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German Pages 168 [175] Year 2018
(UN)ORDNUNG
(UN)ORDNUNG Was die Welt zusammenhält GLOBART (Hg.)
Mit freundlicher Unterstützung von:
VORWORT Als Denkwerkstatt für Zukunftsthemen bringt GLOBART seit zwei Jahrzehnten Jahren Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft miteinander ins Gespräch. Die GLOBART ACADEMY in Krems entwickelte sich zur Plattform neuer und überraschender Sichtweisen. Dank der großzügigen Förderung von Stipendien durch unsere Unternehmenspartner gelang gerade in den letzten Jahren die konsequente Öffnung für die junge Generation. Durch zunehmende Präsenz nicht nur in den klassischen, sondern auch in den sozialen Medien erreichte die Academy mit ihren Diskursen wesentlich mehr Interessierte, als es an den zweieinhalb Tagen der eigentlichen Veranstaltung möglich gewesen wäre. Doch bei aller Bedeutung medialer Präsenz bleibt die Zusammenfassung der Tagungsergebnisse in einem gedruckten Sammelband unverzichtbar. Wir danken daher ganz besonders all jenen Mitwirkenden, die ihre Texte und Diskussionsbeiträge für diese wieder besonders spannungs- und inhaltsreiche Publikation zur Verfügung gestellt haben. Die 20. GLOBART-Academy reflektierte das Generalthema „Ordnung und Unordnung“. In einer Zeit durcheinander geratender Wert-Ordnungen ging es um den Versuch, Orientierung und Offenheit zu Grundsatzfragen des Zusammenlebens in einen neuen Einklang zu bringen. Gefragt waren Zeit-gerechte Entwürfe für soziale und politische Ordnungs-Architekturen eines künftigen Miteinander. Der theatralische Eröffnungsabend im Klangraum Minoritenkirche stand unter der bewährten Regie von Hans Hoffer. Allen, die das erleben durften, wird die beunruhigende Inszenierung des Chaos und dessen Auflösung in eine von jungen Menschen geschaffene, neue, wieder bewohnbare Ordnung unvergessen bleiben. Anstelle des erkrankten Peter Sloterdijk trug Manfred Osten dessen aufwühlenden Text vor. John Hunter setzte in seiner zutiefst persönlichen Rede über die Wirksamkeit der Einübung von Friedensarbeit durch das „World Peace Game“ einen zuversichtlichen Kontrapunkt. Jakob Brossmann, Filmemacher und Regisseur des preisgekrönten Dokumentarfilms „Lampedusa im Winter“, gratulierte dem jubilierenden GLOBART-Team mit einem wunderbar leichtfüßigen und humorvollen Film: "Der unsichtbare Prozess, Reflexionen einer Begegnung mit GLOBART".
Vorwort
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VORWORT
Die Dichte an perspektivischen Referaten und künstlerischen Partizipationsprozessen, einer Lecture-Performance, Workshops und Ideenräumen machte die folgenden zwei Academy-Tage zu einer so auf- wie anregenden Begegnung mit eigenständigen, zivil-couragierten Persönlichkeiten. "Stadttransformation durch die GLOBART Streetworker": Mit diesem Anspruch haben erstmals Stipendiaten zusammen mit Experten ihr Wissen in einem dreitägigen Workshop eingebracht und beschenkten mit diesem gemeinsamen Projekt gleichermaßen GLOBART wie die Stadt Krems. Geprägt war diese Academy auch von der Wiedersehensfreude vieler Wegbegleiter, die GLOBART zu dem gemacht haben, was es heute ist. Sie alle, Award-Träger, Visionäre, ImpulsgeberInnen, KünstlerInnen, Moderatoren, Kooperationspartner, Förderer, MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen, feierten den Abschlussabend in der Minoritenkirche von Krems-Stein und mit einem unvergesslichen Fest an der Donau. Mit dem
GLOBART AWARD 2017 wurde der maßgebliche Mitgestalter der
„Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen, Jeffrey Sachs, ausgezeichnet. Er verkörpert die Hoffnung auf die Durchsetzbarkeit von wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Spielregeln, die auch unseren Enkelgenerationen ein Leben auf diesem von uns Menschen so überbeanspruchten Planeten Erde ermöglichen. Weil sich mit Verbindung von Intellekt und künstlerischem Schaffen stets Anregungen für neue Sichtweisen eröffnen lassen, wurde auch diese GLOBARTAcademy Jahr von einer Ausstellung begleitet. „Leben mit Art Brut“ im Kunstraum Krems präsentierte eine repräsentative Auswahl von Werke aus der hochrangigen Sammlung Hannah Rieger. Unser großer Dank gilt allen, die durch ihr Mitwirken und ihre Unterstützung zum Gelingen dieser Jubiläums-Academy beigetragen haben!
Heidemarie Dobner
Pippa Belcredi
Wilfried Stadler
Intendantin
Generalsekretärin
Präsident
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INHALT REFERATE 13
IM FREIEN FALL ODER DAS DASEIN IM HIATUS Peter Sloterdijk
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ISLAM IN EUROPA – BRINGT UNS DAS DURCHEINANDER? Seyran AteŞ
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WIEDERSTAND DER VERNUNFT Susan Neiman
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MENSCHENRECHTE UND LEBENSCHANCEN IN DER GLOBALISIERUNG Peter G. Kirchschläger
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JENSEITS DES WACHSTUMSZWANGS André Reichel
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KOMPONIERTES CHAOS Susanne Valerie Granzer und Arno Böhler
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MAGNETISMUS DER METROPOLEN Stephan A. Jansen
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GLOBALE HERAUSFORDERUNGEN UND LÖSUNGEN Jakob von Uexküll
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UTOPIE DATENHOHEIT Peter Parycek
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ORDNUNG UND UNORDNUNG - ASSOZIATIONEN AUS DER KULTURANTHROPOLOGIE NACH VICTOR WITTER TURNER Magdalena Modler-El Abdaoui
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DAS EUROPÄISCHE MODELL IN DER GLOBALISIERUNG Wilfried Stadler
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GENOSSENSCHAFT FÜR GEMEINWOHL GELD MIT SINN Cornelius Pietzner
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DIE GLOBALE RESSOURCENNUTZUNG ALLES IN ORDNUNG? Stephan Lutter
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ETHIK 4.0: KÜNSTLICHE INTELLIGENZ UND ROBOTIK EINE HERAUSFORERUNG AUCH FÜR DIE THEOLOGIEN Khalid El-Abdaoui
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THE TOOLBOX IS YOU
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INFORMATION
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MENSCH.MACHT.MUT EIN GESPRÄCH ÜBER HALTUNG IN HALTLOSEN ZEITEN
Maria T. Kluge
Hannes Raffaseder
Erwin Kräutler, Sonja Panthöfer
GLOBART AWARD 2017 142
LAUDATIO André Reichel
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DANKESWORTE Jeffrey Sachs
AUSTELLUNG 153
LIVING IN ART BRUT Hannah Rieger
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LIVING IN ART BRUT. 123 WORKS FROM THE HANNAH RIEGER COLLECTION Monika Jagfeld
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REFERENTINNEN & REFERENTEN
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IMPRESSUM
Peter Sloterdijk
IM FREIEN FALL ODER DAS DASEIN IM HIATUS PETER SLOTERDIJK Gewöhnlich hat man die epochale Qualität der Suggestivfrage des Tollen Menschen in Nietzsches vielzitiertem Paragraphen 125 der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1882) überhört: „Stürzen wir nicht fortwährend?“ Man hat es überhört, weil man kaum je den Versuch unternahm, sie aus ihrem Kontext zu lösen, um sie als Einzeläußerung zu erwägen. Nietzsche hatte selbst alles getan, die Bedeutung der Frage zu verdecken, indem er sie in eine Kaskade gleich großer Formulierungen einbettete, mit denen er die dem Tollen Menschen in den Mund gelegte Botschaft vom Tode Gottes einläutet: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Denn stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten...?“ So unerhört jede einzelne dieser Wendungen sein mag, im Rückblick wird erkennbar, dass die Frage „stürzen wir nicht fortwährend?“ eine alles betreffende Diagnose zum Seinsmodus der modernen Welt impliziert, indem sie in der durchschnittlichen Art und Weise des aktuellen Daseins ein ständiges Gleiten und Stürzen konstatiert. „Nach vorn“ bedeutet hier weg von der alten „Mitte der Sicherheit“, weg von allem, was vormals Zustand, Maß und guter Grund gewesen war. Wenn Sturz und Überstürzung eins sind, ist Gott in den Vehikeln dieser Bewegung tot. Wer dem unheimlichen Bild vom Sturz nach vorne den Vorzug gibt, erscheint in den Augen der Fortschrittlichen wie ein boshafter blinder Passagier an Bord eines Schiffes, das dank der Arbeit der anderen zielsicher der hellen Zukunft entgegen fährt. Wer hingegen an einen garantierten Fortschritt glaubt, ist in den Augen derer, die überall den Sturz nach vorne spüren, ein schlafwandelnder Philister, der schon vom Dach gefallen ist und noch im Sturz den „Vorwärts“ liest. Wenn Madame de Pompadour sagt: „Nach uns die Sintflut!“ Wenn der Tolle Mensch fragt „Stürzen wir nicht fortwährend?“, so nehmen diese Kommentatoren eine Anleihe bei der Grundstimmung des jüngeren europäischen in-der-Welt-Seins, wonach die Verhältnisse im Vergleich zu älteren Befunden über das „Ständische und Stehende“ (Karl Marx/ Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest 1848) stark in Bewegung geraten sind. Trunken soll jetzt das Schiff im ganzen sein, nicht mehr nur der torkelnde Matrose. Weil in der Moderne die Traditionsfäden häufiger reißen, nimmt das Risiko fortwährend zu, dass die Individuen zu „Kindern ihrer Zeit“ unbekannten Typs werden. In der Regel werden sie es in dem Augenblick, in dem der die Epochen trennende Abbruch der Filiation sich in ihre Psyche einprägt. Als nach dem revolutionären Einschnitt (der Französische Revolution) mit einem Mal
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IM FREIEN FALL ODER DAS DASEIN IM HIATUS
Zehntausende, Hunderttausende, Millionen analoger Filiations-Risse sich summierten, weil die neuen addierenden Subjekte, als „Legionäre des Augenblicks“ mobilisiert, sich in ihre vermeintlichen oder gebotenen neuen Chancen stürzten, als Emigranten, als Unternehmer, als politische Rebellen, als Scharlatane, als Verbrecher, als Künstler, als Sportler, als Vorsprecher von Bewegungen, als Kolumnisten, als Chefredakteure und als Parteiführer - da wählte das vorbildlose und massenhafte Amalgam aus Ansprüchen auf erhöhtes Leben einen konventionellen, unauffälligen und plausiblen Namen. Hervorgegangen aus dem revolutionären Hiatus, stellte das Ensemble der Geschöpfe des Diskontinuums sich selber als die „bürgerliche Gesellschaft“ vor.
I. IM FREIEN FALL: DIE FREIHEIT Die Labilisierung der (bürgerlichen) Filiationen spiegelt sich im Aufstieg des Begriffs „Freiheit“ zum theoretischen Leitwort und ethischen Leitwert der Kulturen nach dem Hiatus wider. Im Klima der Desorientierung gedeiht das Pathos der Wahlfreiheit am besten. Nur die Entkräftung der Vergangenheit bewirkt, dass Menschen sich selber frei „wählen“ oder „erfinden“. Die Freien sind nicht nur jene, die einen Herrn abgeschüttelt haben. Sie sind auch die, die man ohne Erklärung auf offener Straße stehen gelassen hat. Allerdings fragt man sich angesichts der Dynamik der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, was denn die Freiheit noch ausrichten kann und ob inzwischen nicht die Logik der Sachen gesiegt hat und man dabei ist, „von der eigenen Zivilisation verbrannt zu werden“, wie das Arnold Gehlen einmal formuliert hat. Ist vielleicht dieser Zivilisationsprozess selbst zu etwas Unheilvollem und deshalb Bösen geworden? Hat der Mensch sich mittels der Zivilisation von der Natur emanzipiert, damit nun die Zivilisation sich ihrerseits vom Menschen emanzipiert? Stecken wir inzwischen machtlos in diesen Prozessen wie in einer Lawine, die unaufhaltsam zu Tal donnert?
II. DIE „SCHIEFE EBENE“: DER ZIVILISATIONSDYNAMISCHE HAUPTSATZ Wer vom „Offenen“ spricht, rührt an das Grundgefühl des Weltalters. Die Dimension Offenheit klafft vor allem nach vorne auf – bzw. nach vorne – unten. Die Jahrmärkte haben hierauf seit längerem reagiert und setzten kreischende Menschen in Selbsterfahrungsmaschinen, die man Achterbahnen nennt. Auf instinktiver
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Peter Sloterdijk
Ebene weiß waches Leben unfreiwillig mehr, als ihm lieb sein kann, von den Verlegenheiten des Daseins auf der nach vorne geneigten schiefen Ebene. Der Grad des Neigungswinkels unterliegt dem Streit – den nennen die Höflichen „Politik“. Die Unmöglichkeit, moderne Welt- und Lebensprozesse mit Hilfe von Symmetrieforderungen und Gleichgewichtsmodellen zu begreifen oder gar zu steuern, prägt sich dem zeitgenössischen Empfinden in allen Gebieten der Wahrnehmung mit zunehmender Dringlichkeit und wachsender Unheimlichkeit auf. Sogar im Lager der unentwegt Progressiven beginnt man zu verstehen, dass das Chaos die Regel ist, von der die Ordnung die unwahrscheinlichste der Ausnahmen bildet. Das heißt: aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz, wonach die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozess regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt, lassen sich je nach Grundstimmung und Geschmack des Interpreten tragische oder erheiternde Folgesätze ableiten. Zum Beispiel: -- Es werden im geld- und zinsbewegten Wirtschaftsgeschehen von Gläubigern stets mehr Kredite an Schuldner herausgereicht, als sich durch angemessene Rückversicherung in Pfändern und realistischen Leistungserwartungen je besichern lassen. -- Es werden von Schuldnern in modernen Tauschgesellschaften namentlich von Regierungen sogenannter souveräner Staaten, stets sehr viel mehr Kredite aufgenommen, als sich jemals mit bona-fide-Rückzahlungsabsichten rechtfertigen ließe. -- Es werden auf den Feldern moderner Politik und Kultur stets mehr Täuschungen, Wahnkonzepte und Angebote an die Deliriumsbereitschaft des Publikums in die Welt entlassen, als je in realistische Vorhaben re-integriert werden können. -- Es wird im Lauf der modernen Lockerung der Sitten und ihrer Bilderwelten stets mehr erotisches Begehren aufgereizt, als durch lizenzierte Sexualität zu absorbieren wäre. -- Es werden durch die Ausstrahlung der Bilder reichen Lebens weltweit fortwährend mehr Forderungen nach Teilhabe an Gütern und Statussymbolen hervorgerufen, als jemals durch nicht-kriminelle Formen der Umverteilung von Wohlstand befriedigt werden können. -- Es werden der Problemlösungsfähigkeit künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet, als diese durch die Übernahme des KompetenzErbes vorangehender Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte meistern könnten. -- Es werden weltweit mehr Abfälle aus konsum- und industriegesellschaftlichen
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IM FREIEN FALL ODER DAS DASEIN IM HIATUS
Lebensformen generiert, als sich auf absehbare Zeit in Recycling-Prozessen resorbieren lassen. -- Es werden in Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind. -- Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche nach Objekten des Konsums und des Genießens stimuliert, als durch real erarbeitet Güter bedient werden können. Die entropischen Konsequenzen aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz sind evident: Bei fortschreitender Mobilisierung werden die Freisetzungen den moderierenden Instanzen mit wachsender Fluchtgeschwindigkeit davonlaufen – wobei der Monetarisierung die Funktion des Mediators zufällt.
III. IM FREIEN FALL: DAS GELD Am 15. August 1971 gab der amerikanische Präsident Richard Nixon die Abkehr der Vereinigten Staaten vom Prinzip der Golddeckung des Dollars bekannt. An eben dem Tag, an dem die katholische Kirche die Aufnahme der Mutter Gottes in den Himmel feiert, begann vor den Augen der ganzen Welt die Höllenfahrt des postmodernisierten Geldes. Das geschichtemachende Novum, das mit der Schaffung des Bretton-WoodsSystems besiegelt und durch seine Außerkraftsetzung nach einem Vierteljahrhundert umso mehr offengelegt wurde, bestand nicht so sehr in dem Regelwerk als solchem. Es lag in der Entdeckung, wie es gelingt, ökonomische Expansion – in aktueller Terminologie - „permanentes Wachstum“ - vorübergehend auf Dauer zu stellen, ohne sich über die Möglichkeit globaler Rückschläge vom Typus der Großen Depression größere Sorgen machen zu müssen. Da aber ein Wirtschaften jenseits der altehrwürdigen Gleichgewichtskonzepte logisch und moralisch immer noch nicht denkbar erscheint, obschon es praktisch längst vollzogen wird, erlebt sich die Welt im Ganzen, ökonomisch, politisch, kulturell und alltäglich, in einer chronischen Drift zu schwindelerregenden Zuständen. Schon redet ein Autor wie Joseph Stiglitz ohne Reserve von dem „freien Fall“, in dem sich das System befinde. Als Metapher für bodenlose Zustände in der aktuellen Drift mag die Rede vom free fall gut gewählt sein; als Diagnose über Fehlfunktionen „der Märkte“ ist sie zugleich die pure Irreführung, da sie die Komplizenrolle der Staaten beim Übergang in den „Fall“-
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Peter Sloterdijk
Modus außer Betracht lässt: das polit-ökonomische System befand sich seit dem Ende Bretton-Woods-Ära nicht im freien, sondern im politisch gewollten, vielleicht sogar kalkulierten Fall.
IV. DIE GRENZEN: IM FREIEN FALL Unter Nationalmenschen verstehe ich einen Sozialcharakter, der in Europa während der letzten zweihundert Jahre entstanden ist und bei dem das Leben in den Formen des Nationalstaats zur zweiten Natur geworden ist. Was die sogenannte Globalisierung mit den Menschen in den Nationalstaaten anstellt, ist doch im Grunde dies, dass wir von einer Gesellschaft der starken Wände, man könnte auch sagen von einer Gesellschaft der dichten Container, uns auf eine Lebensform umorientieren, die man mit dem Prädikat „besonders dünnwandig“ auszeichnen darf. Wir sind heute bei der Einwanderung in europäische Länder mit Verhältnissen konfrontiert, in denen die sozialen und politischen Immunsysteme auf unvorhergesehene Weise durcheinandergewirbelt werden – mit dem Resultat, dass die Suche nach Identität und Immunität zunehmend von kollektivistischen auf individualistische Strategien umstellen muss. Wir sehen, wie Teile der Bevölkerung dieses Reizthema in einer Weise beantworten, die man am besten mit einer allergologischen oder immunologischen Optik beschreiben kann. Dergleichen Reaktionen sind ernstzunehmen, weil es heute auf breiter Front darum geht, das Immunverhalten der Menschen von der Orientierung am umfassenden Schutzstaat auf Selbstschutz und Selbstsorge umzuprogrammieren. Das ist es, was die Gesellschaft der Gegenwart mit einer großen Unruhe in bezug auf ihre künftigen Zustände erfüllt. Was die politische Sphäre im ganzen anbelangt, so wird sie ihre Aufgaben unter den veränderten Bedingungen der dünnwandigen Welt umso besser erfüllen, je mehr es ihr gelingt, sich gegen die Überforderungen abzugrenzen, die von einer aufgereizten Wunschgesellschaft auf sie projiziert werden.
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ISLAM IN EUROPA - BRINGT UNS DAS DURCHEINANDER?
ISLAM IN EUROPA – BRINGT UNS DAS DURCHEINANDER? SEYRAN ATEŞ Seit dem Fall der Mauer in Berlin, der Stadt, in der ich seit 1969 lebe, und dem Fall des Eisernen Vorhangs, der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens einherging, sortiert sich Europa neu. Der Prozess läuft noch. Aber es sieht nicht so aus, als ob dieser Prozess auch von einem Konzept oder einer roten Linie bestimmt wäre. Die vielbeschworene europäische Identität, fundamentale europäische Werte, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und nicht zuletzt die Gleichberechtigung der Geschlechter sind Themen, die immer wieder Erwähnung finden und angemahnt werden, wenn es um die Debatte über Europa geht. Es scheint, als sei alles verhandelbar, obwohl wir von einer Ewigkeitsgarantie und Universalität der Menschenrechte ausgegangen sind. Wie sieht es also wirklich aus in Europa im Großen und in unseren Ländern im Besonderen? Am 10.12.2012 hat Europa den Friedensnobelpreis überreicht bekommen. In der Dankesrede des damaligen Präsidenten des Europäischen R, Herman Van Rompuy, für den Nobelpreis hieß es unter anderem: „Wo es früher Krieg gab, ist nun Frieden. Vor uns liegt jedoch eine weitere historische Aufgabe: Frieden halten, wo Frieden ist. letztendlich ist Geschichte kein Roman, den wir nach einem happy end weglegen können. Wir bleiben für die Zukunft voll verantwortlich. Unser Kontinent, der nach 1945 aus der Asche auferstanden ist und 1989 wieder zusammengefunden hat, besitzt enorme Fähigkeiten, sich neu zu erfinden. Es liegt in der Verantwortung der nächsten Generation, dieses gemeinsame Unterfangen weiter zu gestalten. Ich hoffe, die nächste Generation wird diese Verantwortung mit Würde übernehmen und die jungen Menschen werden auch dann noch sagen können: ich bin ein Europäer und ich bin stolz, Europäer zu sein.“ Das sind edle Ziele. Doch dazu muss man den nächsten Generationen einen Kontinent hinterlassen, in dem sie genau diesen Frieden fortführen können. Eben dies sehe ich momentan in Bezug auf Europa sehr kritisch. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um das großartige Friedensprojekt Europa. Lassen Sie mich noch aus einer anderen Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises vom 10. 12. 2012 zitieren, nämlich jener von José Manuel Barroso, dem damaligen
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Seyran AteŞ
Präsidenten der Europäischen Kommission: „Frieden ist nicht bloße Abwesenheit von Krieg, Frieden ist eine Tugend, wie Spinoza schrieb. Frieden ist eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit. Echten Frieden kann es nur geben, wenn Vertrauen herrscht, wenn die Menschen mit ihrem politischen System einverstanden sind, wenn sie sicher sind, dass ihre Grundrechte beachtet werden. Die Europäische Union strebt nicht nur Frieden unter den Nationen an. sie ist als politisches Projekt Ausdruck eben dieser Geisteshaltung, von der Spinoza spricht. Als Wertegemeinschaft verkörpert sie auch eine Vision der Freiheit und Gerechtigkeit.“ An dieser Stelle muss ich nun mit der Tür ins Haus fallen: Ich sehe die Wertegemeinschaft in Europa, die Haltung von der Spinoza spricht und die Vision von Freiheit und Gerechtigkeit, die wir in Europa seit der Französischen Revolution und der Aufklärung in Europa verfolgen, als gefährdet an. Der entscheidende Grund dafür liegt in der Tatsache, dass es neben sogenannten Euroskeptikern und Nazis eine Gruppe von Muslimen und manche islamischen Länder gibt, die sich zum Ziel gesetzt haben, das gerade beschriebene Friedensprojekt und die Wertegemeinschaft Europa zu zerstören, um es für sich, für einen politischen Islam zu vereinnahmen. Ist das eine Verschwörungstheorie? Nein. Ist das Islamfeindlichkeit? Nein. Ist das rassistisch? Nein. Ich werde Ihnen begründen, warum ich das so scharf formuliere und dennoch unter ausdrücklichem Protest zurückweise, in die rechte Ecke gestellt oder gar als Islamfeindin diffamiert zu werden. Warum beginne ich mit der schlechten Nachricht? Weil ich auch nach dieser Veranstaltung voller Hoffnung an das Friedensprojekt Europa glaubend meinen Teil dafür tun möchte, dass wir in Europa weiterhin in Frieden und Freiheit leben können. Und Sie dazu auffordern möchte, dasselbe zu tun.
ISLAMISTISCHE ATTENTATE HALTEN UNS IN ATEM Seit dem 11.September 2001, dem Tag des Attentates auf die Twin-Towers in New York, ist der Islam weltweit zu einem der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen geworden. In meiner Kindheit und Jugend in Deutschland war der Islam weder in der Schule noch in unseren Gastarbeiterfamilien ein so großes oder so wichtiges Thema. Wir waren einfach friedliche Muslime, die ihre Religion nicht zur Schau stellten. Heute beschäftigen wir uns täglich mit dem Islam. Vor allem mit einem sehr rückwärtsgewandten und gewaltbereiten Islam. Besser gesagt mit Muslimen, die uns weißmachen wollen, was „der wahre Islam“ ist.
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ISLAM IN EUROPA - BRINGT UNS DAS DURCHEINANDER?
Ich stamme aus der Türkei. Vielleicht habe ich deshalb einen etwas anderen Blick auf meine Religion. Bekanntermaßen war die Türkei – was sie heute leider nur noch auf dem Papier ist – ein laizistischer Staat. Als einziges islamisches Land hatte die Türkei somit Staat und Religion, Politik und Religion strikt getrennt. Die Türkei war zudem das einzige islamische Land, das einmal wenigstens den Hauch einer Chance hatte, ein echter demokratischer Rechtsstaat zu werden. Aus diesem Grunde war der Islam in der Türkei nie so allgegenwärtig wie jetzt, seit Herr Erdogan regiert. Ich will noch ein weiteres, wichtiges Datum nennen, um meine Argumente gegen einen fundamentalistischen Islam zu untermauern. Es ist der 05. August 1990, jener Tag, an dem die islamische Menschenrechtserklärung, genannt die Kairoer Erklärung der Menschenrechte, von 45 der aus 57 Mitgliedern bestehenden Organisation der Islamischen Konferenz angenommen wurde. Sie soll den Mitgliedsstaaten als Richtschnur in Bezug auf die Menschenrechte dienen, besitzt allerdings damit keinen völkerrechtlich bindenden Charakter. Artikel 24 und 25 der Kairoer Erklärung der Menschenrechte unterstellen alle in der Erklärung genannten Rechte und Freiheiten nochmals ausdrücklich der islamischen Scharia und benennen die Scharia als „einzig zuständige Quelle“ für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung. Die Kairoer Erklärung unterstreicht damit ihren Ursprung im Islam als der „wahren Religion“ und der Lebensart der islamischen Gesellschaft (Umma), die als beste aller menschlichen Gesellschaften beschrieben und der eine zivilisierende und historische Rolle zugeschrieben wird. Der Rat der Liga der arabischen Staaten hat im September 1994 separat eine Arabische Charta der Menschenrechte verabschiedet und im Januar 2004 in einer überarbeiteten Fassung verkündet. Diese bekennt sich in ihrer Präambel ausdrücklich zu den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie zum Inhalt der Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Weiterhin bestätigt sie aber auch die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, was einen gewissen Widerspruch bedeutet. Diesen Widerspruch konnten die islamischen Länder bisher nicht ausräumen. Aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, dass diese islamischen Länder ausdrücklich dem Westen gegenüber erklärt haben: Wir sind nicht einverstanden mit euren Vorstellungen von Freiheit und Gleichberechtigung. Diese islamischen Länder haben 1990 die Welt in „islamische Welt“ und „westliche
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Seyran AteŞ
Welt“ aufgeteilt. Meines Erachtens mit dem Ziel, das eigene Volk von universellen Freiheitsrechten fernzuhalten.
SCHAUEN WIR EIN WENIG IN DIE GESCHICHTE Im Früh- und im Spätmittelalter drängte der Islam durch Eroberungen und allmähliche Konversion der unterworfenen Bevölkerung nach Europa. Auf dieselbe Art und Weise wurde er bekanntermaßen zurückgedrängt. In Andalusien im Besonderen, aber auch im Allgemeinen in der restlichen islamischen Welt durchlebte der Islam im Mittelalter sein sogenanntes Goldenes Zeitalter, voller Leidenschaft für die Philosophie und Wissenschaft. Im 20. und dem beginnenden 21. Jh. verbreitet sich der Islam nach Europa vor allem durch Migration. Im Wesentlichen fing diese Bewegung in den 1950er-Jahren an, als Muslime überwiegend aus Nordafrika, Türkei und Pakistan auf der Suche nach Arbeit in wohlhabende Industriestaaten zogen. Der Anteil der Muslime an der europäischen Bevölkerung ist laut einer Studie aus dem Jahre 2017 auf 4,9 Prozent gewachsen. Würde sich dieser Trend fortsetzen, könnte er der Studie zufolge bis 2050 auf 14 Prozent zunehmen. In absoluten Zahlen wären das dann 75 Millionen Muslime. In Deutschland, wo das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2015 die Anzahl der Muslime auf 5,4 bis 5,7 Prozent geschätzt hat, läge der Anteil unter diesen Bedingungen 2050 bei fast 20 Prozent. Etwas kleiner wäre der Anteil in Frankreich und Großbritannien. In Schweden wären es mehr als 30 Prozent. Müssen uns diese Zahlen Angst machen? Natürlich nicht. Angst müssen wir nur vor den Radikalen und Extremisten haben. Wir müssen lediglich Angst vor Extremisten aus allen Richtungen haben.
WELCHER ISLAM EXISTIERT IN EUROPA? Wie in der gesamten islamischen Welt ist der Islam auch in Europa sehr plural. Von „fundamentalistischen Gruppen“ bis hin zum »Euro-Islam« ist alles vertreten. Die Fundamentalisten haben primär das Ziel, die eigenen Gesellschaften im Sinne des Islams umzugestalten. Ein Beispiel dafür ist die Islam-Partei in Belgien, die bei den Kommunalwahlen im Oktober 2017 in 28 Gemeinden antritt. Sie hofft darauf, dass Belgien eines Tages
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ISLAM IN EUROPA - BRINGT UNS DAS DURCHEINANDER?
der erste islamische Staat in Europa wird, in dem das Gesetz der Scharia herrscht. Bei den Kommunalwahlen vor sechs Jahren war die Islam-Partei erstmals aktiv. Sie stellt seitdem Vertreter in zwei von 19 Brüsseler Stadtparlamenten. Ihr Vorsitzender Abdelhay Bakkali Tahiri erklärt, die Islam-Partei sei unter anderem nach Forderungen von Frauen gegründet worden, die in Bussen und Bahnen von "Perversen" belästigt worden seien. Eine der Forderungen der Islam-Partei ist deshalb, dass Männer und Frauen in öffentlichen Transportmitten getrennt werden, um sexuelle Übergriffe und Belästigungen zu verhindern. Es drängt sich die Frage auf, wer diese „Perversen“ waren, wenn diese Frauen doch kaum ihre Parallelgesellschaft oder ihre Ghettos verlassen? Die Partei betont, nicht einem „extremen Islam“ anzuhängen. Man fordere etwa keine Verpflichtung zum Kopftuch. Die Partei wolle vielmehr zeigen, dass Extremisten in der muslimischen Gemeinschaft in der Minderheit seien. Man sei auch offen für nichtmuslimische Kandidaten. Aber nur für Männer natürlich. Frauen sucht man in der Führung der Islam-Partei vergebens. Auch in den unteren Rängen haben Frauen nichts zu suchen. Sie gehören ins Haus. Man opponiert gegen ein von der Globalisierung dominiertes Europa, wobei nicht die Globalisierung an sich, sondern die sich verbreitenden modernen Ansichten als Gefahr betrachtet werden. So werden westliche Werte mit egoistischem Individualismus und religionsfeindlichem Säkularismus gleichgesetzt, deren Ziel es sei, traditionelle orientalische Werte wie Gemeinschaftssinn und Familie zu verdrängen. Dem Westen, den westlichen Menschen wird beides abgesprochen. Den Vorstellungen und Wünschen der Islam-Partei entsprechend könnte/sollte Belgien bis 2030 soweit sein, als erster islamischer Staat Europas eine „islamistische Demokratie“ einzuführen, in der alle Zivil- und Strafgesetzbücher durch die Scharia ersetzt würden. Muss uns diese Partei Angst machen? Ich sage ja! Denn sie steht für eine Geisteshaltung und Überzeugung zu vieler Muslime und Musliminnen in Europa, die unsere Gesellschaften jetzt schon durch ihre Gewaltbereitschaft und Frauenfeindlichkeit bedrohen und verändern. Wie sieht es nun mit dem Islam in Europa grundsätzlich aus? Gibt es einen EuroIslam? Ist er besser als der orientalische Islam?
WAS BEDEUTET „EURO-ISLAM“? Der Begriff Euro-Islam wurde 1991 von Bassam Tibi in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Er beschrieb damit eine bestimmte säkularisierte Form des Islam, die sich dadurch herausbilden würde, dass in Europa lebende Muslime 22
Seyran AteŞ
Pflichten und Prinzipien des Islam mit Werten der modernen europäischen Kultur kombinieren. Diese These, die durchaus eine richtige Beschreibung des pluralistischen Islam darstellt, kann damit untermauert werden, dass sich der Islam, ausgehend von der arabischen Halbinsel, in jedem Land, in dem er angekommen ist, immer an die Traditionen der Region angepasst hat. Aus diesem Grunde gibt es von Marokko bis Indonesien sehr unterschiedliche Ausprägungen des Islam. So auch in Europa. Der Euro-Islam distanziert sich demnach bewusst von der Scharia und dem Djihad, da diese die Integration von Muslimen in Europa behindern und fordert in Europa lebende Muslime auf, die Trennung von Religion und Staat zu akzeptieren, um eine Ghettoisierung und das daraus resultierende Gewaltpotenzial für das 21. Jahrhundert zu vermeiden. Bassam Tibi hat mittlerweile in mehreren Medien erklärt, die Hoffnung auf einen „Europäischen Islam“ aufgegeben zu haben. Das Konzept hätte keinen Sinn mehr, es sei gescheitert, weil der Euro-Islam gegenüber dem Kopftuch-Islam verloren habe. Aber muss man tatsächlich aufgeben, nur weil sich der Euro-Islam bisher nicht als Mainstream durchsetzen konnte? Oder sieht es lediglich so aus, als ob er nicht mehrheitsfähig sei, weil die Orthodoxen und Islamisten in der Umsetzung ihrer eigenen Vorstellung vom Islam so brutal und gewalttätig sind? Meiner Ansicht nach gibt es einen Euro-Islam, der zeitgemäß und säkular ist, einen Islam des Friedens, der Barmherzigkeit, der Spiritualität und der Liebe. Einen Islam, für den die Gleichberechtigung der Geschlechter kein Problem ist. Wobei es natürlich nicht „der Islam“ ist, der all das umsetzt, realisiert und lebt, sondern Menschen. Männer müssen zum Beispiel akzeptieren, dass Frauen gleichberechtigt sind und Frauen müssen sich selbst für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzen, wenn sie es denn wollen. Der Mensch selbst ist es am Ende, der auch darüber entscheidet, wie er darüber hinaus mit dem Thema Homosexualität umgehen möchte. Daher gebe ich Bassam Tibi Recht, wenn er verlangt, dass sich Menschen entscheiden müssen, Bürger Europas zu werden, und zwar von ganzem Herzen. Mit einem Pass allein wird man weder Staatsbürger noch Demokrat. Das ist auch meine Überzeugung. Und auch wenn wir in Deutschland und Österreich keine wirkliche Trennung zwischen der Kirche und Politik haben, lohnt es sich genauer hinzuschauen. Eine hinkende Säkularität ist immer noch besser als keine. Schließlich trägt dieses System viele Länder in Europa schon viele Jahre und hat eher zur Befriedung Europas beigetragen als zum Krieg. Die Kirchen in Europa sind in vielen Jahrhunderten und leider auch nach vielem Blutvergießen zum Garanten der Demokratie geworden.
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ISLAM IN EUROPA - BRINGT UNS DAS DURCHEINANDER?
Sie sind schon lange keine erbitterten Feinde der Demokratie mehr. Die Unordnung wurde sortiert und mithilfe der Kirchen sind offene Zivilgesellschaften entstanden, in denen Demokratie wehrhaft geworden sind. Die Bürgerinnen und Bürger sind nicht mehr nur Untertanen. Sie gestalten ihre Gesellschaften mit. In den meisten islamischen Ländern hingegen erleben wir ununterbrochen Krieg und Unterwerfung der Bevölkerung. Krieg zwischen den einzelnen Rechtsschulen und Ausrichtungen des Islam. Krieg zwischen Sunniten und Shiiten, Krieg zwischen Nachbarn. Und wir erleben islamische Gesellschaften, in denen Frauen kaum mehr Rechte als Tiere oder kleine Kinder haben. Von Autofahrverboten, Schulbesuchsuntersagungen bis Verschleierungspflichten leben Frauen weder frei noch selbstbestimmt.
DIE MOTIVATION DER ISLAMISTEN Damit ist jedoch nichts über die Motivation der Gewalt gesagt. Die Motivation hat durchaus einen starken Bezug zum Westen. Die Art wie wir im Westen leben, die Freiheiten, die wir im Westen pflegen und die wahrhafte Demokratie – nicht nur eine Wahlurnendemokratie - , die wir mit allen Mitteln verteidigen, vor allem die Gleichberechtigung der Geschlechter, werden von Islamisten, vom politischen Islam bekämpft. Wenn Saudi-Arabien jetzt, im Jahre 2017, sich dazu entschließt, das Autofahrverbot für Frauen zu lockern, dann nur, weil der König sehr wohl erkannt hat, dass die Freiheit sich den Raum und den Platz zum Atmen sucht und die Königsfamilie Angst, unter anderem aufgrund der Globalisierung, um Ihre Macht und Autorität bekommt. Die Unterdrückung und Diskriminierung der Frauen wird sich mit der Globalisierung und Digitalisierung nicht mehr in dem Maße aufrechterhalten lassen wie in den letzten Jahrhunderten. Es ist daher nicht von ungefähr, dass die Angriffe auf den Westen sich zunächst auf das Kapital, das Wirtschaftssystem, dann auf die Freiheiten und mit dem Anschlag in der kleinen Kirche in Rouen auch auf die anderen Religionen bezogen. Islamisten sind sich dessen bewusst, dass sich das Zusammenspiel der Wirtschaft, der Politik und der Religion im Westen in einer Art und Weise entwickelt hat, die Frauen zu immer gleichberechtigteren Wesen macht und deren gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des Zusammenlebens, sowohl Privat, als auch im öffentlichen Raum, als auch in der Arbeitswelt zu einer Bereicherung und Fortentwicklung der Zivilisation einer Gesellschaft führt. „Boko Haram“ richtet sich beispielsweise explizit gegen westliche Bildung, weil Bildung die Türen und Tore zu einem selbstbestimmten Leben öffnet; der 24
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islamische Staat bekämpft gegen die Demokratie und will beweisen, dass der Islam als Staatsform überall in der Welt sich verbreiten wird; die Taliban, Al Qaida, Hamas: sie alle bekämpfen die Freiheit der eigenen Meinung, die wir im Westen so sehr schätzen und die Vorzüge des selbstbestimmten Lebens von Menschen, die sich aus der Unmündigkeit befreit haben. Sie alle bekämpfen vor allem auch die Freude am Leben. Denn sie bereiten sich auf das Leben nach dem Tod vor. Die Konzentration auf das Jenseits geht zulasten des Diesseits.
MUSLIMIN ODER MUSLIMA? Erlauben Sie mir bitte, dass ich Sie an dieser Stelle mit einer mir wichtig erscheinenden Begriffsklärung vertraut mache: Wie ist die richtige Bezeichnung für weibliche Islam-Gläubige? Die einen benutzen Muslima, die anderen Muslimin. Ich persönlich ziehe die Bezeichnung „Muslimin“ vor. Wie heißt es so schön, „Der Teufel steckt im Detail“. Das Bild der Muslimin im Westen beginnt mit ihrer Bezeichnung als Muslimin oder Muslima. Nicht nur weil mein Rechtschreibprogramm die Bezeichnung „Muslima“ rot unterstreicht, während „Muslimin“ ohne rote Unterstreichung bleibt, auch als gläubige Muslimin und Feministin stoße ich mich an der Bezeichnung „Muslima“. Als Juristin und politische Aktivistin habe ich gelernt, dass Wörter Träger von Inhalten sind. Sie können mehrdeutige Bedeutungen haben und für sehr unterschiedliche politische Positionen stehen. „Muslima“ wird mehrheitlich im arabischen Raum und von Konservativen und Fundamentalisten im Westen verwendet. Es handelt sich hier schlichtweg um die arabische feminine Endung. Die richtige deutsche feminine Endung ist „in“, wie bei Christin und Jüdin. So ist auch zu beobachten, dass Muslima eher von konservativen Muslimen verwendet wird und von Urdeutschen, die sich ganz besonders tolerant zeigen wollen. Sie hören richtigerweise eine gewisse Kritik darüber, dass ein Begriff unkritisch übernommen wird. Zu den Bildern der Muslimin im Westen gehört also auch ihre Bezeichnung. Die sonstige Wahrnehmung von Musliminnen ist teilweise nicht weit entfernt von derselben Ignoranz und Bequemlichkeit wie die unkritische Übernahme des Wortes „Muslima“. Die Bilder von Musliminnen, die uns durch die Medien vermittelt werden, sind immer mehr verhüllt, um nicht zu sagen schleierhaft. Burkinis und Burkas gehören zum festen Bestandteil der bebilderten Berichterstattung. Das ist leider nicht neu. Es gehörte schon eh und je zur Praxis, Frauen aus der Türkei
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mit einem Kopftuch abzubilden. Damals ging es noch um Abbildung der nationalen Identität von Ausländerinnen. Inzwischen sind wir Menschen mit Migrationshintergrund und im Vordergrund steht nicht mehr die nationale Herkunft. Insbesondere seit dem 11. September 2001 ist die Zugehörigkeit zur muslimischen Glaubensgemeinschaft der wichtigste Teil unserer Identität geworden. Und diese Identität wird vor allem durch das Kopftuch oder sonstige Verhüllung der Frau repräsentiert. Das Kopftuch als Dauerbrenner hat es nicht nur ins Fernsehen in TV-Debatten über Integration geschafft, sondern mittlerweile auch auf Wahlplakaten eine exponierte Stellung eingenommen. Ich rede hierbei nicht von den rechten Parteien und Nazis, die Kopftuch tragende Frauen abbilden, um vor Überfremdung und den Islamisten zu warnen. Ich rede ganz aktuell von dem Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin (SPD), der sich auf einem Wahlplakat zu den Wahlen im September 2016 in Berlin mit einer Kopftuch tragenden Frau abbilden lies. Man sieht ihn, sein Gesicht ist im Hintergrund und unscharf, auf einer Rolltreppe hochfahren, während eine Frau mit Kopftuch, sehr scharf und im Vordergrund, man sieht aber nur ihren Kopftuchhinterkopf, die Rolltreppe runterfährt. Hier begegnet offensichtlich der weltoffene deutsche Politiker der Pluralen Gesellschaft. Und die Kopftuch tragende Frau vertritt dabei die Musliminnen. Meine Kritik geht nicht in die Richtung, die Kopftuch tragende Frau nicht abzubilden, sondern die Tatsache, dass es immer eine Kopftuch tragende Frau sein muss, wenn man eine Muslimin abbilden will. Musliminnen ohne Kopftuch abzubilden stellt eine Herausforderung dar. Dabei hätte die SPD auf diesem Plakat, wenn sie sich schon positiv zum Kopftuch positionieren wollte, neben der Frau mit Kopftuch eine Frau ohne Kopftuch abbilden können. Eine Steigerung solcher Zuschreibungen stellen Bilder von korpulenten Frauen mit Kopftuch dar, die in lange Mäntel gehüllt, links und rechts Plastiktüten von einem Billigsupermarkt tragend nebeneinander laufen und von einer Kinderschar umgeben sind. Musliminnen, die allein einkaufen gehen, ohne Kopftuch und ohne Kinderschar und zudem weder in einem Diskounter einkaufen, noch mit hässlichen Plastiktüten rumlaufen kann man nicht abbilden. Was soll man damit auch schon erzählen? Immer wieder begegne ich Journalisten und Journalistinnen, die mich für einen Beitrag unbedingt in einer typisch türkischen/muslimischen Umgebung fotografieren wollen, obwohl ich nicht in solch einer Gegend wohne. Das heißt also vor einer
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der beschriebenen Frauengruppen oder vor türkischen oder arabischen Geschäften. Eine Muslimin, die in Berlin am Kurfürstendamm, in der Friedrichsstraße oder am Hackeschen Markt lebt, kann man nicht so abbilden, dass sie für den Betrachter sofort als Muslimin zu erkennen ist. Es sei denn, sie trägt ein Kopftuch. Dabei trägt die Mehrheit der Musliminnen, gerade in Berlin, kein Kopftuch.
ANDERE LEBENSWEISEN NICHT LEUGNEN Dies zu den Äußerlichkeiten. Zu dem Bild der Muslimin gehört aber auch deren Lebensweise. Machen wir uns nichts vor: die Mehrheit der muslimischen Frauen verfügt über eine geringere Schul- oder Berufsbildung als die Urdeutschen aus derselben Altersgruppe. Das bedeutet aber nicht, dass jede muslimische Frau fremdbestimmt und unterdrückt lebt. Das möchte ich hier klarstellen. Denn uns Feministinnen wird allzu oft vorgeworfen, wir würden das Bild der Muslimin als unterdrückt und geknechtet wiedergeben. Selbstverständlich dürfen wir nicht verallgemeinern. Aber die meisten muslimischen Frauen leben in großfamiliären Strukturen und eine hohe Anzahl der muslimischen Frauen musste einen Mann heiraten, den sie nicht selbst ausgesucht haben. Und selbstverständlich ist auch ein Trend zu beobachten, dass immer mehr muslimische Frauen ein freies, selbstbestimmtes Leben führen. Sie erkämpfen es sich zum Teil sehr hart. Dies übersteigt die Vorstellungskraft vieler Europäer. Vor allem derer, die keine einzige Muslimin kennen und daher auf die Bilder aus den Medien angewiesen sind. Doch bei aller Kritik an dem Westen, westlichen Medien und konservativer Orientalisten, die sich gerne einseitiger Bilder bedienen, darf nicht heruntergespielt werden, dass sich das Leben sehr vieler muslimischer Frauen in Europa nicht mit europäischen Standards und den allgemeinen Menschenrechten messen lässt. Durch Schönreden der Verhältnisse nutzen wir niemandem. Weder helfen wir den Frauen, die aus unterdrückten Verhältnissen ausbrechen wollen, noch fördert es die Neugestaltung Europas im positiven Sinne. Nur wenn wir den ehrlichen und mutigen Blick in die Lebensrealitäten von muslimischen Frauen in Europa wagen, können wir die richtigen Schritte einleiten, um Abhilfe zu schaffen, wo Abhilfe notwendig ist. Die Leugnung von muslimischen Parallelgesellschaften, in denen Imame Zeitehen schließen, als Strafrichter fungieren, bei Gewalt in der Ehe Frauen zu mehr Unterwerfung und Demut ihrem Ehemann gegen anraten und vieles mehr, schafft kein einziges Problem ab. Im Gegenteil, diese Parallelgesellschaften werden immer undurchlässiger. 27
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FRAUEN- UND MENSCHENRECHTE Wir leben in einer patriarchalen Welt. Alle drei monotheistischen Religionen sind patriarchal strukturiert. Ebenso wie Christinnen und Jüdinnen kämpfen Musliminnen um eine geschlechtergerechte Auslegung der religiösen Vorschriften. Dies ist unterstützenswert und möglich, und zwar ohne den Islam zu verteufeln oder religions- und traditionsbedingte Gewalt unter Muslimen zu verharmlosen. Vor allem ohne den Rassisten und Nazis zuzuspielen. Sowohl der Koran als auch die Hadithen geben viel her, um die Welt der Frauen von der Welt der Männer zu trennen, Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Ehefrau zu reduzieren, Frauen zu Sexualobjekten und Eigentum der Männer zu degradieren. Sowohl der Koran als auch die Hadithen lassen es aber auch zu, dass eine geschlechtergerechte Auslegung möglich ist und Frauen nicht nur vor Gott gleichwertig, sondern auch in der Gesellschaft als gleichberechtigt gelten. Die Herausforderung für muslimische Feministinnen wird in den nächsten Jahrzehnten sein, Muslime, Männer wie Frauen gleichermaßen, davon zu überzeugen, dass Männer und Frauen auch im Islam gleichberechtigt sind. Die Menschenrechte sind universell und gelten auch für den Islam, also auch für die muslimischen Frauen. Dieses Bekenntnis ist noch lange keine Selbstverständlichkeit. Mit diesem Bekenntnis geht zudem einher, dass der Sinn und Zweck der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verstanden und umgesetzt wird. Und zwar beginnend mit den ersten beiden Artikeln: Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Artikel 2: Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist. In der Kairoer Erklärung zu den islamischen Menschenrechten heißt es hingegen:
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Artikel 6: a) Die Frau ist dem Mann an Würde gleich, sie hat Rechte und auch Pflichten; sie ist rechtsfähig und finanziell unabhängig, und sie hat das Recht, ihren Namen und Ihre Abstammung beizubehalten. b) Der Ehemann ist für den Unterhalt und das Wohl der Familie verantwortlich. Von Gleichberechtigung kann da nicht die Rede sein. Wir dürfen uns also nichts vormachen, wenn wir den Westen, westliche Medien auffordern, keine Klischees von muslimischen Frauenbildern zu verbreiten. Gleichermaßen dürfen wir nicht unterschlagen, dass die Mehrheit der Muslime selbst noch große Probleme damit hat, Musliminnen und Muslime, Frauen und Männer als gleichberechtigt anzusehen. Und dabei geht es nicht nur um z.B. Saudi Arabien oder den Iran. Sondern auch um Muslime, die seit Jahrzehnten in Europa leben oder neu nach Europa kommen. Nicht selten ist von Muslimen zu hören, „Ja, wir leben in Europa. Das heißt aber noch lange nicht, dass meine Tochter leben darf wie eine westliche Frau“. Damit ist ohne Umschweife gemeint, dass westliche Frauen als zu freizügig und sexuell verkommen angesehen werden. Freies selbstbestimmtes Leben wird als Leben wie eine „Hure“ bewertet. Dieses schiefe Bild, dass manche Muslime und Musliminnen von westlichen Frauen haben, ist nicht weniger gefährlich und abzulehnen, wie die soeben beschriebenen Vorurteile über Musliminnen. Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, damit einhergehend die Tatsache, dass junge Frauen selbst darüber entscheiden, ob sie als Jungfrau in die Ehe gehen wollen oder nicht, ist eine der größten Hürden, die die muslimische Weltengemeinschaft auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter nehmen muss. Daher herrschen in den sogenannten konservativen muslimischen Parallelgesellschaften nach wie vor archaisch-patriarchalen Strukturen. Viele Familien sind damit beschäftigt, ihre Kinder, in erster Linie ihre Töchter, vor dem bösen, unmoralischen und verkommenen Westen zu schützen, damit sie keinen Sex vor der Ehe haben. Ihren Söhnen hingegen empfehlen die meisten Eltern Erfahrungen zu sammeln. Zwangsheirat und Ehrenmorde sind nach wie nicht ausgerottet. Mit den Flüchtlingen kommen neue Probleme hinzu, wie z.B. Kinderehen. Die meisten jungen Flüchtlinge haben noch nie zuvor so viele junge Frauen gesehen, die sich öffentlich so freizügig kleiden und bewegen. Es wird nicht einfacher, nur weil es Flüchtlinge sind und keine Gastarbeiter.
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ISLAM: EIN EUROPÄISCHES THEMA Die Zukunft Europas ist nicht mehr ohne die Muslime denkbar. Aus diesem Grunde würde Europa gut daran tun, sich mit dem Thema Islam in Europa intensiver und ehrlicher zu beschäftigen. Welcher Islam ist tatsächlich noch von der Religionsfreiheit gedeckt? Wo begeht Europa einen Verrat an den eigenen Idealen im Bezug auf die Menschenrechte und die Errungenschaften der Frauenbewegungen? All das sollte Europa in einer europäischen Islamkonferenz, unter Einbeziehung von allen Vertreterinnen des Islam, also konservativen Verbänden und muslimischen/bzw. islamischen Feministinnen lösen. Die Einberufung einer solchen Konferenz ist längst überfällig. National wird die Integration des Islam in Europa nicht zu lösen sein. Im Gegenteil. Wenn Europa sich gegen einen immer stärker werdenden politischen, frauenfeindlichen Islam erwehren will, dann geht das nur gemeinsam. In diesem Sinne wünsche ich mir als Verfassungspatriotin und Europäerin mehr europapolitische Weitsicht. Auch glaube ich an Bürgerinitiativen als guten Weg sich in die große Politik einzumischen. Als Beitrag dazu haben wir im Juni 2017 die Europäische Bürgerinitiative StopExtremism gegründet, die in Brüssel angenommen und registriert wurde. Im Juni 2018 können wir sagen, dass wir knapp 1,8 Unterschriften gesammelt haben. Eine Million hätten wir sammeln müssen, um als NGO anerkannt zu werden. Auch das ist ein Stück Verfassungspatriotismus, der Europa gut tut. Ob und in welchem Zustand wir Europa für die nächsten Generationen zurücklassen liegt in unserer Verantwortung. Jetzt!
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WIDERSTAND DER VERNUNFT SUSAN NEIMAN Ich rede heute nicht über Fake News. Auch nicht über rüssische Bots, und möglichst wenig über den Bewohner des Weißen Hauses, der von 65% seiner Landsleute so verhasst ist, dass wir Namen für ihn erfinden, damit wir seinen Namen nicht aussprechen müssen. Den Narzissmus eines Mannes, der seinen Namen auf Flugzeuge und Steaks platziert, möchte ich nicht bedienen. Ich werde auch nicht über Populismus reden – einen Begriff, der kaum definierbar ist – auch wenn ich mir Sorgen über den Bundestagswahlen morgen mache. Die Themen haben wir seit spätestens dem Brexit xmal diskutiert. Ich weiß natürlich nicht, wer Sie sind, darf aber davon ausgehen, dass Sie weder glauben, dass Hillary Clinton während des Wahlkampfs ein Kinderpornoring aus einer Pizzeria betrieb, noch dass Brexit dem britischen Gesundheitssystem 350 Millionen Pfund jede Woche bescheren wird. Wir sind fortschrittlich, aufgeklärte Menschen, sonst wären wir nicht auf so eine Veranstaltung. - Sind es aber nicht solche Kreisen, die überhaupt nicht mehr an Fortschritt glauben, weil sie es mit unbegrenztem neoliberalem Wachstum verwechseln? Sind es nicht solche Kreisen, die die Aufklärung nicht nur als überholt betrachten, sondern als Quelle für Eurozentrismus und Kolonialismus? Es ist äußerst bequem, verlorenen Menschen wie Welch die Schuld für Trumps Wahlsieg zu geben. Menschen wie Sie und ich sind dann daran unschuldig. Dennoch machten solche Gestalten nur die Hälfte der Trump-Wähler aus. Die Daten sind deutlich. Die Ärmsten haben für Clinton gestimmt, während die Hälfte aller Trump-Wähler Jahreseinkommen über $100,000.00 hatten. Auch der Bildungshintergrund spielte dabei keine wesentliche Rolle: Unter weißen Wählern mit Hochschulabschluss haben 49 Prozent für Trump gestimmt; 45 Prozent stimmten für Clinton; die übrigen sechs Prozent haben ihre Stimme für eine hoffnungslose Partei vertan. Auch in Deutschland ist es ein Mythos, dass die AfD-Anhänger zu den Globalisierungsverlierern gehören. Auch wenn wenige von ihnen das Lebensniveau von Alexander Gauland genießen, gehören die meisten ihrer Unterstützer nicht zum Prekariat. Selbst seine Kritiker vergessen oft, wie der Neoliberalismus auf den Ruinen des Staatssozialismus aufgebaut wurde. Letzterer ist genauso wenig die einzig mögliche Form des Sozialismus, wie der Neoliberalismus alle Möglichkeiten des Kapitalismus ausschöpft. Um Alternativformen formulieren zu können, brauchen wir gerechtere Geschichtsbilder. Sie fangen bei der Erkenntnis an, dass die DDR nicht auf die Stasi reduziert werden kann. Mir liegt es fern, die Stasi zu rechtfertigen, auch wenn ich weiß, dass ihre Methoden von der heutigen Überwachung durch Wirtschaft und
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Politik, wie Edward Snowden bewies, an Effizienz reichlich übertroffen werden. Aber auch Snowdens glühendste Anhänger kommen nicht auf die Idee, die Gesamtkultur der USA auf die NSA zu beschränken. Kein Leser dieser Zeilen wäre auf die Idee gekommen, dass Hillary Clinton einen Kinderporno-Ring in einem Pizza-Restaurant betrieb. Doch insofern wir unsere historischen Kenntnisse aus den etablierten Medien nehmen, lassen wir uns täuschen: dass Ronald Reagan ein wohlgesonnener, wenn auch nicht besonders kluger Weltpolitiker war; oder dass die DDR dem Nazi-Staat glich, in der außer ein paar Oppositioneller nur ängstliche Schafe oder garstige Kollaborateure lebten. Zweifelsohne muss das Versagen des realen, nicht mehr existierenden Sozialismus benannt und vor allem analysiert werden. Doch jede Analyse könnte auch daran erinnern, dass das Jahr 1989 nicht nur das Ende der Berliner Mauer brachte, sondern den Anfang eines Kapitalismus, der in Abwesenheit jedes Gegenbildes zunehmend alle Werte auf Marktwerte reduzierte. Ich bin keine Freundin des leninistischen Prinzips, wonach alles erstmal zum Schlimmsten kommen muss, bevor es besser wird. Deshalb habe ich, nach der Unterstützung des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders in den Vorwahlen, Hillary Clinton gewählt. Doch jetzt, wo es zum Schlimmsten gekommen ist, könnte man meinen, dass auch Lenin gelegentlich Recht hatte. Denn Trumps Wahlsieg könnte bereits ein Umdenken befördert haben: Er zeigt nicht nur das nackte Gesicht des ungezügelten Kapitalismus, sondern eine Reihe von Ideen, die nicht nur aus rechten Ecken kommen. Rechtsradikalen greifen zu Waffen, wenn sie die Wahrheit traditioneller Quellen anzweifeln. Linksliberale greifen zur Theorie. Um Widerstand gegen Rechts sinnvoll zu leisten, müssen wir uns zunächst von postfaktischen Theorien befreien. Wer zu oft Fälschungen liest – sei es über Pornoringe, Massenvernichtungswaffen oder dergleichen - dem sei verziehen, wenn er die Suche nach Wahrheiten aufgibt. Doch die Erfahrung, öfters angelogen zu sein, reicht nicht aus, um Begriffe der Wahrheit anzuzweifeln. Dafür braucht man theoretische Unterstützung: aus postmodernen Theorien, begleitet von ihren scheinbaren Gegnern aus der Evolutionsbiologie und der neoliberalistische Wirtschaftswissenschaft. Bei allen Unterschieden setzen sie alle eine Metaphysik des Misstrauens voraus: Hinter jeder Behauptung steht ein verborgener Machtanspruch, hinter jedem vermeintlichen Ideal eine Interesse. Als Paradebeispiel gilt der Irakkrieg. Hinter inflationärer Rhetorik über Gut, Böse und Demokratie stand die Lust auf Regionalherrschaft und Öl – sowie eine willkommene Ablenkung von einer Präsidentschaft, die 2002 als die schlimmste der amerikanischen Geschichte galt. Für viele war dieser Krieg nun der letzte Beweis, dass jeder Versuch, Bösem entgegenzutreten, und jeder Versuch, Gerechtigkeit zu fördern, nichts
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anderes als Heuchelei sei, der zynische Versuch einer Gruppe, ihre Interessen mit moralischer Rhetorik zu verschleiern. Demnach liegt es in der Natur des Menschen: Jeder handelt, um seine Interessen durchzusetzen, seinen Freunden zu helfen, seinen Feinden zu schaden. In den Wörtern des Nazi-Juristen, der zum Lieblingsdenker vieler Linksintellektueller geworden ist: Wer Menschheit sagt, will betrügen. Jede Generation stellt diese Haltung als etwas Neues, gar Radikales dar. In der Tat ist sie spätestens seit Platon, der sie in seinem großen Werk Der Staat erwiderte, vorhanden. In den letzten Jahrzehnten war Michel Foucault ihr wichtigster Vertreter. Der formulierte so: Ist Macht nicht schlicht eine Form der kriegsähnlichen Herrschaft? Sollte man nicht daher alle Probleme der Macht als Kriegsverhältnisse begreifen? Ist Macht nicht eine Art von verallgemeinertem Krieg, der in bestimmten Augenblicken die Form des Friedens und des Staates annimmt? Der Frieden wäre dann eine Form des Krieges und der Staat ein Mittel, ihn zu führen. Ein Grundkurs in Logik hätte uns viel Wirrwarr erspart. Aus der Tatsache, dass einige Menschen blaue Augen haben, kann man nicht schließen, dass es keine anderen Augenfarben gibt. Aus der Tatsache, dass einige Moralansprüche verborgene Machtansprüche sind, kann man nicht schließen, dass jeder Anspruch, für das Gemeinwohl zu handeln, einen Machtanspruch verschleiert. Aber Logik ist selten die Stärke von Denkern, die oft so verdunkelt schreiben, dass sie an Nietzsches Spruch erinnern: Sie trüben das Gewässer, damit es tief erscheint. Weil Foucaults Nachfolger meist noch undurchdringlicher sind, wäre es töricht zu behaupten, dass jeder politisch interessierte Mensch ein Kenner der neuesten Theorien sei. Doch wir alle sind Mitgefangene unserer Zeit, und selbst diejenige, die nicht studiert haben, schwimmen in den Ideologien, die vorhanden sind. Wie Breitbart News es ausdruckt: „Politik steht stromab von der Kultur.“ In einem bekannten Aufsatz in Foreign Affairs hat der Kulturtheoretiker Stanley Fish Grundkenntnisse eines Wissenstransfer ganz abgelehnt: Abstraktes Denken wie der Postmodernismus ist nicht die Ursache schlechter Handlung. (Es ist auch keine Ursache guter Handlung; es verursacht gar keine Handlung.) Nun haben Philosophen seit Jahrhunderten über die Beziehungen zwischen Denken und Handeln gestritten, aber auch ohne ihre Argumente zu studieren ist es klar: Ihre Gedanken über das Mögliche bestimmen die Rahmen, in denen Sie handeln. Sollten Sie meinen, es sei unmöglich, Wahrheit von Narrativ zu unterscheiden, werden Sie es auch nicht versuchen. Sollten Sie meinen, Menschen können nur nach Eigenbzw. Stammesinteressen handeln, werden Sie sich nicht scheuen, das Gleiche zu tun. 33
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Fish fährt fort: Von den geduldigen und sorgfältigen Diskussionen schwieriger Probleme, die den postmodernen Diskurs kennzeichnet, sind Trumps Rede- und Denkweisen meilenweit entfernt. Weil er kein Rezept für politische Handlung, sondern ein Gespräch mit anderen philosophischen Theorien ist, hat der Postmodernismus keine Kausalbeziehung zum Sieg Donald Trumps. Natürlich haben weder Trump noch die Journalisten, die über ihn berichten, ausreichende Geduld und Sorgfalt, um mit komplexen philosophischen Theorien umzugehen. Wie jeder erfahrene Autor wissen müsste, nehmen die meisten Leser oft nur die einfachste Version der Gedanken des Autors mit. Doch die Philosophie ist nicht nur dazu da, um Gespräche mit anderen Philosophen zu führen. Sie kann uns alle dazu bringen, die Annahmen zu entdecken, die unsere Meinungen untermauern. Dabei zeigt sie uns ungeahnte alternative Möglichkeiten. „Sei doch realistisch“ klingt harmlos, beinahe banal, doch dahinter liegt eine Metaphysik, die viele Politik bestimmt. Sie verbirgt eine Reihe von Voraussetzungen: Was ist denn wirklich, was Fantasie, was unmöglich, was unvorstellbar? Übersetzt heißt der Ratschlag, realistisch zu sein, ungefähr so viel wie: Schraube Deine Erwartungen herunter. Wenn Sie solchen Ratschlägen folgen, wie stellen Sie sich die Wirklichkeit vor? Seit 1989 haben eine Reihe philosophischer Vorstellungen die Oberhand gewonnen. Der Neoliberalismus verbreitet die Idee – ohne sie explizit zu vertreten - , dass die einzige echte Werte Marktwerte sind. Die Evolutionsbiologie will dies mit unbeweisbaren wissenschaftlichen Formulierungen untermauern: Auch unsere Urahnen und sogar unsere Gene handeln angeblich nur mit dem Ziel, sich selbst weiter zu vermehren. Gemeinsam haben beide Disziplinen die Annahme, dass Wahrheitsansprüche immer Machtansprüche sind. Wenn es überhaupt Fakten gibt, sind es Fakten über Domination. Nun habe ich nur ein Mensch erlebt, der tatsächlich so handelt. Donald Trump verkörpert alle drei Theorien: seine Wahrheitsansprüche sind nur Machtansprüche, seine Werte sind nur materielle Werte, und es scheint in seiner Natur zu liegen, so zu handeln, um möglichst viele Kopien seiner selbst – oder wenigstens seines Namen – zu reproduzieren. Aber die Theorien, die diesen eigenartigen Mensch beschreiben, können glücklicherweise nicht auf die ganze Menschheit übertragen. Die Verbreitung solcher Ideologien, meist in vereinfachter Form, bemerken wir kaum, weil sie als Selbstverständlichkeiten geäußert werden. Da sie nur halbbewusst weitergetragen werden, verbreiten sie größtmögliche Unsicherheit. Wer nur gelernt hat, jedem Wahrheitsanspruch mit Misstrauen zu begegnen, dem wird es schwerfallen, eine Lüge als solche zu erkennen.
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Die Rechten wissen die Unsicherheit ihrer Gegner auszunutzen. Darwin hat ein Narrativ angeboten, die Bibel ein anderes; wer soll schon entscheiden, welches Narrativ das stärkere ist? 99 Prozent der Klimaforscher sind der Meinung, dass unser Energieverbrauch das Klima verändert; wer sagt denn schon, dass die Meinung der Mehrheit von Experten die richtige ist? Der Verleger Andrew Breitbart erklärt seine Strategie: Im 21.Jahrhundert sind die Medien alles. Die Liberalen gewinnen, weil sie das Narrativ bestimmen. Die Medien bestimmen das Narrativ. Narrativ ist alles. Ich bin im Krieg, um das amerikanisches Narrativ zurückzugewinnen. Sein etwas sanftmütigerer Kollege, der erfolgreiche rechtsradikale Website-Betreiber Mike Czernowitz, erklärte der Zeitschrift The New Yorker: Sehen Sie, ich habe die postmoderne Theorie an der Uni gelesen. Wenn alles ein Narrativ ist, brauchen wir Alternativen zu den herrschenden Narrativen.“Er lächelt. „Ich sehe nicht aus wie ein Typ, der französische Theoretiker wie Lacan liest, oder? Linke Theoretiker unserer Zeit haben nur verdeutlicht, was schon bei Marx problematisch war. In meinem Buch "Moralische Klarheit" habe ich gezeigt, wie Marx‘ Materialismus zum Fall der Sozialdemokratie geworden ist. Gelähmt haben uns nicht nur die Brutalität der Praxis, die marxistische Regierungen oft begleitet, sondern auch die Widersprüche der marxistischen Theorie selbst. Der Marxismus bezog seine Anziehungskraft aus dem Anspruch, moralische Gerechtigkeitsideale zu verwirklichen, welche die Aufklärung zwar formuliert, aber nicht zu Ende gedacht hatte. Dank Marx haben wir verstanden, dass die Meinungsfreiheit eines Zeitschriftenverlegers etwas anderes ist als die Meinungsfreiheit eines Protestlers, der ein Plakat auf der Straße hochhält. Ursprünglich war das keine Kritik an den Idealen selbst, sondern an deren mangelnder Erfüllung. Es war eine wichtige, fortschrittliche Kritik. Die Ideale, die marxistische Bewegungen beflügelten, wurden jedoch von einer Metaphysik ausgehöhlt, die bei den Sophisten aus der griechischen Antike stehengeblieben ist, auch wenn sie immer wieder in Mode kommt. Für Marxisten sind Ideale nichts als Ideologien, Rationalisierungen ohne wirkliche Basis. Ob Philosophie, Kunst oder Religion, alle verfolgten nur einen Zweck: die realen (sprich ökonomischen) Verhältnisse zu verschleiern, die wirklich unser Leben bestimmen. Die grundsätzliche Dissonanz zwischen Ton und Inhalt sticht ins Herz von Marx‘ Theorie. Mit großartiger Prosa bewegt er die Gemüter mit Idealen der Gerechtigkeit – kurz bevor er Ideale und Gerechtigkeit zum Überbau erklärt. Hinweise auf
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Unterschiede zwischen den frühen und den späten Schriften bieten keinen Ausweg aus diesem Dilemma; die Kluft zwischen Ton und Inhalt lässt sich nicht verbergen. Auch diejenigen, die nicht dazu geneigt sind, spitzfindige Textanalysen zu betreiben, spüren es in den Knochen. Marxisten sind heute die meisten – manche Konservative noch mehr als andere. In diesem Sinn ist nämlich jeder marxistisch, der glaubt, dass das Fressen die Moral bzw. die Politik bestimmt. Chronologisch gesehen hat Brecht ja Recht; wer hungert und friert, wird kaum die Möglichkeit haben, auf andere Ideen zu kommen. Von dieser Erkenntnis bis zu der Meinung, dass Geld immer die Vernunft besiegen wird, ist es ein großer Schritt, der öfter unternommen wird, als uns bewusst ist. Gewinn und Verlust sind messbar. Wenn nur das Messbare zählt, ist es kein Wunder, dass Außenpolitik als Deal verstanden wird, in dem Loyalität, Bündnistreue, ja, Prinzipien überhaupt keine Rolle spielen. Alles wird an einer Latte gemessen: Bringt es mir und meinem Stamm, meinem Land, meinem Volk Gewinn? In den letzten Jahrzehnten haben viele gegen dieses Weltbild protestiert. Leider sind die Erfolgreichsten dabei nicht die Occupy-Bewegung, sondern die Fundamentalisten und Nationalisten, die immer mehr Menschen in ihren Bann ziehen. Es ist grundlegend falsch, ihren Protest als Protest der Verlierer der Globalisierung zu verstehen. Mehr Gewinn würde sie nicht zufriedenstellen. Etliche empirische Studien zeigen, dass Dschihadisten oft zu den Produktivsten und Gebildetsten ihrer Länder gehören. Ein größeres Stück vom Kuchen wird ihnen nicht genügen; den Teller selbst lehnen sie ab. Die jungen Frauen, die ihre Köpfe bedecken, wollen nicht zu einer Welt gehören, wo Frauenkörper wie Waren behandelt werden. Die jungen Nationalisten, die auf ihre ethnische Identität pochen, wollen nicht in einer Welt leben, wo jede Großstadt der Welt wie jede andere aussieht, weil multinationale Konzerne allerorten die Straßen beherrschen. Dies ist kein Freibrief für die Exzesse der Menschen, die stur auf die Vorherrschaft ihrer Religions- oder ihrer Stammesgenossen pauken. Doch denjenigen, die dagegen handeln wollen, wird es nicht gelingen, wenn sie die Wurzeln der Probleme nicht verstehen – und verstehen, was wir dazu beigetragen haben. Wer sind wir? Das sind alle, die nicht klar genug erkannt haben, dass es zum Stammesdenken nur eine Alternative gibt: den Universalismus. Leider hat der Begriff gerade unter linksstehenden Intellektuellen einen schlechten Ruf bekommen. Universalismus gilt als ideologischer Musterbegriff für Machtansprüche, mit denen partikuläre Interessen verteidigt wurden. So waren es Linksliberale, vor allem in der US-Bürgerrechtsbewegung, die die Identitätspolitik erfunden haben, eine Politik, die der reaktionäre Nationalismus eines Carl Schmitt widerspiegelt.
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Wer glaubt, dass Wahrheit nur Macht ist, dass Ideale nur Interessen verschleiern, wird schnell zu dem Schluss kommen, dass lediglich die Interessen des eigenen Stammes zählen. Diese Entwicklung ist besonders tragisch, weil die frühen Bürgerrechts- und Antikolonialismus-Bewegungen entschlossen gegen jede Form von Stammesdenken eingetreten sind. Ihre Stärke wurde ausgedrückt in Liedern, die behaupteten: „Alle Menschen sind Sklaven, bis ihre Brüder befreit sind.“ Statt Geschichte zum Narrativ zu erklären, hätte der Postkolonialismus die Geschichte erweitern können. Es ist einfach wahr, dass viele Nicht-Europäer – die oft reichhaltigen und komplexen Kulturen entstammten und von den Europäern hätten lernen können – für europäische Gewinnmaximierung missbraucht und ermordet wurden. Die Europäer reisten, um Jean-Jacques Rousseau von 1754 zu zitieren: “nicht um ihre Köpfe, sondern ihre Taschen zu füllen“. Aber auch diese Wahrheiten drohen zu schwinden, wenn der Begriff der Wahrheit auf Macht reduziert wird. Wieder haben die Rechten dies früh erkannt. Identitätspolitik ist ein gefährliches Spiel. Wenn die Ansprüche der Minderheiten nicht als Menschenrechte, sondern als die Rechte bestimmter Gruppen anerkannt werden, was hindert die Mehrheiten daran, auf ihre eigenen (Stammes-)Rechte zu pochen? Solche Fragen waren während der Trump-Wahl zu hören, und in den letzten Jahren haben sogenannte Identitäre Bewegungen in Österreich, Frankreich und nun auch in Deutschland Fuß gefasst. Sie geben sich bewusst scheinbar harmlos: Wenn andere für die Rechte ihre Gruppen kämpfen, warum sollen weiße Europäer nicht auch die Möglichkeit haben, gegen den verhassten Multikulturalismus aufzustehen? Kurz nach der Trump-Wahl lief eine Debatte in Amerika, die zum Teil auch auf Deutsch übermittelt wurde: Welche Verantwortung trägt eine liberale Unterstützung der Identitätspolitik? Haben scheinbar nebensächliche Fragen etwa der Diskriminierung weiße Wähler entfremdet, die wegen ihrer wirtschaftlichen Sorgen dann Trump unterstützten? Diese Frage ist falsch formuliert. Morde an unbewaffneten Afroamerikanern, die zur Black Lives Matter-Bewegung führten, sind keine Nebensache, sondern Verbrechen, und Gewalt gegen Frauen, Schwule und Lesben sind es genauso. Doch wenn diejenigen, die dagegen protestierten, in ihrem eigenen Stammesdenken verhaften, haben sie keine Möglichkeit zu argumentieren, dass solche Verbrechen zur universellen Entrüstung führen müssen. Wenn nur Stammesinteressen als natürlich gelten, gibt es keine Basis für eine wirksame universelle Entrüstung. Ihre Argumente werden partikulär formuliert, gestützt auf Machtbegriffe, denn heute sehen diese nach festem Boden aus. Nach Hannah Arendt hätte Adolf Eichmann nicht für Verbrechen gegen das jüdische Volk angeklagt werden sollen, sondern für Verbrechen gegen die Menschheit.
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Sie hatte Recht. Meine Unterstützung für Black Lives Matter entstammt weder meiner Stammeszugehörigkeit noch bestimmter Schulden meiner Ahnen, die keine Sklavenhalter, sondern arme Ostjuden waren und Anfang des 20. Jahrhunderts nach Chicago auswanderten. Ich unterstütze die Bewegung, weil das Erschießen unbewaffneter Menschen ein Verbrechen gegen die Menschheit ist. Und gleichzeitig distanziere ich mich von der weißen Gegenbewegung, die Parolen wie All Lives Matter schreit, weil sie versucht, mit einer banalen Wahrheit von einer wichtigen empirischen Wahrheit abzulenken: Afroamerikaner sind ungleich öfter als andere von Polizeigewalt bedroht. Doch um dies festzustellen, muss man an einem Wahrheitsbegriff festhalten. Widerstand findet nicht nur auf der Straße statt. Neben großen Demonstrationen gibt es vielfältige Formen, die meist auf lokaler Ebene realisiert werden. 300 Städte, darunter New York, Chicago und Los Angeles, haben sich zu Zufluchtsorten erklärt und darüber hinaus Gelder bereitgestellt, um Immigranten vor Deportationen zu schützen. (Allerdings gibt es vielerorts ein Kampf zwischen den Bundesstaaten und den liberalen Städten. Noch ist nicht klar, wer die Oberhand gewinnt.) Kalifornien kündigte an, seine Klimagesetze zu stärken, um der erwarteten Schwächung auf Bundesebene entgegenzutreten. Als Reaktion auf Trumps Löschung der Klimadaten auf der Website des Weißen Hauses haben mehrere Nationalparks die Informationen auf Twitter gesetzt, trotz Trumps neuer Verordnung, die BundesmitarbeiterInnen verbietet, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. BürgerInnen mehrerer Bundesstaaten suchten die Büros ihrer Kongressabgeordneten mit der Forderung auf, Obamas Gesundheitsreform beizubehalten. Liberale Gruppen beraten sich, was sie aus den Strategien der Tea Parties lernen können. Während Protestler auf Flughäfen demonstrierten, wo Flüchtlinge mit gültigen Papieren abgewiesen werden sollten, haben auch Republikanische Senatoren formuliert, dass ein generelles Einreiseverbot für Flüchtlinge unamerikanisch sei. Schließlich ist der Willkommensgruß auf der Freiheitsstatue im New Yorker Hafen in Stein gemeißelt. Solche Strategien sind wichtig, sie werden weiterentwickelt – und sie betreffen als lokale Strategien zunächst die USA. Die Europäer müssen ihre eigenen Strategien entwickeln, um die Rechtsnationalisten zu bekämpfen, und auf ihre regionalen Bedingungen hin anpassen. Was sind aber die allgemeinen Prinzipien dabei, die eine jede Strategie untermauern müssen? Geschichtsvergessenheit zeigt sich auch in der Geistesgeschichte. Nichts wäre schädlicher, als dem Ruf jener Denker zu folgen, wonach Brexit und Trump beweisen, dass die Zeiten der Aufklärung und Vernunft (schon wieder) endlich vorbei sind. Sie geben der Aufklärung die Verantwortung für ein Bild der Vernunft, die aus reiner ökonomischer Zweckrationalität besteht. Der Begriff des Homo
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oeconomicus wurde aber erst ein Jahrhundert nach der Aufklärung entworfen und im Kalten Krieg weiterentwickelt. Verhaltensökonomiker wie der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann haben längst bewiesen, wie oft Menschen nicht handeln, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu maximieren; sie werden oft von anderen Motiven geleitet. Daraus könnte man schließen, dass Menschen irrational sind. Oder man könnte sich dazu entscheiden, den Vernunftbegriff zu überprüfen. Bereits die Aufklärung entwarf aber einen anderen Vernunftbegriff. Vernunft verstand sie als die Fähigkeit, sich an universellen Werten zu orientieren, vor allem an Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Werte sind in Afrika und Asien wie auch in Europa vorhanden. Der Vorwurf des Eurozentrismus wurde schließlich von Aufklärern erfunden, die immer wieder betonten, wie viel Europäer von anderen Kulturen zu lernen hätten. Dies taten sie oft unter erheblichen Gefahren. 1723 musste zum Beispiel der deutsche Philosoph Christian Wolff zwischen Tod und Exil wählen, weil er öffentlich lehrte, dass die Chinesen kein Christentum brauchten, um Moral zu haben. Die Vernunft stellt sich auch nicht, wie die Romantiker beklagen, gegen die Natur, sondern es ist die Vernunft, welche die angebliche Natürlichkeit gewisser Zustände in Frage stellen kann. Überlegen Sie sich, wie oft Sklaverei, Folter, Armut und Frauenunterdrückung als natürlich dargestellt wurden, um ihre Unabänderlichkeit zu unterstreichen. Vor allem stellt sich die Vernunft gegen eine Obrigkeit, die ihre Macht verteidigt, indem sie das Recht auf Denken einer kleinen Elite vorbehält. Damals war die Elite eine Aristokratie, die eng mit der Kirche verbunden war. Heute besteht sie aus neoliberale Wirtschaftsberater, die die angebliche Natürlichkeit ihrer Ideologie mit evolutionäre Biologie untermauern. Die Aufklärer waren sich immer bewusst, dass die Vernunft auch Grenzen hat; sie waren nur nicht bereit, der Obrigkeit die Festlegung der Grenzen zu überlassen. Ein gewisses Maß an Zweckrationalität ist bei einem solchen Vernunftbegriff gefordert, auch Begriffe der Logik; sie reichen aber bei Weitem nicht aus. Kern der Vernunft ist das Prinzip des zureichenden Grundes, nicht als Feststellung, sondern als Forderung: Finde für alles, was geschieht, den Grund, warum es so und nicht anders ist. Vieles taugt als Grund, aber anderes eben nicht: „So ist ja die Welt.“ oder „Man hat es mir gesagt.“ Die Fähigkeit, Gründe für das Gegebene zu suchen, ist die Grundlage aller wissenschaftlichen Forschung und sozialer Gerechtigkeit. Jedes Kind folgt dem Prinzip des zureichenden Grundes, wenn es fragt, warum der Regen fällt, und nicht loslässt, bis die Erwachsenen jene Gründe erklären, die dazu führen – oder dem Kind sagen, es soll aufhören, so viele Fragen zu stellen. Aber jedes Kind wird auch neugierig, wenn es zum ersten Mal einen Obdachlosen oder ein syrisches Kind im Fernsehen sieht. Warum hat der Mann keinen Schlafplatz? Warum hat das Kind kein Zuhause? 39
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Wer ernsthaft versucht, dem Kind eine Antwort zu geben, wird vom Erklären zum Handeln geleitet. So verstanden, wird die Vernunft weder auf Technik beschränkt noch gegen die Leidenschaft ausgespielt. Die Gesellschaft für deutsche Sprache definiert ‚postfaktisch’ als die Bereitschaft, Tatsachen zu ignorieren, und verweist darauf, „dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht“. Diese Erklärung verrät einen binären Gegensatz zwischen Fakten und Gefühlen, in dem beide zu kurz kommen. Denn Gefühle und Fakten reagieren aufeinander. Es geht nicht darum, auf Emotionen zugunsten von Fakten zu verzichten, sondern sicherzustellen, dass beide im Einklang sind. Politik wird entweder von Ängsten oder von Werten getrieben. Wohin die Politik der Ängste führt, haben wir nun gesehen. Sie hat viele Menschen auch deshalb angezogen, weil westliche Gesellschaften unfähig sind, die eigenen Werte zu definieren und zu verteidigen, eine Aufgabe, die heutzutage selbst von den Konservativen nur zögerlich übernommen wird. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, Menschen das Gefühl zu vermitteln, ihr Leben habe mehr Sinn als nur Konsumgüter anzuhäufen, wird scheitern. Es geht hier um Würde. Wer nicht selber an den Wert der Werte glaubt, wer Appelle auf Werte auch heimlich als Sonntagsreden abtut, kann nicht glaubhaft über Würde sprechen. Damit stellt er die Behauptungen der selbsternannten Realisten auf den Kopf. Natürlich widerstreiten Vernunftideen den Behauptungen der Erfahrung. Dazu sind Ideen ja da. Ideale sind nicht daran messbar, ob sie der Realität entsprechen; die Realität wird danach beurteilt, inwieweit sie den Idealen gerecht wird. Aufgabe der Vernunft ist es sicherzustellen, dass die Erfahrung nicht das letzte Wort hat – und die Vernunft soll uns dazu antreiben, den Horizont unserer Erfahrung zu erweitern, indem sie uns Ideen liefert, denen die Erfahrung gehorchen soll. Wenn viele von uns es tun, wird es auch so sein. Die Welt wird verändert, wenn bestimmte Ideen als normal durchgesetzt werden. Ein vergessenes Beispiel: Während des Vietnamkrieges war der einfachste Weg, der Wehrpflicht zu entgehen, jedem bekannt. Man musste sich nur als Schwuler inszenieren, denn erst seit Obama dürfen Schwule und Lesben dem Militär offiziell dienen. Nun kannte ich damals Männer, die nach Kanada flohen; Männer, die in den Knast gingen; selbst Männer, die sogar nach Vietnam fuhren. Unter diesen Männern, die sich allesamt als linke Kriegsgegner verstanden, kannte ich aber keinen, der bereit war, auch nur eine halbe Stunde lang den Schwulen zu spielen, obwohl in durchgerauchten Nächten oft Witze darüber gemacht wurden. Alle hatten Angst vor Gerüchten, die entstehen könnten: ‚Er hat es nicht nur gespielt, er ist ja wirklich schwul!’
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Heute leben wir in einer Welt, in der gleichgeschlechtliche Ehen sogar in konservativen Ländern wie Spanien, Irland und den USA gefeiert werden, und eine CDU-Kanzlerin Donald Trump wegen seiner Diskriminierung sexueller Orientierungen ermahnt. Freilich hat die überraschend breite Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Liebe auch dunkle Seiten. Neoliberale können sich als liberal präsentieren, wenn sie nur niemanden aufgrund bestimmter Zugehörigkeiten herabsetzen; grundsätzlich müssen sie nichts ändern. Dennoch ist die Gleichbehandlung von Lesben und Schwulen ein Fortschritt, der vor einer Generation unvorstellbar war. Glauben Sie immer noch, dass Ideen wie Gerechtigkeit die Welt nicht ändern können? Demokratie braucht Bürger, die in der Lage sind, ihre Wörter zu reflektieren. Wir schlucken oft Phrasen, ohne uns über deren Bedeutung bewusst zu werden. Mit Phrasen wie „Verantwortung gegenüber unseren Aktionären“ verkleidet der Neoliberalismus seinen Grundsatz Gewinn über alles in schönen, moralischen Farben; wer will schon gegen „Verantwortung“ klagen? Der wohlgemeinte Ruf nach Toleranz ignoriert die Tatsache, dass man im Alltag nur das toleriert, was man nicht mag, sondern vielmehr das, wogegen man nichts tun kann: Schmerzen, Lärm, Gestank. Ein Rechtsnationalist, der zur Toleranz ermahnt wird, wird nur an seine Machtlosigkeit erinnert. Viel stärker wirkt ein Appell an die Solidarität, mit einem Hinweis auf die Bereicherungen, die entstehen, wenn mehrere Kulturen zusammenkommen. Es ist bezeichnend, dass die Nationalisten in Städten, wo täglich mehrere Kulturen miteinander leben, die Minderheit stellen. Selbst in Ländern, wo die Anzahl der Rechtsnationalisten wächst, werden Großstädte wie London, Paris oder Rotterdam von Bürgermeistern ausländischer Herkunft regiert. Dies muss nicht zur Einheitskultur führen. Im Gegenteil: Wenn man andere Kulturen nicht nur toleriert, sondern genießt, wird es leichter, auch die eigene Kultur zu schätzen. Solidarität mit anderen Kulturen darf aber nicht nur ein Appell bleiben, sondern muss auch feste Unterstützung mit einschließen. Europa kann ein Beispiel dafür geben, wie kulturelle Vielfalt mit politischer Einheit zusammenkommt – nämlich dann, wenn Europa seine eigenen Ideale (wieder-) entdecken würde. Für viele Europäer ist Europa heute nur ein Binnenmarkt, betrieben von einer Bürokratie in Brüssel, die selbst wiederum von der neoliberalen Wirtschaft bestimmt wird. Zu einer Zeit, wo täglich über das Ende der EU spekuliert wird, kann es tollkühn erscheinen, Europa zu preisen. Doch Außenseiter sehen manches deutlicher als die Europäer selbst. Für sie bleibt Europa trotz aller Schwierigkeiten nicht nur ein Ort, wo hundertjährige Kriege durch friedliche Verhandlungen ersetzt wurden, sondern auch ein Ort, wo die Ideale einer sozialen Solidarität lebendig praktiziert werden; wo medizinische Versorgung, Wohnen und Bildung nicht nur als Güter, sondern als Rechte verstanden werden. Für Menschen
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von Dakar bis Dallas ist Europa ein Ort, wo Rechtsstaatlichkeit in hohem Maß herrscht und Gleichheit vor dem Gesetz anerkannt wird. Jeder, der Zeitung liest, weiß aber auch, wie oft Europa seine eigenen Ideale verletzt. Es liegt an den Bürgern Europas selbst, darauf zu bestehen, dass Europa seinen besten Qualitäten treu bleibt. Zunächst müssen die Bürger erkennen, dass kein anderer Ort der Welt so viel für demokratische, ja, sozialdemokratische Werte tut wie dieses oft so beschimpfte Europa. Identitäten werden auf Traditionen aufgebaut, die von Musik über Feste bis hin zu Idealen reichen. Europa darf nicht mehr verstanden werden als etwas, das wir nur ertragen, sondern als etwas, das wir aktiv anstreben. Vor zwei Jahren kritisierte mich ein Politiker der Grünen, als ich behauptete, Europa sei ein Bollwerk der Demokratie gegen Russland auf der einen Seite und den USA auf der anderen – wobei ich erklärte, dass der uneingeschränkte Einfluss des Geldes auf die amerikanische Politik dabei sei, die Demokratie zu unterhöhlen. Der Politiker ermahnte mich, ich solle nicht die Verhältnisse in Russland mit denen in den USA vergleichen. Heute, vermute ich, würde er anders reagieren. Wird Trump begleitet von Putin, Erdogan, Modi et al - Europa dazu bringen, seine eigenen Tugenden neu schätzen zu lernen, und auch viele Europäer dazu bewegen, sich zivilgesellschaftlich dafür zu engagieren? Dies bleibt nicht nur für Europa die beste Hoffnung, die wir haben. Ideale werden mit Sprache ausgedrückt; wir haben kein anderes Mittel. Wer seine Sprache überprüft, wird auch lernen, die theoretischen Annahmen zu prüfen, die dahinterstehen. Der postmoderne Glauben, dass Ansprüche auf Wahrheit und Gerechtigkeit reine Machtansprüche seien, durchseucht unseren Alltagsdiskurs. Überlegen Sie sich, wann Sie die Meinung ausdrücken, dass Wahrheit und Gerechtigkeit nur Fragen der Perspektive sind. Ein Professor, der solche Meinungen seiner Studierenden nicht mehr hören konnte, begann ein Experiment: Er gab den besten Aufsätzen die schlechtesten Noten, und umgekehrt. Nachdem die Studierenden protestierten, dies sei ungerecht, erwiderte er, dass er nach deren eigenen Denkweisen gehandelt habe – Ich weiß nicht, ob die Studierenden nachhaltig überzeugt waren. Mein Lieblingsbeispiel, sozusagen, ist das Opfern von Kleinkindern in den Idolen aus Bronze, die von Verehrern des Götz Moloch gefertigt wurden. Um die Schreie der brennenden Kinder zu übertönen, haben die Priester laut getrommelt. Kann jemand, der solche Szenen vorstellt, wirklich behaupten, es sei nur eine Frage der Kulturperspektive? Konkrete Beispiele der Grausamkeit zeigen, dass wir tatsächlich an Wahrheit und Gerechtigkeit glauben sollten. Was hindert Sie daran, Ihre Theorien mit der Wirklichkeit zu konfrontieren?
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Ich schreibe in einer Zeit, wo nichts einfacher wäre, als mich dem Geschichtspessimismus anzuschließen. Dem widerstrebe ich, doch nicht, weil ich Optimistin bin. Optimismus ist eine Verkennung der Tatsachen; nur die Hoffnung zielt darauf, Tatsachen zu ändern. Hoffnung als Ideal zu verstehen, bedeutet, dass sie nicht einfach gegeben ist, sondern errungen werden muss. Wenn unsere Fähigkeit zum Guten so ausgeprägt ist wie die Fähigkeit zum Bösen, warum zieht uns dann letztere an? Pessimismus ist in Mode. Früher waren es die Konservativen, die den fortschreitenden Untergang der Welt betonten, und das war konsequent. Heute sind auch Menschen, die zum sogenannten fortschrittlichen politischen Lager gehören, nicht mehr bereit, das Wort Fortschritt in den Mund zu nehmen – jedenfalls nicht ohne Gänsefüßchen. Denn der Begriff von Fortschritt, der in vielen Köpfen spukt, wird von den Neoliberalen eingenommen, für die Fortschritt uneingeschränktes ökonomisches und technologisches Wachstum ist. Wenn das unter Fortschritt verstanden wird, wen wundert es dann, dass Fortschritt als etwas Schlechtes betrachtet wird? Doch Zynismus wird auch von den Rechten benutzt, um Resignation zu befördern, damit wir uns nicht weiter bemühen, Fortschritte zu machen. Der Aufklärung ging es um moralischen Fortschritt. Wirtschaftliches und technisches Wachstum können als Mittel zur Bekämpfung von Armut und Krankheit dazu beitragen, galten aber nie als Ziele an sich. Die moralischen Fortschritte, die die Aufklärung brachte, von der Abschaffung der Folter und der Sklaverei bis hin zur Einführung der Ideen von Bürger- und Menschenrechten, sind offensichtlich. Und die Tatsache, dass es heute möglich ist, Menschenrechte zu verletzen und Folter wieder einzuführen, beweist nur eins: Fortschritt ist nicht unvermeidlich, sondern liegt in Menschenhänden. Wir müssen an den Zeichen des Fortschritts festhalten, denn sie sind nicht zum Ausruhen, sondern zum Anfeuern da. Ich vermute, die Angst davor, uns an die guten Nachrichten zu erinnern oder lauthals Ideale zu verkünden, entstammt etwas Primitivem: der Befürchtung, als Naivlinge ausgelacht zu werden. Diese Angst vor Peinlichkeit sollte uns eigentlich peinlich sein, doch wir verhalten uns zu oft wie diejenigen, die sich nicht trauen, auf die Nacktheit des Kaisers hinzuweisen. Nun ist ein Möchtegern-Weltkaiser schon bloßgestellt, und die Stimmen, die aus Amerika hallen, tönen endlich unbefangen. Der Widerstand gegen den Rechtsnationalismus hat dort bereits begonnen. Welche Europäer möchten sich anschließen?
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MENSCHENRECHTE UND LEBENSCHANCEN IN DER GLOBALISIERUNG PETER G. KIRCHSCHLÄGER
1. EINLEITUNG „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ In Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 steckt eine positive Nachricht für alle Menschen weltweit. Denn dies bedeutet, dass allen Menschen Freiheit und Menschenwürde sowie die in den anderen 29 Artikeln festgehaltenen Menschenrechte zukommen – zu immer und überall. Diese Universalität der Menschenrechte kennt auch keine Einschränkung. Alle Menschen haben als Menschen alle Menschenrechte. Das ist eine schlechte Nachricht für Diktatoren. Denn in erster Linie steht der Staat in der Pflicht, unsere Menschenrechte zu respektieren, zu schützen, durchzusetzen und zu realisieren. Er muss beispielsweise sicherstellen, dass unser Menschenrecht, an demokratischen Entscheidungsprozessen teilnehmen zu können, geachtet wird. Menschenrechte bilden damit die Grundlage für Demokratie. Sie garantieren die freie öffentliche Debatte, die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit sowie die demokratischen Rechte. Ohne diese Menschenrechte könnte die Demokratie nicht funktionieren. Zudem wäre Demokratie ohne Menschenrechte nichts Anderes als ein Kampf zwischen Mehrheit und Minderheit. Dieser Mehrheits-Minderheits-Kampf würde auch das Risiko beinhalten, dass Minderheiten diskriminiert werden. Denn es ist immer möglich und vorstellbar, dass Mehrheiten Mehrheitsentscheide erreichen, die Minderheiten in ihren Menschenrechten verletzen. In letzter Konsequenz würde in einem solchen Mehrheits-Minderheits-Kampf sogar die Gefahr bestehen, dass sich die Mehrheit dazu entscheidet, Menschen ihre politischen Mitbestimmungsrechte zu rauben oder sogar die Demokratie abzuschaffen. In diesem Sinne ist es notwendig, dass Demokratie und Menschenrechte Hand in Hand gehen und eine Einheit bilden. Menschen werden also durch die Menschenrechte vor Machtmissbrauch von Staaten geschützt. Sie bewahren uns beispielsweise davor, dass uns der Staat willkürlich bestraft. Damit dieser Schutz wirksam bleibt, braucht es neben den Gerichten im eigenen Land auch noch externe Instanzen, welche die Menschenrechtsperformance des Staates überwachen. Denn es besteht immer die Möglichkeit, dass die eigenen Gerichte ein Unrecht nicht sehen, dass der eigene Staat begangen hat. (Man kennt dies ja auch aus anderen Lebensbereichen, dass externe und unabhängige Sichtweisen eingeholt werden.) Menschenrechte schützen alle Menschen auch gegen Machtmissbrauch und Unrecht von nichtstaatlichen Akteuren. Zu den Menschenrechten aller Menschen korrespondieren Verpflichtungen für staatliche und nichtstaatliche Akteure, die
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Menschenrechte aller Menschen zu achten, zu schützen, durchzusetzen und zu realisieren. Immer wieder werden von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren Versuche unternommen, sich diesen Pflichten zu entziehen, indem sie allen Menschen Menschenrechte absprechen, einer bestimmten Gruppe oder bestimmten Individuen alle Menschenrechte bzw. einzelne Menschenrechte absprechen.
2. ARGUMENTATIONSMUSTER DER EXKLUSION Mit Hilfe eines Fallbeispiels, in dem eine spezifische Bevölkerungsgruppe von einem spezifischen Menschenrecht ausgeschlossen wird, sollen solche Argumentationsmuster der Exklusion freigelegt werden, die in gleicher bzw. ähnlicher Form auch in anderen Kontexten von anderen Akteuren eingesetzt werden (Kirchschläger 2016, 163-185): Das Frauenstimmrecht existiert in der ganzen Schweiz erst seit 1990. Das Frauenstimmrecht wurde zwar am 7. Februar 1971 mit einer knappen ZweiDrittel-Mehrheit angenommen. Es dauerte dann aber noch bis am 25. März 1990, bis in der ganzen Schweiz Schweizerinnen auch als Stimmbürgerinnen anerkannt wurden. Erst ein Urteil des Bundesgerichtes, das einer Klage von Frauen aus Appenzell Innerrhoden Recht gab und die Verfassungswidrigkeit der Innerrhoder Kantonsverfassung in diesem Punkt bestätigte, verlieh Frauen auch im Kanton Appenzell Innerrhoden das Stimmrecht. Am 27. November 1990 kam es dann auf der Basis dieses Bundesgerichtsurteils auch im Kanton Appenzell Innerrhoden – und zwar gegen die Mehrheit der Stimmbürger – zur Einführung des Stimmrechts für Frauen auf kantonaler Ebene, womit auch der letzte Kanton in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt hatte (vgl. NZZ 2011). Damals wurden folgende zehn Argumente gegen das Frauenstimmrecht in unterschiedlicher Kombination und Reihenfolge in den damaligen demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozessen aufgeführt: 1. die Rolle, die für die Frauen als Individuen vom Kollektiv vorgesehen war – nämlich die der Mutter –, würde sich nicht mit der Politik verknüpfen lassen; 2. der Beitrag von Frauen als Individuen zum Kollektiv, im Sinne von: „die Gesellschaft ist auf Frauen ohne Stimmrecht angewiesen, um zu funktionieren, um sich weiterzuentwickeln und um zu überleben“; 3. eine Änderung würde dem, was mehrheitlich in einer Gesellschaft abgelehnt wird und gleichsam „als Böses“ markiert wird, Tür und Tor öffnen – im Falle des Frauenstimmrechts in der Schweiz wurde argumentiert, dass das Frauenstimmrecht den Bolschewismus in die Schweiz bringen würde (vgl. Politthink.ch 2011);
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4. das präsumierte Selbstverständnis der Frauen selbst, im Sinne von: „wenn man die Frauen fragen würde, würden sie selbst gar nicht politisch mitbestimmen wollen“; 5. der Mangel an für die Ausübung dieses Menschenrechts notwendigen Kompetenzen bei Frauen; 6. die eigene Tradition und Kultur, im Sinne von: „das entspricht unserer Tradition und Kultur“ bzw. „das ist unsere Tradition und Kultur“ bzw. „wir sind ein Sonderfall – und das ist gut so und soll auch so bleiben“; 7. die eigene Geschichte, im Sinne von: „das haben wir immer so gemacht“; 8. die eigene Geschichte als Erfolgsmodell, im Sinne von: „wir sind bisher sehr gut gefahren mit diesem Weg“; 9. die eigene Souveränität, im Sinne von: „das ist unsere Sache“; 10. innerer Zusammenhalt gegen Einflüsse von außen: „wir lassen uns da von niemandem hineinreden“.
3. EXKLUSION VON EXKLUSION Ihre Gegenargumente finden sie erstens beispielsweise im Gegenargument der Umkehr der Beweislast. Im Zuge der Umkehr der Beweislast werden „gute Gründe“ – d. h. für alle Menschen nachvollziehbare und annehmbare, im Rahmen eines vorstellbaren Denkmodells und nicht auf dem Wege einer realen Abstimmung Allgemeingültigkeit erlangende bzw. beanspruchende Gründe (vgl. Koller 1990: 75) – vom Gegenüber im Diskurs verlangt, die für die jeweilige Argumentationsfigur sprechen würden. Höchstwahrscheinlich wird es schwierig sein, entsprechende „gute Gründe“ für diese zehn Argumentationsfiguren zu finden. Zweitens schwächt die folgende Beobachtung die Überzeugungskraft der zehn Argumentationsfiguren. Unabhängig davon, ob mit einem Staat über seine
schlechte Menschenrechtsperformance diskutiert wird, ob im Dialog mit einer Religionsgemeinschaft die Diskriminierung von Frauen thematisiert wird oder ob eine weltanschauungsbasierte, menschenrechtswidrige Praxis in einem bestimmten Kontext beim Namen genannt wird: Diese zehn Argumentationsfiguren scheinen religions-, weltanschauungs- und staatenübergreifend in gleicher oder ähnlicher Weise aufzutreten, wenn aus einer Partikularposition heraus der Versuch unternommen wird, allen Menschen, einer bestimmten Gruppe von Menschen oder einzelnen Individuen all ihre Menschenrechte oder einzelne spezifische Menschenrechte abzusprechen. Dabei geht es hier nicht darum, empirisch zu beweisen, dass diese
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zehn Argumentationsfiguren der Exklusion immer und überall in solchen Situationen der Beschränkung und Verneinung von Menschenrechten zum Einsatz kommen. Vielmehr werden die Fragen mit auf den Weg gegeben, ob nicht diese zehn Argumentationsfiguren der Exklusion jeweils verwendet werden oder ob nicht ihr jeweiliges Schema wiederzuerkennen ist. Diese beiden Fragen schwächen die zehn Argumentationsfiguren der Exklusion insofern, als deren vermeintlich starker und für die Argumentation essentieller Kontextbezug dadurch an Bedeutung verliert, dass die gleichen bzw. ähnliche Argumentationsfiguren der Exklusion in anderen Kontexten ebenfalls zum Zuge kommen, in denen ebenfalls aus einer Partikularposition heraus anderen Menschen ihre Menschenrechte abgesprochen werden sollen. Die Hauptgründe für die zehn Argumentationsfiguren der Exklusion – nämlich u. a. das eigene Kollektivverständnis, der eigene Staat, die eigene Kultur, Tradition, Religion, Weltanschauung, das eigene Wertesystem, die eigene Geschichte, die eigene Souveränität – verlieren ihre Überzeugungskraft im Zuge der Bewusstwerdung, dass genau die gleichen Argumentationsfiguren von anderen Staaten, Kulturen, Traditionen, Religionen, Weltanschauungen, Zivilisationen, Wertesystemen etc. eingesetzt werden. Dies bedeutet, dass also nicht die Einzigartigkeit des Eigenen bzw. das Eigene ausschlaggebend für die Exklusion sprechen, sondern etwas Staaten-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften-Übergreifendes. Damit geraten die Argumentationsfiguren zumindest ins Wanken. Denn dies bedeutet, dass sich diese zehn Argumentationsfiguren eigentlich nicht auf die Einzigartigkeit des Eigenen bzw. auf das Eigene stützen, sondern auf etwas Anderes. Demzufolge bauen sie auf etwas Anderes auf, als vom Gegenüber im Diskurs vorrangig behauptet worden ist. Drittens entlarven diese Rückfragen nach dem Staaten-, Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften-Übergreifenden die wohl eher zutreffenden Gründe der Argumentationsfiguren der Exklusion, die weniger vom Kontext, von der Kultur, der Tradition, der Religion, der Weltanschauung, vom Wertesystem, von der Geschichte usw. abhängig sind, sondern wohl eher von einem anderen einigenden, nicht staats-, religions- oder weltanschauungsrelativen Faktor. Diesen einigenden Faktor charakterisiert eine illiberale Grundausrichtung, da seine Opposition zur Achtung der Menschenwürde und zur Universalität der Menschenrechte bzw. seine Bereitschaft, alle Menschenrechte allen Menschen, gewisse Menschenrechte von allen Menschen oder einzelnen Menschen alle bzw. einzelne spezifische Menschenrechte zu negieren, in Kauf nimmt, dass Menschen ganz oder in einem gewissen Ausmaß ihre Menschenrechte vorenthalten werden. Darüber kommt diesbezüglich der Verdacht auf, dass die eigene Kultur, Tradition, Religion, Weltanschauung, das eigene Wertesystem, die eigene Geschichte, die eigene Souveränität etc. so gedreht
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werden soll, dass sie den Partikularinteressen von bestimmten Menschen oder einer bestimmten Gruppe entspricht. Oder die zehn Argumentationsfiguren der Exklusion könnten auf den Souveränitäts- und Machtanspruch bestimmter Individuen und Gruppen in einem Kollektiv zurückgehen. Viertens wird so zusätzlich die nicht vorliegende inhaltliche Divergenz der eigenen Kultur, Tradition, Religion, Weltanschauung, des eigenen Wertesystems, der
eigenen Geschichte, der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überlieferungen, Überzeugungen und Lehren zu den Menschenrechten offensichtlich, womit auch die Gründe für eine kontextuell begründete Unterwanderung der Menschenrechte wegfallen. Fünftens ergibt sich aus der Beschäftigung mit den zehn Argumentationsfiguren der Exklusion und den sich bisher daraus ergebenden Widersprüchen und Entlarvungen die Möglichkeit von Glaubwürdigkeits- und Kohärenzproblemen und von sinkendem Wirkungsgrad bzw. sinkender Überzeugungskraft des jeweiligen Kollektivs gegenüber den Menschen innerhalb und außerhalb der jeweiligen Gemeinschaft. Sechstens legt die Auseinandersetzung mit den zehn Argumentationsfiguren der Exklusion, die auch den Widerstand und die Widerrede gegen Exklusion in den
einzelnen Staaten und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wahrnimmt, offen, dass weder Staaten noch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften homogene, monolithische, präzis definier- und fassbare, ewig gleich bleibende, endlos bestehende und sich nicht verändernde Entitäten darstellen. Vielmehr kennen sie eine hohe Komplexität der Zusammensetzung ihres jeweiligen Kollektivs, eine heterogene Gestalt (z. B. konservative, liberale u. a. Strömungen), Wandel und Veränderungen (z. B. Entwicklungen, Fortschritte u. a.), Gründungen, Wachstum und Untergänge sowie Beiträge und Widerstände zur ideengeschichtlichen Entstehung der Menschenrechte. Siebtens kann die Tendenz wahrgenommen werden, Unterschiede zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften größer zu sehen und zu machen,
als sie in Wirklichkeit sind, während gleichzeitig Unterschiede innerhalb der Gemeinschaften vernachlässigt werden. Neben den eben identifizierten und diskutierten Argumentationsfiguren der Exklusion, die staaten-, religions- und weltanschauungsübergreifend auftreten, trifft man im Diskurs über Menschenrechte immer wieder auf Kategorien (wie z. B. Westen – Osten, globaler Kontext – lokaler Kontext, …), die unter Bezugnahme auf einen bestimmten geographisch definierten Ort bzw. ein geographisch definiertes Gebiet eine normative Begründung für eine Aussage oder eine Position suggerieren – entweder in Abgrenzung oder in Zustimmung zu den Menschenrechten. Diese
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Kategorien lösen jedoch hinsichtlich ihrer epistemologischen Aussagekraft Zweifel aus, worauf im Folgenden eingegangen werden soll. Kategorien wie z. B. Osten – Westen stützen sich auf die Annahme bzw. Konstruktion von vermeintlich definier- und fassbaren, monolithischen und je für sich homogenen, ewig bestehenden und sich nicht verändernden, gegensätzlichen und getrennten Welten. Dabei scheint klar zu sein, worum es sich beim sogenannten „Westen“ bzw. „Osten“ handelt und welche Traditionen, Prinzipien und Werte diesen beiden Hälften der Welt zugrunde liegen. Auf dieser Grundlage kommen dann die Kategorien „Osten“ bzw. „Westen“ in Argumentationslinien zum Einsatz, beispielsweise in der folgenden Form: „Da die Menschenrechte im ‚Westen‘ entstanden sind, gelten sie im ‚Osten‘ nicht.“ Neben der Relevanz von temporaler und lokaler Entstehungswirklichkeit für die Geltung universeller Normen, die im nachfolgenden Abschnitt diskutiert werden soll, kommt im Zuge dieser Argumentation den Kategorien „Osten“ bzw. „Westen“ eine begründende Funktion für eine normative Aussage („die Menschenrechte gelten nicht im ‚Osten‘“) zu. Eine grundsätzliche Kritik an der epistemologischen Aussagekraft solcher Kategorien, die gleichzeitig auch diese exemplarische Argumentationslinie schwächen, ist aus folgenden Gründen angebracht: Diesen Kategorien scheint eine tendenziell rassistische Basis zugrunde zu liegen, da sie suggerieren, dass Menschen in einem Kontext in essentiellen Elementen und Bereichen der menschlichen Existenz, die der Mensch zum Überleben und zum Leben als Mensch braucht – und um nichts Anderes geht es bei den Menschenrechten (Kirchschläger 2013: 194-195) –, grundsätzlich anders und verschieden von Menschen außerhalb dieses Kontexts seien. Eine Argumentation, die sich auf diese Kategorien abstützt, geht in unangemessener Weise von einer Qualität des „Westens“ bzw. von einem Manko des „Ostens“ aus. Beispielsweise beinhaltet die Aussage „Da die Menschenrechte im ‚Westen‘ entstanden sind, …“ auch, dass man dem „Westen“ diese angebliche Innovationsund Schaffenskraft zutraut und dem „Osten“ nicht (vgl. Frezzo 2015: xxi). Diese Kategorien bleiben stets in wesentlichem Ausmaß relativ zum Ausgangspunkt, was sich angesichts ihrer inhaltlichen Bestimmung als eigentlich geographische Kategorien als relevant erweist, sodass sich die Frage stellt, woher die Betrachtung vorgenommen wird, die dann z. B. einen Ort in den „Osten“ bzw. in den „Westen“ einteilt; so liegt z. B. Krems im „Osten“ von Luzern, würde aber wohl im üblichen Gebrauch der beiden Kategorien im Menschenrechtsdiskurs dem „Westen“ zugeordnet werden. Die Zugänglichkeit dieser Kategorien – beispielsweise des sogenannten „Ostens“ und „Westens“ – und der den in diesem Fall beiden Kategorien je zugrundeliegenden Werte stellt sich als schwierig, gering bis gar nicht möglich heraus. Bei dem Versuch
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einer umfassenden Definition des sogenannten „Westens“ wie auch des „Ostens“ sowie der Inanspruchnahme einer Kenntnis der ihnen je zugrundeliegende Werte ist angesichts der im „Osten“ bzw. im „Westen“ dominierenden Pluralität, Heterogenität und Dynamik Vorsicht geboten. Ein epistemischer Zugriff muss wohl daran scheitern, dass sich diese Kategorien bis auf die Bezeichnung einer geographischen Position in letzter Konsequenz der Definitionshoheit entziehen. Denn die Wirklichkeit ist doch viel komplexer und die vermeintlich kategorisierenden Werte – z. B. im geographischen „Osten“ und „Westen“ – erweisen sich angesichts der religiösen und weltanschaulichen Pluralität und Heterogenität, angesichts normativer Vielfalt und der damit zusammenhängend unterschiedlichen rechtlichen und politischen Systeme sowie angesichts hoher Varianz in der Wirtschaftskraft als nicht zugänglich. Die in diesen Kategorien enthaltene Schematisierung auf der Grundlage der Annahme und der Konstruktion vermeintlich definierbarer, umfassender, monolithischer, homogener, ewiger und unveränderbarer separater und einander widersprechender Welten (z. B. Ost – West, global – lokal, …) bildet eine Übersimplifizierung; sie verdeckt reduktionistisch die für die inhaltliche Ausrichtung der Diskussion eigentlich höchst relevante Vielfalt, die innerhalb solcher Kategorien vorherrscht. Denn die beiden vermeintlichen Pole erweisen sich in ihrer Binnenstruktur als vielfältig und heterogen, weisen verschiedene Strömungen auf (z. B. konservativ, liberal, …) usw. Dies wäre für die Thematik der jeweiligen Diskurse, in denen diese Kategorien zum Einsatz kommen, von Bedeutung. Eine solche Schematisierung nivelliert sie mit einer Vorstellung von monolithischen, definierbaren, umfassenden, homogenen, ewigen und unveränderbaren Binnenstrukturen und vernachlässigt unterschiedliche Fundamente, Entwicklungen und die Dynamik des Wandels. Die Zuordnung von inhaltlichen Positionen zu einem bestimmten geographischen Ort bzw. zu einer bestimmten Gegend vermag insofern nicht zu überzeugen, als sich jeweils eine inhaltliche Position A oder eine Strömung B sowohl im sogenannten „Osten“ als auch im sogenannten „Westen“ finden lässt, während auch die ihnen je widersprechende Position C bzw. Strömung D ebenfalls überall zu finden ist (so auch Joas 2015a: 78). Denn die diesen Positionen bzw. Strömungen zugrundeliegenden Argumentationsmuster hängen nicht primär von ihrer geographischen und zeitlichen Herkunft ab, wie dies eine solche Schematisierung suggerieren möchte. Vielmehr handelt es sich z. B. um eine liberale Position, die sich selbst zusammen mit ihren Gegenpositionen an allen Orten und in allen Himmelsrichtungen finden lässt. Liberale und konservative Positionen gibt es unabhängig von Längen- und Breitengraden. Falls ein geographischer Bezug zu einem bestimmten Ort hergestellt wird – z. B. wie dies in den Aussagen zum Ausdruck kommt „im Osten denkt man so“ bzw. „im Westen macht man das so“ –, dann besteht zumindest das Risiko, dass
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„im Osten“ bzw. „im Westen“ zu einem Schirmargument wird, das alles Andere – insbesondere die wirklichen Gründe und Faktoren – zu- bzw. verdeckt. Im Zuge dessen vermag das Schirmargument die Überprüfung der wirklichen Gründe und Faktoren hinsichtlich ihrer Qualität als „gute Gründe“ – d. h. für alle Menschen nachvollziehbare und annehmbare, im Rahmen eines vorstellbaren Denkmodells und nicht auf dem Wege einer realen Abstimmung Allgemeingültigkeit erlangende bzw. beanspruchende Gründe (vgl. Koller 1990: 75) – zu verhindern. Diese kritische Beurteilung wäre jedoch hinsichtlich der normativen Geltung und argumentativen Kraft der wirklichen Gründe und Faktoren notwendig. Natürlich bestehen Einflüsse durch den historischen Hintergrund, den Kontext, durch Ort und Zeit u. ä. auf Denkweisen und Ansichten. Letztere sind jedoch – falls sie sich in ihrer Begründung allein auf Herkunftsort oder Entstehungszeit abstützen – hinsichtlich ihrer normativen Geltung und ihrer argumentativen Kraft kritisch zu hinterfragen. Ausschlaggebend sind rationale Gründe. Auch hinsichtlich der Universalität der Menschenrechte bildet die historisch kontingente
Entstehung
der
Menschenrechte
kein
Argument
dafür
oder
dagegen. Denn auch in diesem Fall ist auf rationale Gründe zur Begründung der Menschenrechte, die im folgenden Abschnitt im Fokus stehen, und auf die daraus folgende Irrelevanz der historisch kontingenten Entstehung der Menschenrechte für deren Universalitätsanspruch zu verweisen. Gleichzeitig verunmöglicht deshalb die kontingente temporale und lokale Herkunft einer Einsicht nicht ihre universelle Geltung.
4. BEGRÜNDUNG DER MENSCHENRECHTE Alle Menschen sind Trägerinnen und Träger von Menschenrechten. Dabei handelt es sich um einen historischen und politischen Konsens, eine rechtlich verbindliche Vereinbarung sowie um moralisch begründbare Rechte. Beispielsweise kann das Prinzip der Verletzbarkeit als Basis einer moralischen Begründung der Menschenrechte dienen (Kirchschläger 2013; 2015, 121-141): Der Mensch nimmt sich selbst in seiner eigenen Verletzbarkeit wahr – ein erstes Element des Prinzips der Verletzbarkeit. Der z. B. jetzt gesunde Mensch weiß, dass er morgen krank werden könnte.
Während dieses Bewusstseinsbildungsprozesses eröffnet sich zweitens dem Menschen,
wenn seine eigene Verletzbarkeit für ihn präsent wird, ex negativo die „ErstePerson-Perspektive“ (Runggaldier 2003, 143-221). Diese umfasst die Wahrnehmung des Menschen, dass er zum einen als Ich Subjekt der Selbstwahrnehmung ist, die ihm einen Zugang zu seiner Verletzbarkeit bietet. Zum anderen erlebt er diese anthropologische Grundsituation der Verletzbarkeit als das Ich-Subjekt (d. h. als die erste Person Singular). Die Handlungen, die Entscheidungen, das Leiden sowie
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das Leben des Menschen gehen auf ihn selbst als Ich-Subjekt zurück. Des Weiteren interpretiert er diese anthropologische Grundsituation der Verletzbarkeit als das IchSubjekt (Honnefelder 2010, 171-172). Die Verletzbarkeit wird drittens vom Menschen aus seiner „Erste-Person-Perspektive“ ebenfalls für die „Erste-Person-Perspektive“ selbst und das „Selbstverhältnis“ wahrgenommen und ausgesagt. Dieser Bewusstwerdungsprozess über seine Verletzbarkeit und über seine „ErstePerson-Perspektive“ führt viertens zu einer Verortung des Menschen in einem
Selbstverhältnis und in einem Verhältnis zu allen anderen Menschen. Im Zuge dieser Verortung wird ihm klar, dass er die Verletzbarkeit mit allen Menschen teilt. Dies ermöglicht dem Menschen fünftens im Zuge der Wahrnehmung der eigenen
Verletzbarkeit und der Verletzbarkeit aller anderen Menschen die Bewusstwerdung, dass er mit allen anderen Menschen nicht nur die Verletzbarkeit, sondern auch die je individuelle „Erste-Person-Perspektive“ auf die je eigene Verletzbarkeit und auf die Verletzbarkeit von allen anderen Menschen sowie das je individuelle „Selbstverhältnis“ teilt: Jeder Mensch ist jeweils Subjekt seines eigenen Lebens. Die „Erste-PersonPerspektive“ und das „Selbstverhältnis“ erkennt der Mensch so als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch. Auf der Grundlage der Wahrnehmung der Verletzbarkeit der eigenen „Erste-PersonPerspektive“ und des eigenen „Selbstverhältnisses“ wird sich der Mensch der gleichen Verletzbarkeit für die „Erste-Person-Perspektive“ und das „Selbstverhältnis“ von allen anderen Menschen bewusst. Der Mensch, der in erster Linie überleben und als Mensch leben will, wird sich bewusst, dass die Verletzbarkeit sowohl sein und das Überleben von allen anderen Menschen als auch sein Leben als Mensch und das Leben als Mensch von allen anderen Menschen betrifft, weil die Verletzbarkeit auch vor der „ErstePerson-Perspektive“ und dem „Selbstverhältnis“ als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch nicht halt macht. Angesichts seiner Verletzbarkeit will der Mensch in erster Linie überleben und ein menschenwürdiges Leben führen. Überleben und menschenwürdiges Leben sollen dem Menschen nicht genommen werden dürfen. Beide müssen rechtlich durchsetzbar sein, um sich ihres Schutzes auch sicher sein zu können, und in verschiedenen Dimensionen gelten. Denn die Verletzbarkeit kann die rechtliche, die politische, die historische und die moralische Dimension erfassen. Für Überleben und menschenwürdiges Leben sollen wegen ihrer oben erwähnten höchstprioritären Bedeutung und aufgrund der Unberechenbarkeit der Verletzbarkeit keine Bedingungen und Voraussetzungen erfüllt werden müssen. Dieses Anliegen, überleben und menschenwürdig leben zu können, teilt der Mensch mit allen anderen Menschen in gleichem Maße. Denn dieses Anliegen zeichnet sich nicht durch eine individuelle Note aus, auch wenn es sich dabei um ein je individuelles Anliegen
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Peter G. Kirchschläger
handelt, das sich dem Individuum je in seiner „Erste-Person-Perspektive“ und seinem „Selbstverhältnis“ erschließt. Da sich der Mensch seiner Verletzbarkeit bewusst ist, gleichzeitig aber nicht weiß, ob und wann sich seine Verletzbarkeit bemerkbar macht oder sich in Verletzung wandelt, entfaltet sich sechstens die Bereitschaft, als für ihn vernünftigste und vorteilhafteste Lösung sich selbst und damit – aufgrund der diesbezüglichen Gleichheit aller Menschen – allen Menschen die „Erste-Person-Perspektive“ und das „Selbstverhältnis“ zuzugestehen. Dies bedeutet, sich und alle anderen Menschen aufgrund der sogar auch die „Erste-Person-Perspektive“ und das „Selbstverhältnis“ umfassenden Verletzbarkeit aller Menschen mit Rechten, die allen Menschen zustehen – d. h. mit Menschenrechten –, zu schützen. Dieser Schutz durch die Menschenrechte zielt darauf ab, zum einen eine Transformation von Verletzbarkeit zu einer konkreten Verletzung zu verhindern oder zum anderen im Falle einer eventuellen Transformation von Verletzbarkeit zu konkreten Verletzungen bzw. bei konkreten Verletzungen aktive Kompensation zu erfahren. Dabei sind sich die Menschen bewusst, dass dieser Schutz der Menschenrechte auch zu den Menschenrechten korrespondierende Pflichten umfasst, da es sich ja um keine exklusiven Rechte, sondern um Menschenrechte handelt, die allen Menschen zustehen. Diese bisherigen sechs Punkte zum Prinzip der Verletzbarkeit machen deutlich, dass siebtens die Verletzbarkeit an sich keine moralische Qualität aufweist, sondern
dass das Prinzip der Verletzbarkeit mit der Verletzbarkeit, der „Erste-PersonPerspektive“ und dem „Selbstverhältnis“ als moralischem Anspruch normativ geladen ist. Das Prinzip der Verletzbarkeit betrifft alle Menschen und unterscheidet sie von allen anderen Lebewesen. Wegen des Prinzips der Verletzbarkeit sprechen sich die Menschen gegenseitig Menschenrechte zu. Denn sie einigen sich darauf, mit Menschenrechten für sich selbst und für alle Menschen zum einen eine Transformation von Verletzbarkeit zu einer konkreten Verletzung zu verhindern oder zum anderen für alle Menschen im Falle einer eventuellen Transformation von Verletzbarkeit zu konkreten Verletzungen bzw. bei konkreten Verletzungen eine aktive Kompensation vorzusehen. Es handelt sich dabei um eine Entscheidung der moralischen Gemeinschaft, dass sich die Menschen gegenseitig aufgrund des Prinzips der Verletzbarkeit Menschenrechte zusprechen und so alle Menschen zu Trägerinnen und Trägern von Menschenrechten machen. Demzufolge sind Menschen nicht Trägerinnen und Träger von Menschenrechten aufgrund ihrer Verletzbarkeit. Sie sind Trägerinnen und Träger von Menschenrechten, weil sie sich mit ihrer Verletzbarkeit und deren Relevanz auseinandersetzen, sich der „Erste-Person-Perspektive“ und des „Selbstverhältnisses“ ihrer selbst und aller Menschen bewusst werden, diese als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch erkennen und die sogar die
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„Erste-Person-Perspektive“ und das „Selbstverhältnis“ umfassende Verletzbarkeit aller Menschen wahrnehmen – wegen des Prinzips der Verletzbarkeit. Die Menschen etablieren wegen des Prinzips der Verletzbarkeit einen Schutz von Elementen und Bereichen der menschlichen Existenz mit spezifischen Menschenrechten. Das Prinzip der Verletzbarkeit stellt daher einen Anfangspunkt der Begründung von Menschenrechten an sich und von spezifischen Menschenrechten dar. Achtens ist es angesichts des Prinzips der Verletzbarkeit durchaus möglich, dass die
Menschen neuen Leidens- und Unrechtserfahrungen ausgesetzt sind, die aufgrund ihres bedrohlichen Charakters menschenrechtlichen Schutz notwendig machen. Diese Notwendigkeit kann eine Formulierung von Rechten hervorrufen, die über die bisherigen Menschenrechte hinausgehen. Das Prinzip der Verletzbarkeit kann zu neuen Aktualisierungen und Präzisierungen des Menschenrechtsschutzes führen. Diese bisherigen acht Punkte bilden den ersten Filterungsschritt des auf dem Prinzip
der Verletzbarkeit basierenden Begründungsweges. Nicht alle Elemente und Bereiche der menschlichen Existenz, sondern nur diejenigen, in denen der Mensch aufgrund des Prinzips der Verletzbarkeit sich und alle anderen Menschen schützen will, kommen für den Schutz durch die Menschenrechte in Frage. Der zweite Filterungsschritt nimmt die bisherigen Überlegungen auf und präzisiert sie
hinsichtlich der Schutzbereiche, auf die alle Menschen als Trägerinnen und Träger von Menschenrechten einen Anspruch besitzen. Denn der Konsens über den Schutz vor der Verletzbarkeit und ihren Folgen umfasst nicht alle möglichen Elemente und Bereiche der menschlichen Existenz. Ausgangspunkt sind historische Unrechts- und Verletzungserfahrungen, denen der Mensch aufgrund des Prinzips der Verletzbarkeit des Menschen ausgeliefert ist bzw. sein könnte. Angesichts dieser historischen Unrechts- und Verletzungserfahrungen und aufgrund des Prinzips der Verletzbarkeit stimmt der Mensch zu, mit Menschenrechten zum einen für sich selbst und für alle Menschen eine Transformation von Verletzbarkeit zu einer konkreten Verletzung zu verhindern und zum anderen für alle Menschen im Falle einer eventuellen Transformation von Verletzbarkeit zu konkreten Verletzungen bzw. bei konkreten Verletzungen aktive Kompensation vorzusehen. Jedoch gilt auch nicht allen historischen Unrechts- und Verletzungserfahrungen der Menschenrechtsschutz. Eine Auswahl von historischen Unrechtserfahrungen ist notwendig, die den Schutz der Menschenrechte verlangen. Dies wiederum bedingt Kriterien für diesen Auswahlprozess. Diese können aus der obigen Beschreibung des Menschen und der obigen Gewichtung gewonnen werden, da sich darin zeigt, wogegen sich der Mensch schützen will. Dies erlaubt es zu verstehen, welche Charakteristika dazu führen, dass eine historische Verletzungserfahrung den Menschenrechtsschutz braucht. Der Mensch will in erster Linie überleben
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Peter G. Kirchschläger
und als Mensch leben (Fundamentalität). Denn der Mensch wird sich bewusst, dass die Verletzbarkeit sowohl sein Überleben und das Überleben aller anderen Menschen als auch sein Leben als Mensch und das Leben als Mensch eines jeden Menschen betrifft (Universalität), weil die Verletzbarkeit auch vor der „Erste-PersonPerspektive“ und dem „Selbstverhältnis“ als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch nicht halt macht. Überleben und menschenwürdiges Leben sollen dem Menschen nicht genommen werden dürfen (Unveräußerlichkeit). Sie müssen rechtlich durchsetzbar sein (Justiziabilität) und in verschiedenen Dimensionen gelten (Multidimensionalität), denn die Verletzbarkeit kann die rechtliche, die politische, die historische und die moralische Dimension erfassen. Für Überleben und menschenwürdiges Leben sollen wegen ihrer oben erwähnten höchstprioritären Bedeutung und aufgrund der Unberechenbarkeit der Verletzbarkeit bzw. einer eventuellen Transformation von Verletzbarkeit zu Verletzung keine Bedingungen und Voraussetzungen erfüllt werden müssen (kategorischer Charakter). Dieses Anliegen, überleben und menschenwürdig leben zu können, teilt der Mensch mit allen anderen Menschen in gleichem Maße (Egalität). Denn es zeichnet sich nicht durch eine individuelle Note aus, auch wenn es sich dem Individuum je in seiner „Erste-Person-Perspektive“ und seinem „Selbstverhältnis“ erschließt (individuelle Geltung). Daher bestimmen die folgenden acht Kriterien die Auswahl derjenigen historischen Verletzungserfahrungen und Verletzbarkeiten, in denen alle Menschen den Schutz durch spezifische Menschenrechte erfahren sollen: Fundamentalität, Universalität, Unveräußerlichkeit, Justiziabilität, Multidimensionalität, kategorischer Charakter, Egalität und individuelle Geltung. Der dritte Filterungsschritt umfasst die Anwendung der oben erwähnten acht Kriterien mit dem Ziel, die Elemente und Bereiche der menschlichen Existenz zu
identifizieren, die den Schutz der Menschenrechte benötigen. So lässt sich zeigen, dass alle spezifischen Menschenrechte diese Kriterien erfüllen.
5. MORALISCH BEGRÜNDBARE, EXISTIERENDE RECHTE BESSER DURCHSETZEN Menschenrechte
kommen
aufgrund
ihrer
eben
erläuterten
moralischen
Begründbarkeit allen Menschen zu – immer, überall, ohne Ausnahme. Darin liegt ein wichtiges Kriterium für die humane Qualität und für die Lebensmöglichkeiten der gegenwärtigen und nächsten Generationen in einer globalisierten Welt. Zu diesen Rechtsansprüchen aller Menschen korrespondieren Pflichten. Ein Recht „X gegenüber von Z“ wäre ohne Verpflichtung von Z, das Recht von X zu respektieren, zu schützen und zu seiner Realisierung beizutragen, sinnlos (Tomuschat 2003, 39). Primär sind die Staaten dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu achten,
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Menschenrechte und Lebenschancen in der Globalisierung
zu schützen, durchzusetzen und die Menschenrechte zu verwirklichen. Sie haben die Menschenrechtsdeklarationen verabschiedet und die Menschenrechtsverträge vereinbart – dank ihrer Völkerrechtssubjektivität. Letztere hat es ihnen auch ermöglicht – und tut dies auch weiterhin –, Institutionen und Mechanismen zur Durchsetzung und Realisierung der Menschenrechte zu schaffen. Staatliche Akteure kennen rechtliche Menschenrechtsverpflichtungen. Dabei handelt es sich um eine primäre, aber nicht alleinige Verantwortung, wie bereits die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die UN-Pakte I und II von 1966, je in Artikel 5 und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker von 1981, Artikel 27, 28 und 29 mit dem Verweis auf die gesamte Gesellschaft und alle gesellschaftlichen Akteure deutlich machen. Auch nichtstaatliche Akteure stehen in der Verantwortung für die Menschenrechte (Kirchschläger 2016; 2017a). Hinsichtlich der Verantwortung und der Pflichten, die für nichtstaatliche Akteure zu den Menschenrechten korrespondieren, gilt es zum einen den Bereich zu beachten, der sich für Nonstate Actors indirekt aus den Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten ergibt (Kirchschläger 2017a): Staaten haben die Achtung, den Schutz, die Durchsetzung und die Realisierung der Menschenrechte rechtlich verbindlich vereinbart. Diese staatlichen Verpflichtungen umfassen u. a. ebenfalls, dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte auch durch nichtstaatliche Akteure respektiert, geschützt, durchgesetzt und verwirklicht werden. Letztlich lässt sich aus der Perspektive der nichtstaatlichen Akteure eine solche dementsprechende verpflichtende Wirkung der Menschenrechte feststellen. Denn aus der rechtlichen Verpflichtung der Staaten, die Achtung, den Schutz, die Durchsetzung und die Realisierung der Menschenrechte auch in Handlungs- und Einflussbereichen von Nonstate Actors zu gewährleisten, folgt implizit eine rechtliche Verpflichtung der nichtstaatlichen Akteure, diesen Ansprüchen auch Folge zu leisten. Wie
bei
anderen
rechtlichen
Normen
hängt
auch
im
Falle
von
Menschenrechtsverpflichtungen ihre Geltung nicht davon ab, ob ihre Durchsetzung überwacht und allfällige Verstöße sanktioniert werden. zum Beispiel kann man sich ja beim Parkieren eines Fahrzeugs nicht auf den Standpunkt stellen, dass das rechtliche Parkplatzregime für einen nur dann gilt, wenn dessen Einhaltung gerade von staatlichen Behörden kontrolliert wird. Ebenfalls genügt es diesbezüglich nicht, diese sich indirekt über die entsprechende staatliche Verpflichtung ergebende Menschenrechtsverpflichtung von nichtstaatlichen Akteuren als freiwilliges Engagement zu betrachten, wie dies zum Beispiel im Bereich von Unternehmen bei einer Verortung der Menschenrechte in die Corporate Social Responsibility geschehen würde. Denn dies würde ja bedeuten, dass den
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Peter G. Kirchschläger
Menschenrechten aller Menschen die beliebige Wahlfreiheit seitens von Nonstate Actors entsprechen würde, diese Rechtsansprüche zu respektieren, zu schützen, durchzusetzen und zu ihrer Realisierung beizutragen oder sie zu missachten bzw. zu verletzen. Diese beliebige Wahlfreiheit für Unternehmen, sich an die Menschenrechte zu halten oder nicht, würde den Menschenrechten als „an especially urgent and morally justified claim that a person has, simply in virtue of being a human adult, and independently of membership in a particular nation, class, sex, or ethnic, religious or sexual group” (Nussbaum 2002, 135) in keinster Weise gerecht. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass Nonstate Actors in ihrem Umgang mit Menschen alle Menschen als Trägerinnen und Träger von Menschenrechten respektieren, deren Menschenrechte schützen und durchsetzen und zur Realisierung der Menschenrechte aller Menschen beitragen müssen (Kirchschläger 2017b: 241265). So haben es beispielsweise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, wenn sie ihren Glaubensangehörigen und allen anderen Menschen begegnen, mit Subjekten von Menschenrechten zu tun – dank der moralisch begründbaren Universalität der Menschenrechte. Anders formuliert geben Menschen an der Kirchentür, beim Betreten eines hinduistischen oder buddhistischen Tempels, beim Aufsuchen einer Synagoge oder beim Ausziehen der Schuhe am Eingang einer Moschee nicht ihre Menschenrechte ab. Ebenso sind und bleiben weltweit Mitarbeitende, Angestellte eines Zulieferers, GewerkschafterInnen, EinwohnerInnen an einem Produktionsstandort oder in einem Kontext, wo Rohstoffe gewonnen werden, KonsumentInnen, KundInnen, … auch für Unternehmen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten – dank der moralisch begründbaren Universalität der Menschenrechte. Daher gilt es, im Bereich der Menschenrechtsverpflichtungen nichtstaatlicher Akteure die Durchsetzung und Realisierung dieser bereits existierenden und moralisch begründbaren Rechte substantiell zu verbessern – u. a. mit dem Instrument der „extraterritorial legislation“, wie es aktuell z. B. in der Schweiz mit der „Konzernverantwortungsinitiative“ vorgesehen ist (www.konzern-initiative.ch). Der Fokus der Menschenrechte liegt auf dem Individuum als Trägerin bzw. Träger von Menschenrechten. Ihre bzw. seine Rechte müssen geachtet, geschützt und umgesetzt werden. Ihre bzw. seine Perspektive bestimmt, wer je nach Situation und Kontext bzw. je nach Machtverhältnissen und Einflussmöglichkeiten die Verpflichtung trägt, für die Achtung, für den Schutz, für die Durchsetzung und für die Realisierung der Menschenrechte zu sorgen. Für eine Trägerin bzw. einen Träger von Menschenrechten bzw. ein reales oder mögliches Opfer von Menschenrechtsverletzungen ist es schlussendlich sekundär, wer die Menschenrechte durchsetzt bzw. wer für die Menschenrechtsverletzung
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Menschenrechte und Lebenschancen in der Globalisierung
verantwortlich ist. Primär erweist sich aus der Perspektive des Rechtssubjekts bzw.
des
Opfers
von
Menschenrechtsverletzungen
als
entscheidend,
dass
Menschenrechtsverletzungen ein Ende gesetzt wird, dass diese in Zukunft unterbunden und verhindert werden und dass die Menschenrechte realisiert werden.
LITERATUR Frezzo, Mark (2015): The Sociology of Human Rights. An Introduction. Cambridge: Polity Press. Honnefelder, Ludger (2012): Theologische und metaphysische Menschenrechtsbegründungen. In: Pollmann, Arnd/Lohmann, Georg (Hg.): Menschenrechte: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, 171–178. Joas, Hans (2015a): Sind die Menschenrechte westlich? München: Kösel-Verlag. Kirchschläger, Peter G. (Hg.). (2017a): Die Verantwortung von nichtstaatlichen Akteuren gegenüber den Menschenrechten (Religionsrechtliche Studien) (Bd. 4). Zürich: TVZ Theologischer Verlag Zürich. Kirchschläger, Peter G. (2017b): Wirtschaft und Menschenrechte, in: Gabriel, Ingeborg/ Kirchschläger, Peter G./Sturn, Richard (Hg.): Eine Wirtschaft, die Leben fördert. Wirtschafts- und unternehmensethische Reflexionen im Anschluss an Papst Franziskus. Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag. Kirchschläger, P. G. (2016): Menschenrechte und Religionen: Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten (Gesellschaft - Ethik - Religion) (Bd. 7). Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. Kirchschlaeger, P. G. (2015): Das Prinzip der Verletzbarkeit als Begründungsweg der Menschenrechte. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie FZPhTh, 62 (1), 121–141. Kirchschläger, P. G. (2013): Wie können Menschenrechte begründet werden? Ein für religiöse und säkulare Menschenrechtskonzeptionen anschlussfähiger Ansatz (ReligionsRecht im Dialog) (Bd. 15). Münster: LIT-Verlag. Koller, Peter (1990): Die Begründung von Rechten. In: ders./Varga, Csaba/Weinberger, Ota (Hg.): Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik. Ungarisch-Österreichisches Symposium der internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie. Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 54), 74–84. Nussbaum, Martha C. (2002): Capabilities and Human Rights. In: De Greiff, Pablo/Ciaran, Cronin P. (Hg.): Global Justice and Transnational Politics: Essays on the Moral and Political Challenges of Globalization. Cambridge: MIT Press, 117–149. NZZ (2011): NZZ vom 4. Februar 2011, online frauenstimmrecht-1.9350588>, abgerufen 5.2.2018.
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