterschrift ist daher ungültig.
gez. Dr.med.Wilhelm Reich.
In der Ausbürgerungsakte enthaltene Abschrift eines Briefs von W. Reich vom 15.4.1939, Quelle: AAA R 99855.
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VÖLKISCHER BEOBACHTER
14.05.1939
Auà die eríen Kindheit$einìüsse beùimmen die Leben$geùaltung Einwirkungen seelischer Leiden auf den Körper Falsche Erziehung kann sogar Krankheiten hervorrufen Der „Völkische Beobachter“ sprach mit Prof. Dr. Dr. M. H. Göring Vor 2 1/2 Jahren begann da$ Deutsche Institut für „Psychologische Forschung und Psychotherapie“, da$ seinen Sitz in der Budapester Straße in Berlin hat, seine Arbeit. Unter Leitung von Prof. Dr. Dr. M. H. Göring, der erst kürzlich seinen 60. Geburtstag feierte, hat e$ sich zu einer in der Welt einzigartigen Einrichtung entwickelt, die, eingebaut in die deutsche Gesundheit$führung, wichtigsten Dienst an der Volk$gesundheit leistet. Prof. Dr. Göring gab in einer Unterhaltung mit unserem Mitarbeiter interessante Einblicke in die Arbeit der modernen Tiefenpsychologie. Er streifte dabei nicht nur die weltanschauliche Gebundenheit einer Wissenschaft, die sich ja einer durch und durch deutschen Form der Seelenheilkunde herau$gebildet hat, sondern ging auch besonder$ auf die Wurzeln der so überau$ stark verbreiteten verschiedenartigen Neurosen al$ Störung de$ unbewußten Seelenleben$ und auf Erziehung$fragen ein.
die Betroffenen und in vielleicht noch größerem Maße für die Umgebung. Experimente und klinische Erfahrungen haben aber auch ein überau$ zahlreiche$ Bewei$material für ganz erstaunliche Einflüsse der Seele auf den Körper erbracht. Die sogenannten Organneurosen, die da$ Herz oder die Verdauung$organe betreffen, führen ebenso wie die schweren seelischen Störungen zu Beruf$unfähigkeit. Aber auch die leichteren Fälle bedingen in jedem Fall eine Leistung$minderung. Da die Zahl der Neurotiker jene der an Kreb$ und Wa$ sind Neurosen? Tuberkulose Erkrankten übertrifft, wird e$ Neurosen sind Störungen de$ unbewußten klar, wie ungeheuer wichtig die Bekämpfung Seelenleben$. Sie hemmen den Menschen je der seelischen Leiden ist. nach der Schwere mehr oder weniger in seiner Leben$tüchtigkeit und haben ihre Ursache Weltanschauung und Psychotherapie in falscher Erziehung oder in verschiedenen nachteiligen Umwelteinflüssen. Von den ganz Wie bereit$ erwähnt, widmet sich da$ geleichten Neurosen abgesehen, bringen viele nannte Institut auch der Forschung, wobei Fälle außerordentliche Schwierigkeiten für auch ein grundsätzliche$ Problem der Lö-
Da$ psychotherapeutische Institut sieht seine Aufgaben sowohl in der Forschung und der Lehrtätigkeit wie auch in der Unterhaltung einer Poliklinik zur Behandlung von Neurotikern. Die 20 Dozenten arbeiten ebenso wie die Leitung völlig ehrenamtlich. Die Behandlungen werden bei Unbemittelten umsonst oder gegen ein geringe$ Honorar durchgeführt, au$ deren Summe lediglich die Unterhaltung des Institut$ bestritten wird.
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sung zugeführt wurde. E$ handelte sich dabei um die Fragestellung, wie e$ kam, daß die Psychoanalyse, die ein sehr moderne$ medizinische$ Fach darstellt, einst so zersetzend gewirkt hat. Unbestreitbar hat die Kirche schwere Erziehung$fehler verursacht. Mit der Unterdrückung alle$ Sexuellen bereitete sie schließlich den Boden für den Einfall der Juden in da$ Gebiet der Psychoanalyse. Und seit Freud wurde e$ dann auch die fast au$schließliche Domäne jüdischer Ärzte. Für einen Freud al$ Juden konnte da$ Unbewußte an sich nicht faßbar sein; er mußte e$ de$halb auf irgendeine Weise rein naturwissenschaftlich zu erklären versuchen. Für den Deutschen ist da$ gar nicht nötig. So kam e$ schon vor Jahrzehnten zur rein instinktmäßigen Ablehnung der Lehre Freud$, die sich auf der Entwicklung$geschichte de$ Geschlecht$apparate$ aufbaute. Die Erkenntni$ der im Unbewußten schlummernden Kräfte verdanken wir unserem Leibnitz und auch den Ärzten Caru$, dem Freund Goethe$, wie Feuchter$leben, der vor 100 Jahren in seiner kleinen Schrift „Zur Diätetik der Seele“ sagte: „Die Grundlage de$ Leben$ ist da$ Unbewußte, sind die schöpferischen Kräfte de$ Gefühle$ und der Phantasie.“ E$ ist klar, daß da$ Judentum gerade auf einem Arbeit$gebiet wie dem Seelischen besonder$ verderbliche Einflüsse fruchtbar machen konnte. Für die Juden wurde die Psychotherapie zum Geschäft, die Vergiftung des Seelenleben$ zur Notwendigkeit, um dann zur „Entgiftung“ schreiten zu können. Heute i$t eine durch und durch deutsche Form der Seelenheilkunde herau$gebildet worden.
Heilung durch Forschung Daß eine Neurose, die in jedem Fall, wie wir gesehen haben, ihren Ursprung im Seelischen hat, nicht durch Beruhigung$mittel geheilt werden kann, ist ohne weitere$ klar. Die Aufklärung der Ursache aber setzt eine gründliche Schulung und eine intuitive Beobachtungsgabe vorau$. Erst wenn die Wur-
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zel gefunden ist, können die Bestrebungen, die wirkliche Volleistung$fähigkeit wiederherzustellen, erfolgreich sein. Die tiefenpsychologische Behandlung ist langwierig. Allein nur die Aufschließung de$ Unbewußten kann bei einer vorliegenden Neurose zu ihrer Bekämpfung führen. Prof. Göring spricht dem unmittelbar auf die Störung gerichteten Willen de$ Kranken bei der Heilung der Neurose keine Bedeutung zu. Wohl aber muß der Wille zur Gesundung und zur Aufdeckung de$ Unbewußten vorhanden und die Charakteranlage de$ Patienten gut sein, wenn eine Heilung der Neurose erzielt werden soll. Um in da$ Unbewußte einzudringen, vermitteln die Träume, die ja au$ dem Unbewußten kommen, wesentliche Anhalt$punkte. Natürlich stellen aber die meisten Träume nur ein sehr verschwommene$ Bild dar, da$ erst durch Verbindungen und Ideenverknüpfungen geklärt werden muß. Mit Hilfe der Träume kann man aber somit die Ursachen der Neurose klarstellen. Nachdem e$ feststeht, daß ein großer Teil der Neurosen auf Erziehung$fehlern beruht, muß natürlich der Verhütung ein ganz besondere$ Interesse gewidmet werden.
Kindheit$einflüsse bestimmen Leben$gestaltung Bei den schwerwiegenden Schädigungen, die die Neurose hervorruft und die zu Minderungen der Leistung$fähigkeit führen, ist e$ von besonderer Wichtigkeit, bereit$ in der Kindheit mit der vorbeugenden Arbeit einzusetzen. Alle Eltern müssen sich klar sein, daß e$ weniger wichtig ist, aktiv zu erziehen, al$ Erziehung$fehler bei rassisch und erbbiologisch einwandfreien Kindern zu vermeiden. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Erziehung bi$ zum 6. Leben$jahr von au$schlaggebender Bedeutung für die Leben$einstellung de$ Menschen ist. E$ sei in diesem Zusammenhang auch an den jesuitischen Spruch erinnert, der besagt: „Gebt mir da$ Kind bi$ zum 6. Leben$jahr, dann könnt ihr damit machen, wa$ ihr wollt.“
Dokumente und Abbildungen
Zur Vermeidung von Erziehung$fehlern ist die Tätigkeit de$ Hau$arzte$ von allergrößter Bedeutung. E$ ist außerordentlich wichtig, ihn nicht nur in Krankheit$tagen de$ Kinde$, sondern überhaupt al$ Berater hinzuzuzuiehen. Der Hau$arzt wird in jedem Fall auf Grund de$ seelisch-körperlichen Gesamtzustande$ feststellen können, wa$ einem Kinde zugemutet werden kann. In großem Umfange werden Erziehung$fehler schon im Säugling$alter begangen. Eine junge Mutter muß wissen, daß ein Säugling nur aufgenommen werden darf, wenn er naß ist oder Schmerzen hat. Jede$ „Bemuttern“ von alten Tanten kann zu späteren Fehlern führen. Eine Mutter muß auch wissen, wieviel ihre Kinder vertragen können. Sie soll ihnen ruhig da$ zuträgliche Maß zumuten. Ist sie sich darüber nicht im klaren, wird ihr der Hau$arzt helfen. Wenn ein zweijährige$ Kind in der Stube fällt, so wird e$ nicht weinen und aufstehen, ohne daß die Mutter zu Hilfe springt. Fällt da$ Kind im Garten in Brennesseln, wird ihm die Mutter natürlich helfen; denn ein zweijährige$ Kind braucht in einer derartigen Lage noch Hilfe und spürt darin die mütterliche Liebe. Die letztere darf mit Verwöhnen und Verweichlichen nicht$ zu tun haben.
hung$grundsatz werden, daß jede Kinde$frage beantwortet und nicht mit Au$flüchten, wie z.B. „dazu bist du noch zu klein“, abgetan wird. Ein Kind, da$ die Frage stellt, wird früher oder später seinen Wissen$drang befriedigen. Ob die$ dann aber auf die richtige Weise geschieht, ist sehr fraglich. Ernste Kinderfragen, die seiten$ der Eltern unbeantwortet bleiben, schwächen in jedem Fall da$ Vertrauen$verhältni$. Für die Volk$gesundheit wird die Tätigkeit eines Hau$arzte$, der die Familie regelmäßig besucht, auch wenn niemand krank ist, von allergrößter Bedeutung sein. Damit er den Eltern, vor allem der Mutter, in allen Fällen und Fragen mit Rat und Tat zur Seite stehen, also außer dem körperlichen auch da$ seelische Gedeihen der Kinder überwachen kann, ist e$ sehr wichtig, daß der Hau$arzt gerade für die vorbeugende Arbeit auch psychotherapeutisch ausgebildet ist. Für seine Tätigkeit müßte der Hau$arzt seiten$ der Krankenversicherung ein Fixum erhalten. Wenn auch die ärztliche Aufgabe durch diese Forderungen größer würde, könnte aber auch da$ Arzttum darin seine schönste Krönung finden.
Denn wa$ könnte größere Befriedigung hervorrufen al$ Krankheit, Schmerz und Leid zu verhüten und durch die umfassende „Dazu bist du noch zu klein!“ Betreuung au$schlaggebend zur HeranzieAußerordentlich wichtig ist die ärztliche hung eines gesunden Geschlechte$ beizutragen. Beratung der Eltern über sexuelle AufkläHerbert Rudolf rung. E$ sollte zu einem feststehenden Erzie-
Auf der Basis eines Interviews mit M. H. Göring entstandener Artikel im Völkischen Beobachter, 14.5.1939. Quelle: ZAS.
603
Anhang
Akten de$
Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof Der Obergerichtshof beim Volksgerichtshof 12J 3/39.
Berlin, den 26. Juli 1939.
Zu I bis II pp .
III. 1.pp.
2.) Das Verfahren gegen Horst H o l m s t r ö m , Anna J o h a n n s e n , Dr. R e i c h und Willy B r a n d t wird abgetrennt. Zu diesen Verfahren sind zu nehmen: a) Beglaubigte Abschrift dieser Verfügung (Durchschlag zu den Handakten); b) beglaubigte Abschriften soweit < > von Bd. I Bl. 118, 120/123, 124, 125, 127, 128, 131, 138, 139/142, 143, 144, 150, 218, 219, 220, Bd V Bl.80/84, 85, 87.
IV bis IX pp. Im Auftrage Gez. S p a h r .
____________________
Aus den Akten des Volksgerichtshofverfahrens gegen W. Reich, W. Brandt und andere. Quelle: BA NJ 6793.
604
Dokumente und Abbildungen
Deutsche Gefandtschaft
Oslo, den
30. Oktober 1939
Drammensveien 74, Anruf 43 805
Nr. R 5 e 3 Durchschläge Auf den Erl.v.13.10.1939 83-76, 6/10 Reich. Inhalt : Ausbürgerung Reich. Der Ausbürgerung des Juden und Emigranten Dr.Wilhelm R e i c h , die diesseits bereits mit Bericht vom 23.4.1938Nr. K - angeregt wurde, stehen Bedenken aus aussenpolitischen Gründen von hier aus nicht entgegen.
Berlin, den 19. XII
19 39.
zu 83-76 9/11 Reich.
An das Reichsministerium des Innern Mit Beziehung auf das dortige Schreiben vom 14. 10. d. J. auf Sta (Ausb.) Reich- und im Anschluß an mein Schreiben v. 23. 10. 39 –83–76 Reich–. Ref LR Schumburg.
Pol. Recht III A
Der Ausbürgerung des Juden Dr. Wilhelm R e i c h stimme ich zu. I.A. gez. Heinrich
Auszüge aus den abschließenden Seiten der Ausbürgerungsakte W. Reichs. Quelle: AAA R 99855.
605
Anhang
Die wichtigsten Mitglieder des Deutschen Institutes für psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin, aufgenommen wahrscheinlich im April 1941. Quelle: Privatarchive von Regine Lockot und Ludger M. Hermanns.
606
Dokumente und Abbildungen
Von links nach rechts: G. R. Heyer, W. Kemper, H. Schultz-Hencke, O. v. König-Fachsenfeld, W. Achelis, J. F. Rittmeister, J. Herzog-Dürck, H. v. Hattingberg, M. H. Göring, J. H. Schultz, R. Bilz, F. Boehm, F. Scherke, C. Müller-Braunschweig.
607
Anhang
Auf Initiative von Regine Lockot von Mitgliedern der DPG, der DPV und der Berliner W.-Reich-Gesellschaft gestiftete Gedenktafel für Wilhelm und Annie Reich an ihrem früheren Wohnsitz in Berlin-Wilmersdorf, eingeweiht am 23.6.2007 (Foto: Andreas Peglau).
608
Die wichtigsten Abkürzungen
AAA: AOI:
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes The Archives of the Orgone Institute, The Countway Library of Medicine, Harvard University APA: American Psychoanalytic Association ARSO: Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen BA: Bundesarchiv Berlin Lichterfelde BA Koblenz: Bundesarchiv Koblenz DIPFP: Deutsches Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie DPG: Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft DPV: Deutsche Psychoanalytische Vereinigung DSt: Deutsche Studentenschaft EV: Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz FDA: Food and Drug Administration HADB: Hausarchiv der Deutschen Bücherei Leipzig IAH: Internationale Arbeiterhilfe IFA: Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur IPV, IPA: Internationale Psychoanalytische Vereinigung bzw. International Psychoanalytic Association IZP: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse Komintern: Kommunistische Internationale LA: Landesarchiv Berlin LHAB Landeshauptarchiv Brandenburg MASCH: Marxistische Arbeiterschule Psa., PsA., PsA bzw. psa oder psa. (in Zitaten): Psychoanalyse bzw. psychoanalytisch ZfN: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie ZfP: Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der medizinischen Psychologie und psychischen Hygiene ZPPS: Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie
609
Quellen und Literatur
1
Quellen
Hinweis: Wenn in diesem Buch die Abkürzung »ff.« verwendet wird, sind damit die beiden jeweils folgenden Seiten gemeint, z.B. »S. 30ff.« = »S. 30–32«.
1.1
Ungedruckte Quellen
The Archives of the Orgone Institute Correspondence, Box 1, General Correspondence, Box 3, Psa., April 10, 1933–1934 Correspondence, Box 4, Psa., 1935-»EP«, 1935–1954 Correspondence, Box 5 Correspondence, Box 6, General, 1935-September 1939, A-H Correspondence, Box 7, General 1935-September 1939, I-P Manuscripts Box 4 Orgone Institute, Box 4 Orgone Institute, Box 5 Orgone Institute, Box 35 Orgone Institute, Box 36 Sigmund Freud Archives, Ernest Jones re. Freud biography Brecht-Archiv Berlin Dokument 161/25 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde NJ: Nationalsozialistische Justiz
611
Anhang NS 8: Kanzlei Rosenberg NY: Nachlässe R 55: Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda R 56: Reichskulturkammer R 58: Reichsicherheitshauptamt R 181: Sammlung von Beschlüssen der Oberprüfstelle Leipzig und der Prüfstelle Berlin für Schund- und Schmutzschriften R 1501: Reichsministerium des Innern RY1: Kommunistische Partei Deutschlands Bundesarchiv Koblenz B/339/513: Archiv z. Geschichte d. Psa. 762-2/762-5: Kleine Erwerbungen Hausarchiv der Deutschen Bücherei Leipzig 580/0: Bibliographische Tätigkeit 840/4/1: Bestand »Schwarze Listen« Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep. 030: Bestand Polizeipräsidium Berlin Landeshauptarchiv Brandenburg Rep. 203, PA 472 (Personalakte Fritz Hupfeld) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Referat Deutschland. Deutsche Emigrantentätigkeit im Ausland) R 99578/R 99893/R 99896/R 99855 Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI), Moskau SAP-Archiv (Arbeiderbewegelsens Arkiv og Bibliotek, Oslo) Box 17, Mappe 153 Tagebücher von Alexander Mette (zur Verfügung gestellt von Regine Lockot) Tonband-Interview Bahnen, Peter: Unveröff. Interview mit Ernst Bornemann vom 23.4.1986. Häufig genutzte Webseiten www.dnb.de www.lsr-projekt.de www.mohr-villa.de www.orgonomie.net
612
Quellen und Literatur www.pep-web.org www.spiegel.de www.verbrannte-buecher.de www.wikipedia.de Unter archive.org/details/CollectionOfTheInternationalPsychoanalyticUniversityBerlin lassen sich eine Vielzahl der hier verwendeten psychoanalytischen Texte inklusive diverser Artikel und Schriften Wilhelm Reichs in der Originalfassung einsehen und herunterladen. Die Originalaufnahme des korrekten, der Psychoanalyse gewidmeten »Feuerspruchs« vom 10. Mai 1933 ist zu hören unter: www.dhm.de/ausstellungen/holocaust/r2.htm sowie unter www.youtube.com/watch?v=jeMKojq-e5E (Beginn bei 2:35 Min. Laufzeit des Features, Ende bei 2:50 Min.) (Abfrage 15.2.2013).
Des Weiteren standen mir in unterschiedlichem Umfang Dokumente aus den Privatarchiven von Marianne Baeumler, Philip Bennett, James DeMeo, Ludger M. Hermanns, Bernd A. Laska, Regine Lockot, Einhart Lorenz, Bernd Nitzschke, Marc Rackelmann, Lore Rubin Reich, Michael Schröter und Wolfgang Leuschner zur Verfügung.
1.2
Gedruckte Quellen
1.2.1
Tageszeitungen (soweit als Originalquellen verwertet)
Der Angriff Arbeiterpolitik Arbeiter Illustrierte Zeitung Berlin am Morgen Kommunistische Arbeiterzeitung Leipziger Volkszeitung Münchner Neueste Nachrichten Politiken Rote Fahne (Berlin) Rote Fahne (Wien) Der Völkische Beobachter Die Welt am Abend
613
Anhang
1.2.2
Fach- und andere Zeitschriften sowie Amtsblätter (soweit als Originalquellen bzw. Reprints verwertet)
Bevrijding Deutsche Medizinische Wochenschrift Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Der freie Gedanke Gegen den Strom. Organ der KPD(O) Gelbe Post. Ostasiatische Illustrierte Imago. Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes- und Naturwissenschaften Inprekorr. Internationale Pressekonferenz Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse Internationales Ärztliches Bulletin. Zentralorgan der Vereinigung Internationaler Sozialistischer Ärzte Die Koralle Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung Der Marxist Münchener Medizinische Wochenschrift Neue Front Die Neue Weltbühne The New Republic Proletarische Sozialpolitik Die Psychoanalytische Bewegung Der Reichswart Der sozialistische Arzt Süddeutsche Monatshefte Unser Wort Die Warte Der Weg der Frau Westfälische Jugend Westfälische Wohlfahrtspflege Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik Zeitschrift für Sozialforschung Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der medizinischen Psychologie und psychischen Hygiene
614
Quellen und Literatur
1.2.3
Weitere gedruckte Quellen
Die in den Gesammelten Werken Sigmund Freuds enthaltenen Schriften werden aufgelistet nach der Freud-Bibliografie von Ingeborg Meyer-Palmedo und Gerhard Fichtner (Meyer-Palmedo/Fichtner 1999). Adler, Alfred (2009): Gesellschaft und Kultur (1897–1937), hg. von Almuth Bruder-Bezzel, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Aichhorn, August (2012) [1944]: Bericht an das Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie z. H. des Direktors Herrn Prof. Dr. M.H. Göring, 3.6.1944, als Faksimile wiedergegeben in Ash, Mitchell G. (Hg.) (2012a): Materialien zur Geschichte der Psychoanalyse in Wien 1938–1945, Frankfurt/M.: Brandes u. Apsel, S. 374–382. Aichhorn, Thomas/Schröter, Michael (2007): K. R. Eissler und A. Aichhorn. Aus ihrem Briefwechsel 1945–1949. Luzifer-Amor, H. 40, S. 7–15. Alexander, Franz (1938): Psychoanalyse und soziale Frage, Almanach der Psychoanalyse 1938, Wien: Int. Psych. Verlag, S. 64–83. Balint, Alice (1932): Die Psychoanalyse des Kinderzimmers. Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 6. Jg., H. 10, S. 49–130. Benfer, Heinrich (1926): Grundsätzliches zum Problem der Schundliteratur, in Jung, Bruno/ Weber, Heinrich (Hg.): Schmutz und Schund als sozialpathologische Erscheinung, Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung. Bernfeld, Siegfried (1972) [1932]: Die kommunistische Diskussion um die Psychoanalyse und Reichs »Widerlegung der Todestriebhypothese«, in Gente, Hans-Peter (Hg.): Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, Bd. 1., Frankfurt/M.: Fischer, S. 81–114. Bernfeld, Siegfried/Feitelberg, Sergei (1930): Der Entropiesatz und der Todestrieb. Imago Jg. 16, S. 187–206. Bernfeld, Siegfried/Reich, Wilhelm/Jurinetz, W.,/Sapir, I./Stoljarow, A. (1970): Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation einer Kontroverse, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bilz, Rudolf (Hg.) (1941): Psyche und Leistung. Bericht über die 3. Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie in Wien am 6. und 7. September 1940, Stuttgart: Hippokrates. Boehm, Felix (1940): Poliklinische Erfahrungen, Zentralblatt für Psychotherapie, Bd. 12, S. 65–87. Boehm, Felix (1942): Erhebung und Bearbeitung von Katamnesen, Zentralblatt für Psychotherapie, Bd. 14, S. 17–25. Boehm, Felix (1978): Schriften zur Psychoanalyse, München: Ölschläger. Bonaparte, Marie (1981) [1939]: Topsy, der goldhaarige Chow, Frankfurt/M.: Fischer. Bumke, Oswald (1931): Die Psychoanalyse. Eine Kritik, Berlin: Julius Springer. Bumke, Oswald (1938): Die Psychoanalyse und ihre Kinder. Eine Auseinandersetzung mit Freud, Adler und Jung, Berlin: Julius Springer. Bumke, Oswald (1941): Gedanken über die Seele, Berlin: Julius Springer. Curtius, Otto (Hg.) (o. J.): Psychotherapie in der Praxis. Ein Gesamtüberblick. Bericht über die 2. Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie September 1938, Düsseldorf: Knorsch. Der Marxist. Blätter der marxistischen Arbeiterschule 1931/32 (1971): Reprint, Erlangen: Politladen.
615
Anhang Deutsche Bücherei (1949): Deutsche Nationalbibliographie. Ergänzung 1: Verzeichnis der Schriften, die 1933–1945 nicht angezeigt werden durften, Leipzig: Verlag des Börsenvereins. Döhl, Ilse (1941): Gottfried Wilhelm Leibniz als Entdecker des Unbewussten und als Psychotherapeut, 3. Beiheft zum Zentrablatt für Psychotherapie, S. 5–33. Federn, Paul (1919): Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft, Leipzig/Wien: Anzengruber. Federn, Paul/Meng, Heinrich (1928): Das Psychoanalytische Volksbuch, Stuttgart/Leipzig/Zürich: Hippokrates. Federn, Paul/Meng, Heinrich (1939): Das Psychoanalytische Volksbuch, Bern: Huber. Fenichel, Otto (1998): 119 Rundbriefe (1933–1945), zwei Bände, hg. von Reichmayr, Johannes/ Mühlleitner, Elke, Frankfurt/M./Basel: Stroemfeld. Ferenczi, Sándor (1982a): Die Elastizität der psychoanalytischen Technik, in ders.: Schriften zur Psychoanalyse 2, Frankfurt/M.: Fischer, S. 237–250. Ferenczi, Sándor (1982b): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind, in ders.: Schriften zur Psychoanalyse 2, Frankfurt/M.: Fischer, S. 303–313. Ferenczi, Sándor (1988): Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932, Frankfurt/M.: Fischer. Foxe, A. N. (1940): Terrorization of the Libido and Snow White, Psychoanalytic Review 27/1940, S. 144–148. Freud, Anna (1932a): Psychoanalyse des Kindes, Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 6. Jg., H. 10, S. 1–11. Freud, Anna (1932b): Erzieher und Neurose, Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 6. Jg., H. 10, S. 393–402. Freud, Sigmund (1895d): Studien über Hysterie, in ders.: GW Bd. 1, Frankfurt/M.: Fischer, S. 75–312. Freud, Sigmund (1896c): Zur Ätiologie der Neurosen, in ders.: GW Band 1, Frankfurt/M.: Fischer, S. 425–459. Freud, Sigmund (1900a): Die Traumdeutung, in ders.: GW Bd. 2/3, Frankfurt/M.: Fischer, S. 1–642. Freud, Sigmund (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in ders.: GW Band 4, Frankfurt/M.: Fischer, S. 1–310. Freud, Sigmund (1904a): Die Freudsche psychoanalytische Methode, in ders.: GW Bd. 5, Frankfurt/M.: Fischer, S. 3–10. Freud, Sigmund (1905c): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten in ders.: GW Band 6, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1905d): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in ders.: GW Band 5, Frankfurt/M.: Fischer, S. 29–145. Freud, Sigmund (1906a) [1905]: Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen, in ders.: GW Band 5, Frankfurt/M.: Fischer, S. 148–159. Freud, Sigmund (1907b): Zwangshandlungen und Religionsübungen, in ders.: GW Bd. 7, Frankfurt/M.: Fischer, S. 129–139. Freud, Sigmund (1907c): Zur sexuellen Aufklärung der Kinder, in ders.: GW Band 7, Frankfurt/M.: Fischer, S. 17–27. Freud, Sigmund (1910c): Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in ders.: GW Bd. 8, Frankfurt/M.: Fischer, S. 127–211. Freud, Sigmund (1910d): Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie, in ders.: GW Band 8, Frankfurt/M.: Fischer, S. 103–115.
616
Quellen und Literatur Freud, Sigmund (1912b): Zur Dynamik der Übertragung, in ders.: GW Bd. 8, Frankfurt/M.: Fischer, S. 363–374. Freud, Sigmund (1912e): Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, in ders.: GW Bd. 8, Frankfurt/M.: Fischer, S. 375–387. Freud, Sigmund (1912–13a): Totem und Tabu, in ders.: GW Band 9, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1913j): Das Interesse an der Psychoanalyse, in ders.: GW Band 8, Frankfurt/M.: Fischer, S. 389–420. Freud, Sigmund (1914d): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, in ders.: GW Band 10, Frankfurt/M.: Fischer, S. 43–113. Freud, Sigmund (1915b): Zeitgemäßes zu Krieg und Tod, in ders.: GW Band 10, Frankfurt/M.: Fischer, S. 323–365. Freud, Sigmund (1916–17a): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in ders.: GW Band 11, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1917a): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in ders.: GW Band 12, Frankfurt/M.: Fischer, S. 7–12. Freud, Sigmund (1919a): Wege der psychoanalytischen Therapie, in ders.: GW Band 12, Frankfurt/M.: Fischer, S. 183–194. Freud, Sigmund (1920g): Jenseits des Lustprinzips, in ders.: GW Band 13, Frankfurt/M.: Fischer, S. 1–70. Freud, Sigmund (1921c): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in ders.: GW Band 13, Frankfurt/M.: Fischer, S. 71–161. Freud, Sigmund (1923a) [1922]: »Psychoanalyse« und »Libidotheorie«, in ders.: GW Bd. 13, Frankfurt/M.: Fischer, S. 209–233. Freud, Sigmund (1923b): Das Ich und das Es, in ders.: GW Bd. 13, Frankfurt/M.: Fischer, S. 237– 289. Freud, Sigmund (1924c): Das ökonomische Problem des Masochismus, in ders.: GW Band 13, Frankfurt/M.: Fischer, S. 369–383. Freud, Sigmund (1925d) [1924]: Selbstdarstellung, in ders.: GW Band 14, Frankfurt/M.: Fischer, S. 31–96. Freud, Sigmund (1927c): Die Zukunft einer Illusion, in ders.: GW Band 14, Frankfurt/M.: Fischer, S. 325–380. Freud, Sigmund (1930) [1929]: Das Unbehagen in der Kultur, in ders.: GW Band 14, Frankfurt/M.: Fischer, S. 419–506. Freud, Sigmund (1933a) [1932]: Neue Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in ders.: GW Band 15, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1933b) [1932]: Warum Krieg? in ders.: GW Band 16, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1935a): Nachschrift 1935, in ders.: GW Band 20, Frankfurt/M.: Fischer, S. 71–74. Freud, Sigmund (1937c): Die endliche und die unendliche Analyse, in ders.: GW Band 16, Frankfurt/M.: Fischer, S. 57–99. Freud, Sigmund (1938a): Ein Wort zum Antisemitismus, in ders.: GW Nachtragsband, Frankfurt/M.: Fischer, S. 779–781. Freud, Sigmund (1939a) [1934–38]: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in ders.: GW Band 16, Frankfurt/M.: Fischer, S. 101–246. Freud, Sigmund (1940b) [1938]: Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis, in ders.: GW Band 17, Frankfurt/M.: Fischer, S. 139–147.
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Anhang Freud, Sigmund (1955) [1920]: Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker, in ders.: GW Nachtragsband, Frankfurt/M.: Fischer, S. 704–710. Freud, Sigmund (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hg. von Masson, Jeffrey M., dt. Fassung bearb. v. Schröter, Michael, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1989a) [1974]: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe Band 9, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1989b) [1975]: Schriften zur Behandlungstechnik, Studienausgabe Ergänzungsband, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (1996): Tagebuch 1929–1939, hg. von Molnar, Michael, Basel/Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern. Freud, Sigmund (1999): Inhaltsverzeichnis der GW, in ders.: GW Band 18, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund (2010): »Unterdeß halten wir zusammen«. Briefe an die Kinder, hg. von Schröter, Michael, Berlin: Aufbau. Freud, Sigmund (2012): Briefe an Siegfried Bernfeld, hg. von Andreas Peglau und Michael Schröter, in Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Jg. 25, H. 50, S. 112–121. Freud, Sigmund/Abraham, Karl (2009): Briefwechsel 1907–1925, hg. von E. Falzeder und L.M. Hermanns, Wien: Turia und Kant. Freud, Sigmund/Bleuler, Eugen (2012): »Ich bin zuversichtlich, wir erobern bald die Psychiatrie.« Briefwechsel 1904–1937, hg. von Schröter, Michael, Basel: Schwabe. Freud, Sigmund/Bullitt, William C. (2007): Thomas Woodrow Wilson. Der 28. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1913–1921), Gießen: Psychosozial-Verlag Freud, Sigmund/Eitingon, Max (2004): Briefwechsel 1906–1939, hg. von Schröter, Michael, Tübingen: edition discord. Freud, Sigmund/Ferenczi, Sándor (1993): Briefwechsel 1908–1911, Bd. I/1, hg. von Brabant, Eva/ Falzeder, Ernst/Giampieri-Deutsch, Patrizia, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Freud, Sigmund/Ferenczi, Sándor (2005): Briefwechsel 1925–1933, Bd. III/2, hg. von Falzeder, Ernst/Brabant, Eva, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Freud, Sigmund/Ferenczi, Sándor/Simmel, Ernst/Abraham, Karl/Jones, Ernest (1919): Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen, Wien/Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Freud, Sigmund/Jones, Ernest (1993): Briefwechsel 1908–1939, Frankfurt a.M.: Fischer. Freud, Sigmund/Jung, C. G. (1974): Briefwechsel, hg. von McGuire, William/Sauerländer, Wolfgang, Frankfurt/M.: Fischer. Freud, Sigmund/Ossipow, Nikolaj J. (2009): Briefwechsel 1921–1929, Frankfurt/M.: Brandes und Apsel. Freud, Sigmund/Zweig, Arnold (1984): Briefwechsel, hg. von Freud, Ernst L., Frankfurt/M.: Fischer. Friedjung, Josef K./Fürst, Sidonie/Chiavacci, Ludwig/Steiner, Herbert (Hg.): Sexualnot und Sexualreform – Verhandlungen der Weltliga für Sexualreform. IV. Kongreß abgehalten zu Wien vom 16. bis 23. September 1930. Wien: Elbemühl-Verlag. Fritsch, Theodor (1932): Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes, Leipzig: Hammer. Fromm, Erich (1931): Politik und Psychoanalyse, Die Psychoanalytische Bewegung, Jg. 1931, H. 5, S. 440–447. Fromm, Erich (1989a) [1945]: Die Furcht vor der Freiheit, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 10, München: dtv, S. 217–392. Fromm, Erich (1989b) [1936]: Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 1, München: dtv, S. 141–187.
618
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Personenregister
Verweise auf Sigmund Freud und Wilhelm Reich (gebräuchlichste Pseudonyme Ernst Parell, Ernst Roner) wurden nicht aufgenommen, da sie sich durch das gesamte Buch ziehen. Weggelassen wurden zudem Namen in Danksagungen, nicht zu identifizierende Personen, von denen nur der Vor- oder Nachname feststellbar war, sowie sämtliche Namensnennungen in bloßen Literatur- oder Quellenangaben. Wenn ein Name in einem Absatz mehrmals auftaucht, wird nur auf dessen erste Nennung verwiesen.
A Abel, Werner 62, 67, 89 Abraham, Karl 224, 304, 532 Achelis, Hans 466 Achelis, Johann Daniel 466 Achelis, Werner 465ff., 475, 479, 607 Adler, Alfred 28, 87, 91, 151, 155, 159, 190, 201, 214, 216, 221f., 225, 233, 297, 304, 307, 308f., 356, 368, 370, 393, 397–400, 402, 407f., 411, 440, 473, 520, 529, 575, 579 Adler, Max 52 Adorno, Theodor W. 265, 435, 520 Ahrendt, Hannah 516 Aichhorn, August 31, 348, 455, 505, 537f. Aichhorn, Thomas 347
Aiken, Conrad 259 Albers, Hans 493 Alexander, Eduard 62 Alexander, Franz 300, 384, 397, 405, 435, 521f. Allers, Rudolf 408 Alperovitz, Gar 418 Aly, Götz 487, 508 Andreas-Salomé, Lou 51 Antonowsky, Aron 359 Ash, Mitchel G. 537f., 554
B Bacher, Richard 251, 300 Bacon, Francis 16
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Anhang Baeumler, Alfred 41, 193–196, 206f., 211f. Baeumler, Marianne 193 Bahnen, Peter 35f., 112, 114, 123, 126–130, 284, 289, 323 Bajohr, Frank 509 Balint, Alice 356 Balint, Michael 405 Bally, Gustav 254, 259ff., 406 Barbian, Jan-Pieter 26, 206, 228, 245, 390, 492f. Barbusse, Henri 97, 159 Bateson, Gregory 520 Bauer, Joachim 549 Bauer, Otto 62 Bauer, Walter 493 Baumeyer, Franz 30 Baxandall, Lee 143 Bayer, Lothar 29, 34, 273 Bebel, August 477 Bechert, Rudolf 500 Beck, Richard 119 Beecher, Henry K. 525 Begun, Henriette 118f., 121 Benedek, Therese 331, 338, 349 Benedek, Tibor 331 Benedict, Ruth 520 Bennett, Philip 50f., 55, 59, 61, 63, 67-70, 72, 203, 250, 301, 344, 415, 420, 422 Benn, Gottfried 98 Benz, Wolfgang 26, 197 Bergengruen, Werner 244 Bergmann, Anna 36 Berliner, Bernhard 405 Bernays, Edward 442, 481 Bernfeld, Siegfried 48, 75, 87, 154ff., 158ff., 181, 201, 218f., 224f., 238f., 249, 251, 289, 300f., 363, 429, 521, 531, 539, 545 Bernhard, Georg 190f., 218 Bessermann-Vianna, Helena 534 Bethke, Georg 132 Bettelheim, Bruno 264, 331, 338 Biddle, Sydney G. 522 Biha, Otto 98 Bilz, Rudolf 400 Binding, Karl 477
660
Binger, Carl 522 Bischoff, Fritz 108, 118, 120, 135, 138f., 170f., 174–177, 323, 326 Bitter, Wilhelm 32, 512 Bjerre, Poul 391, 474 Blau, Abram 421 Blau, Albrecht 481 Blauer, Harold 525 Bleuel, Hans-Peter 504 Bleuler, Eugen 440 Bloch, Ernst 90, 266, 283 Bloch, Ivan 443 Blüher, Hans 443 Boadella, David 424, 431 Boehm, Felix 17, 30, 94, 180, 185, 219, 249, 294, 349, 351, 357f., 367, 386ff., 451–454, 456f., 459–462, 465f., 469f., 474f., 479f., 482, 507, 542, 544, 662 Boenheim, Felix 92 Bohleber, Werner 360 Bohr, Niels 301 Bonaparte, Marie 55, 163, 183, 219, 224, 233f., 348, 446, 450 Bonhoeffer, Karl 401, 404f. Bornemann, Ernst (auch Ernest Borneman) 14, 125f., 128, 242, 287 Bornstein, Steff 256 Botsch, Gideon 444 Bottome, Phyllis 233 Bouhler, Philipp 236 Braatøy, Trygve 165 Brady, Mildred 421f. Brady, Robert A. 422 Brainin, Elisabeth 30, 197, 348, 358, 537 Branco, Humberto C. 533 Brandler, Heinrich 73, 311, 453 Brandt, Karl 207 Brandt, Willy (eigentlich Frahm, Karl) 40, 290, 338ff., 344 Bratt, Ivan 394f., 401 Bräutigam, Walter 30, 454 Brecht, Bertolt 97, 101, 105f., 203, 234, 516 Brecht, Karen 25, 31, 345 Breuer, Joseph 15, 366, 398, 405 Brill, A.A. 522
Personenregister Briner, Otto 396f. Broser, Stephan 265 Bruder-Bezzel, Almuth 221, 233f. Brüel, Oluf 398, 400 Brüning, Heinrich 246 Brun, Rudolf 406 Brupbacher, Fritz 92 Bucharin, Nikolai 52, 162, 166 Bumke, Oswald 27, 215, 392, 408ff. Bürger-Prinz, Hans 207f. Burkhardt, Helmuth 207, 210f. Burrow, Trigant 397 Busch, Ernst 90 Buxbaum, Edith 449 Bychowsky, Gustav 321, 522
C Cabernite, Leão 533f. Carp, E. D. A. 391, 394f., 401 Carstens, Erik 294 Carus, Carl G. 361f., 411 Cattell, James P. 525 Chasseguet-Smirgel, Janine 24, 29, 34f., 308, 426, 445, 550 Christoffel, Hans 259, 405, 506 Cimbal, Walter 462f., 468 Claudel, Paul 491 Cocks, Geoffrey C. 25, 30, 442, 470, 483, 496 Conan Doyle, Arthur 75 Conti, Leonardo 455, 472 Cook, John A. 525 Cremerius, Johannes 24, 26, 28, 32, 34, 73, 181, 183, 293, 304, 531, 546, 551 Crinis, Max de 32, 483, 512 Cristofano, Pia 495 Cunow, Heinrich 52
D Dahlem, Franz 101, 286 Dahmer, Helmut 24f., 152, 165, 242, 262,
283, 311, 319, 351f., 366, 428, 432, 528, 541, 545, 551 Dahm, Volker 224 Dai, Bingham 521, 524 Daluege, Kurt 243 Daly, Claude D. 219 Danzer, Gerhard 551 DeMeo, James 320, 420 Descartes, René 383 Deutsch, Helene 219, 491 Diem-Wille, Gertraud 265 Diercks, Christine 389f. Dietrich, Otto 463, 487 Dimitroff, Georgi 65, 319 Dittrich, K. 460 Dobler, Jens 76, 83f., 495f., 508 Döblin, Alfred 98, 165, 447 Döhl, Ilse 361, 382f., 399, 403 Dollfuß, Engelbert 449 Döring, Woldemar O. 221 Dornemann, Johannes 111 Dornemann, Luise 109, 111, 119, 125, 131, 171, 176, 326 Dörner, Klaus 208, 477 Dostojewski, Fjodor 195 Dräger, Käthe 30, 229, 453, 480 Drews, Richard 198 Dudek, Peter 156, 301 Dührssen, Annemarie 354 Dulles, Allen F. 520 Duncker, Hermann 101, 104 Düwell, Richard 510
E Eastmann, Max 158 Ebermayer, Erich 493 Eckes-Lapp, Rosemarie 436 Edmundson, Mark 197 Eggebrecht, Axel 493 Eggerath, Eugen 132 Eggerath, Mathilde 132 Egyedi, Henrik 407 Ehrlich, Paul 244, 444
661
Anhang Eichmann, Adolf 279 Einstein, Albert 99, 101, 165, 194, 201, 222, 439, 516, 530 Eisler, Hanns 101, 200, 516 Eissler, Kurt R. 422 Eitingon, Max 88, 93, 121, 152–155, 180, 183, 185, 255, 447, 457, 527 Ekman, Tore 349 Elliger, Tilmann J. 28f., 539 Ellis, Havellock 399 Engels, Friedrich 51, 55, 123, 144, 160, 174, 194, 283, 415, 428f. Epe, Heinz (eigentlich Held, Walter) 319f. Erhardt, Adolf 207, 210f. Erikson, Erik 264, 293, 521f. Erös, Ferenc 161f., 164f. Etkind, A. 163
F Fallada, Hans 201, 493 Fallend, Karl 19, 25, 34, 36, 59, 165, 325, 336, 433f., 476 Federn, Ernst 19, 34, 69f., 510, 517 Federn, Paul 50, 53ff., 68ff., 77f., 93, 165, 181, 185, 219, 225, 228, 232, 302, 350, 491, 545 Feigenbaum, Dorian 392 Feitelberg, Sergei 219, 225, 300f. Fenichel, Otto 48, 73, 87ff., 151f., 154, 157, 163, 165, 219, 249, 251f., 258ff., 262, 264f., 284, 286, 293f., 299, 302f., 306, 374, 388, 390, 419f., 431, 435, 451f., 458, 491, 516, 518, 521, 550 Ferenczi, Sándor 48, 151, 155, 158, 183, 220, 233, 305, 353, 356, 360, 389, 447 Fest, Joachim 515 Feuchtwanger, Lion 201 Feuerbach, Ludwig 152, 283, 428f. Fichtner, Gerhard 309 Fischer, Ernst 247 Fischer, Eugenie 163 Fischer, René 163 Fischer, Ruth 134
662
Fisher, David J. 259 Flato, Fritz 79-83 Flechtheim, Ossip 106 Fließ, Wilhelm 15, 309, 552 Florin, Wilhelm 286 Foerster, Friedrich W. 191 Ford, Henry 515 Forel, Auguste 165, 477 Foxe, A. N. 258, 260f. Fraenkel, Ernst 516 Francke, Herbert 221, 233 Frankenstein, Greta 310 Frank, Leonard 27 Frankl, Viktor 396 Frank, Richard L. 424 Frei, Bruno 74, 288f. French, Thomas M. 521f. Freud, Anna 26, 50, 55, 68, 93, 181, 183, 186, 201, 218, 220, 228f., 238ff., 291, 294f., 297, 331, 337f., 356, 360, 396, 412, 452, 454, 457, 469, 491, 519, 537ff., 550 Freud, Ernst 197, 448 Freud, Martin 183f., 234f. Freud, Paul 408 Freudl, Peter 543 Frey, Josef 59, 67 Friedjung, Josef K. 58, 449 Friedjung, Leo 100 Friedländer, Leo 89, 118f., 174ff., 323 Friedländer, Paul 119 Friedrich, Volker 31 Frischauf, Marie 116, 124, 234, 324 Fritsch, Theodor 178 Fromm, Erich 12, 40, 47f., 88, 144, 149f., 220, 224, 232, 244, 251, 253f., 259–264, 266, 293, 346, 353f., 419, 435, 475, 514, 522, 542, 554 Fromm-Reichmann, Frieda (auch Reichmann, Frieda) 48, 259 Füchtner, Hans 374, 376, 482, 534 Fuhge, Gertrud 399 Fuld, Werner 425 Funk, Rainer 253, 259, 263, 514
Personenregister
G Gaasland, Gertrud (auch Meyer, Gertrud) 40, 334, 339, 344 Galen, Clemens A. 510 Gardiner, Muriel 452 Gauger, Kurt 260, 394, 465, 475 Gay, Peter 57, 304, 429, 435 Gebsattel, Viktor E. v. 470 Geiger, Theodor 270 Gerhard-Sonnenberg, Gabriele 99ff. Gerö, George 513, 518 Geuter, Ulfried 210, 387 Geyer, Michael 452, 454f. Giefer, Michael 250, 255 Giese, Fritz 219 Gilbert, Felix 520 Gindler, Elsa 151 Gisevius, Hans B. 241 Glaeser, Ernst 191, 493 Glaessner, Gert-Joachim 99 Gmelin, Walter 500 Goebbels, Josef 96, 180, 192, 194, 196, 200, 226f., 236–245, 258, 269, 280, 366, 439, 440ff., 463, 486, 504, 510 Goebbels, Magda 504 Goethe, Johann W. v. 195f., 283, 399 Göring, Hermann 132f., 178, 236, 258, 443, 462, 482, 489 Göring, Matthias H. 43, 182, 234, 257, 350, 365, 391, 395, 398, 400, 403, 406–412, 441, 443, 459, 462–469, 471f., 476, 478f., 482–485, 489, 542 Gorki, Maxim 201 Graber, Gustav H. 31, 220, 230, 238, 349, 351, 359–362, 386ff., 398f. Graf, Max 440 Graf, Oskar Maria 516 Grant Duff, Iseult 258, 451 Grauert, Ludwig 132 Grawitz, Ernst-Robert 483 Greither, Aloys 32 Gretor, Georg (Pseudonym Barbizon, George) 289 Groddeck, Georg 201, 220, 224, 348, 394
Gropius, Walter 101 Grossmann, Atina 36, 90, 105, 128, 314 Gross, Otto 278, 307, 531 Grotjahn, Alfred 352, 477 Grotjahn, Martin 259, 261, 264, 310, 351f., 405, 477 Grube, Ernst 173 Gruhle, Hans Walter 207 Grunberger, Béla 24, 29, 34f., 308, 426, 445, 550 Günther, Hans F. K. 378, 436, 497 Gyömroi, Edith 302f.
H Haarmann, Fritz 259 Hachmeister, Lutz 237 Haeberlin, Carl 244 Haeckel, Ernst 175, 476 Haffner, Sebastian 515 Haldane, John B. S. 301 Hallbauer, Walter 204 Halle, Felix 96, 101, 104 Hanly, Charles 535 Happich, Carl 354 Hartmann, Heinz 17, 203, 291, 522 Hartmann, Max 299 Hartmann, Sebastian 300, 427–432 Hartwig, Theodor 290 Haselhoff, Otto 443 Hattingberg, Hans v. 220, 394, 401f., 407, 464, 466, 468, 479, 482f. Hauser, Heinrich 502, 504 Havrehold, Odd 420 Heartfield, John 101 Heath, Robert G. 526 Heckert, Fritz 101 Hegemann, Werner 191 Heidegger, Martin 99 Heine, Heinrich 201 Hemingway, Ernest 201 Hendrick, Ives 522 Herbst, Andreas 40, 135, 178, 341 Hermann, Imre 220, 491
663
Anhang Hermanns, Ludger M. 25f., 31f., 249, 251, 345, 351, 363, 437, 451, 454, 479 Hertz, Heinrich 211 Herzer, Manfred 80 Herz, John 520 Herzog, Dagmar 27, 371, 494f., 500, 503ff. Herzog, Edgar 397, 403, 479 Herzog, Herta 520 Hess, Rudolf 258, 455 Hesse, Kurt 442, 481 Heun, Eugen 407 Heydrich, Reinhard 258 Heyer, Gustav R. 393, 396, 400, 403, 407f., 479 Higgins, Mary Boyd 35 Hilferding, Margarethe 233 Himmler, Heinrich 87, 236, 258, 377, 430, 442, 489, 495, 499 Hirschfeld, Magnus 27, 73, 79f., 92, 101, 178f., 190, 195, 199–202, 205, 238f., 325, 343f., 443, 496 Hitler, Adolf 19, 30, 33, 36, 59, 98, 135, 173, 178, 236f., 241f., 244ff., 248, 250, 254, 257, 258–264, 269f., 274, 278–281, 284f., 288, 296, 311, 317, 320, 324, 333, 336, 363f., 366, 372, 413, 418, 438–443, 445–452, 455, 458, 462, 469, 483, 490, 492, 495, 498, 504, 509ff., 515, 519ff., 544, 546, 554 Hitschmann, Eduard 68f., 183, 220 Hobohm, J. 440 Hoche, Alfred 86, 370, 477 Hodann, Max 27, 73, 79, 91, 97, 202, 204f., 325, 343, 447 Hoellein, Emil 81, 83, 238 Hoel, Sigurd 320, 322, 336 Hoevels, Fritz E. 34, 36, 155, 271, 293, 308, 434 Hoffmann, Ferdinand 497 Hoffmann, Walter 312, 328 Hollos, Istvan 220, 228 Hoop, Johannes H. v. d. 391ff., 395, 401, 405, 463f. Hoover, J. Edgar 419, 553 Hopkins, Prynce 261, 321 Hoppe, Bert 285 Horkheimer, Max 232, 259, 263, 265f., 290, 435, 520
664
Horney, Karen 351, 353, 356, 386, 388, 397, 435 Hörnle, Edwin 101, 287 Hristeva, Galina 318 Hug-Hellmuth, Hermine 93, 220, 224 Hugin, Hugo 247 Hunger, Heinz 27 Hupfeld, Fritz 170, 172ff., 176, 326 Huxley, Aldous 447
I Illinger, Otto 119 Ingrao, Christian 38 Innitzer, Theodor 450
J Jackson, Edith 522 Jacob, Berthold 275 Jacobssohn, Edith 49, 88, 122, 125, 170f., 326, 338, 349, 374, 405, 452ff., 474, 662 Jacoby, Heinz 221 Jacoby, Russel 265 Jaensch, Erich 28, 356, 399, 488 Janka, Walter 516 Jannowitz, Morris 520 Janus, Ludwig 361 Jaspers, Karl 491 Jeserich, Kurt 379 Jones, Ernest 30, 43, 54, 92f., 98, 158, 160, 163, 183, 186f., 198, 255, 262, 264, 295, 305, 322, 325, 372, 396, 409, 450ff., 456f., 469f., 475, 518, 526f., 530ff. Joseph, Edward 535 Juelich, Dierk H. 31, 469 Jung, Carl G. 27f., 87, 98, 155, 199, 215, 222, 254, 257, 304, 307f., 350, 360f., 365, 391–403, 407–410, 440, 445, 454, 464f., 467, 471f., 479, 520, 529 Jung, Franz 90, 421 Jünger, Ernst 244, 343
Personenregister
K Kächele, Horst 550 Kadyrow, Igor 163, 224 Kafka, Franz 201, 224, 491 Kafka, Hans 491 Kahane, Max 440 Kaiser, Hellmuth 220, 224, 349 Kallmann, Franz 527 Kaminer, Isidor J. 30f., 197, 358, 537 Kaminsky, Uwe 372 Kamm, Bernhard 338 Kankeleit, Otto 410 Kant, Immanuel 399 Kantorowicz, Alfred 89, 198, 516 Kaplan, Leo 220 Kardiner, Abram 419 Kästner, Erich 165, 192f., 201, 492f. Kath, Ingeborg 480, 484 Kauffmann, Wilhelm 175 Kaufman, M. Ralph 521, 523 Kaus, Gina 201, 221, 233 Kautsky, Karl 52, 191f., 477 Keilson, Hans 545 Keiper, Gerhard 330f., 342 Kemper, Werner 29f., 340, 346, 349, 351, 364, 374–380, 386f., 399, 401, 479, 482, 505, 507, 533, 662 Kenworthy, Marion E. 522 Kerr, Alfred 191 Kershaw, Ian 438 Kersten, Felix 442 Kienle, Elsa 96, 99, 102 Kirchheimer, Otto 520 Kisch, Egon E. 101, 234f. Klages, Ludwig 399, 440 Klee, Ernst 207, 209, 382, 479, 503 Klein, Melanie 55, 155, 220, 354, 435, 549 Klemm, Otto 207, 209f. Klemm, Wilhelm 210 Knight, Robert P. 522 Knobel, Otto 320 Knorin, W. G. 285 Koenig-Fachsenfeld, Olga v. 400, 478
Koestler, Arthur 89 Köhler, Thomas 26, 539 Kolb, Felix 324 Kolb, Lawrence C. 525 Kollbrunner, Jürg 304 Kollontai, Alexandra 318 Kollwitz, Käthe 97 Kolnai, Aurel 220 Konstadt, Leif 343 Kontos, Silvia 134 Koplenig, Johann 69 Körber, Heinrich 230 Körbitz, Ulrike 34, 36 Kraepelin, Emil 476 Kranefeldt, Wolfgang M. 392f., 398, 403, 471, 479 Kraus, Karl 491 Krause, Rainer 549 Krauss, Friedrich S. 85 Krauss, R. 398 Kretschmer, Ernst 99, 399 Krings, Stefan 486f. Krinn, Carsten 100 Krisch, H. 395 Kris, Ernst 264, 451, 521f. Kris, Marianne 522 Kronfeld, Arthur 141, 408 Krovoza, Alfred 434f., 549 Krüger, Felix 210f. Krüger, Gerhard 190 Kubie, Lawrence S. 405, 521f., 525 Kuczynski, Jürgen 101, 104 Künkel, Fritz 221, 233 Künkel, Ruth 220, 233 Kurella, Alfred 101 Kursell, Gregor v. 460 Kursell, Otto v. 41, 444, 460ff.
L Lacan, Jacques 549 Laforgue, René 148, 220, 224, 464, 485 Laiblin, Wilhelm 401 Landauer, Gustav 52
665
Anhang Landauer, Karl 34, 208, 233, 259f., 265, 292, 405 Langer, Georg 220 Langer, Marie 91, 449 Langer, Walter C. 521 Lang, Fritz 516 Lantos, Barbara 89, 101, 259 Laplanche, Jean 471 Laros, Matthias 498 Lasalle, Ferdinand 528 Laska, Bernd A. 34, 59, 61, 67, 181, 247, 332, 356, 425f., 527f., 531, 547, 550 Lazarsfeld, Sofie 221, 233 Le Bon, Gustave 439, 483 Lebovici, Serge 534 Lehfeldt, Hans 126, 128 Leibniz, Gottfried W. 361, 382f., 399, 472 Leistritz, Hans K. 190 Leitner, Marina 305 Lemme, Ludwig 477 Lenin, Wladimir I. 52, 158, 162f., 166, 175, 318, 415 Lenz, Gertrud 301, 339f. Leow, Willy 111 Lersch, Philipp 356 Lessing, Theodor 275 Leunbach, Jonathan H. 327 Levy, David M. 262, 523f. Lewin, Bertram D. 522 Lewis, Nolan D. 522, 525, 527 Ley, Robert 236, 258, 441 Lichtenberg, Joseph D. 525 Lieben, Anna v. 15 Liebknecht, Karl 52 Liebknecht, Wilhelm 123f. Liebmann, Kurt 362ff. Lilly, John C. 526 Linden, Herbert 464, 479 Lindenberg, Elsa 181 Linsert, Richard 92 Loch, Wolfgang 360 Lockot, Regine 25, 29, 32, 254, 354f., 357, 363, 366, 369, 436f., 462, 467, 479f., 488, 520
666
Lohmann, Hans-Martin 29, 34, 273, 304, 403, 429 London, Jack 201 Longerich, Peter 37, 504 Loosch, Eberhard 209ff. Lorenz, Einhart 321, 334f., 339ff. Lortz, Joseph 497 Löwenfeld, Heinrich (später Lowenfeld, Henry) 19, 252ff., 260ff., 292f., 451, 513 Löwenfeld, Yela 513 Ludwig, Emil 191 Ludwig-Körner, Christiane 31 Lukács, Georg 158 Luxemburg, Rosa 52 Luxenburger, Hans 382
M Maaz, Hans-Joachim 284, 427 Machtan, Lothar 504 Mack Brunswick, Ruth 220 Maderthaner, Wolfgang 65, 69f. Maeder, Alphonse 393 Maetze, Gerhard 26f. Makari, George J. 36, 57 Malinowski, Bronislaw 57, 123, 144, 219f., 232, 295 Malitz, Sidney 525 Mallmann, Klaus-Michael 134 Manes, Georg 27 Manisch, Alfred 119 Mann, Erika 447, 516 Mann, Heinrich 165, 186, 191f., 447, 516 Mann, Klaus 516 Mann, Thomas 28, 165, 193, 210, 438, 447, 484, 516 Manuilski, Dmitri Z. 65, 285, 319 March, Hans 346, 351, 368–374, 386, 388f., 480 Marcinowski, Johann J. 220, 370 Marcuse, Herbert 146, 427, 435, 520 Marcuse, Ludwig 291, 447 Marcuse, Max 370 Marinelli, Lydia 26, 32, 92f., 229, 491
Personenregister Martin, Jim 422 Marx, Jenny 111 Marx, Karl 35, 51, 95, 143, 160, 175f., 191f., 194, 210, 276, 283, 293, 329, 365, 414, 420, 428f., 551 Maser, Werner 438 Massing, Paul 520 Maurois, André 491 Mayer, Felix 393, 398 May, Karl 75 Mayo, Elton 397 Mayor, H. 257, 260, 292 May, Ulrike 25, 204 Mead, Margaret 520 Mehring, Franz 52 Meinertz, J. 367f., 397, 399 Meischner-Metge, Anneros 211 Mendel, Kurt 85 Meng, Heinrich 93, 220, 228, 232, 350f., 406 Menninger, Karl 419–422, 524 Menninger, William C. 521, 523 Merton, Robert 520 Mette, Alexander 32, 41, 230, 241, 349, 351, 362–365, 369, 386f., 482, 662 Meyer, Adolf 522 Meyer, Fritz M. 398 Meyer, Martin 340–345 Millet, John A. 522 Misch-Frankl, Käthe 405 Mitchell, Juliet 34 Mitchell, Margaret 491 Mitscherlich, Alexander 293, 435, 466 Modena, Emilio 34, 266 Mohr, Fritz 361, 401, 473, 496 Molo, Walter v. 493 Molotow, Wjatscheslaw M. 62 Monroe, Russell R. 526 Moore, Barrington 520 Moreira, Amilcar Lobo 533f. Morgan, Lewis 144 Morgenthaler, Walter 401 Morita, S. 399 Motesiczky, Karl 232, 234, 327f., 454 Muckermann, Hermann 371
Mueller, Thomas 72, 253, 451, 518 Mühlleitner, Elke 25, 36, 49, 165, 234, 449, 459, 548 Mühsam, Erich 245f. Müller, Knuth 264, 519, 520–527, 532 Müller-Braunschweig, Ada 453 Müller-Braunschweig, Carl 17, 31f., 220, 230, 294, 349, 351, 357, 366–369, 380, 386ff., 398f., 410, 452, 456–459, 465f., 479f., 544, 553, 662 Müller-Braunschweig, Hans 453 Müller-Hegemann, Dietfried 452, 470, 553 Münzenberg, Willi 74, 101, 287, 447 Murray, Henry 521, 524 Mussolini, Benito 59, 448, 491 Muthmann, Arthur 470
N Nasselstein, Peter 315 Nathan, Peter 262 Neill, Alexander S. 328, 356, 413ff., 425f., 431 Neubauer, Theodor 101, 118, 135 Neumann, Franz 520 Niekisch, Ernst 194, 245 Niemöller, Martin 245 Nietzsche, Friedrich 99, 361, 363, 365, 387, 400 Nitzschke, Bernd 13, 19, 25, 30, 32, 34, 39, 47, 92, 94, 150, 381, 428, 432, 434f., 447, 457ff., 476, 541, 544 Nunberg, Hermann 405
O Oberthür, Johannes 383 Ollendorff, Ilse 35, 414, 431 Onfray, Michel 157 Oparin, Alexander I. 301 Ophuijsen, Johan H. W. 456 Osborn, Reuben 258f.
667
Anhang Ossietzky, Carl v. 190ff., 218, 245f. Ossipow, Nikolai J. 158, 162
P Pagel, Gerda 265 Pappenheim, Bertha 15 Parin, Paul 18, 24, 435, 450, 550 Parsons, Talcott 520 Pätzold, Kurt 13 Pawlow, Iwan P. 162, 365 Payr, Bernhard 463 Perls, Fritz 101 Peter, Heinz 203 Peters, Uwe 35 Petsch, Joachim 502 Petzold, Hilarion 436 Peukert, Detlev 87 Pfeifer, Zsigmond 451 Pfister, Oskar 220, 224, 370 Pick, Daniel 519 Pieck, Wilhelm 170, 286 Pini, Udo 494 Piotrowska, Karola (spätere Bloch) 90 Piper, Ernst 460, 487 Piscator, Erwin 101 Pius XI. 95 Placek, Siegfried 85 Planck, Max 99 Plechanow, Georgi 52 Ploetz, Alfred 477 Plon, Michel 29, 519, 533f. Polgar, Alfred 72 Pollmann, Armin 369, 374 Pontalis, Jean-Bertrand 471 Post, Jerold M. 525 Putnam, James 303f., 531
Q Quisling, Vidkun 264, 343f.
668
R Rabinbach, Anson 63, 247 Rackelmann, Marc 36, 112, 114, 121, 124f., 127–130, 138, 323, 332, 338 Radebold, Hartmut 453f. Radek, Karl 52, 320 Rädel, Siegfried 117 Rado, Sándor 48, 302, 435, 527 Rank, Otto 155, 224, 253, 304f., 307f., 361, 474 Rattner, Josef 448 Rauschning, Hermann 438, 504 Rebehn, Lars 172 Reck-Malleczewens, Friedrich 244 Regler, Gustav 89 Reich, Annie (vorm. Pink) 41, 49, 53, 88, 101, 104f., 116, 118, 122, 124, 173, 181, 183, 220, 232, 234, 238, 324, 326, 436 Reich, Eva 88, 181, 436 Reich, Lore (später Rubin Reich, Lore) 11f., 88, 181, 436 Reich, Peter 414 Reiche, Reimut 24, 272 Reichmayr, Johannes 25, 85, 297, 448, 527, 531 Reik, Theodor 220, 224, 232, 238, 363, 395, 401 Remarque, Erich M. 191 Renn, Ludwig 101 Reventlow, Ernst z. 192, 366 Rhumbler, Ludwig 299 Richter, Horst-Eberhard 24, 34, 249, 370, 544 Rickmann, John 406 Rieger, Jonny 242 Rittmeister, John F. 374, 454f., 479, 512f., 662 Roazen, Paul 301 Robitsek, Alfred 220 Roellenbleck, Ewald 31, 396 Rogers, Carl 520 Rohr, Wilhelm 164 Röhm, Ernst 242, 442f., 495 Roosevelt, Franklin D. 317, 515
Personenregister Rorschach, Hermann 401 Rosenberg, Alfred 189, 192, 195f., 206, 211, 226, 236f., 245, 258, 269, 343, 411, 443f., 460–463, 466, 487, 489 Rosenberg, Arthur 270 Rostock, Paul 512 Roth, Karl Heinz 481 Rothacker, Erich 193–196, 387 Rother, Bernd 339, 341f. Rothländer, Christine 242 Roudinesco, Elisabeth 28, 519, 533f. Ruben-Wolf, Martha 175 Rubins, Jack 200f. Rüdin, Ernst 382 Rühle-Gerstel, Alice 201, 221, 225, 233 Rühle, Otto 52, 201, 221, 223ff. Russell, Bertrand 165 Rust, Bernhard 486, 488 Ryback, Timothy 438
S Sachs, Hanns 224, 363 Salomon, Ernst v. 493 Salzborn, Samuel 13 Sapir, I. 164, 267 Sarasin, Philipp 220 Sauder, Gerhard 190 Sauerland, Kurt 52 Sauerwald, Anton 235f. Schäfer, Hans-Dieter 490ff., 508 Schärli, Hans 399 Scheunert, Gerhart 351, 354f., 386, 398, 480 Schiesser, Hans-Rudolf 104 Schilder, Paul 397 Schiller, Dieter 289 Schiller, Friedrich 430 Schirach, Baldur v. 210 Schjelderup, Harald 400, 452 Schjelderup, Kristian 232, 348 Schlamm, Willi 64 Schlenstedt, Silvia 106 Schlevogt, Walter 200
Schmeling, Andreas 344, 417 Schmidbauer, Wolfgang 372, 389 Schmidt auf Altenstadt, W. 460 Schmidt, Günther 436 Schmidt, Johann-Lorenz 101 Schmidt, Vera 162f., 313, 325 Schmidt, Wilhelm 95 Schmiedeberg, Melitta 255, 405 Schneider, Kurt 478 Schneider, Rudolf 108, 118ff., 135, 139, 170f., 323, 326 Schneller, Ernst 101, 145, 168ff. Schönberg, Arnold 200 Schopenhauer, Arthur 262, 433 Schottlaender, Felix 43, 146f., 160, 351, 353f., 384, 386, 388f., 398, 412, 662 Schröder, Carl 172 Schroeder, Max 89 Schröter, Johannes 107, 111, 117ff. Schröter, Michael 26, 69, 153, 158, 193, 214, 230, 359, 362, 390, 402, 432ff., 440, 456, 460, 469f., 475, 513, 553 Schubert, Fritz 167 Schüller, Richard 65f. Schultze-Boysen, Harald 454 Schultz-Hencke, Harald 32, 41, 185, 249, 346ff., 351, 355, 379–386, 388, 399, 443, 468, 479, 482, 506, 531, 662 Schultz, Johannes H. 349, 365, 399f., 403, 478f., 482ff., 496, 498, 500f., 503, 662 Schurz, Karl 443 Schuschnigg, Kurt 448ff. Schwarz, Peter 514 Seelmann, Kurt 387, 405 Seghers, Anna 97, 101, 516 Seidler, Christoph 282 Seif, Leonhard 399 Seiff, Margarethe 351, 355ff., 384, 388, 412 Sellin, Volker 38 Semaschko, Nikolai A. 162 Senescu, Robert A. 525 Senf, Bernd 427 Sharaf, Myron 68, 295, 302, 431 Shaw, George Bernhard 165 Shils, Edward 520
669
Anhang Siebeck, Richard 32 Sigmund, Anna M. 439 Silberer, Herbert 220 Simmel, Ernst 19, 89, 248–252, 260f., 265, 286f., 291, 325, 331, 338, 435, 451, 517, 521, 532 Simonson, Emil 349 Sinclair, Upton 201 Slight, David 397 Smidowitsch, Pjotr 318 Smidowitsch, Sonja N. 318 Soden, Kristine v. 131 Somary, Felix 207 Sonnemann, Ulrich 18 Speidel, Hubert 208, 454 Speier, Hans 520 Sperber, Manès 101, 104f., 224f., 519, 662 Spinoza, Baruch 211 Staemmler, Martin 27, 179f., 201, 444, 494, 507 Stalin, Josef W. 67, 134, 145, 162ff., 166, 175, 201, 246, 285, 311, 315ff., 320ff., 413, 448 Stanton, Alfred 524 Staub, Hugo 146, 148f., 249 Steinbach, Margarete 480 Steinbacher, Sybille 438, 494, 502, 505 Steiner, Riccardo 36 Stekel, Wilhelm 92f., 219ff., 232, 239, 304, 349, 393, 395, 398, 405, 420 Stephen, Adrian 156 Sterba, Richard 49, 56, 68, 396, 458f. Stierlin, Helm 370 Stifter, Albert 365 Stirner, Max 428 Stöcker, Helene 97 Storfer, Adolf 55, 220ff., 331f., 338 Strahl, Margaret O. 525 Strasser, Charlot 233 Strasser, Gregor 192 Strasser, Otto 192 Straub, Jürgen 347 Straus, Erwin 408 Strawinsky, Igor 492 Streicher, Julius 242, 258, 439, 504
670
Strick, James 301 Strothmann, Dietrich 229 Stuckart, Wilhelm 475 Stuck, Franz v. 460 Sullivan, Harry S. 397 Sweezy, Paul 520 Swienty, Wilhelm 123f., 171 Sydow, Eckard v. 231 Szekely, Lajos 405
T Taglicht, Edith 452 Tandberg, Bodil 344 Tandler, Julius 477 Taut, Bruno 101 Teicher, Samy 348 Thalheimer, August 73, 98, 453 Thälmann, Ernst 134, 136, 168, 178, 285 Theilemann, Steffen 379f., 383 Thiess, Frank 493 Thomä, Helmut 29, 379, 381, 457, 550 Thrändorf, Ernst 477 Thyssen, Ole 36 Tichy, Marina 26 Titius, Arthur 477 Toller, Ernst 27, 150, 246 Töplitz, John 179 Traub, Friedrich 203 Traven, B. 201 Treß, Werner 26, 189, 193, 197ff., 203, 206, 212, 218, 223, 229, 232, 243, 492 Trotzki, Leo 52, 59, 67, 162, 166, 270, 311f., 319f. Tschachotin, Sergej 270 Tucholsky, Kurt 75, 191f., 201, 246
U Ulbricht, Walter 286, 288 Ungewitter, Richard 177, 202 Urban, Gotthard 206
Personenregister
V Valéry, Paul 491 Varga, Jenö 157f. Varjas, Sándor 157f. Velde, Theodoor v. d. 200, 205 Velmede, August 209, 217, 226f., 240 Videla, Jorge R. 534f. Vold, John M. 210 Volkan, Vamik 24 Volkelt, Hans 206–212, 216–219, 223–227, 460
W Waal, Nic (auch Hoel, Nic) 405f., 452, 455 Wagner, Gerhard 455 Walberer, Ulrich 198 Walcher, Jacob 317f., 338 Wälder, Robert 255, 306f., 321, 458, 522 Waller, Bruno 242 Wangh, Martin 549 Wanke, Georg 220 Wassermann, August v. 244 Weber, Heinrich 75 Weber, Hermann 178 Weber, Josef (Jugendamtsdirektor) 80ff. Weber, Josef (Ratgeber-Autor) 77 Webler, Heinrich 86f. Wehner, Herbert 289, 433 Weigel, Helene 100, 105 Weill, Kurt 101, 200 Weinert, Erich 90, 96, 101, 268 Weininger, Otto 27 Weisenborn, Günter 493 Weiß, Bernhard 180 Weiss, Wilhelm 180 Welk, Ehm 245 Werfel, Franz 98, 165, 516 Wertham, Frederic 420 Wexberg, Erwin 233 Wiechert, Ernst 245 Wiehl, H. 507 Wilde, Oscar 262
Wildt, Michael 509 Will, Herbert 201 Winkelmann, Ilka 453 Winternitz, Joseph 145, 284 Wippermann, Wolfgang 266 Wirth, Hans-Jürgen 265 Wirth, Wilhelm 251 Wirz, Franz 441, 443f., 476 Wismann, Heinrich (auch Heinz) 217, 226ff., 243 Wisnewski, Franz 174 Wittels, Fritz 68, 146, 148, 220, 232 Wittfogel, Karl August 52, 98, 101 Wohlfahrt, Paul 464 Wolf, Friedrich 96, 99, 101f. Wolf, Lothar 175 Wolff, Theodor 91, 190f., 218 Wolffheim, Nelly 220, 224 Wulf, Joseph 198 Wulff, Mosche 164
Y Yalom, Irvin 195 Yerushalmi, Yosef H. 445, 532f. Yorke, Clifford 550f.
Z Zallkind, Aron 164 Zander, Esther 379 Zander, Wolfgang 379 Zapp, Gudrun 26, 403, 471, 507 Zaretsky, Eli 36 Zeigan, Ferdinand 133 Zepf, Siegfried 300, 427–432 Zerfaß, Urban 214, 235 Zetkin, Clara 111, 270 Ziegler, Adolf 504, 510 Ziese, Peter 549 Zilboorg, Gregory 250, 260f., 419 Zimmermann, David 534 Zimmermann, O. v. 410
671
Anhang Zuckmayer, Carl 447, 520 Zulliger, Hans 220, 234 Zweig, Arnold 159, 447, 450 Zweig, Stefan 27, 72, 165, 516 Zwettler-Otte, Sylvia 26
672
Vorschläge für Weiterführungen
Da für meine spezifischen Fragestellungen oft wenig wissenschaftliche Vorleistungen existierten, hatte meine Arbeit in manchen Punkten den Charakter einer ersten Sondierung. Positiv formuliert: Ich hoffe, neben vielen gesicherten Fakten auch viele Anregungen für weitere Nachforschungen und konstruktiven Streit geliefert zu haben (und bin natürlich sehr interessiert an Hinweisen auf Fehler und an anderweitigen Korrekturvorschlägen). So halte ich beispielsweise die von mir zusammengestellten Äußerungen von NS-Funktionären zur Psychoanalyse (Abschnitt 4.1) für ergänzungsbedürftig. Dass zunächst die Psychoanalyse für wichtig und bekannt genug gehalten wurde, um per »Feuerspruch« und Radioübertragung deutschlandweit verdammt zu werden, dann aber in den Mitteilungen höherer NS-Funktionäre für die weiteren zwölf Jahre so gut wie keine Rolle mehr gespielt haben sollte, will mir nicht einleuchten. Schon eine genauere Lektüre der umfangreichen Veröffentlichungen Rosenbergs könnte unter Umständen Hinweise auf mehr oder weniger explizite Auseinandersetzungen mit der Freudschen Lehre liefern. Auch bei den für den Bereich der Medizin bzw. »Volksgesundheit« Verantwortlichen dürfte das Thema Psychoanalyse – zumindest unter der Bezeichnung »Tiefenpsychologie« – öfter thematisiert worden sein als bisher bekannt. Ohnehin scheint nicht systematisch erforscht worden zu sein, welcher Art die öffentliche Bewertung der Psychoanalyse im Dritten Reich war – vielleicht, weil man irrtümlich davon ausging, hier nur Abwertungen zu finden. Entsprechend den von mir vorgelegten Befunden ließe sich vermuten, dass zum einen die Diffamierungen der Psychoanalyse weniger zahlreich waren als meist angenommen – und dass diese zum anderen nach 1933 deutlich weniger wurden. Für nachforschenswert halte ich auch, ob es vonseiten der Nationalsozialisten 673
Anhang
vor und nach 1933 nicht doch mehr Äußerungen über Wilhelm Reich gegeben hat und ob es nicht doch NS-Dokumente gibt, in denen die Massenpsychologie des Faschismus benannt wird. Was Freuds Äußerungen zum Faschismus betrifft (4.2), könnten sich wohl nur noch in Form weiterer Veröffentlichungen aus seinem Nachlass oder von Briefwechseln Ergänzungen ergeben. Dass diese das vorliegende, in sich recht kohärente Bild deutlich verändern, halte ich für unwahrscheinlich: Ungeachtet seines politischen Taktierens hielt sich der niemals wirklich »unpolitische« Freud mit direkten Äußerungen zu den »rechten« Systemen weitgehend zurück – und stand diesen dennoch weit kritischer gegenüber als den »linken« Bewegungen. Eine zusammenfassende Geschichte der »Psychoanalyse gegen den Faschismus« muss erst noch geschrieben werden – und wäre aus meiner Sicht ein sehr lohnenswertes Unterfangen. Machbar erscheint mir das auch gerade deswegen, weil die Anzahl der dabei zu berücksichtigenden Psychoanalytiker und analytischen Ausbildungskandidaten sehr überschaubar ist (4.3). Der Bogen wäre hier zu spannen von den direkten Widerstandsaktionen John Rittmeisters, Edith Jacobssohns und anderer bis zu den Veröffentlichungen Wilhelm Reichs. Vermutlich ließen sich dabei sowohl weitere Pseudonyme von Analytikern entdecken, unter denen diese bislang unbekannte Äußerungen gegen den Faschismus veröffentlichten, als auch zusätzliche Bemühungen, antifaschistisch wirksam zu werden. Eine solche Traditionslinie klarer herauszuarbeiten, wäre gleichzeitig ein wünschenswerter Stolperstein für diejenigen, die ein »unpolitisches« Image der Psychoanalyse festschreiben wollen. Sinnvoll erschiene es mir hier, über die Grenzen der »Freudianer« hinauszugehen, um beispielsweise einen Autoren und NS-Kritiker wie Manès Sperber – dessen Biografie ohnehin manche bemerkenswerte Parallele zu Wilhelm Reich aufweist – einzubeziehen. Ausgearbeitete wissenschaftliche Biografien von Personen, die eine wesentliche Rolle für die Psychoanalyse in NS-Deutschland spielten, liegen – abgesehen von Freud und Reich – nur für Edith Jacobssohn (May/Mühlleitner 2005) und Felix Schottlaender (Bley 2011) vor, nicht jedoch für John Ritttmeister, Felix Boehm, Carl Müller-Braunschweig, Harald Schultz-Hencke, Werner Kemper oder Alexander Mette. Gerade Letzterer bietet ausgezeichnete Ansatzmöglichkeiten für eine biografische Aufarbeitung: In den zwanziger Jahren beginnend und dies bis in die Zeit seines politischen Engagements in der DDR fortsetzend, führte er regelmäßig und oft ausführlich Tagebuch. Durch seine verschiedentlichen Anpassungen an unterschiedliche Anschauungen und politische Systeme (vgl. die Mitteilungen zu ihm in 2.16.2) ist er ohnehin eine für Biografen interessante Gestalt. Die Wechselwirkungen zwischen Psychoanalyse, Medien-, Wissenschafts-, Kunst-, Kultur- und Sexualpolitik im Dritten Reich (4.10–4.13) habe ich nur 674
Vorschläge für Weiterführungen
anreißen können. Jeder einzelne dieser Aspekte verdient weit mehr Aufmerksamkeit. Am effektivsten wäre hier sicherlich ein interdisziplinäres Herangehen, das Psychoanalytiker, Historiker, Kultur- und Politikwissenschaftler, Soziologen und andere vereint. Da ich während des Erarbeitens des vorliegenden Textes ausgesprochen erfreuliche Erfahrungen in der Kooperation mit Forschern anderer Wissenschaftsrichtungen machen konnte, halte ich dies für realistisch. Den Fragen, inwieweit in der deutschen Belletristik Freudsche Gedanken noch nach 1933 verarbeitet wurden und ob nicht psychoanalytische Erkenntnisse – meist wohl ohne beim richtigen Namen genannt zu werden – weiterhin ins Allgemeinwissen einsickerten, konnte ich ebenfalls nicht nachgehen. Hier wäre in Zusammenarbeit mit Germanisten, Literaturwissenschaftlern und mit Mediengeschichte befassten Historikern sicherlich ebenfalls interessantes Neuland zu betreten. Speziell der Umgang mit psychoanalytischem bzw. tiefenpsychologischem Schriftgut in der Deutschen Bücherei (2.2.2–2.2.4) scheint mir ein gut abgrenzbares Forschungsthema zu sein, das um Vergleiche mit den damaligen Verfahrensweisen anderer Bibliotheken ergänzt werden könnte. Was den wissenschaftlichen Wert von psychoanalytischen Publikationen betrifft, die im NS-Staat entstanden, konnte ich ebenfalls nur Denkanstöße liefern (2.16.1– 2.16.2). Wünschenswert erscheint mir, dass es bei einer Aufarbeitung dieses Themas zu einer übergreifenden Zusammenarbeit von Tiefenpsychologen käme, zumindest von Vertretern »freudianischer«, »adlerianischer« und »jungianischer« Lehren: Wie auch von mir noch einmal unterstrichen, gab es zahlreiche Überschneidungen zwischen den Schicksalen dieser Schulen im Nationalsozialismus. Eine Wilhelm-Reich-Biografie, in der die erst seit 2007 zugänglichen Dokumente der Archives of the Orgone Institute ausgewertet werden, steht noch aus. Ich hoffe, meine Arbeit erleichtert und stimuliert auch das Entstehen eines solchen Werkes.
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Pressestimmen zur ersten und zweiten Auflage
»Durch das Prisma Reich erhellt Peglau die Geschichte der psychoanalytischen und der sozialistischen Bewegung, indem er deren Auseinandersetzungen mit und über Reich rekonstruiert.« Jerome Seeburger, Einsicht »Das Verdienst der spannend zu lesenden Recherche Peglaus liegt darin, im Umgang mit Wilhelm Reich und der Anpassung der Psychoanalyse an die herrschenden Verhältnisse eine für die Psychoanalyse schicksalhafte historische Weichenstellung dokumentenreich aufgezeigt zu haben.« Rainer Funk, Fromm-Forum »Der Blick in die Alltagsgeschichte von Anpassung und Widerstand am Beispiel der Psychoanalyse im Dritten Reich könnte unsere Aufmerksamkeit vor allem dafür schärfen, wie unspektakulär und unmerklich die Barbarei Einzug in den Alltag halten kann. Dazu hat Verf. wertvolles Material bereitgestellt.« Fritz Reheis, Das Argument »Die Verschränkung zwischen dem Schicksal der Psychoanalyse im NS-Staat und der Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Emigrantengeschichte Wilhelm Reichs, die Peglau minutiös rekonstruiert, ist Dreh- und Angelpunkt des Buches, das einen unverzichtbaren Referenzpunkt für jeden darstellt, der sich künftig ohne Scheuklappen mit der NS-Geschichte der Psychoanalytiker beschäftigen will.« Bernd Nitzschke, PSYCHE »Eine wirkliche Pionierleistung. Nach der Lektüre vermag man wirklich qualifizierter über den wenig freundlichen ›Umgang‹ mit Wilhelm Reich zu sprechen.« Roland Kaufhold, Psychoanalyse
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Anhang
»Die Mammutaufgabe, die gleichzeitige Diskreditierung und Dämonisierung Reichs durch die Psychoanalyse, die KPD, durch antisemitische Kräfte ›von rechts‹ vor 1933 sowie durch die NS-Machthaber nach 1933 nachzuzeichnen, hat Andreas Peglau meisterhaft in einer bewegten und bewegenden, aber dennoch wissenschaftlich bestens fundierten und systematisch aufgebauten Darstellung bewältigt.« Galina Hristeva, literaturkritik.de »Beides, die allgemeine Geschichte der Psychoanalyse in dieser Zeit und der Fall Reich, wird hier materialreich dargestellt, vertieft, über das verfügbare Wissen hinaus auf den neuesten Stand erweitert. Peglau gibt zusätzlich Einblick in den Autor und politischen Aktivisten Reich, womit wir sowohl den Autor Reich kennen lernen als auch die Auseinandersetzungen mit ihm durch die Psychoanalyse besser verstehen können.« Almuth Bruder-Bezzel, Zeitschrift für Individualpsychologie »Andreas Peglau dürfte für lange Zeit die gründlichste und umfassendste wissenschaftliche Aufarbeitung eines schwierigen Kapitels aus der Geschichte der Psychoanalyse gelungen sein. Seine Verdienste um die Aufklärung einer immer noch von Legenden, Mythenbildungen oder schlichtem Unwissen umhüllten Katastrophe sind immens und kaum zu überschätzen. Viele Leser sollten es ihm danken.« Hans-Martin Lohmann, LUZIFER-AMOR »Peglau’s remarkable study of Wilhelm Reich and of the fate of psychoanalysis under Nazism is a major and outstanding contribution to its subject. Painstakingly researched and lucidly argued, it radically overhauls the prevalent picture of Reich as some ›halfcrazed genius‹ or ›mildly paranoid‹ Freudian renegade and reinstates the best period of his work (the late twenties to the end of the thirties) in the context it belongs to.« Jairus Banaji, academia.edu »[S]ollten auch der Sozialen Arbeit […] Zugehörige das Buch lesen? Ja, zunächst einmal diejenigen, die sich hierzulande einer psychoanalytischen Sozialpädagogik […] oder einer psychoanalytischen Sozialarbeit […] verpflichtet fühlen; sie könnten prüfen, ob und inwieweit sie der im vorliegenden Buch kritisierten idealisierenden psychoanalytischen Geschichtsschreibung aufsitzen. Ferner könnten an der Geschichte der Sozialen Arbeit Interessierte […] herausarbeiten, wie groß […] die Gemeinsamkeit zwischen Psychoanalyse und Sozialer Arbeit im Dritten Reich war.« Hans-Peter Heekerens, socialnet.de »Gerade in einer Zeit der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Psychoanalyse (und Peglau benennt zahlreiche Gründe dafür) wünscht man dem Buch viele Leser aus der praktizierenden und heranwachsenden Psychoanalytiker- und Psychotherapeutenzunft. Historiker/innen werden die Studie ebenso mit Gewinn lesen.« Elke Mühlleitner, hsozkult.de
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Psychosozial-Verlag Jan Lohl, Angela Moré (Hg.)
Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien
Juli 2014 · 313 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2242-4 Ein multiperspektivischer Zugang zu einem nach wie vor kaum untersuchten Thema. Die sozialgeschichtlichen Folgewirkungen des Nationalsozialismus auf der Täterseite gehören zu den am besten gehüteten Geheimnissen der deutschen Nachkriegs-
geschichte. Die von der Tätergeneration abgelehnte Verantwortung für ihre (Mit-) Schuld an den Verbrechen und Grausamkeiten des Regimes hat in den Seelen ihrer Nachkommen tiefe Spuren hinterlassen: Identitätsstörungen, diffuse Schuld- und Trauergefühle, Wiedergutmachungswünsche und Schamgefühle, deren Ursache sie nicht kennen. Neuere Forschungen zeigen, dass die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Konflikte auch zu rechtsextremen Orientierungen und Identifikationen beitragen kann. Die Beiträger/innen nähern sich auf unterschiedliche Weise den Nachwirkungen des Nationalsozialismus an: empirisch, theoretisch, basierend auf der gruppenanalytischen und therapeutischen Praxis oder der eigenen Biografie. Aufgrund dieser Perspektivenvielfalt richtet sich der Band nicht nur an die wissenschaftliche Fachwelt, sondern auch an ein Publikum, das aus einem (selbst-) reflexiven Interesse heraus die Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus begreifen möchte. Mit Beiträgen von Ute Althaus, Wolfgang Benz, Oliver Decker, Kurt Grünberg, Hannes Heer, Elke Horn, Jan Lohl, Friedrich Markert, Angela Moré, Heike Radeck, Katharina Rothe und Ruth Waldeck
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
Psychosozial-Verlag Regine Lockot
Die Reinigung der Psychoanalyse Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitzeugen (1933–1951)
Die Geschichte der Psychoanalyse von den Anfängen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit hinein ist von Fragmentierungen geprägt.
2013 · 368 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2240-0
Der vorliegenden Studie geht es nicht um eine reine Oberflächenrekonstruktion der Geschichte der beiden Fachgesellschaften DPG und DPV. Vielmehr zeigt sie auf, dass die theoretischen Debatten der Nachkriegszeit und die dramatischen Konflikte sowohl zwischen den verschiedenen analytischen Gruppierungen als auch zwischen deren Mitgliedern als »Platzhalter« für tiefere Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit dienen. Zudem zeichnet sie nach, wie sich dieser Konflikt in der internationalen psychoanalytischen Community widerspiegelt.
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
3., durchgesehene, korrigierte und erweiterte Auflage 2017 »Andreas Peglau dürfte für lange Zeit die gründlichste und umfassendste wissenschaftliche Aufarbeitung eines schwierigen Kapitels aus der Geschichte der Psychoanalyse gelungen sein. Seine Verdienste um die Aufklärung einer immer noch von Legenden, Mythenbildungen oder schlichtem Unwissen umhüllten Katastrophe sind immens und kaum zu überschätzen. Viele Leser sollten es im danken.« Hans-Martin Lohmann, LUZIFER-AMOR Von der Krankenbehandlung ausgehend, entwickelte sich Freuds Lehre zu einer Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen – und zu verändern. Dieser gesellschaftskritische Anspruch wurde während des Nationalsozialismus wei-
testgehend in den Hintergrund gedrängt. Die nachhaltigsten Weichenstellungen zu einer »unpolitischen« Psychoanalyse erfolgten in den 1930er Jahren und waren eng verbunden mit dem Versuch, Konfrontationen mit dem NS-Regime zu vermeiden. Dass die Alternative einer aufklärerischen Psychoanalyse weiter bestand, zeigt das Wirken Wilhelm Reichs, der 1933/34 aus den analytischen Organisationen ausgeschlossen wurde. Anhand von zum großen Teil erstmalig veröffentlichtem Archivmaterial geht Andreas Peglau Reichs Schicksal nach und folgt den Entwicklungen im analytischen Hauptstrom während der NS-Zeit. Dabei beantwortet er auch die Frage, ob die Psychoanalyse jemals eine unpolitische Wissenschaft war.
Andreas Peglau, Dr. rer. medic., Diplom-Psychologe, ist seit 2008 Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin. 1990 gründete er die Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e.V. 2013 wurde er am Medizinhistorischen Institut der Berliner Charité promoviert. Peglau: Unpolitische Wissenschaft?
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ISBN 978-3-8379-2637-8
www.psychosozial-verlag.de
Unpolitische Wissenschaft?
Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus