Unmännlichkeit in den Isländersagas: Zur narrativen Funktion von ›ergi‹ und ›níð‹ 9783110753400, 9783110754230, 9783110754278, 2021942527

In the pop-cultural imagination, medieval Iceland is associated with an exaggerated, warrior-like image of masculinity.

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German Pages 328 [330] Year 2021

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Table of contents :
Danksagungen
Inhalt
Vorbemerkungen
1 Einleitung: Die Isländersagas als Corpus einer narratologischen Untersuchung von ergi und níð
2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen
3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas
4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir
5 Die Funktion und Bedeutung von ergi und níð in den Isländersagas
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Bibliografie
Quellenindex
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Unmännlichkeit in den Isländersagas: Zur narrativen Funktion von ›ergi‹ und ›níð‹
 9783110753400, 9783110754230, 9783110754278, 2021942527

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Sebastian Thoma Unmännlichkeit in den Isländersagas

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 128

Sebastian Thoma

Unmännlichkeit in den Isländersagas Zur narrativen Funktion von ergi und níð

ISBN 978-3-11-075340-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075423-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075427-8 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2021942527 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

›Mikit má skilja,‹ sagði hon, ›til hvers menn eru fæddir í heiminn ok at hverju getit skal verða‹. »›Es kann einen großen Unterschied machen‹, sagte sie, ›wozu Menschen auf die Welt kommen, und weshalb man an sie denken wird‹«. – Esja zu Kolfiðr, Kjalnesinga saga

Danksagungen Das vorliegende Buch basiert auf meiner Dissertation, die im Jahr 2020 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München unter demselben Titel angenommen wurde. Den Herausgebern der Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde sei gedankt für die Aufnahme meines Bandes in diese Reihe, den Mitarbeitenden beim Verlag für ihre freundliche und kompetente Begleitung des Publikationsprozesses. Während eines so langen und umfangreichen Unterfangens wie der Arbeit an einem Dissertationsprojekt bestehen Kontakte zu vielen Menschen, die alle auf ihre Weise mit zum Gelingen beitragen. Ein großer Dank gilt meinem Doktorvater und Lehrer Wilhelm Heizmann. Dass er immer zu seinen Bekräftigungen steht, in seinen Studierenden und Promovierenden selbstverständlich den Menschen zu sehen, habe ich in den Jahren während meiner Zeit am Münchner Institut selbst erfahren dürfen. Ganz gleich, ob es sich um fachliche oder private Probleme oder die Bitte um seine Meinung zu einem Kapitelentwurf handelte: Seine Tür auf dem Weg zum Seminarraum 304 im alten Münchner Institut stand mir immer offen. Meiner Zweitgutachterin Alessia Bauer sei gedankt für ihre wohlwollende Begleitung meines Projekts durch kritische, aber immer wertvolle Rückmeldungen, viele Ermunterungen und Literaturhinweise. Das Münchner Institut ist mir in den über zehn Jahren, die ich dort verbringen durfte, zu einem wirklichen Herzensort geworden. In der (leider oft illusorischen) Hoffnung niemanden zu vergessen, möchte ich daher einen Dank aussprechen an die anderen Studierenden, Promovierenden und Lehrenden dort. Erinnerungen an unzählige Kaffeepausen (die den Namen »Pause« oft gar nicht verdienten), angeregte Diskussionen und die geteilte Freude über neue Entdeckungen auf dem weiten Feld der Altnordistik verbinde ich vor allem mit Florian Deichl, Sophia Feigenbutz, Sophie Fendel, Andreas Fischnaller, Sophie Heier, Ben Jahning, Josef Juergens, Johann Levin, Katharina Schubert und Alexander Schulz. Daniela Hahn und Andreas Schmidt sei von ganzem Herzen gedankt für die moralische Unterstützung, kontinuierliche Anmerkungen und viele Gespräche, die für mich persönlich und meine Arbeit immer bereichernd waren. Zwar bin ich erst während der zweiten Auflage der von beiden organisierten Tagung Bad Boys and Wicked Women hinzugestoßen, fühlte mich dort aber bei all den spannenden Gesprächen und im Austausch mit Rebecca Merkelbach, Marion Poilvez, Anita Sauckel, Yoav Tirosh, Alex Wilson und vielen anderen auf Anhieb sehr wohl. Einen besonderen Dank möchte ich aussprechen an Hedwig Göhner-Pentenrieder, Samuele Macari, Franziska Schlosser und Petra Stein, die meinem Projekt stets viel Interesse und Wohlwollen entgegengebracht haben. Zum Schluss darf selbstverständlich meine Familie nicht fehlen, insbesondere meine Eltern Edith und Peter Thoma, die mich über all die Jahre nach Kräften unterstützt und die nie geglaubt haben, dass eine Hörbehinderung und ein erfolgreicher Bildungsweg Gegensätze sein müssen. Danken möchte ich auch meiner Schwester https://doi.org/10.1515/9783110754230-001

VIII

Danksagungen

und meinem Neffen, der oft und geduldig auf Zeit mit seinem Onkel verzichtet hat, wenn „das Buch“ mehr von meiner Zeit eingefordert hat als wir uns das erhofft hätten. Manuel Demmler gilt schließlich ein besonderer Dank für seine unermüdliche Geduld und liebevolle Unterstützung, auf die ich in den – für uns beide sehr anstrengenden – Jahren zwischen Büro und Bibliothek immer zählen konnte. Garching, im Mai 2021 Sebastian Thoma

Inhalt 1

Vorbemerkungen 

.

Einleitung: Die Isländersagas als Corpus einer narratologischen Untersuchung von ergi und níð 4 Homosexualität in den Sagas? Vorüberlegungen zu einer ›Terminologie 6 der Unmännlichkeiten‹ Ergi, níð, Gender Studies und Narratologie: Die bisherige 11 Forschung Aufbau und Vorgehen 15

 . .

Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen Das Konzept ergi 19 35 Níð und níðingar

 .

55 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas Isländische Gesellschaft und norwegische Herrschaft in der Wahrnehmung der Sagas 55 57 Die Gesellschaftsordnung im Kleinen: Mikrokosmos hjón Zur Bedeutung von helgi und Männlichkeit 59 Das Fehdewesen 63 Exkurs: Eine kurze Phänomenologie altisländischer Unmännlichkeitsvorwürfe 65

. .

. . . .

 . . . . 

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71 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir 71 Aspekte von ergi Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níðAnwendern 106 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen 149 Hauptfigurentyps? Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen 221 Die Funktion und Bedeutung von ergi und níð in den Isländersagas 296

Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Bibliografie Quellenindex

302 319

300 301

Vorbemerkungen Am 10. Juni 2001 trat der Politiker Klaus Wowereit auf einem Sonderparteitag anlässlich des bevorstehenden Wahlkampfes um das Bürgermeisteramt in Berlin auf. Um einer medialen Berichterstattung über seine Homosexualität im Vorfeld selbstbewusst entgegen treten zu können, kam er gegen Ende seiner Rede auf seine Person zu sprechen: »Aber damit auch keine Irritationen hochkommen, liebe Genossinnen und Genossen; ich sagʼs euch auch, und werʼs noch nicht gewusst hat: Ich bin schwul – und das ist auch gut so!«¹ Nach einigen Momenten der Stille im Publikum erhielt er für diesen letzten Satz tosenden Applaus. Mit diesem Satz prägte er für Wochen den politischen und medialen Diskurs der gerade einmal etwas mehr als zehn Jahre alten wiedervereinigten Republik. Es kam die Frage auf, ob Wowereits Homosexualität ein Ausschlusskriterium für das Bürgermeisteramt darstellte. So wurde unter anderem insinuiert, sein politischer Konkurrent Frank Steffel habe noch kurz zuvor darauf angespielt, als er Wowereit einen »deformierten Charakter« unterstellte.² Die Diskussionen um Wowereits Ausspruch, seine Homosexualität und seine politischen Ambitionen waren zugleich eines der ersten medialen Ereignisse, die ich, damals kaum älter als das wiedervereinigte Deutschland, bewusst mitverfolgt habe. Es hat sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt, wie Teile der Gesellschaft, in die ich da hineinwuchs, mit nahezu heiligem Ernst und Fiebereifer darüber debattierten, ob denn jemand wie Wowereit tatsächlich ihr vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied sein konnte. Denn nichts anderes stand hinter der Diskussion über Wowereits Eignung für ein politisches Amt. An einem anderen Ort, beinahe 700 Jahre früher: Im Jahr 1360 hatte der schwedische König Magnus II. Eriksson (1316 – 1374) nach einigen politischen Rückschlägen auch noch den Verlust der Provinz Skåne an Dänemark zu verantworten. Für die Gründerin des Klosters Vadstena, Birgitta Birgersdotter, eine Verwandte des Königs und die spätere heilige Birgitta von Schweden, war dies zusammen mit den bereits länger gärenden Gerüchten um eine Beziehung zwischen Magnus und dem Adligen Bengt Algotsson Anlass genug für eine politische Revolte, einen »upprorsplan«.³ In

 Zitiert nach Fahrun 2007, unter: https://www.welt.de/regionales/berlin/article1194744/Warum-sichKlaus-Wowereit-als-schwul-outete.html.  Zitiert nach Fahrun 2007, unter: https://www.welt.de/regionales/berlin/article1194744/Warum-sichKlaus-Wowereit-als-schwul-outete.html.  Sundén 1973, S. 117. Die unterstellte Beziehung ist Thema einer Schrift namens Libellus de Magno Erici rege, in der diese ebenfalls mit der fehlgeleiteten Politik des Königs in Verbindung gebracht wird, vgl. Bagerius/Ekholst 2011, S. 191– 192, insbesondere Fn. 57. Auch die spätere Geschichtsschreibung hat dieses Detail über Magnus weiterverbreitet, vgl. [Anonym] 1902, S. 261. Tatsächlich kann man heute noch zu der Auffassung gelangen, dass einige Entscheidungen des Königs nur dann nachvollziehbar sind, wenn man eine tiefe emotionale Verbundenheit zum besagten Bengt Algotsson annimmt, wenngleich diese Verbundenheit eher als »zur Hörigkeit tendierende Freundschaft« verstanden wird, vgl. Hergemöller 2003, S. 92– 93, Zitat: S. 93. https://doi.org/10.1515/9783110754230-002

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Vorbemerkungen

ihren Revelationes und Revelationes Extravagantes genannten Aufzeichnungen hielt sie Offenbarungen der Muttergottes fest, die sie später ins Lateinische übersetzte. Eine ihrer auf Altschwedisch verfassten Handschriften enthält sehr konkrete Anschuldigungen gegenüber dem König, und sie erweckt den Anschein, als kämen diese Worte direkt aus dem Mund der Muttergottes. Man solle demzufolge Magnus direkt mit seinen Umtrieben konfrontieren und wie folgt in die Offensive gehen: ›I hafin þät fulastu frägþ i rik, oc vtan þän kristin man ma haua, at I hafin hapt natura bland mäþ manum, oc þikkis þät vara likt sano. Þy I älskin me[ra] men en Gud älla idra egna siäl älla idra egna husfru.‹ ⁴

Magnusʼ weitere Herrschaft verlief indes wenig glücklich. Den fortgesetzten Unruhen im Land, den familiären Streitigkeiten und militärischen Bedrohungen von außen hatte er wenig entgegenzusetzen, so dass er bald nach dem Verlust Skånes von seinem Sohn in Gefangenschaft gesetzt wurde. Kurzzeitig wurde er in die Freiheit entlassen, starb dann aber bei einem Schiffsunglück.⁵ Zwischen den beiden zitierten Äußerungen, der Selbstoffenbarung des deutschen Politikers und der aufgezeichneten Offenbarung über den schwedischen König, liegen Jahrhunderte. Strukturell gesehen liegen sie jedoch nahe beieinander, denn sie teilen ein soziales Narrativ, beziehungsweise reagieren darauf: Wer als Mann Männer liebt, verstößt in einem derartigen Maße gegen die gesellschaftliche Ordnung, dass er nicht für eine Machtposition geeignet sein kann. Der Bruch mit den gesellschaftlichen heteronormativen Rollenerwartungen korreliert diesem Narrativ zufolge mit moralischen Aspekten. Fragen der (zugeschriebenen) sexuellen Identität werden vermischt mit Fragen von Stärke, Durchsetzungsfähigkeit und charakterlicher Tugend, bis am Ende eines bleibt: Ein Gemisch aus abzulehnenden Eigenschaften und der damit einhergehende Versuch der sozialen Ausgrenzung desjenigen, dem diese Eigenschaften zugeschrieben werden. Während meines Studiums der Altnordistik stieß ich in den Texten des mittelalterlichen Islands immer wieder auf dieses Narrativ. Irgendwann schienen mir diese Texte so durchdrungen davon zu sein, dass in mir der Wunsch reifte, ihm nachzuspüren und es offen zu legen, wo immer es auftauchte. Der Kristallisationspunkt für die altnordische Version des Narrativs von den unmännlichen Männern, die nicht für ihre Gesellschaft taugen, sind die beiden Konzepte ergi und níð. Ergi steht vereinfacht

 Birgitta-Autograph B, S. 26 (Revelationes Extravagantes, Kap. 80); »›Ihr habt den hässlichsten Ruf im Reich und darüber hinaus, den ein Christenmann haben kann, [nämlich], dass ihr geschlechtlichen Verkehr mit Männern habt, und das scheint wahr zu sein. Denn Ihr liebt Männer mehr als Gott oder Eure eigene Seele oder Eure eigene Ehefrau.‹« Im Kontext der Vorwürfe gegen Magnus können drei andere europäische Könige des Mittelalters gesehen werden, denen möglicherweise ebenfalls, wenn auch nur andeutungsweise, »sodomitische« Tendenzen unterstellt wurden: Edward II. von England (reg. 1307– 1327), Richard II. von England (reg. 1377– 1400) und Wenzel von Luxemburg, böhmischer und römischer König (reg. 1376 – 1400/1419), vgl. dazu Hergemöller 2003, S. 165 – 201.  Vgl. Hergemöller 2003, S. 94– 95.

Vorbemerkungen

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gesagt für die soeben skizzierte Mischkategorie von Unmännlichkeit, während mit níð deren Funktionalisierung als aktiver Vorwurf bezeichnet wird. Diese beiden relationalen Konzepte wurden bereits früh als bedeutsam für die Sagaliteratur identifiziert. Die bislang einzige monografische Untersuchung der beiden Konzepte in den Isländersagas auf einer narrativen Ebene von Preben Meulengracht Sørensen trägt in logischer Konsequenz in ihrer englischen Übersetzung den Titel The Unmanly Man. ⁶ Dabei behandelt diese Untersuchung nur eine kleine Textauswahl aus dem Gesamtcorpus der Isländersagas. Gleichwohl war ihr Ansatz, ergi und níð systematisch unter den Gesichtspunkten ihrer narrativen Funktion zu untersuchen, sehr vielversprechend und letztlich ausschlaggebend für die vorliegende Arbeit. Deren Ziel ist es, die textuellen Wirk- und Funktionsmechanismen zu beschreiben, die ergi und níð in den Isländersagas entfalten. Beide Konzepte stellen die speziell altwestnordische Ausprägung des sozialen Unmännlichkeitsnarrativs dar, dem auch der hier genannte deutsche Politiker und der schwedische König unterliegen.

 Meulengracht Sørensen 1983.

1 Einleitung: Die Isländersagas als Corpus einer narratologischen Untersuchung von ergi und níð Unter den Begriff Isländersagas (isl. Íslendingasögur) fallen je nach Zählweise etwa 30 bis 40 längere Prosaerzählungen, die im Hoch- und Spätmittelalter in Island verfasst wurden und sich mit der Geschichte seiner Bewohner auseinandersetzen.¹ Dazu gesellen sich mehrere kürzere Texte, die kaum die Länge einzelner Kapitel überschreiten und demzufolge Íslendingaþættir genannt werden, nach dem isländischen Wort þáttur ›Teil, Abschnitt‹.² Zeitlich beziehen sich diese Texte auf eine Vergangenheit, die zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift bereits um mehrere hundert Jahre zurück lag, die sogenannte söguöld, die Sagazeit, in der sich schwerpunktmäßig ihre Handlung vollzieht. Historisch reicht sie von der Einrichtung des alþingi, des zentralen nationalen Ge-

 Vgl. zur definitorischen Einteilung und Abgrenzung von den übrigen Gattungen der altisländischen Literatur Schier 1970, S. 2– 9; Vésteinn Ólason 2011, S. 19 – 23; Uecker 2017, S. 114– 121; Bampi 2017. In der Reihenfolge, in der sie in der zugrunde gelegten Edition für das in diesem Buch untersuchte Corpus – Band 2 bis einschließlich 14 der Reihe Íslenzk fornrit – abgedruckt sind, sind es folgende 37 Texte: Egils saga, Hœnsa-Þóris saga, Gunnlaugs saga ormstungu, Bjarnar saga Hítdœlakappa, Heiðarvíga saga, Eyrbyggja saga, Eiríks saga rauða, Grænlendinga saga, Laxdœla saga, Gísla saga, Fóstbrœðra saga, Hávarðar saga Ísfirðings, Grettis saga, Bandamanna saga, Vatnsdœla saga, Hallfreðar saga vandræðaskálds, Kormáks saga, Víga-Glúms saga, Svarfdœla saga, Valla-Ljóts saga, Ljósvetninga saga, Reykdœla saga, Vápnfirðinga saga, Hrafnkels saga, Droplaugarsona saga, Fljótsdœla saga, Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, Njáls saga, Harðar saga, Bárðar saga, Þorskfirðinga saga (Gull-Þóris saga), Kjalnesinga saga, Víglundar saga, Króka-Refs saga, Þórðar saga hreðu, Finnboga saga, Gunnars saga keldugnúpsfífls. Zu Kritik an der Edition Íslenzk fornrit vgl. Kap. 1.3, Fn. 63. Soweit nichts anderes angegeben ist, stammen sämtliche in diesem Buch angeführten Übersetzungen von mir. Altnordische Namen werden in ihrer Nominativform angegeben und dem Deutschen entsprechend flektiert. Demnach können im Text Formen auftauchen, die im Altnordischen bzw. Isländischen ungrammatisch sind, etwa die Genitivform Egills für den Namen Egill gegenüber dem grammatikalisch korrekten altnordischen bzw. isländischen Genitiv Egils. Da die in den Isländersagas häufig vorkommenden Tempuswechsel zwischen Präsens und Präteritum für die vorliegende Untersuchung keine inhaltliche Rolle spielen, wurde auf ihre wörtliche Wiedergabe im Deutschen verzichtet und zugunsten einer besseren Lesbarkeit das Präteritum unmarkiert als einheitliches Erzähltempus der Übersetzungen gewählt.  Vgl. Schmid 2001, s.v. þáttur. Bei den Þættir handelt es sich – wiederum in der Reihenfolge der Edition aufgelistet – um die folgenden 36 Erzählungen: Gísls þáttr Illugasonar, Brands þáttr ǫrva, Grænlendinga þáttr, Halldórs þáttr Snorrasonar I und II, Stúfs þáttr, Þáttr Þormóðar, Auðunnar þáttr vestfirzka, Þorvarðar þáttr krákunefs, Odds þáttr Ófeigssonar, Hrómundar þáttr halta, Hrafns þáttr Guðrúnarsonar, Ǫgmundar þáttr dytts, Þorvalds þáttr tasalda, Þorleifs þáttr jarlaskálds, Sneglu-Halla þáttr, Þorgríms þáttr Hallasonar, je nach Zurechnung auch Sǫrla þáttr, Ófeigs þáttr und Vǫðu-Brands þáttr, die – wie im Folgenden vertreten – als Bestandteil der Ljósvetninga saga gesehen werden, Hreiðars þáttr, Þorsteins þáttr stangarhǫggs, Ǫlkofra þáttr, Brandkrossa þáttr, Gunnars þáttr Þiðrandabana, Draumr Þorsteins Síðu-Hallssonar, Þorsteins þáttr Austfirðings, Þorsteins þáttr sǫgufróða, GullÁsu-Þórðar þáttr, Þórarins þáttr Nefjólfssonar, Þorsteins þáttr uxafóts, Egils þáttr Síðu-Hallssonar, Orms þáttr Stórólfssonar, Þorsteins þáttr tjaldstœðings, Þorsteins þáttr forvitna, Bergbúa þáttr, Kumlbúa þáttr, Stjǫrnu-Odda draumr, Jǫkuls þáttr Búasonar. https://doi.org/10.1515/9783110754230-003

1 Einleitung

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richts, um das Jahr 930 herum bis kurz nach der Einführung des Christentums um etwa 1000. Bisweilen reichen die Erzählungen zurück bis in die Landnahmezeit ab etwa 870. Als ein zentrales Element ihrer literarischen Tradition verbindet die Isländersagas das Interesse an den Narrativen über soziale Konflikte. So wird als eines ihrer Hauptaugenmerke häufig die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft identifiziert und hervorgehoben.³ Art und Häufigkeit solcher Auseinandersetzungen könnten dazu verleiten, die Isländersagas auf die Formel »Bauern prügeln sich«⁴ herunterzubrechen, was diesen Texten jedoch nicht gerecht werden würde. Die Thematisierung von Erschütterungen innerhalb eines Sozialsystems allein begründet freilich noch nicht ihre herausgehobene Stellung innerhalb der Weltliteratur, werden soziale Konflikte doch stets »entlang von narrativen Feldlinien choreographiert«.⁵ Vielmehr hat die Art und Weise, in der die Aufarbeitung dieser Konflikte geschieht, viel Beachtung gefunden. So dienen die Sagas nicht nur dem Erzählen von Geschichten, sondern auch von Geschichte, die durch den Akt des Erzählens entsteht und Wirklichkeit erlangt.⁶ Eine literarische Besonderheit der Sagas ist ihr oft als »objektiv« beschriebener und bisweilen befremdlich distanziert wirkender Stil.⁷ Die historischen Rahmenbedingungen auf Island dienten den Schreibern der Isländersagas dabei als Folie für eine literarische Gesellschaft, die für uns heutige Rezipierende seltsam ›anarchisch‹ in dem Sinne anmutet, dass sie auf den ersten Blick ohne staatliche Ordnungsmacht auszukommen scheint. Das ist ein Eindruck, den wir an gegebener Stelle noch etwas relativieren werden, der sich dennoch darin niederschlägt, dass die dargestellte Gesellschaft wie ein sehr fragiles und störungsanfälliges Gebilde wirkt. Daneben fixieren sich die Sagas auf die ›Störer‹, die dieses Gebilde destabilisieren, um im Idealfall eine Veränderung des Gefüges zum eigenen Vorteil zu erreichen.⁸ Resultat dieser Fixierung ist vor allem die auffällige Häufung von notorischen Störenfrieden und Unruhestiftern unter den Hauptfiguren der Isländersagas. Das vorliegende Buch macht es sich zum Schwerpunkt, eine der »narrativen Feldlinien« von Konflikten in ihrer Inszenierung und ihrer Wirkung auf die handelnden Figuren und die Erzähler durch das Untersuchungscorpus hinweg zu verfolgen: Die Betrachtung liegt auf verschiedenen Aspekten der (literarischen) Instrumentalisierung von Männlichkeitsbildern im Rahmen der beiden Konzepte ergi und níð. Deren Funktionalität und hohe Effektivität beim Management von Konflikten innerhalb der Erzählungen ist nicht zuletzt in den realhistorisch vorauszusetzenden Geschlechter-

 Vgl. dazu Vésteinn Ólason 2011, S. 30 – 31, Meulengracht Sørensen 1993, S. 14, Miller 1990, S. 6, Byock 1982, S. 1– 2.  Bewusst so überspitzt leitet Uecker in seiner Darstellung der altnordischen Literatur sein Kapitel zu den Isländersagas ein, Uecker 2017, S. 114.  Koschorke 2012, S. 20.  Vgl. Uecker 2017, S. 114.  Vgl. die Besprechungen bei Sävborg 2017, S. 112– 115 und Uecker 2017, S. 118.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 194.

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1 Einleitung

konventionen und dem etablierten Fehdewesen zu suchen. Vor einer Untersuchung dieser Konzepte im Erzählkontext der Isländersagas müssen jedoch zunächst einige Gesichtspunkte terminologischer, theoretischer und wissenschaftsgeschichtlicher Natur erläutert werden.

1.1 Homosexualität in den Sagas? Vorüberlegungen zu einer ›Terminologie der Unmännlichkeiten‹ Eine Arbeit mit dem gewählten Fokus auf einem so vielfältig auslegbaren Begriff wie ›Unmännlichkeit‹ geriete ohne eine vorweggeschickte ernste Auseinandersetzung mit den in ihr zu verwendenden Begrifflichkeiten schnell auf terminologisch unsicheres Terrain. Das zeigen schon die vorliegenden altnordischen Wörterbücher, die als Übersetzung für den zugrunde gelegten Begriff ergi vornehmlich Wörter aus den Feldern ›Unmännlichkeit‹⁹ und ›Sexualität‹ anbieten und damit eine enge Interpretationsrichtung vorgeben.¹⁰ Zu verlockend ist es, vermeintlich passende Begriffe unreflektiert zu verwenden, die mit diesem Themenfeld in Zusammenhang stehen. Neueren Untersuchungen in geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen, die sich mit den Abweichungen von den jeweils vorherrschenden sexuellen Normen in der Geschichte auseinandersetzen, ist durchaus eine gewisse Vorsicht in Hinblick auf die zu verwendende Terminologie anzumerken.¹¹ Die möglichen Fallstricke von modernen Assoziationen mit einzelnen Begriffen, die auf einen vormodernen Kontext angewendet werden, ergeben sich schon dadurch, dass die konkrete Untersuchung dieser komplexen Thematik wissenschaftsgeschichtlich eine vergleichbar junge Erscheinung ist. Das gilt vor allem in Hinblick auf gleichgeschlechtliche Lebensweisen und deren Betrachtung aus einem explizit neutralen Blickwinkel, wurden solche Betrachtungen doch erst mit nach und nach durchgesetzter gesellschaftlicher und juristischer¹² Enttabuisierung möglich.

 Richtiger wäre aufgrund der vielfältigen unterschiedlichen historischen und kulturellen Ausprägungen dieses Ideenbündels ohnehin, von ›Männlichkeiten‹ und folglich auch ›Unmännlichkeiten‹ im Plural zu sprechen, vgl. Martschukat/Stieglitz 2008, S. 10, und Evans 2019, dessen Monografie diesen terminologischen Anspruch bereits im Titel trägt. Wenn konstatiert wird, dass beispielsweise der Begriff ›Mannesideal‹ »in einer sehr weiten Bedeutung, als für alle Menschen gültig, gedacht werden« könne, wird das begriffliche Spektrum noch weiter, Reichert 2001, S. 215.  Vgl. die Feststellung »Ergi […] betyr i de eldste kilder alltid seksuell perversitet, hos kvinner nymfomani, hos menn det å la seg bruke som kvinne, homoseksualitetet«, Halvorsen 1959, Sp. 9. Dieser Problematik widmet sich Kap. 2.1.  Ein Beispiel hierfür stellt die Untersuchung Roman Homosexuality von Craig A.Williams dar, deren historischen Kontext die griechisch-römische Antike bildet.Vgl. dazu das Vorwort, in dem Williams die Problematik der Projizierung moderner Begriffe und der damit verbundenen sozialen und politischen Vorstellungen auf historische Gesellschaftsgefüge thematisiert: Williams 2010, S. 4– 9.  Dazu gehört in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die 1994 erfolgte Streichung von § 175 a.F. des Strafgesetzbuches (StGB), der den gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen Männern unter

Homosexualität in den Sagas?

7

Das Ausmaß von bis in die Gegenwart reichenden Stigmatisierungen wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Begriffe unterschiedlichster Konnotationen es zu diesem Themenfeld gibt, und wie stark sie teilweise von den gesellschaftlichen Anschauungen ihrer Entstehungs- und Verwendungszeit geprägt sind. Viele der in den letzten Jahrzehnten gebrauchten Begriffe scheinen wenig tauglich für eine objektive Betrachtung der gemeinten Phänomene zu sein: Dazu gehören vor allem solche Wörter, die nicht allein für den gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr geprägt, aber häufig in diesem Zusammenhang gebraucht wurden, wie ›Sodomie‹¹³ und ›Perversion‹. Bis heute gebräuchlich ist hingegen der 1869 vom Arzt Karoly Maria Benkert geprägte griechisch-lateinische Begriff ›Homosexualität‹, der eng verbunden ist mit der Entpathologisierung von bis dahin kriminalisierten Menschen.¹⁴ Aufgrund dieses klinisch-pathologischen Ursprungs (Benkert ordnete Homosexualität als Krankheit ein) und der Fokussierung auf den Geschlechtsverkehr wird dieser Begriff heute von manchen abgelehnt.¹⁵ Doch auch die stattdessen synonym gebräuchlichen Wörter »lesbisch« und »schwul« sind ebenfalls ursprünglich diskriminierend gewesen und behalten teilweise bis heute – vor allem in der Jugendsprache – ihren pejorativen Duktus bei. In Abkehr von der ursprünglichen negativen Bedeutung stellen diese beiden Begriffe als Selbstbezeichnung sehr häufig Bezeichnungen für als politisch empfundene Identitäten dar.¹⁶ Diesen gesellschaftlichen Wandel in der Wahrnehmung von Homosexualität als einer eigenen ›Kategorie‹ menschlicher Identität fasst Michel Foucault in einem oft angeführten Zitat zusammen: Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine

Strafe stellte, vgl. Kraß 2003, S. 8 und 13. Auch die vollständige Gleichstellung homosexueller Menschen bei der Eheschließung durch das am 28.07. 2017 verkündete Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts ist in diesem Kontext zu sehen.  Dieses Wort leitet sich von der biblischen Geschichte über den Untergang der Stadt Sodom ab, deren Bewohnern gleichgeschlechtlicher Verkehr zugeschrieben wird. Heutzutage mit »Bestialität«, also Verkehr mit Tieren, gleichgesetzt, war es inhaltlich sehr einschränkend, da es sich zum einen nur auf Männer und zum anderen lediglich auf den Geschlechtsverkehr beziehen konnte. Im englischen Sprachraum ist der Begriff vor allem durch sein Weiterleben in der Rechtssprache gebräuchlicher. Vgl. dazu Kraß 2003, S. 10 – 11.  Vgl. Kraß 2003, S. 13.  Vgl. Kraß 2003, S. 16.  Vgl. zur Terminologie Kraß 2003 sowie kritisch zu den Kategorien »lesbisch« und »schwul« den im selben Band veröffentlichten Beitrag von Judith Butler. Sie sieht in der Betonung des Lesbisch- oder Schwulseins eines Individuums im politischen Diskurs die Gefahr eines performativen Aktes, der von einer Identität des »Ichs« weg- und zu einem konstruierten Spiel, einer »Travestie«, hinführe. Durch die gruppenbezogene Überbetonung der Kategorien »lesbisch« und »schwul« könnten einzelne Identitäten innerhalb der Gruppe unsichtbar werden, vgl. Butler 2003, insbes. S. 151– 152.

8

1 Einleitung

Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität.¹⁷

Dabei geht es nicht darum, dass ihm zufolge homosexuelles Verhalten in der Vormoderne undenkbar wäre, sondern homosexuelle Identität im heutigen Sinne.¹⁸ In Abgrenzung zum fragmentierten Bild von heute oft als homosexuell wahrgenommenen Merkmals- und Verhaltenskategorien im Mittelalter fasst Foucault in Hinblick auf das Bild vom Sodomiten pointiert zusammen: »Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.«¹⁹ Damit weist er auf die Probleme hin, die sich bei der Beschreibung des inneren Zustandes vormoderner Subjekte ergeben, da lediglich moderne Subjekte nach unserem Verständnis sexualisiert seien, wobei die von ihm postulierte Trennschärfe zwischen Vormoderne und Moderne durchaus diskutiert wurde.²⁰ Ein Vorschlag zur Überwindung des Abgrundes zwischen dem Foucault’schen Sodomiten und dem modernen Homosexuellen, der eine analytische Beschreibung vormoderner Subjekte zulässt, stammt von David Halperin. Auf der Grundlage bisheriger Forschungen im Bereich der Sozial- und Geschichtswissenschaften skizziert er ein begriffliches Instrumentarium, das zur Annäherung an geschlechtliche Devianz dient.²¹ Objektiv beschreibbare Abweichungen von der männlichen Geschlechternorm in einem historischen Kontext lassen sich ihm zufolge unter dem Begriff »prähomosexuelle Kategorien« zusammenfassen.²² Der Vorteil einer solchen Kategorisierung ist, dass so mehrere Phänomene begrifflich vereint sind, die nicht alle mit Homosexualität zu tun haben, aber eine Normüberschreitung darstellen, ohne dass der moderne Homosexualitäts-Begriff für diese Abweichungen verwendet und gegebenenfalls in semantischer Hinsicht überstrapaziert werden muss. Sie kommen dem gestellten Problem des vorliegenden Buches, nämlich die Untersuchung von sogenannter ›Unmännlichkeit‹ in einem mittelalterlichen Kontext, wesentlich näher als eine Reduktion der Kategorie ›Unmännlichkeit‹ auf männliche Homosexualität. Ein generelles Problem des Begriffes, wie Halperin ihn fasst, ist, dass viele Aspekte ausschließlich auf Männer zutreffen, so dass seine »prähomosexuellen Kategorien« nicht praktikabel für alle Geschlechter sind. Stattdessen gibt es einen neutralen Begriff, der alle denkbaren geschlechtlichen Abweichungen in sich vereint, nämlich das englische Wort »queer«, das eigentlich eine alte Entlehnung aus dem Deutschen darstellt und der in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen wissenschaftlichen Theorie der Queer Studies den Namen gab.²³ Ursprünglich bedeutete es so viel wie ›verquer‹ und war

      

Foucault 2016, S. 1061. Vgl. Evans 2019, S. 91. Foucault 2016, S. 1061. Vgl. Martschukat/Stieglitz 2008, S. 141. Vgl. zur Forschungsliteratur, auf die er sich beruft, Halperin 2003, S. 178, Fn. 6. Halperin 2003, S. 180. Vgl. Kraß 2003, S. 17.

Homosexualität in den Sagas?

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»auch als abfälliger, umgangssprachlich Ausdruck für ›schwul‹ und ›lesbisch‹ geläufig«.²⁴ Mittlerweile dient er aber zur Beschreibung von geschlechtlicher Andersartigkeit und Brüchen mit der herrschenden Norm vom Weiblichen und Männlichen. Es gibt daher keine Vorbehalte gegen diesen Terminus, wie sie gegen den modernen Begriff ›Homosexualität‹ und Halperins vorgeschlagene »prähomosexuelle Kategorien« (in Bezug auf nicht männliche Individuen) vorgebracht werden könnten.²⁵ Beiden, dem eher umgangssprachlich empfundenen, aber außerhalb der Jugendsprache meist nicht abwertend gebrauchten Begriffspaar ›lesbisch‹ und ›schwul‹ sowie dem Begriff ›Homosexualität‹, ist also eine moderne Tradition gemeinsam, denn sie beschreiben gegenwärtige Identitäts- und Selbstzuschreibungen. In ihnen wird das Ergebnis mehrerer langer historischer Prozesse um Abweichungen vom in der jeweiligen Kultur und Epoche herrschenden Geschlechterbild greifbar, die viele verschiedene Aspekte und Schwerpunkte in sich vereinen.²⁶ Damit wäre es anachronistisch, von ›lesbischen und schwulen Sagafiguren‹ zu sprechen – die moderne Sichtweise auf geschlechtliche Identitäten sprengt den Rahmen dessen, was in eine vormoderne literarische Figur hineininterpretierbar ist. Da es aufgrund der literarischen ›Gemachtheit‹, der Erzählstrategien und der historischen Umstände problematisch erscheint, von Identitäten im modernen Sinne zu sprechen, kann das Wort ›homosexuell‹ in dieser Untersuchung rein deskriptiv in seiner Wortbedeutung verwendet werden, wo die Quellen eindeutige Aussagen zulassen. Überspitzt gesagt: Wir können nicht eindeutig sagen, ob es in den Isländersagas homosexuelle Figuren gibt. Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, dass homosexueller Geschlechtsverkehr thematisiert wird, ohne dass dies eine Identitätszuschreibung der betroffenen Figuren im modernen Sinne bedeuten würde. Doch auch bei anderen Phänomenen, die nicht mit der Homosexualität zusammenhängen, ergeben sich mitunter terminologische Probleme. Für das Anlegen von Kleidung, die eigentlich für das andere Geschlecht reserviert ist, gibt es ebenfalls mehrere Begriffe, deren Unterscheidung nicht immer ganz eindeutig ist. Das deutsche Wort ›Transvestismus‹ (analog zu Englisch »transvestism«) besitzt eine klangliche Nähe zu Travestie, womit aber nicht das einfache Anlegen von andersgeschlechtlicher Kleidung gemeint ist, sondern eine moderne Kunstform, die das Überzeichnen von Geschlechtsmerkmalen des anderen Geschlechtes mit Hilfsmitteln wie Kostümen und Schminke sowie die damit verbundene Kritik an Geschlechterrollen und gesellschaftliche Satire als Mittelpunkt hat. Auch mag es bei einigen Menschen Assoziationen zur Transsexualität oder Transidentität wecken, die aber eine eigenständige Identität und keine Form von Verkleidung darstellt. Das aus dem Englischen stammende Wort »Cross-Dressing« erscheint da deutlich neutraler, da es nur einen Zustand

 Vgl. Kraß 2003, S. 17.  Vgl. dazu Ármann Jakobsson 2007, S. 192, Fn. 6 sowie Burger/Kruger 2001, S. xi–xxiii, insbes. S. xi– xiii.  Vgl. Halperin 2003, S. 179.

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1 Einleitung

des Verkleidet-Seins beschreibt.²⁷ Im Folgenden soll dieses Wort daher zur Beschreibung entsprechender Sachverhalte in der altnordischen Literatur benutzt werden. Begriffliche Kategorien wie ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ sowie deren Negationen unterliegen ebenfalls einem fortschreitenden gesellschaftlichen Wandel und sich stets ändernden, teilweise moralischen, Ausdeutungen. Vor Rückschlüssen von einer vermeintlich relationalen Kategorie auf die andere warnt die Historikerin Ruth Mazo Karras: »Both medieval and modern people tend to understand categories with reference for their opposites. In these terms masculinity is not-femininity and femininity is not-masculinity.«²⁸ Tatsächlich ist es – zunächst in vom sozialen und historischen Kontext losgelöster Betrachtung – für eine Definition des Begriffs ›Unmännlichkeit‹ verlockend, auf die vermeintlich entgegengesetzte Kategorie ›Weiblichkeit‹ zurückzugreifen. Von einem solchen Grundverständnis ausgehend wäre bezogen auf diese Untersuchung alles, was in den Isländersagas als weiblich aufgefasst und dargestellt wird, mit Blick durch die Linse derselben Texte zugleich unmännlich, und alles, was als unmännlich angesehen wird, zugleich weiblich. Dass diese beiden Prämissen zu kurz greifen, sei an dieser Stelle nur zur Veranschaulichung anhand eines Beispiels verdeutlicht, das an späterer Stelle noch einer ausführlicheren Betrachtung unterzogen werden wird: Im Auðunnar þáttr vestfirzka wird davon berichtet, wie der Isländer Auðunn nach einer langen Pilgerreise ausgemergelt und mit deutlich erkennbarem Haarverlust an den Königshof zurückkommt und dort für sein Auftreten ausgelacht wird. Auðunns augenscheinliche durch den Haarverlust bedingte Unmännlichkeit kann aber gerade nicht als Wirkung von Weiblichkeit als Gegenteil von Männlichkeit aufgefasst werden.²⁹ Das Konzept ›Unmännlichkeit‹ muss daher als Kategorie mehr umfassen als die bloße Umkehrung des semantischen Gegenteils des Grundkonzeptes ›Männlichkeit‹. Und auch ›männliches‹ Verhalten ist nicht zugleich immer ein Marker von ›Unweiblichkeit‹: »In the law and especially in literature women were under certain conditions allowed to act in men’s roles and to conform to masculine ethics.«³⁰ Diesem terminologischen Befund trägt im Bereich der Altnordistik jüngst Gareth Lloyd Evans in seiner Untersuchung Men and Masculinities in the Sagas of Icelanders Rechnung, wenn er auf die begrifflichen Umstände eingeht.³¹ Seine Untersuchung zeigt, dass das Bild von Männlichkeit ein sehr abgestuftes ist und hinsichtlich der sozialen Wahrnehmung eher einem Spektrum als einer binären Opposition entspricht.

 Gelegentlich kann aber auch dieses Wort missverständlich sein, so ist es möglich, »Cross-Dressing« als eine Art »lifestyle« aufzufassen, vgl. Wolf 1997, S. 675. Dennoch erscheint dieser Nachteil bei der Verwendung in einer deutschsprachigen Arbeit nicht so gravierend wie die beschriebenen Nachteile bei dem deutschen Wort Transvestismus.  Karras 2003, S. 11. Evans äußert sich diesbezüglich ähnlich: »deviation from the masculine ideal does not invariably imply feminization«, Evans 2019, S. 17.  Vgl. Kap 5.1.2.  Meulengracht Sørensen 2000, S. 81.  Evans 2019, S. 5 – 9.

1.2 Ergi, níð, Gender Studies und Narratologie: Die bisherige Forschung

11

Folgerichtig spricht er von »Masculinities« im Plural. Wenn in der hier vorliegenden Arbeit von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ (und in der Negation ›(un)weiblich‹ und ›(un)männlich‹) die Rede ist, so sind damit keine etwaigen normativen und allgemein gültigen Kategorien gemeint, sondern stets das vorherrschende Normenbündel und die erwünschten sozialen Verhaltensweisen aus der Sicht der Isländersagas, wie sie noch im Folgenden anhand des gesellschaftlichen Porträts innerhalb dieser Texte herausgearbeitet werden.

1.2 Ergi, níð, Gender Studies und Narratologie: Die bisherige Forschung Die erste (deutschsprachige) Untersuchung im Bereich der Altnordistik, die eine ernsthafte objektive Auseinandersetzung mit der Übertretung von Geschlechtergrenzen anstrebte, erschien im Rahmen der Forschungen am Berliner Institut für Sexualwissenschaften unter der Leitung von Magnus Hirschfeld – bezeichnenderweise jedoch anonym.³² In den folgenden Jahrzehnten fand eine Abkehr von diesem Feld in Deutschland statt, so dass spätere altnordistische Arbeiten die Geschlechterthematik nicht zum zentralen Aspekt der Untersuchung erhoben, sondern lediglich dann auf sie eingingen, wenn sie mit dem untersuchten Gegenstand in Verbindung standen. So wurde níð in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist im Kontext von Dichtkunst behandelt und die geschlechterbezogenen Themen fanden ihren Platz in den Vorbesprechungen zum ergi-Konzept. Hiervon zeugt Erik Noreens Arbeit Studier i fornvästnordisk diktning, deren mit »Om niddiktning« überschriebenes Kapitel einen Exkurs über den Begriff von ergi enthält.³³ In Andreas Heuslers Die Altgermanische Dichtung wird níð nur ein Absatz innerhalb des Abschnitts »Kleinlyrik« gewidmet.³⁴ Andere Schwerpunkte haben Dag Strömbäcks und Bo Almqvists Arbeiten über seiðr ³⁵ beziehungsweise níð ³⁶ gesetzt – beide gehen im Rahmen ihrer Untersuchungen auf (männliche) Abweichungen von den vorherrschenden Geschlechternormen ein und beide wenden eine eher völkerkundlich geprägte Methodik an. Den expliziten Schwerpunkt auf geschlechtliche Devianz legte mit einigem Abstand wieder Folke Ström in seiner Lesung »Níð, ergi and Old Norse Moral Attitudes« von 1973.³⁷ Die bis heute wohl maßgebliche und wohl unbestritten einflussreichste Arbeit zu níð in der altnordischen (Saga‐)Literatur dürfte die Untersuchung Norrønt Nid. Forestillingen om den unmandige mand i de islandske sagaer des Dänen Preben Meulengracht Sørensen

 [Anonym] 1902.  Noreen 1922, S. 37– 65. Der ergi-Exkurs findet sich dort auf S. 60 – 64.  Heusler 1941, S. 103.  Strömbäck 1935.  Almqvist 1965. Almqvist hat sich bereits in einem früheren Aufsatz mit dem Fortleben der Tradition in Island in Spätmittelalter und Frühneuzeit beschäftigt: Almqvist 1961.  Ström 1974.

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1 Einleitung

von 1980 sein, die im Jahr 1983 in einer ergänzten englischen Übersetzung als The Unmanly Man. Concepts of Sexual Defamation in Early Northern Society erschien. Im Gegensatz zu den ihm vorangehenden Forschungsbeiträgen, die sich so gut wie ausschließlich auf folkloristische und/oder poetologische Ansätze stützten, änderte er den Blickwinkel fundamental und erhob das Erzählen über níð zum Zentrum seines Interesses. Dies führte zu dem bisweilen kritisch beäugten Umstand, dass ein solcher methodischer Ansatz, der sich stärker auf den Text als auf seinen Kontext fixiert, eine gewisse Distanzierung von historischen Gegebenheiten in sich birgt.³⁸ Dieser methodische Ansatz besitzt aber gegenüber bisherigen Ansätzen den großen Vorteil, dass es uns viele Aufschlüsse über den inhaltlichen Aufbau und die Struktur der untersuchten Texte ermöglicht, wenn erzählte Textstellen über níð als »a functional part of the saga in which they occur« betrachtet werden.³⁹ In diesem Sinne war seine Arbeit bis heute die einzige Monografie, die sich dem Thema níð aus einem erzähltheoretischen Blickwinkel näherte. Die zuletzt erschienene altnordistische Monografie über Männlichkeitsbilder ist Men and Masculinities in the Sagas of Icelanders von Gareth L. Evans, das sich vor allem durch den Fokus auf hegemoniale Männlichkeitsbilder und eine vertiefte psychoanalytische Interpretation der Grettis saga auszeichnet.⁴⁰ Mit dem Aufkommen feministischer Forschungen und Fragestellungen rückten Frauen in den Fokus der Betrachtungen, so dass spätestens seit Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die Anzahl an Publikationen zu den Geschlechterrollen in der altnordischen Überlieferung explosionsartig anstieg. Darunter sticht neben den Arbeiten von Jenny Jochens⁴¹ und Jóhanna K. Fríðriksdóttir⁴² vor allem Carol J. Clovers häufig rezipierter Aufsatz hervor, in dem sie das norröne Geschlechtersystem einer eingehenden Analyse und radikalen Neuinterpretation unterzieht.⁴³ Ihre Argumentation fußte zum großen Teil auf der in der feministischen Forschung lange bestehenden Unterscheidung zwischen biologischem (sex) und sozialem Geschlecht (gen Trotz der sonst positiven Töne seiner Rezension taucht dieser Kritikpunkt bei Strauch 1985, S. 350, auf, wenn er über Meulengracht Sørensens Werk schreibt: »Der Verf. folgt damit der im Wachsen begriffenen Zahl heutiger Philologen, die eine Rückprojektion der alten Texte in die Zeit ihrer ersten Entstehung ablehnen und im Bewußtsein, historische Schichten in ihnen nicht unterscheiden zu können, sie ganz als Ausdruck des geistigen und sozialen Lebens der Aufzeichnungszeit nehmen. Sie folgen dabei der Erwägung, daß die Zeitgenossen des 13. Jhs. nur die ererbten Gedanken verwendeten, die ihrer Ideenwelt entsprachen, und daß sie diese Gedanken so formulierten, wie es dem Verständnis ihrer Zeit angemessen war (S. 85).«  Meulengracht Sørensen 1983, S. 11.  Evans 2019. Zuletzt erschien ein von Gareth L. Evans und Jessica C. Hancock herausgegebener Band zu Masculinities in Old Norse Literature, in dem Aufsätze zu den Kernthemen Männlichkeitsentwürfe, Macht und Verletzlichkeit sowie männliche Beziehungen versammelt sind, Evans/Hancock (Hrsg.) 2020.  Jochens 1993, 1995, 1996. Bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts widmete sich Rolf Heller mit einer heute noch beachteten Monografie ausführlich den Frauenbildern der Isländersagas: Heller 1964.  Jóhanna K. Fríðriksdóttir 2013.  Clover 1993.

1.2 Ergi, níð, Gender Studies und Narratologie: Die bisherige Forschung

13

der), die von der späteren Forschung als problematisch kritisiert wurde. In ihrem 1990 zuerst erschienenen Buch Gender Trouble argumentierte die Philosophin Judith Butler gegen diese Unterscheidung, da es kein objektiv festlegbares biologisches Geschlecht gebe, sondern vielmehr bereits die Kategorie des sex eine kulturelle Konstruktion sei, die nicht vor oder unabhängig vom gender existiere.⁴⁴ Dem gegenüber betonte Butler den performativen Charakter von gender, das sie aufgrund dessen weder als eine feste Bezeichnung noch als ein Bündel von Zuschreibungen sieht, sondern vielmehr als eine Vielzahl ständig wiederholter kollektiver Handlungen, die auf die Generierung von Identität ausgerichtet seien.⁴⁵ Diese Theorie machte Butler zu einer Gründungsfigur der Gender Studies und schließlich der damit verbundenen Queer Studies, einem Begriff, der im Jahr 1991 von Teresa de Lauretis geprägt wurde⁴⁶ und die sich in ihrem Kern wie folgt beschreiben lassen: »Queer Theory und ihre Anwendung in den Queer Studies zielen […] auf die Denaturalisierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Entkoppelung der Kategorien des Geschlechts und der Sexualität, die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität sowie die Anerkennung eines sexuellen Pluralismus«.⁴⁷ Auf dem theoretischen Boden dieser Forschungsrichtung gedieh schon bald ein erneuter enormer Zuwachs an Publikationen erst innerhalb der Altanglistik.⁴⁸ In der Folge erschienen auch in der Altnordistik seit Ende der 90er Jahre und der Jahrtausendwende mehrere Untersuchungen, die stets Teilaspekte des Feldes in den Fokus nehmen, beispielsweise Cross-

 »It would make no sense, then, to define gender as the cultural interpretation of sex, if sex itself is a gendered category. Gender ought not to be conceived merely as the cultural inscription of meaning on a pregiven sex (a juridical conception); gender must also designate the very apparatus of production whereby the sexes themselves are established. As a result, gender is not to culture as sex is to nature; gender is also the discursive/cultural means by which ›sexed nature‹ or ›a natural sex‹ is produced and established as ›prediscursive‹, prior to culture, a politically neutral surface on which culture acts«, Butler 2007, S. 10; vgl. Bublitz 2002, S. 58 – 59.  Vgl. Butler 2007, S. 34.  De Lauretis 1991.  Kraß 2003, S. 18.  Bereits 1985 hat sich Eve Kosofsky Sedgwick mit dem Phänomen homosozialen Verlangens in der englischen Literatur auseinandergesetzt und die Bedeutung mann-männlicher Beziehungen (auch solche von nicht-erotische Natur) für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Strukturen untersucht, vgl. Kosofsky Sedgwick 1985. Dem Themenkomplex widmete sich auch David Clark in seiner namentlich an Kosofsky Sedgwick angelehnten Monografie Between Medieval Men: Male Friendship and Desire in Early Medieval English Literature: Clark 2009. Neben der altenglischen nimmt er darin auch die altnordische Literatur in den Fokus und zeigt durch die vertiefte Besprechung von einschlägigen Textstellen das große begriffliche Spektrum auf, das das Altenglische für normabweichende Männlichkeiten besitzt. Clark berührt darin auch einen großen Schwerpunkt innerhalb der (Alt‐)Anglistik, nämlich die Forschung zum Beowulf, innerhalb derer ebenfalls die textimmanente Konstruktion und Dekonstruktion von Männlichkeitsbildern untersucht wird. Dazu gehört vor allem die Problematik von Hrothgars schwindender Männlichkeit im Alter, die sich auf seine Rolle als König und auch seine sozialen Beziehungen, allen voran zum eponymen Helden Beowulf, auswirkt, vgl. etwa Dockray-Miller 2013. Einen rezenten Überblick über die gendertheoretischen Forschungspositionen zum Beowulf seit de Lauretis‘ Postulat der Queer Theory bietet Arnould-Price 2020.

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1 Einleitung

Dressing,⁴⁹ die Thematisierung verschiedener Aspekte von (Un‐)Männlichkeiten⁵⁰ oder Hallgerðrs Charakterisierung in der Njáls saga. ⁵¹ Ähnlich beliebt in der Altnordistik, wenn auch früher beginnend, waren für einen beträchtlichen Zeitraum strukturalistische Interpretationsansätze, die unter anderem auf die Forschungen über russische Volksmärchen zurückgehen, deren wohl bekanntester Vertreter Vladimir Propp mit seiner Morphologie des Märchens ist.⁵² Mit dem Feld der Narratologie, einer späteren modifizierten Ausprägung des Strukturalismus, der auch im vorliegenden Buch gefolgt wird, ist untrennbar der Name des Erzählforschers Gérard Genette verbunden. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hob er sich mit seinen Untersuchungen zu Marcel Prousts La recherche du temps perdu hervor, die erst in den 90er Jahren gesammelt unter dem Titel Die Erzählung auf Deutsch erschienen.⁵³ Darin bereitet er einen wichtigen und äußerst einflussreichen theoretischen Unterbau für spätere Untersuchungen von Erzählungen. Zentral für ihn sind der Begriff der Diegese für die erzählte Welt, die Trennung von Handlungs- und Erzählebene (histoire bzw. discours) sowie die Konzentration auf Ordnungsmuster und die Erzählerpositionen. Das sich ihm anschließende Feld der narratologischen Arbeiten, die sich mit der strukturierten, theoretisch angeleiteten Beschreibung und Interpretation von Texten befassen, ist mittlerweile annähernd genauso unüberblickbar wie die Geschlechterforschungen.⁵⁴ Mit dem erstmals 2012 veröffentlichten Buch Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie legte der Kulturwissenschaftler Albrecht Koschorke eine Monografie vor, in dem er viele der zwischenzeitlich entstandenen Ansätze und Methoden aus dem Bereich der Erzählforschung zu einem erweiterten Theoriegebilde zusammenfasste, das sich ausdrücklich nicht mehr bloß auf die Interpretation literarischer Texte bezieht.⁵⁵ Im selben Jahr wurde postum die Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive des Germanisten Armin Schulz veröffentlicht.⁵⁶ Darin werden narratologische Methodiken gezielt auf mittelalterliche, vornehmlich deutschsprachige, Texte angewandt. Durch diese verdienstvolle Verbindung von Narratologie und Mediävistik wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die meisten narratologischen Theoreme anhand moderner Literaturen entwickelt und erprobt wurden. Innerhalb der Altnordistik wurden, wie bereits erwähnt, »klassische« strukturalistische Ansätze vielfach aufgenommen und angewandt. Das prominenteste Beispiel in Bezug auf die Isländersagas dürfte zweifelsohne

 Wolf 1997.  Phelpstead 2007, 2013, Bagerius 2009, Hiltmann 2011, Evans 2019.  Dronke 1981, Kress 2004. Eine rezente und ausführliche Übersicht und Besprechung zum altnordistischen Forschungsstand in Bezug auf Frauenfiguren und auf Männlichkeit außerhalb der Isländersagas bietet Jóhanna K. Fríðriksdóttir 2017, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen wird.  Zuerst erschienen auf Russisch im Jahr 1928, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Propp 1972.  Hier und im Folgenden zitiert als Genette 2010.  Einen Eindruck davon vermitteln Köppe/Kindt 2014, S. 13 – 40.  Koschorke 2012.  Hier und im Folgenden in der zweiten Auflage als Schulz 2015 zitiert.

1.3 Aufbau und Vorgehen

15

Anderssons The Icelandic Family Saga. An Analytic Reading sein, in dem er die Grundlage für ein oft rezipiertes fünfstufiges Erzählschema für Konfliktabläufe in den Sagas legte.⁵⁷ Ein Aufsatz von Jürg Glauser legt den Stand strukturalistischer Methodiken in der Altnordistik im Jahr 1989 dar,⁵⁸ während gegenwärtig vor allem starke Kritik an strukturalistischen Ansätzen geübt wird, da sie von vielen als überwunden angesehen werden.⁵⁹ Die Arbeiten von Andreas Schmidt⁶⁰ und Daniela Hahn⁶¹ haben demgegenüber gezeigt, dass eine narratologische Herangehensweise an die Untersuchungsgegenstände der Altnordistik sehr fruchtbar sein kann, wenn sie sich von den alten strukturalistischen Fesseln löst und sich den Texten »auf Augenhöhe« annähert.

1.3 Aufbau und Vorgehen Angesichts der breiten Masse an vorangegangenen Forschungsarbeiten mag eine zusätzliche Monografie mit dem gewählten Titel zunächst erstaunen. Trotz aller notwendigen Rückgriffe auf dankenswerter Weise bereits geleistete Forschungsarbeiten sollen in diesem Buch jedoch neue Wege beschritten werden, die sich vor allem aus den unterschiedlichen Grundlagen ihrer Methodologie ergeben. Dabei spielt der in den Gender Studies etablierte Aspekt von Gender als einer performativen und sozial zugeschriebenen Kategorie eine große Rolle: Ergi und níð dürfen dafür geradezu als paradigmatisch gelten. Der elementare Fokus dieses Buches ist ein literaturwissenschaftlicher, genauer gesagt: Ein narratologischer. Damit ist es zugleich die erste Monografie innerhalb dieses Gebiets, die explizit dieser literaturwissenschaftlichen Methode folgt und dabei das gesamte Corpus in den Blick nimmt: Die erwähnten Arbeiten von Almqvist⁶² waren hauptsächlich ethnologisch und folkloristisch geprägt, während Meulengracht Sørensen⁶³ zwar sehr erfolgreich literaturwissenschaftliche Pfade einschlug, dabei aber nur eine kleine Textauswahl aus dem Gesamtcorpus anbot und schon wegen des Erscheinungszeitpunktes noch nicht von den ausgereiften theoretischen Erkenntnissen der Gender Studies profitieren konnte. Bandlien⁶⁴ und Hiltmann⁶⁵ verfolgen einen historisch angelegten Ansatz, wohingegen Evans⁶⁶ für

 Andersson 1967.  Glauser 1989. Glauser räumt schon zu Beginn ein, dass der Höhepunkt klassisch narratologischer Forschung bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens des Aufsatzes 15 oder 20 Jahre zurücklag und ihre Methodiken vergleichsweise spät in der Altnordistik ankamen, vgl. Glauser 1989, S. 181.  Einen sehr deutlichen Standpunkt dazu vertritt in seiner Übersicht zum Thema Ármann Jakobsson 2017.  Schmidt 2018.  Hahn 2020.  Almqvist 1965, bzw. 1974.  Meulengracht Sørensen 1980, bzw. 1983.  Bandlien 2005.  Hiltmann 2007.

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1 Einleitung

seine Lektüre der Grettis saga auf psychoanalytische Interpretationsmuster und das Konzept von hegemonialen Männlichkeiten zurückgreift. Bei dem im vorliegenden Werk gewählten Ansatz stehen allein die Texte des gewählten Corpus im Mittelpunkt der Betrachtungen; das heißt, der Text spricht aus sich und für sich, während die Umstände, in denen er zustande gekommen ist, eine untergeordnete Rolle bei der Interpretation spielen. Es ist dabei jedoch einleuchtend, dass eine hermetisch abgeriegelte Untersuchung von literarischen Motiven quasi im luftleeren Raum wenig Erkenntnisgewinn verspräche; auch Genette schickt der Herleitung seiner Erzähltheorie anhand von Prousts Werk voraus, dass er nicht den Text allein und auch nicht den Text ohne Vergleiche und Perspektivierungen untersuchen könne.⁶⁷ Konkret auf die hier vorliegende Untersuchung der Isländersagas bezogen bedeutet dies hinsichtlich der Texte selbst, dass gewisse Zugeständnisse an eine rein narratologische Lektüre gemacht werden müssen. So ist das Untersuchungscorpus zwar auf die Edition in der Reihe Íslenzk fornrit beschränkt, die den vor allem nationalistisch geprägten Anspruch verkörpert, aus einer Reihe von Handschriften den (richtigen, gültigen) Sagatext herauszudestillieren.⁶⁸ Allerdings kann bei zentralen und bedeutsamen Textstellen auf parallele Überlieferungen und Handschriftenvariationen verwiesen werden. Zudem gewährleistet der Rückgriff auf diese Reihe, die eine möglichst gleichförmige Präsentation der Texte nach den Prinzipien und Vorgaben der Herausgeber anstrebt, dass die Textbasis der Untersuchung auf einem einheitlichen Stand vorliegt, was die Vergleichbarkeit der Texte untereinander verbessert. In Bezug auf den Kontext, dem die untersuchten Texte entstammen, heißt die Genetteʼsche Prämisse, dass eine kurze Einordnung der Besonderheiten innerhalb der ›Gattung‹ Isländersagas dem Untersuchungsteil vorangestellt ist. Der Kern der Untersuchung, die beiden Konzepte ergi und níð, die den motivischen Dreh- und Angelpunkt innerhalb dieses Corpus darstellen, könnte in heutiger Zeit ohne eine his Evans 2019.  Vgl. Genette 2010, S. 9 – 10.  Eine scharfe Kritik am Vorgehen der Herausgeber vor allem in Bezug auf die Behandlung der Þættir übte zuletzt Ármann Jakobsson. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die lange in Island etablierte Lehrmeinung, dass die als Þættir bezeichneten Texte nicht mehr als kurze Versionen von Isländersagas seien und demzufolge ohne Schwierigkeiten aus ihrem textuellen Kontext, den Königssagas, gelöst werden könnten, vgl. Ármann Jakobsson 2013, S. 268. Es klingt bei ihm auch eine mögliche Verquickung des Nationalismus der Herausgeber mit Fragen von idealisierter und vermeintlich heroischer Männlichkeit an: »Nationalism was another part of their core ideology and although Icelandic nationality would not seem to be necessarily entwined with the historical, the real, and the logical (to which one might also add the masculine), sometimes there seemed to emerge a binary opposition where native seemed to fall naturally in place with the real, the historical, and the logical«, Ármann Jakobsson 2013, S. 289. Einen Überblick zur Entstehung und den kritischen Positionen in Bezug auf die Íslenzk fornrit-Edition liefert Hahn 2020, S. 9, insbesondere Fn. 39 und 40. Für einen Überblick zur forschungsgeschichtlichen Kontroverse um die Þættir als Gattung vgl. Ashman Rowe 2017. Bei Bampi (im selben Band) taucht der Begriff Þættir im Rahmen der Gattungsaufzählung bei den Íslendingasögur nicht auf, vgl. Bampi 2017, S. 5.

1.3 Aufbau und Vorgehen

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torische und kulturelle Kontextualisierung nicht oder allenfalls als inhaltlich unverstandenes literarisches Motiv nachvollzogen werden. Es ist daher notwendig, die Bedeutung beider Konzepte anhand ihrer historischen Wurzeln herzuleiten und hinsichtlich ihrer inhaltlichen Dimensionen so zu erschließen, dass ihre Untersuchung in den Isländersagas in einer auch für die heutigen Rezipierenden nachvollziehbaren Weise gelingen kann. Erste Annäherungen an das Corpus erfolgten unter der Prämisse, dass die einzelnen Episoden, in denen níð eine Rolle spielt, der Abfolge und dem Lesefluss der Editionen von Íslenzk fornrit folgend nacheinander besprochen und analysiert werden sollten. Schnell zeigte sich, dass eine solche Herangehensweise zwar unabdingbar für ein strukturiertes Erfassen der Texte ist, keinesfalls aber das Thema in einer ansprechenden und methodisch zielführenden Weise abbilden konnte. Für den Aufbau der vorliegenden Untersuchung hätte dies konkret eine Gliederung mit annähernd 70 Unterpunkten bedeutet, die zum Teil wegen des Fehlens einschlägiger Passagen so gut wie leer bleiben müssten, zum Teil jedoch gewaltige Unwucht entstehen lassen hätten: Einzelne Texte bedürften innerhalb dieses Aufbaus wegen ihrer im Vergleich zum restlichen Corpus überproportionalen Beschäftigung mit Fragen der Unmännlichkeit einer vergleichsweise ausführlichen Besprechung. Aufgrund der vielen Unterpunkte wäre ein solcher Aufbau anfällig für redundante Passagen und unzählige Vor- und Rückverweise, was für eine Aufarbeitung des Themas impraktikabel erschien. Aus dieser Erkenntnis ergab sich die Notwendigkeit einer sachorientierten thematischen Gliederung, die nicht auf die einzelnen Texte, sondern größere thematische Sinneinheiten abstellte. Der nächste verworfene Ansatz, der dieser Erkenntnis folgte, war, auf der Grundlage der in Kapitel 3.2.3 erarbeiteten Darstellung über die formale und inhaltliche Aufgliederung des Konzeptes níð mit den zwei Hauptteilen skulpturales und verbales níð vorzugehen. Dies hätte allerdings ebenfalls mehrere Probleme mit sich gezogen: Eine inhaltliche Zuordnung einzelner Episoden zu einer der Kategorien ist nicht in allen Beispielen problemlos möglich und gerade dann problematisch, wenn sich innerhalb einer Episode Überschneidungen hinsichtlich der Zuordnungskriterien ergeben. Als Beispiel seien hier Runenstäbchen genannt, die sich beiden Hauptkategorien zuordnen ließen.⁶⁹ Des Weiteren stützte sich eine solche Gliederung auf eine Interpretation und Schematisierung der einzelnen Episoden und Rechtstexte, die ihrerseits in Teilen der Forschung hinsichtlich ihrer Interpretation umstritten sind.⁷⁰ Über diese Unsicherheiten bei der konkreten Zuteilung zu einer formalen Unterkategorie hinaus war ein Erkenntnisgewinn durch die Einteilung der Textstellen in diese Kategorien nicht ersichtlich, lassen sich doch keine belastbaren Zusam-

 Vgl. Kap. 2.2.3.1.  Es sei hier etwa auf den Standpunkt von Alison Finlay verwiesen, die ýki als spezialisierte und gegenüber níð selbstständige Form auffasst, während ansonsten – und auch in der vorliegenden Untersuchung – häufig der Standpunkt vertreten wird, dass es sich um eine Untergattung des Phänomens níð handelt. Vgl. zu dieser Fragestellung Kap. 2.2.3.

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1 Einleitung

menhänge zwischen der zugeschriebenen Form eines níð und dessen narrativer Funktion erkennen. Es schien sinnvoll, die Textstellen zu ergi und níð getrennt voneinander zu betrachten: Aus der strukturierten Erfassung und Darstellung der unterschiedlichen Aspekte von ergi in Kapitel 4.1 sollte sich ergeben, woher níð als erzählerisches Element in den Isländersagas seine reichhaltigen Funktionsweisen bezieht. Daraus folgte, dass beide Begriffe unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt werden sollten: Für die Herausarbeitung der unterschiedlichen Aspekte von ergi in Kap. 4.1 war es demnach tatsächlich sinnvoll, nach der Art der Darstellung zu unterscheiden, wie es ursprünglich einmal für die gesamte Arbeit geplant war, und davon ausgehend die narrative Funktion zu erläutern. Der Schwerpunkt dieses Teils liegt nun aber mehr auf der Darstellung als auf der tatsächlichen Funktion für die Texte. Diese war dann der erfolgversprechendste Ansatz einer thematischen Gruppierung der Textstellen zu níð: Es geht in dieser Untersuchung nicht um die Fragestellung, ob níð in den Sagas des 13. bis 15. Jahrhunderts ein literarisches Motiv darstellt – denn ein solches ist es definitiv unabhängig von der Frage nach der Historizität in der Wahrnehmung der damals zeitgenössischen Rezipierenden –, sondern vielmehr darum, wie dieses Motiv in erzählstrategischer Hinsicht eingesetzt wird. Wie kommt es innerhalb der Beschreibung von Figuren und ihrem Handeln zur Anwendung? Gibt es relevante Unterschiede bei den Figuren, etwa hinsichtlich des sozialen Status? Wie wirkt es sich aus, wenn Figuren níð einsetzen? Wie, wenn sie Opfer davon werden? Und schließlich, wenn es eine Wechselwirkung zwischen der Erzählung und dem Erzählten gibt: wie äußert es sich in der Art der erzählerischen Darstellung selbst, wenn níð erzählt wird? Dies führte zu einer weiteren Gliederung, die sich auf drei Hauptäste stützt, von denen die ersten beiden (Anwender und Opfer, Kapitel 4.2 und 4.3) stärker figurenbezogen sind, während der dritte (Erzähltechnik, Kapitel 4.4) sich wieder öffnet und allgemeiner auf Fragen nach der erzähltechnischen Darbietung der Textstellen bezieht. Diese Kategorien innerhalb der narratologischen Einteilungen sind ihrerseits nicht immer völlig trennscharf, so ›entstehen‹ etwa die Figuren eines Textes gerade durch den Akt des Erzählens. Die Auswahl und Zuordnung zu einem der beiden Teilbereiche wurde daher in pragmatischer Weise danach getroffen, ob im jeweilig untersuchten Textbeispiel eine von der Erzählung fokussierte Figur oder ein auffälliges Erzählprinzip im Vordergrund steht. Diese Einteilung ermöglicht nunmehr einen kombinierten Blick auf die Sagas, der die relevantesten Eigenschaften von Erzählungen über níð sowohl bei der Zeichnung von Figuren als auch in Wechselwirkung mit dem Erzählen selbst herausstellt.

2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen In seinem Buch Die männliche Herrschaft stellt der Philosoph Pierre Bourdieu soziale Ordnungen als zutiefst androzentrisch dar. Das ›Männliche‹ sei der nicht erklärungsbedürftige Normzustand, an dem alles andere gemessen werde.¹ Fester Bestandteil und zwingende Folge dieser Ordnung ist Bourdieu zufolge eine Semantisierung von Dingen und Aktivitäten durch homologe Gegensätze, in denen das ›Männliche‹ vom ›Weiblichen‹ abgegrenzt wird, wie etwa hoch/tief, gerade/krumm (hinterlistig), hart/weich, draußen (öffentlich)/drinnen (privat).² Vielen der Semantisierungen werden wir in gleicher oder ähnlicher Gestalt bei der Besprechung der sozialen Ordnung innerhalb der Isländersagas begegnen.³ Durch die Einteilung der Welt und der sozialen Verhältnisse in relationale Kategorien werden Ordnungen geschaffen, die darauf abzielen, jedes Individuum aufgrund der zugeschriebenen Identität »zu den ihr entsprechenden Praktiken anzuhalten und von unpassenden Verhaltensweisen, vor allem in der Beziehung zum anderen Geschlecht, abzuhalten oder sie ihm zu untersagen.«⁴ Ergi und níð stellen innerhalb der Werteordnung der Isländersagas deutliche Markierungen einer gestörten männlichen Dominanz in diesem Sinne dar. Dabei indiziert ergi, dass ein männliches Individuum hinsichtlich eines Merkmals oder Verhaltens von der ›männlich‹ semantisierten und gesellschaftlich erwarteten Rolle abweicht und damit innerhalb der sozialen Werteordnung eine erhebliche Abstufung hinnehmen muss. Níð ist daran anknüpfend ein formgebundener instrumentalisierte Vorwurf eines Aspektes von ergi mit dem Ziel, den Kontrahenten durch die evozierte ergi zum eigenen Vorteil sozial abzuwerten. Beide Wörter haben eine lange Geschichte und gerade Belege für ergi lassen sich sehr weit zurückverfolgen. Bevor wir uns den Gegebenheiten der Isländersagas zuwenden, lohnt sich daher ein vertiefter Blick auf die Wortgeschichte und die historischen Quellen zu beiden Konzepten, die einer besseren Einordnung dienen sollen.

2.1 Das Konzept ergi Für die Annäherung an die Vorstellungen von Unmännlichkeit in den Isländersagas ist ausgehend von den soeben dargelegten gesellschaftlichen Präliminarien ein semantischer und historischer Überblick geboten. In diesem Kapitel soll zunächst der Begriff ergi erläutert werden, der für die Männlichkeitsdiskurse in den Isländersagas

 Bourdieu 2005, S. 21.  Bourdieu 2005, S. 18. Eine Übersicht über diese Semantisierungen, die Lebensaltersstufen und Assoziationen mit der Natur umfasst, bietet Bourdieu auf S. 24.  Vgl. Kap. 3.  Bourdieu 2005, S. 48. https://doi.org/10.1515/9783110754230-004

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2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

von herausragender Bedeutung ist und der als Dreh- und Angelpunkt von níð gelten muss.⁵ Die nachfolgende Annäherung an den Begriff und sein Bedeutungsspektrum erfolgt erst hinsichtlich seiner Semantik und Etymologie, dann im Lichte historischer Quellen aus den Sprachgebieten der germanischen Einzelsprachen. Hierbei wird der gemeinsamen Behandlung von Quellen aus einem Zweig der Sprachenfamilie innerhalb des West-, Nord- und Ost‐Germanischen gegenüber einer strikt chronologischen Betrachtung der Vorrang eingeräumt, so dass zeitliche Sprünge sich nicht vermeiden lassen. Von der antiken Historiografie ausgehend rücken einzelne germanische Stammesrechte und die langobardischen Quellen in den Blickwinkel, woran sich das Alt- und Mittelenglische, das Alt- und Mittelhochdeutsche und schließlich das Urbzw. Altnordische sowie das Färöische anschließen. Eine chronologische Übersicht der besprochenen Beispiele in tabellarischer Form schließt das Kapitel ab.

2.1.1 Semantischer und etymologischer Überblick Bei einem ersten Blick in die einschlägigen Wörterbücher kann sich schnell der Eindruck aufdrängen, dass das altnordische Nomen ergi, f., das Adjektiv argr sowie das Verbum ergjask eine weit überwiegende, pejorative sexuelle Bedeutung gehabt zu haben scheinen. Die angegebenen Übersetzungen bewegen sich überwiegend im semantischen Feld von sexueller Devianz und Feigheit. Im Icelandic-English Dictionary von Cleasby findet sich als Bedeutung ›lewdness‹ und ›lust‹, wohingegen das Verbum ergjask mit ›to become a coward‹ wiedergegeben wird.⁶ In Baetkes Wörterbuch der altnordischen Prosaliteratur werden für argr und ragr als Übersetzungen immerhin ›arg, schlimm, gemein; feig, weibisch‹ sowie ›schändlich, verrucht‹ angegeben.⁷ Das Wörterbuch von de Vries weist ›feige, umännlich; unsittlich‹ als Bedeutungen aus.⁸ Fritzner gibt in seinem Wörterbuch fünf verschiedene Bedeutungsspektren an und differenziert damit zwischen mehreren Aspekten: ›umandig, uvirksom‹, ›af hunkjøn‹, ›som giver sig af med Trolddom‹, ›behersket af ustyrlig og hensynsløs Vellyst‹ sowie ›arg, arrig, ond, slem, skadelig‹.⁹ Das Wort argr unterliegt wie die ebenfalls in tabubehafteten Kontexten auftauchenden Wörter sorðinn ›gefickt‹, ars ›Arsch‹, reða ›Penis‹ und freta ›furzen‹ einer Umstellung der Anfangslaute, die Noreen als »eufemistisk metates« bezeichnet.¹⁰ Die jeweiligen euphemistischen Nebenformen sind ragr,

 Zu dieser Feststellung, die zuerst von Noreen 1922 gemacht und von Almqvist 1965 in Teilen kritisiert wurde, vgl. Ström 1973, S. 7.  Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. argr bzw. ergjask.  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. argr.  de Vries (Hrsg.) 1962, s.v. argr.  Fritzner (Hrsg.) 1883 – 1896, s.v. argr.  Noreen 1922, S. 60 – 64, Zitat: S. 61. Auf das Wort sorðinn und seine Übersetzung gehen wir später noch genauer ein, vgl. Kap. 2.1.2. In Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache heißt es: »das Wort gilt in alter Zeit als schlimmes Schimpfwort und hat ersichtlich eine sexuelle Nebenbe-

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stroðinn, rass und erðr, wohingegen freta die einzige Form des Wortes ist, dessen abweichende Lautstellung nur noch im Vergleich mit anderen germanischen Sprachen auffällt, in denen diese Änderung nicht vorliegt.¹¹ Die häufig betonte sexuelle Komponente des Wortes argr ist eher als speziell nordgermanische Ausprägung des Wortes zu sehen, die in den übrigen germanischen Einzelsprachen und noch in urnordischen Quellen in derselben Ausschließlichkeit und Häufigkeit nicht nachvollziehbar ist, in der sie bisweilen in der Literatur dargestellt wird.¹² Je nach Kontext scheint die historische Bedeutung sich in den untersuchten Quellen mindestens in drei große und sich inhaltlich teilweise überlappende semantische Felder aufteilen zu lassen: 1. ›feige‹ in Bezug auf die Bereitschaft zu physischen Auseinandersetzungen, 2. ›schlecht‹ in einem moralischen und/oder sozialen Sinne und 3. ›sexuell deviant‹, beispielsweise als der passive Partner im gleichgeschlechtlichen Verkehr. Ebenfalls drei Hauptkomponenten von argr zählt Heinrich Beck auf: »in sexueller Hinsicht pervers«, »im Umgang mit Zauber erfahren« und »nach Charakter und moralischer Wertung feige und unmännlich«.¹³ Eine etymologische Verwandtschaft besteht zu gleichlautenden Begriffen, die sich zwar leicht erkennbar in den gegenwärtig gesprochenen germanischen Sprachen finden lassen, die aber eine vom Altnordischen abweichende Bedeutung aufweisen. Demnach sind das neuhochdeutsche Wort

deutung, vermutlich ›beim homosexuellen Geschlechtsverkehr die passive Rolle spielend‹«, Kluge (Hrsg.) 2011, s.v. arg. Die Ansicht einer Metathese zur Umgehung eines Tabus stützt der Indogermanist Franz Specht, dessen Untersuchung zufolge auch im Indogermanischen bei Tabuwörtern wie etwa »Wolf« durch Umstellungen von Lauten vermieden werden konnte, das Wort direkt zu nennen. Durch bewusste Umstellung der Anlaute seien aus dem indogermanischen Wort *ṷḷkṷos ›Zerreißer‹ das altgriechische λύκος und das lateinische lupus entstanden (beide ›Wolf‹), Specht 1940. [Anmerkung: Franz Specht war ein Verehrer und Bewunderer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und teilte wohl die Ideologie der zwischen 1933 und 1945 herrschenden NSDAP aus seiner inneren Überzeugung heraus. Trotz seiner politischen Überzeugung lässt sich beobachten, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten »methodisch sich aber stets im Rahmen der erlernten Normalwissenschaft bewegen«, Simon 2013.] Sayers zufolge könnte zu dieser Reihe von tabuisierenden Metathesen auch das nur in der Sturlunga saga auftauchende Wort gregr gehören, das dem Kontext nach allgemein ein Körperteil meint, möglicherweise die Genitalien einer Stute: Es sei aber daneben denkbar, von einer durch lautliche Umstellungen erzeugten Form von argr auszugehen, vgl. Sayers 1997, S. 30 – 31.  Noreen nennt unter anderem ags. feortan, mhd. varzen sowie ältere Beispiele aus der indoeuropäischen Sprachstufe, vgl. Noreen 1922, S. 63 – 64.  Vgl. etwa Noreen 1922, S. 60 – 64, der ergi ausschließlich anhand sexuell oder obszön konnotierter Begrifflichkeiten erklärt und nicht in einem weiteren Sinne, wie es etwa Meulengracht Sørensen tut und wie in Kap. 4.1 anhand der Textbeispiele aus Sagas zu sehen sein wird.  Beck 1994, S. 291. Zu der an erster Stelle betonten Verbindung mit magischer Praxis, der in dieser Untersuchung nicht gefolgt wird, siehe im folgenden Kapitel.

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arg,¹⁴ das niederländische erg ›schlimm, schlecht‹,¹⁵ das isländischen argur ›schlecht‹ beziehungsweise ragur ›feige‹, sowie das schwedischen arg ›böse, wütend‹ auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen. Durch entsprechende sprachhistorische Rekonstruktionen lässt sich das Wort in verschiedenen Bedeutungen darüber hinaus bis in indogermanische Zeiten und in Sprachräume außerhalb des Germanischen verfolgen. Im Wörterbuch von Kluge wird eine indogermanische Wurzel *erǵh- ›bespringen, klettern‹ angeführt. Demzufolge wäre ein germanisches Wort *arga- ›Besprungener‹ (im sexuellen Sinne) anzunehmen. Es existiert ein litauisches Wort aržùs, eržùs ›geil, wollüstig‹ sowie er˜žilas ›Hengst (als Bespringender)‹. Möglicherweise gehört auch das griechische ὀρχέομαι ›tanzen‹ in diese Reihe.¹⁶

2.1.2 Ergi von der antiken Historiografie bis zur färöischen Ballade In seinem um das Jahr 98 n.Chr. vollendeten Werk De origine et situ Germanorum berichtet der Historiker Publius Cornelius Tacitus seinen Zeitgenossen von den exotischen Nachbarn der Römer im Norden und stellt sich damit in eine lange ethnografische Tradition antiker Autoren.¹⁷ Er ist bei weitem nicht der Einzige, der Aussagen zum sittlichen Leben von germanischen oder keltischen Völkern trifft. Da ihm aber in der Forschung seit dem frühen 20. Jahrhundert für seine Aussagen bislang am meisten Aufmerksamkeit geschenkt wurde,¹⁸ soll er hier stellvertretend für die griechisch-römische Ethnografie vorgestellt werden. Im zwölften Kapitel zur Gerichtsbarkeit bei den Germanen berichtet er von deren Strafen unter anderem für Feigheit und Waffenscheu:

 Während ›arg‹ im heutigen Sprachgebrauch fast nicht mehr allein auftaucht, zeigen Komposita, die meist im juristischen Kontext üblich sind, dem Wortlaut nach noch eine semantische Verbindung zum sprachgeschichtlich bedingten moralischen und sozialen Hintergrund. So stellt etwa in § 123 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) »arglistige Täuschung« ein notwendiges Tatbestandsmerkmal für eine wirksame Anfechtung eines zivilrechtlichen Vertrages dar. Im Verwaltungsrecht ist sie eine Grundlage für die Verneinung von Vertrauensschutz. Es ist aber in beiden Rechtsfeldern tatsächlich keine moralisch negative Gesinnung des Täuschenden für das Eintreten der Rechtsfolge erforderlich.  Cox et al. (Hrsg.) 1986, s.v. erg. Daneben finden sich wie im Hochdeutschen Komposita wie argeloos ›arglos‹ und arglist ›Arg-, Hinterlist‹, Cox et al. (Hrsg.), s.v. argeloos bzw. arglist.  Kluge (Hrsg.) 2011, s.v. arg.  Für einen Überblick zur Gattung der griechisch-römischen Ethnografie vgl. etwa Norden 1920, S. 8 – 41. Jüngere Untersuchungen heben hervor, dass die Fokussierung auf ›profanere‹ Themen wie die Umwelt der beschriebenen ›Anderen‹ und beispielsweise ihre Ernährungsweisen und Sexualitäten gattungstypisch ist; demzufolge hebt sich Tacitus in Teilen von dieser Gattung ab, da er wie auch Herodot den Göttern und religiösen Sitten in seiner Germania größeren Raum als üblich bietet, vgl. Woolf 2013, S. 133 – 134.  Vgl. etwa [Anonym] 1902, Weisweiler 1923, Weiser-Aall 1933, und Beckman 1936.

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Licet apud concilium accusare quoque et discrimen capitis intendere. distinctio poenarum ex delicto: proditiores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt. ¹⁹

Dabei verdient die gemeinsame Auflistung der genannten Tatbestände eine nähere Betrachtung. Wenn Tacitus hier nach Verrätern und Überläufern von »Feiglingen und Weichlingen«²⁰ spricht und schließlich zu den corpore infames kommt, greift er auf eine Formulierung zurück, die er an anderen Stellen ähnlich benutzt.²¹ Für die Rezipierenden mit einem kulturellen Hintergrund in der (griechisch‐)römischen Antike wird hier auf ein Phänomen angespielt, das zur damaligen Zeit in der Literatur wie auch realhistorisch weit verbreitet war – die Rede ist vom Konzept des cinaedus, mit dem ein Mann bezeichnet wurde, der in der passiven Rolle Geschlechtsverkehr mit anderen Männern hatte.²² Dass Tacitus diese Vorstellung von gleichgeschlechtlichem Verkehr unter Männern den germanischen Stämmen zuschreibt, ist innerhalb der Tradition, in der er sich bewegt, kein Einzelfall, sondern kann gewissermaßen als Topos angesehen werden: In vielen griechischen und lateinischen Werken über die Germanen wird zumindest implizit dieses Thema aufgegriffen und mal den Germanen, mal den Kelten zugeschrieben.²³ Früh wurde in der semantisch stark aufgeladenen Bezeichnung corpore  Germania 12.1, S. 78 – 80; »Es ist erlaubt, bei der gerichtlichen Versammlung [vgl. dazu Much 1967, S. 212, der concilium mit ›Ding‹, also Thing, wiedergibt] auch Klage zu erheben und Entscheidungen über Todesstrafen herbeizuführen. Dabei unterscheidet sich die Strafe nach dem Vergehen: Verräter und Überläufer hängen sie an den Bäumen auf, Feige und Kampfunwillige und diejenigen, die sich an ihren Körpern vergangen haben, versenken sie unter einem Reisigbündel in Sumpf und Moor.« Es ist mit diesem Zitat versucht worden, die Moorleichen aus dem niederländischen Weerdinge als corpore infames zu identifizieren, vgl. Price 2005, S. 254– 257.  So bei Much 1967, S. 213.  Vgl. dazu Much 1967, S. 213.  Dieses Wort ist vom griechischen kinaidos entlehnt, mit dem ursprünglich wohl Tänzer bezeichnet wurden, die in einer als besonders effeminiert aufgefassten Weise tanzten und dabei den Hintern suggestiv bewegten. Andere lateinische Begriffe für Männer, die nicht mit den sozialen Erwartungen an die männliche Rolle mithalten konnten, sind impudicus und pathicus. Vgl. dazu Williams 2010, S. 191– 197.  Eine recht rezente und angemessen ausführliche chronologische Übersicht über die griechischen und römischen Geschichtsschreiber seit Aristoteles, die sich (möglicherweise) bei ihrer ethnografischen Beschreibung der Germanen oder Kelten dieser Motivik bedienten, findet sich bei Clark 2009, S. 40 – 49. Clark geht hierin auf einige denkbare Querverbindungen und Übernahmen zwischen den einzelnen Geschichtsschreibern ein und bezieht auch den syrischen Gelehrten Bardaişan (154– 223 n.Chr.) mit ein (S. 43 – 44). Eine Anmerkung Clarks lässt bei der Besprechung von Diodorus Siculus (90 – 30 v.Chr.) Bedenken dahingehend auftreten, dass insbesondere das Griechische aufgrund der verankerten kulturellen Diskurse ein möglicherweise verzerrtes oder vorgeprägtes Bild liefern könnte. Der von Diodorus Siculus benutzte (und entgegen Clarks Ausführung eindeutig geschlechterbezogene, da grammatikalisch maskuline) Terminus παρακοίτοις Sg. παρακοίτης ›Bettgenosse‹ sei Clark zufolge ins Englische wörtlich als ›bed-fellows‹ zu übersetzen: »the more neutral term ›male concubine‹ or ›bedfellow‹ should be preferred so as not to imply without warrant that pederasty rather than potentially egalitarian same-sex relations is at issue here«, Clark 2009, S. 42, Fn. 9. Eine Ausnahme stellt

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infames eine Analogie zu einem späteren altnordischen Wort und dem damit verbundenen kulturellen Kontext gezogen. Lily Weiser-Aall übertrug das römisch-antike Konzept aus dem eingangs erwähnten Tacitus-Zitat auf den zeitlich viel späteren altnordischen ergi-Diskurs und äußerte sich folgendermaßen: Ignavus et imbellis et corpore infamis scheint die Erklärung des Dolmetschers vom germanischen Worte argr oder ragr, das die drei Begriffe in sich vereinigt, zu sein. Der Sinn dürfte an dieser Stelle sein ›durchaus unmännlich‹, daher auch die Strafe, die sonst als Weiberstrafe bekannt ist.²⁴

Es dürfte methodisch zumindest fragwürdig sein, diesen Schluss über Jahrhunderte und eine große geografische Distanz hinweg zu ziehen; inhaltlich gibt es aber durchaus stichhaltige Gründe für die Annahme von Parallelen zwischen dem römischen Bedeutungskomplex cinaedus/corpore infames und den spezifischen mittelalterlich-isländischen Ausprägungen des altnordischen ergi-Komplexes. Ob sich das Vorliegen eines ergi-Konzeptes in genau dieser Bedeutung allerdings bis zurück in die römische Eisenzeit auf die taciteischen »Germanen« projizieren lässt, erscheint sehr zweifelhaft. Ein Blick in die Überlieferungen der einzelnen germanischen Sprachen zeigt jedenfalls, dass in der jeweiligen Sprache etymologisch verwandte Wort und die kulturelle Idee dahinter mit einem großen semantischen Bedeutungsspektrum geografisch und historisch weit verbreitet waren.²⁵ Ähnlich uneindeutig dahingehend, ob ein germanisches oder römisches Konzept gemeint ist, zeigt sich eine Vorschrift aus der fränkischen Lex Salica des frühen sechsten Jahrhunderts, die es untersagt, einen anderen Mann cinitus zu nennen: Si

Quintilian dar, demzufolge die Germanen von gleichgeschlechtlichen Praktiken nichts wüssten, vgl. Schwink 1993, S. 233. Insgesamt aber führt nach Clark die Fülle an Autoren, die sich über die sexuellen Gepflogenheiten der nördlichen Nachbarn äußern, zu der Beobachtung, »that a consistent connection is made in Classical ethnography between Germanic and Celtic tribes and same-sex activity«, Clark 2009 S. 47. Eine Restunsicherheit, ob hier Tatsachenberichte vorliegen, bleibt jedoch vor allem deshalb, weil eine solche Verbindung in alter Zeit durchaus Toposcharakter besitzt, wie auch Schwink zu ethnografischen Berichten über Fremdvölker anmerkt: »The imputation of homosexuality among foreign peoples is common«, Schwink 1993, S. 233.  Weiser-Aall 1933, S. 212, Fn. 3. In ähnlicher Weise äußerte sich auch Beckman 1936, S. 79; vgl. ferner Clark 2009, S. 51, Fn. 38 und die dortigen Ausführungen. Dieser Gedanke findet sich schließlich im Tacitus-Kommentar von Rudolf Much von 1967, S. 213 – 214, auf den sich Weiser-Aall ebenfalls beruft. Im Anschluss an diese Parallele folgen bei Much Ausführungen zu möglichen Verbindungen zwischen den Erwähnungen Tacitusʼ über die Versenkung im Moor als Strafe für die genannten Vergehen und belegten Funden von eisenzeitlichen Moorleichen, S. 214– 217. Vgl. zu diesem Phänomen Price 2005, S. 254– 257.  Aufgrund dieser etymologischen Verwandtschaft wird der Begriff ergi in der folgenden Übersicht verwendet, um eine einheitliche Begrifflichkeit zu gewährleisten. Auf etymologische und semantische Unterschiede innerhalb der germanischen Sprachen wird jeweils gesondert verwiesen. Es wurde wie bereits eingangs erwähnt versucht, eine gewisse Chronologie in der Betrachtung einzuhalten, jedoch war dies aufgrund der teilweise gleichzeitig liegenden Ereignisse und Texte nicht immer möglich. In diesen Fällen wurde auf Kohärenz innerhalb der germanischen Sprachfamilie geachtet, so dass beispielsweise das Alt- und das Mittelhochdeutsche nacheinander behandelt werden.

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quis alterum cinitum uacauerit […], dc denarios qui faciunt solidos xv culpabilis iudicetur. ²⁶ Ob hiermit tatsächlich cinaedus gemeint ist oder ob mit cinitus/cinaedus lediglich ein tatsächlich zugrunde liegendes germanisches Wort, eine Form von argr, wiedergegeben wird, bleibt offen. Sollte letzteres der Fall sein, wäre dies ein sehr früher Beleg für die sexuelle Semantik des Wortes. In den Langobardengesetzen des Rothari aus dem Jahr 643 begegnet uns dann eine Rechtsvorschrift, die reglementiert, wie mit der Verwendung des Wortes arga umzugehen ist, das dort explizit in der germanischen Form steht. Demzufolge besteht ein grundsätzliches Verbot, jemanden als arga zu bezeichnen. Bei Verstoß muss ein Nachweis geführt werden, dass dies in Wut geschehen ist, und dann eine entsprechende Geldbuße entrichtet werden; bei einem fehlenden Nachweis über den Affekt entscheidet ein Duell.²⁷ Eine weitere Quelle zur Verwendung des Wortes arga bei den Langobarden findet sich in dem Geschichtswerk Historia Langobardorum des Mönchs Paulus Diaconus (ca. 725 – 795), in dem er die Entwicklung des Volkes der Langobarden nach der Völkerwanderungszeit bis in seine Gegenwart hinein schildert. Einen Teil der Erzählung nimmt der Bericht von der Vertreibung slawischer Eindringlinge aus langobardischem Gebiet im sechsten Buch ein. Paulus Diaconus berichtet von einem Häuptling namens Argait, dem seine Weigerung, ein Heer der feindlichen Slawen zu verfolgen, ein spöttisches Wortspiel auf seinen Namen einbringt: Tunc ei Ferdulfus indignans ita locutus est: ›Quando tu aliquid fortiter facere poteras, qui Argait ab arga nomen deductum habes?‹ ²⁸ Dies nimmt der Angesprochene wegen seiner Stärke sehr schlecht auf,²⁹ was dazu führt, dass er den Urheber der Worte, die bei dieser Gelegenheit wie zur weiteren Bestätigung ihrer Unangemessenheit als vulgaria verba (›ordinäre Worte‹) bezeichnet werden, zu einem Wettstreit herausfordert. Später expliziert er noch, dass er tatsächlich am Wort arga Anstoß genommen hat: Memento, dux Ferdulfe, quod me esse inertem et inutilem dixeris et vulgari verbo arga vocaveris. ³⁰ Schlussendlich verfolgen beide das slawische Heer, um nicht vor dem anderen als

 Lex Salica, S. 118; »Wenn jemand einen anderen cinitus [= wohl cinaedus, s.o.] nennt, soll er zu 50 Denarii, die 15 Solidi ergeben, schuldig gesprochen werden.« Vgl. dazu Bandlien 2005, S. 83.  Leges Alamannorum, S. 88: Si quis alium arga per furorem clamaverit, et negare non potuerit, et dixerit quod per furorem dixisset, tunc iuratus dicat, quod eum arga non cognovisset; postea conponat pro ipso iniurioso verbo solidos duodecim. Et si perseveraverit, convincat per pugnam, si potuerit, aut certe componat ut supra.  Historia Langobardorum, VI, 24, S. 222; »Da sagte Ferdulf auf beleidigende Weise zu ihm: ›Was hättest du schon jemals Mutiges tun können, Argait, der du einen Namen hast, der von arga abgeleitet ist?‹«  Historia Langobardorum, VI, 24, S. 222: Cui ille maxima stimulatus ira, ut erat vir fortis; »Dadurch wurde jener von größtem Zorn bewegt, denn er war ein tapferer Mann.«  Historia Langobardorum, VI, 24, S. 223; »›Erinnere dich daran, Heerführer Ferdulfus, dass du mich als träge und unnütze bezeichnet und mich mit dem vulgären Wort arga beschimpft hast.‹« Für Weisweiler gibt das lateinische iners et inutilis das Bedeutungsspektrum von arga »viel zu schwach« wieder,Weisweiler 1923 S. 22. Er nimmt unter Bezugnahme auf die langobardischen Gesetze an, dass es sich hier um eine anstößige Konnotation handeln müsse.

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Feigling dazustehen. Vor diesem Hintergrund ergibt es durchaus Sinn, dass Argait mit der zwar nicht unüblichen, hier jedoch angesichts seines offenbar ungewöhnlichen Namens gebotenen Parenthese sic enim nomen habebat vorgestellt wird.³¹ In dieser Episode aus der Historia Langobardorum steht der Bedeutungsaspekt von ergi als ›Feigheit‹ im Mittelpunkt, der möglicherweise auch in einer Regelung des kodifizierten Rechts der Alamannen, den Leges Alamannorum, Niederschlag gefunden hat. Demzufolge muss, wer einen Gefährten im Kampf allein lässt, bei seiner Rückkehr eine Entschädigung leisten.³² Das Altenglische kennt das recht gut belegte Wort earg mit einem Bedeutungsspektrum, das zwischen den semantischen Feldern ›feige‹ und ›träge, schandhaft‹ changiert, die sich in Teilen ebenfalls überlappen.³³ Die zuletzt angegebene Bedeutung dürfte am ehesten in das semantische Feld von moralischer Unzulänglichkeit gehören. In einer Übersetzung des biblischen Buchs der Richter etwa wird damit der Heerführer Sisera beschrieben, möglicherweise um durch diesen Terminus die Schmach zum Ausdruck zu bringen, die Siseras Tötung durch die Frau Jael in den Augen des Übersetzers darstellt.³⁴ Weitere Beispiele aus Übersetzungen lateinischer Texte weisen die Bedeutung ›unmännlich‹³⁵ oder ›feige‹³⁶ auf. Lateinische Glossierungen in Handschriften deuten in einen ähnlichen – recht weiten – semantischen Raum zwischen diesen genannten Polen: »earg can gloss Latin adulter ›wicked‹, peccatrix ›sinful‹, luxuriosus ›excessive, voluptuous‹, and earglice [Anm.: das zugehörige Adjektiv] is an equivalent in one manuscript for muliebriter ›womanly, effeminately‹«³⁷ Auch das altenglische Heldenepos Beowulf enthält an einer zentralen

 Historia Langobardorum, VI, 24, S. 316; »Diesen Namen hatte er nämlich.« Dieser Einschub kann hier angesichts der Bedeutung des Wortes durchaus als bewusst affirmativ aufgefasst werden, etwa im Sinne von »Der hieß wirklich so!«  Leges Alamannorum, S. 166: Si qua in exercitu pugna commissa fuerit et dimittit quis parem suum pugnare et fugit, et ille alius defendit se, post reversionem ille qui fugit conponat bis 80 solidos illi alio, quia inde fugivit; »Wenn es zu einer Schlacht während des Feldzugs kommt und jemand seine Gefährten kämpfen lässt und flieht, und jener andere sich verteidigt, dann muss jener, der geflohen ist, nach der Rückkehr jenem anderen zweimal 80 Solidi büßen, weil er zuvor geflohen ist.« Diese Regelung wird von Weiser-Aall 1933, S. 213, im Kontext von germanischen Männerbünden gesehen.  Vgl. Clark 2009, S. 54– 55.  Vgl. Clark 2009, S. 57. In der Bibelübersetzung ins Gotische, das hier nicht gesondert besprochen wird, taucht Schwink zufolge kein eigenes germanisches Wort auf, wenn eine Übersetzung für den Begriff Sodomiten benötigt wird: Stattdessen habe sich Wulfila aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen einer mehrgliedrigen Übertragung bedient, die von Herausgebern des Textes oftmals als mannans gaþiwandam gelesen worden sei und etwa als ›Männer, die Männern dienen‹ verstanden werden könne, vgl. Schwink 1993. Weisweiler zufolge belegt das Fehlen im altsächsischen Heliand und Wulfilas Bibel, dass Goten und Sachsen im kirchlichen Kontext das entsprechende Wort fehl am Platz gewesen sein müsse, er gesteht aber ein, dass es sich bei dieser Annahme um ein argumentum ex silentio handelt, vgl Weisweiler 1923, S. 22.  Vgl. Clark 2009, S. 55 – 56.  Vgl. Clark 2009, S. 57.  Clark 2009, S. 57– 58.

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Stelle, unmittelbar vor Beowulfs letztem Kampf gegen den Drachen, das Wort earg, um den Mut des Helden zu betonen. Es wird beschrieben, wie er sich zum Kampf rüstet, den er allein bestreiten möchte. Über seinen Mut und die Ausrüstung heißt es dann: Ne bið swylc earges sið! ³⁸ Im Gegensatz zum Altnordischen kennt das Altenglische noch zusätzlich den sehr selten verwendeten Begriff bædling, der womöglich an bæddel ›Hermaphrodit‹ angelehnt ist und dementsprechend einen effeminierten Mann bezeichnen könnte.³⁹ Wie das Beispiel im Beowulf bewegt sich eine Passage am Ende des erhaltenen Teils des althochdeutschen Hildebrandsliedes im semantischen Feld von ›Feigheit‹. Als der Held Hildebrand erkennt, dass er seinen Sohn als Feind vor sich im Duell stehen hat und nur einer von beiden das Schlachtfeld lebend verlassen wird, setzt er zu einem Monolog an, in dem eine althochdeutsche Ausformung des ergi-Konzeptes erwähnt wird: ›doh maht du nu aodlihho, ibu dir din ellen taoc, in sus heremo man hrusti giwinnan, rauba birahanen, ibu du dar enic reht habes. der si doh nu argosto‹, quad Hiltibrant, ›ostarliuto, der dir nu wiges warne, nu dih es so wel lustit, gudea gimeinun: niuse, de motti, werdar sih hiutu dero hregilo hrumen muotti, erdo desero brunnono bedero uualtan.‹ ⁴⁰

Recht deutlich tritt hier die Opposition zutage zwischen jemandem, der argosto ist, also wörtlich ›am ärgsten‹, und jemandem, der im Gegensatz dazu Kampfbereitschaft zeigt. So bleibt dem Sprecher nur der Kampf, um zu beweisen, dass er eben nicht argosto ist.⁴¹ In diesem Kontext ist damit in jedem Fall ›Feigheit‹ gemeint.⁴² Auch in der hochmittelalterlichen deutschen Literatur findet das Wort in der Gestalt von mhd. arg bzw. arc Verwendung. Zwar dient es hier wie im Neuhochdeutschen meist schon der bloßen negativen Verstärkung, doch es ist möglich, dass die Verbindung zum ursprünglichen ergi-Konzept stellenweise noch erhalten ist. Als Beispiel für die ausschließlich verstärkende Verwendung sei hier der Artusroman Erec Hartmanns von Aue genannt, der als erster Artusroman in deutscher Sprache gilt und

 Beowulf, V. 2541, S. 87; »Das ist nicht die Art eines Feiglings!«  So Clark 2009, S. 63, mit Verweis auf weitergehende Literatur. Anhand dieser Beschreibung wäre jedoch auch schlicht ein Mensch ohne eindeutig zugeschriebenes oder zuschreibbares Geschlecht denkbar.  Hildebrandslied, V. 55 – 62; »›Du kannst doch leicht, wenn deine Kraft etwas taugt/ von einem so greisen Mann die Rüstung gewinnen,/ Raub an dich raffen, wenn du ein Recht drauf erwirbst./ Der wäre der Feigste‹, sprach Hildebrand, ›unter den Ostleuten,/ der dir den Kampf jetzt weigerte, wenn dich so sehr danach lüstet/ den Kampfgang zu zweit: versuche, wer’s vermag,/ ob er sich heute der Harnische rühmen/ und beider Brünnen Herr werden kann!‹«, Übers. von Walter Haug 1991, S. 13 – 15.  Vgl. Ebel 2005, S. 518.  Vgl. Weisweiler 1923, S. 17– 18.

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2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

auf das Ende des 12. Jahrhunderts datiert wird.⁴³ Nachdem Erec von seiner Frau Enîte davor gewarnt wird, dass der Gastgeber, ein namenloser Graf, sie für sich haben möchte, reitet er noch in derselben Nacht mit ihr davon. Der Graf sieht sich geprellt, folgt den beiden und konfrontiert sie anschließend, wobei Erec von ihm nacheinander als arger diep, arger wanc und arger schalc bezeichnet wird.⁴⁴ Auffällig ist der negative Kontext und die Ansprache des Gegenübers unter anderem mit diep, durch die er als jemand tituliert wird, der sich von der Gesellschaft mit juristischen und moralischen Vorwürfen konfrontiert sieht. Hier ist die Verbindung zur moralischen Semantik des Konzeptes ergi erkennbar. Noch interessanter in dieser Hinsicht sind Enîtes relativ zu Beginn der Handlung thematisierte Gedanken zur Männlichkeit ihres Mannes. Es heißt dort: ouch hâte sich vil snelle ir muot der zweier eines bewegen, daz ir ze manne wære ein degen lieber dan ein arger zage. ⁴⁵

Hier taucht das Wort arg im direkten Zusammenhang mit Feigheit auf. Hinzu kommt die kontrastive Gegenüberstellung zum männlichen Kriegerideal. Die Idee dahinter ist dieselbe wie im altnordischen Kontext: wer arg ist, kann kein Krieger (degen) sein, sondern ist ein Feigling (zage). Möglicherweise schimmert an dieser Stelle wie im althochdeutschen Hildebrandslied noch ein moralisch geprägtes Konzept von Unmännlichkeit hinter dem Begriff arg durch. Im Süden Schwedens findet sich eine Gruppe von Runensteinen aus dem frühen bis mittleren 7. Jahrhundert, die als Blekinge-Steine bezeichnet wird. Diese Gruppe umfasst die Steine von Gummarp (DR 358), Istaby (DR 359), Björketorp (DR 360) und Stentoften (DR 357).⁴⁶ Zwischen den Steinen bestehen auf mehreren Ebenen Bezüge, etwa in Hinblick auf linguistische und intertextuelle Phänomene.⁴⁷ Diese engen Bezüge untereinander lassen Rückschlüsse darauf zu, dass die Blekinge-Steine wohl Bestandteil zweier Opfer- und Kultplätze eines kulturellen Zentrums ihrer Zeit waren, an denen möglicherweise eine herrschende Kriegerelite ihre Opferrituale abhielt.⁴⁸ Auf dem Stein von Björketorp taucht eine späte urnordische Form des Wortes argr im Zusammenhang mit einer magischen Abwehrformel auf:

     

Vgl. zur Datierung die Übersicht bei Cormeau 2007, S. 32. Erec, V. 4172, 4183 und 4192. Erec, V. 2845 – 2848. Jacobsen/Moltke (Hrsg.) 1942, Sp. 400 – 414. Vgl. Schulte 2014, S. 36. Vgl. dazu Schulte 2014, insbes. S. 56 – 58.

2.1 Das Konzept ergi

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[A.] úþarƀa-spá [B.] haiðR-rúnó ronu / falh-k heðra, ginna-rúnaR, ærgju / hjarma-lausR, úti æR wéla-dauðe, / sá-R þat brýtR. ⁴⁹

Diese Abwehrformel ist nach den gängigen runologischen Interpretationen zweigliedrig aufgebaut: »Während der erste Teil das Runenritzen im Sinne einer göttlich legitimierten Machtausübung behandelt, thematisiert der zweite Sinnabschnitt des Formulars die Strafe für die Zerstörung des Denkmals.«⁵⁰ In diesem Kontext erscheint die Übersetzung von ærgju mit ›durch Perversität‹ wenig überzeugend. Eher dürfte argr hier vordergründig in seiner moralischen Bedeutung gelesen werden: Jemand, der dieses Denkmal zerstört, handelt zutiefst amoralisch und der sakralen Bedeutung dieses Ortes zuwider. Der Aspekt dieser vollkommenen moralischen Verurteilung geht aus dem Neuhochdeutschen Wort ›Argheit‹ allerdings nicht mehr so deutlich hervor, dass diese Übersetzung richtig treffend wäre. Die Beschwörungsformel findet sich in sehr ähnlicher Form ebenfalls auf dem Stein von Stentoften belegt.⁵¹ Im mittelalterlichen isländischen Sprachgebrauch, auch außerhalb der Isländersagas, kann ergi sich durchaus auf den homosexuellen Geschlechtsverkehr beziehen. Als Beispiel hierfür weist schon der anonyme Verfasser des 1902 erschienenen Aufsatzes über »Konträrsexualität bei den alten Skandinaviern« auf die eddische Lokasenna und dort Strophe 23 hin, in der der Gott Óðinn den Widersacher Loki beschimpft:⁵² átta vetr vartu fyr iorð neðan kýr mólcandi oc kona oc hefir þú þar born borit, oc hugða ec þat args aðal. ⁵³

 Normalisierter Text nach der Transliteration, zitiert aus Schulte 2014, S. 45. Als Übersetzung gibt Schulte an: »[A.]›Schadenprophezeiung (bzw. Ich verkünde Unheil). [B.] Der Glanzrunen Reihe verbarg ich hier, mächtige Runen. Durch Argheit (d. h. Perversität) rastlos/schutzlos draußen (d. h. in der Fremde) ist eines tückischen Todes, wer dieses (Monument) zerstört.‹« Die Übersetzung von ærgju mit Argheit (bzw. dem dän. Äquivalent) findet sich schon in der Edition von Jacobsen/Moltke (Hrsg.) 142, Sp. 413: »Ustandselig(?) (behæftet) med argskab«. Auch bei Düwel 2008, S. 43, findet sie sich in einem solchen Wortlaut.  Schulte 2014, S. 43. Bezüglich der Heranziehung der isländischen Gesetzestexte für die Begründung der Verwendung des Wortes úti (›draußen‹ bzw. ›in der Fremde‹) auf S. 43 – 44, ist anzumerken, dass die isländischen (und norwegischen) Gesetze primär den Schmähenden bestrafen, nicht den Geschmähten. Somit erscheint die Interpretation, úti in dieser Inschrift solle auf die Verbannung desjenigen anspielen, der sich der ergi schuldig gemacht hat, nicht ganz überzeugend. Zu den Gesetzestexten vgl. im Folgenden Kap. 2.2.2.  Vgl. zuletzt Schulte 2014, S. 46.  [Anonym] 1902, S. 249.  Lokasenna, Str. 23, S. 101; »›Acht Winter warst du unter der Erde,/ hast Kühe gemolken wie eine Frau/ und du hast dort Kinder geboren,/ und das halte ich für das Wesen eines Schandhaften [argr].‹« Zum Begriff senna, der in programmatischer Weise bereits im Namen Lokasenna enthalten ist, vgl. Kap. 3.5.

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2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

Was hier sehr deutlich zur Sprache kommt, ist die geschlechtliche Uneindeutigkeit desjenigen, der als argr bezeichnet wird. Diese Wirkung ergibt sich durch die Zuschreibung weiblicher Handlungsweisen wie das Milchgeben und Kindergebären. Verschärft und konkretisiert wird sie in der Lokasenna durch Þórrs Attribuierung des Namen gebenden Gottes Loki mit der femininen Form des Adjektivs als rǫg vættr,⁵⁴ was auf passiven (männlichen) homosexuellen Geschlechtsverkehr anspielt.⁵⁵ Der Kerngedanke dahinter ist, dass sich die dem Bezeichneten zugeschriebene Weiblichkeit auf dessen mutmaßliche sexuelle Rolle bezieht, dass er nämlich die »weibliche«, also passiv verstandene Rolle einem anderen Mann gegenüber einnimmt: »The man who is argr is willing or inclined to play or interested in playing the female part in sexual relations«.⁵⁶ Der Gott Þórr äußert anlässlich einer geplanten Cross-DressingEpisode in der eddischen Þrymskviða seinen Unwillen und die Furcht, die anderen Götter würden ihn nun wohl als argr bezeichnen.⁵⁷ Allerdings beinhaltet die eben genannte sexuelle Komponente des Wortes ergi in der norrönen Kultur zusätzlich eine soziale Komponente, die entscheidend das Bild von Männlichkeit in der Gesellschaft prägt. Somit ist das Bedeutungsspektrum hier zugleich auf das eingangs erwähnte semantische Feld von ›feige‹, ›nicht durchsetzungsfähig‹ und ›rückgratlos‹ erweitert. Zum moralischen Aspekt dieses Feldes passt das ebenfalls belegte Wort hugragr (aus hugr ›Sinn, Seele, Herz‹⁵⁸ und ragr), das den Fokus von der sexuellen zur sozialen Implikation verschiebt und dadurch die reine Bedeutung ›feige‹, annimmt.⁵⁹ Diese Bedeutung ist auch in dem altnordischen Wort blauðr enthalten, das sich etwa bei Johan Fritzner als Synonym für argr findet. Wörtlich bedeutet es so viel wie ›weich‹ und daher im übertragenen Sinne ebenfalls ›unmännlich‹. Eine Aussage im zur Laxdœla saga gehörenden Stúfs þáttr legt nahe, dass, wer blauðr ist, auf Grund seiner Veranlagung keine Kinder haben kann.⁶⁰ Deutlich stärker wird die sexuelle Komponente wiederum durch das Wort rassragr ins Zentrum gerückt. Es setzt sich aus zwei Metathesen zusammen, erstens der des Wortes ars ›Arsch‹⁶¹ und zweitens der des eben besprochenen Wortes argr: Eine sehr vulgäre Bedeutung erschließt sich damit augenblicklich. Die – in Teilen mittlerweile recht betagten – Übersetzungen bewegen sich teilweise auf stark umschreibende Weise zwischen ›per anum stupratus‹,⁶² ›tilbøielig til at lade sit Legeme misbruge til

 Lokasenna, Str. 57, S. 108.  Die Bezeichnung »passivisch päderastisches Wesen« umreißt genau diesen Bedeutungskern von Þórrs Aussage, vgl. [Anonym] 1902, S. 249, die auch Weisweiler so interpretiert, vgl. Weisweiler 1923, S. 18.  Meulengracht Sørensen 1983, S. 18.  Þrymskviða, Str. 17, S. 113.  Vgl. Batke (Hrsg.) 2008, s.v. hugr.  Vgl. Ström 1974, S. 6.  Vgl. Jochens 1995, S. 76, Stúfs þáttr, S. 283.  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. ars.  [Anonym] 1902, S. 249.

2.1 Das Konzept ergi

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Sodomiteri‹,⁶³ und ›pervers, sodomitisch, unzüchtig‹.⁶⁴ Gemeint ist mit rassragr, dass der damit Bezeichnete sich einem anderen Mann beim Geschlechtsakt in eine ›unterlegene‹, eine ›weibliche‹, Rolle begibt. Dies kommt einer Unterwerfung gleich, wobei gleichzeitig die empfundene soziale Unmännlichkeit betont und auf den analen Verkehr angespielt wird. Flankiert wird der Begriff rassragr im altnordischen Vokabular der sexuellen Schmähungen von dem Verbum serða und seiner durch Metathese entstandenen Nebenform streða. Sie bezeichnen beide »the male function in the sexual act, and they have a highly obscene effect«⁶⁵ – dabei handelte es sich wohl zunächst um den heterosexuellen Geschlechtsverkehr, wie der Hinweis auf das Gedicht Grettisfœrsla zeigt, in dem die sexuellen Eskapaden des Sagahelden Grettir Ásmundarson abgehandelt werden, und das trotz späterer Überlieferung einen relativ alten Kern zu besitzen scheint.⁶⁶ Als adäquate Übersetzungen ins Englische – unter Beibehaltung der altnordischen Satzstruktur mit dem Akkusativ als Objektkasus – bietet Jenny Jochens an: »to penetrate, to screw, or to fuck«.⁶⁷ Allerdings wird serða/ streða selten in der aktiven Form gebraucht, wenn es darum geht, über vermeintlich unmännliches Verhalten zu sprechen: Für gewöhnlich wird ein Mann, dem solches Verhalten vorgeworfen wird, mit der passiven Partizipform bezeichnet, nämlich sorðinn beziehungsweise stroðinn. ⁶⁸ Eine adäquate Übersetzung von sorðinn/stroðinn ins Deutsche, die sowohl die originale Satzstruktur mit Akkusativobjekt als auch die vulgäre Aussagerichtung berücksichtigt, ist daher »gefickt«. Diese Übersetzung berücksichtigt die dem Wort zugrundeliegende Interpretation des Geschlechtsaktes als Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses.⁶⁹ Dazu gesellt sich der Begriff sannsorðinn (als Kompositum mit dem juristischen Terminus sannr ›wahr, schuldig‹; daneben die durch Metathese entstandene Form sannstroðinn), mit dem zum Ausdruck gebracht wird, dass die passive Rolle des damit Bezeichneten vor Gericht durch Zeugenaussagen bestätigt werden könne.⁷⁰ Folke Ström äußert die Annahme, dass argr/ragr und sorðinn/stroðinn »synonyms or equivalents«⁷¹ seien, jedoch ist es aufgrund der im  Fritzner (Hrsg.) s.v. argr.  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. rassragr.  Meulengracht Sørensen 1983, S. 17. Noreen 1922, S. 63, gibt »muliebria passus« als Übersetzung an.  Den Hinweis gibt Meulengracht Sørensen 1983, S. 18.  Jochens 1995, S. 74 mit Verweis auf Dronke 1981, S. 10, Fn. 1, die sich bei der Übersetzung von sorðit mit »fucked« deutlich reservierter zeigt, da dieser Begriff im Englischen ungleich anstößiger als der altnordische sei.  Dronke 1981, S. 74.  Vgl. zu diesem Gedanken Bourdieu 2005, S. 38.  Vgl. [Anonym] 1902, S. 248; der anonyme Verfasser übersetzt hier sannsorðinn mit »wahrhaftig stuprirt« [sic], wohl um zum Ausdruck zu bringen, dass mit der Vorsilbe sann- ausgedrückt werden soll, dass über die Wahrhaftigkeit der Aussage ein juristischer Nachweis geführt wurde. Ausführlich zum Begriff sannr und seiner Bedeutung im altnordischen rechtlichen Sprachgebrauch vgl. von See 1964, S. 222– 235. Eine modernere deutsche Übersetzung, die keinen Umweg über das Lateinische sucht und die syntaktische Struktur beibehält, wäre »nachweisbar gefickt«; »demonstrably fucked«, Clover 1993, S. 374.  Ström 1974, S. 6.

32

2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

Vergleich zu sorðinn/stroðinn stärkeren sozialen Konnotation von argr/ragr (in der erweiterten Bedeutung ›feige‹) nicht ratsam, unvermittelt beide Wortpaare einander gleich zu setzen. Dies ist eher für das Wortpaar rassragr und sorðinn/stroðinn denkbar, so wie es bei Fritzner aufgeführt ist. Wie darüber hinaus bereits aus der Bezeichnung Lokis als rǫg vættr in der Lokasenna ersichtlich wurde, besitzt argr/ragr eine feminine Form. Wird eine Frau mit dem Attribut ǫrg /rǫg versehen, weicht die damit verbundene Bedeutung von derjenigen der männlichen Form ab. Eine Frau, die rǫg ist, verhält sich unersättlich und wohl auch promiskuitiv, weshalb diese Bezeichnung bei Frauen eher mit den Begriffen Inzest und Nymphomanie assoziiert ist.⁷² In dieser Bedeutung taucht das Wort bei der Beschreibung der römischen Göttin Venus in der mit Heimlýsing ok helgifrœði überschriebenen Passage der Hauksbók auf, wo Venus explizit mit den vorgenannten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht und im Anschluss expressis verbis als [ǫrg] Venu bezeichnet wird.⁷³ Für die isländische Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts arbeitet Ármann Jakobsson unter Verweis auf die vorangegangene Forschung, namentlich Noreen, Almqvist, Ström und Meulengracht Sørensen, mehrere Bedeutungsebenen von ergi heraus. Ihm zufolge verteilt sich die Bedeutung auf fünf semantische Felder: 1. 2. 3. 4. 5.

Sexuelle Devianz (auch in Bezug auf Frauen), Homosexueller Geschlechtsverkehr unter Männern, Effemination, Feigheit, Teil eines magischen Rituals.⁷⁴

 Meulengracht Sørensen 1983, S. 19. Ausführlicher darauf geht Jochens 1996, S. 56 – 62 ein. Jochensʼ Ausführungen beziehen den in der Bedeutung ähnlichen Begriff vergjarn (etwa: ›nymphoman‹) in Bezug auf die nicht von Männern gesteuerte weibliche Sexualität ein. Sie untersucht darüber hinaus noch weitere Textbeispiele aus der Lieder-Edda in Hinblick auf die Darstellung und Kommentierung weiblicher Sexualität durch diese Begriffe und kommt zu dem Ergebnis, dass »Óðinn and the other male gods could be polygynous with impunity, but sexual interest, not to speak of nymphomania, was forbidden even to Freyja, the goddess of love. Married goddesses were to be faithful to their husbands and single women were to remain chaste«, S. 61– 62. Bei dieser Schlussfolgerung sollte bedacht werden, dass es sich bei den untersuchten Textbeispielen um Ausschnitte einer senna handelt, sie mithin in einem eigenen, ritualisierten Regelungen unterworfenen Rahmen dargestellt werden. Ob allein aus solchen Textbeispielen generelle Schlüsse für die Akzeptanz verschiedener Verhaltensweisen im nordischen Pantheon abgeleitet werden können, erscheint zumindest fraglich.  Hauksbók, S. 159.  Vgl. zu dieser Auflistung Ármann Jakobsson 2008, S. 55 – 57. Der Begriff der Effemination ist grundsätzlich problematisch, da er als weiblich verstandene Eigenschaften oder Verhaltensweisen kennzeichnet, die als negativ aufgefasst werden, wenn sie in Verbindung mit einem Mann gebracht werden. Besonders komplex wird es, wenn Frauen diejenigen sind, die Männern ihrerseits Effemination vorwerfen, etwa im Rahmen einer sogenannten hvǫt. Es kommt laut Zoe Borovsky die Tatsache hinzu, dass sich im Laufe der Zeit die Vorstellungen von Weiblichkeiten und Männnlichkeiten änderten, so dass sich die Vorstellungen in Relation zueinander weiterentwickelten. Erst wenn sich das Bild von Weiblichkeiten ändere, werde neuer semantischer Raum für alternative Entwürfe von

2.1 Das Konzept ergi

33

Diese Aufgliederung ist im Detail feiner als die oben angebotene Minimalkategorisierung, sie enthält jedoch einige sich aus der Sicht der Isländersagas überschneidende Kategorien. Das betrifft die Punkte 1 mit 3 sowie 3 und 4. Darüber hinaus weist sie noch auf ein weiteres semantisches Feld hin, das für diese Untersuchung keine Rolle spielen wird: Es ist – ausgehend von dem Eintrag zu argr in Fritzners Wörterbuch – angenommen worden, dass ergi mit der magischen Praxis seiðr in Verbindung stehen könnte.⁷⁵ Der Negation des Wortes argr, nämlich óargr, kommt im Altnordischen aufgrund der sichtbar gewordenen negativen Bedeutung ihres Simplex eine sehr viel tiefere Bedeutung zu als lediglich die naheliegende Wiedergabe mit dem deutschen Wort ›männlich‹: »In einer von kriegerischen Werten bestimmten Umwelt kommen damit Tapferkeit, Unerschrockenheit, Wagemut zum Ausdruck.«⁷⁶ Damit verbunden sind darüber hinaus moralische Integrität und die grundsätzlich eingeräumte Teilhabefähigkeit am gesellschaftlichen Leben. Als cognomen scheint óargr sich dennoch nicht sonderlich geeignet oder angeboten zu haben, ist es in dieser Verwendung doch lediglich in der Egils saga anzutreffen, die Skalla-Grímrs Urgroßvater Úlfr inn óargi nennt.⁷⁷ Sehr viel gängiger ist die Verwendung dieses Kompositums über einen langen Zeitraum hinweg als Bezeichnung für den Löwen in dem festen Ausdruck it óarga dýr (wörtlich etwa: »das un-arge Tier«). Zwar besitzt das Altnordische ein eigenes Wort für ›Löwe‹, nämlich leó, allerdings wird vor allem in den isländischen Übersetzungen von hagiografischen Texten aus der südlichen Hemisphäre it óarga dýr als Bezeichnung für den Löwen verwendet.⁷⁸ Ausgehend vom Auftauchen in den frühesten Handschriften der gelehrten Literatur lässt sich it óarga dýr durch die gesamte mittelalterliche Überlieferung Islands hindurch in anderen Textgattungen der isländischen Literatur finden, wie den Isländer- und Vorzeitsagas. In funktioneller Hinsicht füllt das Wort óargr in diesen Beispielen ein ähnlich großes semantisches Spektrum aus wie sein Simplex; es reicht von der »Repräsentation des Tieres seines animalischen Wesens wegen bis zum sinnbildhaften Verständnis symbolischer, allegorischer, rhetorischer und spirtualer Art.«⁷⁹ Der Versuch einer gezielten wörtlichen Übersetzung muss angesichts dieses Befundes vergeblich bleiben. Im Übrigen kennt auch das Färöische

Männlichkeiten frei. Borovsky macht dies daran fest, dass die von ihr untersuchten hetzende Frauen in der altnordischen Literatur (beispielsweise mit dem Adjektiv blandin ›von zweifelhaftem Charakter, unzuverlässig, falsch‹, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. blanda) so beschrieben würden wie Riesinnen und sich die Darstellung von Weiblichkeiten insoweit geändert hätten: »Once ›femaleness‹ is aligned with ›giantness‹ and the past, the notion of ›maleness‹ is free to expand into new territory that would otherwise be considered effeminate«, Borovsky 2001, S. 11.  Zu diesem Umstand vgl. die Zusammenfassung zu ergi in den Isländersagas in Kap. 4.1.  Beck 1972, S. 97.  Vgl. Beck 1972, S. 97– 98, mit Verweis auf die Egils saga, S. 3.  Vgl. Beck 1972, S. 98 – 99.  Beck 1972, S. 106. Eine kommentierte Belegsammlung für die Verwendung von it óarga dýr innerhalb der genannten Textgattungen findet sich auf S. 100 – 106.

34

2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

den Begriff óargadýr, der in der A-Version der Ballade Ólavur hin heilagi auftaucht.⁸⁰ Dem Kontext nach bezeichnet er darin jedoch nicht etwa einen Löwen, sondern Schlangen und Ratten, die aus einer von Olaf dem Heiligen gestürzten heidnischen Götterstatue entweichen: Rottur sprungu úr viðargudi Hartil stórir ormar, har var rumbul á tingi inni, alt av durum stormar. Kongurin stendur á tingi inni við sín gylta stav: ›Her liggur nú tann sterki gudur, tú hevur rósað tær av.‹ Bilsin satt á Gudbrandur gamli, rann honum mangt í huga, óargadýr í Tóra búðu, lítið mundi hann duga. ⁸¹

Sichtlich ist der Begriff óargadýr in dieser Ballade im Gegensatz zur isländischen Überlieferung sehr negativ besetzt, hält man sich den Kontext einer Erzählung über die Abkehr vom Heidentum durch den sagenhaften König Olaf den Heiligen vor Augen, die in ähnlicher Form in Snorris Ólafs saga helga erzählt wird.⁸² Die Vermischung der Bedeutungen ›feige sein‹ und ›sich unmännlich verhalten‹ (also: sich von einem anderen Mann penetrieren lassen), die bereits mehrfach zum Ausdruck gekommen ist, stellt einigen Forschungsmeinungen zufolge eher eine spätere Erscheinung dar, die im Norden vor allem durch das Christentum angeregt wurde.⁸³ Dem lassen sich jedoch neben den angebotenen Etymologien einige der genannten Beispiele entgegen halten, die belegen, dass zumindest in Teilen der germanischen Sprach- und Kulturräume dieses größere Bedeutungsspektrum ebenfalls verbreitet war. An dieser Stelle sei etwa auf die strenge Tabuisierung des Wortes arga bei den Langobarden sowie auf die altenglische Überlieferung verwiesen. Eine

 Für diesen wertvollen Hinweis sei Andreas Fischnaller herzlich gedankt. Auch als Simplex existiert fär. argur, wobei es als Übersetzung für dän. arg aufgeführt wird, í Skála et al. (Hrsg.) 1998, s.v. arg.  Ólavur hin heilagi,V. 31– 33; »Ratten sprangen aus dem Holzgott,/ dazu große Schlangen,/ auf dem Thing gab es große Unruhe,/ alles stürmte aus den Türen./ Der König steht auf dem Thing /mit seinem goldenen Stab:/ ›Hier liegt nun der starke Gott,/ den du so gepriesen hast.‹/ Erstaunt saß der alte Gudbrandur,/ vieles kam ihm in den Sinn,/ óargadyr wohnten in Thor, /wenig würde er taugen.« Die ebenfalls überlieferte B-Version ist an dieser Stelle textlich sehr ähnlich, es fehlt darin jedoch die Bezeichnung óargadýr. Ansonsten ist das Wort óargadýr im modernen Färöischen ein Schimpfwort, wohl vergleichbar mit dem deutschen ›Sauhund‹, Jacobsen/Matras (Hrsg.) 1961, s.v. óargadýr. Für die Unterstützung bei der Übersetzung der Strophen danke ich Andreas Fischnaller und Andreas Schmidt.  Óláfs saga helga, S. 183 – 190. Die Szene, in der die heidnische Statue nach einem Wunderzeichen des neuen Gottes zu Bruch geht und Schlangen daraus hervorkriechen, findet sich auf S. 189.  Vgl. Ebel 2005, S. 518, und Weisweiler 1923, S. 17.

35

2.2 Níð und níðingar

letztgültige Aussage über den genauen semantischen Gehalt in den älteren Quellen wird sich wohl nicht treffen lassen, in der Tendenz überwiegen in den gesichteten Quellen außerhalb des mittelalterlichen Nordens jedoch diejenigen, in welchen argr nicht mit Sexualität konnotiert ist. Der überwiegende Teil der Quellen bewegt sich in den ersten beiden der vorgestellten semantischen Felder, während nur das Altenglische und das Altnordische gesichert alle drei Felder abdecken. Tabelle 1: Semantische Felder von ergi in den untersuchten Quellen. Legende: + trifft zu, – trifft nicht zu, o keine Aussage möglich (eigene Darstellung) Zeit

Erwähnung von ergi

Semantisches Feld ›Feigheit‹

›Schlechtheit‹

›Sexuelle Devianz‹

Bis . Jhd. n. Chr.

Antike Ethnografie und Historiografie, exemplarisch dafür um  n. Chr. Tacitus: Germania (direkter Bezug zu ergi unsicher)

(‐)

(o)

(+)

Frühes . Jhd.

Lex Salica

o

o

(+)

Ca. Mitte . Jhd.

Runensteine von Blekinge

o

+

-



Edicta Rothari

o

o

o

Ende . Jhd.

Paulus Diaconus: Historia regum Langobardorum

+

o

+

. Jhd.

Hildebrandslied

+

o

-

Bis Mitte . Jhd.

Altenglisch: u. a. Bibel und Beowulf

+

+

+

Ende . Jhd.

Exemplarisch für die mittelhochdeutsche höfische Literatur Hartmann von Aue: Erec

+

+

-

Nach 

Lokasenna, exemplarisch für eddische Dichtung

+

+

+

2.2 Níð und níðingar Das altnordische Wort níð knüpft inhaltlich eng an das breite Bedeutungsspektrum von ergi an und schöpft dabei aus einem Verständnis von idealer Männlichkeit, das, wie wir eben gesehen haben, tief im kollektiven kulturellen Gedächtnis der germanischen Sprach- und Kulturräume verwurzelt gewesen zu sein scheint. Níð ist eine formalisierte und rituelle Schmähung eines anderen Mannes mit dem Inhalt, dass der

36

2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

Geschmähte als mit einer Form von ergi behaftet dargestellt und wahrgenommen wird.⁸⁴ Auf diese Weise kann der Vorstellung nach herbeigeführt werden, dass sich am so Geschmähten ergi tatsächlich manifestiert – außer, er beweist etwa durch einen Sieg im Kampf das Gegenteil und kann so seine Männlichkeit verteidigen. Im Zusammenhang mit níð treten die Begriffe háðung ›Verhöhnung, Hohn‹⁸⁵ und ýki ›Übertreibung‹, abgeleitet vom Verbum auka ›vermehren, vergrößern, verstärken‹,⁸⁶ auf. Die bis heute weitreichendste und inhaltlich treffendste definitorische Beschreibung von níð liefert Meulengracht Sørensen: [A] man who subjects himself to another in sexual affairs will do the same in other respects; a fusion between the notions of sexual unmanliness and unmanliness in a moral sense stands at the heart of níð. ⁸⁷

Weiter führt er aus: Níð signifies gross insults of a symbolic kind. Usually the allegation is to the effect that the person who is the object of the níð is a passive homosexual or has been used in this way, thus that he is ragr. The purpose of níð is to terminate a period of peace or accentuate a breach of the peace and isolate an opponent from society by declaring that he is unworthy to be a member. The man attacked must show that he is fit to remain in the community, by behaving as a man in the system of Norse ethics; that is to say, he must challenge his adversary to battle, or avenge himself by bloodrevenge.⁸⁸

Níð stellte eine der denkbar schwersten Straftaten dar, die in der isländischen Rechtsund Gesellschaftsordnung vorstellbar waren.⁸⁹ Anders als ergi lässt sich níð allerdings in den altertumskundlichen Quellen zu den germanischen Völkern nicht gut fassen. Einzelne Beispiele lassen zwar vermuten, dass es außerhalb des nordgermanischen Kulturraums ähnliche Formen gegeben haben könnte, etwa die beschriebene Episode vom langobardischen Feldherrn Argait, dem sein Name zum Spott gereicht. Dennoch lässt die Quellenlage nur gesichert die Aussage zu, dass níð eine speziell im altnordischen Sprachraum verbreitete Ausprägung eines sozialen Diskurses um Unmänn-

 Bandlien fasst diese Aspekte unter der vereinfachenden, dafür aber sehr griffigen Formel »Nid – å kalle andre ragr« zusammen, Bandlien 2001, S. 54.  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. háðung.  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. auka, de Vries (Hrsg.) 1962, s.v. ýki.  Meulengracht Sørensen 1983, S. 20; hier findet sich der sehr wichtige Hinweis, dass die gedankliche Verknüpfung von sexueller und sozialer wie gesellschaftlich wahrgenommener Unmännlichkeit keine soziale Erscheinung ist, die zeitlich und örtlich auf das mittelalterliche Island beschränkt ist. Im vorangehenden Kapitel haben wir bereits mehrere semantische Felder des historischen ergi-Begriffs identifiziert, und in Kap. 4.1 wird sich ein differenzierteres Bild zeigen.  Meulengracht Sørensen 1983, S. 32.  Daneben sahen die Gesetze die Möglichkeit eine vorgezogene Strafe noch für Mord und erzwungenen Geschlechtsverkehr mit einer Frau vor, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 182. Die Ahndung dieser Verbrechen konnte nicht bis zu einer Verhandlung vor der nächsten Thingversammlung warten.

2.2 Níð und níðingar

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lichkeit darstellt. So begründet es sich, dass der Aufbau dieses Kapitels von dem vorangehenden abweicht. Wie das Kapitel über ergi ist hier ein semantischer und etymologischer Abriss vorangestellt. Im Folgenden liegt das Augenmerk besonders auf den norwegischen und isländischen Rechtstexten, die anschaulich zeigen, welches gesellschaftliches Gewicht níð besessen haben muss. Daran anknüpfend werden die wenigen sprachlichen und archäologischen Befunde vorgestellt, die auf eine historisch verbriefte außerisländische Verbreitung von níð schließen lassen. Darauf aufbauend (und teilweise im Vorgriff zur Untersuchung der Isländersagas) wird der Versuch einer formellen Kategorisierung der vielfältigen Ausdrucksweisen unternommen, in denen níð uns in den juristischen und literarischen Texten begegnet. Diese Kategorisierung wird dabei in Hinblick auf die Erscheinungsformen in den Sagas vorgenommen werden, so dass sie in Teilen von Beobachtungen abweichen kann, die allein anhand von Textbelegen aus den Rechtstexten erarbeitet wurden.

2.2.1 Semantischer und etymologischer Überblick Die etymologische Verwandtschaft mit dem neuhochdeutschen ›Neid‹ ist im altnordischen Substantiv níð n., ›Schmähung,Verhöhnung‹ erkennbar.⁹⁰ Verwandt sind got. neiþ ›Neid‹, ae. nīð ›Feindschaft, Kampf‹, afr. nīth ›Streben, Feindseligkeit‹, as. nīth, nīð ›Eifer, Hass, Feindschaft‹, ahd. nīd ›Kampfeseifer, Zorn, Neid‹. Im Mittelhochdeutschen begegnet es uns an prominenter Stelle zu Beginn des Nibelungenliedes in der Wortbedeutung ›Zorn‹ oder ›Streit‹ als nît. ⁹¹ Die Wörter stammen wohl aus einer germanischen Wurzel *neiþa ›Neid, Groll‹.⁹² Möglicherweise handelt es sich dabei um eine noch ältere indogermanische Wurzel *nīt-, ›(niederkriegen), befeinden; heruntermachen, schmähen‹.⁹³ Für diese Annahme ist es notwendig, sich auf die Zurechnung des altirischen Wortes nīth ›Streit‹ oder ›Kampf‹ zu diesem Wortstamm einzulassen.⁹⁴ Zwar entstammen alle diese Wörter und das neuhochdeutsche Wort Neid einer Sphäre negativer Emotionalität, jedoch nehmen sie nur einen Bruchteil des semantischen Raums ein, den das altnordische níð besitzt. Die Bedeutung ›Hohn, Schmähung‹ tritt zumindest noch in den skandinavischen Gegenwartssprachen auf, die auch die Verben níða, nida, nia mit solcherart gerichteter Bedeutung kennen, wobei hier der bewusst archaisierende Gebrauch mit Rückbezug auf altnordische Verhältnisse eine Rolle spielt.⁹⁵

 de Vries (Hrsg.) 1962, s.v. níð. Baetke (Hrsg.) 2008, führt s.v. níð etwas umständlich aus: »was zur Beschimpfung, Verhöhnung dient, sei es Wort od. Tat«.  Nibelungenlied 6,4: [S]i sturben jamerliche sit von zweier frowen nit.  Kluge (Hrsg.) 2011, s.v. Neid. Vgl. Almqvist 1965, S. 38.  Almqvist 1965, S. 38.  Kluge (Hrsg.) 2011, s.v. Neid. Vgl. Almqvist 1965, S. 38 und de Vries (Hrsg.) 1962, s.v. níð.  Vgl. Almqvist 1965, S. 39 und dort Fn. 7, sowie de Vries (Hrsg.) 1962, s.v. níð.

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2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

Als Bestandteil eines Personennamens belegt ist das Wort möglicherweise in der silbernen Schildfessel 2 von Illerup, die um das Jahr 200 n.Chr. datiert wird.⁹⁶ Die Inschrift enthält die Runenfolge niþio tawide, wobei die Lesung an sich aufgrund der guten Lesbarkeit wenig Schwierigkeiten bereitet. Formal entspricht sie einer Herstellerinschrift mit dem Wortlaut »N. machte«. Für Grünzweig ist die Ableitung von einer urgermanischen Verbwurzel *nīþan (also eine Lesung der Inschrift mit langem ī) die wahrscheinlichere Variante; etymologisch wäre der Name nach seiner Ansicht also mit dem altnordischen Wort níð verwandt.⁹⁷ Denkbar ist aber auch die Ableitung von einem urnordischen Wort für eine verwandte Person, das später im altwestnordischen *niði ›Verwandter‹ lautet.⁹⁸ Sicher belegt sind dann erst eine ganze Zeit später im Altisländischen die Namen Níð, Níðbjǫrg, Níðgestr, Níðhǫggr, Níðuðr und Níðungr, jedoch erscheint bei den meisten die Lesung mit einem langen í höchst zweifelhaft.⁹⁹

2.2.2 Norwegische und isländische Gesetze Selbst wenn die rechtliche Terminologie nicht zwingend mit derjenigen in den erzählenden Texten übereinstimmen muss,¹⁰⁰ ist es für die Betrachtung des Konzeptes níð lohnend, Gesetzestexte aus dem skandinavischen Kulturraum für die Annäherung an die Ausformungen dieses Begriffes in der diegetischen Sagagesellschaft zu kon-

 Vgl. zu den folgenden Angaben zu dieser Inschrift Grünzweig 2004, S. 72– 74 mit den dortigen Hinweisen auf bislang erfolgte Lesungen und Deutungsvorschläge.  Vgl. Grünzweig 2004, S. 73.  Vgl. dazu Petersen 2004, S, 14.  Vgl. Lind (Hrsg.) 1905 – 1915, Sp. 788 – 789. Der erstgenannte ist demnach der Name einer Trollfrau in der Snorra Edda, den zweiten Namen trägt die Mutter von Ósvífr in der Laxdœla saga, S. 85, wobei ihr Name in der Íslenzk fornrit-Edition als Niðbjǫrg wiedergegeben ist. Níðgestr taucht als Bestandteil eines Patronyms (Niðgestsson) in der Droplaugarsona saga auf, wobei sein Name in der Íslenzk fornritAusgabe nicht mit langem í wiedergegeben ist, mithin nicht als Ableitung von níð, sondern – wie auch bei Niðbjǫrg – von niðr ›Nachkomme‹ zu sehen ist (Droplaugarsona saga, S. 14, Bateke (Hrsg.) 2008, s.v. niðr). Níðhǫggr (oder Niðhǫggr, Níðǫttr) ist der Drache, der in der Liederedda an Yggrasills Wurzel haust, Grímnismál 32. Auch bei diesem Namen stellt sich die Frage nach einer langen oder kurzen Lesung des Vokals, wobei die Kurzversion angesichts der geschilderten Umstände für eine Ableitung vom Adverb niðr und die Lesung des Namens als »der unten Hauende« sprechen würde, vgl. von See et al. 2019, 1.II, S. 1365. Noreen führt an, dass Níðhǫggr (mit langem -i) als Schwertname belegt ist, was aber nicht automatisch Rückschlüsse darauf zulasse, dass ein gleichlautender Personenname mit langem í existieren müsse, vgl. Noreen 1922, S. 64– 65. Auch die Gylfaginning berichtet von diesem Drachen, vgl. Gylfaginning, S. 18 – 19. Níðuðr (von Níðhǫðr) ist in der eddischen Vǫlundarkviða König von Schweden (vgl. die einleitende Prosa: Níðuðr hét konungr í Svíðióð, S. 116; »Níðuðr hieß ein König in Schweden«), Níðungr hingegen die fingierte Kunstfigur des Skalden Þorleifr aus dem Þorleifs þáttr jarlaskálds, die wir im Kap. 4.4.2 näher besprechen. In der Gesamtschau fällt auf, dass diese Namen entweder für den mythologischen Kontext oder für nicht-menschliche Figuren reserviert sind, sofern man die Namen Niðbjǫrg und Niðgestr nicht mit einem langen í liest. Menschliche Figuren sind in der Regel nicht Trägerinnen von Namen, die mit dem ersten Namenselement Níð- gebildet werden.  Vgl. Almqvist 1965, S. 40.

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sultieren. Vor allem das isländische Rechtssystem zeichnet sich – bedingt durch seine Tradition mit einer Beschlüsse fassenden rechtssetzenden Kammer und dem einflussreichen Gesetzessprecher – durch eine Mischung aus kodifiziertem Recht und daraus hergeleiteten Beschlüssen aus. Die tatsächliche Rechtswirklichkeit findet sich in Teilen in der Sagaliteratur wieder.¹⁰¹ Dabei muss man sich aber vor Augen halten, dass es sich bei all den Prozessen, die in den Sagas geschildert werden, um eine literarische Aufarbeitung von Recht und prozessualen Verfahrensweisen handelt. Es ist anzunehmen, dass die kodifizierten Rechtssätze und Beschlüsse Einfluss auf die Sagas genommen haben, lagen diese doch zur Zeit der Niederschrift der Sagas ebenfalls vor. Trotz dieser Voraussetzungen scheint es sinnvoll, Rechtstexte und Sagas nicht strikt voneinander zu trennen, sondern beide in Abhängigkeit voneinander zu betrachten, um das Verständnis für die soziale Ordnung zu mehren, das in ihnen entworfen wird.¹⁰² Dass das norwegische kodifizierte Recht in großen Teilen das frühe isländische Rechtssysstem mitgeprägt hat, geht aus einer Erzählung in Ari Þorgilssons Íslendingabók hervor. Darin heißt es, der Isländer Úlfljótr habe vor der Installation des Althings in der Region des westnorwegischen Gulathings Gesetze gesammelt und nach Island mitgebracht, wo sie als Úlfljótrs Gesetze (Úlfljótslǫg) umgesetzt und in späteren Bearbeitungen an isländische Verhältnisse angepasst wurden.¹⁰³ Die Gulathingsgesetze sind nach dem im Südwesten Norwegens gelegenen Rechtsbereich und Thingplatz bei Gule benannt, und man kann aus den bereits erwähnten Berichten des isländischen Gelehrten Ari Þorgilsson in seiner Íslendingabók schlussfolgern, dass ihr Kern bis ins 9. Jahrhundert zurück reicht. Ursprünglich mündlich tradiert, sind uns heute nur Bruchstücke der älteren Version erhalten. Der mündlichen Tradition und dem »lebendigen« Charakter des Gesetzestextes sind zahlreiche spätere Redaktionen und Zufügungen geschuldet. Die Notwendigkeit eines umfassenden Gesetzestextes für große Teile Norwegens führte zur Zusammenlegung der zivilrechtlichen Abschnitte mit anderen norwegischen Bezirksgesetzen zum Landrecht des Königs Magnús Hákonarson ab dem Jahr 1273.¹⁰⁴

 Vgl. Strauch 2016, S. 252.  Vgl. Miller 1990, S. 76.  Íslendingabok, S. 6 – 7: En þá es Ísland var víða byggt orðit, þá hafði maðr austrœnn fyrst lǫg út hingat yr Norvegi, sá es Úlfljótr hét; svá sagði Teitr oss; ok váru þá Úlfljótslǫg kǫlluð; – hann vas faðir Gunnars, es Djúpdœlir komnir frá í Eyjafirði; – en þau váru flest sett at því sem þá váru Golaþingslǫg eða ráð Þorleifs ens spaka Hǫrða-Kárasonar váru til, hvar við skyldi auka eða af nema eða annan veg setja; »Und als Island weithin besiedelt war, da brachte zuerst ein Norweger Gesetze von Norwegen aus hierher, der Úlfljótr hieß. So sagte es uns Teitr, und sie wurden Úlfljótrs Gesetze genannt. Er war der Vater Gunnarrs, von dem die Leute aus Djúpdalir im Eyjafjǫrðr abstammen. Die Gesetze aber waren meist so gestaltet, wie die Gulaþingslǫg damals waren, und es lagen auch die Ratschläge Þorleifrs des Klugen, Sohn von Hǫrða-Kári, vor, wo wir Dinge hinzufügen oder wegnehmen oder auf eine andere Weise setzen sollten.«  Vgl. zu diesem Absatz: Strauch 2016, S. 108 – 113.

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Im Zuge der Besiedlung Islands ab etwa 870 erschien es den Landnehmern bald als zwingende Notwendigkeit, sich selbst allgemeinverbindliche Regeln für den Landnahmeritus aufzuerlegen.¹⁰⁵ Spätestens am Ende der Landnahmezeit mit der Errichtung des Althings und der Einrichtung der zugehörigen gesetzgebenden Kammer namens Lǫgrétta¹⁰⁶ im Jahr 930 setzte vollends ein eigenständiger isländischer Rechtsetzungsprozess ein, wobei kodifizierte Gesetze erst später greifbar werden.¹⁰⁷ Ein wichtiges überliefertes Gesetzeswerk aus Island ist die sogenannte Grágás (›Graugans‹), die wohl aus dem 13. Jahrhundert stammt und in Snorris Heimskringla genannt wird. Der Namensursprung ist jedoch unklar. Bei Snorris Nennung handelte es sich um die Zuschreibung für einen norwegischen Gesetzestext im Auftrag des Königs Magnús inn góði aus der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts. Später wurde Grágás zum Sammelbegriff für verschiedenste isländische Gesetzestexte und -fragmente aus der Freistaatszeit. Im Wesentlichen gibt es zwei Hauptredaktionen, die sich in den Handschriften GKS 1157 fol. (Konungsbók) und AM 334 fol. (Staðarhólsbók) finden, welche beide gut erhalten sind. Beide stammen wohl aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Daneben existieren noch Fragmente, die teilweise ins elfte Jahrhundert zurück reichen. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Grágás nicht um eine in sich geschlossene Textsammlung handelt, weichen die beiden Haupthandschriften in Hinblick auf Gliederung und Akzentuierung einzelner Themen teilweise sehr stark voneinander ab: In der Staðarhólsbók gliedert sich der Text in sieben einzelne Abschnitte und Teile, die mit þættir und belkir bezeichnet werden. Die Konungsbók, die im Folgenden den Varianten entsprechend als Konungsbók I oder Konungsbók II zitiert wird, fügt diesen Abschnitten noch einige weitere hinzu.¹⁰⁸ Wenden wir uns nun zunächst dem norwegischen Recht zu, indem wir uns die Vorschriften der Gulaþingslǫg, der Gulathingsgesetze, im Lichte von ergi und níð ansehen. Die kirchenrechtlichen Bestimmungen der Gulaþingslǫg enthalten die einzige Stelle in einem altnordischen Gesetzestext, die sich explizit auf den homosexuellen Verkehr zwischen zwei Männern bezieht: En ef karlar tveir blandasc likams losta saman ok verða kunnir oc sanner at þvi. þa ero þeir baðer ubotamenn. ¹⁰⁹ Gleichgeschlechtlicher Verkehr unter Männern wird in dieser Vorschrift eindeutig als schweres Verbrechen gewertet. Als Strafe nach einer Entscheidung mit Hilfe eines Gottesurteils (með

 Vgl. Strauch 2016, S. 205.  Vgl. zur Institution der Lǫgrétta Strauch 2016, S. 40.  Vgl. Strauch 2016, S. 206 – 207.  Vgl. zu diesem Absatz Naumann 1998, S. 569 – 573. Für Strauch 2016, S. 226, gleicht die Konungsbók einem Entwurf, der etwa 20 Jahre früher, nämlich um 1260, entstanden sein muss.  Gulaþingslǫg, § 32; »Wenn aber zwei Männer sich aus Fleischeslust vereinigen und es bekannt und für wahr erkannt wird, dann sind beide schwere Verbrecher [Anm.: deren Verbrechen nicht gebüßt werden kann].« Vgl. zu dieser Regelung Ebel 2005 S. 518; in den gesamten kodifizierten Rechtsquellen germanischer Stämme findet sich lediglich in den Leges Visigothorum aus dem siebten Jahrhundert ein ähnliches Verbot von männlichem homosexuellem Geschlechtsverkehr, der dort mit Kastration geahndet wird, während die meisten anderen Gesetzestexte sich diffus gegen Sünden wider die Natur im Allgemeinen aussprechen, vgl. Gade 1986, S. 129.

2.2 Níð und níðingar

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jarnburði) sieht das Gesetz vor, die Besitztümer der beiden Überführten zur Hälfte zwischen König und Bischof aufzuteilen: [Þ]a a konungr fe þeirra halft. en biscop halft. ¹¹⁰ Obwohl diese Bestimmung im Christenrechtsabschnitt der Gulaþingslǫg zu finden ist, stellt sie den Verkehr zwischen Männern nicht als expliziten Verstoß gegen das Christentum dar, sondern als Verbrechen, das auf einer Stufe mit Diebstahl und Mord steht (die Delinquenten sind úbótamenn).¹¹¹ Das Konzept níð findet ebenfalls seinen Niederschlag im Gesetz, unter der Überschrift Ef maðr niðir annan,¹¹² wo nach einer kurzen Nennung und dem ausdrücklichen Verbot von tunguníð und tréníð Beispiele dafür gebracht werden, was als ýki gewertet werden kann: Engi maðr scal gera tungu nið um annan. ne trenið. en ef hann verðr at þvi kunnr oc sannr. at hann gerir þat. þa liggr hanom utlegð við. syni með settar eiði. fellr til utlegðar ef fellr. engi skal gera yki um annan. eða fjolmæle. þat heiter yki ef maðr mælir um annan þat er eigi ma væra. ne verða oc eigi hever verit. kveðr hann væra kono niundu nott hveria. oc hever barn boret. oc kallar gylvin. ¹¹³

Konkret geht es nach dieser Definition um Anschuldigungen, die entgegen zur beobachtbaren Lebenswirklichkeit der Gesetzesschreiber stehen: Der Beschuldigte sei jede neunte Nacht eine Frau (mitunter begegnet statt »Frau« auch »Troll«) oder habe Kinder geboren. Der Zahl Neun kommt in dieser Anschuldigung eine besondere Bedeutung zu, da sie in die mythologische Sphäre verweist, auf die die Formulierung þat er eigi ma væra. ne verða oc eigi hever verit hinweist.¹¹⁴ Die dritte genannte Beleidigung, gylvinn (standardisiert: gylfinn) ist in der Bedeutung nicht ganz klar. Da es sich um ein hapax legomenon handelt, gehen die Übersetzungsvorschläge auseinander, wobei es das eine Mal als weibliche Form eines Adjektivs gylfinn (›ein Werwolf seiend‹), das andere Mal als neutrales Nomen Gylfi (›Unhold‹) interpretiert wird.¹¹⁵ Die Überschrift dieses Absatzes lässt jedenfalls erkennen, dass ýki verbunden mit dem níð-

 Gulaþingslǫg, § 32; »Dann hat der König die eine Hälfte ihres Besitzes und der Bischof die andere.«  Vgl. Gade 1986, S. 129 – 130. Im Spätmittelalter und der Reformationszeit scheint das Interesse an der Verfolgung von homosexuellen Akten gering zu sein, was sich daraus schließen lässt, dass aus dieser Zeit nur ein Fall bekannt ist. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts schien dieses Thema im sozialen und juristischen Bereich wieder Relevanz zu erlangen, vgl. Riisøy 2009, S. 48 – 49.  Gulaþingslǫg, § 138; »Wenn ein Mann níð über einen anderen macht«.  Gulaþingslǫg, § 138; »Kein Mann soll über einen anderen tunguníð oder tréníð machen. Wenn er aber dafür bekannt wird, dass er dies tut, dann ist ihm Friedlosigkeit aufzuerlegen. Die Anklage soll mit einem Sechsereid verteidigt werden. Wenn dies scheitert, steht darauf Friedlosigkeit. Niemand soll ýki oder Gerüchte über jemand andere verbreiten. Das heißt ýki, wenn ein Mann über einen anderen das sagt, was nicht sein kann oder geschehen kann oder gewesen ist. Wenn er sagt, dass er jede neunte Nacht eine Frau sei und Kinder zur Welt gebracht habe oder ihn gylfinn nennt.«  Vgl. Simek 2006, S. 299, der zahlreiche Verweise auf die Zahl Neun in den mythologischen und kultischen Quellen anführt, sowie Bandlien 2005, S. 103. Erklärbar ist dies damit, dass die Zahl Neun eine »potenzierte Dreizahl« ist, wobei die Zahl Drei in vielen Kulturen von besonderer Bedeutung ist, Schuppener 2007, S. 810.  Vgl. Finlay 2001, S. 22, Fn. 3, Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. gylfinn, sowie Almqvist 1965, S. 41– 42.

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2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

Konzept ist und letztendlich wohl tatbestandlich darunter subsumiert wurde.¹¹⁶ In § 196 (Um fullrettes orð) heißt es im selben Gesetzbuch: Orð ero þau er fullrettis orð heita. þat er eitt ef maðr kveðr at karlmanne ơðrom. at hann have barn boret. þat er annat. ef maðr kveðr hann væra sannsorðenn. þat er hit þriðia. ef hann iamnar honum við meri. æða kallar hann grey. æða portkono. æða iamnar hanom við berende eitthvert. þa scal hann böta hanom fullum rette firi. þar ma han oc viga um. […] þat er oc fullrettes orð ef maðr þrælar karlmann frialsan. æða kallar hann troll. æða fordæðo. ¹¹⁷

Was als fullréttisorð geahndet wird, gehört ebenfalls zu den bereits definierten Kategorien ýki und níð. ¹¹⁸ Hier werden neben dem Begriff sannsorðinn einige andere Verbalinjurien sanktioniert, namentlich die Vergleiche eines anderen mit einem trächtigen Tier oder einem Troll. Beleidigungen zählen ebenso dazu, wie die Bezeichnung eines freien Mannes als Knecht, worin für diesen ein unterstelltes Statusproblem zum Ausdruck kommt.¹¹⁹ Als prozessuale Grundlage sehen die Gulaþingslǫg wie bei Zauberei und Diebstahl einen Sechsereid vor.¹²⁰ Aus der Gegend um Trondheim stammt die Frostaþingsbók, deren älteste Handschrift aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verloren gegangen ist.¹²¹ Ein kurzes Fragment über Dichtkunst lässt darauf schließen, dass darin ebenfalls ein Verbot von níð geregelt war.¹²² In den zehn Jahren nach der Annahme der norwegischen Königsherrschaft wurde das norwegische Recht in der damals geltenden Form übernommen, die in der auch als Járnsíða bezeichneten Hákonarbók niedergelegt war und auf den Frostathingsgesetzen beruhte. Mit diesem Rechtswerk wurde älteres isländisches Recht, vermutlich die weiter unten besprochene Grágás, abgelöst.¹²³ Almqvist zufolge geben uns die isländischen Gesetze im Vergleich zu den norwegischen »en betydligt rikare bild av niddiktningens uttrycksformer och Sitz im

 Gegen diese Position argumentiert Finlay, für die ýki eine spezialisiertere Form darstellt als níð, vgl. Finlay 2001. Für Meulengracht Sørensen hingegen ist níð eine spezialisiertere Form von ýki, das ihm zufolge stärker ausdifferenziert ist, Meulengracht Sørensen 1983, S. 29. Finlays Unterscheidung stützt sich hauptsächlich darauf, dass in den isländischen Gesetzen ýki stärker verbal geprägt ist, níð demgegenüber skulptural.  Gulaþingslǫg, § 196; »Das sind die Worte, die fullréttisorð heißen: Das ist eines, wenn ein Mann einem [anderen] Mann sagt, dass er Kinder zur Welt gebracht habe. Das ist ein anderes, wenn ein Mann ihm sagt, er sei sannsorðinn [›rechtlich nachweisbar, d. h. durch Gewährsmänner bestätigt, gefickt‹]. Das ist das dritte, wenn er ihn mit einer Stute vergleicht oder ihn Hündin nennt oder Hure oder ihn mit irgendeinem trächtigen Tier vergleicht. Dafür soll er [der Geschädigte] ihm volle Entschädigung auferlegen. Er darf ihn dafür auch erschlagen […] Das sind fullréttisorð, wenn ein Mann einen freien Mann einen Sklaven oder einen Troll oder Missetäter [Anm.: Damit kann eine Person gemeint sein, die magische Künste ausübt, Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. fordæða] nennt.«  Vgl. zum Begriff sannsorðinn oben Kap. 2.1.  Sozialer Status ist Thema in Kap. 4.1.5.  Gulaþingslǫg, § 133, vgl. Almqvist 1965, S. 41– 42.  Vgl. zur Frostaþingsbók Strauch 2016, S. 117– 127.  Vgl. Almqvist 1965, S. 48 – 49.  Vgl. Strauch 2016, S. 122 – 123.

2.2 Níð und níðingar

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Leben.«¹²⁴ Sowohl die Staðarhólsbók als auch die Konungsbók der Grágás widmen einen langen Abschnitt der rechtlichen Bewertung unterschiedlicher skulpturaler und verbaler Äußerungsformen und gehen dabei vor allem auf die Dichtung ein.¹²⁵ Die entsprechende Passage der Konungsbók-Fassung trägt die Überschrift [V]m scaldscap. ¹²⁶ Dem Gesetz zufolge steht das Dichten von Strophen über einen anderen unter einem Generalverbot, das unabhängig davon ist, ob »Lob oder Tadel«¹²⁷ gedichtet wird. Dabei kann das Strafmaß bis hin zum skóggangr reichen. Die Vorschriften für die Zumessung des Strafmaßes richten sich nach der Anzahl der Strophen und vor allem dem Maß an Spott, das in den Strophen enthalten ist. Der Gesetzestext gibt dafür das Wort háðung wieder und legt eine geringere Straffolge beim Fehlen dieses Tatbestandsmerkmals fest: Ef maðr yrkir þa víso vm man er eigi er háþung í. oc varðar iii. marca sekþ. ¹²⁸ Dass es auf die Zahl der Strophen ankommt, wird im Folgenden ersichtlich, wo mit der steigenden Anzahl von gedichteten Strophen das Strafmaß zunimmt. Ein wichtiger Umstand für das Strafmaß ist der Grad an Öffentlichkeit, der durch die Dichtung erreicht wird: So ist die Strafe für die Weitergabe der Strophe an einen Dritten und einer Rezitation auf dem Althing die Friedlosigkeit.¹²⁹ Die Bezeichnung eines Mannes mit den Wörtern ragr und stroðinn wird ebenso reglementiert wie níð im Allgemeinen. Wer so bezeichnet wird, ist befugt, sich am Schmähenden zu rächen oder Klage beim Althing wegen Ehrenkränkung zu erheben.¹³⁰ Eine eigene Erwähnung bekommt níð gegen ausländische (nordische) Herrscher, namentlich die Könige Schwedens, Dänemarks und Norwegens. Als Rechtsfolge drohten Friedlosigkeit und zusätzlich ging an die Knechte desjenigen, der das níð bewirkt hatte, das Klagerecht vor dem Althing über; sollten diese den Prozess selbst nicht anstrengen wollen, hatte jedermann das Klagerecht in dieser Sache.¹³¹ Auch erotisch gefärbte Liebesdichtung über eine Frau, ein sogenannter mansǫngr, war strafbewehrt und wurde mit Friedlosigkeit geahndet. Es heißt in der Konungsbók II in einem Nachtrag mit dem Titel vm fullrettis orð (»Über fullréttisorð«): Ef maðr mælir við man háðung eða gerir ýki vm oc varðar fiorbavgs garð. scal søkia við xii. Quið. Ef maðr gerir manne níð oc varðar fiorbavgs garð.¹³²

 Almqvist 1965, S. 51.  Staðarhólsbók, § 377, Konungsbók II, § 238.  Konungsbók II, § 238; »Über die Dichtung«.  Staðarhólsbók, § 377: lof ne lavst.  Konungsbók II, § 238; »Wenn ein Mann eine Strophe über einen [anderen] Mann, die keine háðung enthält, dann stehen darauf drei Mark Strafe.« Ähnlich ist der Text in der Staðarhólsbók, S. 392.  Konungsbók II, § 238, Staðarhólsbók, § 377.  Konungsbók II, § 238, Staðarhólsbók, § 377.  Konungsbók II, § 238, Staðarhólsbók, § 377.  Konungsbók II, § 237; »Wenn ein Mann gegen über einem [anderen] Mann háðung ausspricht oder ýki gegen ihn macht, steht darauf auch der fjörbaugsgarðr. Es soll mit einem Zwölferspruch über die Rechtssache entschieden werden. Wenn ein Mann einem [anderen] Mann níð macht, steht darauf auch der fjörbaugsgarðr.« Der Begriff fjörbaugsgarðr bezeichnet eine im Vergleich zur strengen Acht, dem skóggangr (›Waldgang‹), mildere Form der Landesacht, die auf drei Jahre beschränkt war und dem

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Genannt wird die überhöhende und übertreibende Schmähung (háðung bzw. ýki) eines Anderen. Im selben Abschnitt wird im Anschluss an die Strafbewehrung von níð eine Legaldefinition davon gegeben: En þat ero níð ef maðr scer manne tré níþ eða rístr eða reisir manne niðstöng. ¹³³ Die zuerst genannten Tatbestände betreffen mündliche Äußerungen, die aber nicht als níð bezeichnet werden. Níð wird demgegenüber dann allein auf einer skulpturalen Ebene definiert.¹³⁴ Der enge räumliche Zusammenhang, die gleiche angeordnete Rechtsfolge und die Nennung aller Tatbestände nacheinander lassen auf einen inhaltlichen Zusammenhang schließen, der diesen Formen zugrunde gelegt wurde. Die Hákonarbók, das zuvor erwähnte Regelwerk, das unter der Herrschaft der Norweger die Grágás als Gesetzestext ablöste, sieht ebenfalls entsprechende Strafen für níð vor: Nu ef maðr yrker um mann þat er monnom virðiz til niðs eða haðungar fiorðung uiso eða lengra. þa skal hinn kueðia þings oc kueða a þinge. en hinn færez undan með lyritar æiði. eða fare utlægr. oc hverr penningr fiar hans nema iarðer. take hann fyrst rætt sinn af þui fe. en konongs umboðsmaðr se fire þui er auk er. ¹³⁵

In späteren kontinentalen Gesetzeswerken wie dem Bjarköarrätt wurde die Strafe für níð-Dichtung sukzessive dahingehend abgemildert, dass die Ahndung durch die Acht entfiel und die an den König zu entrichtende Summe gedeckelt wurde, während gleichzeitig der verringerte prozessuale Aufwand durch den Dreiereid beibehalten wurde.¹³⁶ Auf Island hingegen wurde mit der Jónsbók, die wiederum die Hákonarbók ablöste, erneut auf einige der vergleichsweise scharfen Regelungen der Grágás zurückgegriffen, Markey zufolge »apparently because níð was still being practised, or feared«.¹³⁷

Verurteilten ermöglichte, sich den Schutz seines Lebens durch eine fjörbaugr genannte Zahlung zu erkaufen – in der Folge konnte er sich in einem abgegrenzten Gebiet, dem fjörbaugsgarðr, sicher wähnen. Falls er sich gegen die Zahlung des fjörbaugr entschied, wurde er des Landes verwiesen, genoss im Ausland aber Rechtsschutz, vgl. Maurer 1910, S. 158 – 164 und Strauch 2016, S. 228.  Konungsbók II, § 238; »Und das sind [Formen von] níð, wenn ein Mann einem [anderen] Mann tréníð ritzt/schneidet oder einem [anderen] Mann eine níðstǫng errichtet.«  Zur Unterscheidung von skulpturalem und verbalem níð siehe Kap. 2.2.3.  Hákonarbók, § 38; »Wenn nun ein Mann über einen Mann eine Viertelstrophe oder mehr davon dichtet, was die Leute für níð oder háðung halten, dann soll er [der andere] das Thing anrufen und es auf dem Thing aufsagen. Und er soll sich mit einem beeideten Einspruch [von dem Vorwurf; der beeidete Einspruch meint einen Dreiereid, vgl. Almqvist 1965, S. 49] befreien oder geächtet werden. Auch [das Anrecht auf] jegliches Vermögen außer dem Grund [hat er verwirkt]. Zuerst nehme er [der erfolgreiche Kläger] seinen Anteil von diesem beweglichen Vermögen. Dann nehme der Verwalter des Königs das, was übrig ist.«  Vgl. Almqvist 1965, S. 50 – 51.  Markey 1972, S. 9.

2.2 Níð und níðingar

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2.2.3 Formelle Unterscheidungskriterien, Inhalt und Funktion von níð Wie den vorgestellten Gesetzen zu entnehmen war, wurde schon in den Zeiten von deren Niederschrift níð gedanklich in zwei unterschiedliche formale Kategorien unterteilt, die man als verbale und skulpturale Kategorie fassen kann. Die Sagas halten sich im Wesentlichen an diese Zweiteilung, da die dort anzutreffenden Episoden gedanklich ebenfalls der binären Unterteilung der Gesetzestexte folgen, ohne konsequent deren Terminologie zu übernehmen. Angesichts dieser Beobachtung kann Lawing gefolgt werden, wenn er von einem als implizit zu verstehenden »níð-stemma« spricht, dessen Vorstellung den Gesetzen und den Sagas zugrunde liegt.¹³⁸ Ein solches Stemma, das die Ausprägungen von níð mit ihren unterschiedlichen und vielfältigen nachgeordneten Formen enthält, soll im Folgenden entworfen werden. Dazu werden in Anlehnung an die gesetzlichen Unterteilungen im Vorgriff auf die spätere Untersuchung auch Berichte aus den Sagas über níð aufgenommen, soweit sie sich auf seine Form beziehen. Unter der zusätzlichen Einbeziehung der wenigen anderen Quellen, die uns zur Verfügung stehen, wollen wir uns über die beiden genannten formalen ›Hauptäste‹, skulpturales und verbales níð, an ein differenzierteres Stemma annähern.

2.2.3.1 Skulpturales níð und níðstengr Skulpturales níð – das in den Gesetzen als tréníð, also ›Holz-níð‹, bezeichnet wird – erfordert per definitionem das Vorhandensein eines physischen Objektes, dem Wort nach aus Holz. Innerhalb dieser Gruppe finden sich drei unterschiedliche Formen, die auch in den Sagas auftauchen. Skulpturales níð gibt es sowohl in den norwegischen als auch in den isländischen Gesetzen als direkt so benannte Form von níð. ¹³⁹ Die plakativste Variante dieser Art níð ist eine hölzerne Skulptur, die den Geschmähten als rezeptiven Partner homosexuellen Geschlechtsverkehrs darstellt, namentlich in gebückter Stellung vor einem anderen Mann. Derartigen Skulpturen begegnen wir in sehr detailliert beschriebenen Ausführungen in der Bjarnar saga Hítdœlakappa oder der Gísla saga. ¹⁴⁰ Daneben gibt es das Phänomen der níðstǫng, die auch als flannstǫng oder skáldstǫng bezeichnet werden kann.¹⁴¹ Dabei handelt es sich den Schilderungen in den Sagas nach um eine bisweilen mit schmähenden Formeln versehene Holzstange, auf der ein Pferd oder dessen Kopf steckt, und die gegen einen Kontrahenten gerichtet wird, wobei die Blickrichtung des Pferdes das Ziel des níð markiert. Die drei elementaren Komponenten sind die Stange, das Pferd bzw. sein Kopf und die begleitende Schmähung.¹⁴² Für Almqvist besteht kein wesentlicher Unterschied zwi-

 Lawing 2014, S. 26.  Vgl. Almqvist 1965, S. 42.  Vgl. dazu die Ausführungen im jeweiligen Kapitel zu den genannten Texten.  In den isländischen Texten findet sich keine definitorische Abgrenzung der níðstǫng gegenüber dem tréníð, vgl. Almqvist 1965, S. 43 – 44.  Vgl. Rooth 1991, S. 73.

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schen tréníð und níðstǫng, denn der Übergang zwischen beiden skulpturalen Formen könne gerade wegen der bisweilen geschilderten Einritzungen fließend sein.¹⁴³ Der symbolische Hintergrund dieses Aufbaus ist die Gleichsetzung desjenigen, gegen den sich die níðstǫng richtet, mit dem darauf gesteckten Pferd, in der Regel einer Stute. Die Vorstellung eines umtriebigen Paarungsverhaltens führt im Kontext einer níðstǫng dazu, dass dieses den Stuten zugeschriebene (passive) Verhalten dem so Geschmähten unterstellt wird.¹⁴⁴ Die Szenen, die in den soeben beschriebenen Holzskulpturen bildhaft dargestellt werden, werden durch eine níðstǫng auf eine symbolische Weise imitiert und unter Einbeziehung mythischer Wesenheiten in die Wirklichkeit überführt.¹⁴⁵ Dies geschieht durch das Aufspießen des Leibes, das den sexuellen Akt symbolisiert. Dabei funktioniert diese Gleichsetzung des Geschmähten mit einer Stute auch im Rahmen des pars pro toto-Prinzips, also selbst dann, wenn nur der Kopf des Tieres von der Stange durchbohrt wird.¹⁴⁶ Verständlicher wird diese rituelle Praxis, wenn man sich vor Augen hält, dass die Bezeichnung als Stute die schlimmste denkbare Beleidigung darstellt. Zusammen mit Hunden nehmen Stuten in der semantischen Werteordnung der Tiersymbolik die untersten Plätze ein, wie sie Lena Rohrbach herausgearbeitet hat: Demzufolge steht die Stute (an. merr) in Hinblick auf den zugeschriebenen Status an letzter Stelle der weiblichen Tierbezeichnungen, ähnlich wie die Hündin (bikkja, bzw. grey).¹⁴⁷ Gesicherte körperliche Quellen für níðstengr gibt es hingegen nicht. In einem Bericht innerhalb von Saxo Grammaticusʼ lateinischem Geschichtswerk Gesta Danorum bedient sich ein Mann namens Grep eines Gegenstandes, der als obscenitatis apparatus bezeichnet wird und in Form und Funktion frappierend einer níðstǫng gleicht. Nach einer Auseinandersetzung mit König Erik nimmt Grep den Kopf eines Opferpferdes und bringt ihn an einer Stange an, um diesen damit an der Überschreitung eines Flusses zu hindern: Et iam Ericus obvium illis iter agebat; qui, prospecto eminus capite, obscenitatis apparatum intellegens silere socios cautiusque se gerere iubet nec quemquam temere præcipitare sermonem, ne incauto effamine ullum maleficiis instruerunt locum, adiciens, si sermone opus incideret, verba se pro omnibus habiturum. ¹⁴⁸

 Almqvist 1965, S. 43.  Vgl. Almqvist 1965, S. 100.  Dass magische und mythologische Aspekte, vor allem vor dem Hintergrund der landvættir, Wesen der niederen Mythologie, ursprünglich im Vordergrund standen, zeigt Almqvist in seiner Besprechung von Egills níð, Almqvist 1965, S. 89 – 118.  Vgl. Almqvist 1965, S. 100.  Vgl. Rohrbach 2009, S. 208.  Gesta Danorum V,7, S. 114; »Und schon war Erik auf dem Weg in ihre Richtung. Dieser befahl, nachdem er den Kopf von weitem sah und die obszöne Vorrichtung [obscenitatis apparatus] erkannte, seinen Genossen zu schweigen und sich vorsichtig zu geben und kein unbedachtes Wort fallen zu lassen, damit sie nicht durch eine Unvorsichtigkeit den Hexereien Raum böten. Er fügte hinzu, dass er für alle sprechen werde, wenn es nötig sein würde, zu sprechen.«

2.2 Níð und níðingar

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Vor dem Hintergrund von Saxos Umgang mit dem Lateinischen ist es naheliegend, hinter Greps obscenitatis apparatus eine níðstǫng zu vermuten.¹⁴⁹ Eine ebenfalls lateinische Quelle stammt aus der englischen Grafschaft Northamptonshire, die so genannten Rockingham Pleas aus dem 13. Jahrhundert. Darin enthalten sind Gerichtsvorträge, die sich auf Vergehen der lokalen Einwohner beziehen, wenn diese Waldfrevel an königlichen Forsten verübten. Eines der geschilderten Vorkommnisse ist eine illegale Hirschjagd, nach der ein Hirschkopf abgetrennt, auf einem Stab angebracht und zur Schmähung des Königs gegen die Sonne gerichtet wird.¹⁵⁰ In Details ähnelt die Beschreibung der Errichtung einer níðstǫng. Ob sich anhand dieser Ähnlichkeiten jedoch gesichert sagen lässt, die Rockingham Pleas seien ein historischer Beweis für die Praxis von níð auf den britischen Inseln, erscheint fraglich. Einige Elemente stimmen überein, etwa das Anbringen eines Tierkopfes auf einer Holzstange und die gezielte Hinwendung in eine bestimmte Richtung zur Schmähung, dennoch scheint bei der Gleichsetzung der beiden Phänomene – trotz Almqvists grundsätzlicher Bereitschaft dazu – Vorsicht geboten zu sein.¹⁵¹ Dies umso mehr, als bereits das Befestigen eines Pferdekopfes an einer Stange kein Alleinstellungsmerkmal des nordischen Mittelalters ist, sondern durchaus auch in anderen kulturellen und zeitlichen Kontexten auftreten kann.¹⁵² Auffällig ist in jedem Fall das Detail des Stöckchens, durch das sowohl in Saxos Bericht als auch den Rockingham Pleas der Mund des Tierkopfes aufgespreizt wird und das sich in einem Verbot in den Gulaþingslǫg wiederfinden lässt, den Kopf eines Erschlagenen auf diese Weise zu präsentieren.¹⁵³

 Vgl. Noreen 1922, S. 58, Almqvist 1965, S. 102– 103, Markey 1972, S. 11– 12, Lawing 2014, S. 31.  Rockingham Pleas, S. 38 – 39.  Vgl. Almqvist 1965, S. 105, der diese strukturellen Parallelen vor allem in Vergleich zu Saxos Gesta Danorum und den Schilderungen der Vatnsdœla saga hervorhebt, sowie Lawing 2014, S. 40.  Vgl. Rooth 1991, die darin Parallelen zu einem global weit verbreiteten Jägerritual sieht, in dessen Ablauf dem Kopf eines getöteten Tieres aus verschiedenen, meist apotropäischen und gegen den »Geist« des Tieres gerichteten, Gründen eine besondere Bedeutung zukam, vgl. Rooth 1991, S. 79 – 83.  Vgl. Almqvist 1965, S. 105, Markey 1972, S. 12– 13, Lawing 2014, S. 40. Dazu Gulaþingslǫg, § 241: En ef hofuð er hoggvit af. oc sett a garðstaur æða sparre i munn. oc reist við gatna mót. […] þa aukasc giolld holfo; »Aber wenn der Kopf abgeschlagen wird und auf einen Zaunpfahl gesteckt oder ein Stöckchen in den Mund [gesteckt wird], und er an einer Wegekreuzung aufgerichtet wird […] dann erhöht sich die Buße um die Hälfte.« Allerdings ist das Detail des Stöckchens kein Ausnahmefall, sondern möglicherweise ebenfalls von apotropäischer Bedeutung, vgl. Rooth 1991, S. 82– 83. Anschließend identifiziert sie im selben Aufsatz eine Art níð-Ritus in einer Illustration und deren Begleitgedicht mit schmähendem Inhalt aus Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges; im Hintergrund der von ihr untersuchten Illustration ist ein Pferdekopf auf einer Stange zu sehen, der sich auf die im Gedicht geschmähten feindlichen Soldaten (beziehungsweise deren Symboltiere) richtet: Vgl. Rooth 1991, S. 85 – 88. Selbst wenn die strukturelle Ähnlichkeit auffällig ist, scheinen einige der von ihr genutzten Quellen eher dafür zu sprechen, dass inhaltlich wenig Anschlussfähigkeit an die altnordische níðTradition gegeben sein dürfte. Gleiches dürfte für die weit her geholte Feststellung gelten, dass die »Pferdeköpfe an den Giebeln der niedersächsischen Bauernhäuser […] an die N.-Stange« erinnerten, Boette 1934– 1935, Sp. 996.

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An dieser Stelle soll nun erneut für eine Lösung vom relativ strengen Formalismus bei der definitorischen Einteilung in Holz-níð und verbales níð hin zu einer weitergehenden Definition von Almqvists Begriff des skulpturalen níð plädiert werden, wie dies bereits Meulengracht Sørensen getan hat, ohne sich dabei explizit auf die etablierten Kategorisierungen von níð zu beziehen.¹⁵⁴ Almqvist gesteht zwar freilich zu, dass Mischformen von verbalem und skulpturalem níð denkbar sind, er scheint jedoch ausschließlich Holz als mögliches Trägermaterial von skulpturalem níð zu sehen. Doch auch ein kleines Stäbchen (an. kefli) aus anderen Materialien als Holz ist als Träger von níð denkbar, sofern auf ihm entsprechende Textbausteine eingeritzt sind. Eine literarische Darstellung eines solchen rúnakefli mit eingeritztem ragmæli (das wir gleich noch als Form von verbalem níð identifizieren werden) begegnet uns möglicherweise in der Svarfdœla saga, wo es dem jungen Klaufi zusammen mit der Herausforderung zu einem Duell übersandt wird.¹⁵⁵ Es existiert darüber hinaus ein Beleg für Runenstäbchen als Träger von níð außerhalb eines rein literarischen Kontexts. Bei einer Ausgrabung in Oslo wurde im Jahr 1989 in der Nähe einer Kirche ein Stück Rinderrippe gefunden, auf dem eine Inschrift eingeritzt ist. Erstmals wurde sie im darauffolgenden Jahr von James Knirk präsentiert und transkribiert.¹⁵⁶ Die Inschriften wurden von zwei unterschiedlichen Händen angefertigt und stellen somit eine Art verschriftlichten Dialog dar, möglicherweise zwischen zwei Schülern.¹⁵⁷ In normalisiertem Altnordisch liest sich die Inschrift wie folgt: a1. Hversu fór mál þat er þú reist í Krosskirkju? a2. Vælerþa. b1. Óli er óskeyndr auk stroðinn í rassinn. b2. Þor vel fór þat ¹⁵⁸

Die Bedeutung von a2 und des ersten Wortes in b2 ist unklar, während das Wort óskeyndr in b1 zunächst als ›ubeskyttet (av skjold)‹, also ›schildlos‹, gedeutet wurde, was eine eher vage Anspielung auf passiven Analverkehr wäre.¹⁵⁹ Von Vésteinn Ólason stammt der Hinweis auf das neuisländische Wort óskeindur für jemanden, der sich den Hintern nicht gewischt hat, und dessen Verwandtschaft mit dem Färöischen skoynisoppur bzw. skeinisoppur ›Toilettenpapier‹, was besser zum obszönen Grundton der

 Vgl. Meulengracht Sørensen 2000.  Vgl. das Kap. 4.3.4 bzw. 4.4.5.  Knirk 1990 (1991), S. 18 – 19. Knirk weist darauf hin, dass die Kirche erst später (im Jahr 1248) schriftlich nachgewiesen werden kann, allerdings gemeinhin von einem älteren Vorgängerbau an derselben Stelle ausgegangen wird.  Vgl. Meulengracht Sørensen 2000, S. 78.  Knirk in Meulengracht Sørensen 2000, S. 78.  Knirk 1990 (1991), S. 18.

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Inschrift passt.¹⁶⁰ Unter Berücksichtigung dieser Umstände lautet die Inschrift also ins Deutsche übersetzt: A: Wie ging die Sache [Aussage], die du in der Kreuzkirche ritztest? [unklar, wohl: Das ist gut!] B: Óli hat sich nicht [den Hintern] abgewischt und wurde in den Arsch gefickt. [unklares Wort] Das war gut!¹⁶¹

Im Gegensatz zu den ersten beiden Kategorien, den Skulpturen und den níðstengr wird die obszöne Wirkung dieses Stäbchens durch den verbal darauf fixierten Inhalt transportiert. Seine äußere Gestalt und physische Präsenz spielen demgegenüber augenscheinlich keine Rolle, wobei sie inhärente Voraussetzung für die Anbringung der Inschrift sind, weshalb es hier bei den skulpturalen Formen Erwähnung findet. Eine flüchtige äußere Parallele ergibt sich höchstens zur níðstǫng, die nach den Berichten in den Sagas ebenfalls Träger von schmähenden Inschriften sein kann.

2.2.3.2 Verbales níð Níð kann jedoch auch rein verbal geäußert werden. Dabei kommen häufig níðvísur genannte Schmähstrophen zum Einsatz. Die verbale Ausprägung von níð ist aber trotz der ins Auge fallenden relativen Häufigkeit nicht exklusiv der poetischen Form vor-

 Knirk 1991, S. 14– 15. Meulengracht Sørensen weist darauf hin, dass aufgrund der Alliterationen (Óli und óskeyndr) an einen amateurhaften Versuch der Dichtung zu denken wäre, vgl. Meulengracht Sørensen 2000, S. 78 – 79. Eine solche Deutung würde die Synthese zwischen verbaler und skulpturaler Form des níð zusätzlich stützen.  Die letzte Zeile ist auch als »Das klang gut!« interpretierbar, vgl. Knirk 2017, S. 230. Ganz allgemein besteht bei einer entsprechenden Interpretationsbereitschaft grundsätzlich die Möglichkeit, auch andere Inschriften im Kontext von níð zu lesen. So lässt sich möglicherweise noch die Inschrift auf einem in Dublin gefundenen Rippenknochen als »Gnúpr bückte sich« lesen und übersetzen, was dann eine Anspielung auf die passive Rolle beim homosexuellen Geschlechtsakt bedeutete, vgl. Abfalter 2012, S. 58. Zeitlich wesentlich früher ist die Inschrift auf dem Goldbrakteaten IK 153 Schonen (II)-C aus der Zeit von etwa 500 bis 530 n.Chr. anzusiedeln, zu deren Deutung Wolfgang Beck Folgendes vorschlägt: Die Inschrift auf diesem Brakteaten könne ihm zufolge als fuþiz (›Fotze‹) gelesen werden. Als herabwürdigende Bezeichnung für eine vom Träger fern zu haltende dämonische Macht stehe der Brakteat damit in einem apotropäischen Kontext: Beck 2009, S. 11– 25. Auf den ersten Blick ähnelt diese vorgeschlagene Deutung wegen der Gleichsetzung des Adressaten mit dem weiblichen Genital (als pars pro toto) dem mittelalterlichen isländischen Konzept níð, allerdings lassen der hohe zeitliche und kulturelle Abstand zu den anderen Quellen sowie der apotropäische Kontext keine Zuordnung zur níðTradition zu, weshalb hier lediglich auf die strukturelle Ähnlichkeit in diesem Deutungsversuch verwiesen sei. Beck räumt selbst noch ein, dass die Bezeichnungen für Unwesen in den germanischen Sprachen ohnehin bereits Feminina seien, S. 21. Darüber hinaus ist aufgrund der allgemeinen ikonografischen Gestaltung des Brakteaten und der Fülle an ähnlichen Beispielen ohnehin von einer Fuþark-Abbreviatur auszugehen, vgl. Düwel/Heizmann 2006, S. 12.

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behalten.¹⁶² Schwierig gestaltet sich die Unterscheidung und Abgrenzung verbaler Formen von níð und verwandten Interaktionsformen, die in einem Exkurs am Ende dieses Kapitels aufgeführt werden.¹⁶³ Das Verhältnis von háðung und ýki zu níð ist problematisch. Es wurde angemerkt, dass die augenscheinliche Fixierung auf níð als etwas Skulpturales und ýki als eine unabhängige orale Form, die die Grágás an einer Stelle trifft, zum einen von der Grágás selbst nicht konsequent aufrechterhalten und zum anderen in den Gulaþingslǫg in dieser Weise gar nicht getroffen wird.¹⁶⁴ Eindeutige Beispiele für Strophen mit einem so obszönen Inhalt wie die geschilderten Skulpturen (níðvísur) sind in den Quellen rar. Gesichert als níð bezeichnet wird eine Strophe, die sich gegen den Missionar Friðrekr und dessen Begleiter Þorvaldr richtet und von der mehrere Quellen Auskunft geben: Hefir bǫrn borit byskup níu. þeira er allra Þorvaldr faðir. ¹⁶⁵

In dieser Strophe finden sich sehr deutliche Zuschreibungen von ergi wieder, wie etwa das Aussprechen eines Sachverhaltes, der der beobachteten Lebenswirklichkeit widerspricht, nämlich die Unterstellung, der Bischof habe Kinder bekommen. Durch die Zuordnung der Vaterschaft wird der sexuelle Verkehr der beiden insinuiert, und nicht zuletzt taucht wieder die Zahl Neun auf, die in diesem Kontext oft eine tragende Rolle spielt. Die Absicht hinter den Strophen ist es, die Missionare aus dem Land zu vertreiben und den neuen Glauben fern zu halten.¹⁶⁶ Einen Hinweis auf einen außernordischen Bericht über níð gegen Bischöfe meint Pizaro in der Historia Francorum von Gregor von Tours ausgemacht zu haben.¹⁶⁷ Darin wird der Bischof Parthenius zuerst als mollis ›weich, verweichlicht‹ und effeminatus ›effeminiert‹ bezeichnet, woran sich die öffentliche Frage nach dessen mariti ›Ehemännern‹ anschließt, mit denen er in schändlicher Weise lebt.¹⁶⁸ Selbst wenn die Parallelen in der Wortwahl

 So Almqvist 1965, S. 45: »Det är dock fullt tydligt, att det verbala nidet mycket ofta varit versifierat.«  Vgl. Kap. 2.2.3.2.  Finlay 2001, S. 23. Im Gegensatz zu den norwegischen Gesetzestexten existiert in den isländischen das Wort tunguníð nicht, vgl. Almqvist 1965, S. 42.  Die gesamte Episode findet sich im Þorvalds þáttr víðfǫrla I, S. 79 – 81: »Der Bischof hat neun Kinder geboren, ihrer aller Vater ist Þorvaldr«. Eine Besprechung findet sich bei Almqvist 1974, S. 26 – 54. Die detaillierte Besprechung unter narrativen Aspekten ist Kap. 4.4.6 vorbehalten.  Níð gegen Missionare wird gelegentlich erwähnt, dabei bezieht es sich auf die beiden Missionare Friðrekr und Þangbrandr, denen sich die erste Hälfte von Almqvists zweitem Band, Nid mot missionärer. Senmedeltida nidtraditioner, widmet, Almqvist 1974.  Vgl. Pizaro 1978 – 1979.  Historia Francorum, S. 170.

2.2 Níð und níðingar

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und dem narrativen Kontext zweifelsohne vorhanden sind,¹⁶⁹ bleiben wie im Falle der Rockingham Pleas und anderer bereits besprochener Beispiele Zweifel, ob das Beschriebene tatsächlich identisch mit níð ist, wie es uns in den Rechtstexten und den Sagas begegnet. Das Hauptproblem dürfte dabei sein, dass es ansonsten keine Belege für eine symbolische Ersetzung des Opfers gibt, wie etwa die Sonne in den Pleas, die den König symbolisieren soll. Auch ragmæli, das Baetke mit ›Vorwurf der Feigheit‹ übersetzt,¹⁷⁰ darf zu den verbalen Formen des níð gerechnet werden. Zutreffender übersetzt es Cleasby mit ›the accusing one of being ragr‹,¹⁷¹ was der zuvor zitierten Definition von níð entspricht, wie sie auch Meulengracht Sørensen vertritt.¹⁷² Die Zurechenbarkeit zum níð-Komplex zeigt die Explizierung eines ragmæli, wie es uns in der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar begegnet. Dort wird berichtet, es solle ein ragmæli mit dem Inhalt verbreitet werden, dass der Geschmähte jede neunte Nacht eine Frau sei und in dieser Gestalt mit Männern verkehre.¹⁷³ Inhaltlich entspricht diese Beschreibung des ragmæli der Legaldefinition von ýki aus den Gulaþingslǫg, weshalb anzunehmen ist, dass ragmæli gegen Männer ebenfalls eine stark schematische Form hatte und als eine Form von níð zu verstehen ist, die ýki nahe stand. Es ist in der Konsequenz allerdings stärker in einer nicht-poetischen Formensprache als einer tatsächlichen künstlerischen Tradition verwurzelt.¹⁷⁴ Hinsichtlich seiner sozialen Funktion können wir beobachten, dass es die gleichen Folgen nach sich zieht wie níð, weil das ragmæli ebenfalls die Reaktion des Betroffenen erfordert. Da sich hier bereits am Beispiel der Þorsteins saga SíðuHallssonar ein Bild zeigt, in dem die Kategorien ragmæli, níð und ýki sich inhaltlich vermischt zeigen, dürfte eine allzu dogmatische terminologische Unterscheidung zumindest für die Isländersagas wenig sinnvoll sein. Ragmæli als gesondert benannte Kategorie betrifft darüber hinaus in den Isländersagas nur Männer. Droplaug, der Namensgeberin der Droplaugarsona saga, wird in einem Gespräch zwischen mehreren Männern auf Þórirs Hof in Mýnes ebenfalls analog zu den Formen des ragmæli Promiskuität unterstellt: Um haustit var hann á gistingu hjá Þóri í Mýnesi, ok sat han við eld hjá húskǫrlum Þóris. Þeir tóku tal mikit um þat, hverjar konur væri fremstar þar í heraði. Þat kom saman með þeim, at Droplaug á

 Die Besprechung findet sich bei Pizaro 1978 – 1979 auf S. 150 – 152. Demnach sind die wichtigsten Aspekte die Wortwahl, die öffentliche Äußerung und die beschriebene Notwendigkeit zur Rache.  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. ragmæli.  Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. ragmæli.  Ein solches ragmæli erscheint in der Eyrbyggja saga, in der Þórarinn von seiner Mutter dahingehend angegangen wird, dass er mehr von einer Frau als von einem Mann habe, Eyrbyggja saga, S. 36. Dass Aussagen dieser Art vom Erzähler der Saga implizit als allgemeines Gerede gemeint sind, erschließt sich noch im selben Kapitel, als einer von Þórarinns Gegnern spöttisch anmerkt, dieser habe sich durch seine Verteidigung vom ragmæli befreit, Eyrbyggja saga, S. 36.  Vertieft wird diese Stelle in Kap. 4.2.2.3 besprochen.  Für Almqvist 1965 ist eine mehr oder minder kunstvolle Ausgestaltung in den allermeisten Fällen ein zentraler Wesenskern des »ordnidet i klassisk tid«, S. 48.

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Arneiðarstǫðum væri fyrir flestum konum. Þá segir Þorgrímr: ›Svá mundi þá, ef hon hefði bónda sinn einhlítan gǫrt.‹ Þeir segja: ›Aldri hǫfum vér tvímæli heyrt á því.‹ Ok í þessu kemr at þeim Þórir bóndi ok bað þá þegja þegar í stað. ¹⁷⁵

Gleichlautendes wird über sie in der Fljótsdœla saga verbreitet, wo sich in lockerer Atmosphäre am Feuer die anwesende Männerrunde darüber auslässt, sie habe während der Ehe mit ihrem Mann zusätzlich mit ihrem Sklaven Svartr geschlafen und so ihren Sohn Helgi gezeugt.¹⁷⁶ Wie es bei Männern der Fall ist, wenn ihnen sexuell deviantes Verhalten unterstellt wird, ist die Zuschreibung von Promiskuität an Frauen sozial ebenfalls höchst problematisch, was hier aus Þórirs geschilderter Reaktion auf das Gespräch hervorgeht, der sich ein sofortiges Schweigen erbittet. Diese Zuschreibung wird aber in keiner der beiden Erzählungen etwa als *rǫgmæli bezeichnet, sondern als despektierliches und schlechtes Gerede qualifiziert (tvímæli, bzw kurz darauf illmæli ¹⁷⁷). Droplaug selbst spricht, nachdem sie davon erfährt, von einer Art Kränkung, die aber nicht gerächt werden solle.¹⁷⁸ Damit scheint diesem Gerede über Droplaug zwar eine ähnliche soziale Qualität zuzukommen wie ragmæli gegenüber Männern, es unterliegt aber keiner festen kategorialen Benennung, sondern steht dem ragmæli lediglich semantisch nahe. Wie ragmæli scheint es jedoch nach den Regeln der Gesellschaft potenziell Auslöser von physischen Racheakten sein zu können. Ragmæli gegen Männer entspricht jedoch sowohl formell als auch funktionell dem Phänomen níð und kann damit als ein fester Bestandteil davon gesehen werden.

2.2.4 Übersicht und Auswertung: Das ›níð-Stemma‹ Níð kommt darüber hinaus eine Wirkmacht zu, die sich auch aus dem Metaphysischen speist, denn »níð was related to the sacred by the reasoning that what was a violation of the social order would also provoke the divine powers, the Christian as well as the pagan.«¹⁷⁹ Níð ist somit viel mehr als eine reine Unterstellung; es ist eine symbolische Handlung oder Äußerung, die auf das Ziel gerichtet ist, den von ihr Betroffenen zum so

 Droplaugarsona saga, S. 144– 145; »Im Herbst war er zu Gast bei Þórir in Mýnes und saß bei dessen Knechten am Feuer. Sie sprachen viel darüber, welche Frauen die hervorragendsten dort in der Gegend seien. Sie wurden sich darüber einig, dass Droplaug auf Arneiðarstaðir den meisten Frauen überlegen sei. Da sagte Þorgrímr: ›Das wäre so, wenn sie sich mit ihrem Mann begnügt hätte.‹ Und da kam der Bauer Þórir dazu und bat sie da sofort zu schweigen.«  Fljótsdœla saga, S. 241– 242.  Droplaugarsona saga, S. 145; illmæli stellt an sich allerdings ebenfalls eine justiziable Verbalinjurie dar, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 183.  Droplaugarsona saga, S. 145.  Meulengracht Sørensen 2000, S. 86.

2.2 Níð und níðingar

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genannten níðingr zu machen.¹⁸⁰ Als Ausgangspunkt dient dafür das Konzept der ergi mit seinem breiten semantischen Spektrum. Indem einem Mann auf eine bestimmte Weise ergi vorgeworfen wird, kann sich diese, sofern er den Vorwürfen nicht angemessen entgegentritt, an ihm manifestieren und ihn so zum níðingr machen. Níð hat somit eine starke exkludierende Wirkung demjenigen gegenüber, der von ihm betroffen ist. Es kann dazu verwendet werden, jemanden jenseits der Grenzen des sozial Akzeptablen zu platzieren und dort zu fixieren. Wer sich aus dieser Fixierung weder durch ein Verfahren noch durch einen körperlichen Kräftebeweis lösen kann, wird als níðingr bezeichnet.¹⁸¹ Dabei hatte der níðingr einen ähnlichen sozialen Stand außerhalb der Gesellschaft wie ein Geächteter, der auch als vargr ›Wolf‹ bezeichnet werden konnte.¹⁸² Soziale Exklusion, wie wir sie in Bezug auf níðingar erwarten können, erzeugt auch in die Gegenrichtung Druck. Eine exkludierende Mehrheitsgesellschaft unterliegt durch die Exklusion nach außen fortwährend einer »inneren Kolonialisierung«.¹⁸³ Indem sie sich selbst ihrer Werten im Kontrast zum níðingr versichert, vollzieht sie dessen Abgrenzung von sich und verschafft sich so gleichzeitig Rückversicherung über ihre eigene Identität. Dieser soziale Abgrenzungsdruck wird in Runeninschriften konkret greifbar, in denen wir das außerhalb eines runischen Kontextes nicht belegte Wort óníðingr (etwa: ›nicht-níðingr‹) finden. In wikingerzeitlichen Inschriften aus Südschweden und Norddänemark taucht es in Funktion eines Nekrologs in der festen Wendung [hann var] manna mestr óníðingr (»[Er war] unter Männern/Menschen der größte nicht-níðingr«) auf.¹⁸⁴  Meulengracht Sørensen 2000, S. 83. Bemerkenswert ist in diesem metaphysischen Kontext, dass das von ihm erwähnte Runenstäbchen in der Nähe einer Kirche gefunden wurde und sich explizit auf diese Kirche bezieht.  Die direkte Übersetzung des Wortes níðingr in heutiges Vokabular scheint schier unmöglich. Eine Annäherung an eine Übersetzung liefert etwa Evans, der als vorsichtige Vorschläge die englischen Begriffe »queer« [Anm.: in diesem Kontext als Übersetzung im pejorativen Sinne dieses Wortes gemeint] und »fag« anbietet, gleichzeitig aber deren Tauglichkeit als adäquate Übersetzungen erheblichen Zweifeln begegnen lässt, Evans 2019, S. 24, Fn. 72. Analog zu diesen Übersetzungsversuchen ließe sich das deutsche Wort »Schwuchtel« anführen, das allerdings so stark durch moderne pejorative Homosexualitätsvorstellungen geprägt ist, dass es bei Weitem nicht dem großen semantischen Spektrum von níðingr gerecht werden kann. Aus diesem Grunde wird das Wort im Folgenden als terminus technicus unübersetzt stehen bleiben.  Vgl. dazu Thorvaldsen 2011.  Koschorke 2012, S. 98.  Vgl. Naumann 1994, insbesondere S. 499 – 501. Naumann gibt zu bedenken, dass óníðingr nicht ohne Weiteres als Negation des sonst geläufigen Wortes níðingr gesehen werden könne: »Wenn mit der Litotes óníðingr […] der abschwächende Wortgehalt gegen einen stärkeren steht, kann dieser kaum aus einem so diffusen Bedeutungsspektrum [Anm.: So, wie es Meulengracht Sørensen in seinem Zitat auf derselben Seite umrissen hat] stammen, sondern setzt einen spezialisierteren Gegenbegriff voraus«, S. 501. Grundsätzlich ähnlich war die bereits betrachtete Problematik im Verhältnis der Begriffe »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« sowie deren Gegenteile in Kap. 1.1. Angesichts von Naumanns Hinweis, die Inschrift auf dem Stein von Rörbro zeichne sich durch »sinngebende Zusätze ethischer Art« (S. 500) im Umfeld des Wortes óníðingr aus, halte ich es im Ganzen dennoch nicht für verfehlt, in diesem Wort eine generelle moralische Bestätigung für den Toten zu erkennen, auf den die jeweilige

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2 Unmännliche Männer und gestörte Ordnungen

Abbildung 1: Die unterschiedlichen formalen Ausprägungen von níð (eigene Darstellung)

Die hier gezeigte Auflistung dient der rein formellen Unterscheidung unterschiedlicher Ausprägungen von níð, wie wir sie soeben anhand der rechtlichen und historischen Quellen beleuchtet haben. Im Vordergrund stehen jedoch Beobachtungen aus den Isländersagas, so dass níð, wie es in diesen Texten vorkommt, anhand dieser Übersicht formell verortet werden kann. Eine tatsächliche Gewichtung der Schwere des níð kann aus der hierarchisch wirkenden Gliederung jedoch nicht herausgelesen werden. Der relative Grad der sozialen Missbilligung unterschiedlicher Formen in Bezug auf andere dürfte wegen der gleichartigen Rechtsfolgen nicht stark variiert haben. In der Übersicht gestaltet sich unser daraus abgeleitetes Bild der unterschiedlichen Formen von níð, das zuvor erwähnte implizite »níð-Stemma« der Isländersagas.

Memorialinschrift verfasst ist. Jedenfalls kommt nicht zuletzt aufgrund der Form als Nachruf der unbedingte Wille, den Toten explizit vom níðingr abzugrenzen und in einem positiven Licht darzustellen, deutlich zum Ausdruck. Insofern kann óníðingr tatsächlich zumindest anteilig als Negation des in diesem Kapitel beschriebenen umfassenden Konzeptes des níðingr gesehen werden. Darüber hinaus kann der Kritik an dem »diffusen Bedeutungsspektrum« gerade entgegengehalten werden, dass im Wort níðingr ausschließlich negativ besetzte Eigenschaften vereint sind, zu deren Abkehr der positive Kontext der diskutierten Inschriften passt. Das Spektrum ist dann nicht diffus, sondern eindeutig negativ.

3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas Nach diesem mehrere Jahrhunderte umspannenden Streifzug durch die semantischen und historischen Hintergründe der altnordischen Begriffe ergi und níð wenden wir uns nunmehr den Isländersagas zu, um zu untersuchen, wie das alte Substrat dieser Begriffe in den Texten des isländischen Mittelalters aufgegriffen und narrativ nutzbar gemacht wird. Für ein besseres Verständnis der narrativen Funktion, die die Störung der sozialen Ordnung einnimmt, soll der Fokus zuerst auf der Illustration dieser konkreten sozialen Ordnung liegen, wie sie uns in den Texten vorgestellt wird. Im Folgenden werden einige wesentliche Aspekte der diegetischen Sagagesellschaft vor allem unter Einbeziehung von Preben Meulengracht Sørensens Untersuchung Fortælling og ære. Studier i islændingesagaerne dargestellt.¹ Sein Ansatz zeichnet sich vor allem durch die sehr gewinnbringende Verbindung von historischen und literarischen Quellen aus. Im Ergebnis vermittelt er so einen lebendigen Eindruck von der diegetischen Gesellschaft der Isländersagas, der die realhistorischen Umstände der Zeiten ihrer Erzählung und ihrer Niederschrift angemessen berücksichtigt.

3.1 Isländische Gesellschaft und norwegische Herrschaft in der Wahrnehmung der Sagas Die Besiedlung Islands von Norwegen aus ist ein fest verwurzeltes Narrativ im kollektiven Gedächtnis der Isländer. Ísland byggðisk af Nóregi ² heißt es im Landnahmebuch, der Landnámabók, und in der Íslendingabók des Gelehrten Ari inn fróði findet sich eine ähnliche Formulierung zu Beginn.³ Trotz der rechtlichen Eigenständigkeit Islands und der in der Forschungsliteratur wie ein Mantra immer wieder beschworenen Unabhängigkeit von der norwegischen Königsherrschaft hatten die norwegischen Könige mehr Einfluss auf Island, als es bisweilen das isländische Selbstbild zugestehen möchte.⁴ Auf die enge Verstrickung zwischen norwegischer und isländischer Gesellschaftspolitik und die daraus resultierende Thematisierung dieser Wechselwirkung ist in Abkehr von nationalistisch geprägten gegenteiligen Lesungen bereits mehrfach hingewiesen worden.⁵ Der große Einfluss der norwegischen Herr-

 Meulengracht Sørensen 1993.  Landnámabók, S. 31; »Island wurde von Norwegen aus besiedelt«.  Íslendingabók, S. 4.  Eine kritische Auseinandersetzung mit der Auswirkung dieses Narrativs in der Forschung nebst der Erläuterung eines ethnografischen Ansatzes für die Sagaforschung findet sich bei Böldl 2005, S. 28 – 37.  Vgl. etwa Boulhosa 2005, die unter anderem hervorhebt, dass »Icelanders were ready to negotiate their rights and freedom with the king according to their best interests«, S. 85 – 86, sowie Andersson 2006, S. 95 – 96. https://doi.org/10.1515/9783110754230-005

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

scher auf die Gesellschaft in Island zeigt sich beispielsweise in der Egils saga, in der das Schicksal einiger Figuren mit der Gunst der Norwegerkönige steht und fällt.⁶ Bezeichnenderweise ist dieser Saga ein Prolog in Norwegen vorgeschaltet, der länger und ausführlicher ist als jeder andere der Gattung.⁷ Auch die Besiedlung Islands wird in diesem Prolog thematisiert, demzufolge sie ein Produkt norwegischer Gewaltherrschaft und der Vertreibung lokaler Bauern ist. Zwar ist Island formal gesehen eine Gesellschaft freier Bauern ohne die Unterdrückung durch eine royale Macht, doch tatsächlich rückt das Bewusstsein um die Existenz der norwegischen Königsmacht nie so weit an die Peripherie, dass die isländische Identität ohne sie per se denkbar wäre.⁸ Andere Herrscher treten in Wechselwirkung mit den Isländern, über die in den Isländersagas berichtet wird: So beginnt die Laxdœla saga mit der Erzählung von der Landnehmerin Unnr djúpúðga, der Mutter des schottischen Königs, und gleichzeitig Ahnherrin einer Siedlungsregion in Island. Eine vermeintlich gehörlose und stumme Sklavin stellt sich im Laufe der Saga als Tochter des irischen Königs heraus, wodurch das Thema ausländischer Königsherrschaft präsent gehalten wird.⁹ Selbst zum Schluss der Saga bleibt es aktuell und zieht sich als roter Faden durch den Text, wenn Bolli am Kaiserhof in Byzanz dient. Das mittelalterliche freistaatliche Island war bis zum Anschluss an Norwegen ein Gemeinschaftswesen ohne institutionalisierte staatliche Exekutive. Die Isländersagas berichten von einer Bauerngesellschaft, die sich unter diesen (nicht‐)staatlichen Umständen auf einer unwirtlichen Insel im Nordatlantik organisiert und austariert. In den Wirren der Sturlungenzeit verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung weniger einflussreicher Goden und ihrer Geschlechter – das Gemeinwesen versank aufgrund dieser Unwucht von staatlicher Macht, die sich auf wenige Leute konzentrierte, in Chaos. Der Ausweg war der Anschluss an Norwegen. In diesen Zeitraum fiel die Auseinandersetzung der Isländer mit ihrer eigenen Identität, die dazu führte, »at islændingene først beskriver deres forfatning og samfundsorden, historisk i Íslendingabók og systematisk i lovene, og senere tematiserer den som ideologi i islendingesagaerne«.¹⁰ Diesen ideologischen identitätsstiftenden Hintergrund ihrer Entstehung gilt es bei der Betrachtung der Quellen im Blick zu behalten.

 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 127– 147. Ersichtlich wird dies für Meulengracht Sørensen an der kontrastiven Gegenüberstellung der Schicksale und Handlungsweisen von Þórólfr und Skalla-Grímr mit denen von Eyvindr lambi und Ǫlvir hnúfa, die abhängig sind von der Stellung gegenüber dem König: »I det nye hierarki får Eyvindr og Ǫlvir økonomisk og social fremgang, rang og status; men prisen er deres selbestemmelseret. Þórólfr og Skalla-Grímr mister ejendom og privilegier, Þórólfr endda sit liv; men de beholder friheden til at bestemme over sig selv og dermed en ære, som kongen ikke kann give«, S. 143.  Vgl. zu dieser Beobachtung Andersson 2006, S. 103.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 144.  Vgl. Andersson 2006, S. 134.  Meulengracht Sørensen 1993, S. 151.

3.2 Die Gesellschaftsordnung im Kleinen: Mikrokosmos hjón

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3.2 Die Gesellschaftsordnung im Kleinen: Mikrokosmos hjón Dem entworfenen Ideal einer bäuerlichen Gesellschaft frei von Königsherrschaft stand die raue Realität eines bäuerlichen Lebens auf Island gegenüber. Wind und Wetter, gerade im Winter, machten das Überleben für alle Einwohner des Landes zu einer Herausforderung. Nicht wenige Sagas berichten von den Problemen, die ein durch schlechte Ernten bedingter Nahrungsmangel in strengen Wintern nach sich ziehen konnte. Vom Großbauern Blund-Ketill wird in der Hœnsa-Þóris saga berichtet, wie er nach einer miserablen Ernte in einer Notsituation Futterheu vom eponymen Protagonisten der Saga beschlagnahmt.¹¹ Ein Streit kommt in Gange, der für Blund-Ketill schließlich im Flammentod eines Mordbrandes endet. Gerade in dieser Episode wird deutlich, wie sehr der Fortbestand der Gesellschaft von einer funktionierenden Hofwirtschaft abhängen musste. Einen Schutz vor den Unwägbarkeiten, die nicht nur die Natur, sondern auch die anderen Menschen darstellten, bot daher das Konzept einer bäuerlichen Hofgemeinschaft. Dort lebte das Bauernpaar mit den Kindern und sämtlichen zum Hof gehörenden Mägden und Knechten. Die eigentliche Eheschließung und der Hofbetrieb sind unverbrüchlicher Teil des Männerbildes, wie es in den Sagas inszeniert wird.¹² Dabei dienen Eheschließungen ebenfalls der Generierung von sozialem Status für die beiden Ehepartner. Innerhalb der Familien kann dies Diskussionen darüber auslösen, ob der Zugewinn an Status durch die Eheschließung angemessen ist oder nicht.¹³ Beinahe immer stehen in den Isländersagas solche Hofgemeinschaften und ihre Interaktion untereinander im Zentrum des Geschehens. Die Grundbedingung für einen reibungslosen Ablauf sowohl auf dem Hof der Familie als auch in der Gesellschaft allgemein war ein gut aufeinander abgestimmtes Zusammenarbeiten zwischen Frauen und Männern. Beide hatten unterschiedliche semantisch aufgeladene Zuständigkeitsbereiche. Für diese durch die Eheschließung entstehende Arbeitsgemeinschaft gibt es den Begriff hjón, der im heutigen Isländisch ganz allgemein ›Ehepaar‹ bedeutet, früher aber eine viel weiter gefasste Bedeutung hatte und den gesamten Haushalt inklusive Sklaven bezeichnete.¹⁴ Innerhalb dieses Haushaltes gab es verschiedene Aufgaben für die Sklaven und deren Besitzer, die bedeutendere Trennungslinie aber verlief zwischen Frauen und Männern. Frauen oblag die Fürsorge für alles, was innerhalb des Hauses (innan stokks, ›innerhalb der

 Hœnsa-Þóris saga, S. 16.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 216.  Exemplarisch sei hier bloß auf die Aussage des Bauern Gunnarr in der Hœnsa-Þóris saga verwiesen, der vor der Zustimmung zur Eheschließung zwischen seiner Tochter und Hersteinn Blund-Ketilsson zunächst noch die Meinung seiner Frau und seiner Tochter einholen möchte, um abzuschätzen, ob Hersteinn eine gute Partie ist. Im Gespräch wird seitens des Verhandlungsführers Þorkell trefill mit Nachdruck auf das beiderseitige Streben nach der Mehrung der Familienehre durch diese Ehe verwiesen, Hœnsa-Þóris saga, S. 30.  Vgl. Jochens 1995, S. 116.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

Türschwelle‹) liegt, wohingegen Männer für Dinge außerhalb zuständig waren (útan stokks, ›außerhalb der Türschwelle‹).¹⁵ Diese beiden Begriffe sollten allerdings nicht zu der Annahme verleiten, das Betätigungsfeld von Frauen hätte ausschließlich im Inneren des Hauses gelegen, und das von Männern außerhalb. Diese beschriebene Unterscheidung und die Türschwelle als scharfe Grenze zwischen den Geschlechtersphären ist nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinne gemeint. Es war Aufgabe der Männer, Tätigkeiten nachzugehen, die physische Belastung und Bewegung außerhalb des Hauses beinhalteten, so zum Beispiel Fischfang und Jagd.¹⁶ Allerdings gab es Tätigkeiten wie das Melken der Tiere, die den Frauen zufielen und die ebenfalls das Verlassen des Hauses erforderten.¹⁷ Generell oblag Frauen die Aufgabe, die von Männern herbei geschafften Tiere weiter zu zerlegen und zuzubereiten, sowie verschiedenen Tätigkeiten nachzugehen, die mit der Zubereitung von Speisen zu tun hatten.¹⁸ Ein wichtiges Tätigkeitsfeld für Frauen war darüber hinaus die Verarbeitung von Wolle. Archäologische Funde zeigen, dass Werkzeuge zur Textilverarbeitung (wie Webstühle und Spindeln) häufig in Frauengräbern anzutreffen sind, wenn auch nicht ausschließlich.¹⁹ Da das Hüten der Schafe Aufgabe der Männer war, wird hier die Verzahnung der beiden Tätigkeitsbereiche, ebenso wie bei der Beschaffung von Jagdbeute und der weiter gehenden Bearbeitung, sichtbar: Frauen und Männer waren bei der Arbeit in und um den Hof stets voneinander abhängig. Diese Abhängigkeit führte unter anderem dazu, dass Witwen mit zu jungen Söhnen einen männlichen Verwalter beauftragen und Männer ohne Frau am Hof weibliche Unterstützung suchen mussten.²⁰ Im Kontext der semantischen Trennung der Zuständigkeitsbereiche innerhalb und außerhalb der Türschwelle lässt sich neben einer Gender- auch eine Statusgrenze erkennen: »Dörrtröskeln kom med andra ord att bilda ett skrank mellan män och kvinnor som möjliggjorde rangordning och asymmetriska styrke förhållanden.«²¹ Besonders intensiv wirkte sich dieses Statusgefälle auf die Frauen der Hofgemeinschaft aus, denn »[t]he lower a woman’s position, the harder her work«²² – das be-

 Vgl. Jochens 1995, S. 117, Reichert 2001, S. 223. Die damit verbundene geschlechterbezogene Semantisierung der Bereiche ›drinnen‹ und ›draußen‹ entspricht derjenigen, die Bourdieu identifiziert hat, vgl. Bourdieu 2005, S. 24.  Vgl. Jochens 1995, S. 120.  Vgl. Jochens 1995, S. 120, sowie Kraus 2013, S. 59 – 60.  Vgl. Jochens 1995, S. 120.  Vgl. Jesch 1991, S. 19.  Vgl. Jochens 1995, S. 116. Die Möglichkeit zur rechtlichen Vertretung ergab sich für Frauen nur, wenn sie selbst betroffen waren. Rechtlich gab es keine Handhabe, um etwa den Mord an Brüdern zu rächen, wenn sonst niemand für den rechtlichen Beistand zur Verfügung stand, vgl. Jochens 1993, S. 65 – 66.  Bagerius 2001, S. 39.  Jochens 1995, S. 121.

3.3 Zur Bedeutung von helgi und Männlichkeit

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deutet, dass einer Frau durchaus ansonsten männlich besetzte Tätigkeiten zufallen konnten, wenn ihr sozialer Status nur niedrig genug war.²³ Mitglieder der hjón werden als griðmaðr bzw. griðkona und in der Gesamtheit griðmenn bezeichnet, wobei die terminologische Zuordnung von festen Mitgliedern und Mägden und Knechten nicht vollständig klar ist.²⁴ Grið meint dabei nicht nur die Wohn- und Arbeitsstätte, sondern im Plural auch ›Frieden, Waffenstillstand; Sicherheit, Schutz‹.²⁵ Wer sich an der Ordnung verging, die von der Gesellschaft der griðmenn bzw. hjón oder zwischen unterschiedlichen hjón untereinander versprochen wurde, konnte mit dem Kompositum griðníðingr ›Friedens-, Vertragsbrecher, Verräter‹ bezeichnet werden. Bereits der Wortbestandteil níðingr deutet darauf hin, dass es sich bei einer solchen Person um einen absolut verachteten Zeitgenossen handelt: »The griðníðingr was the betrayer of a truce, one of the lowest of the low.«²⁶ Abmachungen und Schlichtungen auf dem Thing, die mehrere Hausstände und Familien betrafen, wurden für so bindend erachtet, dass sie sogar die gesellschaftlich anerkannte Notwendigkeit zur Vaterrache verdrängen konnten.²⁷ Ein Beispiel hierfür ist der SnegluHalla þáttr, in dem der Isländer Halli vom norwegischen König mit der ausgebliebenen Vaterrache konfrontiert wird und in seiner Antwort auf den diesbezüglich geschlossenen Vergleich verweist.²⁸ Die Gründe für die große Verachtung, die solchen Menschen entgegen schlug, sind in der Verletzlichkeit der hjón und letztlich der »Ehre« und damit Männlichkeit ihrer männlichen Mitglieder zu suchen.

3.3 Zur Bedeutung von helgi und Männlichkeit Der Mikrokosmos hjón ist als Kern der Sagagesellschaft und zentrales soziales Kollektiv gleichzeitig einer ihrer schwächsten Punkte. Immerhin gab es für die Mitglieder der hjón einen sozialen Status und einen festen Platz im Gesellschaftsgefüge eines Landes zu verlieren, das in den Sagas gerne als frei von staatlicher und königlicher Herrschaft inszeniert wird. In der mittelalterlichen Vorstellungs- und Erzählwelt ist der Verlust einer Anbindung an das soziale Kollektiv, und überhaupt eine »Individualisierung« im heutigen Sinne, sehr negativ besetzt.²⁹ Auch für Island ist diese Annahme wahr, wenngleich die Figuren der Sagas individueller wirken als es Schulz vor allem mit Blick für das französische und deutsche Mittelalter herausarbeitet. In der Furcht des Einzelnen vor dem Verlust einer Zugehörigkeit zum Kollektiv ist für das isländi-

      

Vgl. Jochens 1995, S. 121. Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 159. Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. grið, und Meulengracht Sørensen 1993, S. 159. Miller 1990, S. 280. Vgl. Miller 1990, S. 280. Sneglu-Halla þáttr, S. 278, vgl. Miller 1990, S. 280. Vgl. Schulz 2015, S. 91– 92.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

sche Mittelalter die Schnittstelle zu zwei weiteren miteinander verbundenen Konzepten zu suchen. Mit dem Begriff der hjón geht die Vorstellung eines besonders sensiblen und sicheren Bereichs einher, der sich mit dem altnordischen Rechtswort helgi ›Heiligkeit; Unverletzlichkeit‹³⁰ treffend beschreiben lässt. Verwandt ist das Rechtswort heilagr, das »den Anspruch auf Unverletzlichkeit und Unantastbarkeit bezeichnet.«³¹ Eine Grenzüberschreitung, die eine Person in ihrer helgi, also dem Schutzbereich der persönlichen Integrität, verletzt, führt zur Verletzung in einem zweiten Bereich, den wir in modernen Worten häufig mit »Ehre«³² bezeichnen: »Krænkes et menneskes helgi, krænkes også personens ære.«³³ Dieses zweite Konzept Ehre ist eng mit helgi verknüpft und drückt sich in einer Vielzahl altnordischer Begriffe aus.³⁴ Es ist dabei inhaltlich nicht ohne Weiteres greifbar und stark vom jeweiligen soziokulturellen Kontext abhängig. So ist die Bedeutung von Ehre als grundlegendes kulturelles Konzept im heutigen West- und Mitteleuropa von viel geringerer Bedeutung als noch im mittelalterlichen norrönen Kulturraum.³⁵ In Kulturen, für die Ehre einen wichtigen und zentralen Wert darstellt, ist dieses Konzept an Bilder von Männlichkeit geknüpft. Es geht um die Fähigkeit, innerhalb des sozialen Kontextes »das Gesicht wahren« zu können, um nicht unmännlich und schwach und in der Konsequenz unehrenhaft zu wirken.³⁶ Im Fall der Isländersagas bedeutet dies, die helgi aufrecht zu erhalten und nach außen zu verteidigen. Denn Störungen auf dieser Ebene bedeuten eine Destabilisierung des sozialen Gleichgewichts zwischen den Höfen und bisweilen innerhalb der Mitglieder eines Hofes. Das Eindringen in die helgi einer anderen Figur oder Hofgemeinschaft kann auf viele Weisen und unterschiedlichen Motiven geschehen. Eine unbeabsichtigte Handlung hat genauso wie ein aktiver Versuch einer Neuverhandlung des Machtverhältnisses ein grundsätzliches disruptives Potential, in Millers Worten: »Honor was at stake in virtually every social interaction.«³⁷ Diese Tatsache wirkt sich stark auf das  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. helgi.  Strauch 2001, S. 228.  Im Folgenden wird dt. »Ehre« synonym zu engl. »hono(u)r« und dän. »ære« verwendet.  Meulengracht Sørensen 1993, S. 191. Abgegrenzt davon sind Delikte, die sich lediglich gegen Sachen in dem »befriedeten Rechtskreis« eines Mannes richten, Strauch 2001, S. 231.  Als die geläufigsten Begriffe aus diesem semantischen Feld listet Meulengracht Sørensen folgende Wörter auf, die in den Sagas genannt werden: sómi, sœmð, virðing, metorð und metnaðr. Meulengracht Sørensen 1993, S. 188. Bereits früher ist versucht worden, diese Begriffe in eine semantische Gruppe zu integrieren, die sich direkt auf die gesellschaftliche Reputation bezieht, und der etwa entweder das Wort drengskapr gegenüber steht, das persönliche Merkmale meint, die mit dieser gesellschaftlichen Reputation zusammen hängen können, was zu einem primären und einem sekundären Konzept von »Ehre« führte, vgl. Fichtner 1978, S. 109 – 110. Ein enger Zusammenhang besteht zur Dichtkunst, die das Potenzial hat, Ehre entweder zu generieren oder – wie im Falle von níð – zu entziehen, vgl. Bauman 1986, insbesondere S. 146.  Vgl. Bjørvand Bjørkøy/Norheim 2017, S. 14– 16.  Vgl. Bjørvand Bjørkøy/Norheim 2017, S. 23.  Miller 1990, S. 29.

3.3 Zur Bedeutung von helgi und Männlichkeit

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Männerbild der Sagas aus, das im Ernstfall von der Pflicht zur Wahrung des Gesichts geleitet wird. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass, wenn hier die Rede von ›Männlichkeit‹ ist, dies ausblendet, dass sich Männlichkeit im mittelalterlichen Island auf verschiedene Weisen ausdrücken kann und es mithin nicht die Männlichkeit als unverrückbares kulturelles Konzept gibt. Eine Verflachung dieser Konstellation ist an dieser Stelle allerdings statthaft, da die Wechselwirkung zwischen der gesellschaftlichen Organisation und den grundsätzlichen Erwartungshaltungen gezeigt werden soll, die damit verbunden sind. In allgemeiner Betrachtung für das (europäische) Mittelalter sieht die Historikerin Ruth Mazo Karras in Anlehnung an Pierre Bourdieu »[v]iolence as a central feature of masculinity«.³⁸ Natürlich gilt dies auch für Island und die Sagagesellschaft: Die männliche Einstandspflicht für die hjón und die Sippe führt als Bedingung die Fähigkeit und Bereitschaft zur körperlichen Auseinandersetzung mit sich. In der Folge interagiert diese Erwartungshaltung direkt mit den in den Texten zur Schau gestellten Bildern von idealer Männlichkeit, die sich in deren Hauptfiguren niederschlagen. Beinahe sämtliche Helden der Isländersagas teilen einen gemeinsamen Satz an Merkmalen. Oft sind sie ihren Altersgenossen an Stärke und Körperwuchs voraus, wie Egill, von dem es heißt, dass er mit drei Jahren bereits anderen Jungen im Alter von sechs oder sieben physisch gewachsen war.³⁹ Viele der Helden sind auch als Erwachsene anderen physisch weit überlegen und fähig, sich in gewalttätigen Auseinandersetzungen zu behaupten. Eine ›Kernkompetenz‹ dieser Männlichkeitsvorstellungen ist drengskapr, was mit ›anständiges Verhalten‹ und ›Mannhaftigkeit‹ übersetzbar ist.⁴⁰ Das zugehörige Wort, von dem es abgeleitet ist, drengr, »is conventionally held up as the very soul of masculine excellence in Norse culture«.⁴¹ Übersetzbar wäre es mit Wendungen wie »ganzer Kerl«, selbst wenn gelegentlich Frauen ebenfalls als drengr charakterisiert werden können.⁴² In ihrem viel beachteten und soeben zitierten Aufsatz hat Carol Clover die Theorie geäußert, dass unter anderem aufgrund dieser Tatsache in den Sagas die Geschlechteridentität (engl. gender) nicht anhand des angenommenen biologischen Geschlechts (engl. sex) konstruiert werde, sondern anhand der binären Opposition hvatr (›tapfer‹) vs. blauðr (›weich‹).⁴³ Dies führe zu einem one-sex-system, in dem es für die soziale Wahrnehmung einer Figur nicht auf deren (biologisches) Geschlecht ankomme, sondern alleine auf die Frage, wie sehr sie auf der impliziten Skala an das gesellschaftliche Ideal hvatr heran reichte. Problematisch an diesem Ansatz ist, wie öfter angemerkt wurde, dass er

 Karras 2003, S. 21, Bourdieu 2005, insbesondere S. 90 – 96.  Egils saga, S. 80: En þá er hann var þrévetr, þá var hann mikill ok sterkr, svá sem þeir sveinar aðrir, er váru sex vetra eða sjau; »Und als er drei Winter alt war, da war er so groß und stark wie die anderen Jungs, die sechs oder sieben Winter alt waren.«  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. drengskapr.  Clover 1993, S. 372.  Vgl. Clover 1993, S. 372.  Vgl. Clover 1993, insbesondere S. 363 – 365.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

letztlich nicht durchgehend mit den von Clover zitierten Quellen in Einklang zu bringen ist und letzten Endes selbst auf die Etablierung eins neuen binären Systems hinausläuft: »Clover also reconstructs a new binary dichotomy of the powerful vs. the powerless. Then we are back to the problem of viewing gendered agents as on either end of monolithic axis.«⁴⁴ Unabhängig von der Frage nach der konkreten Möglichkeit der Applikation des drengskapr-Konzeptes auf weibliche Figuren ist drengskapr als männliche Eigenschaft vor allem dann von Nutzen, wenn es darum geht, die eigene helgi in Auseinandersetzung mit anderen zu mehren. Wie viel Ehre jemand ›besitzt‹, hängt stark davon ab, wie sehr er bereit ist, »physische Gewalt bewusst zur Demonstration von Überlegenheit und Dominanz gegenüber potenziellen Konkurrenten um Ehre und Status ein-

 Bandlien 2005, S. 11. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Evans 2019, S. 15: »Even if the feminine is simply seen as the ›not masculine‹ this still creates a binary – an opposition – resulting in a two-gender system«. Vgl. auch Jóhanna K. Fríðriksdóttir 2017, S. 234. Eine weitere Schwäche des Modells ist in der sozialen Akzeptanz von sexuellen Beziehungen zu sehen: Bei Zugrundelegung eines Gegensatzes zwischen den Kategorien ›männlich‹ (hvatr im übertragenen Sinne) und ›nicht-männlich‹ müsste es Individuen aus der ersten Kategorie möglich sein, mit jedem beliebigen Individuum aus der zweiten Kategorie sexuell zu verkehren, was aber nicht der Fall ist, vgl. Bagerius 2001, S. 38 – 39. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Kategorie des sex in den altnordischen Texten nicht immer vollständig trennscharf gewesen zu sein scheint: Die sozial zulässige Art und Weise, in der der Status eines Individuums verhandelt werden kann, ist zwar abhängig vom zugeschriebenen Geschlecht des Individuums. Dieses kann jedoch vor allem wegen der im Mittelalter nach wie vor fortwirkenden Humoralpathologie und der biologischen Vorstellungen der Zeit – Frauenkörper als invertierte Männerkörper – in gewissen Grenzen seinerseits als unscharfe Kategorie angesehen werden, selbst wenn dies die Ausnahme darstellt. Bagerius argumentiert mit einer Szene aus der Flóamanna saga, die wir gesondert in Kap. 4.1.6 besprechen, in der Þorgils trotz seines männlichen Körpers nach der gezielten Verletzung einer Brustwarze mit der Zeit in der Lage ist, Milch zu geben und so seinen Nachwuchs zu stillen. Dies stütze zusammen mit der Tatsache, dass im Altnordischen die Wörter für den Anus des Mannes und die Vagina der Frau (baugr und hólkr) austauschbar seien, zumindest in Teilen Clovers Theorie: »[D]et är osäkert om den enkönsmodell som Laqueur skisserar ens är möjlig att i alla stycken applicera [Anm.: so, wie es Clover 1993 getan hat]. Min tolkning är att könet uppfattades som flytande såtillvida att de biologiska gränserna mellan kategorierna ›män‹ och ›kvinnor‹ sågs som tänjbara«, Bagerius 2001, S. 39. Allerdings sprechen die Gesetzestexte für eine grundsätzlich unflexible Einteilung der biologischen Geschlechter in der Perspektive der mittelalterlichen Isländer (und damit mittelbar der diegetischen Gesellschaft in den Isländersagas), wenn es in den Definitionen vor allem des Begriffes ýki heißt, dass hierbei Dinge gesagt werden, die nicht möglich sind. Exemplarisch wird gerade aufgeführt, dass dazu weibliche Vorgänge wie das Gebären von Kindern – und dann wohl implizit das Stillen – Männern unterstellt werden.Vgl. zu diesen Gesetzesvorschriften Kap. 2.2.2. Auch die Tatsache, dass die besprochene Episode gerade nicht in Island spielt, sondern an der Peripherie der Diegese, nämlich in Grönland, wo paranormale Aspekte und Magie eine größere Akzeptanz erfahren, spricht für eine Ausnahme: »Given that sagas show a much greater propensity for the supernatural in the episodes set in Greenland and Vínland (Eiríks saga rauða, but also Grœnlendinga saga and Flóamanna saga), it seems possible that not only were such places seen as being on the fringes of the natural world, but that the people there were more reliant on old magic than those in Iceland«, Cochrane 2012, S. 60. Belege für das Fortwirken der von Bagerius in seiner Argumentationskette angeführten antiken Humoralpathologie in der altnordischen Literatur des Mittelalters liefert Lönnroth 1963 – 1964.

3.4 Das Fehdewesen

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zusetzen«⁴⁵ – kurz, wie ›männlich‹ derjenige in den Augen der Sagagesellschaft ist. Ehre ist kein frei und in unbegrenzten Mengen verfügbares Gut, sondern der eigene Anteil daran muss im ständigen Wettstreit mit anderen stets neu errungen und definiert werden.⁴⁶ Dabei gilt: wer Ehre erringen will, muss sie oft einem anderen mit Gewalt abnehmen. In »honor-based cultures«,⁴⁷ wie sie uns auch in der Sagagesellschaft begegnen, ging der Erwerb von Ehre mit einer Entehrung dessen einher, dem die Ehre abgerungen wurde. Da dies häufig durch einen Gewaltakt geschah, brachte der Verlust von Ehre oft eine wahrgenommene Entmännlichung des Entehrten mit sich.⁴⁸ Nicht umsonst war es »en grov krænkelse, at kalde en fri mand eller kvinde en træl«.⁴⁹ In den Isländersagas begegnen uns häufig Unfreie, die gemessen an ihrem Denken und Handeln gar nicht in diese Schicht gehören, wie etwa Melkorka in der Laxdœla saga, die sich später als Prinzessin herausstellt; Knechte erfüllen damit die literarischen Funktion einer Konturierung der in den Isländersagas so hoch gehaltenen Freiheitswerte.⁵⁰

3.4 Das Fehdewesen Das Narrativ von der großen gesellschaftlichen Freiheit, das heißt: Unabhängigkeit von fremder Herrschaft und Willkür, das untrennbar mit dem isländischen Selbstbild verbunden ist, wurde bereits in der Freistaatszeit mit einem hohen Preis erkauft. Das Gemeinwesen musste mit der fehlenden Rechtssicherheit umgehen, die von der Absenz staatlicher Ordnung hervorgerufen wurde: zwar genoss einerseits die persönliche Integrität und Ehre eines freien Menschen – in modernen Worten gesprochen – geradezu Verfassungsrang, andererseits fehlte es aber an einer staatlichen Ordnungsmacht, die unmittelbar für diesen Wert einstand und kraft ihrer Legitimation seine Durchsetzung für jedermann in objektiver Weise garantierte. Nicht jeder Konflikt konnte bis zu seiner rechtlichen Lösung auf die nächste Thingverhandlung warten. So kommt es, dass die Isländersagas bei aller zurückblickenden Idealisierung der Frei-

 Hiltmann 2011, S. 12.  Vgl. Hiltmann 2011, S. 277.  Miller 1993, S. x.  Dies hängt mit der erwähnten verbreiteten Vorstellung zusammen, dass Gewaltausübung männlich konnotiert ist, während den Erduldenden von Gewalt eine untergeordnete (im Gegensatz zur männlichen also: eine weibliche) Rolle zukommt, vgl. Bourdieu 2005, S. 90 – 96, der auf die Verbindung zwischen Männlichkeit und Gewalt eingeht.  Meulengracht Sørensen 1993, S. 163.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 163 – 164: Die andere Variante sind Knechte, die aufgrund ihres Wesens die Freiheit nicht verdient haben, als Beispiel wird bei Meulengracht Sørensen Þórðr inn huglausi aus der Gísla saga genannt. Dass man einen freien Mann nicht als unfreien Mann bezeichnen durfte, ergab sich bei der Besprechung der Rechtsvorschriften in Kap. 2.2.2.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

staatszeit nicht das geschönte Bild einer sozialen Utopie zeichnen, sondern das eines Gesellschaftssystems in der Krise.⁵¹ Wenn jeder für seine persönliche Integrität in Form der helgi eintritt und diese gegenüber anderen erbarmungslos verteidigt – immerhin steht für das einzelne Mitglied der Gesellschaft alles auf dem Spiel – muss es, wenn auch nicht in jedem Fall, so doch einigermaßen häufig, zu physischen Auseinandersetzungen kommen, die dann wiederum eine Gegenreaktion erfordern.⁵² Es verwundert daher nicht, dass die erwähnte soziale Krise sich in einem Fehdewesen ausdrückt, das auf literarischer Ebene viele Sagas als thematischer roter Faden durchzieht und oft die Handlung strukturiert. Dabei besteht eine enge Wechselwirkung mit den Vorstellungen von Ehre, wie sie weiter oben genannt wurden: »Fehden werden deshalb ausnahmslos ausgelöst durch ein Vorkommnis, von dem sich jemand in seiner Ehre angegriffen fühlt, unabhängig davon, ob eine Absicht dahintersteckte oder nicht.«⁵³ Die Sagas stellen mithin eine Gesellschaft dar, die sich hinsichtlich der Lösungsstrategien für schwere Konflikte an einem Wendepunkt befindet: Das bei den Landnehmern etablierte Fehdewesen wird abgelöst durch ein komplexes juristisches System der Wergeldzahlung, nach dem die Zahlung eines angemessenen Betrages im Idealfall zu einem rechtlichen Ausgleich und damit zum Wegfall der Notwendigkeit eines Racheakts führt. Dieser Übergang ist in den Isländersagas mitunter sehr greifbar, thematisieren manche von ihnen doch gerade die Schwierigkeiten, die alten Gepflogenheiten loszuwerden: »[T]he shame attached to ›selling one’s kinsmen for money‹ or ›carrying one’s kinsmen in one’s purse‹ was evidently as slow in dying out in Iceland as it was and is in bloodfeud societies elsewhere.«⁵⁴ Auf narrativer Ebene wurde die Inszenierung von Fehden bereits ausführlich untersucht. Es wurde in Anlehnung an Anderssons Untersuchung von 1967 vorgeschlagen, bei der Erzählung von Fehdehandlungen drei grundlegende Handlungsmuster anzunehmen: Diese sogenannten Feudeme ließen sich diesem Ansatz zufolge in Clustern arrangieren, aus denen sich schlussendlich die Erzählungen von Fehden in den Sagas gleichsam zusammengesetzt werden könnten.⁵⁵ Obgleich global gesehen Kulturen mit Fehdewesen bis heute keine Besonderheiten darstellen, ist es nahezu unmöglich, eine allge-

 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 171.  Wichtig ist im Folgenden zu beachten, dass es kein eigenes Wort für »Blutrache« im Altnordischen gegeben hat, dieser Begriff also nur mit Vorsicht auf einen Racheakt durch Selbsteintritt gebraucht werden sollte, der als Reaktion auf eine Rechtsverletzung erfolgt, vgl. Beck 1978.  Vésteinn Ólason 2011, S. 69.  Clover 1986, S. 144.  Vgl. Byock 1982, insbes. S. 57– 62. Die drei Feudeme benennt Byock als »conflict«, »advocacy« und »resolution«. Der große Vorteil gegenüber rein strukturalistischen Ansätzen wie etwa bei Andersson ist für ihn, dass es möglich sei, diese Feudeme im Cluster frei zu arrangieren, weshalb man hier kein strenges Schema annehmen müsse. Im Narrativ einer Saga alternieren die Feudeme als Einheiten aktiver Handlung mit den im Sagastil üblichen kurzen Informationen an eine Figur, die für sich genommen aber kein eigenes Handeln beschreiben: »Feudemes represent only action that takes place, not action that can be inferred, even logically, from the narrative«, S. 58.

3.5 Exkurs: Eine kurze Phänomenologie altisländischer Unmännlichkeitsvorwürfe

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meingültige anthropologische Definition für das Phänomen Fehdewesen zu geben.⁵⁶ Das Zustandekommen von Fehden in den Isländersagas lässt sich aber anhand der unzähligen durch Heirat zustande gekommenen Familienkonstellationen erklären, in denen einzelne Figuren durchaus mehrere Verpflichtungen gegenüber verschiedenen Kollektiven haben können.⁵⁷ Ein derart verzweigtes System von Schuldgemeinschaften ist vor dem Hintergrund der zur Schau gestellten sozialen Erwartungen an Männlichkeitsbilder äußerst anfällig für Konflikte.

3.5 Exkurs: Eine kurze Phänomenologie altisländischer Unmännlichkeitsvorwürfe Das fragile Männlichkeitsbild der Isländersagas unterliegt jedoch nicht nur durch die Konzepte ergi und níð einem ständigen Dauerfeuer. Nach der ersten Veröffentlichung von Meulengracht Sørensens Untersuchung zum Phänomen níð ⁵⁸ stellte sich erneut die Frage, welche Handlungsformen dem Themenkomplex níð zugeordnet werden können. Zweifel in Bezug auf kategorielle Abgrenzungen äußert schon Noreen, wenn er schreibt »Om vad som kann och bör betecknas som níð råder tydligen rätt stor oklarhet«.⁵⁹ Gleich darauf nimmt er selbst die Eingrenzung auf die formale Minimalvoraussetzung vor, die auch Meulengracht Sørensen weit gehend mitträgt: Även om gränserna i praktiken icke äro absolut fasta tror jag dock att man kann göra en skarpare avgränsning av níð mot andra arter av poesi än som hittills skett och att man bäst kann karaktärisera níð som ›ärekränkning.‹⁶⁰

Angesichts dieses Befundes rücken weitere kulturelle Phänomene in das Gesichtsfeld, die ebenfalls in der altnordischen Überlieferung ihren Niederschlag gefunden haben und dort unter verschiedenen Namen auftreten. Formell erinnern sie in Teilen frappierend an unterschiedliche Ausprägungen von níð, wenn sie sich derselben Motivik bedienen und sich dessen sozialer Wirkmechanismen bedienen.⁶¹ Vor einer tiefergehenden Betrachtung der Funktionsweise von níð innerhalb der Isländersagas erscheint an dieser Stelle ein Exkurs angebracht, um die Aufmerksamkeit auf struktu-

 Vgl. Miller 1990, S. 179, mit Fn. 1 und dem dortigen Überblick zum anthropologischen Diskurs.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 176.  Meulengracht Sørensen 1980.  Noreen 1922, S. 38.  Noreen 1922, S. 38.  Almqvists Aussage »I regel kann n. tämligen klart avgränsas från enklare former av hån och satir (flím, flimtan, háð, hneisa, hnæfilyrði, kanginyrði, spott m. fl. Benämningar)«, Almqvist 1967, Sp. 295, kann nur in Teilen gefolgt werden. Háð oder háðung beispielsweise stellt in den Gesetzen oft ein Tatbestandsmerkmal dar, während flím in der Bjarnar saga Hítdœlakappa noch gerade so an der unteren Schwelle von níð vorbei zu schrammen scheint, vgl. Kap. 2.2.2 bzw. 4.4.4.2.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

relle und inhaltliche Parallelen verwandter, aber davon abzugrenzender Phänomene zu richten. Am auffälligsten vor allem hinsichtlich der verwendeten Wortwahl und Themen erscheint die Parallele zur senna, einer Gattung von Spottrede, die in der altnordischen Überlieferung recht weite Verbreitung erfuhr, besonders in der eddischen Dichtung. Die Bedeutung wird häufig mit ›Zwist, Streit‹ widergegeben.⁶² Etymologisch verwandt ist das Wort senna mit dem altnordischen Wort sannr, ›wahr‹, sowie dem Rechtsterminus sannr, der ›schuldig‹ bedeutet.⁶³ Ein Beispiel für einen Vertreter dieser Gattung haben wir bereits im Rahmen der Besprechung des ergi-Begriffes angetroffen, nämlich die eddische Lokasenna. ⁶⁴ Dabei gibt es einige wiederkehrende Aspekte: »The standard elements of the senna include threats, insults, challenges and replies thereto.«⁶⁵ In eben diesem Rahmen spiegelt sich ein inhaltliches Problem für die Abgrenzung der sennur von níð-Dichtung wider: ergi-Zuschreibungen, wie sie offensichtlich innerhalb der mit senna bezeichneten Spottrede zum Tragen kommen, sind ebenfalls ein zentraler Bestandteil von níð, wenngleich die senna in der Wahrnehmung davon abgegrenzt zu sein scheint. In formeller Hinsicht unterscheidet sich die senna hauptsächlich dadurch, dass sie die Gestalt eines Dialoges in Versform annimmt und nicht als singuläre Aussage verstanden wird, auf die zwingend eine Racheaktion folgen muss. Ersichtlich ist diese dialoghafte Eigenschaft in der Lokasenna daran, dass Loki nacheinander die Götter ins Visier nimmt, allerdings auch seinerseits vielen Verbalinjurien ausgesetzt ist. In der skaldischen Dichtung scheint ebenso das Dialoghafte im Vordergrund zu stehen, was darin zum Ausdruck kommt, dass nach einer Empfehlung von Snorri Sturluson, senna relativ häufig als Bestandteil einer Kenning für »Kampf« auftritt.⁶⁶ Insgesamt wird die senna im Gegensatz zum níð tendenziell als eher spielerische Form der Auseinandersetzung aufgefasst, die nicht zwangsläufig in Gewalt münden muss.⁶⁷ Der senna ähnlich, wenn nicht gar mit ihr gleichzusetzen, ist der mannjafnaðr, wörtlich ›Männervergleich‹.⁶⁸ Auch bei diesem handelt es sich um eine verbale Auseinandersetzung zwischen Männern, mit dem Ziel, die eigenen Vorzüge bei gleichzeitiger Herabsetzung des Kontrahenten hervorzuhe-

 Ármann Jakobsson 2005a, S. 169, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. senna.  Vgl. Swenson 1991, S. 34, mit Verweis auf von See 1964, S. 228 – 235.  Kap. 2.1.2. Andere Eddalieder, die sennur enthalten, sind Hárbarðsljóð und die Hrímgerðarmál in der Helgakviða Hjörvarðssonar. Bisweilen werden auch die Rededuelle zwischen Frauen in der Guðrúnarkviða I dazu gezählt. Vgl. Ármann Jakobsson 2005a, S. 170.  Gurevich 2009, S. 62.  Vgl. Swenson 1991, S. 33. Als mögliche Erklärung für den semantische Anschluss an die juristische Terminologie führt Swenson an: »When the skalds use senna as a base word, they may be suggesting the concept of a struggle for ultimate knowledge«, merkt aber an, dass derlei gedankliche Verbindungen bei der Lesung von senna als Streit oder Disput hinfällig werden, S. 34– 35.  Vgl. Ármann Jakobsson 2005a, S. 172. Die Besprechung einer senna in der Njáls saga liefert Sauckel 2021 (in Vorbereitung). Sauckel arbeitet die strukturellen und inhaltlichen Parallelen zwischen Skarpheðinns Beleidigungen im 20. Kapitel der Saga und der eddischen Lokasenna heraus.  Vgl. Ármann Jakobsson 2005a, S. 169, Uecker 2001, S. 110, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. mannjafnaðr.

3.5 Exkurs: Eine kurze Phänomenologie altisländischer Unmännlichkeitsvorwürfe

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ben.⁶⁹ Die Motivation dazu liegt abermals in der starken Fixierung auf Ehrvorstellungen: »The world of honor was obsessed with the act of comparing«.⁷⁰ Wichtig für den Männervergleich ist die Öffentlichkeit, in der die Austragung des verbalen Kampfes um die Ehre stattfindet.⁷¹ Das wichtigste Unterscheidungskriterium zwischen senna und mannjafnaðr scheint das primäre Ziel zu sein: Während die senna die Herabsetzung des Kontrahenten als Hauptziel hat, ist es beim mannjafnaðr die eigene Erhebung. Inhaltlich ebenfalls dem níð verwandt, aber graduell schwächer hinsichtlich der herabsetzenden Wirkung ist das so genannte flím, ebenfalls eine Art Spottgedicht.⁷² Die Abgrenzung zum níð ist auch in diesem Fall nicht eindeutig, so tauchen flím und níð in einigen Handschriften der Njáls saga als Synonyme auf.⁷³ Beispiele aus den Isländersagas deuten aber darauf hin, dass ein flím als weniger schlimm wahrgenommen wird als níð. Im zenralen Konflikt zwischen den Hauptfiguren der Bjarnar saga geht ein Gedicht namens Grámagaflím dem Fund eines skulpturalen níð voraus. Aus dieser Darstellung, die auf verschiedene Eskalationsstufen hindeutet, lässt sich schließen, dass ein flím ein geringeres Empörungspotential besitzt als níð. Eine kurze Erzählung, in der ein flím eine tragende Rolle spielt und den zentralen Konflikt heraufbeschwört, findet sich im Þogríms þáttr Hallasonar. Der Protagonist bricht nach einer Hilfsaktion zusammen und muss mit warmer Milch wieder aufgepäppelt werden, was zwei Männer namens Bjarni und Þórðr Anlass zum Spott gibt: Þeir Bjarni ok Þórðr flimtu Þorgrím ok váru illa til hans, en hann lét sem hann vissi eigi. ⁷⁴ Dies führt, wie Þorgrímrs Reaktion nahelegt, lange nicht zu ernsten Konsequenzen, vielmehr wird Bjarni erst dann erschlagen, als er die Vorwürfe Þorgrímr gegenüber später vor dem König Óláfr inn helgi wiederholt.⁷⁵ Das bekannteste Beispiel für ein flím dürfte indes das Gedicht Grámagaflím aus der Bjarnar saga Hítdœlakappa sein, das im narrativen Aufbau des zentralen Konfliktes der Saga als Vorstufe des späteren níð inszeniert wird.⁷⁶  Vgl. Uecker 2001, S. 110.  Miller 1993, S. 124.  Dazu Hiltmann 2011, S. 265: »Wer während eines solchen öffentlich ausgetragenen Männervergleichs in der Lage war, andere Männer mittels diverser Arten der Gewaltausübung in eine passive (Opfer‐)Rolle zu zwingen, konnte für sich selbst Ehre und damit Anerkennung und Ansehen gewinnen«. Ein Beispiel für einen Männerwettstreit bietet das eddische Hárbarðsljóð, in dem ein solches Streitgespräch zwischen Hárbarðr und dem Gott Þórr stattfindet. Diese Art Gespräch wird mitunter als eigenes Genre betrachtet, das genug Eigenständigkeit besitzt, um sich von der senna und dem Konzept níð abzuheben, vgl. Bax/Padmos 1983, S. 158.  Vgl. Markey 1972, S. 7.  Vgl. Markey 1972, S. 7.  Þorgríms þáttr Hallasonar, S. 300; »Bjarni und Þórðr verspotteten Þorgrímr und waren böse zu ihm, aber er tat, als wisse er nichts.« Ausführlich wird diese Szene in Kap. 4.1.6 besprochen.  Für Harris ist dies zugleich der zentrale Moment für die Entfremdung zwischen Isländer und König in seinem entworfenen Strukturschema für Þættir dieses Typs, vgl. die Besprechung bei Harris 1972, S. 16.  Vgl. die Besprechung der Saga in Kap. 4.4.4.2.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

Die interessanteste ›Nachbarform‹ von níð in Hinblick auf die staatliche, soziale und geschlechtliche Ordnung der Sagagesellschaft dürfte aber die sogenannte hvǫt sein. Die in den Sagas noch weithin vorhanden gesellschaftlichen Strukturen, die auf dem alten Fehdewesen basieren, bringen es mit sich, dass Frauen innerhalb dieser Strukturen einen wesentlichen Stellenwert einnehmen. Immer dann, wenn auf die Tötung eines Verwandten nach den sozialen Codes des Fehdewesens reagiert werden muss und diese obligatorische Reaktion ausbleibt, treten Frauen in einer ihrer prägnantesten Rollen auf den Plan, die der Hetzerin. Über diese Funktion schreibt Heller in seiner Untersuchung zur Rolle der Frau in den Isländersagas: Die auffallendste Erscheinungsform der Frau in den Sagas ist die ›Hetzerin‹; sie ist zugleich die häufigste. Nicht weniger als 51 Fälle können wir verzeichnen, in denen eine Frau zur Rache hetzt oder den Mann zur Tat treibt.⁷⁷

Clover hat die zentralen strukturellen Elemente einer hvǫt (›Anreizung, Aufstachelung, Ermunterung‹, von hvatr ›hart‹)⁷⁸ in ihrem Artikel »Hildigunnr’s lament« herausgearbeitet.⁷⁹ Sie geht darin detailreich auf Parallelen zu antiken Trauerriten ein.⁸⁰ Ihr zufolge handelte es sich bei der hvǫt um ein streng durchchoreografiertes Trauerritual, das zum einen dazu diene, der Trauer um einen Verwandten einen festen Raum zu geben, und zum anderen, einen lebenden Verwandten durch die Sichtbarkeit der Trauer zur Rache anzustacheln. Besondere Bedeutung kommt ein sichtbares und geradezu zur Schau gestelltes Trauern zu. Sie schlussfolgert daher: »whetting and lamenting are equivalent and interchangeable elements«⁸¹ und »whetting and lamenting are two sides of the same coin.«⁸² Diese innere Verbindung zwischen Klage und Aufhetzung lässt sich auch an den einzelnen Stufen einer hvǫt ablesen, die sich Ali Frauman zufolge wie folgt beschreiben lassen: 1. Kränkung der Familienehre, 2. Vorbereitung der Szene in einer häuslichen Umgebung mit Zeugen, 3a. Klage der Hetzerin, 3b. Aufhetzung und 4. Rachehandlung des Aufgehetzten.⁸³ Die häusliche Umgebung ist dabei von besonderer Bedeutung, da sie der räumlichen Semantik nach ein Zentrum weiblicher Handlungsmacht darstellt.⁸⁴ Wesentliches Merkmal einer hvǫt (auch frýja oder eggjan) ist die Infragestellung der Männlichkeit eines Verwandten der Hetzerin – oder in be-

 Heller 1958, S. 98.  Baetke (Hrsg.) s.v. hvǫt. Verwandt ist auch hvetja ›[eine Waffe] schärfen‹, vgl. Frauman 2020, S. 270.  Clover 1986.  Als Beispiel verweist sie auf die sehr lebendigen Schilderungen der weiblichen zur Schau getragenen Trauer bei Hektors Begräbnis in der Ilias und die einschlägige Gesetzgebung durch Solon von Athen, vgl. Clover 1986, S. 164– 165: Schon damals sei für die Menschen die Verbindung zwischen offen zur Schau getragener Trauer und Fehdemechanismen erkennbar gewesen.  Clover 1986, S. 153.  Clover 1986, S. 158.  Frauman 2020, S. 270 – 271.  Vgl. Borovsky 2016, S. 15 – 16.

3.5 Exkurs: Eine kurze Phänomenologie altisländischer Unmännlichkeitsvorwürfe

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stimmten Fällen: des Hetzers –, da durch die Erinnerung an die Wichtigkeit von Männlichkeit in der Sagagesellschaft erreicht werden soll, dass der Aufgehetzte sich dem Männlichkeitsideal entsprechend verhält. Dies bezieht sich dem Codex der Fehde nach auf die Rache für einen ermordeten Verwandten. Als auffälliges Beispiel für eine hvǫt sei die Heiðarvíga saga genannt, deren Protagonist Barði mehrmals von seiner Mutter Þuríðr zur Rache für seinen getöteten Bruder aufgehetzt wird. Es kommt zu einer Szene, in der sie ihren anderen Söhnen Steine auftischt, weil diese nicht schwerer zu verdauen seien als der Tod des Bruders. Darüber hinaus reitet sie noch den Söhnen hinterher, um sie zusätzlich anzustacheln.⁸⁵ Durch den Durchgriff auf die helgi eines Mannes, die auf solche Weise tangiert wird, eröffnet sich der Vergleichsspielraum zum níð, mit dem die hvǫt eng verwandt ist.⁸⁶ Eine geschlechterspezifische Verteilung bei der Anwendung von níð und hvǫt in der altnordischen Literatur wird in der Forschung recht einhellig bejaht.⁸⁷ Das größte Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen beiden Interaktionsformen besteht in der Richtung der Reaktion auf die Unmännlichkeitsvorwürfe. Anhand dieser implizit gewünschten Zielrichtung können wir nach Meulengracht Sørensen auch die Geschlechtergrenzen bei der Anwendung ziehen: …mens níð er en ritualisieret udfordring, der implicit kræver hævn over den, som udsiger fornærmelserne (eller, hvis det er en kvinde, over hendes mand eller husstand), så er hensigten med frýja at rette hævnen mod en tredje part.⁸⁸

Im Gegensatz zum níð ist eine hvǫt also in Hinblick auf die erzielte Wirkung niemals reziprok. Diese Feststellung mag zunächst banal erscheinen, sie stellt aber ein herausstechendes funktionelles Unterscheidungskriterium dar, wenn die sozialen Strukturen der Gesellschaft dazu führen, dass Blut fließen muss. Schließlich entscheidet diese Unterscheidung darüber, wessen Blut im Folgenden vergossen wird.Wer von einer hvǫt angesprochen ist, hat sie nicht an der verursachenden Person zu rächen, sondern an einem Dritten. Die Abhängigkeit zwischen Geschlecht und Reaktionsdynamik bei einer hvǫt lässt sich in einem Diagramm veranschaulichen. Die betroffenen Individuen werden durch die Buchstaben A, B und C bezeichnet, soziale Interaktionen zwischen den Individuen mit einem Pfeil, der in seiner Beschriftung die Art der Interaktion verdeutlicht. Ein tiefergestelltes m beziehungsweise w gibt das Geschlecht des Individuums an. In der grafischen Darstellung würde ein solches Schema wie folgt aussehen: níð

Reaktion

Am !! Bm !!!!! Am

 Heiðarvíga saga, S. 277 bzw. 278 – 279.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 239.  Vgl. Clover 1986, Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 141– 144, Heller 1958, sowie Jóhanna K. Fríðriksdóttir 2017, S. 230 – 231.  Meulengracht Sørensen 1993, S. 239.

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3 Helgi, Ehre und Status: Soziale Ordnung in den Isländersagas

hvǫt

Reaktion

Aw !!!Bm !!!!! Cm Wichtig ist hierbei, dass Am und Aw auf der ersten Position in der Regel nicht austauschbar sind: »hvor níð er mænds sprog, dér er frýja kvinders.«⁸⁹ Dennoch scheint dieses Schema für Varianzen des Geschlechts in einem gewissen Rahmen permeabel zu sein, wie etwa das Beispiel des Þorsteins þáttr stangarhǫggs und der Njáls saga zeigen, die beide noch im Rahmen der Untersuchung vertieft zu untersuchen sein werden.⁹⁰ An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass im Þorsteins þáttr stangarhǫggs Þorsteinns alter Vater die Rolle eines Hetzers einnimmt und seinem Sohn Unmännlichkeit unterstellt, während uns in der Njáls saga zwei Frauenfiguren begegnen, die im Rahmen einer hvǫt gezielt auf den Unmännlichkeitsdiskurs von níð Bezug nehmen. Durch diese »Aneignung« des gegengeschlechtlichen Diskurses ist eine Verwischung der Geschlechtergrenzen im obigen schematischen Modell zu erkennen.

 Meulengracht Sørensen 1993, S. 239.  Im Kapitel 5.1.8 bzw. 5.4.3.

4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir Der Blick auf ältere germanische Quellen hat gezeigt, dass uns in den Konzepten ergi und níð ein sehr altes und großes Wortfeld gegenübersteht, das mitunter schwer zu durchdringen ist. Die in Wörterbüchern häufig begegnende semantische Komponente von ergi als Unmännlichkeit in einem sexuellen Sinne scheint darüber hinaus eine spezielle alt(west)nordische Obsession zu sein, was die Untersuchung der Isländersagas nicht erleichtert. Namentliche Bezüge auf ergi sind in den Isländersagas höchst selten. In der Egils saga begegnen wir einem Mann, der óargr als cognomen trägt, darüber hinaus scheint es jedoch keinen gesonderten Bedarf gegeben zu haben, eine Figur als óargr zu benennen. In der Hauptfigur der Króka-Refs saga begegnet uns jedoch jemand, der tatsächlich den Spitznamen inn ragi erhält. Aufgewachsen als kolbítr und als solcher durch eine mütterliche hvǫt zur Rache für einen erschlagenen Viehhirten aufgestachelt, erfüllt er zwar die Erwartungen, die die Gesellschaft an einen Mann stellt. Dies wird ihm von Dritten jedoch kaum honoriert, was der Spitzname und diverse Geschichten anzeigen, die über ihn kursieren, als er sich für eine Weile in Grönland aufhält.¹ Eine so deutliche Benennung einer ergi-Zuschreibung – die noch dazu nicht von den Geschehnissen innerhalb der Saga gestützt zu sein scheint – findet sich allerdings selten. In den meisten Fällen tritt ergi anlassbezogen zu Tage und wird dann von anderen Figuren benannt und zugeschrieben. Dieser Anlass kann eine bestimmte Verhaltensweise oder (erworbene) Eigenschaft einer Figur sein. Andere Beispiele zeigen, dass der Vorwurf der ergi gezielt eingesetzt wird, um außerhalb eines Kontextes von níð erwünschte Handlungen zu provozieren; dies geschieht etwa im Rahmen einer hvǫt durch Verwandte.

4.1 Aspekte von ergi Nicht immer wird ergi allerdings explizit als Merkmal einer Figur genannt. Oft gibt es lediglich kontextuelle Hinweise darauf, dass bestimmte Figuren oder Verhaltensweisen von der Sagagesellschaft mit Vorstellungen von Unmännlichkeit in Verbindung gebracht werden, die sich unter den Begriff ergi subsumieren lassen. Auch solche indirekten Zuschreibungen sollen im Folgenden Berücksichtigung finden, selbst wenn diejenigen im Vordergrund stehen, bei denen ersichtlich wird, dass in sozial missbilligter Weise mit den Erwartungen an die männlichen Geschlechterrollen gebrochen wird. Die behandelten Aspekte sind nur lose geordnet, wobei die grundlegende Leserichtung von ›interner‹ angelegten zu ›externeren‹ Faktoren wechselt, also zwischen Aspekten, die eher in der Figur selbst begründet sind hin zu solchen, die sich eher aus gesellschaftlichen Zuschreibungen ergeben. Eine allen Aspekten gemeinsame Beobachtung ist dabei, dass erst die explizite Thematisierung eine Stigmatisierung nach  Refr wird in Kap. 4.3.1 behandelt. https://doi.org/10.1515/9783110754230-006

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

sich ziehen kann. Das bedeutet, dass ergi erst dann ›entsteht‹, wenn sie anhand einer (zugeschriebenen) Eigenschaft oder eines Verhaltens durch die Gesellschaft oder die betroffene Figur selbst sichtbar gemacht wird. In diesem Sinne ist ergi Ausdruck einer gezielten sozialen Ausdeutung dieser Aspekte.

4.1.1 Alter und Krankheit Die ersten Aspekte, denen wir uns zuwenden, sind biologischer Natur. Für die Figuren der Isländersagas ist der Alterungsprozess oft beschwerlich, wobei gerade das sehr hohe Alter in den Erzählungen geschildert wird: »In the written sources, it is only the very young and the very old that are usually specified as such.«² Eine häufig zu beobachtende Entwicklung ist die von einem ehemals angesehenen Krieger zu einem verbitterten alten Mann.³ Von einer direkten gedanklichen Verbindung zwischen hohem Alter und schwindender Männlichkeit zeugt der als eine Art Sprichwort rezitierte Satz svá ergisk hverr sem eldisk. ⁴ Er taucht gegen Ende der Hrafnkels saga Freysgoða auf, wo es von einer Magd Hrafnkells benutzt wird, um den gealterten und untätig erscheinenden Protagonisten zur Rache aufzuhetzen.⁵ Was darin zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, dass der alternde Körper den ansonsten verbreiteten Männlichkeitsidealen im Wege steht, weil diese Ideale aufgrund der schwächer werdenden physischen Konstitution nicht mehr erreicht werden können.⁶ Tatsächlich begegnen uns mehrere Figuren, die in jungen Tagen männlich empfundenen Tätigkeiten nachgegangen sind und ihr Handeln durch ein Bild von idealer Männlichkeit bestimmen lassen haben. Sobald diese Figuren altern, wird dies von den Erzählern oder den Figuren selbst thematisiert. In der Víglundar saga findet sich eine kurze Episode, die zeigt, mit welcher Geringschätzung der körperliche Abbau im Alter für die Figuren der Sagas einhergeht. Dort äußert sich eine Frau über ihren Ehemann wie folgt: Bóndi hafði boðit heim stýrimönnum, ok er þeir kómu heim, gekk bóndi í móti þeim ok húsfreyja; þá skriðnuðu bónda fætr, því at hann var stirðr af elli. Húsfreyja mælti ok þó heldr lágt: ›Illt er at eiga gamlan mann.‹ ⁷

 Lewis-Simpson 2008, S. 3.  Diese Entwicklung zeichnet Ármann Jakobsson sehr anschaulich in seinem Artikel über »Nasty Old Men« nach: Ármann Jakobsson 2005b.  »So wird argr, wer älter wird.«  Hrafnkels saga Freysgoða, S. 126.  Vgl. Evans 2019, S. 83.  Víglundar saga, S. 106 – 107; »Der Bauer hatte die Steuermänner nach Hause eingeladen, und als sie daheim ankamen, gingen der Bauer und die Frau des Hauses ihnen entgegen; da stolperte der Bauer, denn er war steif vom Alter. Die Frau sagte leise: ›Es ist schlimm, einen alten Mann zu haben.‹«

4.1 Aspekte von ergi

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Eine ganze Saga widmet sich ausschließlich der Thematik des Alterungsprozesses und der damit einhergehenden Probleme für die betroffenen Figuren: Die Rede ist von der Hávarðar saga Ísfirðings. Im Streit mit dem Nachbarn Þorbjörn wird Hávarðrs Sohn Ólafr getötet, woraufhin der betagte Protagonist sich zunächst für ein Jahr außerstande sieht, den Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.⁸ Erst durch die fortlaufenden Interventionen und Aufforderungen seiner Ehefrau schafft er es in kleinen Schritten wieder Lebensmut und Kraft zu sammeln. Diese Veränderung wird nach und nach auch von außen so wahrgenommen, was deutlich wird, wenn er vor einer Thingverhandlung als inn karlmannligsti (›überaus männlich‹) bezeichnet wird.⁹ Eindrucksvoll für uns als Rezipierende sind die Schilderungen des Alters und seiner Beschwernisse in der Egils saga. Nach einem äußerst bewegten Leben verbringt der hoch betagte Skalde Egill seinen Lebensabend in Mosfell bei seiner Nichte Þórdís und ihrem Mann Grímr. Egills Alter ist geprägt von Krankheit und Melancholie¹⁰ (Letztere wird vor allem durch den Tod seiner Söhne hervorgerufen), wie eindringlich geschildert wird. Die Hilflosigkeit des Greises sorgt auf dem Hof für Gespött, als Egill stürzt (konur nǫkkurar sá þat ok hlógu at ok mæltu: ›Farinn ertu nú, Egill, með ǫllu, er þú fellr einn saman‹).¹¹ Dass in seinen besten Tagen so etwas nicht über ihn gesagt worden wäre, geht aus Grímrs Kommentar zu den Frauen hervor, Frauen hätten früher weniger über sie gespottet (›Miðr hæddu konur at okkr, þá er vit várum yngri‹ ¹²). Eine für ihn sehr belastende Begleiterscheinung des Alters schildert Egill in einer Strophe, die er als Reaktion auf die lachenden Frauen dichtet: Vals hefk vǫ́ fur helsis; váfallr em ek skalla; blautr erum bergis fótar borr, en hlust es þorrin. ¹³

Er beklagt die fehlende Bewegungskontrolle über seinen Kopf, die mit dem Alter einhergeht (Vals hefk vǫ́ fur helsis), und erwähnt die im Alter auftretende Glatzköpfigkeit (váfallr em ek skalla), die in seiner Familie wohl erblich bedingt ist, bedenkt

 Hávarðar saga Ísfirðings, S. 308.  Hávarðar saga Ísfirðings, S. 312.  Zu den Anzeichen verschiedener krankhafter Erscheinungen bei Egill wie übersteigerte Melancholie und eventuell Morbus Paget vgl. bei Kaiser 1997 das Kapitel 5.7.5 »Pathologische Erscheinungen bei Egill Skallagrímsson«, S. 302– 316, und die dort verzeichneten Literaturhinweise.  Egils saga, S. 294; »Einige Frauen sahen das und lachten darüber und sagten: ›Jetzt ist es aus mit dir, Egill, in jeder Hinsicht, wenn du schon von allein umfällst!‹«  Egils saga, S. 294; »›Die Frauen haben uns weniger verspottet, als wir jünger waren.‹«  Egils saga, Str. 58, S. 294; »Ich habe das Halsgewackel eines Pferdes. Ich bin in Gefahr, auf meine Glatze zu fallen. Weich ist der Bohrer der Beinhügel, und das Gehör ist geschwunden.« Der beschriebene wackelnde Kopf ist für Tulinius ein Zeichen dafür, dass Egills Figur Parallelen zum biblischen Kainsmythos habe; die Beschreibung des hin und her ruckenden Kopfes sei daher für ein entsprechend religiös gebildetes Publikum als Anspielung zu verstehen, vgl. Tulinius 2014, S. 92– 93.

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man den Beinamen seines Vaters, der wegen seines fehlenden Haupthaares SkallaGrímr hieß. In dieser Strophe eröffnet jedoch besonders die Kenning bergis fótar borr (wörtlich: ›Bohrer des Hügels der Beine‹) mehrere Möglichkeiten der Interpretation. Versteht man den ›Hügel der Beine‹ als Kopf, wäre der ›Bohrer‹ die Zunge und Egill beklagte sich über die schwindende Fertigkeit zu dichten,¹⁴ wie er es auch zu Beginn seines bewegenden Gedichtes Sonatorrek tut.¹⁵ Man kann den ›Hügel der Beine‹ als eine sexuelle Anspielung verstehen, die für die weiblichen Genitalien steht – der ›Bohrer des Hügels der Beine‹ wäre dann Egills Penis.¹⁶ Die Freude am Spiel mit sprachlichen Mehrdeutigkeiten, die in der Skaldendichtung vorherrscht, spricht dafür, dass beide Deutungen gleichberechtigt nebeneinander stehen können.¹⁷ Die Wortwahl, mit der er von seinem ›Beinhügel-Bohrer‹ spricht, ist mehrdeutig: Blautr ›weich‹ besitzt große lautliche Ähnlichkeit zum Adjektiv blauðr, was vielleicht einer indirekten Selbstzuschreibung als verweichlicht gleichkäme.¹⁸ Egill thematisiert so das Schwinden seiner Virilität, das nicht in sein Selbstbild als tapferer und verdienter Mann passt.¹⁹ Dieser neue Zustand steht in krassem Gegensatz zu dem Männlichkeitsbild in seiner Familie, das durch animalische Züge und Anklänge an die Berserkerwut, in die er während der Saga teilweise verfällt, porträtiert wird.²⁰ In diesem Lebensabschnitt wird er zum Gespött der Frauen und »the fact that he spends much of his time in the last part of the saga in the company of women reinforces the sense that the losses of old age – including that of his hair – are emasculating«.²¹ Zu der so empfundenen Handlungsunfähigkeit in Bezug auf den eigenen Körper kommt eine soziale Komponente, als der Besuch beim Thing unmöglich wird. Hier tritt zur physischen Handlungsunfähigkeit ein Zeichen für den abnehmenden gesellschaftlichen Einfluss, der den alternden Protagonisten ebenfalls stark trifft.²² Egill konkretisiert den von ihm empfundenen Verlust an Männlichkeit noch in einer weiteren Strophe, die er kurz nach der zuvor genannten spricht, als er – ebenfalls Folge seines hohen Alters – bereits vollständig erblindet ist (Egill varð með ǫllu sjónlauss).²³ Beim Gerangel auf der Suche nach einem geeigneten Platz am Feuer, um sich zu

 Vgl. Phelpstead 2007, S. 425.  Egils saga, Sonatorrek Str. 1, S. 246: Mjǫk erum tregt/ tungu at hrœra; »Es ist sehr schwer, die Zunge zu rühren«.  Vgl. Phelpstead 2007, S. 425.  Vgl. Phelpstead 2007, S. 425.  Vgl. Phelpstead 2007, S. 426.  »For him this is not merely a medical problem or an unfortunate constraint on his sex life: it is also integral to his (and presumably other peopleʼs) sense of his identity«, Phelpstead 2007, S. 420 – 437, 426.  »Der wolfgleiche Mut galt dem Verfasser der Saga demnach als eine vorbildliche maskuline Eigenschaft, die sich von Úlfr auf dessen Nachfahren übertragen haben und besonders gut am Verhalten Egils erkennbar gewesen sein soll«, Hiltmann 2011, S. 194.  Phelpstead 2013, S. 7. Den Übertritt in die weibliche Sphäre als Marker für die schwindende Männlichkeit Egills thematisiert Kraus 2013, S. 205 – 206.  Vgl. Ármann Jakobsson 2005b, S. 317.  Egils saga, S. 295; »Egill wurde ganz blind«.

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wärmen, wird der frierende Egill von der Wirtschafterin weggeschickt, weil er im Weg sitzt – auch dies ist ein Hinweis darauf, wie wenig er noch für seine früheren Taten geschätzt wird. Zu einer anderen Gelegenheit wird ihm der Rat gegeben, die kalten Füße nicht zu nah ans Feuer zu halten ([maðr] bað hann eigi rétta of nær eldinum).²⁴ Als Reaktion darauf spricht er die eben erwähnte Strophe, mit der er weiter seine schwindende Männlichkeit beklagt: Langt þykki mér, ligg einn saman, karl afgamall, án konungs vǫrnum; eigum ekkjur allkaldar tvær, en þær konur þurfu blossa. ²⁵

Die Besonderheit an dieser Strophe ist das Wortspiel, dessen Egill sich bedient: Das altnordische Wort ekkja ›Witwe‹ hat das Synonym hæll, was ›Ferse‹ bedeutet – »Egill’s verse needs to be read as both ›I have two very cold heels and these women [in the kitchen] need the fire‹ and also as ›I have two very cold widows and these women [the widows] need the fire.‹«²⁶ In beiden Fällen stellt Egill aber fest, dass er mittlerweile auf die Wärme des Feuers genauso angewiesen ist wie die alten Frauen auf dem Hof.²⁷ Wichtig ist in diesem Kontext Evansʼ Hinweis darauf, dass Egill sich hier immer noch mit seiner (wenn auch veränderten) Männlichkeit auseinandersetzt. Die Annahme, er würde durch die Umstände selbst zur alten Frau (und nicht: mehr wie eine alte Frau), zu der man etwa unter Zugrundelegung von Clovers Modell kommen könnte, wäre daher strikt zurückzuweisen.²⁸ Eine körperliche Folge des Alters kann mitunter ein nachlassender Haarwuchs sein, wie wir ihn bei Egills Vater Skalla-Grímr bereits gesehen haben. Es ist daher nur folgerichtig, sich nunmehr diesem Aspekt zuzuwenden.

 Egils saga, S. 296.  Egils saga, Str. 60, S. 296; »Es kommt mir lange vor: Ich steinalter Mann liege ganz allein ohne den Schutz des Königs. Ich habe zwei eiskalte Fersen [Anm.: Oder ›Witwen‹, siehe im Folgenden], und die Frauen benötigen die [wärmende] Flamme.«  Phelpstead 2007, S. 427.  Vgl. Phelpstead 2007, S. 427.  Vgl. Evans 2019, S. 82. Eine gänzlich andere Interpretation von Egills Alter schlägt Brynja Þorgeirsdóttir vor: Ihr zufolge werden in der Egils saga erzählerische Mittel, unter anderem kontinentaleuropäische höfische Konzepte wie der Ausdruck von Gefühlen durch die Dichtkunst, dazu benutzt, ein (nach kontinentaleuropäischen Maßstäben) positives Bild von Männlichkeit zu stilisieren. So werde die Inkompatibilität von gezeigter Trauer mit den altisländischen Männlichkeitsidealen umgangen und ins Positive gewendet: »These literary methods of emotional depiction serve to mediate between the contradictory ideals of masculinity that are held in the saga: by drawing on the imagery of melancholy and lovesickness, Egillʼs masculinity is not undermined by his soft emotional defencelessness; rather, his helplessness becomes a positive trait through the artistic amalgamation of these modalities«, Brynja Þorgeirsdóttir 2020, S. 163.

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4.1.2 Haar- und Bartlosigkeit Das Phänomen Haar- und Bartlosigkeit zeigt wohl am besten, dass Unmännlichkeit nicht allein durch Effemination zum Ausdruck gebracht werden kann. Männlichen wie weiblichen Figuren ist gemein, dass Haare besonders im Rahmen von Figureneinführungen Erwähnung finden, wobei sie das Erscheinungsbild der jeweiligen Figur unterstreichen sollen; die bevorzugten Farbtöne in den Isländersagas sind blondes und hellbraunes Haar. Bei Frauen wird hervorgehoben, wenn das Haar bis zum Gürtel oder in späterem Alter gar bis zum Boden reicht. Männer trugen historisch gesehen ihr Haar meist halblang und dazu einen Bart, der dem jeweils vorherrschenden Geschmack entsprach: vom Vollbart bis zum Schnurr- oder Spitzbart und zum Schifferbart (ein dünner Streifen von Ohr zu Ohr).²⁹ Kurzes Haar galt als Zeichen niederer Herkunft und das Scheren der Haare als Schande und »entehrende Strafe«.³⁰ Zudem stellte es in einigen Fassungen der Grágás auch eine Körperverletzung dar, die gleichrangig mit dem Abschneiden von Ohren oder Nase zu sehen war.³¹ Bärte werden sehr häufig erwähnt und mit Manneskraft und Virilität in Verbindung gebracht; ihre Omnipräsenz im Alltag der Isländersagas wird durch verschiedene Sprichwörter impliziert.³² Umgekehrt wird Bartlosigkeit in den Isländersagas jedoch nur äußerst selten, und noch seltener unter dem Aspekt fehlender Männlichkeit thematisiert. Außer Njáll Þorgeirsson trägt lediglich ein Vorfahre Grettirs den Beinamen inn skegglausi (›der Bartlose‹), was als Indiz für die seltene Thematisierung gewertet werden kann.³³ Die einzige Figur innerhalb der Isländersagas, die sich wegen des fehlenden Bartes wiederkehrend der Unterstellung von Unmännlichkeit ausgesetzt sieht, ist Njáll.³⁴ Das prominenteste Beispiel für fehlendes Haupthaar dürfte Egills Vater Skallagrímr (›Glatzen-Grímr‹) sein. Seine Glatze wird ihm allerdings nicht als Zeichen von fehlender Männlichkeit ausgelegt. Die kurze Geschichte von Auðunn aus den Westfjorden erzählt von der Fahrt des Isländers nach Grönland, wo er einen Eisbären kauft. Den Eisbären bekommt der Dänenkönig Sveinn als Geschenk, für das er sich später durch Geschenke bei Auðunn erkenntlich zeigt, als dieser von einer heftigen Krankheit entkräftet und verarmt von einer Pilgerreise aus Rom zurückkehrt. Bei der Rückkehr sieht man ihm die Beschwernisse der vergangenen Wochen deutlich an. Er hat seine Haare verloren und macht einen erbarmungswürdigen Eindruck (hann er þá kollótr ok

 Vgl. Ebel 1999, S. 240 – 244.  Ebel 1999, S. 240.  Vgl. Falk 2005, S. 236. Besonders in den Ritter- und Vorzeitsagas wird von dieser entehrenden Wirkung einer solchen erzwungenen Rasur Gebrauch gemacht, um Statusdiskurse sichtbar zu machen: Vgl. dazu und mit Beispielen, vor allem aus der Hrólfs saga kraka, Phelpstead 2013, S. 3 – 6.  Vgl. zu dieser Beobachtung Falk 2005, S. 233, und die dortigen Literaturhinweise in Fn. 29.  Vgl. Ebel 1999, S. 242, Sexton 2010, S. 158.  Njáll wird in Kap. 4.3.2 vertieft besprochen, auf das daher an dieser Stelle verwiesen sei.

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heldr ósælligr).³⁵ Der Hof von König Sveinn reagiert stark auf diesen Eindruck, als der König Auðunn willkommen heißt: Ok þegar er konungr veit, hverr hann er, tók konungr í hǫnd honum Auðuni ok bað hann vel kominn, – ›ok hefir þú mikit skipazk,‹ segir hann, ›síðan vit sámsk,‹ – leiðir hann eptir sér inn. Ok er hirðin sá hann, hlógu þeir at honum, en konungr sagði: ›Eigu þurfu þér at honum at hlæja, því at betr hefir hann sét fyrir sinni sál heldr en ér.‹ ³⁶

Der Hof lacht über Auðunns ausgemergeltes Erscheinungsbild genauso wie über die Tatsache, dass er im Zuge seiner Krankheit sein Haar verloren hat.³⁷ Der so erbarmungswürdig aussehende Auðunn wirkt daher auf die Männer des Königs lächerlich und scheint in ihren Augen einen für diese Umgebung zu niedrigen sozialen Status zu haben. Der Haarverlust wird daher als Möglichkeit der Hofgesellschaft gesehen, sich von dem sozial vermeintlich niedriger stehenden Auðunn abzuheben. König Sveinn relativiert diesen Haarverlust, indem er die Bedeutung von Auðunns Pilgerreise für dessen Seelenheil hervorhebt: Wie bei einer Mönchstonsur wird der mit Schande behaftete Aspekt seines Haarverlustes durch den positiven Effekt seiner Hinwendung zu Gott ausgeglichen.³⁸ In dieser kurzen Erzählung vereinen sich somit die Vorstellungen von niedrigem Status und fehlender Männlichkeit, die durch das fehlende Haar zum Ausdruck gebracht wird.³⁹ Eine Sonderstellung fällt hinsichtlich der Haartracht christlichen Mönchen zu, die aufgrund ihrer Tonsuren nicht den alten heidnisch geprägten Idealen von Männlichkeit entsprechen können. Carl Phelpstead verdeutlicht dies anhand eines Beispiels aus der Orkneyinga saga, die wir ansonsten in dieser Untersuchung nicht weiter betrachten: Eine Gruppe von Männern, die anhand ihrer Tonsuren deutlich als Mönche erkennbar sind, wird in einem Vers spöttisch beschrieben, wobei die verwendeten Adjektive alle in ihrer femininen Form auftreten.⁴⁰ Eine geschlechtlich ambige Bewertung von Mönchen scheint im mittelalterlichen Island bisweilen vorgenommen

 Auðunnar þáttr vestfirzka, S. 364; »Er war da haarlos und ziemlich elend.«  Auðunnar þáttr vestfirzka, S. 365; »Und sobald der König wusste, wer er war, nahm er Auðunn an der Hand und hieß ihn willkommen – ›du hast viel mitgemacht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben‹, sagte er und führte ihn nach sich in die Halle. Und als die Leute ihn sahen, lachten sie über ihn, aber der König sagte: ›Es steht euch nicht zu, über ihn zu lachen, denn er hat besser für seine Seele gesorgt als ihr.‹«  Vgl. Phelpstead 2013, S. 8.  Vgl. Phelpstead 2013, S. 8.  Zum Statusproblem vgl. Kap. 4.1.2.  Orkneyinga saga, S. 163. Das ist insofern interessant, als dass die Mönche in der vorangehenden Prosa vom Erzähler als männlich identifiziert wurden (Þá sá þeir, hvar gengu sextán menn, S. 163), vgl. Phelpstead 2013, S. 10 – 11. Dazu ist anzumerken, dass das Wort menn auch allgemein ›Mensch‹ bedeuten kann; dass es sich bei der beschriebenen Gruppe um Mönche handelt, macht aber im weiteren Verlauf der Episode klar, dass sie als männlich aufgefasst werden. Für das Verständnis des Spottes ist jedoch unerheblich, ob die Auflösung der Ambivalenz der Menschengruppe vor oder nach der Strophe geschieht.

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worden zu sein. Die Tonsur galt bei ihnen zwar als Zeichen von Effemination, wies sie dabei aber gleichzeitig als Mitglied einer besonderen und respektablen sozialen Schicht aus; dennoch schien es mitunter notwendig, ihre Männlichkeit explizit herauszustellen.⁴¹

4.1.3 Physische Merkmale Dass Alter und Haarverlust gleichzeitig einen starken und meist negativen Einfluss auf die Männlichkeit implizieren, haben wir soeben gesehen. Gerade Egills Strophen über seine nachlassende Manneskraft führen den Blick noch auf einen weiteren, sehr körperlichen Umstand, der die Männlichkeit der Figuren beeinträchtigen kann. Wenn Egill über die Schlaffheit seines Penis dichtet, spricht er damit das zentrale mit der Vorstellung von Männlichkeit verbundene physische Merkmal an. Evans zufolge kommt es in den Isländersagas meistens mehr auf dessen Funktionalität als auf die Größe an: »The size of a penis does not seem to be of ultimate importance, but rather what is – or can – be done with it.«⁴² Im Titel des Artikels Size Matters: Penile Problems in the Sagas of Icelanders von Carl Phelpstead wird dahingegen bereits erkennbar, dass in altnordischen Texten mitunter tatsächlich die Größe des männlichen Genitals

 Phelpstead 2013, S. 15. Dabei spielen in diesem Beispiel auch religiöse Aspekte eine Rolle, die ebenfalls eine Ausstrahlwirkung auf die Wahrnehmung der Männlichkeit von Individuen haben können, vgl. Evans 2019, S. 99 – 102. Der Historiker Ari Þorgilsson berichtet in seiner Íslendingabók, dass Þangbrandr, der erste Priester, den der norwegische König Ólafr Tryggvason zur Christianisierung nach Island schickt, dieses Unterfangen bald wieder aufgibt und abreist. Die Umstände seiner Abreise gestalteten sich nach Aris Bericht drastisch, Islendingabók, S. 14: En þá es hann hafði hér verit einn vetr eða tvá, þá fór hann á braut ok hafði vegit hér tvá menn eða þrjá, þá es hann hǫfðu nítt; »Aber nachdem er einen oder zwei Winter hier [=Island] gewesen war, fuhr er wieder fort, da er hier zwei oder drei Männer erschlagen hatte, die ihn mit níð belegt hatten.« Den späteren Gesetzen aus Norwegen und Island zufolge reagierte er auf das níð, dem er sich ausgesetzt sah, rechtskonform. Über die Form dieses níð ist indes bei Ari nichts überliefert. Es finden sich aber Hinweise auf Skaldenstrophen. So ist laut der Brennu-Njáls saga einer derjenigen, die am lautesten ihre Stimme gegen den neuen Glauben erheben, der Skalde Vetrliði, den die Anwesenden daraufhin erschlagen, vgl. Njáls saga, S. 260. Hier prallt der Impetus der Christianisierung auf eine traditionelle ritualisierte Weise der Konfliktführung, die das ankommende Neue ihren bestehenden Regeln zu unterwerfen sucht. Ásdís Egilsdóttir stellt in ihrer Untersuchung, die sich hauptsächlich auf die sogenannten Gegenwartsagas bezieht, ebenfalls fest, dass das Christentum zu einer neuen Art von Männlichkeitsbildern führte, da ein größeres Gewicht auf friedliche Lösungen gelegt werde als es bis zur Einführung des Christentums üblich und als männlich akzeptiert gewesen sei, Ásdís Egilsdóttir 2020. Diese Auseinandersetzung zwischen zwei konfligierenden Männlichkeitsbildern führte unter anderem dazu, dass noch im 14. Jahrhundert in der Hungrvaka, einem Bericht über die ersten Bischöfe in Skálholt, ein Anlass gesehen wurde, gesondert die Männlichkeit der beschriebenen Bischöfe hervorzuheben, vgl. Ármann Jakobsson 2007b. Religiöse Aspekte von ergi spielen in Kap. 4.4.6 eine Rolle.  Evans 2019, S. 123.

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für einzelne Figuren problematisch werden kann.⁴³ Dies geschieht dann, wenn die Größe zur Dysfunktionalität führt, wie die zwei folgenden Episoden aus der Njáls saga und der Grettis saga zeigen, die beide extremen Enden des Spektrums illustrieren. Die Episode aus der Njáls saga ist aus zwei Gründen interessant: Sie illustriert einen Tausch von Geschlechterrollen, wenn die norwegische Königin Gunnhildr als stark eigenmotiviert handelnde Frau dargestellt wird.⁴⁴ Darüber hinaus rückt in der Folge einer Begegnung mit ihr die Dysfunktionalität eines zu groß geratenen Phallus in den Mittelpunkt. Nach seiner Verlobung mit Unnr, der Tochter von Mǫrðr gígja, tritt Hrútr eine Reise nach Norwegen an, um dort ein Erbe in Empfang zu nehmen. Dort trifft er auf Königin Gunnhildr, die die Mutter von König Haraldr gráfeldr und eine zauberkundige »Circe«⁴⁵ ist. Gunnhildr zeichnet sich durch ihre Schönheit, magische Begabung und ihre unersättliche sexuelle Gier aus, die sie in den Augen späterer Geschichtsschreiber aus der Masse anderer Frauen stark hervorstechen lassen.⁴⁶ Gleich nach ihrer Ankunft lässt sie Hrútr und seinen Begleiter Ǫzurr zu sich einladen. Tatsächlich stellt sich bald heraus, dass Gunnhildr sehr genau weiß, was sie will. So mischt sie sich bei der Aufnahme Hrútrs in das Gefolge ihres Sohnes ein und bezieht Stellung für Hrútr, bis er klein beigibt (›Þat þykki mér sem móðir mín vili, at þú fáir nafnbót slíka sem þú mælir til‹).⁴⁷ Nach Hrútrs Audienz beim König lässt sie ihn und seinen Begleiter noch gesondert zu einem Mahl zu sich einladen (›Fylg þú þeim til húsa minna ok ger þeim þar góða veizlu.‹)⁴⁸ und hegt dabei wohl einige Hintergedanken, wie sich bald zeigt. Ihr Kämmerer Ǫgmundr führt die beiden zu ihrem Hochsitz und sagt dann zu Hrútr, er könne sich daraufsetzen und sogar sitzen bleiben, wenn die Königin eintrete.⁴⁹ Als Gunnhildr kurz darauf erscheint, will Hrútr dennoch aufspringen, doch sie entgegnet lediglich ein harsches »Sit þú« ⁵⁰ und bestätigt damit noch einmal, dass er für den Abend auf ihrem Hochsitz verbleiben darf. Sie stellt ihn hier einen Moment lang auf die gleiche Stufe wie sich selbst und unterwirft sich ihm anschließend so-

 Phelpstead 2013; dass ein größeres Genital nicht automatisch mit gesteigerter Männlichkeit korreliert, stellt Evans 2019, S. 123, heraus.  Diese Darstellung ist für Kap. 4.2.2.5 wichtig, wo Gunnhildr Ziel von Egills níð wird.  Dronke 1981, S. 6.  Vgl. Jochens 1996, S. 180 – 181; zu Snorris Beschreibung von Gunnhildr in der Heimskringla schreibt sie hier: »Snorri’s portrait of Gunnhildr is far more nuanced than his depictions of other female characters«. Gunnhildr ist zudem als womöglich einzige Frau des Untersuchungscorpus direkt von níð betroffen, vgl. Kap. 4.2.2.5.  Njáls saga, S. 14.  Njáls saga, S. 14.  Njáls saga, S. 14: »hér er hásæti hennar, ok skalt þú í setjask; ok halda máttu þessu sæti. Þótt hon komi sjálf til«; »›Hier ist ihr Hochsitz, und du sollst dich daraufsetzen, und du darfst auf diesem Sitz sitzen bleiben, selbst wenn sie dazu kommt.‹«  Njáls saga, S. 15; »›Setz dich!‹«

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gar.⁵¹ Allerdings besteht diese Unterwerfung nur zum Schein, denn in Wahrheit ist sie es, die die Kontrolle über die Situation behält und Hrútr verführt. Sie setzt sich neben ihn und die beiden trinken zusammen (Síðan settisk hon hjá Hrúti, ok drukku þau ⁵²). Spät am Abend fordert sie schließlich Hrútr unverblümt dazu auf, mit ihr das Lager zu teilen: ›Þú skalt liggja í lopti hjá mér í nótt, ok vit tvau saman.‹ ⁵³ Dem hat Hrútr wohl auch aufgrund des Standesunterschiedes zwischen den beiden nicht viel entgegen zu setzen und er fügt sich ihrem Wunsch: »The saga’s tone is neutral and its pragmatism suggests Hrútr had very little choice in the matter.«⁵⁴ Hrútr schläft einen halben Monat lang bei ihr, bevor er wieder aufbricht.⁵⁵ Alle Konventionen werden ignoriert und der Situation entsprechend den anderen dort Anwesenden ein Schweigegebot auferlegt: Gunnhildr weiß selbst um die Brisanz, die ein solches Verhalten aufweist.⁵⁶ Ihre Beschreibung in der Njáls saga kann man daher als rǫg in dem Sinne auffassen, dass es ebenjene von Gunnhildr gezeigte sexuelle Maßlosigkeit beschreibt. Mit ihrem Verhalten dreht sie die Geschlechterrollen um und wird selbst zur Werberin, die Hrútr zur Passivität verdammt. Der Statusunterschied zwischen den beiden kann dieses Betragen nur zum Teil erklären.⁵⁷ Nach dem folgenden Winter bricht Hrútr mit zwei Langschiffen der Königin als Verstärkung auf, um nach Dänemark zu reisen. Bei ihrem Abschied erweist sie sich als äußerst eifersüchtig und belegt ihn mit dem Fluch, dass er auf Island nicht mit der Frau schlafen können wird, die er zu heiraten gedenkt (›þú megir engri munúð fram koma við konu þá, er þú ætlar þér á Íslandi‹).⁵⁸ Die Einschränkung, die Gunnhildr macht, ist, dass er trotz diesem Fluch noch Geschlechtsverkehr mit anderen Frauen haben kann.⁵⁹ Hrútr lacht über diesen Fluch und segelt davon. Doch als er nach Island zurückkehrt, zeigt sich die Wirkung von Gunnhildrs Fluch, als er nach der Hochzeit mit Unnr versucht, mit dieser die Ehe zu vollziehen. Sie

 Dronke 1981, S. 6: »We are shown Gunnhildr imperiously making Hrútr her equal, even her master, for the moment.«  Njáls saga, S. 15; »Dann setzte sie sich zu Hrútr und sie tranken miteinander.« Dieses gemeinsame Trinken hat hier zwar einen erotischen Unterton und führt dazu, dass Hrútr mit Gunnhildr das Lager teilt, allerdings scheint es angesichts der geringen Anzahl von Belegstellen für das gemeinsame Trinken in einem erotischen Kontext (außer dieser Stelle gibt es nur eine in der Kjalnesinga saga) schwierig zu sein, das gemeinsame Trinken als Motiv aufzufassen, das per se eindeutig erotisch konnotiert ist – eine emotionale Aufladung hat es aber in jedem Fall, vgl. Sävborg 2007, S. 62– 63. Vgl. zur sozialen und bindungsstiftenden Bedeutung des gemeinsamen Trinkens Kraus 2013, S. 90 – 92.  Njáls saga, S. 15.  Sayers 1994, S. 7.  Njáls saga, S. 15.  Dronke 1981, S. 6 – 7.  Vgl. Ármann Jakobsson 2007a, S. 207.  Njáls saga, S. 21.  In dieser Szene unterscheidet sie sich stark von der Königin Gunnhildr, die uns beispielsweise in der Laxdœla saga begegnet. Dort macht sie ihre Zuneigung zu Hrútr öfffentlich, statt sie wie hier privat auszuleben und beim Abschied von Hrútr trauert sie lediglich leise: »Her candour, her shrouded grief, make her seem vulnerable and womanly«, Dronke 1981, S. 7– 8.

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berichtet ihrem besorgten Vater von den Problemen, die das junge Paar plagen und wegen derer sie eine Scheidung von Hrútr erlangen möchte: ›Ek vilda segja skilit við Hrút, ok má ek segja þér, hverja sǫk ek má helzt gefa honum. Hann má ekki hjúskaparfar eiga við mik, svá at ek mega njóta hans, en hann er at allri náttúru sinni annarri sem inir vǫskustu menn […] Þegar hann kemr við mik, þá er hǫrund hans svá mikit, at hann má ekki eptirlæti hafa við mik, en þó hǫfum vit bæði breytni til þess á alla vega, at vit mættim njótask, en þat verðr ekki. En þó áðr vit skilim, sýnir hann þat af sér, at hann er í œði sínu rétt sem aðrir menn.‹ ⁶⁰

Was Unnr hier beschreibt, ist ein bemerkenswerter Vorgang, der von Gunnhildrs Fluch ausgelöst wurde.⁶¹ Jeder Versuch der beiden miteinander zu schlafen endet darin, dass Hrútr aufgrund der enormen Größe seines Penis⁶² nicht in sie eindringen kann und die Ehe nicht vollzogen wird. Unnr weist ausdrücklich darauf hin, Hrútr sei abgesehen von dieser Tatsache wie alle anderen Männer (›en hann er at allri náttúru sinni annarri sem inir vǫskustu menn‹). Hrútrs Problem liegt also tatsächlich nicht darin, eine Erektion zu bekommen (wie es beispielsweise der alte Egill beklagt), sondern in der schieren Größe seines Gemächts, wie Unnr es benennt. Ihr letzter Satz (›En þó áðr vit skilim, sýnir hann þat af sér, at hann er í œði sínu rétt sem aðrir menn.‹) dürfte so zu verstehen sein, dass Hrútrs nicht erigiertes Glied optisch keinen auffälligen Eindruck erweckt. Eine tatsächliche Impotenz Hrútrs wäre zudem aus zwei Gründen unwahrscheinlich: Zum einen darf er sich noch kurz vor seiner Heimkehr einen wohl anzüglich gemeinten Kommentar vom Schiffskapitän Úlfr óþveginn wegen seines Verhältnisses zu Gunnhildr anhören (›Bæði er nú, Hrútr, at þú høggr stórt, enda átt þú mikit at launa Gunnhildi‹).⁶³ Zum anderen erfahren wir – wiederum aus der Laxdœla saga – von seinem späteren enormen Kinderreichtum.⁶⁴ Er ist lediglich innerhalb seiner Ehe

 Njáls saga, S. 24; »›Ich möchte mich von Hrútr scheiden lassen, und ich werde dir sagen, welchen Sachverhalt ich ihm zur Last lege. Er kann mit mir nicht so Geschlechtsverkehr haben, dass ich ihn genießen kann, auch wenn er sonst in seiner ganzen Natur wie die herausragendsten Männer ist […] Sobald er zu mir kommt, wird sein Gemächt so groß, dass er keinen Genuss mit mir haben kann; und obwohl wir es beide auf alle Arten versucht haben, dass wir uns genießen könnten, funktioniert es nicht. Bevor wir uns aber wieder trennen, scheint es so zu sein, dass er in seiner Beschaffenheit genau wie andere Männer ist.‹«  Die Benennung des Geschehens als Zauber dürfte indes dazu dienen, das Unerklärliche dieser Episode zu erklären. Ausgehend von dieser Feststellung wurde zuletzt vorgeschlagen, am ehesten Vaginismus als medizinisch-psychiatrische Ursache für die sexuelle Inkompatibilität der beiden zu sehen, vgl. Buntrock/Heizmann 2009, insbesondere S. 138 – 140.  Carl Phelpstead merkt an, dass Unnr den Euphemismus hǫrund [Anm.: allgemein ›Haut‹, in der Bedeutung ›Vorhaut‹ hier möglicherweise als pars pro toto für ›Glied‹, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. hǫrund] benutzt, um Hrútrs Penis zu beschreiben; sie tue dies, um ihrem Vater gegenüber leichter über ein unangenehmes Thema sprechen zu können, vgl. Phelpstead 2007, S. 431. Sofern dies zuträfe, bestünde ein starker Kontrast zwischen dem Sprechen über dieses Thema an dieser Stelle und der späteren Offenlegung der Problematik durch das szenische Spiel der Kinder, wie es im Folgenden gezeigt wird.  Njáls saga, S. 18; »›Beides ist wohl wahr, Hrútr, dass du gut zuhaust, und dass du Gunnhildr viel zu entlohnen hast‹«  Vgl. Ármann Jakobsson 2007a, S. 208.

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mit Unnr außer Stande, die von der Gesellschaft an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen, allerdings nicht, wie es ihm unterstellt wird, wegen mangelnder Männlichkeit, sondern es ist im Gegenteil so, wie es Ármann Jakobsson pointiert zusammenfasst: »The irony of the whole situation is that it seems to be the enormity of Hrútrs male organ which leads to his impotence.«⁶⁵ Unnrs Vater Mǫrðr gibt ihr im Folgenden Ratschläge, um die Scheidung rechtskräftig zu erwirken. Sie befolgt sie geflissentlich und im Frühjahr gibt er schließlich auf dem Thing die Scheidung der beiden bekannt.⁶⁶ Welche sozialen Konsequenzen eine solche Scheidung wegen eines nicht vollzogenen Geschlechtsverkehrs nach ihrem öffentlichen Bekanntwerden mit sich führt, zeigt sich einige Zeit später in einer spielerischen Wiederholung des Scheidungsprozesses zwischen Hrútr und Mǫrðr. Als die beiden Brüder Hrútr und Hǫskuldr vom Thing nach Hause reiten, machen sie einen Zwischenhalt auf Lundr, wo gerade ein Fest stattfindet. Im Laufe des Festes beobachten die Brüder und ihr Gastgeber folgende Szene: Þjóstólfr bóndi sat í meðal þeira Hǫskulds ok Hrúts, en sveinar tveir léku á gólfinu, […] ok lék mær en hjá þeim; þeir váru málgir mjǫk, því at þeir váru óvitrir. Annarr þeira mælti: ›Ek skal þér Mǫrðr vera ok stefna þér af konunni ok finna þat til foráttu, at þú hafir ekki sorðit hana.‹ ⁶⁷

Durch ihr Spiel gewähren die Kinder hier einen interessanten Einblick in die gesellschaftliche Sichtweise auf die Scheidung von Unnr und Hrútr. Sein Unvermögen, die Ehe zu vollziehen, wird ihm als Schwäche, damit wohl auch ergi, ausgelegt. Darauf deuten sowohl das vom Erzähler kurz kommentierte Gelächter der Beobachter dieser Szene (þá gerðisk hlátr mikill af heimamǫnnum)⁶⁸ als auch die äußerst deftig formulierte Aussage, Hrútr habe nicht mit seiner Frau schlafen können. Anschließend kommt es zu Anspielungen auf Mǫrðrs vermeintlich feiges (also unmännliches) Verhalten beim Thing.⁶⁹ All dies erweckt den Eindruck, als würde für die Menschen vor Ort die Scheidung von der Unmännlichkeit Hrútrs künden. Gerade die Betonung von serða legt diesen Schluss nahe, da dieses Verbum – wie zu sehen war – in seiner aktiven Form männliche Ausübung von Dominanz beim Geschlechtsverkehr ausdrückt.⁷⁰ Dass Hrútr dazu augenscheinlich nicht in der Lage war, wird ihm in logischer Konsequenz als Unmännlichkeit ausgelegt.

 Vgl. Ármann Jakobsson 2007a, S. 208.  Njáls saga, S. 26.  Njáls saga, S. 28 – 29; »Der Bauer Þjóstólfr saß zwischen Hǫskuldr und Hrútr, und zwei Jungen spielten auf dem Boden […], und ein Mädchen spielte mit ihnen. Sie waren sehr boshaft, weil sie unwissend waren. Einer von ihnen sagte: ›Ich bin jetzt Mǫrðr und spreche dir vor dem Thing die Frau ab und mache dir das zum Vorwurf, dass du sie nicht gefickt hast.‹«  Njáls saga, S. 29; »Da gab es ein großes Gelächter unter den Hausgenossen.«  Njáls saga, S. 29.  Vgl. nochmals Jochens 1995, S. 74. Dass die spielenden Kinder sich dieses Wortes bedienen, lässt laut Ármann Jakobsson darauf schließen, dass es von Erwachsenen aufgeschnappt und nachgeplappert worden sein muss. Demzufolge wäre das kindliche Spiel hier ein narrativer Marker für die

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Entsprechend muss er in dieser Szene reagieren, um sich zu verteidigen und nicht weiter zum Gespött der Leute zu werden. Während sein Bruder die Beherrschung verliert und den Jungen beschimpft, der seinen Bruder verspottet (Þá reiddisk Hǫskuldr ok laust sveininn með sprota), und ihn mit seinem folgender Ausruf ›Verð úti ok drag engan spott at oss‹ ⁷¹ zur Tür verweist, geht Hrútr auf den Jungen zu und gibt ihm einen Ring. Im Gegenzug nimmt er ihm das Versprechen ab, den Spott nicht zu wiederholen.⁷² Diese Reaktion scheint richtig zu sein, denn der Junge rückt von dem innerhalb des Spiels geäußerten Vorwurf ab und verkehrt ihn ins Gegenteil.⁷³ Das in diesem Kontext gebrauchte Nomen drengskapr hat eine große inhaltliche Nähe zu Konzepten von Männlichkeit, persönlicher Integrität und Ehre, wodurch Hrútr seinen Ruf wiederherstellen und sogar die ihm zugefügte Schande ins Gegenteil verkehren kann. Die Episode um Gunnhildr und Hrútr zu Beginn der Saga greift mehrere Aspekte auf, die im Zusammenhang mit den Geschlechternormen auch in anderen Sagas thematisiert werden. Dazu gehört die Thematisierung von Status, wie es beispielsweise in der Laxdœla saga der Fall ist,⁷⁴ oder die – hier freilich mit einem ironischen Augenzwinkern präsentierte – Sorge um die physische Beschaffenheit des Mannes, die auch in Egills Strophen im Alter zum Tragen kommt. In der Grettis saga findet sich gleichsam das Gegenstück zu der Episode um Hrútr. Der Körper des Sagahelden Grettir wird nach seiner Kindheit sehr häufig in den Fokus gerückt, wobei stets seine exorbitante Größe und die damit verbundene und als männlich empfundene Stärke hervorgehoben werden.⁷⁵ Thematisiert wird in der Grettis saga nämlich nicht die überbordende Größe eines Gemächts, sondern dessen Kleinheit. Grettir macht nach einer längeren Schwimmetappe Halt auf dem Hof Reykir, wo er bald erschöpft einschläft. Die Decke rutscht ihm im Schlaf vom Leib, so dass er nackt im Bett liegt und bald von einer Magd und der Bauerntochter begutachtet wird. Die Magd lässt sich sofort darüber aus, was sie da sieht: ›Svá vil ek heil, systir, hér er kominn Grettir Ásmundarson, ok þykki mér raunar skammrifjamikill vera, ok liggr berr. En þat þykki mér fádœmi, hversu lítt hann er vaxinn niðri, ok ferr þetta eigi eptir gildleika hans ǫðrum.‹ ⁷⁶ Die Bauerntochter versucht noch, sie zum Schweigen zu bringen, doch

allgemeine Präsenz des Geredes über Hrútrs vermeintliches Versagen in der Ehe. Vgl. Ármann Jakobsson 2003, S. 8 – 9.  Njáls saga, S. 29; »Da wurde Hǫskuldr wütend und schlug den Jungen mit einem Stab«, »›Geh raus und treibe keinen Spott mit uns!‹«  Njáls saga, S. 29.  Njáls saga, S. 29.  Vgl. dazu unten Kap. 4.2.2.5. In der Figur von Königin Gunnhildr fließen indes die Übertretung von weiblichen Geschlechter- und Statusgrenzen ineinander: Sowohl in ihrer Eigenschaft als Frau als auch als Königinmutter ist die ihr zugeschriebene Nymphomanie keineswegs angemessen, was sich in der Saga daran zeigt, dass sie ihrem Hof eine Schweigepflicht auferlegt.  Vgl. zu dieser Beobachtung Evans 2019, S. 121. Grettirs Kindheit ist Thema in Kap. 4.3.4.  Grettis saga, S. 239; »Du liebe Zeit, Schwester! Grettir Ásmundarson ist hierhergekommen! Er scheint mir wirklich einen gewaltigen Oberkörper zu haben, und er liegt da nackt. Aber mir erscheint

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sie fährt fort, betrachtet den nackten Grettir nochmals ausgiebig und lacht über diesen Anblick. Grettir ist zu diesem Zeitpunkt bereits erwacht und hat den Inhalt des Gesprächs mitbekommen. Nicht zuletzt die mit ›þessu hefða ek eigi trúat, þó at nǫkurr hefði sagt mér‹ geäußerte implizite Drohung, das Gesehene weiterzuerzählen, dürfte er als Angriff auf seine Männlichkeit verstehen.⁷⁷ Demzufolge äußert er sich in zwei Strophen wütend darüber, dass andere Männer möglicherweise besser bestückt seien als er selbst, wenngleich er den größeren Hodensack habe. Die Bauerntochter rennt währenddessen hinaus und Grettir beschließt seine zweite Strophe mit den Zeilen alllengi má ungum,/ eyleggjar bið Freyja,/ lágr í læra skógi,/ lotu, faxi mér vaxa. ⁷⁸ Die Thematisierung von Grettirs Penis ist hier sehr eindeutig und unübersehbar.⁷⁹ So äußert sich Grettir darüber, dass er selbst anerkennt, wie wenig eindrucksvoll sein nicht erigierter Penis wirkt, was sich aber schnell ändern könne.⁸⁰ Über das Folgende berichtet die Saga nicht allzu viel, aber es heißt: Griðka œpði hástǫfum, en svá skilðu þau, at hon frýði eigi á Gretti, um þat er lauk. ⁸¹ Aus moderner Sicht kommt man nicht umhin, das hier Beschriebene als Vergewaltigung zu bezeichnen. In der narrativen Logik der Isländersagas dient diese Szene jedoch als Folie, auf der Grettir beweisen kann, dass er den gängigen Idealen von Männlichkeit entspricht: »Grettir demonstrates his manhood by subjugating and (it is implied) raping the woman who had mocked him«.⁸² Durch das Aufzeigen von sexueller Dominanz gelingt es ihm, sein gekränktes männliches Ehrgefühl wieder zu stärken und der eben genannten narrativen Logik folgend wird er uns hier als ›ganzer Kerl‹ gezeichnet, der sich gegenüber dem Vorwurf der ergi behaupten kann. Wir haben nun in zwei Episoden beide Enden eines Spektrums bezeugt, dessen Mitte aus Sicht der Sagagesellschaft wohl der einzige erstrebenswerte Zustand ist. Das nach oben oder unten entstehende Extrem ist demnach für die betroffenen Figuren von Nachteil. Beide Figuren sind dazu gezwungen, auf die Angriffe auf ihre Männlichkeit zu reagieren. Hrútr sieht sich dem Fluch der norwegischen Königin Gunnhildr machtlos ausgesetzt und kann sich in der Folge nur um Schadensbegrenzung bemühen. Grettir schafft es hingegen, sich ganz und gar zu behaupten und dem angestrebten männlichen Ideal entsprechend gegen die Lästereien der Magd zu wehren; in diesem Sinne trifft Evans Feststellung im eingangs genannten Zitat auf ihn zu. Wut

ungeheuerlich, wie klein er unten herum gewachsen ist, denn das passt nicht zu seiner übrigen vollen Stärke.«  Grettis saga, S. 240; »›Das würde ich nicht glauben, wenn es mir jemand erzählen würde!‹«  Grettis saga, S. 240; »Sehr lang kann mir jungen Mann das Pferd unten im Wald der Schenkel [Wald der Schenkel = Schambehaarung; mit dem ›Pferd‹ ist dann der Penis gemeint] wachsen; erwarte ein Gefecht, Freyja der Inselbeine! [Freyja der Inselbeine = Frau, Mädchen]«  Vgl. Gade 1989, S. 61.  Vgl. Evans 2019, S. 123.  Grettis saga, S. 241; »Die Magd brüllte laut, aber sie gingen so auseinander, dass sie Grettir nicht mehr verspottete, als es zu Ende war.«  Phelpstead 2007, S. 430.

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und Betroffenheit, so scheint es trotz der fehlenden expliziten Darstellung, verleiten Grettir zu dieser Handlung.

4.1.4 Emotionen Eine stilistische Eigenheit der Isländersagas ist nämlich die häufig bevorzugte mittelbare Darstellung von Emotionen durch beobachtbare physische Ereignisse. Eine tatsächliche interne Wiedergabe der Gefühlswelt ihrer Figuren scheint nach den häufig gemachten Beobachtungen für die Erzähler dieser Texte meist keine Option zu sein.⁸³ Dadurch entspricht der Kenntnisstand des Erzählers nicht dem der Figuren, über die er berichtet. Nach Genettes Einteilung entspricht diese Haltung des Erzählers bezüglich des Informationsmanagements einer externen Fokalisierung, und nicht zuletzt dieser Umstand bestimmt das in der Forschung weit verbreitete Bild von den Isländersagas als Texte mit einem »objektiven« Erzählduktus.⁸⁴ In Bezug auf die externalisierte Darstellungsweise von Emotionen, die konsequenterweise dem genannten Fokalisierungsmuster folgt, schreibt Sif Ríkharðsdóttir: »such passages suggest an emotive script that favours somatic indicators over verbal expressions and indicates a valuation of reticence modulated into action over emotive expressiveness.«⁸⁵ Für Miller, auf dessen Arbeit Sif Ríkharðsdóttir sich bezieht, ist eindeutig, dass Emotionen in den Sagas hauptsächlich über ihre externalisierte Beschreibung ›gelesen‹ werden. Er gebraucht für diese körperliche Darstellung von Emotionen den Begriff »somatic semiotics«.⁸⁶ Diese Darstellungstechnik können wir ausführlich in der Egils saga beobachten, wo der Held nach dem Tod seines Bruders in der Halle des Königs Aðalsteinn sitzt, nicht spricht und stattdessen nur die Augenbrauen bewegt.⁸⁷ Die Innenperspektive nimmt der Erzähler an dieser Stelle zu keiner Zeit ein, gleichwohl eröffnet uns Egills Spiel mit den Augenbrauen ein Tor in dessen Gefühlswelt, in der sich nach dem Tod des Bruders alle möglichen starken Emotionen abwechseln.⁸⁸ Sofern Gefühle benannt werden, markiert dies eine »destabilisation of

 Vgl. dazu etwa die Bestandsaufnahme bei Crocker 2017, S. 240, darüber hinaus Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 1, und Miller 1992, S. 90 – 93.  Vgl. Sävborg 2017, insbesondere S. 112– 115, sowie Uecker 2017, S. 118, der die Beschreibungen von beobachtbaren Reaktionen auf Emotionen zur den Sagas eigenen »Objektivität« rechnet. Dies betrifft die Kategorien, die in der Erzählforschung als showing und telling bezeichnet werden: »[D]ie ›reine Erzählung‹ [ist] distanzierter […] als die ›Nachahmung‹«, Genette 2010, S. 104. Ein Beispiel für die Verringerung der narrativen Distanz durch interne Fokalisierung findet sich etwa in der Króka-Refs saga und wird in Kap. 4.3.1 besprochen.  Sif Rikharðsdóttir 2017, S. 1.  Miller 1992, S. 100.  Egils saga, S. 143 – 144.  Vgl. Schach 1978, S. 252. Emotionen in der Egils saga ging jüngst Sif Ríkharðsdóttir nach, wobei ihr Ausgangspunkt ebenfalls der beschriebene Eindruck eines »objektiven Stils« der Isländersagas ist, Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 57– 78.

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emotive balance«, und negative Gefühle werden verhältnismäßig häufiger angesprochen.⁸⁹ Die Darstellung von Njálls Sohn Skarpheðinn ist geprägt von einem als unheimlich beschriebenen Grinsen, das er in stressigen Situationen an den Tag legt. Die zehnmalige Beschreibung anhand des ansonsten recht ungebräuchlichen Verbums glotta ›grinsen‹ verleiht Skarpheðinns Grinsen die Eigenschaft eines »leitmotif to describe Skarphéðinn under strong emotional stress«.⁹⁰ Als er nach der Erschlagung Þráinn Sigfússons dessen Backenzähne aufs Eis schleudert, externalisiert er dieses Grinsen geradezu.⁹¹ Dieses Grinsen ist aber, wie Sif Ríkharðsdóttir anführt, nicht nur Marker für emotionalen Stress, sondern gleichzeitig ein Zeichen für dessen Überwindung: Wenn Skarpheðinn grinst, setzt er sich eine Maske auf, die die darunter liegenden Emotionen verdeckt.⁹² Mit diesem Verhalten schafft er es, die sozialen Erwartungshaltungen an die Affektkontrolle zu erfüllen. Sichtbare Zeichen von Emotionen werden ihm dagegen durch Erzählerkommentare als Schwäche ausgelegt und explizit als ungewöhnlich markiert.⁹³ Die Fähigkeit zur Beherrschung von Emotionen als Ausdruck emotionaler Stabilität beeinflusst die Wahrnehmung von Geschlechterrollen, weshalb der Vorwurf an Skarpheðinn, er habe möglicherweise während der brenna ⁹⁴ geweint (eine als unmännlich wahrgenommene affektive Gefühlsregung), schwer wiegt.⁹⁵ Eine spannende Beobachtung Millers ist, dass gerade ältere Sagahelden, die hinsichtlich ihrer Männlichkeit einem anderen Erwartungshorizont begegnen, sich auch beim Ausdruck von Emotionen tendenziell von jüngeren unterscheiden. Er verweist hierfür auf die Hávarðar saga Ísfirðings und die Egils saga, die wir beide bereits im Zusammenhang mit dem Faktor Alter besprochen haben.⁹⁶ Die Hauptfiguren beider Sagas zeigen – man könnte sagen: inszenieren – in den Szenen, in denen sie sich lange zu Bett begeben, deutlich offener ihre Emotionen, als dies für jüngere Sagahelden vertretbar zu sein scheint.⁹⁷

 Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 64.  Schach 1978, S. 254.  Njáls saga, S. 233.  Vgl. Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 133 – 134.  Vgl. Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 132.  Wörtlich bedeutet dieses Wort so viel wie »Brand« oder »Brandstiftung«, es bezeichnet in der isländischen Gesellschaft des Mittelalters eine radikale Möglichkeit zur Beendigung einer Fehde und steht für eine Art Mordbrand, bei dem ein Widersacher in einem unerwarteten Moment in seinem Haus gefangen und dieses angezündet wird, vgl. Marold 1978, S. 441– 442.  Vgl. Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 133, Ármann Jakobsson 2007a, S. 202, Andersson 1967, S. 63. Letzten Endes beantwortet die Saga die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht, da der einzige Zeuge, der sie beantworten könnte, Gunnar lambason ist, der diese Beobachtung als provokante Frage in den Raum stellt, vgl. Meulengracht Sørensen 1994, S. 486.  Vgl. Miller 1992, S. 102, und Kap. 4.1.1.  Miller zufolge ist dies unter anderem auf die schwindende Möglichkeit zur physischen Auseinandersetzung zurückzuführen, vgl. Miller 1992, S. 102– 103. Auf dieses Problem sind wir im Zusam-

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4.1.5 Sozialer Status Einen gewissen Teil des semantischen Raums der ergi-Konzepte nimmt der soziale Status eines Individuums ein. In der Grettis saga werden niedriger Status und ergi genannt, wenn es in einer an ein Sprichwort erinnernden Sentenz heißt, ein Sklave räche sich, wer argr sei, hingegen nie: [Þ]ræll einn hefnist, en argr aldri. ⁹⁸ Hier wird der Unterschied im sozialen Status dazu verwendet, eine strikte Trennung herzustellen zwischen einem Sklaven und jemandem, dem ergi zugeschrieben wird. Die Funktion dieses Sprichwortes ist es, eine soziale Rangordnung zu erstellen, in der ein Mann, der argr ist, noch unter einen Sklaven gestellt wird. Dabei unterscheiden sich Sklaven hinsichtlich der sozialen Anforderungen, die an sie und ihre Männlichkeit gestellt werden, bereits von gesellschaftlich höherrangigen Individuen.Verdeutlicht wird dies, wenn Sklavenfiguren noch während ihrer Figureneinführung Eigenschaften wie besondere Stärke oder Tüchtigkeit zugeschrieben werden, die oft den vorherrschenden Männlichkeitsidealen freier Männer vorbehalten sind: »[I]t is implicit that we should expect a slave to be lesser than a free man; these characters are remarked upon precisely because they are thought to be exceptional.«⁹⁹ Dass ein solcher Statusunterschied von der Sagagesellschaft durchaus auch auf einer nicht-impliziten Ebene bewusst wahrgenommen und instrumentalisiert werden kann, zeigt das Beispiel der Finnboga saga. Zu Beginn spielt das Thema des sozialen Status eine zentrale Rolle und in diesem Kontext wird der Status häufig thematisiert und unter Bezugnahme auf ergi pointiert. Der neugeborene Finnbogi wird als Kind von seiner Mutter Þorgerðr auf Veranlassung des Vaters Ásbjörn ausgesetzt. Þorgerðrs Amme Syrpa schickt am Tag von Þorgerðrs Niederkunft ihren Mann los, um eine Pflanze zu suchen, die in der vorliegenden Edition der Saga als brúngras bezeichnet wird.¹⁰⁰ Er findet dabei den kleinen zuvor ausgesetzten Urðarköttr (den späteren Finnbogi), der daraufhin zu Syrpa und ihrem Mann Gestr kommt und von ihnen aufgezogen wird. ¹⁰¹ Die beiden geben das Kind als ihr eigenes aus und nennen den Jungen Urðarköttr. Es wird wenig Zweifel daran gelassen, dass ein enormes Statusgefälle zwischen Finnbogis Herkunft und dem Umfeld seines Aufwachsens besteht. Dies äußert sich in dem Verhältnis von Finnbogis Vater zu Þorgerðrs Zieheltern. Über Syrpas Äußeres und die Beziehung zu ihr heißt es: Hverju kykvendi var hon leiðiligri at

menhang mit hvǫt bereits zu sprechen gekommen, vgl. Kap. 3.5. Kampf- und Konfliktfähigkeit als Teil eines idealen Männerbildes sehen wir später in Kap. 4.1.8.  Grettis saga, S. 44.  Vgl. Evans 2019, S. 102– 106, Zitat: S. 105.  Brúngras ist ein hapax legomenon, das uns außerhalb der Finnboga saga an keiner Stelle begegnet. Die in der Edition angebotene Lesung und die Deutung des Wortes als Bezeichnung für eine Färbepflanze sind mit Blick auf die Handschriftenüberlieferung nicht haltbar, vielmehr dürfte von einer Pflanze mit Bedeutung für die volksmedizinische Frauenheilkunde auszugehen sein, vgl. dazu Heizmann 2000.  Finnboga saga, S. 256.

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sjá, ok lítit var Ásbirni um hana. ¹⁰² Als Finnbogi heranwächst, wird sein höherer Geburtsstatus für jeden offensichtlich, da er groß, stark und sehr schön wird und nicht so recht in das Bild passt, das die Gesellschaft von dem Status seiner Zieheltern zu haben scheint – hier schlägt sich die implizite Bewertung der niedrigeren sozialen Schichten nieder. Trotz seiner stets beschriebenen Vortrefflichkeit kommt die Saga auf seine Streitlust mit den Mägden zu sprechen: Hann er nú umfangsmikill ok glímir við griðkonur. Þær taka nú fast á móti honum ok ganga at honum fjórar, ok varð nú mikit hark. ¹⁰³ Die daraus resultierende allgemeine Belustigung ist insoweit bemerkenswert, als er zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch kaum einen höheren Status aufweisen kann als die Mägde, mit denen er ringt. Ein Unterschied ergibt sich nur in der quantitativen Überlegenheit und der allgemeinen Beliebtheit, der er sich erfreut. Auf Veranlassung des Goden Þorgeirr hin, der anlässlich des Kampfes an der Herkunft des Jungen zweifelt, gibt es eine Aussprache zwischen den Betroffenen. Finnbogi, der immer noch Urðarköttr genannt wird, kehrt zurück an den Hof der leiblichen Eltern, wo er in seinen tatsächlichen Geburtsstatus eingesetzt wird. An dieser Stelle wandelt sich das Verhältnis zu den Mägden, und dieser Wandel wird unter anderem durch die Bezugnahme auf ergi thematisiert. Während der Abwesenheit seines Vaters für eine Thingversammlung kommt es im Stall zu Problemen mit einem Jungbullen und in der Folge zu einem Wortwechsel des nunmehr zwölfjährigen Finnbogi mit den Mägden des Hofes: Einn morgin kómu griðkonur inn æpandi ok sögðu, at graðungrinn hefði slegir niðr mjólkinni, – ›ertu þar, inn ragi Urðarköttr, ok er sem engi maðr sé, þar sem þú ert, þó at nökkurs þurfi við.‹ Ámæla þær honum í hverju orði ok hrekja. Urðarköttr mælti: »Því betr, at hann ferr verr með yðr, ok man ekki batna við þat, þó at þér illyrðið mik.« Þær hlaupa at honum ok mæltu: ›Far þú, inn góði Urðarköttr, ok hjálp okss við.‹ Lofa þær hann þá í hverju orði. Hann mælti þá: ›Miklu er þetta líkara ok athæfiligra, at biðja mik vel til, ok skal nú fara at vísu.‹¹⁰⁴

Das Ziel der Mägde, die Finnbogi derart beschimpfen, ist es, ihn zum Handeln zu bewegen, um den Bullen wieder zu besänftigen. Finnbogi, der bis kurz vor dieser Episode noch bei sozial niedriger stehenden Leuten aufgewachsen ist, wird nach dem Wechsel in seine eigentliche Herkunftssphäre von den Mägden als argr bezeichnet. Ihr  Finnboga saga, S. 255: »Unter allen Lebewesen war sie am furchtbarsten anzuschauen, und Ásbjörn lag wenig an ihr.«  Finnboga saga, S. 260: »Er war nun unbändig und raufte sich mit den Mägden. Sie stellten sich ihm entschlossen entgegen und gingen ihn zu viert an, und das führte zu einem großen Tumult.«  Finnboga saga, S. 263 – 264: »Eines Morgens kamen die Mägde schreiend herein und sagten, dass der Bulle die Milch umgeworfen habe, – ›bist du da, feiger [arger] Urðaköttr? Da wo du bist, ist es, als wäre gar kein Mann da, obwohl es eines Mannes bedürfte.‹ Sie redeten in jedem Wort schlecht über ihn und beschimpften ihn. Urðarköttr sagte: ›Umso besser, wenn er euch übel mitspielt, und das wird nicht besser werden, wenn ihr mich mit so üblen Worten bedenkt.‹ Sie liefen ihm entgegen und sprachen: ›Geh bitte, lieber Urðarköttr, und hilf uns!‹ Sie lobten ihn da mit jedem Wort. Er sprach: ›So ist es besser und passender, mich im Guten darum zu bitten! Ich werde jetzt gewiss gehen.‹«

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Ziel erreichen sie zwar erst, nachdem sie von dieser Bezeichnung abrücken und ihm gut zureden, allerdings wird auch deutlich, dass die ergi-Zuschreibung an diesem Punkt der Erzählung verletzender ist, als sie es davor gewesen wäre. Immerhin ist Finnbogi jetzt in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem er kaum den Vorwurf der Unmännlichkeit gelten lassen könnte – durch die Worte der Mägde fiele er sehr tief in der sozialen Rangordnung, da sie ihn sogar noch unterhalb seiner Zieheltern platzieren. Die Situation löst sich allerdings im Guten, als Finnbogi die Mägde zum Einlenken bewegt und mit der Erlegung des Bullen durch seine bloßen Hände die Möglichkeit hat, seine physische Kraft zu beweisen. Dies wird ihm anerkennend von den Hofleuten zugebilligt: Öllum þótti þetta it mesta þrekvirki orðit af tólf vetra gömlum manni. ¹⁰⁵ Wir bleiben nun im weitesten Sinne beim Tätigkeitsfeld der Mägde und wenden uns einer weiteren Kategorie zu, durch die ergi bedingt werden kann.

4.1.6 Milch Ein Aspekt, in dem sich Status- und Geschlechtergrenzen vermischen und der in den Sagas bisweilen vor diesem Hintergrund thematisiert wird, ist der Verzehr von Milch. Die Verknüpfung zwischen Milch und ergi kann daher auf zwei unterschiedlichen Ebenen funktionieren. Milch und Milchprodukten kommt innerhalb der Sagas und ihrem realhistorischen Kontext eine zentrale Bedeutung als Grundnahrungsmittel zu, allerdings scheint sie aufgrund ihrer Farbe und Textur situationsbedingt Anlass zu Spott zu geben.¹⁰⁶ Kraus spricht demzufolge von einer vorkommenden »Assoziation von Milch mit Sperma« und der Möglichkeit zum »Küchen-níð«, das sich zudem auf der Zugehörigkeit von Milch zum häuslichen Tätigkeitsbereich innan stokks beziehe.¹⁰⁷ Diese assoziative Verbindung ist dabei nicht alleine im Kontext der Sagas zu finden, sondern durchaus weit verbreitet.¹⁰⁸ Wichtig ist im interpretativen Zusammenhang mit ergi, Milch nicht per se in jeder vorkommenden Episode auf die angesprochene assoziative Parallele zu männlichem Ejakulat zu reduzieren. Diese Parallele ist nämlich nur eine von mehreren Ebenen, auf der Milch eine Verbindung mit ergi besitzen kann. Ein Zeugnis von der grundlegendsten Verschränkung der weiblichen Geschlechterrolle mit dem Thema Milch gibt uns die Flóamanna saga. Kurios sind hierin die  Finnboga saga, S. 264: »Allen schien das geradezu eine Heldentat zu sein, die von einem zwölfjährigen Kerl vollbracht wurde.«  Zur historischen, rechtlichen und sozialen Bedeutung von Milch in Island vgl. Kraus 2013, S. 20 – 26, und Jochens 1995, S. 122 – 123, die auf die Zugehörigkeit von Milch zur weiblichen Sphäre verweist.  Kraus 2013, S. 210 – 211, S. 202. Dazu dürfte sicherlich die Tatsache gehören, dass ein belegtes Schimpfwort für Männer mjólki ist, das Kraus mit ›Milchling‹ wiedergibt, Baetke hingegen mit ›Milchbart‹, Kraus 2013, S. 210, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. mjólki. Es dürfte aufgrund der hier aufgeführten Assoziationen tatsächlich stärker abwertend gemeint gewesen sein als beispielsweise das neuhochdeutsche Wort ›Milchbubi‹.  Vgl. Bourdieu 2005, S. 26.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

Ereignisse um Þorgils, die sich in Grönland abspielen, einem Ort, von dem es nicht umsonst heißt, er sei »a peripheral setting in which manhood is challenged and vigorously asserted«.¹⁰⁹ Þorgils überschreitet in dieser Saga die Geschlechtergrenzen und wird letzten Endes selbst als stillende Mutter inszeniert. Als seine Frau stirbt, verfällt er nicht nur in große Trauer, sondern er sorgt sich gleichzeitig darum, wie er fortan den gemeinsamen kleinen Sohn aufziehen kann. Er verletzt sich gezielt an der Brustwarze und es heißt: Fór fyrst út blóð, síðan blanda, ok lét eigi fyrr af en ór fór mjólk, ok þar fæddist sveininn upp við þat. ¹¹⁰ Sein Beispiel illustriert damit anschaulich die ganz grundsätzliche Assoziation von Milch mit Weiblichkeit, die über den Vorgang des Stillens hergestellt wird. Dabei scheint es dennoch notwendig zu sein, im Anschluss daran an seine tatsächliche Männlichkeit und sein Wirken útan stokks zu erinnern, wie es der Erzähler der Flóamanna saga in einem Nachsatz tut: Þeir Þorgils sóttu fast at veiðifangi ok gerðu sér einn húðkeip ok bjuggu innan með viðum. ¹¹¹ Die gesamte Episode zeigt sich Grove zufolge dennoch als eine »transgressive situation in the story, which reads like an attempt to enact and surpass the kind of ostentatiously implausible perversions of nature customarily invoked in the traditional rhetoric of Norse insult«.¹¹² Dass die Nähe zu den Bildern, aus denen sich níð speist, durchaus so erkannt wurde, zeigt der direkt angeschlossene Kommentar des Erzählers über die Jagd und den Bootsbau. Durch seine beschriebenen Tätigkeiten im Bereich des »Männlichen« wird seine Nähe zu ergi wieder relativiert und seine Männlichkeit gerechtfertigt.¹¹³ Zu Beginn der sehr kurzen Erzählung von Þorgrímr Hallason wird die Hauptfigur als vermögend und freundlich beschrieben.¹¹⁴ Nach einem Schneesturm, in dem sein Sohn umkommt, wird er bewusstlos aufgefunden und mit heißer Milch wieder aufgepäppelt: Var hann fluttr til bœjar ok nœrðr við heita mjólk. ¹¹⁵ Dies wird ihm später, als er am Hof des norwegischen Statthalters Kálfr Árnarson in Trondheim gastiert, zum Vorwurf gemacht, allerdings auf eine andere Weise, als es in den bisherigen Beispielen geschehen ist. Die isländischen Brüder Bjarni und Þorgrímr, die sich ebenfalls dort aufhalten, verspotten Þorgrímr: Þeir lofuðu Kálf mjǫk, en váru illa við Þorgrím ok

 Grove 2009, S. 33.  Flóamanna saga, S. 289; »Zuerst kam Blut heraus, dann ein Gemisch, und es hörte nicht auf, bis Milch herauskam. Damit wurde der kleine Junge ernährt.«  Flóamanna saga, S. 289; »Þorgils und die anderen widmeten sich der Jagd und machten sich ein Fellboot [= eine Art Kajak, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. húðkeipr] und verschalten es innen mit Holz.«  Grove 2009, S. 36. Dem gegenüber sieht Nijhoff in dieser Episode »een Christelijk wonder«, Nijhoff 1937, S. 72.  Auch Keens sieht keine nachhaltige negative Wirkung auf seine Männlichkeit: »[A]mong his friends and in accordance with the author’s careful description of the difficult choices he makes, Þorgils escapes association with being argr«, Keens 2016, S. 206. Ihr zufolge liegt dies aber daran, dass der erzählerische Fokus der körperlichen Devianz auf dem Oberkörper liegt, er also nicht etwa sorðinn sei und das Kind nicht geboren habe.  Þorgríms þáttr Hallasonar, S. 299.  Þorgríms þáttr Hallasonar, S. 300; »Er wurde zum Hof gebracht und mit heißer Milch am Leben gehalten.«

4.1 Aspekte von ergi

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rœgðu hann mjǫk. ¹¹⁶ Ein gesonderter Grund wird noch nicht angegeben, wohl aber das Wort rœgja verwendet, das als Ableitung von ergi darauf hindeutet, dass Þorgrímr hier Unmännlichkeit unterstellt wird. Diesen Verdacht stützt der Umstand, dass die Episode mit seinem Schwächeanfall der Episode in Norwegen vorausgeht. Kurz darauf gibt es dahingehend Gewissheit, als Bjarni ihn angeht: ›Þegiðu, skemmðarmaðrinn; þú slótt á þik skrópasótt, til þess at hellt var í þik mjólk á imbrudǫgum út á Íslandi.‹ ¹¹⁷ Der hierin zutage kommende ergi-Vorwurf leitet sich dem Kontext nach nicht aus der gedanklichen Verbindung zwischen Milch und passivem homosexuellen Verkehr oder einem niedrigen Status ab, wie es in den zuvor genannten Beispielen der Fall war. Vielmehr impliziert Bjarnis Aussage, dass er Þorgrímr Gier und die Missachtung religiöser Gebote vorwirft. Beides lässt sich aber durchaus als moralische Verfehlung dem semantischen Spektrum von ergi zuordnen. Auch andernorts in den Sagas wird Milch im Rahmen eines kriselnden männlichen Selbstbildes erwähnt. Der gealterte und um seine Söhne trauernde Egill wird durch einen Trick seiner Tochter davon abgehalten, sich selbst zu Tode zu hungern, indem sie ihn dazu bringt, Milch zu trinken.¹¹⁸ Er entschließt sich daraufhin weiterzuleben und verfasst eines seiner berühmtesten Gedichte, das Sonatorrek, in dem er seine Ohnmacht gegenüber dem Schicksal und Odin beklagt, der ihm die Söhne und damit die Aussicht auf das Weiterbestehen seiner familiären Linie genommen hat.¹¹⁹ Insgesamt handelt es sich um eine stark aufgeladene Szene, in der untypischerweise sehr häufig auf Emotionen Bezug genommen wird.¹²⁰ Vorhin haben wir bereits erwähnt, dass die Assoziation von Milch mit ergi auf zwei Ebenen funktioniert, deren zweiter wir uns nunmehr zuwenden. Die einleitend ebenfalls bereits erwähnte Assoziation von Milch mit Sperma begegnet uns in der Grettis saga, als Grettir sich im Skagafjǫrðr aufhält und dort mit einem Mann namens

 Þorgríms þáttr Hallasonar, S. 300; »Sie lobten Kálfr sehr, waren aber Þorgrímr gegenüber böse und verleumdeten ihn sehr.«  Þorgríms þáttr Hallasonar, S. 301; »›Schweig, du schandhafter Kerl! Du hast dir eine simulierte Krankheit zugezogen, damit dir da draußen auf Island während der Fastentage Milch eingeschüttet wurde.«  Egils saga, S. 245.  Vgl. insbesondere Sonatorrek Str. 4, Egils saga, S. 247.  Vgl. oben Kap. 5.1.4 und die Besprechung bei Sif Ríkharðsdóttir 2017, S. 70 – 71. Ähnlich wie dem gealterten Egill der Egils saga ergeht es in Snorris Ynglinga saga dem König Aun (oder Áni), der sich sein langes Leben durch die Opferung seiner Söhne erkauft. Für jeden so geopferten Sohn erhält er vom Gott Óðinn einige weitere Jahre, während derer er sark verfällt. Zunächst muss er auf einem Stuhl herumgetragen werden, dann wird er bettlägerig und zum Schluss heißt es von ihm: Þá drakk hann horn sem lébarn, Ynglinga saga, S. 49; »Da trank er aus dem Horn wie ein kleines Kind«. Wir dürfen aufgrund dieses Hinweises annehmen, dass es sich bei dem Getränk um Milch handelt. Nach diesem Stadium wird von seinem Tod berichtet und es wird gesagt: Þat er síðan kǫlluð Ánasótt, ef maðr deyr verklauss af elli, Ynglinga saga, S. 49; »Es heißt danach Áni-Krankheit, wenn ein Mann untätig vom Alter stirbt«. Hier wird wie in der Egils saga das Trinken von Milch und das hohe Alter als Zeichen von Unmännlichkeit aufgefasst, wobei beide Figuren ihre Söhne verlieren. Ein interessantes Detail ist zudem, dass Auns/Ánis überlebender Sohn den Namen Egill trägt, vgl. Heimskringla, S. 50.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

Auðunn aneinandergerät, mit dem er noch eine Rechnung aus Kindheitstagen offen hat:¹²¹ ›Ek vil berjask við þik,‹ sagði Grettir. ›Sjá mun ek fyrst ráð fyrir mat mínum,‹ sagði Auðunn. ›Vel má þat,‹ sagði Grettir, ›ef þú mátt eigi ǫðrum mǫnnum at því hlíta.‹ Auðunn laut þá niðr ok þreif upp skyrkyllinn ok sletti framan í fang Gretti ok bað hann fyrst taka við því, er honum var sent. Grettir varð allr skyrugr; þótti honum þat meiri smán en þó at Auðunn hefði veitt honum mikinn áverka. ¹²²

Nicht zuletzt anhand von Grettirs Beurteilung, die wir interessanterweise in Innensicht miterleben, wird die männlichkeitsbezogene Schmähung deutlich, die bereits vom Bild des mit Skyr übergossenen Sagahelden bei den Rezipierenden evoziert wird. Doch damit nicht genug: »Die Saga verstärkt die Geste durch ihre Wortwahl: Den Ledersack, den Auðunn Grettir in die Arme wirft, nennt sie einen kyllir, was neben ›Beutel‹ auch ›Hodensack‹ bedeutet.«¹²³ Letztlich bleibt es aber bei einer Szene unter vier Augen, die nicht an die Öffentlichkeit gelangt und daher keine langfristigen Folgen für den Plot der Saga hat.¹²⁴ Schwieriger nachzuvollziehen ist indes die von Tirosh vorgeschlagene Deutung einer Szene in der Egils saga, in der der Protagonist nach dem Verzehr von Skyr bei einem Fest auf die angenommene Beleidigung des Gastgebers hin damit reagiert, dass er sich über diesen erbricht.¹²⁵ Tirosh zufolge müsse davon ausgegangen werden, dass Egills Erbrochenes aufgrund der vorangegangenen Mahlzeit weiß sei, was letztendlich einer Dominanzgeste Egills gegenüber dem Gastgeber Ármóðr gleichkomme.¹²⁶ Eine zentrale und wiederum explizite Bedeutung erlangt die gedankliche Verbindung zwischen Milch und Ejakulat schließlich in der C-Version der Ljósvetninga saga, wo sie mehrfach gezielt zur programmatischen Dekonstruktion des Protagonisten eingesetzt wird.¹²⁷ Im nun folgenden Kapitel werden wir leichte Anklänge an die Szene aus der Flóamanna saga sehen, da auch hier Assoziationen mit dem Stillen eine Rolle spielen.

 Grettir fällt zuvor in seiner Saga durch das Aufsagen einer Strophe auf, die auf den ersten Blick níð darstellen soll, auf den zweiten jedoch harmlos ist. Bezeichnenderweise geht es in dieser Strophe unter anderem um den Verzehr von drafli, einem Milchprodukt. Diesen Umstand wie auch das Ballspiel in der Kindheit thematisieren wir in Kap. 4.3.4.  Grettis saga, S. 96; »›Ich möchte mit dir kämpfen‹, sagte Grettir. ›Ich muss mich zuerst um mein Essen kümmern‹, sagte Auðunn. ›Das ist mir recht‹, sagte Grettir ›wenn du dich in dieser Sache nicht auf andere verlassen kannst [=das niemand für dich tut].‹ Auðunn bückte sich da, nahm einen Fellsack mit Skyr, warf ihn Grettir zu und bat ihn, erst das anzunehmen, was ihm geschickt wurde. Grettir wurde da von oben bis unten mit Skyr vollgespritzt. Das schien ihm eine größere Schmähung zu sein als wenn Auðunn ihm eine große Wunde zugefügt hätte.«  Kraus 2013, S. 210.  Grettis saga, S. 97. Vgl. Kraus 2013, S. 210. Das Thema ›Öffentlichkeit‹ im Zusammenhang mit níðAnwendern behandeln wir in Kap. 4.2  Egils saga, S. 225 – 228.  Vgl. Tirosh 2016, S. 263 – 264.  Vgl. Kap. 4.3.3.

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4.1.7 Verstoß gegen Kleidungsnormen und Cross-Dressing Gelegentlich kommt es vor, dass Figuren Kleidung tragen, die Status und Geschlecht nicht angemessen ist. In dieser Hinsicht können also Status- und Geschlechterthematik vermischt werden. Cross-Dressing wurde durch die isländischen Gesetze als strafbares Vergehen geahndet. Im Festa-þáttr-Abschnitt der Konungsbók, der sich mit Verlöbnissen, Sittlichkeit und dem geordneten Leben in der Ehe beschäftigt, erscheint ein längerer Abschnitt, der sich sehr ausführlich mit Kleidungsnormen befasst und Frauen wie Männern das Tragen andersgeschlechtlicher Kleidung unter dem Schlagwort breytni verbietet.¹²⁸ Diese strikte Regelung,¹²⁹ die dreijährige Landesacht für Cross-Dressing vorsieht, betrifft beide Geschlechter. Das Wort breytni macht klar, dass dieses Verhalten in der Wahrnehmung deutlich von der Norm abweicht.¹³⁰ Guðrún Ósvífrsdóttir, eine der zentralen Figuren der Laxdœla saga, ist mehrmals (teilweise gegen ihren Willen) verheiratet worden und sucht einen Weg aus diesen Ehen heraus. Hilfreich bei der Erlangung dieses Ziels sind ihr die engen sozialen Strukturen der Sagagesellschaft und die vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen über Männer- und Frauenrollen in Bezug auf die Kleidung. Die erste ungewollte Ehe ist die mit Þorvaldr Halldórsson, der von einem niedrigeren sozialen Status ist als sie.¹³¹ Er erklärt zwar, dass er die Frau begehre und nicht das Geld,¹³² bekommt bald darauf aber die Grenzen seines Status aufgezeigt, als sie ihn um Schmuck bittet, den er ihr wegen seiner eingeschränkten finanziellen Mittel nicht schenken kann. Er wirft ihr daraufhin Maßlosigkeit¹³³ vor und gibt ihr eine Ohrfeige (Þorvaldr kvað hana ekki hóf at kunna ok sló hana kinnhest).¹³⁴ Diesen Vorfall bringt sie bald darauf zur Sprache, als sie mit Þórðr unterwegs ist, und fragt ihn um Rat, wie sie mit der Situation verfahren soll. Seine Antwort fällt eindeutig aus: Þórðr brosti at ok mælti: ›Hér kann ek gott ráð til. Gerðu honum skyrtu ok brautgangs hǫfuðsmátt ok seg skilit við hann fyrir þessar sakar.‹ Eigi mælti Guðrún í móti þessu, ok skilja þau talit. Þat sama vár segir Guðrún skilit við Þorvald ok fór heim til Lauga. ¹³⁵

 Konungsbók II, S. 47.  Kirsten Wolf spricht von einer »Deuteronomic injunction«, Wolf 1997, S. 675.  Vgl. Hiltmann 2011, S. 285.  Vgl. Sayers 1992, S. 132. In der Saga selbst heißt es dazu, als sich die Eheschließung anbahnt, dass þau Guðrún váru eigi jafnmenni; »er und Guðrún nicht ebenbürtig waren«, Laxdœla saga, S. 93.  Laxdœla saga, S. 93.  Dieser Vorwurf ist wohl doppeldeutig, war doch kurz zuvor Guðrúns späterer Ehemann Þórðr Ingunnarson bei den beiden zu Gast, was zu Gerüchten über eine Annäherung der beiden verleitete (ok fell þar mǫrg umrœða á um kærleika þeira Þórðar ok Guðrúnar, Laxdœla saga, S. 93). Darauf bezogen ist es denkbar, dass Þorvaldr in seiner Kritik den Vorwurf sexueller Maßlosigkeit dahingehend impliziert, dass Guðrún rǫg sei.  Laxdœla saga, S. 93; »Þorvaldr sagte, dass sie kein Maß kenne und gab ihr eine Ohrfeige.«  Laxdœla saga, S. 94; »Þórðr lächelte darüber und sagte: ›Hierfür weiß ich gute Abhilfe. Mach ihm ein Oberteil mit einem Ausschnitt, der Anlass zur Scheidung gibt und gib die Scheidung wegen dieser

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Die Saga berichtet zwar nicht direkt davon, ob Guðrún diesem Ratschlag folgt, dennoch ist aufgrund der Bekanntgabe der Scheidung davon auszugehen, dass sie es tut.¹³⁶ Das Gewand, das sie ihm schneidert und das die Brustwarzen nicht verdeckt,¹³⁷ wird als weiblich konnotiert aufgefasst, obwohl – anders, als es die Saga vermuten lässt¹³⁸ – ein Hemd für Frauen die Brustwarzen ebenfalls bedeckte. Erklären lässt sich diese Stelle jedoch, wenn man sich vor Augen hält, »dass, wie archäologische Funde belegen, das im Altnordischen ebenfalls als ›Hemd‹ bezeichnete Unterkleid der Frau einen wesentlich weiteren Ausschnitt besaß als das der Männer«¹³⁹ – die Sichtbarkeit der Brustwarzen reichte wohl schon aus, um die gedankliche Verbindung zum weiblichen Hemd herzustellen. Darüber hinaus lassen entblößte Brustwarzen grundsätzlich Assoziationen mit dem Stillen aufkommen, das eine weibliche Tätigkeit ist. Die mit dem Tragen weiblicher Kleidung konnotierte Effemination stellt einen nicht ohne weiteres zu tilgenden Makel dar, der eigentlich durch einen Racheakt wieder behoben werden müsste.¹⁴⁰ Dass dies nicht passiert, könnte »die soziale Hierarchie der beiden Ehepartner [reflektieren]«.¹⁴¹ Das weiblich wirkende Gewand rechtfertigt also nicht nur durch das ihm innewohnende soziale Stigma (immerhin macht es für Außenstehende sichtbar, dass er sich in der Ehe seiner Frau unterordnet)¹⁴² die Scheidung zwischen Guðrún und Þorvaldr, es ist stummes Zeichen für hierarchische Unterschiede. Nachdem Guðrún die rechtsgültige Auflösung ihrer Ehe erreicht hat, steht ihr noch Þórðrs Ehefrau Auðr im Weg, bevor sie diesen heiraten kann. Sie spinnt eine Intrige gegen Auðr; es folgt eine der wenigen Textstellen in der altnordischen Literatur, die eine Abweichung von der weiblichen Geschlechternorm thematisieren, als sie Þórðr während eines Gesprächs auf dem Thing mit konkreten Anschuldigungen konfrontiert:

Angelegenheit bekannt.‹ Guðrún widersprach dem nicht, und sie beendeten das Gespräch. Im selben Frühjahr gab Guðrún die Scheidung von Þorvaldr bekannt und begab sich nach Hause nach Laugar.«  Vgl. Sayers 1992, S. 134.  Hier nimmt der Erzähler – wohl aus strategischen Gründen – einen logischen Bruch in Kauf, denn er liefert keine Erklärung dafür, weshalb Þorvaldr dieses Gewand anlegt und sich damit (man darf unterstellen: öffentlich) zeigt, obwohl er sich über die Folgen im Klaren sein müsste. Die Darstellung von Þórðrs entblößten Brustwarzen zur narrativen Motivation der darauffolgenden Scheidung genießt gegenüber der kohärenten Darstellung von Þórðrs Handeln Vorrang.  Es sei nämlich ein Scheidungsgrund, ef [maðr] hefir hǫfuðsmátt svá mikla, at sjái geirvǫrtur hans berar; »wenn [ein Mann] einen so großen Ausschnitt hat, dass man seine nackten Brustwarzen sehen kann«: Laxdœla saga, S. 96.  Sauckel 2014, S. 105.  Vgl dazu Sauckel 2014, S. 106. Vor dem Hintergrund der starken sozialen Stigmatisierung scheint es wenig glaubhaft, dass Guðrúns Intrige keine langfristigen Folgen für Þorvaldr haben würde, wie es etwa William Sayers sieht (»there is no reason to think the subsequent life of her former husband was seriously impaired by the contrived breach of the social code«, Sayers 1992, S. 134) – ganz im Gegenteil, genau dieser Bruch mit der Norm ist so schwerwiegend, dass er sogar eine Scheidung rechtfertigt.  Sauckel 2014, S. 107.  Vgl. Sauckel 2014, S. 107.

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[Þ]á mælti Guðrún: »Hvárt er þat satt, Þórðr, at Auðr, kona þín, er jafnan í brókum, ok setgeiri í, en vafit spjǫrrum mjǫk í skúa niðr?« Hann kvazk ekki hafa til þess fundit. ›Lítið bragð mun þá at,‹ segir Guðrún, ›ef þú finnr eigi, ok fyrir hvat skal hon þá heita Bróka-Auðr?‹¹⁴³

Die Lüge,¹⁴⁴ die Guðrún sich hier erdacht hat und laut äußert, ist von tragender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Sagahandlung: In mehrfacher Hinsicht wird betont, dass die Kleidung, die Auðr trägt, einer Frau nicht angemessen sei.¹⁴⁵ Dabei findet eine Überlagerung und Verschränkung von Anspielungen auf umgekehrte Geschlechterrollen und Statusgefälle statt: Auðrs Hosen sind bereits per se männlich konnotiert, aber in den Details von Guðrúns Beschreibung treten weitere Anspielungen hervor. Da wären zum einen die Beinriemen (vafspjarrar ¹⁴⁶), die als Zeichen von Macht und Status¹⁴⁷ – ein Wiederaufgreifen des Themas soziale Hierarchie – getragen werden. Zum anderen wird explizit der Zwickel (setgeiri) betont, der zweifelsfrei bestätigt, dass Auðr eine Hose und kein anderes Kleidungsstück trägt. Guðrúns Betonung genau dieses Elements ist bemerkenswert, kommt ihm doch ansonsten in der altnordischen Literatur so gut wie keine Beachtung zu.¹⁴⁸ Es handelt sich dabei um ein

 Laxdœla saga, S. 95; »Da sagte Guðrún: ›Ist es wahr, Þórðr, dass deine Frau Auðr immer Hosen und einen Zwickel anhat, und ganz unten an den Schuhen eine Wickelumhüllung?‹ Er sagte, davon wisse er nichts. Guðrún sagte: ›Wenig heißt das, wenn du davon nichts weißt – weswegen soll sie denn sonst Hosen-Auðr heißen?‹«  Darauf, dass es sich um eine Lüge handelt, lässt Þórðrs folgende Einlassung schließen, man nenne seine Frau wohl erst seit kurzem Bróka-Auðr (Hosen-Auðr): »Vér ætlum hana litla hríð svá hafa verit kallaða«; »›Wir denken, dass sie schon eine kleine Weile so genannt wurde.‹«: Laxdœla saga, S. 95 – Guðrún wäre somit die Erste, die diese Aussage überhaupt in die Welt gesetzt hat, vgl. Sauckel 2014, S. 106.  Frauen, die Hosen tragen, kommen nicht oft in der Sagaliteratur vor. In der Ljósvetninga saga ist es Þórhildr, die Guðmundr die Vorzeichen deutet und dabei Hosen trägt, wobei diese Tatsache von der Saga nicht explizit bewertet wird (Ok var Þórhildr úti ok gyrð í brœkr ok hafði hjálm á hǫfði ok øx i hendi, Ljósvetninga saga, S. 59: »Und Þórhildr war draußen und in Hosen gegürtet. Sie hatte einen Helm auf dem Kopf und eine Axt in der Hand«); ihr Hosentragen steht dort wohl in Verbindung mit der kriegerischen Ausrüstung für ihr magisches Wirken. Außerdem trägt Hallgerðr in der Njáls saga den Beinamen langbrók (›Langhose‹), was möglicherweise eher auf unterstellte nymphomanische Züge anspielt als auf ein tatsächliches Tragen von Hosen.  Dabei handelt es sich um »Wadenbinden aus Stoff, die um die hosur [an dieser Stelle: brœkr, Anm.] gewickelt wurden«, Sauckel 2014, S. 153.  Ein Beispiel für Beinriemen oder Wadenwickel als Machtsymbol begegnet uns im neunten Kapitel der Bjarnar saga Hítdœlakappa, wo Bjǫrn von König Óláfr inn helgi dessen Beinriemen überlassen bekommt, nachdem er sie aus Versehen nach einem gemeinsamen Bad angezogen hat.Weiter heißt es, solche Beinriemen, die vom Schuh bis zum Knie gewickelt wurden, hätten zu dessen Zeit alle vornehmen und mächtige Männer getragen, Bjarnar Hítdœlakappa, S. 133 – 134. Diese Information gibt einen Hinweis darauf, dass Beinwickel durchaus als literarisches Motiv im Kontext mit Status und Macht gesehen werden konnten. Von Bjǫrn wird gesagt, dass er die Beinriemen des Königs ein Leben lang getragen hätte und diese noch Jahre später bei der Exhumierung seiner sterblichen Überreste völlig unverwest gewesen wären, Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 134). Im Anschluss erfahren sie eine Verwendung als Reliquie in der nahegelegenen Kirche.  Vgl. Jochens 1991c, S. 12.

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in die Hose eingenähtes Stück Stoff, das durch die sichtbare Betonung des männlichen Schritts schon von weitem eine optische Möglichkeit zur Geschlechterdistinktion bietet.¹⁴⁹ Die Bedeutung der Tatsache, dass Auðr »die Hosen anhat«, liegt auf der Hand: Sie überschreitet die Geschlechtergrenzen zu Þórðrs Nachteil und stellt somit seine Männlichkeit in Frage, entsteht doch in der Folge Unklarheit unter anderem über die Rollenverteilung innerhalb und außerhalb des Haushaltes, was eine ungeheuerliche Bedrohung darstellt. Dies muss ihm aufgrund der zuvor sichtbar gemachten Unterordnung eines Mannes unter die Frau innerhalb der Ehe noch erinnerlich sein, da zuvor genau diese Konstellation zur Scheidung von Guðrún und ihrem Exmann geführt hat. Da diese »Aufwertung« (neutraler wäre vielleicht: Umwertung) von Þórðrs Frau durch die Infragestellung der Rollen seine Männlichkeit berührt und es nicht in seinem Interesse steht, seine vermeintliche Duldung eines solchen Männlichkeitsverlusts öffentlich bekannt werden zu lassen, muss Þórðr handeln. Dennoch erinnert Guðrún ihn noch einmal eindeutig an die negativen Folgen von Auðrs Kleidungswahl.¹⁵⁰ Er erkundigt sich daher, wie er in seiner Situation weiter verfahren soll, um Schande abzuwenden.¹⁵¹ Guðrúns Antwort ist ebenso lapidar wie eindeutig und bei Þórðrs Nachfrage, den besten Zeitpunkt für die Scheidung betreffend, legt sie noch nach, indem sie erneut seine Männlichkeit in Frage stellt: ›Slíkt víti á konum at skapa fyrir þat á sitt hóf sem karlmanni, ef hann hefir hǫfuðsmátt svá mikla, at sjái geirvǫrtur hans berar, brautgangssǫk hvárttveggja.‹ Þá mælti Þórðr: ›Hvárt ræðr þú mér, at ek segja skilit við Auði hér á þingi eða í heraði […]?‹ Guðrún svarar stundu síðar: ›Aptans bíðr óframs sǫk.‹ ¹⁵²

Die Unterstellung, er wäre zaghaft (óframr), falls er die Scheidung nicht gleich auf dem Thing durchführen wolle, gibt Þórðr den letzten Anstoß dazu, diese Scheidung von Auðr wegen der bereits bekannten Anschuldigung sofort auf dem Thing zu erklären

 Vgl. Jochens 1991c, S. 12.  Laxdœla saga, S. 95.  An dieser Stelle nimmt die Saga einen weiteren logischen Bruch in Kauf: »Nor does he – although described as a very skilled lawyer – appear to be aware of the fact that female cross dressing was grounds for divorce, because one day he asks Guðrún what the penalty is for a woman who always wears breaches like a man’s«, Wolf 1997, S. 677. Kirsten Wolf merkt hier an, dass zusätzlich dazu er ja gerade derjenige war, der Guðrún auf die Idee gebracht hatte, geschlechtlich nicht eindeutige Kleidung als inszenierten Grund für eine Scheidung vorzuschieben. Dieser logische Bruch mag dem faszinierten Interesse des Erzählers daran geschuldet sein, die Überschreitung von Normgrenzen möglichst ausführlich zu beschreiben und die daraus folgenden Konsequenzen zu schildern.  Laxdœla saga, S. 96; »›So muss Frauen eine Strafe im gleichen Maß zugeteilt werden wie einem Mann, wenn er einen so großen Ausschnitt hat, dass seine blanken Brustwarzen sichtbar sind, beides ist Grund für eine Scheidungsklage.‹ Da sagte Þórðr: ›Rätst du mir, dass ich Auðr auf dem Thing oder im Bezirk die Scheidung erkläre?‹ Guðrún antwortete ein wenig später: ›Die Sache des Zaghaften muss auf den Abend warten.‹«

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(hann segir skilit við Auði, ok fann þat til saka, at hon skarsk í setgeirabrœkr sem karlkonur).¹⁵³ Diese Anschuldigungen stoßen ihren auf dem Thing anwesenden Brüdern zwar übel auf (Brœðrum Auðar líkar illa),¹⁵⁴ doch sie ergreifen aufgrund mangelnder Unterstützung durch andere nicht die Initiative, um die Ehre der Schwester wiederherzustellen. Da dieser Verlust an Ansehen allerdings wieder ausgeglichen werden muss, liegt es nun an Auðr selbst, die Rache zu vollziehen.¹⁵⁵ Sie reitet los, um Rache an Þórðr zu nehmen, wobei wir erfahren, dass sie Hosen trägt.¹⁵⁶ Dieses Mal jedoch ist das Tragen von Hosen keine Übertretung ihrer Geschlechterrolle, da sie an dieser Stelle die (männlich besetzte) Rächerrolle ihrer Brüder übernommen hat. Sie findet Þórðr schlafend in seinem Bett vor und weckt ihn. Dann verletzt sie ihn mit dem Schwert an der Brust (varð hann sárr á báðum geirvǫrtum ¹⁵⁷). Diese Art der Verletzung greift die Erniedrigung Þorvaldrs durch Guðrún wieder auf: »When Aud managed to gash Thord with a knife across both his nipples, she, in effect, cut him a shirt of the same low neckline that Gudrun had cut for her first husband.«¹⁵⁸ Sie lässt ihn also dieselben Konsequenzen spüren, die sein Ratschlag an Guðrún für Þorvaldr bedeuteten.¹⁵⁹ Þórðr selbst erholt sich nie vollständig von den Wunden, die Auðr ihm zugefügt hat (Þórðr lá lengi í sárum, ok geru vel bringusárin, en sú hǫndin varð honum hvergi betri til taks en áðr ¹⁶⁰), er legitimiert allerdings ihr Handeln, indem er es ausdrücklich als in ihrer Situation notwendig und angemessen bezeichnet: [Hann] sagði hana slíkt hafa at gǫrt, sem hon átti. ¹⁶¹ Damit muss Auðr nicht mit weiteren Konsequenzen für ihre Rache rechnen. Diese Episode aus der Laxdœla saga ist, wie bereits erwähnt, einzigartig in den direkt aufeinander folgenden kontrastiven Darstellungen von weiblicher und männlicher Übertretung der Geschlechtergrenzen durch Cross-Dressing. Sie zeigt auf, dass diese Übertretung für beide Geschlechter gleich stigmatisierend ist. Wegen der Schwere allein eines Verdachtes auf Effemination bei einem Mann ist es einer einzelnen Figur möglich, zwei Ehen auseinanderzubringen, indem sie diese Vorwürfe ins Spiel bringt. Guðrún steht innerhalb der Saga in einer Reihe von »queenly figures«,¹⁶²

 Laxdœla saga, S. 96; »Er erklärte sich für geschieden von Auðr, und machte ihr das zum Vorwurf, dass sie sich in Hosen mit Zwickel sehen ließ.«  Laxdœla saga, S. 96; »Auðrs Brüdern missfiel das.«  »Die Tatenlosigkeit ihrer Brüder bringt Auðr schließlich in die missliche Lage, ihre gekränkte Ehre selbst wiederherstellen zu müssen, indem sie zum Schwert greift und ihren früheren Ehemann schwer verwundet«, Sauckel 2014, S. 107.  Laxdœla saga, S. 97: [O]k var hon þá at vísu í brókum; »Und da war sie in Hosen zu sehen.«  Laxdœla saga, S. 98; »Er wurde an beiden Brustwarzen verletzt.«  Miller 1990, S. 354– 355, Anm. 35.  Vgl. Miller 1990, S. 354– 355, Anm. 35.  Laxdœla saga, S. 98. Helga Kress merkt an, dass die Lähmung seines Schwertarmes einer Kastration gleichkomme, vgl. Kress 2004, S. 281.  Laxdœla saga, S. 98; »[Er] sagte, sie habe nur getan, was sie tun musste.«  Andersson 2006, S. 133.

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für die Status von zentraler Bedeutung ist. Dieses Thema wurde in der Saga bereits mit der Landnehmerin Unnr djúpúðga etabliert, die als Ahnherrin und Matriarchin bei der Besiedlung der Region fungiert. Mit der statusbasierten Motivation für ihr Handeln spielt der Erzähler anhand von Guðrún dieses Thema der Saga erneut durch und verknüpft es mit der Thematisierung von Männlichkeiten, die als Kontrastfolie dient. Þorvaldrs effeminiert wirkendes Hemd steht nicht nur für seine Unterordnung unter die Ehefrau und die damit verbundene Unfähigkeit, das Paar nach außen zu vertreten, sondern dient möglicherweise gleichzeitig als narratives Mittel, um das große Gefälle in der sozialen Hierarchie zwischen den beiden zu verdeutlichen. Auðr stellt ebenfalls die Rollenverteilung zwischen ihr und ihrem Mann in Frage, indem sie (anfangs angeblich, bei der Rache dann tatsächlich; dies entspricht aber wiederum der Rolle, die eine Frau ohne gesetzliche Vertreter einnimmt) Hosen trägt. Beide tragen nach der Scheidung ein soziales Stigma, da der Grund in beiden Fällen klar benannt wird. Für Auðr besteht jedoch die Möglichkeit, die männliche Rolle im gesellschaftlichen Sinne zu adaptieren, indem sie Rache für ihre Schmach übt. Auf den Punkt gebracht, könnte man also sagen: »While for women cross dressing freed them from the constraints of their sex, for men cross dressing was inhibiting, since femininity constricted freedom and involved status loss.«¹⁶³ Ob man sich dieser Ansicht letztendlich anschließt, hängt davon ab, inwiefern man den auf Auðr ruhenden gesellschaftlichen Zwang zur Rache als Voraussetzung für ihr selbstbestimmtes Ausbrechen aus der weiblichen Geschlechterrolle betrachtet.

4.1.8 Kampf- und Konfliktfähigkeit Einen ähnlich schandhaften Statusverlust wie Cross-Dressing kann es für Männer nach sich ziehen, den gestellten Erwartungen an ihre physische Behauptungskraft nicht zu entsprechen. Die Sagagesellschaft ist in ihrem Kollektivurteil unerbittlich gegenüber denen, die sie in den zentralen Fragen um die Beilegung von Konflikten für zu weich hält. Über Þórarinn svarti in der Eyrbyggja saga wird gesagt, er sei konfliktscheu, weshalb seine Gegner ihm unterstellen, er gleiche mehr einer Frau als einem Mann.¹⁶⁴ Als in der Njáls saga Tumulte ausbrechen und eine der Parteien flieht, lässt sich ein Mann namens Sǫlvi aus diesem Anlass zu der Frage hinreißen ›Hvárt munu þessir allir ragir Austfirðingarnir, er hér flýtja?‹,¹⁶⁵ was ihm selbst den Tod bringt. Im Þorsteins þáttr stangarhǫggs sind der Zweifel am dargestellten Hergang eines Pferdekampfes und die fehlende Konsequenz bei der Verfolgung einer Regelverletzung initiale Auslöser der weiteren Handlung, die sich um Ächtung und Rache dreht.  Wolf 1997, S. 681.  Eyrbyggja saga, S. 27: Svá var hann maðr óhlutdeilinn, at óvinir hans mæltu, at hann hefði eigi síðr kvenna skap en karla; »Er war ein so konfliktscheuer Mensch, dass seine Feinde sagten, er hätte von seiner Art her mehr etwas von einer Frau als von einem Mann.«  Njáls saga, S. 407; »Sind das alles feige [argr] Leute aus den Ostfjorden, die hier fliehen?«

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Nach der Vorstellung des Pferdezüchters Þórarinn und seines Sohnes Þorsteinn, der wegen seiner Stärke Arbeit für drei Männer verrichten kann, wird berichtet, wie dieser sich mit einem Knecht des Häuptlings Bjarni zum Pferdekampf verabredet. Þórðr, so der Name des Knechts, wird als ójafnaðarmaðr bezeichnet. Der Kampf verläuft dementsprechend anders als wohl von Þorsteinn erwartet, da sein Kontrahent nicht mit fairen Mitteln kämpft. Als die Pferde beginnen, einander zu beißen, und Þórðr absieht, dass er den Kürzeren ziehen könnte, schlägt er nach Þorsteinns Pferd. Als Reaktion auf die Schläge von Þórðr versetzt Þorsteinn dessen Pferd einen so heftigen Schlag, dass es durchgeht. Der wiederum zielt mit der Kampfstange auf Þorsteinn und verletzt ihn an der Augenbraue. Anstatt sich für diese Verletzung zu rächen, verbindet Þorsteinn sich die Wunde und bittet in dieser Angelegenheit um allgemeines Stillschweigen seinem Vater gegenüber. Anlässlich dieses Stangenhiebs erhält er dann von den beiden Zuschauern Þórhallr und Þorvaldr, die ebenfalls Bjarnis Dunstkreis entstammen, seinen wenig schmeichelhaft gemeinten Spitznamen stangarhǫgg (›Stangenhieb‹). Die Erklärung für die von Þorsteinn erworbene Schande ist in der großen sozialen Bedeutung zu suchen, die einem Sieg im Pferdekampf für das Selbstbild als Mann zukommt. Hinsichtlich der Bewertung von Sieg und Niederlage als Vergleich zwischen zwei Wettbewerbern ist sie durchaus vergleichbar mit einem mannjafnaðr. ¹⁶⁶ Vor diesem Hintergrund bewertet die Gesellschaft das Ausbleiben einer Vergeltungshandlung – wie hier als Reaktion auf den Stangenhieb – als unmännliches und passives Verhalten.¹⁶⁷ Erst nach Weihnachten erkundigt sich der beinahe blinde Vater Þórarinn nach dem Verlauf des Kampfes, über den er wohl Kenntnis erlangt und sich seine ganz eigenen Gedanken gemacht hat. Er findet dafür sehr scharfe Worte gegenüber dem eigenen Sohn: ›Hvat segir þú mér, sonr, af hestaþinginu, því er í fyrra sumar var? Vartu ekki lostinn í svíma, frændi, sem hundr?‹ ›Engi þykki mér virðing í vera,‹ sagði Þorsteinn, ›at kalla þat heldr hǫgg en atburð.‹ Þórarinn mælti: ›Ekki mundi mik þess vara, at ek munda ragan son eiga.‹ ›Mæl þú þat eitt um nú faðir,‹ sagði Þorsteinn, ›er þér þykkir eigi ofmælt síðar.‹ ›Ekki mun ek hér svá mikit um mæla,‹ sagði Þórarinn, ›sem mér er at skapi.‹ ¹⁶⁸

Es wird deutlich, dass Þórarinn in dem Stangenhieb ebenso wenig wie Þórhallr und Þorvaldr einen Unfall sieht – vielmehr handelt es sich in der kollektiven Wahrnehmung des Bezirks um eine Verletzung, wegen der Þorsteinn angehalten wäre, Vergeltung zu üben. Er bringt dies unter Verwendung des Vorwurfs der ergi zum Aus-

 Vgl. Hiltmann 2011, S. 305.  Vgl. Hiltmann 2011, S. 308.  Þorsteins þáttr stangarhǫggs, S. 70; »›Sohn, was berichtest du mir von diesem Pferdekampf, der im Sommer war? Wurdest du nicht wie ein Hund bewusstlos geschlagen?‹ ›Daran scheint mir nichts Ehrenhaftes zu sein,‹ sagte Þorsteinn, ›das eher einen Hieb als einen Zufall zu nennen.‹ Þórarinn sprach: ›Mir schien es nicht so zu sein, dass ich einen feigen [‚argen‘] Sohn hätte.‹ Þorsteinn erwidert: ›Sprich jetzt nichts aus, Vater, was dir später als zu viel gesagt erscheint.‹ ›Ich werde hier nicht so viel sagen, wie mir im Kopf herumgeht‹, sagte Þórarinn.«

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druck. In seiner Wortwahl – immerhin nennt er Þorsteinn argr – ist er zwar drastisch, allerdings zieht sich diese Drastik nicht bis in letzter Konsequenz durch seine Vorwürfe: Den Vergleich mit einem Hund (›Vartu ekki lostinn í svíma, frændi, sem hundr?‹) beschränkt er auf ein männliches Exemplar und erspart dem Angesprochenen daher die weitere Demütigung, mit einem weiblichen Tier gleichgesetzt zu werden.¹⁶⁹ Unter den vielen anderen, die ihn wegen der Konfliktscheue wohl spöttelnd tadeln, sticht Þorsteinns Vater aber aufgrund der Verwandtschaft und seiner heftigen Wortwahl stark hervor.¹⁷⁰ Die Inszenierung dieses Dialoges erinnert dadurch formal an eine hvǫt-Sequenz: Ármann Jakobsson führt aus, dass die von altersbedingter Ohnmacht, Blindheit und Bettlägerigkeit bestimmte Situation nahezu unerträglich sein müsse für jemanden, dem die Leute früher alleine aufgrund der physischen Stärke Respekt gezollt haben: »A former viking is almost an ex-human being.«¹⁷¹ Ganz so drastisch mag es vielleicht nicht in allen Fällen sein, allerdings wurde oben bereits ausgeführt, dass das Alter für die betroffenen Figuren tatsächlich tiefe Einschnitte und eine erzwungene Abkehr von sozialen Männlichkeitsidealen bedingt. Wenn Þórarinn nun also aus dieser ›unmännlichen‹ Sphäre heraus durch seine Worte den eigenen Sohn zur Rache aufzuhetzen beginnt, übernimmt er damit eine ähnliche Rolle wie eine weibliche Hetzerin.¹⁷² In dieser Funktion kann er hier dargestellt werden, weil ersichtlich ist, dass die Zielrichtung von Þorsteinns gewünschter Reaktion nicht reziprok, sondern gegen einen Dritten gerichtet ist. Damit entspricht seine Darstellung tatsächlich der einer Hetzerin. Noch ganz am Schluss der kurzen Erzählung, als Þorsteinn sich daran macht, den kampferprobten Bjarni selbst herauszufordern, und vorher noch Rücksprache mit seinem Vater hält, betont dieser die Wichtigkeit, keinen Sohn zu haben, der sich den Vorwurf der ergi gefallen lassen muss. Þórarinn karl svaraði: ›Ván má hverr maðr þess vita, ef hann á við sér ríkara mann ok siti samheraðs honum og hafi þó gǫrt honum nǫkkura ósœmð, at hann mun eigi mǫrgum skyrtum slíta, ok kann ek því ekki at sýta þik, at mér þykkir þú mikit til hafa gǫrt. Tak nú vápn þín ok ver þik sem skǫruligast, því at þar mundi verit hafa minnar ævi, at ekki munda ek bograt hafa fyrir slíkum, sem Bjarni er. Er Bjarni þó inn mesti kappi. Þykki mér ok betra at missa þín en eiga ragan son.‹¹⁷³

 Vgl. Hiltmann 2011, S. 309 – 310.  Vgl. Ármann Jakobsson 2005b, S. 308 – 309.  Ármann Jakobsson 2005b, S. 309.  Vgl. Ármann Jakobsson 2005b, S. 312. Die narrative Einbettung von níð durch Frauen im Rahmen einer hvǫt wird in Kap. 4.4.3 untersucht.  Þorsteins þáttr stangarhǫggs, S. 75; »Der alte Þórarinn antwortete: ›Sicher wird jeder Mann wissen, dass, wenn er es mit einem mächtigeren Mann zu tun hat, der mit ihm im selben Bezirk ist und der ihm etwas Unehrenhaftes angetan hat, er nicht mehr viele Hemden abzuragen hat [= nicht mehr lange zu leben hat]. Ich kann dich deswegen auch nicht betrauern, weil mir scheint, dass du viel dazu beigetragen hast. Nimm jetzt deine Waffe und wehre dich so mannhaft wie möglich, denn als ich jünger war, wäre es so gewesen, dass ich mich nicht so jemandem gebeugt hätte, wie Bjarni einer ist. Bjarni ist dennoch ein gestandener Kämpfer. Es scheint mir auch besser, dich zu verlieren als einen Sohn zu haben, der argr ist.‹«

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Für Þórarinn wäre es also nachrangig, falls sein Sohn unter Einhaltung jenes kriegerischen Männlichkeitsideals tatsächlich sterben sollte, dem er noch seine eigene Generation unterworfen sieht; in seinen Augen gilt es, dieses Ideal selbst um den Preis des Lebens seines Sohnes aufrechtzuerhalten. Þormóðr Kolbrúnarskáld kämpft in der Fóstbrœðra saga an der Seite von König Olaf dem Heiligen in der Schlacht von Stiklestad, die über die Christianisierung Norwegens entschied. Zwar fällt der König, aber von Þormóðr heißt es, dass sehr er viele Männer erschlage. Die Hauksbók-Version der Saga berichtet von einem Gespräch zwischen Þormóðr und einem anderen Mann im Laufe der Schlacht: Einn maðr spurði Þormóð: ›Sáttu nǫkkut skjǫld minn, er ek kastaða áðan?‹ ›Hvat skal þér rǫgum skjǫldr?‹ kvað Þormóðr. ¹⁷⁴ Aus Þormóðrs Reaktion ist ersichtlich, dass er, der in Stiklestad mit einer beidhändigen Axt unzählige Leute niedermäht, es nicht nur für überflüssig hält, einen Schild bei sich zu haben. In seinen Augen ist jemand, der beim Kämpfen einen Schild zur Verteidigung benötigt, mit ergi behaftet. Die Tatsache, dass der Fragende namenlos bleibt, dient umso mehr dazu, Þormóðrs Tapferkeit durch eine kurze kontrastive Charakterisierung gesondert zu betonen: Er ist männlicher als ein durchschnittlicher Krieger aus der Menge. Nach der Schlacht demütigt und schmäht er in derselben Handschriftenversion einen Bauern aus Verärgerung darüber, dass dieser die Kampfkraft der Männer in König Haralds Heer angezweifelt hat, auf üble Weise: Snyr bóndi þá útar eptir hlǫðunni ok ætlaði út at ganga. Í því høggr Þormóðr eptir honum. Þat hǫgg kom á bakit, ok hjó hann af honum báða þjónhnappana. ›Styn þú eigi nú,‹ kvað Þormóðr. ¹⁷⁵ – hier ist ein Hieb, der den Betreffenden am Hinterteil trifft, mit einem sexualisierten und herabsetzenden Kommentar verbunden: »[T]he farmer is made argr physically and verbally«.¹⁷⁶

4.1.9 Schandhiebe Das vorangegangene Beispiel aus der Fóstbrœðra saga wies bereits von der bloßen Bezugnahme auf die Kampffähigkeit in einen weiteren Themenkomplex, der eng mit der physischen bewaffneten Auseinandersetzung zusammenhängt. Die Überlegenheit im Kampf manifestiert sich nicht immer im bloßen Sieg über den Kontrahenten, sondern sie kann bisweilen in einer Weise Ausdruck finden, die den anderen physisch, also durch eine gezielt beigebrachte Verletzung, mit ergi markiert. Am effektivsten ist dies bei einer Verletzung am Hintern, da eine solche Wunde im sozialen Kontext der

 Fóstbrœðra saga, S. 267; »Ein Mann fragte Þormóðr: ›Hast du meinen Schild gesehen, den ich vorhin weggeworfen habe?‹ ›Was bringt dir Memme [wörtlich: argem Kerl] ein Schild?‹, sagte Þormóðr.«  Fóstbrœðra saga, S. 272– 273; »Der Bauer ging in Richtung Tür und wollte hinausgehen. Da hieb Þormóðr nach ihm. Der Schlag traf ihn am Hintern, und er schlug ihm beide Hinterbacken ab. ›Stöhn jetzt nicht!‹, sagte Þormóðr.«  Keens 2016, S. 184.

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Isländersagas gleichzeitig eine Fluchtbewegung aus dem Kampf und eine Zuwendung des Hinterteils indiziert. Die Gesetze der Grágás nehmen auf derartige Verletzungen am Gesäß zusammen mit Kastrationen Bezug und erwähnen dafür den Begriff klámhǫgg (›Schandhieb‹).¹⁷⁷ So bringt es Miller auf den Punkt: »The shame-stroke was the intentional stabbing or cutting of a man’s buttockd and the shame of the stroke was clearly the shame of ragr, the shame of being sodomized.«¹⁷⁸ Von einer solchen Verletzung berichtet die Kormáks saga, wo Steingerðrs Ehemann Bersi in einen Kampf mit Kormákr und seinen Leuten verwickelt ist. Im Kampf erhält er eine Verletzung, die zwar nicht als klámhǫgg bezeichnet, aber durch den Kontext eindeutig als solcher markiert wird: Kormákr brá upp skildinum; í því hjó Steinarr til Bersa, ok kom á skjaldarrǫndina ok hljóp af skildinum ok á þjóhnappa Bersa ok renndi ofan eptir lærunum í knésbœtr, svá at sverðit stóð í beini, ok fell Bersi. ¹⁷⁹ Der Kampf endet an dieser Stelle, und der stark verwundete Bersi wird zur Genesung nach Hause gebracht. Dass er allerdings physisch mit ergi gekennzeichnet ist, verfolgt ihn noch weiter, da seine Frau Steingerðr nun die Scheidung von ihm möchte, ein Wunsch, den sie mit spöttischen Worten bestärkt: »Fyrst vartu kallaðr Eyglu-Bersi, en þá Hólmgǫngu-Bersi, en nú máttu at sǫnnu heita Raza-Bersi.« ¹⁸⁰ Die spöttische Bezugnahme auf eine physische Unzulänglichkeit durch einen herabsetzenden Spitznamen ist ein häufiges Muster. Dabei werden nicht nur die körperlichen Merkmale gewürdigt, sondern wie hier an die Umstände ihres Erwerbs erinnert.¹⁸¹ Der Spitzname wiegt hier umso schwerer, als sich die Schmach aus der Niederlage in gesteigerter Form über den klámhǫgg bis in Bersis Eheleben fortführt. Die Scheidung ist als Folge der physischen Unterlegenheit im Kampf und des Schandhiebs ein allgemein sichtbarer Marker von ergi. ¹⁸² Die »falsche« Ausführung einer Tötung kann auch ein schlechtes Licht auf den Täter werfen: In der Vápnfirðinga saga soll ein Mann namens Bjarni Rache an seinem Verwandten Geitir ausüben, nachdem dieser Brodd-Helgi erschlagen hat. Die beiden liegen zunächst nebeneinander und starren in den Himmel. Dann steht Bjarni unter

 In der Staðarhólsbók werden unter der Überschrift vm vig (›Über Totschläge‹) zunächst ernsthafte Verwundungen wie das Abschneiden von Zunge, Nase oder Ohr sowie das Ausstechen der Augen behandelt. Im Anschluss daran heißt es: Sua er oc ef maðr gelldir man eða havgr klám havg vm þio þver (›So ist es auch, wenn ein Mann einen Mann kastriert oder ihm einen Schandhieb am Hintern zufügt‹), Staðarhólsbók, S. 299. Vgl. dazu die Besprechung bei Meulengracht Sørensen 1983, S. 68.  Miller 1990, S. 63.  Kormáks saga, S. 250; »Kormákr hob den Schild. In diesem Moment hieb Steinarr nach Bersi, und der Hieb ging in den Schildrand, prallte aber vom Schild ab und fuhr in Bersis Hintern. Er glitt den Oberschenkel entlang bis zur Kniekehle, so dass das Schwert im Knochen steckte, und Bersi fiel um.«  Kormáks saga, S. 254; »›Zuerst wurdest du Eyglu-Bersi genannt, dann Holmgangs-Bersi, aber jetzt solltest du in Wahrheit Arsch-Bersi heißen!‹«  Vgl. Sexton 2010, S. 150.  Vgl. dazu oben Kap. 4.1.3, wo Hrútrs Scheidung ebenfalls als Zeichen von fehlender Männlichkeit ausgedeutet wurde. Der Skalde Bjǫrn bezahlt am Ende seiner Saga ebenfalls mit einem Schandhieb sein Leben, vgl. Kap. 4.4.4.2.

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einem Vorwand auf und nutzt seine Chance zur Rache gegenüber dem nichtsahnenden Geitir: Bjarni stóð þá upp ok mælti: ›Dofinn er mér fótr minn.‹ ›Ligg þú þá kyrr á,‹ segir Geitir. Bjarni hjó þá í hǫfuð Geiti, ok fekk hann þegar bana. Ok jafnskjótt sem hann hafði hǫggit Geiti, þá iðraðisk hann ok settisk undir hǫfuð Geiti, ok andaðisk hann í knjám Bjarna. […] Þetta verk mæltisk illa fyrir, ok þótti ómannligt orðit verkit. ¹⁸³

Problematisch aus Sicht der Sagagesellschaft sind einige Details an dieser Racheszene. Da wäre etwa die Tatsache, dass Geitir wegen des Ablenkungsmanövers in dieser Situation gar keine Möglichkeit zur Verteidigung hatte. Ein solcher Angriff kann in den Augen der Gesellschaft kaum geeignet sein, eine Rachehandlung durchzuführen, die den sozialen Erwartungen entspricht. Dies wird augenscheinlich auch Bjarni bewusst, der – wohl in einem Versuch, die Situation zu retten – Geitirs Kopf auf seinen Schoß bettet. In Wahrheit dürfte diese Reaktion die Sache für ihn schlimmer aussehen lassen, erinnert dies doch an »Liebestodszenen«, die sich, ursprünglich aus der antiken Heldendichtung stammend, auch in der Literatur Islands großer Beliebtheit erfreuten.¹⁸⁴ Das Motiv des Liebestods wurde David Ashurst zufolge in den Übersetzungen der Antikensagas oft in den Topos des fóstbrœðralag (›Schwurbruderschaft‹) überführt.¹⁸⁵ Dass Geitir mit dem Kopf auf Bjarnis Schoß verstirbt, ist eine bildhafte Anlehnung an dieses Motiv, das freilich durch den Kontext (die Erschlagung aus einer Ablenkung heraus) ad absurdum geführt und geradezu pervertiert wird.

4.1.10 Die Víga-Glúms saga und eine Zusammenfassung Die vorangegangene Aufzählung erhebt nicht den Anspruch, abschließend zu sein, wohl aber, einen Überblick über die bedeutsamsten der vielfältigen Ausprägungen von (zugeschriebener) ergi in den Isländersagas zu geben.¹⁸⁶ Über diese Punkte hinaus

 Vápnfirðinga saga, S. 52– 53; »Bjarni stand da auf und sagte: »Mir ist der Fuß eingeschlafen.« »Dann lieg ruhig da«, sagte Geitir. Bjarni versetzte Geitir da einen Hieb gegen den Kopf, und er starb sofort. Und sobald er Geitir geschlagen hatte, da bereute er es und setzte sich unter Geitirs Kopf [=mit dessen Kopf auf dem Schoß], und er starb auf Bjarnis Schoß. […] Über diese Tat wurde schlecht gesprochen, und sie schien unmännlich ausgeführt worden zu sein.«  Vgl. Ashurst 2002, S. 91.  Vgl. Ashurst 2002, S. 84– 85; Ashurst führt dort an, dass sich etwa die titelgebenden Schwurbrüder Þórmóðr und Þorgeirr in der Fóstbrœðra saga gerade wegen ihres fóstbrœðralag homoerotischen Assoziationen ausgesetzt sehen.  Evans geht in seiner Untersuchung im Kapitel zu intersektionalen Männlichkeiten zusätzlich noch auf die Punkte »youth«, »race« und »impairment/disablity« ein, die hier nicht gesondert erwähnt wurden, da die ersten beiden innerhalb der Isländersagas nicht in direkten Zusammenhang mit ergi gestellt werden und die letzte unter dem Kapitel »Alter und Krankheit« bzw. »Schandhiebe« besprochen wurde, vgl. Evans 2019, S. 64– 78, 83 – 86, bzw. 87– 91. Es ist hervorzuheben, dass Evans unter dem Aspekt »race« mit dem Topos des blámaðr, einem schwer zu übersetzenden Wort für Menschen mit

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kann von einigen semantischen Verbindungen und Überschneidungen zwischen ergi und dem Wort troll ausgegangen werden, das sich ebenfalls auf eine Abweichung zu einem sozial gewünschten idealisierten Zustand bezieht.¹⁸⁷ Diese Verbindung tritt Ármann Jakobsson zufolge aber nur in der Figur des Þorgrímr nef der Gísla saga auf. Es ist in diesem Kontext oft angenommen worden, dass ergi mit der magischen Praxis seiðr in Verbindung stehen könnte.¹⁸⁸ Allerdings ist diese Verbindung direkt lediglich in der Gísla saga nachweisbar.¹⁸⁹ Die entsprechende Textstelle lautet: Nú flytr Þórgrímr fram seiðinn ok veitir sér umbúð eptir venju sinni ok gerir sér hjall, ok fremr hann þetta fjǫlkynngiliga með allri ergi ok skelmiskap. ¹⁹⁰ Da dies der einzige explizite Beleg in den Isländersagas ist, der noch dazu wohl stark von Snorris Ynglinga saga beeinflusst ist, sei an dieser Stelle für die Diskussion um den inhaltlichen Zusammenhang von argr und seiðr lediglich auf das entsprechende Kapitel in François-Xavier Dillmanns Untersuchung verwiesen.¹⁹¹ Einen weiteren zusätzlichen Aspekt, der allgemeiner unter den Punkt sexuelle Devianz und den Bruch mit der Geschlechterrolle fallen würde, erwähnt Andersson, der mit Verweis auf die Eyrbyggja saga, die Grettis saga und die Vatnsdœla saaga auch Diebstahl dem semantischen Spektrum von ergi zurechnet.¹⁹² Diese vorgeschlagene Vergrößerung des Spektrums nimmt Hahn zum Anlass, Textpassagen aus Grettis saga, Vatnsdœla saga und dem isländischen Gesetzbuch Grágás

dunkler oder schwarzer Hautfarbe, einen wichtigen Punkt anspricht, innerhalb dessen Marginalisierung in den altnordischen Texten stattfindet. Vgl. zu diesem Topos jüngst Arngrímur Vídalín, der auf das vielschichtige Konzept des blámaðr, seine stereotypischen und rassistischen Implikationen sowie die Funktionalisierung im Kontext des Paranormalen eingeht: Vídalín 2020a und b.  Vgl. dazu Ármann Jakobsson 2008, und zu den semantischen Berührungspunkten zwischen beiden Konzepten dort insbesondere S. 63 – 64.  Vgl. Dillmann 2006, S. 442. Mit ergi und seiðr befassen sich auch Mayburd 2014 und Kunstmann 2020. Strömbäck zufolge, der diese Verbindung ebenfalls sieht, gibt es eine semantische Verknüpfung zwischen dem Terminus seiðberendi (die Bezeichnung für eine Person, die seiðr ausführt) und dem Konzept ergi. Diese ergebe sich daraus, dass das Wort berendi für sich genommen eine obszöne Bezeichnung für ein trächtiges Tier sei, was dann in abwertender Weise auf den Anwender von seiðr verweise, der, mit ergi behaftet, ebenfalls in der Rolle eines trächtigen Tieres sein kann, Strömbäck 1935, S. 31. Die Ursache für diesen Umstand sieht er in der Übernahme von schamanistischen Riten sibirischer Völker, die eine Überschreitung von Geschlechtergrenzen in ihren Praktiken kennen, Strömbäck 1935, S. 194– 195. Kunstmann konstatiert in ihrer Untersuchung mit Blick auf die genannte Belegstelle in der Gísla saga, dass bei der Assoziation zwischen ergi und menschlichen seiðr-Praktizierenden »große Leerstellen in der altnordischen Literatur zu verzeichnen« sind, Kunstmann 2020, S. 341.  Vgl. Dillmann 2006, S. 452.  Gísla saga, S. 56 – 57; »Da sagte Þórgrímr den seiðr auf und richtete es sich nach seiner Gewohnheit ein, indem er sich ein Podest aufstellte. Er übte diese Zauberkunst mit aller ergi und Schlechtheit aus.« Diese Passage findet sich nicht in der Langfassung der Saga, vgl. Dillmann 2006, S. 452.  Dillmann 2006, S. 439 – 456. Es gibt auch das Wort seiðberendr, welches einen »starkt obscen karaktär« (Strömbäck 1935, S. 31) hat und das wohl mit dem Wort berendi für ein weibliches Tier in Verbindung steht, vgl. Strömbäck 1935, S. 30.  Andersson 1986, S. 502.

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hinsichtlich der getätigten Äußerungen zu den einzelnen Figuren zu untersuchen. Sie legt dabei besonderes Augenmerk auf die in den Texten explizit geäußerten Verbindungen zwischen den Aspekten Diebstahl, Zauberei und ergi. Ihr Befund weicht am Ende deutlich von der Eindeutigkeit ab, mit der Andersson eine Verbindung zwischen allen herstellt: Ob das Verbrechen deshalb direkt mit dem ergi-Komplex assoziiert war, lässt sich weder aus den Rechtstexten, noch den Isländersagas entnehmen. An keiner Stelle wird eine unmittelbare Verbindung hergestellt, wie dies beispielsweise für den Zauberer Þorgrímr nef in der Gísla saga geschieht.¹⁹³

Sie folgert schließlich: »Die semantische Schnittstelle zwischen Diebstahl und ergi ergibt sich aus seiner Assoziation mit Heimlichkeit.«¹⁹⁴ Beinahe alle hier besprochenen Aspekte, die ergi ausmachen können, führt uns die Víga-Glúms saga in einem einzigen Kapitel katalogartig vor. Als es um die Austragung eines hestaþings, eines Pferdekampfes, geht, möchte ein gewisser Bárðr lieber verzichten und sich stattdessen auf ein Unentschieden einigen. Als sein Gegenüber Vigfúss ihm daraufhin Schwäche und Unterlegenheit unterstellt, antwortet Bárðr: ›Vel hefir þú einurð haldit hér til, en nú skýjar á heldr, ok finnsk nú þat á, at þú munt optar hafa staðit nær búrhillum ok ráðit um matargerð með móður þinni en gengit at hestavígum, ok er þann veg litt skegg þitt eigi síðr.‹ ¹⁹⁵

Er verknüpft darin die fehlende Kampfbereitschaft mit der Unterstellung,Vigfúss habe sich zu lange in einem weiblich konnotierten Umfeld aufgehalten.¹⁹⁶ Darüber hinaus bringt er, was recht selten zu beobachten ist, den lichten Bartwuchs des anderen in direkten Zusammenhang mit ergi. Später unterhält Bárðr sich mit seinem Vater Halli, der sich Sorgen wegen der befürchteten Rache für Bárðrs Aussagen macht. Diese Sorgen wischt Bárðr mit einem Verweis auf sein Alter beiseite: ›Ekki lag væri at, ef þú værir eigi ragr; slíkt gerir ellin, at [þú] hræðisk um sonu þína.‹ ¹⁹⁷ Hier benutzt er das einzige Mal in dieser Episode explizit den Begriff ragr, den er im Zusammenhang mit dem Alter vorbringt. Dass das Alter häufiger mit ergi in Verbindung steht, hat sich

 Hahn 2020, S. 62.  Hahn 2020, S. 62.  Víga-Glúms saga, S. 62; »›Bis hierher hast du die Offenheit gut gehalten, aber jetzt liegt eher ein Schatten darauf, und jetzt zeigt es sich, dass du öfter bei den [Vorrats‐]Regalen im Haus gestanden und mit deiner Mutter über die Essenszubereitung beraten hast als dass du zum Pferdekampf gegangen bist, und deshalb ist dein weniger Bart auch nicht lang.‹«  Aus diesem Grund findet sich diese Szene auch bei Kraus als Paradebeispiel für das von ihr so bezeichnete »Küchen-níð« wieder, Kraus 2013, S. 202.  Víga-Glúms saga, S. 62; »›Das wäre keine normale Sache, wenn du nicht argr wärst: So etwas macht das Alter, dass du dich um deine Söhne ängstigst.‹«

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vorhin bereits gezeigt. Die Víga-Glúms saga macht in diesem Punkt also keine Ausnahme. Nicht jede ergi-Zuschreibung muss jedoch sofort gleichbedeutend mit níð sein, wie wir ebenfalls gesehen haben. Die Darstellung hohen Alters oder die beiden Beispiele aus Njáls saga und Grettis saga, die sich mit der physischen Beschaffenheit der Helden auseinandersetzen, haben uns bereits Szenen vor Augen geführt, die zwar fehlende oder mangelhafte Männlichkeit thematisieren, diese Thematisierung aber nicht den Regeln unterwerfen, denen sie im Kontext von níð unterliegen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit níð wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen, wobei wir uns zuerst den Fragen nach den Figuren widmen, um danach auf das Erzählen selbst zu kommen. Da níð eine hochspezialisierte soziale Funktionalisierung von ergi bedeutet, lohnt es sich, die betroffenen Figuren gesondert einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern Nachdem wir gesehen haben, in welchen Formen sich das Konzept ergi in den Isländersagas niederschlägt, soll nun der Fokus auf níð gerichtet werden, das auf ergi aufbaut, indem es sie in sozialen Auseinandersetzungen funktionalisiert. Es erscheint sinnvoll, zunächst einen kritischen Blick auf die Figuren zu werfen, die in Sagas níð zum Einsatz bringen. Vor diesem Hintergrund gilt es, die textuellen Informationen über diese Figuren zusammenzutragen und auszuwerten. Dabei werden wir nicht nur auf die sekundären Perspektiven der anderen diegetischen Figuren, sondern auch, sofern vorhanden, die Erzählerkommentare der jeweiligen Sagas zurückgreifen. Für den Erzähler gibt es unterschiedliche Techniken zur Steuerung derjenigen Informationen, die er seinen Rezipierenden zukommen lässt. Besonderes Gewicht besitzt diese Eigenart des Erzählers in Bezug auf das Bild, das eine Erzählung von ihren handelnden Figuren zeichnet und den Prozess, durch den diese Zeichnung geschieht. An dieser Stelle soll allerdings eine Diskussion über die mannigfaltigen Probleme des Figurenbegriffs unterbleiben,¹⁹⁸ vielmehr ist für die Zwecke dieses und der folgenden Kapitel Schulzʼ knappe Zuspitzung ausreichend, dass uns »Texte keine Personen [vorstellen], sondern Ensembles von Zeichen, aus denen unsere Einbildungskraft die Vorstellung von Menschen erzeugt.«¹⁹⁹ Welche dieser Zeichen werden also vermittelt, zunächst an die implizierten zeitgenössischen Rezipierenden der Isländersagas, und schließlich an uns moderne Rezipierende? Für Robert Cook ist die Frage nach dem Verständnis der Figuren elementar für den Zugang zu diesen Texten, wenn er den

 Ausführlich mit Figurenproblematik in literarischen Texten setzt sich beispielsweise Jannidis in seiner 2004 erschienenen Monografie Figur und Person auseinander.  Schulz 2015, S. 11.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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Fokus auf die Figurendarstellungen lenkt und dafür plädiert, die Einzigartigkeit der Hauptfiguren zu ergründen, um ein besseres Gefühl für die Texte zu erhalten.²⁰⁰ Er führt die sozialen Strukturen an, die speziell für diese Textgattung von zentraler Bedeutung sind und auf die bei der Lektüre gesonderter Wert zu legen ist: [R]ead for genealogy and evidence of other relationships, i. e. notice the kin and the friends, and also the non-kin and the enemies, of the main character(s). This is important not only for defining the main character(s) but also, in stories which turn so much on feuding, for seeing who is on whose side and why.²⁰¹

Die meisten Rückschlüsse auf die hier eingeforderten Informationen zur Herkunft und den sozialen Netzwerken der Figuren geben die in Teilen recht ausführlichen Figurenexpositionen der Isländersagas. Sie dienen dazu, einen ersten Eindruck von einer Figur zu vermitteln, bevor diese in die Handlung eingebunden wird. Meistens orientieren sie sich an einem festgelegten Aufbau, in dem nach dem einleitenden Satz X hét maðr »Ein Mann/eine Frau hieß X« eine unterschiedlich detaillierte Aufzählung der geografischen und genealogischen Herkunft folgt. Meist wird im gleichen Atemzug ein Ausblick auf die Beziehungsgeflechte gegeben, die in der bewohnten Region vorherrschen. Diese Figurenexpositionen sind ihrem Aufbau nach relativ starr und wurden deshalb bereits bald als formelhafte Komponenten der Sagas erkannt, die dazu dienen, intertextuelle Bezüge zwischen mehreren Texten dieser Gattung herzustellen.²⁰² Gerade diese Formelhaftigkeit bedingt, dass in der Figureneinführung die relevante Information auf engem Raum und in oft gleichförmige syntaktische Strukturen eingebettet wiedergegeben wird. Allzu viel Platz für níð ist in diesem Rahmen nicht gegeben. Als Erstanlaufstelle bei der Lektüre und gewissermaßen interpretative Einstiegshilfe für das Verständnis der Texte und der in ihnen handelnden Figuren sind sie jedoch unverzichtbar: »The formulas in the sagas should primarily be seen as a tool, provided by the teller or author fort he listenersʼ or readersʼ understanding and interpretation of the text.«²⁰³ Zudem sind viele Details enthalten, die auf den ersten Blick nebensächlich für den Plot einer Saga sind, sich aber als wichtige Informationen für die Deutung einer Figur erweisen.²⁰⁴ Wie fügt sich jedoch níð als Variable innerhalb des oft vielschichtigen Merkmalsbündels ein, durch das uns eine Figur vor Augen geführt wird – abhängig davon, ob die Figur sich níð zu eigen macht oder selbst davon betroffen ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir in den meisten Fällen auf die geschilderten Handlungen der  Cook 1989, S. 229.  Cook 1989, S. 229 – 230.  Vgl. dazu Sävborg 2018, S. 57. Er geht hier auf die Forschungsposition ein, die diese Formeln funktional ähnlich wie einleitende Formeln wie »Once upon a time« (Anm.: und also das deutsche Äquivalent »Es war einmal«) in Märchen betrachten, die ebenfalls dazu dienen, die so eingeleitete Erzählung in den Kontext eines abgegrenzten Genres zu stellen.  Sävborg 2018, S. 60.  Vgl. Schach 1978, S. 275.

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Figuren und die Reaktionen der Umgebung zurückgreifen, da die Figurenexpositionen zwar eine Tendenz hinsichtlich der Bewertung signalisieren, aber kein ganzes Bild liefern. Es wird wichtig sein zu beobachten, wie sich die handelnden Figuren im Laufe der Erzählung entwickeln und welche Entscheidungen sie treffen. Dieser Teil der Arbeit soll also dazu dienen, sich durch das Zusammensetzen der verschiedenen Informationsquellen in den Isländersagas ein größeres Bild von den handelnden Figuren zu machen, die mit níð in Berührung kommen. Dabei werden wir diejenigen Informationen zusammentragen, die uns die Erzähler der betrachteten Isländersagas selbst an die Hand geben und mit denjenigen Informationen ergänzen, die uns im Laufe der Erzählung (auch implizit) etwa anhand der geschilderten Reaktionen von anderen Figuren zugetragen werden. Kontrastive Figurendarstellungen als indirektes Mittel zur Charakterisierung sind innerhalb der Isländersagas von großer Bedeutung, weshalb sie hier berücksichtigt werden.²⁰⁵ Der erste Fokus gilt der Beschreibung der Anwender von níð. Es soll untersucht werden, wie sich Figuren, die níð einsetzen, in der Wahrnehmung der Gesellschaft entwickeln, welche Folgen níð zeitigt und welchen sozialen Status sie relativ gesehen zu ihren Kontrahenten innehaben. Im Vordergrund stehen dabei zunächst Figurenexpositionen, die sich inhaltlich auf níð beziehen. Ferner wenden wir uns den Darstellungen und Bewertungen einzelner Figuren im direkten (erzähl)zeitlichen Umfeld von níð-Episoden zu. Dass viele Sagahelden bereits bei ihrer ersten Vorstellung als schwierige Figuren eingeführt werden, ist mehrfach beobachtet und thematisiert worden.²⁰⁶ Ausgangspunkt dieser Betrachtungen sind die Charakterisierungen im Rahmen der Einführung²⁰⁷ von Sagafiguren, die im späteren Handlungsverlauf zu Mitteln des níð greifen. In den Expositionen gibt der Erzähler uns grundlegende Informationen an die Hand, die sich direkt den beschriebenen Figuren zuordnen lassen.²⁰⁸ Setzt man aufgrund der erwähnten Intertextualität von Figureneinführungen voraus, dass die Rezipierenden einer Saga mit dem erzählerischen Konzept der Figureneinführungen dahingehend

 Vgl. Schach 1978, S. 242– 247.  Vgl. exemplarisch dafür Meulengracht Sørensen 1993, S. 217– 220. Meulengracht Sørensen streicht dabei heraus, dass die problematische Charakterisierung in Kontrast zum meist positiv(er) geschilderten Bruder erfolge, der aufgrund seiner ihm zugeschriebenen Attribute die Erwartungen der Gesellschaft voll zu erfüllen möge. Dieser erwähnte Gegensatz zum Bruder der vorgestellten Figur wird im Folgenden zu sehen sein.  »Einführung« ist gemeint im Sinne der Erstbenennung einer Figur im Erzähltext. Nach der Erstbenennung kann dann im Rahmen von Referenzen im weiteren Erzählungsverlauf erneut auf die den Rezipierenden nun bereits bekannte Figur rekurriert werden. Zu den Referenzpositionen in Bezug auf Figuren in der Erzählung vgl. Jannidis 2004, S. 135.  Zur Bedeutung von Figureneinführungen in den Sagas vgl. Schach 1978, S. 240. Unter Verwendung des »Autor«-Begriffes schreibt Meulengracht Sørensen 1988, S. 248: »It is a rule without exception that the initial presentations of saga characters are to be read as reflecting the author’s official point of view.Whatever is said there will not be contradicted but be fulfilled and expanded by what follows. The author’s introduction serves as the reader’s key to an understanding of the characters, their reactions, and conduct.«

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vertraut sind, dass sie die darin mehr oder weniger direkt zum Ausdruck gebrachten moralischen Wertungen als Signal für die Deutung der Figur annehmen und umsetzen können,²⁰⁹ lassen sich aus diesen Passagen recht solide Rückschlüsse über die eingeführte Figur ziehen. Die Figureneinführungen liefern in diesem Rahmen Zuschreibungen von Eigenschaften an eine Figur, deren Verlässlichkeit hinreichend hoch ist, um gefestigte Annahmen für die diegetischen Verhältnisse zuzulassen.²¹⁰ Aus ihnen erfahren wir also Grundlegendes über die Figuren und ihre soziale Bewertung durch die diegetische Sagagesellschaft. Für weitergehende Bewertungen etwa durch andere Figuren im Laufe der Narration wird das Modell komplexer, da zur Erzählerstimme die öffentliche Stimme tritt, die nicht immer die moralischen Bewertungen der Erzählerstimme teilt, aber oft in dieser Hinsicht mit ihr deckungsgleich ist.²¹¹

4.2.1 Var hann heldr níðskár – Textuelle Konzeptualisierungsstrategien bei der Figureneinführung von Skalden und níð-Anwendern Am prägnantesten ist beim Blick auf die implizierte moralische Bewertung von níðAnwendern zunächst die Gruppe der sogenannten Skaldensagas, die eine in der Forschung weitgehend anerkannte Binnengruppe innerhalb der Isländersagas darstellen. Ihr Thema ist das Leben eines Skalden und seine Reisen zu fremden Herrschern, wobei im Gegensatz zu den übrigen Isländersagas einer Liebesgeschichte eine zentrale Rolle zukommt. Meistens sind diese Liebesgeschichten allerdings von zerstörerischer Natur, da sie nicht selten in Dreiecksverhältnissen angeordnet sind und daher sozialen Unfrieden zwischen den Betroffenen nach sich ziehen. Nach der mehrheitlich akzeptierten Einteilung besteht die Untergruppe der Skaldensagas aus der Bjarnar saga Hítdœlakappa, der Gunnlaugs saga ormstungu, der Hallfreðar saga vandræðaskálds und der Kormáks saga. ²¹² Da zwischen der Fähigkeit zur skaldischen Dichtung und deren spezieller Ausprägung in der Form von níð-Strophen ein enger Zusammenhang besteht, liegt eine thematische Verknüpfung der beiden Themen »Kunstfertigkeit« und »níð-Dichtung« bei der Figurenexposition nahe, wie gleich zu sehen sein wird. Innerhalb der Gruppe der Skaldensagas wird lediglich der Held der Bjarnar saga Hítdœlakappa dahingehend in einem positiven Licht porträtiert.²¹³ Bjǫrn ist es auch, der in Bezug auf die Liebesepisode in seiner Saga weniger (selbst)zerstörerisch charakterisiert wird als die anderen Skalden: »Perhaps only Bjǫrn Hítdœlakappi could be

 Zur moralischen Bewertung von Figuren im Rahmen ihrer Erstbenennung vgl. Lönnroth 2011, S. 84– 85.  Vgl. Jannidis 2004, S. 206.  Vgl. jüngst zu dieser Beobachtung Merkelbach 2017, insbes. S. 253 – 255.  Vgl. Poole 2001, S. 2.  Vgl. Whaley 2001, S. 286, und zur Bjarnar saga Kap. 4.4.5.4.

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said to play a less direct role in sabotaging his own relationship with a woman«.²¹⁴ Angesichts solcher Beobachtungen ist es auch von Interesse, inwieweit die späteren Entwicklungen der Skaldenfiguren die proleptischen Elemente der Figurenexpositionen tatsächlich einlösen, wenn dort auf níð Bezug genommen wurde. Daher werden im Folgenden punktuell die Entwicklungen der Figuren in den Fokus genommen. Über Gunnlaugr aus der Gunnlaugs saga ormstungu heißt es programmatisch in dessen erster Vorstellung: Svá er sagt frá Gunnlaugi, at hann var snimmendis bráðgǫrr, mikill ok sterkr, ljósjarpr á hár, ok fór allvel, svarteygr ok nǫkkut nefljótr ok skapfelligr í andliti, miðmjór ok herðimikill, kominn á sik manna bezt, hávaðamaðr mikill ok harðr ok skáld mikit ok heldr níðskár ok kallaðr Gunnlaugr ormstunga. ²¹⁵

Zwar bringt er nach dieser Exposition viele Voraussetzungen mit, die einen guten Mann auszeichnen, beispielsweise Größe und Stärke. Er wird allerdings als äußerst unbequemer und störrischer Zeitgenosse (hávaðamaðr mikill ok harðr) und in diesem Zusammenhang als guter Skalde beschrieben. Dann folgt die Feststellung, dass er einen Hang zum Dichten von níð habe (níðskár). Insgesamt ist das von ihm vermittelte Bild ein recht widersprüchliches, in dem sich sein unausgeglichenes Wesen sowohl physisch als auch psychisch an ihm manifestiert.²¹⁶ Darüber hinaus werden sein Bruder und sein Vater als umgänglicher herausgestellt und es heißt über seinen Bruder Hermundr explizit [V]ar [hann] þeira vinsælli ²¹⁷ – Gunnlaugrs Familienmitglieder werden hinsichtlich ihrer Qualitäten insgesamt deutlich positiver als er selbst dargestellt.²¹⁸ Diesem Bild eines kaum umgänglichen Menschen wird Gunnlaugr im weiteren Verlauf seiner Saga mehr als gerecht: »He is given to initiating conflicts, and is thus not only a hávarðamaðr (›an arrogant man‹) but also an ójafnaðarmaðr (›an inequitable man‹), even if the saga does not use that word.«²¹⁹ Noch deutlicher wird diese Charakterisierung, wenn man sich vor Augen hält, dass sein Antagonist Hrafn in der Saga beinahe als Idealbild eines isländischen Häuptlings vorgestellt wird.²²⁰

 Wilson 2021 (in Vorbereitung).  Gunnlaugs saga ormstungu, S. 59; »Von Gunnlaugr heißt es, dass er sehr frühreif war und groß und stark; er hatte hellbraunes Haar, das ihm gut stand, seine Augen waren schwarz und seine Nase hässlich. Er hatte einnehmende Gesichtszüge, eine schlanke Taille, breite Schultern und er wurde ein ganzes Mannsbild. Er war ein großer Unruhestifter, hart und ein guter Skalde mit Hang zur níðDichtung; er wurde Gunnlaugr Schlangenzunge genannt.«  Vgl. Meulengracht Sørensen 1988, S. 248. Diese Manifestation wird durch seine an die Einführung anschließenden Taten in der Saga deutlich, unter anderem die Reise ins Ausland im Alter von zwölf Jahren. Zusammen mit den einleitenden Worten über Gunnlaugrs Wesen entstehe so laut Cook das stimmige Gesamtbild eines schwachen und von einem übermächtigen Vater dominierten Charakters, vgl. Cook 1971, insbesondere S. 8 – 9 und S. 17– 18.  Gunnlaugs saga ormstungu, S. 59; »[Er] war der beliebtere von ihnen«.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1988, S. 249.  Meulengracht Sørensen 1988, S. 251.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1988, S. 253.

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Mit Blick auf Gunnlaugrs Figurenexposition fällt die Reihung seiner Eigenschaften auf, die in der Feststellung über seine Neigung zur níð-Dichtung gipfelt. In der Position ganz am Ende der Aufzählung ist diese Neigung als mit- und hauptursächlich für sein direkt im Anschluss angeführtes cognomen ormstunga (»Schlangenzunge«) dargestellt. Trotz des fehlenden Anschauungsmaterials für seine Fertigkeit im Umgang mit Schmähdichtung in der Saga²²¹ ist Gunnlaugr als Vertreter des Typus eines charakterlich schwierigen Dichters mit Hang zu Konflikten für die Rezipierenden seiner Saga bereits in seiner Exposition klar erkennbar.²²² Damit gleicht er Hallfreðr aus der Hallfreðar saga vandræðaskálds, den er in dessen Saga auf einer Fahrt begleitet und der uns in ganz ähnlicher Weise vorgestellt wird: Hann var snimma mikill ok sterkr, karlmannligr ok skolbrúnn nǫkkut ok heldr nefljótr, jarpr á hár, ok fór vel; skáld var hann gott ok heldr níðskár ok margbreytinn; ekki var hann vinsæll. ²²³

Hier sind ebenfalls eine große Statur, Stärke und Mannhaftigkeit (mikill ok sterkr, karlmannligr) Eigenschaften, die dem Skalden neben seiner großen Dichtkunst (skáld var han gott) zugeschrieben werden. Wie bei Gunnlaugr schließt an diese Aussage direkt der Verweis auf den Hang zur níð-Dichtung (heldr níðskár) an – und wie Gunnlaugr ist Hallfreðr kein bequemer Zeitgenosse. Über ihn heißt es ohne einen Verweis auf seinen an dieser Stelle nicht näher vorgestellten Bruder Galti, er sei nicht beliebt gewesen (ekki var hann vinsæll). Auch hier ist der Hinweis auf einen schwierigen Charakter und fehlende Beliebtheit direkt im Umfeld der Wendung heldr níðskár angebracht.²²⁴ Hallfreðrs cognomen vandræðaskáld (etwa: »schwieriger Skalde«)

 Strophen, die sich mit einer einigermaßen hinreichenden Sicherheit als níð verstehen ließen, überliefert uns Gunnlaugrs Saga nicht; wohl aber solche, die durchaus als beleidigend aufgefasst werden können, ohne dass sie sich direkt des Formenrepertoires von níð bedienten. Dazu ist bereits die erste Strophe zu zählen, die ihm in den Mund gelegt wird, als er mit einem Bauern über die Höhe der Buße für einen ohnmächtig geschlagenen Knecht in Streit gerät und seinem Gegenüber mangelnde Stärke unterstellt. Vgl. Gunnlaugs saga ormstungu, S. 63.  Für Cook ist das Schlüsselwort zum Verständnis der Figur des Gunnlaugr ormstunga die Zuschreibung óráðinn – mit diesem Wort wird er von seinem Vater Illugi bezeichnet. Es lässt sich übersetzen mit ›unvernünftig‹, ›wankelmütig‹, ›unentschlossen‹, Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. óráðinn. In der Wahl dieses Wortes werde die ganze Wankelmütigkeit der Figur ersichtlich, Cook 1971, S. 11– 12. Schrunk Ericksen konstatiert, dass diese Bezeichnung den größten Teil der Plotstruktur in der Saga beherrsche und sich in der narrativen Form der Saga insgesamt widerspiegele, die zwischen einem romantischen und einem heroischen Modus hin und her schwanke, Schrunk Ericksen 2004.  Hallfreðar saga vandræðaskálds, S. 141; »Er war bald groß und stark, hatte etwas schiefe Augenbrauen und eine eher hässliche Nase und braunes Haar, das ihm gut stand; er war ein guter Skalde und hatte einen Hang zur níð-Dichtung und sehr wechselhafte Laune; er war nicht beliebt.«  Eine Kostprobe seines Könnens erhalten wir in der zweiten Strophe, die die Saga überliefert und ihm in den Mund legt. Das Thema níð wird jedoch nur im Vorbeigehen gestreift, wenn er seinen heidnischen Kontrahenten Blót-Már attackiert, indem er ihn einen ›alten Hofhund‹ nennt (búrhundr gamall, S. 146). Eine Besprechung dieser Strophe findet sich bei Poole 2001b, S. 150 – 151. Da er seinen Kontrahenten mit einem (grammatikalisch männlichen) Hund gleichsetzt und mit der Mannkenning søkkvir troga margra (etwa: ›Versenker vieler Tröge‹) allenfalls assoziativ an eine Thematik von Milch

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hängt ebenfalls mit der zweifelhaften Seite seiner Dichtkunst zusammen: Als er beim norwegischen König Ólafr Tryggvason eine drápa auf den Herrscher vortragen möchte, will dieser sie zunächst nicht hören. Als er schlussendlich einlenkt, sagt er: ›Sannliga máttu heita vandræðaskáld‹. ²²⁵ Was bereits bei seiner Vorstellung über ihn gesagt wird, findet dort eine Zuspitzung durch die Aussage des Norwegerkönigs. Eine ähnliche Darstellung seiner Figur ist auch im Hallfreðar þáttr vandræðaskálds I zu finden, denn in dieser Erzählung »erscheint […] vor allem die hedonistische Seite des eigenwilligen Skalden. Hallfreðr gerät durch seine Launen und seine Genußsucht in Schwierigkeiten und hat schließlich keine andere Wahl, als das Land zu verlassen.«²²⁶ Kormákr Ǫgmundarson wird in seiner Saga zwar ebenfalls mit einem im Vergleich zum Bruder negativen Merkmalsbündel vorgestellt, es fehlt allerdings der direkte Verweis auf níð: [H]ann var svartr á hár ok sveipr í hárinu, hǫrundljóss ok nǫkkut líkr móður sinni, mikill ok sterkr, áhlaupamaðr í skapi. ²²⁷ Den größten Teil seiner Saga bestimmt sein Verhältnis zu Steingerðr, die er in unangemessener Weise trotz ihrer jeweils bestehenden Ehe besucht, was gemeinhin als Eingehen einer Liebesbeziehung gedeutet werden kann und allein schon deshalb plausibel ist, weil ihr Vater ihr

und Dung verweist, vgl. Poole 2001b, S. 150, Kock 1923 – 1944, §3216, sei diese Strophe hier nur gesondert erwähnt, aber nicht vertieft besprochen: Eine eindeutige Identifizierung als níð-Strophen kann zwar nicht erfolgen, wir können jedoch anerkennen, dass die erwähnten in ihr angesprochenen Elemente (Gleichsetzung mit einem Hund, Milch) assoziative Verknüpfungen an die Bildsprache von níð aufweisen, während Kock aus diesem Grund eher parodistische Elemente hervorhebt: »Där man enligt skaldevana I ett viss retoriskt sammanhang väntar vapen och jyllene klenoder, träffar man på liar och mjölkbyttor!«, Kock 1923 – 1944, §3216. Weitere in der Saga überlieferte Strophen sind dann zwar ebenfalls beleidigend, erfüllen aber definitiv nicht die Kriterien von níð. Keine dieser Spottstrophen aus dem späteren Verlauf wird je als níð bezeichnet. Es findet sich für die späteren Strophen über Hallfreðrs Widersacher Gríss die zweideutige Benennung als Gríssvísur, S. 193, was man in Anspielung auf die Bedeutung von Gríssʼ Namen (›Ferkel‹) als ›Ferkelstrophen‹ verstehen kann. Hierfür muss Hallfreðr dann schließlich eine Kompensation an Gríss leisten. Die gemeinten Strophen sind jedoch nicht überliefert, es heißt dazu nur [þ]enna vetr orti Hallfreðr vísur um Grís, S. 188; »In diesem Winter dichtete Hallfreðr Strophen über Gríss«. Aufgrund der Benennung und der Notwendigkeit dafür Buße zu leisten ist es zumindest denkbar, dass diese nicht überlieferten Strophen níð darstellten. Dies sieht etwa Bjarni Einarsson 1976, S. 159, so.  Hallfreðar saga vandræðaskálds, S. 155; »›Du kannst dich wahrhaft vandræðaskáld [›schwieriger Skalde‹] nennen‹«. Es ist aufgrund dieser Aussage anzunehmen, dass Hallfreðr sein Ruf als Dichter von níð-Versen vorausgeeilt ist und der König nur zu gerne auf das zweifelhafte Vergnügen verzichten möchte, zum Inhalt eines möglicherweise zweideutigen Gedichtes gemacht und damit der Lächerlichkeit preis gegeben zu werden. Von der Begegnung zwischen den beiden und Hallfreðrs Taufe berichtet auch die Ólafs saga Tryggvasonar. Eine vergleichende Besprechung der entsprechenden Passage in der Ólafs saga Tryggvasonar mit den Redaktionen der Hallfreðar saga vandræðaskálds findet sich bei Bjarni Einarsson 1976, S. 144– 145. Eine Übersicht zur Funktionalisierung des Spitznamens in den Königssagas liefert außerdem Poole 2001b, S. 131– 132.  Würth 1991, S. 83.  Kormáks saga, S. 206; »Er hatte schwarze lockige Haare und eine helle Haut und war seiner Mutter recht ähnlich. Er war groß und stark, ein Hitzkopf.«

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Zimmer versperrt.²²⁸ Aus diesen ungewünschten Besuchen erwächst der zentrale Konflikt, während dessen sich Steingerðr letztlich von ihm abwendet. Kormákr wird im späteren Verlauf der Saga eine Strophe über Steingerðr in den Mund gelegt, die ein Landstreicher gegen Geld gedichtet hat.²²⁹ Eine solche obszöne Strophe, in der Steingerðr mit einer Stute und der Landstreicher – respektive Kormákr – entsprechend mit einem sie besteigenden Hengst gleichgesetzt wird, würden wir wohl als mansǫngr bezeichnen.²³⁰ Dies umso mehr, als Kormákr sich mit wiederholten Besuchen bei Steingerðrs Familie unbeliebt macht und deren Feindschaft geradezu herausfordert.²³¹ Nachdem er den Verursacher der Strophe ausfindig gemacht und erschlagen hat, setzt er gegen Steingerðrs Ehemann Þorvaldr an, der ihm aber ausweicht. Dieses Ausweichen nimmt Kormákr zum Anlass eine Strophe zu dichten, in der er ihm ein níð in Aussicht stellt (naddhríðar skalk níða/ njót svát steinar fljóti).²³² Dessen Bruder Þorvarðr gibt bald darauf bekannt, dass er hefna vilja níðssins,²³³ weswegen er eine Herausforderung zum Duell an Kormákr stellt. Dass er von einem níð spricht, obwohl Kormákr in seiner Strophe lediglich droht, hängt wohl eher mit dem erlittenen Ehrverlust seines Bruders zusammen, der sich in der Auseinandersetzung zuvor weggeduckt hat. Es zeigt sich jedoch bald, dass Kormákr problemlos Aspekte an Þorvaldr finden kann, die ihn dazu verleite seine Andeutungen in Hinblick auf níð zu konkretisieren. Da Þorvaldr zum abgemachten Zeitpunkt ohne weitere Erklärung nicht auftaucht, fordert Kormákr ihn unter Androhung des Status eines níðingr erneut heraus und dichtet eine weitere Strophe, in der er beide Brüder als níðingar bezeichnet.²³⁴ Den Rezipierenden erscheint dies durchaus nachvollziehbar; ähnliche Szenen kennen wir aus anderen Sagas.²³⁵ Für diese Strophe wird er von den beiden angeklagt, verweigert sich allerdings auf dem Thing einer Versöhnung.²³⁶ Die Situation wird nicht wesentlich besser, als Þorvarðr trotz der Unterstützung durch Magie und somit den Einsatz unlauterer Mittel zweimal im Kampf gegen Kormákr unterliegt.²³⁷

 Vgl. Jochens 1991a, S. 367.  Kormáks saga, S. 277. Zur narrativen Funktion von Landstreicherfiguren speziell bei der Generierung und Verbreitung von níð vgl. Kap. 4.4.1.  Vgl. zum Inhalt der Strophe und zu den Schwierigkeiten bei der Deutung des zweiten helmingrs Gade 1989, S. 63 – 64. Gade bezeichnet die Strophe als níðvísa, was sicherlich der bildhaften Thematik um Hengst und Stute geschuldet ist, allerdings terminologisch unzutreffend sein dürfte, da hier eine Frau im Zentrum steht. Vgl. dazu die Diskussion der Geschlechterrollen in Kap. 3.5.  Vgl. dazu Wilson 2021 (in Vorbereitung).  Kormáks saga, S. 279; »Ich werde den Njótr des Natternunwetters [= Krieger, d. h. Þorvaldr] mit níð bedenken, bis die Steine schwimmen.«  Kormáks saga, S. 279; »das níð rächen wolle«.  Kormáks saga, S. 280.  Vgl. etwa das níð gegen Finnbogi und die dortige Rechtfertigung in Kap. 4.2.2.6.  Kormáks saga, S. 281.  Kormáks saga, S. 286, S. 289.

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Insgesamt wird der Konflikt zwischen Kormákr und Steingerðrs Mann Þorvaldr und dessen Bruder Þorvarðr in der Saga nie zufriedenstellend aufgelöst. Dass Kormákr in seinen Strophen auf níð Bezug nimmt, ist für einen Skalden nicht weiter verwunderlich. Für die Rezipierenden ist dies nachvollziehbar, da er seinen Gegnern überlegen scheint, die entweder nicht zum geforderten Duell auftauchen oder sich ohne magische Unterstützung nicht dorthin trauen. Was sich Kormákr aber vorwerfen lassen kann, ist die Tatsache, dass er diese Situationen durch sein eigenes Handeln selbst heraufbeschworen hat, selbst wenn er die Strophen erst nach den Ereignissen um den fingierten mansǫngr über Steingerðr gedichtet hat. Immerhin drängt sich durch seine wiederholten störenden Besuche (und seine prahlerisch wirkenden Strophen darüber) bei den Rezipierenden bisweilen der Eindruck auf, er stelle die Konfrontation mit Steingerðrs Familie über den eigentlichen Umgang mit Steingerðr.²³⁸ Es erstaunt daher nicht, dass eine solche Skaldenfigur in ihren Strophen auf eine destruktive Interaktionsform wie níð zurückgreift. Dass Skalden sich der Ambiguität ihrer Dichtkunst selbst nur zu bewusst sind, lässt sich auch an Charakterisierungen außerhalb der Skaldensagas ersehen, so etwa am Beispiel des Þorleifs þáttr jarlaskálds. Zwar heißt es in seiner Figureneinführung ohne Bezugnahme auf níð lediglich, dass er ein guter Skalde (skáld gott) sei, wie auch sonst seine Beschreibung recht positiv ausfällt.²³⁹ Wir erfahren noch, dass er von seinem Vater in magischen Dingen unterwiesen wird: Nam hann þá at feðr sínum marga fornfræði. ²⁴⁰ Den Zusammenhang zwischen seiner Dicht- und Zauberkunst, die im weiteren Verlauf des Þáttr selbst eng verknüpft sind, stellt er bei seiner Ankunft am Hof von Hákon Hlaðajarl selbst her. Verkleidet als Bettler mit einem Stab kommt er in dessen Halle, wobei die Anwesenden ihn als schwierigen Zeitgenossen kennen lernen.²⁴¹ Danach führt er im Gespräch mit dem Jarl selbst eine neue Figur in die Erzählung ein, die seinem eigenen Wesen stark entgegensteht. Der Þáttr berichtet vom ersten Gespräch zwischen dem Jarl und Þorleifr in seiner Verkleidung als Níðungr Folgendes:

 Vgl. dazu Wilson 2021 (in Vorbereitung).  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 216: [H]ann var snemma gildr ok gǫrviligr ok inn mesti atgǫrvimaðr um íþróttir; hann var skáld gott; – »Er war bald tüchtig und geschickt und in der körperlichen Betätigung überragend. Er war ein guter Skalde.« Zur positiven Charakterisierung Þorleifrs im Kontrast zu seinem späteren Antagonisten Hákon vgl. Würth 1991, S. 79. In den anderen Texten, in denen er vorkommt, wird Þorleifr ebenfalls mit dem cognomen jarlaskáld (»Jarlsskalde«) beziehungsweise Abwandlungen davon vorgestellt, vgl. Almqvist 1965, S. 189. Im Þáttr selbst erhält er den Namen von König Sveinn, der nach der Episode bei Jarl Hákon zu ihm sagt: »Nú mun ek lengja nafn þitt ok kalla þik Þorleif jarlsskáld«; »›Ich werde jetzt deinen Namen erweitern und dich Þorleifr jarlsskáld nennen.‹«, S. 224.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 216; »Von seinem Vater lernte er viel an altem Wissen.«  Ausführlicher zu dieser Episode Kap. 4.4.2.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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Jarl spurði hann at nafni, ætt ok óðali. ›Óvant er nafn mitt, herra, at ek heiti Níðungr Gjallandason ok kynjaðr ór Syrgisdǫlum af Svíþjóð inni kǫldu; em ek kallaðr Níðungr inn nákvæmi.‹ ²⁴²

Þorleifr stellt hier de facto seine eigene Figur vor, die er mit einer fingierten Genalogie und Hintergrundgeschichte versehen in die Geschichte einführt. Mit dieser – einer üblichen Figurenexposition in den Sagas bei weitem nicht unähnlichen – Geschichte zeigt er den aufmerksamen Rezipierenden, dass er Übles mit dem Jarl im Sinne hat. Kein Element in dieser Figurenvorstellung ist zufällig gewählt, wie Almqvist anmerkt.²⁴³ Speziell der gewählte Name Níðungr spielt überdeutlich auf die Absicht an, gedichtete níð-Strophen vorzutragen. Auch der Vatersname (etwa: ›Schreihals‹) ist in diesem Zusammenhang sprechend, weckt er doch Assoziationen zu unpassenden verbalen Äußerungen in sozialen Kontexten. Die Kombination des Namens Níðungr mit der von Þorleifr gewählten Verkleidung als Bettler und seines ersten Auftritts in der Halle des Jarls entwirft wieder das Bild eines sozial schwierigen Dichters, das uns die erwähnten Expositionen anderer Skalden zeichnen. Þorleifr erschafft damit gleichsam ein Alter Ego, das hinsichtlich seiner Attribute vor dem Wissenshintergrund der sensibilisierten Rezipierenden über die sagatypischen Figureneinführungen einen entsprechenden Handlungsverlauf erwarten lässt, in dem níð eine Rolle spielt. Andere Figureneinführungen von Skalden sind zurückhaltender, wenn es um níð geht. Über den Skalden Sigmundr Lambason, der in der Njáls saga auf Hallgerðrs Geheiß hin Schmähstrophen dichtet, schließen sich in weniger drastischer Form nach einer Aufzählung seiner positiven Eigenschaften – unter anderem ist er ebenfalls ein guter Skalde (skáld gott) – einige negative an: [Hann var] hávaðarmaðr mikill, spottsamr ok ódæll. ²⁴⁴ Es ist zwar durchaus denkbar bis sehr wahrscheinlich, dass níð zum Repertoire eines so eingeführten Skalden gehört, allerdings erscheint der Ton hier durch die Wahl des Wortes spottsamr noch gemäßigter, zumindest wird er nicht sofort mit níð als einer justiziablen Form der Spottdichtung assoziiert. Erst im Verlauf der Saga erhalten wir gezieltere Informationen, die Rückschlüsse darauf zulassen, dass Sigmundr tatsächlich gewillt ist, níð zu dichten.²⁴⁵ Egill Skalla-Grímsson ist wohl der Sagaheld schlechthin, wenn es um die Fähigkeit zur Dichtung geht. Im späteren Verlauf seiner Saga errichtet er eine níðstǫng gegen König Eiríkr blóðøx, und er ist ebenfalls eine schwierige Persönlichkeit für seine Zeitgenossen. Zwar enthält die Egils saga viele Elemente, die auch den Skaldensagas

 Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 220 – 221; »Der Jarl fragte ihn nach Namen, Familie und Herkunft. ›Mein Name ist nicht schwierig, Herr, denn ich heiße Níðungr und bin Sohn des Gjallandi. Ich komme aus den Siljanstälern in Russland; ich werde Níðungr nákvæmi genannt.‹«  Almqvist 1965, S. 189, Fn. 13. Er weist auf die doppelte Bedeutung von Svíþjóð in kalda hin, das in der Regel Russland bezeichne. Zusätzlich sei Schweden (Svíþjóð) als mystischer Ort konnotiert und das Wort kaldr für sich genommen könne Bedeutungen aus dem semantischen Spektrum ›feindselig‹ und ›verderbenbringend‹ transportieren.  Njáls saga, S. 105; »Er war hochmütig, spöttisch und schwierig.«  Vgl. dazu Kap. 4.4.3.

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zu eigen sind, sie wird gemeinhin aber nicht als Teil dieses Korpus gesehen und allenfalls an den Rand dieser definitorischen Einteilung verwiesen.²⁴⁶ Seine Vorstellung nennt ihn nicht als Urheber von níð, folgt ansonsten aber ebenfalls den bekannten Mustern der Mischung von positiven und negativen Eigenschaften, nachdem zuerst die Rede von seiner Mutter ist: Enn áttu þau Skalla-Grímr son; var sá vatni ausinn ok nafn gefit ok kallaðr Egill. En er hann óx upp, þá mátti brátt sjá á honum, at hann myndi verða mjǫk ljótr ok líkr feðr sínum, svartr á hár. En þá er hann var þrévetr, þá var hann mikill ok sterkr, svá sem þeir sveinar aðrir, er váru sex vetra eða sjau; hann var brátt málugr ok orðvíss; heldr var hann illr viðreignar, er hann var í leikum með ǫðrum ungmennum. ²⁴⁷

In dieser Charakterisierung wiederholt sich ein allgemein gebräuchliches genealogisches Muster noch einmal speziell innerhalb dieser Saga, wurde doch bereits Egills Vater Skalla-Grímr, dem er ähnlich sieht, als der hässlichere der beiden Söhne KveldÚlfrs bezeichnet, während der Bruder als positiv und beliebt dargestellt wird.²⁴⁸ Neben den Hinweisen auf Egills frühe Begabung für den Umgang mit Sprache (hann var brátt málugr ok orðvíss), aus denen erfahrene Rezipierende bereits auf seine künftige Entwicklung zu einem begnadeten Skalden schließen können, wird sein Wesen bereits als Kind als sehr schwierig beschrieben (heldr var hann illr viðreignar, er hann var í leikum með ǫðrum ungmennum). Dies greift seiner künftigen Entwicklung voraus, denn »an experienced reader would understand that a character described in this manner must turn out to be a very difficult person indeed!«²⁴⁹ Seine Saga berichtet zudem von einem Norweger namens Auðunn illskælda, von dem ansonsten wenig bekannt ist, außer dass er in Snorris Skáldatal erwähnt wird.²⁵⁰ Sein Beiname ›schlechter Skalde‹ könnte entweder darauf anspielen, dass seine Dichtung als plagiierend aufgefasst wurde, oder, dass er níð dichtete, selbst wenn außer einer lausavísa von ihm keine Gedichte erhalten sind.²⁵¹ Das in den Vorzeitsagas geläufige Motiv des kolbítr (›Kohlenbeißer‹) wird ebenfalls zur Charakterisierung von späteren níð-Anwendern aktiviert.²⁵² Von Grettir Ásmund-

 Vgl. etwa Poole 2001, S. 2.  Egils saga, S. 80; »Sie und Skalla-Grímr hatten auch einen Sohn; er wurde mit Wasser besprengt und auf den Namen Egill getauft. Aber als er aufwuchs, da konnte man bald an ihm sehen, dass er sehr hässlich und seinem Vater ähnlich werden würde, schwarzhaarig. Und als er drei Jahre alt war, da war er so groß und stark wie andere Jungen, wenn sie sechs oder sieben sind. Egill sprach früh und er war wortgewandt; er war recht schwierig im Umgang, wenn er mit anderen Jungen spielte.«  Vgl. Tulinius 2014, S. 18. Zur kontrastiven Charakterisierung über den Bruder vgl. wieder Meulengracht Sørensen 1993, S. 217– 219. Das schwarze Haar hier ist ein Indikator für eine negative Figurenentwicklung im späteren Verlauf der Saga, vgl. Lönnroth 2011, S. 87.  Lönnroth 2011, S. 86 – 87.  Egils saga, S. 19; vgl. Clunies Ross 2012, S. 120.  Vgl. Clunies Ross 2012, S. 120.  Vgl. Magerøy 1957, S. 279 – 281. Zu einer rezenten Übersicht über diesen literarischen (Helden‐) Typus vgl. Deichl 2019, S. 27– 28. Larrington 2008, S. 154, sieht im kolbítr-Typus das Aufgreifen von

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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arson aus der Grettis saga, der oft diesem Figurentypus zugeordnet wird,²⁵³ heißt es nach der Beschreibung seiner kindlichen Eskapaden, er entdecke im weiteren Heranwachsen seine Freude am Dichten. Im gleichen Zuge wird gesagt, er sei níðskældinn, er dichte also gerne níð. ²⁵⁴ Hier erscheint diese Charakterisierung ebenfalls im Kontext von zumindest problematischen Charaktereigenschaften – die genauere Betrachtung der sehr vielschichtigen Kindheit Grettirs bleibt einem anderen Kapitel vorbehalten.²⁵⁵ Ein anderer Anwender von níð – allerdings nicht in Form von Dichtung, sondern von Aufforderungen zum Kampf – ist die am meisten fokussierte Figur im ersten Teil der Svarfdœla saga, Þorsteinn Þorgnýsson. Er wird gleich zu Beginn der Saga explizit dem kolbítr-Motiv entsprechend eingeführt: Þorsteinn var óværr við alþýðu, mikill vexti; hann byggði eldahús ok fekk mikit astleysi af fǫður ok móður ok ǫllum frændum sínum; en Þórólfr fekk því meiri virðing sem hann flutti meira heim. Þorsteinn var því leiðari fǫður sínum sem hann fágaði þá iðn lengr, ok eigi vildi Þorgnýr láta hann sinn son kalla.²⁵⁶

In Þorsteinns Fall wird ebenfalls die kontrastive Charakterisierung gegenüber dem beliebten und erfolgreichen Bruder deutlich. Die Verwendung des kolbítr-Motivs legt wegen der ihm zugrunde liegenden Konvention eine für die Rezipierenden zu erwartende Figurenentwicklung Þorsteinns in Richtung eines tüchtigen und erfolgreichen Einzelgängers nahe.²⁵⁷ Ganz im Einklang mit den typischen Mitteln mittelalterlichen Erzählens dient eine solche Exposition einer Figur dem Erzeugen von Spannung dahingehend, wie (und nicht: ob) die Ereignisse eintreten.²⁵⁸ Im Gegensatz zu den anderen angeführten Beispielen von Figureneinführungen ist Þorsteinns Fitypischen Problematiken, wie sie sich aus (heutiger) psychologischer Perspektive in der Adoleszenz ergeben. Dazu gehören auch soziale Problematiken im Umgang mit dem Elternhaus.  Kritisch zu dieser Zuordnung äußert sich Larrington 2008, S. 156 – 157: »Grettir shows signs of laziness; he is ekki bráðgǫrr (not promising) in youth, though the kolbítr-topos is not fully-realised.« Auch Poole konstatiert, dass Grettir in der ersten Episode, in der er auftaucht, nicht explizit als kolbítr charakterisiert werde, vgl. Poole 2004, S. 12.  Grettis saga, S. 42: Hann gerðisk nú mikill vexti; eigi vissu menn gǫrla afl hans, því at hann var óglíminn. Orti hann jafnan vísur ok kviðlinga ok þótti heldr níðskældinn; »Er wurde nun sehr groß; die Leute kannten seine Kräfte nicht vollständig, weil er sich nicht an Ringkämpfen beteiligte. Er dichtete stets Strophen und kleinere Verse und schien eher dem níð-Dichten zugewandt.«  Vgl. Kap. 4.3.4 zur Kindheit und Adoleszenz der Figuren Grettir und Klaufi.  Svarfdœla saga, S. 129; »Þorsteinn setzte allen zu. Er war von großem Wuchs. Er hielt sich bei der Feuerstelle auf und bekam von Mutter und Vater und allen seinen Verwandten nur wenig Liebe; sein Bruder Þórólfr jedoch verschaffte sich umso mehr Ehre, je mehr er [von seinen Reisen] nach Hause brachte. Þorsteinn war seinem Vater umso mehr zu Leide, je länger er einer Tätigkeit pflegte, und Þorgnýr wollte ihn nicht seinen Sohn nennen.«  Bezüglich der expliziten Wertung dieses Figurentyps als ›männlich‹ durch die Erzählinstanzen sowohl in Isländer- als auch in Vorzeitsagas vgl. Larrington 2008, S. 154.  Vgl. Schulz 2015, S. 328 – 329, 351. Zu der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einer »Ob überhaupt«- und einer »Wie«-Spannung, also den Fragen nach der bereits in einem Text angelegten finalen Motivierung, vgl. Lugowski 1976, insbes. S. 40 – 42.

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gureneinführung allerdings weder mittelbar noch unmittelbar mit der Anwendung von níð verbunden.

4.2.2 Anwender von níð in Aktion: Die öffentliche Wertung Bedingt durch den oft als »objektiv« beschriebenen Stil, in dem die Isländersagas verfasst sind, kann es laut Lönnroth anfangs so wirken, als wäre die Motivation hinter dem Erzählen ausschließlich das reine Erzählen als Selbstzweck: »The reader can easily get the impression that there is no message or moral at all, but simply a story to be told.«²⁵⁹ Die Wahrheit dürfte wie so oft zwischen den beiden darin zum Ausdruck kommenden Extremen (der Erzählung als Selbstzeck und einer rein moralisierenden Schrift) liegen. Bei einer angemessen vorsichtigen Lektüre der Sagas auf die moralischen Bewertungen ihrer Figuren hin lassen sich Fallstricke der Interpretation vermeiden: Ein ausschließlich didaktischer Zweck muss nicht zwangsläufig impliziert sein, bloß weil die Erzählung durch den Einsatz verschiedener Techniken die Reaktionen und Sympathien ihrer Rezipierenden in die eine oder andere Richtung lenkt.²⁶⁰ Lönnroth hat überzeugend dargestellt, dass in den Sagas sehr wohl eine moralische Wertung von Figuren, Handlungsweisen und Ideen durch die beschriebene textimmanente Gesellschaft wiedergegeben wird. Didaktik widerspricht ihm zufolge also nicht per se dem gewohnten Sagastil.²⁶¹ Bestimmte Marker im Text wie die indirekte Kommentierung von Figuren oder Handlungsweisen können dazu dienen, eine Bewertung des Erzählten zu erhalten. Zu solchen Markern gehört vor allem die Äußerung der öffentlichen Meinung, die in den Isländersagas von zentraler Bedeutung für die Bewertung des Geschehens ist. Bewertungen durch die Allgemeinheit können zu vielen Anlässen geschehen und werden so zu grundlegenden biografischen Eckdaten wie Geburt und Tod vorgenommen, aber auch anlässlich von Worten oder Handlungen.²⁶² Die Wiedergabe der öffentlichen Meinung tritt in den Sagas häufig an die Stelle von expliziten Erzählerkommentaren zu den Figuren und Handlungen. Sie ermöglicht es dem Erzähler der Sagas, in den Hintergrund zu treten und die Bewertung der Handlung und der handelnden Figuren den Rezipierenden zu überlassen, die freilich durch die geäußerten Meinungsbekundungen in eine bestimmte Richtung gewiesen werden. Dadurch entfaltet diese Kundgabe einer öffentlichen Meinung über die diegetische Ebene hinaus Wirkung, wie Hahn schreibt: »Dies geschieht jedoch nicht nur innerhalb der erzählten Welt, auf der Ebene der histoire, sondern auch auf der Ebene

 Lönnroth 2011, S. 77. Kritisch zu einer solchen Einschätzung Jannidis 2004, S. 107, sowie dessen Hinweis in Fn. 42.  Vgl. Lönnroth 2011, S. 79. Einschränkend äußert er, dass manche der zitierten Bewertungen spätere Interpolationen bei der Textüberlieferung darstellen könnten.  Lönnroth 2011, vgl. insbesondere S. 108.  Vgl. Merkelbach 2017, S. 253 – 254.

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des discours«.²⁶³ Erleichtert wird die Suche nach diesen Kommentierungen dadurch, dass die Sagas meistens wenig bis keine redundanten Informationen übermitteln. In der narrativen Kommunikation können sich so die Rezipierenden an diese Konventionen anpassen und daher Informationen, wie sie sie etwa aus der Referenz auf die öffentliche Meinung erhalten, zum tieferen Verständnis von weiter auseinanderliegenden Passagen der Erzählungen nutzen: Since he [=the reader, Anm.] has learned by experience that saga economy allows nothing superfluous, he makes a logical connection between a given episode and the climax no matter how disconnected and far-removed from one another they seem.²⁶⁴

Zwar geht Andersson von einer allgemeingültigen festen Struktur der Isländersagas aus und bezieht den Satz auf den angenommenen Punkt »climax« in seiner übergreifenden Plotstruktur, dennoch passt diese Aussage meiner Ansicht nach generell auf Querverbindungen zwischen den einzelnen Episoden einer oder mehrerer Sagas.²⁶⁵ Konkret markiert wird öffentliche Meinung durch die Verwendung von Formeln wie svá mæla (margir) menn (»So sagen die (bzw. viele) Leute«), in Abwandlung mit Verben wie þykkja oder ætla (›denken‹, ›halten für‹) oder »seltener Verben des Sprechens wie kalla, tala, segja, die alle die Bedeutung ›sagen‹ haben«.²⁶⁶ Solche Einschübe dienen vordergründig narrativen Zwecken und weniger einer tatsächlichen Berufung auf historische Quellen, selbst wenn dieser Eindruck bewusst erzeugt wird, denn sie »bewirken die Fiktion einer historischen Beglaubigung des Erzählten«.²⁶⁷ Besonders der Umstand, dass in diesen unkonkret gehaltenen Formeln sehr allgemein auf namenlose Gewährsleute Bezug genommen und nicht auf einzelne historisch belegte Personen, spricht für eine nahezu ausschließliche narrative Funktionalisierung.²⁶⁸ Demzufolge sind diese Äußerungen aufgrund dieser narrativen Funktion in eine Betrachtung der diegetischen Verhältnisse in den Isländersagas gleichrangig neben anderen Elementen mit einzubeziehen. In diesem Kapitel werden daher die Informationen, die wir über Anwender von níð in den Einführungskapiteln erhalten, durch Informationen ergänzt, die sich dem weiteren narrativen Zusammenhang um die jeweiligen betrachteten níð-Szenen der Isländersagas entnehmen lassen. Auf diese Weise kann ein vollständigeres Bild von der sozialen Wertung in Bezug auf die betreffenden Figuren innerhalb der Saga gewonnen werden. Die untersuchten Textstellen entsprechen damit nicht mehr der objektiv wirkenden Sachlichkeit der besprochenen Figureneinführungen, vielmehr mischen sie bei Figuren, die eine eigene Einführung erhalten haben, den dort zuge Hahn 2020, S. 66, mit Verweis auf Zernack 2011.  Andersson 1967, S. 33.  Kritisch zu Anderssons strukturalistischem Ansatz bei der Untersuchung der Isländersagas etwa Ármann Jakobsson 2017, S. 127– 133.  Merkelbach 2017, S. 254.  Paul 1982, S. 58.  Vgl. Paul 1982, S. 59.

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schriebenen Eigenschaften weitere bei, die meist auf indirektem Wege vermittelt werden. So ergeben sich Wertungen und Zuschreibungen aus dem Gesagten anderer Figuren, die von unterschiedlicher Glaubwürdigkeit für die Lesenden sein können. Dem Wort einer als moralischen Instanz geltenden Figur wird in diesem Zusammenhang wohl größerer Wert beigemessen als dem Wort eines Schurken.²⁶⁹ Ein zentrales und für die Sagaliteratur sehr spezifisches Element für die Entschlüsselung von handlungsbasierten Figurenbewertungen innerhalb des Sagatextes hat Hahn in ihrer Dissertation nicht zuletzt anhand des Motivs ›Diebstahl‹ herausgearbeitet. Dabei bezieht sie den vom Text ermöglichten Kenntnisstand der Öffentlichkeit mit ein, der für die Bildung der Meinung und die Organisation des Gesellschaftswesen zentral ist: »Die Evaluation des Geschehens durch eine Öffentlichkeit entspricht jedoch nicht nur dem Erzählprinzip der Isländersagas, sondern ebenso der mittelalterlichen Rechtspraxis Islands.«²⁷⁰ Für die Verbrechen Diebstahl und Raub ist ihr zufolge die Unkenntnis über ihr Geschehen immanent, was ein Problem für die öffentlichkeitsbasierte Rechtsprechung auf dem Althing darstellt. Damit bedroht es die Rechtsordnung und in der Folge die Ordnung der Gesellschaft im Ganzen.²⁷¹ Der Einsatz von níð hingegen untersteht einem doppelten Spannungsfeld: Wie wir anhand der Vorschriften in der Grágás gesehen haben, werden schmähende Strophen umso härter bestraft, je größer die von ihnen erreichte Öffentlichkeit ist. Diese hohen Strafen lassen es jedoch – wie die Strafen auf Diebstahl – für einige Figuren verlockend erscheinen, die Spuren zwischen sich und ihrem níð zu verwischen. Damit wird wiederum die offene Nachvollziehbarkeit und mithin die Zuordnung zum Urheber gestört, die für eine einwandfreie Rechtsprechung notwendig sind, auf die sich alle Mitglieder der Gesellschaft verlassen und der sie sich kollektiv unterwerfen. Doch nicht immer scheint der Einsatz von níð für seinen Anwender negative Folgen zu haben. Im Folgenden wenden wir uns einigen weiteren Textbeispielen zu, in denen Anwender von níð im Zentrum stehen. Neben der narrativen Gesamtfunktion für den Text werden dabei die zwei hier ausgeführten Faktoren bestimmend sein, die moralische Bewertung durch den Erzähler und andere Figuren, sowie die thematischen Überschneidungen dieses Themenkomplexes mit Fragen der Öffentlichkeit.

4.2.2.1 Duo infernale: Hallgerðr und Sigmundr Lambason Selbst unter den angeführten Präliminarien, dass mit der Annahme dezidierter moralischer Bewertungen Zurückhaltung geübt werden sollte, können wir für viele Sagas deutliche Intentionen in ihren Figurenzeichnungen erkennen. Die Njáls saga zeichnet beispielsweise ein eindeutig negatives Bild vom Skalden Sigmundr Lambason, wenn sich ihr Erzähler auch bei der Charakterisierung ihrer Hauptfigur stark zurücknimmt  Vgl. die Möglichkeit zur Ersetzung der öffentlichen Stimme durch die Stimme einer als respektabel beschriebenen Figur, Lönnroth 2011, S. 90.  Hahn 2020, S. 67.  Hahn 2020, S. 67.

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und letztlich nicht eindeutig positioniert.²⁷² Sigmundrs Charakterisierung hingegen, den wir bereits von seiner Figureneinführung her als menschlich schwierigen Skalden mit einer Affinität zur destruktiven Seite der Dichtkunst kennen gelernt haben, wird in den weiteren Geschehnissen konsequent weiterverfolgt. Wie der Skalde Gunnlaugr scheint er von wankelmütiger Natur zu sein. Er findet jedoch in Hallgerðr ein passendes Gegenstück und erscheint entsprechend während der Zeit seines Auftretens in der Saga als ihre Parallelfigur. Gunnarrs Warnungen in den Wind schlagend, schließt er sich dessen Frau an und nutzt seine Dichtkunst, um scheinbar völlig hörig ihren Willen zu erfüllen.²⁷³ Es liegt auch aufgrund von Hallgerðrs Verhalten und des – bezeichnenderweise nicht weiter ausgeführten – Geredes der Leute sehr nahe, in den beiden ein Liebespaar zu sehen.²⁷⁴ Durch seine Abhängigkeit von Hallgerðr, seine Anwesenheit in ihrem klar als weiblich gekennzeichneten Raum und seine Teilnahme am dortigen Geschwätz wird er von ihr zumindest zeitweise in die Sphäre des Weiblichen gezogen. In diesem Übertreten von Geschlechterräumen wird deutlich, wie wenig sein Verhalten aus Sicht der Sagagesellschaft zu billigen ist. Dass er in der weitgehenden Abwesenheit einer männlichen Öffentlichkeit innerhalb einer weiblichen Sphäre auf Zuruf hin níð dichtet, soll weder innerhalb der Diegese noch für die Rezipierenden ein positives Bild auf den Skalden werfen. Sein Tod führt nicht augenblicklich zu weiteren Konsequenzen. Wenn man sich vor Augen hält, dass ansonsten jeder Tod innerhalb der Fehden zwischen Gunnarrs und Njálls Höfen während der Erzählung zu irgendeiner Art von Vergleich führt, ist diese Erkenntnis beachtlich: Unter den Getöteten sind auch rangniedrige Hofknechte, deren Leben im Gegensatz zu Sigmundrs Leben unmittelbar ein gewisser Wert zugemessen wird, der sich in der Zahlung einer gemeinsam festgelegten Buße ausdrückt. Erst einige Zeit später kommt es zu einem Vergleich zwischen Gunnarr und Njáll, der den Umständen nach allerdings sehr halbherzig und aus Pflichtbewusstsein heraus geschlossen wird.²⁷⁵ Dazu kommt die Tatsache, dass Sigmundr, einmal als unmoralischer Gegenspieler in der Narration etabliert, nach seinem Tod nicht mehr erwähnt wird, wie es bei diesem Figurentyp häufig zu beobachten ist.²⁷⁶ Hallgerðr selbst wirkt durch diese Anstiftung zum níð weiter als kühle und berechnende Figur konturiert; ihr sind die Konsequenzen ihres Handelns nur zu bewusst, weshalb sie Sigmundr sehenden Auges in den sicheren Tod rennen lässt.²⁷⁷

 Vgl. Kap. 4.3.2.  Vgl. dazu Kap. 4.4.3.  Vgl. Kress 2004, S. 289.  Njáls saga, S. 118.  Vgl. Lönnroth 2011, S. 102.  Es ist nicht verwunderlich, dass diese Passage bereits früher so gelesen wurde; vgl. Heller 1964, S. 105, der schreibt: »Hallgerd schürt das Feuer weiter. Sie veranlaßt Sigmund, Hohnstrophen zu dichten, und beschwört so seinen Tod herauf.«

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4.2.2.2 Der Skalde als Störenfried Im Halldórs þáttr I bekommt es einem jungen Mann namens Kali nicht gut, dass er níð einsetzt. Er ist ein entfernter Verwandter von Einarr þambarskelfir, bei dem der eponyme Halldórr zu Gast ist, weil er für seinen Freund Elífr ein gutes Wort bei König Haraldr einlegen möchte.²⁷⁸ In Kalis knapper Vorstellung wird ihm ein ganzes Bündel negativer Eigenschaften zugeschrieben, die wir in ähnlicher Form von einigen Skalden kennen.²⁷⁹ Es kann die Rezipierenden bei dieser ausschließlich negativen Vorstellung daher nicht weiter verwundern, dass Kali andere verspottet und bald darauf dazu auffordert, níð gegen Halldórr zu produzieren: Hann hafði mjǫk í háði við Halldór ok bað aðra menn yrkja níð um hann, en engi varð til þess; því fekksk Kali ok í at flimta hann. ²⁸⁰ In seinen Aufforderungen kommt der Wunsch zum Tragen, dass jemand anderes als er selbst níð einsetzen solle; dieses häufige Muster eines indirekt eingesetzten níð, das ein wenig positives Licht auf die betreffenden Figuren wirft, kennen wir bereits von Hallgerðr und Sigmundr.²⁸¹ Kali bekommt den mahnenden Hinweis von Einarrs Frau Bergljót, mit Blick auf Halldórrs Tapferkeit diese Tätigkeiten zu unterlassen. Darauf reagiert er mit starken sexuellen Implikationen: ›Ekki em em hræddr við hann mǫrlanda, þó at hann var settr í dýflizu út á Grikklandi ok lá þar á ormshala athafnarlauss ok ekki megandi.‹ ²⁸² Zwar wird durch den Verweis auf den Kerker und die Schlange das bekannte Motiv von einem Helden in der Schlangengrube evoziert, jedoch ist die gescholtene Figur in dieser Aussage alles andere als heldenhaft. Immerhin wird Halldórr hier aufgrund des Kontextes von níð unterstellt, er habe regungslos auf einem sicherlich phallisch verstandenen Objekt verharrt. Zudem schwingt offensichtlich die Andeutung mit, er habe sich davon penetrieren lassen und sei daher mit ergi behaftet. Dass für einen Betrachter nicht unmittelbar ersichtlich ist, wo bei einer Schlange der Schwanz beginnt, trägt zur Schwere der Unterstellung bei.²⁸³ Der Ort des Geschehens, der weit außerhalb des kulturellen Zentrums der Is Harris 2008a, S. 5 – 7, macht Versöhnung als das zentrale Motiv des Þáttrs aus.  Halldórs þáttr I, S. 252: [I]llgjarn var hann ok nǫkkut ǫfundsjúkr, háðsamr ok hávaðamikill; »Er war bösartig und etwas missgünstig, spöttisch und überheblich.«  Halldórs þáttr I, S. 252; »Er [Kali] trieb viel Spott mit Halldór und bat andere Männer, níð über ihn zu machen, aber niemand war bereit dazu. Daher begann Kali selbst damit, ihn zu verspotten.«  Vgl. Kap. 4.2.2.1. Zur Erzähltechnik von Landstreichern und Handeln durch Stellvertreter vgl. Kap. 4.4.1 und 5.4.2 sowie die Schlussbetrachtungen in Kap. 4.4.7.  Halldórs þáttr I, S. 253; »›Vor diesem Talgländer habe ich keine Angst, selbst wenn er von dir geschätzt wird, denn wir haben erfahren, dass er in Byzanz in ein Kerkerloch geworfen wurde und da untätig und machtlos auf einem Schlangenschwanz lag.‹« [Anm.: »Talgländer« war ein norwegischer Spottname für Isländer, der auf deren Essgewohnheiten basierte, vgl. den Hinweis von Einar Ól. Sveinsson in Fn. 1 auf derselben Seite].  Die Szene knüpft möglicherweise auch an einen Gelehrtendiskurs an, demzufolge Schlangen mit sexueller Devianz konnotiert sind. Das im Mittelalter weit verbreitete Naturlehrbuch Physiologus, das unter anderem unterschiedliche Tiere und ihre allegorische Funktion im Kontext des christlichen Heilsgeschehens vorstellt, beschreibt Vipern als geschlechtsteillos und nur zur Empfängnis über den Mund fähig. In der Folge der Geschlechtsteillosigkeit muss der Nachwuchs sich zur Geburt aus dem Körper der Mutter herausfressen, wobei diese stirbt. In der allegorischen Auslegung des Physiologus

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ländersagas liegt, ist ebenfalls bedeutsam. Kali bezieht sich auf die Beobachtungen einer Öffentlichkeit, die es an diesem Ort, einem Kerkerloch, per se gar nicht gegeben haben kann, und bewegt sich damit in dem bewusst uneindeutigen Dunstkreis, der níð nach den Regelungen der Gulaþingslǫg zu eigen ist. Gut vorstellbar ist jedenfalls, dass Kalis nicht zitierte Strophen genau diese Unsicherheiten hinsichtlich der wertenden Öffentlichkeit und der anatomischen Eigenschaften einer Schlange thematisieren und sie in möglicherweise sehr drastischer Weise ausfabulieren. Kali wird stante pede von dem so Geschmähten erschlagen und es entzündet sich ein Konflikt zwischen seinem Verwandten Einarr und dem rächenden Halldórr. Es entspinnen sich diverse Verwicklungen zwischen Halldórr und Einarr, der sich zwar gezwungen sieht, eine Buße für Kali festzusetzen, allerdings auch Verständnis für Halldórrs Situation zu haben scheint. Den Anstoß dazu hat auf der Handlungsebene Kalis – völlig untermotiviertes – níð gegeben, das erzählerisch nicht dazu dient, die ansonsten unwichtige und blasse Figur Kalis zu charakterisieren. Für den Erzähler scheint es ausreichend zu sein, über Kali zwei Informationen zu geben: Zum einen ist er von seinem Wesen her auf Streit aus und zum anderen ist er ein entfernter Verwandter von Einarr. Die erste Information dient dazu, zumindest oberflächlich nachvollziehbar zu machen, dass er níð dichtet, während die Verwandtschaft erklärt, weshalb Einarr überhaupt in die Lage kommt, über eine Buße nachzudenken. Wäre dies nicht der Fall, hätte es für die Gesamtkonzeption des Þáttr ausgereicht, sich etwa einer Landstreicherfigur zu bedienen.²⁸⁴ Nachdem Kali tot ist, kann sich aber der Rest der Geschichte entlang der vielschichtigen entworfenen Beziehungsgeflechte entfalten. So kann das Verhältnis zwischen Halldórr und Einarr mit dieser Episode näher charakterisiert werden, das sich in erzählerischen Kontrasten und Parallelen nochmals innerhalb einer anderen Figurenkonstellation wiederspiegelt: The relationship between Halldórr and Einarr replicates closely that between Elífr and Haraldr, both having not only the common Alienation/Reconciliation structure but, in addition to the two

steht die Viper für die Pharisäer: Physiologus, S. 110. Das Bild einer Schlange, die ein parasitisches Dasein in einem anderen Körper führt, sich auf besondere Weise fortpflanzen muss und motivische Verbindungen zu Tötungen innerhalb der Familie aufweist, begegnet uns auch in zwei Riddarasǫgur. In der Sigrgarðs saga ok Valbrands wird eine Tötung bestraft, indem dem Delinquenten eine Schlange in den Mund kriechen und ihn von innen heraus auffressen soll, Sigrgarðs saga ok Valbrands, S. 186. In der Mírmanns saga hat sich die Pest in Form einer Schlange im Körper des Protagonisten festgesetzt. Zur Heilung muss sie herausgelockt werden. Zu diesem Zweck gibt Cecilia Mírmann ein besonderes Getränk, woraufhin die beiden ihre Münder aufeinanderpressen und die Schlange so ›übertragen‹ sollen. Der Trick gelingt, da die Schlange beim Übergang mit den Zähnen festgehalten und unschädlich gemacht werden kann, Mírmanns saga, S. 67– 69. Sophie Fendel gebührt mein Dank für den Hinweis auf diese Motivik.  Zu Landstreicherfiguren als Erzählprinzip vgl. Kap. 4.4.1.

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essential role positions or ›slots,‹ also a third that is often found in þættir of this type, the intercessor (Halldórr as intercessor for Eilífr, and Bergljót for Halldórr).²⁸⁵

Dass der Zwist zwischen Eilífr und Haraldr ebenfalls darauf beruht, dass ein Knecht erschlagen wurde, erfahren wir erst am Ende der Erzählung, so dass hier noch einmal die Parallele unterstrichen wird, deren erster Teil bereits als zentraler Konflikt in der Kali-Episode angelegt ist.²⁸⁶ In dieser Episode macht sich die Erzählinstanz die innere Logik von níð zunutze, um zwischen Einarr und Halldórr eine ähnliche Ausgangslage inszenieren zu können wie in der Rahmenerzählung.

4.2.2.3 Streit um das Godenamt: Þórhaddr und Grímkell in der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar Þórhaddr ist der Gegenspieler der eponymen Figur der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar. Von Beginn an wird er vom Erzähler als Kontrastfigur gezeichnet, die wir aufgrund der Erzählerkommentare und der Wertungen durch die diegetischen Figuren nahezu durchgehend als sehr negativ bewerten. Er wird uns wie Þorsteinn selbst aufgrund der überlieferten Gestalt des Textes nicht im Rahmen einer Figurenexposition vorgestellt. Aus dem Mund von Þorsteinn hören wir das erste Mal von ihm, wobei die erste Beschreibung zunächst durchaus positiv klingt: ›Verit mundi þat hafa, at ek munda ekki leitat hafa víða, ef Þorháddr væri jafnnær, en nú veit ek eigi at þessum málavǫxtum, sem nú eru. Hefir hann ok flesta hluti til, bæði vit ok harðfengi. Er nú fæð með okkr.‹ ²⁸⁷ Eine Erklärung für das aktuell schwierige Verhältnis erwähnt er nicht, gleichwohl charakterisiert der Erzähler Þórhaddr im Anschluss an Þorsteinns Suche nach einem Verwalter für sein Godentum implizit durch sein Handeln. Wertungen erfolgen an dieser Stelle nicht durch den Erzähler, vielmehr bleiben sie aufgrund der Textgestalt noch den Rezipierenden überlassen. Dass eine Vertretung für Þorsteinns Godentum gesucht wird, verbreitet sich durch Mundpropaganda bis hin zu Þórhaddr, der eine Chance zu wittern und darüber hinaus bereit zu sein scheint, die Unstimmigkeiten zwischen den beiden zu begraben: Hann ferr þegar á fund Þorsteins ok mælti: ›Vel gezk mér at orðum þeim, sem ek hefi spurt, ok gerum svá vel ok leggjum niðr fæð þá, sem á hefir verit með okkr, en tǫkum upp nýtt vinfengi, ok ef þér svá

 Harris 2008a, S. 6 – 7. Die hier genannten strukturellen Elemente »Alienation« und »Reconciliation« basieren u. a. auf Anderssons Arbeit, vgl. Andersson 1967. Wichtig ist hier die Beobachtung einer dritten vermittelnden Figur in beiden Konstellationen. Vgl. nochmals Harris 2008a, S. 6, Fn. 2.  Vgl. Harris 2008a, S. 7.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 299; »›Es hätte so sein können, dass ich nicht mehr lange hätte suchen müssen, wäre Þórhaddr mir noch gleich nahe [wie früher], aber beim gegenwärtigen Stand der Dinge weiß ich nicht so recht weiter. Er hat ja alle Voraussetzungen dafür, sowohl Verstand als auch Unerschrockenheit. Aber gerade ist unser Verhältnis nicht gut.‹«

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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sýnisk þat ráð, at ek taka við goðorði þínu, þá skal ek búinn ok boðinn til þess starfs, sem þú vil mik til nýta.‹ ²⁸⁸

Hier wird die positive indirekte Charakterisierung durch Þorsteinn durch die Schilderung von Þórhaddrs Verhalten wieder relativiert und beinahe schon ironisch mit ihr gebrochen. Der unter Verwendung des Wortes þegar ›sofort‹²⁸⁹ geschilderte unverzügliche Aufbruch zu Þorsteinn lässt Þórhaddr deutlich als Opportunisten erscheinen, da er durch die Stellung im Text unmittelbar kausal durch das Gerücht vom temporär vakanten Godentum bedingt ist. Wenn Þorsteinn ihm zuvor einen klugen Verstand (vitr) zugesprochen hat, so wirkt Þórhaddr hier angesichts seines kriecherischen Auftrittes eher wie jemand, der sich einer gewissen Gerissenheit zum eigenen Vorteil bedient. Und tatsächlich zeigt diese Vorsprache bei Þorsteinn die gewünschte Wirkung: [O]k tók Þorháddr við goðorðinu á þingi, ok skilðu með vináttu. ²⁹⁰ Nach dieser Auskunft hören wir zunächst nichts mehr von Þórhaddr, da die Erzählung sich im Folgenden auf Þorsteinn und seine Erlebnisse im Ausland konzentriert, während derer er sich unter Beweis stellt und ein strahlender und charismatischer Gefolgsmann auf den Orkneys wird. Im Kontrast dazu verlagert sich der Schauplatz der Erzählung dann wieder nach Island, um von Þórhaddrs Stellvertretung zu berichten. In knapper Sagaprosa heißt es, Þórhaddr hätte sich während Þorsteinns Auslandsaufenthalt gut um dessen Thingmänner gekümmert, woraufhin scheinbar neutral und en passant konstatiert wird, er habe in dieser Zeit viel vom Vermögen des Thingmanns Haukr erhalten.²⁹¹ Diese scheinbare Neutralität löst der Erzähler gleich darauf durch die Wiedergabe der Ereignisse um den Vermögensgewinn auf und verkehrt sie ins Gegenteil. Die narrative Struktur entspricht dabei jener in der Szene, in der Þórhaddr das erste Mal in den Fokus der (uns überlieferten) Handlung tritt: Eine positive Zuschreibung durch eine andere Figur beziehungsweise in diesem Fall den Erzähler wird durch die Beschreibung seines Handelns konterkariert und geradezu dekonstruiert. Als es daran geht, das þingfararkaup ²⁹² einzutreiben, fällt Þórhaddr nämlich unter Haukrs Besitztümern ein großer wertvoller Kessel auf, den er für sich beansprucht:

 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 299; »Er machte sich sofort auf zu Þorsteinn und sprach: ›Mir gefallen diese Worte, die ich gehört habe; lass uns doch so gut sein und diese Missstimmungen zwischen uns beiden niederlegen und unser gutes Verhältnis wieder aufleben zu lassen. Und wenn es dir ratsam erscheint, dass ich dein Godenamt übernehme, dann bin ich mehr als bereit für diese Aufgabe, die du mir zuweisen möchtest.‹«  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. þegar.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 299; »Und Þorháddr übernahm das Godentum auf dem Thing, und sie trennten sich in Freundschaft.«  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 302: En meðan Þorsteinn var útan, þá helt Þórhaddr vel þingmenn hans. Þar með fekk hann mikit af fé Hauks; »Und während Þorsteinn außer Landes war, kümmerte Þórhaddr sich gut um dessen Thingmänner. Dabei erhielt er auch viel von Haukrs Besitz.«  Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 153 – 154.

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Þá mælti Þórhaddr: ›Þenna grip vil ek hafa til míns bús, en þú haf annat fé í móti.‹ Haukr kvazk eigi missa mega ok kvað hann þó mega vel við una, er honum var gefit allt, ok eigi sannligt í mót at mæla, at hann hefði. Þórhaddr kvað svá vera vera, en lét þó fleirum mǫnnum nauðsyn til at kalla en honum einum. Reið hann í brott. ²⁹³

Haukrs Frau, Þórhaddrs Tochter Guðleif,²⁹⁴ hat keinen Zweifel daran, dass die hier von ihrem Vater vorgegebene Nachsicht nur zeitverzögerndes Taktieren ist und kann Haukr schlussendlich überzeugen, Þórhaddr nachzureiten und ihm den Kessel doch noch anzubieten. Ihre Wortwahl lässt auf ein sehr schwieriges Verhältnis zum Vater schließen, obwohl sie die einzige nähere Verwandte ist, der ein gewisser Platz in der Erzählung eingeräumt wird – ansonsten erfahren wir wenig über Þórhaddrs soziales Netz. Guðleif äußert sich kritisch dazu, den Kessel zu behalten: ›[O]k mun þetta illa gefask við ofsa fǫður míns‹. ²⁹⁵ Tatsächlich schlägt Þórhaddr den nachträglich angebotenen Kessel aus, lässt dafür aber im Herbst dieses und der beiden Folgejahre einen großen Teil von Haukrs Vieh mit Verweis auf die unterbliebene Zahlung schlachten. Guðleif rät ihrem Mann trotz der Überzeugung, nichts Falsches getan zu haben, zur Zurückhaltung, weil Þórhaddr die anderen Thingmänner gut behandle und Þorsteinns Rückkehr bald zu erwarten sei. In dieser beschriebenen Handlungsweise bestätigt sich Guðleifs vorheriges Urteil über Þórhaddrs Charakter – das von ihr benutzte altnordische Wort ofsi kann auch mit ›Gewalt‹ und ›Tyrannei‹ übersetzt werden.²⁹⁶ Beides tritt in Þórhaddrs Handeln deutlich zutage, zumal ihm ja ohne weiteren Nachteil angeboten wurde, den begehrten Kessel zu bekommen, was die angeordneten Schlachtungen als Akte höchster Willkür erscheinen lässt. Haukr selbst bezeichnet die Vorgänge als Diebstahl, dem er ratlos gegenübersteht.²⁹⁷ Diesen Eindruck auf Seiten der Rezipierenden der Narration verstärkt die Tatsache, dass sich schließlich auch die diegetische Gesellschaft Haukrs Auffassung anschließt und in der Folge eine allgemeine Missbilligung dieser Schlachtungen zum Ausdruck gebracht wird. In Bezug auf die Schlachtung im dritten Herbst heißt es im Erzählerkommentar zur öffentlichen

 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 303;»Da sprach Þórhaddr: ›Diese Kostbarkeit will ich für meinen Hof haben; du sollst im Gegenzug dafür etwas anderes haben.‹ Haukr sagte, er könne nicht auf den Kessel verzichten und er meinte, er [Þórhaddr] könne doch wohl zufrieden sein, da ihm doch alles gegeben wurde. Er könne doch nicht ernsthaft dagegen sein, dass Haukr den Kessel behalte. Þórhaddr sprach, dass es so sein solle, aber er erklärte, es sei notwendig, mehrere Männer [für die endgültige Entscheidung] hinzuzuiehen und nicht nur ihn allein. Dann ritt er fort.«  Dass sie Haukrs Frau sein muss, ist die schlüssigste Erklärung für ihre Anwesenheit auf seinem Hof, über dessen Zusammensetzung uns die überlieferte Fassung ansonsten weitgehend im Unklaren lässt, vgl. die Anmerkung von Jón Jóhannesson, Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 302– 303, Fn. 8. Erst später bezeichnet Þórhaddr vor dem Thing Haukr als seinen Schwiegersohn, S. 304.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 303; »›Und das wird wegen des Hochmuts meines Vaters schlechte ausgehen.‹«  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. ofsi.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 304: Haukr kvazk eigi vita, hvat hann ætlaði til um rán við hann; »Haukr sagte, er wisse nicht, was er von dem Diebstahl an ihm halten solle.«

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Bewertung des Geschehens: Þetta mæltisk illa fyrir. ²⁹⁸ Diese Aussage zeigt den hohen Grad an sozialer Missbilligung, selbst wenn sie offenlässt, ob sich diese auf Þórhaddrs gesamtes Verhalten bezieht oder diesen letzten Teilaspekt seines Handelns. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass die Sagagesellschaft spätestens mit der dritten großen Schlachtung die Grenzen des Akzeptablen überschritten sieht. Diese Grenzüberschreitung ist zentral für Þórhaddrs negative Charakterisierung und sie stellt einen Wendepunkt in der diegetischen Wahrnehmung seiner Figur dar. Charakterzüge, die in der Narration bereits angelegt und nur für die Rezipierenden und innerhalb der Diegese für Þórhaddrs Frau erkennbar waren, treten nun im dritten Jahr seiner Stellvertretung im Godenamt für alle sichtbar zutage: »Godemakta går Þórhaddr slik til hovudet at han misbrukar ho.«²⁹⁹ Þórhaddrs rán dient an dieser Stelle zur expliziten narrativen Kennzeichnung von dessen Machtdemonstrationen gegenüber den Bauern.³⁰⁰ Auf dem Herbstthing nach Þorsteinns Rückkehr verweigert ihm Þórhaddr die Rückübertragung des Godenamtes unter einem Hinweis auf die Tagesordnung des Things: Þorsteinn kvað þat makligt, at hverr réði sínu. ›Nú mun ok vel fundit, at ek taka við goðorði mínu.‹ Þórhaddr svarar: ›Þetta skyldir þú fyrri talat hafa en lǫgskil fœri fram. En nú samir betr at selja goðrorð af hendi á várþingi, áðr lǫgskil fara fram, enda þarftu ekki goðorð í vetr.‹ Þorsteinn reiddisk mjǫk, er hann náði eigi goðorðinu, ok skilðu við þat. ³⁰¹

Der Erzähler lässt offen, ob Þórhaddr mit seiner Behauptung auf die prozessualen Feinheiten Recht hat; Þorsteinns Reaktion und die Tatsache, dass Þórhaddr sich im Folgenden bei der Rückübertragung des Godenamtes wenig kooperativ zeigt, sprechen eher dagegen. Insgesamt wirkt sein Verweis auf den Ablauf der Thingverhandlung vor dem Hintergrund seiner negativen Charakterisierung wie ein fauler formaljuristischer Trick, dessen er sich allein zum eigenen Vorteilsgewinn bedient.³⁰² Auf dem folgenden Frühlingsthing beleidigt und provoziert er Þorsteinn noch vor der

 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 304; »Darüber wurde schlecht gesprochen.«  Magerøy 1957, S. 257. Magerøy sieht darüber hinaus im Motiv des Viehdiebstahls Parallelen zur Bandamanna saga, die ihm zufolge auf eine enge textliche Verwandtschaft schließen lassen, vgl. ibd. S. 250 – 257.  Vgl. Hahn 2020, S. 249 – 251.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 304– 305; »Þorsteinn meinte, es gehöre sich, dass jeder sich um seine Angelegenheiten kümmere. ›Nun soll es so sein, dass ich mein Godenamt wieder übertragen bekomme.‹ Þórhaddr antwortete: ›Das hättest du vorher sagen sollen, als die Rechtsstreitigkeiten verhandelt wurden. Aber jetzt erscheint es besser, das Godenamt am Frühlingsthing zu übergeben, bevor die Rechtsstreitigkeiten verhandelt werden, und außerdem brauchst du das Godenamt im Winter nicht.‹ Þorsteinn wurde sehr wütend, da er das Godentum nicht bekam, und damit trennten sie sich.«  Zudem ist ein solche Regelung in Bezug auf die Streitigkeit über das Godenamt an keiner Stelle des altisländischen Rechts belegt, vgl. Magerøy 1957, S. 257. Ebenfalls eines Tricks bedient sich Njáll, als er auf dem Althing die Einrichtung des fünften Gerichts durchsetzt, um für Hǫskuldr ein Godenamt zu erlangen, vgl. Kap. 4.2.2.3.

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Übergabe des Godenamtes, und es kommt beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, die nur durch das Einschreiten der Umstehenden verhindert werden kann. Die Art und Weise, in der er Þorsteinn gegenübertritt, ist geprägt von Unterstellungen der Unmännlichkeit. Die Drohungen, die Þorsteinn zuvor ausgesprochen hat, um den von Þórhaddr selbst herbeigeführten rechtswidrigen Zustand zu beenden, bezeichnet er als unnötig, da er das goðorð ohnehin zurückerhalten hätte. Er stellt sodann einen Gegensatz zwischen Þorsteinn und dessen Vater her, der sich auf dem Thing im Gegensatz zu seinem Sohn sehr männlich verhalten habe.³⁰³ Diese Reaktion aufgrund der vorangegangen Handlungsweisen Þorsteinns ist durchaus auffällig, denn »we would expect Þorstein’s threat of violence to be regarded not only as appropriate, but also as appropriately masculine«.³⁰⁴ Dass hier eine solche Divergenz zwischen dem gesellschaftlichen Ideal und Þórhaddrs Reaktion auf ein ansonsten sehr akzeptiertes Verhalten besteht, unterstreicht noch einmal dessen schlechten Charakter, ohne dass der Erzähler direkt Bezug darauf nehmen muss. Noch auf dem Thing nimmt Þorsteinn sein Godenamt wieder an sich und setzt kraft dieses Amtes fest, dass Þórhaddr als Konsequenz aus seinem Handeln den Wohnsitz wechseln muss. Þórhaddr hält sich nicht an die gesetzte Umzugsfrist, so dass die beiden einander bald erneut bewaffnet gegenüber stehen.³⁰⁵ Nachdem diese Situation in einer brenna mündet, aus der Þórhaddr und die anderen im Haus durch eine Verhandlung entkommen, ist die bis dahin schon sehr in Mitleidenschaft gezogene Beziehung zwischen dem Goden und seinem Stellvertreter endgültig unrettbar zerstört. Þórhaddr sieht sich mit dem Rücken zur Wand stehen und wir werden Zeuge, wie er in Übereinstimmung mit seiner negativen Figurenzeichnung zum Äußersten bereit ist, als sich die Gelegenheit dazu bietet: Varð nú af nýju fjándskapr með Þórhaddi ok Þorsteini ok mest af Þórhaddi, er hann var svá mjǫk nauðigr. Gerðisk nú orðflaug mikil af Þórhaddi ok sonum hans til Þorsteins, ok váru þeir inir mestu fársmenn í orðum. Einn aptan kom þar maðr til gistingar, sá er Grímkell hét. Hann var flǫkkunarmaðr ok hrópstunga mikil. Þórhaddr gerði sér tíðhjalat við hann, ok dvalðisk hann þar um hríð. Þórhaddr kaupir at honum, at hann skal fara á vestanvert land ok bera þar upp ragmæli um Þorstein Hallsson með því móti, at Þorstein væri kona ina níundu hverja nótt ok ætti þá viðskipti við karlmenn. ³⁰⁶

 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 305.  Evans 2019, S. 47.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 305 – 307.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 307– 308; »Die Feinschaft zwischen Þórhaddr und Þorsteinn entbrannte erneut, und zwar hauptsächlich durch Þórhaddr, da er so viel Gewalt erfahren hatte. Es kam nun zu vielen Gerüchten über Þorsteinn durch Þórhaddr und seine Söhne. Sie waren unglaublich boshaft in ihren Worten. Eines Abends kam ein Mann zu Gast, der Grímkell hieß. Er war Landstreicher und ein richtiges Lästermaul. Þórhaddr sprach oft mit ihm, und er blieb dort eine Weile. Þórhaddr bezahlte ihn dafür, dass er im westlichen Teil des Landes umherreisen und ein ragmæli über Þorsteinn Hallsson verbreiten solle mit dem Inhalt, dass Þorsteinn jede neunte Nacht eine Frau sei und mit Männern verkehre.«

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Das Mittel seiner Wahl ist níð mit den bekannten formelhaften Anschuldigungen, dass der Geschmähte jede neunte Nacht eine Frau sei und Verkehr mit Männern habe – aufgrund der unterstellten weiblichen Identität kann auch hier nur der passive homosexuelle Verkehr im Sinne der ergi-Thematik gemeint sein.³⁰⁷ Dass Þórhaddr einem Landstreicher Geld und Unterkunft dafür bietet, um ein ragmæli über seinen Kontrahenten in die Welt zu setzen, sagt innerhalb des Normensystems der Sagas viel über ihn selbst aus. Er macht sich mit einer gesellschaftlichen Randfigur ohne soziales Netz gemein und bewegt sich somit selbst an die Peripherie der Gesellschaft – Landstreicher werden in den Isländersagas beinahe durchgehend ausschließlich negativ dargestellt.³⁰⁸ Und so wird auch Grímkell nicht weiter vorgestellt: »Grímkell is introduced only by a forename, without patronymic, family details or property.«³⁰⁹ Dabei ist es bemerkenswert, dass Þórhaddr selbst über kein nennenswertes soziales Netzwerk verfügt oder dass vielmehr diese Informationen vom Erzähler auf ein Mindestmaß beschränkt werden, wie wir bereits gesehen haben. Grímkell erscheint wie Þórhaddr als Opportunist und wird ihm so für die Dauer seines kurzen Auftauchens im Text als Parallelfigur beigeordnet. Þórhaddr macht sich die Ungebundenheit des Landstreichers zunutze, um mit maximaler Wirkung seinem Kontrahenten zu schaden: Grímkell is told to go west to start the slander, so that it spreads back from there to Þorsteinn’s locality. Not only does this make it more difficult for Þorsteinn to prosecute Þórhaddr for slander (though there is little doubt in his mind as to the origin of the rumour), it also makes the rumour more damaging, as people do not immediately connect it with Þórhaddr.³¹⁰

Doch trotz dieser verschleiernden Wirkung, die seine Zuhilfenahme des Landstreichers Grímkell auf die Nachverfolgbarkeit des níð hat, kann Þórháddr sich nicht der sozialen Bewertung seines Handelns durch die Rezipierenden entziehen. Für diese wirkt er, der sich bereits im Vorfeld dazu durch fragwürdige Handlungen ausgezeichnet hat, als negativer Gegenpol zu Þorsteinn, da ihm sein níð letzten Endes doch noch zum Problem wird. Die erzählerische Abwertung seines Handelns wird in der Darstellung von zwölf Träumen deutlich, über die Þórháddr berichtet und die er sich deuten lässt.³¹¹ Steinn, den er um die Deutung seiner Träume bittet, führt beinahe jeden davon auf das níð zurück, das er in die Welt gesetzt hat. Damit erfüllen seine Träume überdeutlich die Funktion als Identifikationswerkzeug für begangenes Unrecht, das besonders dann zum Tragen kommt, wenn auf verschleiernde Weise gegen

 Die formellen Aspekte von níð sind in Kapitel 2.2.3 behandelt worden. Für eine Analyse der Funktionsweise des níð im Gesamtgefüge der Saga auf der Erzählebene vgl. Kap. 4.4. Große inhaltliche Ähnlichkeit besteht mit einer níð-Szene in der Njáls saga, in der in einem sehr ähnlichen erzählerischen Kontext gleichlautende Vorwürfe erhoben werden, vgl dazu Cochraine 2012, S. 56.  Vgl. Cochrane 2012, S. 44. Zur narrativen Funktion von Landstreichern bei der Verbreitung von níð vgl. Kap. 4.4.1.  Cochrane 2012, S. 57.  Cochrane 2012, S. 57.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 309 – 313.

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die gesellschaftliche Ordnung verstoßen wurde.³¹² Das Ende der Saga ist sehr bruchstückhaft überliefert, aber es lässt sich dennoch nachverfolgen, dass Þorsteinn zumindest an Þórháddrs Söhnen Rache für das nið nimmt.³¹³

4.2.2.4 Ruhmerwerb und die Etablierung einer neuen Genealogie: Þorsteinn Þorgnýsson Die Hauptfigur des ersten Teils der Svarfdœla saga, Þorsteinn Þorgnýsson, bedient sich níð nicht in heimlicher Weise, was ihm zum Vorteil gereicht. Er wächst mit dem Bruder Þórólfr auf dem Hof des Vaters Þorgnýr in Norwegen auf. Die Brüder werden als typisches Kontrastfigurenpaar beschrieben: Während Þórólfr als der ältere von beiden oft auf Handesfahrt im Ausland ist und sich dort Ansehen erwirbt, bleibt der jüngere Þorsteinn hinter den gesellschaftlichen Erwartungen zurück. Er wird als kolbítr beschrieben, der zuhause bleibt und den Eltern zur Last fällt, die ihm in der Folge wenig Zuneigung schenken: [H]ann byggði eldahús ok fekk mikit ástleysi af fǫður ok móður ok ǫllum frændum sínum. ³¹⁴ Er ist dieser Figureneinführung zufolge ein Vertreter des Kohlenbeißer-Typus und für die Rezipierenden als Hauptfigur mit einer bestimmten vorgezeichneten (positiven) Entwicklung markiert.³¹⁵ Mit dieser Vorstellung steht zu Beginn der Saga fest, dass der narrative Fokus auf Þorsteinn liegt. Das zweite Kapitel führt den Kontrast zwischen den Brüdern sehr plakativ weiter aus, indem von Þórólfrs Rückkehr nach einer Handelsfahrt und der überschwänglichen Reaktion des Vaters darauf erzählt wird. Nach dem Fest stolpert er in der Nähe der Feuerstelle über Þorsteinn und ein Streit zwischen den Brüdern entbrennt. In diesem Gespräch mit seinem Bruder Þórólfr äußert Þorsteinn ganz im Einklang mit dem literarischen Typ, für den er stellvertretend steht, nie den väterlichen Hof verlassen zu wollen, da er ohnehin nichts Besseres finden werde, als beim warmen Feuer auf dem Boden zu liegen.³¹⁶ Damit gibt er zu erkennen, dass er sich in dem häuslichen Geschlechtergefüge der binären Trennung in »außen« und »innen« selbst der räumlichen Sphäre des weiblich konnotierten Bereichs innan stokks zuordnet. Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs thematisiert Þorsteinn seinem Bruder gegenüber noch explizit die fehlende Vaterliebe, die ihm von Þorgnýr entgegengebracht wurde: ›hann vill mik eigi sinn frænda láta kalla fyrir ástleysis sakir við mik‹. ³¹⁷ Þórólfr schafft es seinen Bruder davon zu überzeugen, dass er seinem Leben einen anderen Sinn geben müsse und bietet ihm dafür

 Vgl. Miller 1986, S. 102.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 318.  Svarfœla saga, S. 129; »Er bewohnte die Küche und bekam wenig Liebe von seinem Vater und seiner Mutter und allen seinen Verwandten.«  Zugleich dient Þorsteinn damit als Kontrastfigur zu Karl inn rauði, der später weite Teile der Fehdehandlung der Saga bestimmt, vgl. Heinemann 1997, S. 241.  Svarfdœla saga, S. 130.  Svarfdœla saga, S. 130 – 131; »›Er möchte mich nicht seinen Verwandten heißen lassen, weil er mir so wenig väterliche Liebe zukommen lässt.‹«

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seine Hilfe an.³¹⁸ Sie tauschen Eide aus und wohl als wiederum plakativ wirkendes Zeichen der Beendigung seines Daseins als kolbítr zerschmettert Þorsteinn einen Stuhl: Hann tekr þá upp knakk sinn ok gengr út með ok brýtr í sundr, segir, at eigi skal konum gagn at verða. ³¹⁹ Auf einer gemeinsamen Handelsreise mit seinem Bruder thematisiert er, dass er sich von víking-Fahrten mehr Ruhm verspricht. Da Þórólfr geschworen hat, ihm bis zu seinem eigenen Tod nicht mehr von der Seite zu weichen, rückt Þorsteinn zunächst wieder von diesem Plan ab, als Þórólfr signalisiert, ihn begleiten zu wollen: ›Þetta gerir þú illa, því at faðir þinn mun svá virða, ef þú kemr eigi aptr, sem ek hafa setit um líf þitt.‹ ³²⁰ Nach drei Jahren ändert er seine Meinung und spricht mit seinem Vater Þorgnýr darüber, dass er bislang noch keine Möglichkeit hatte, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen: ›[E]nda hǫfum vit enn ekki reynt okkr,‹ sagði Þorsteinn, ›í einvígjum eðr víkingu ok munum enn freista lengr. Vilda ek, faðir, at þú vísaðir okkr til víkings nǫkkurs, þess er mér væri nǫkkur frægð í, ok biða ek annathvárt bót eða bana ok væri mín síðan getit at nǫkkuru.‹ ³²¹

Þorsteinn nennt als Möglichkeiten, sich über die bisher getätigten Handelsreisen hinaus als Mann zu beweisen, einen Zweikampf (einvígi) und eine Wikingfahrt (víking) und bittet seinen Vater um einen Ratschlag für eine mögliche Wikingfahrt. Þorgnýr gibt Þorsteinn den Hinweis, dass er sich durch den Sieg über Ljótr bleiki in Schweden am schnellsten dauerhaften Ruhm erwerben könne.³²² Einen Hinweis auf den relativen Wohlstand und mithin den entsprechend hohen sozialen Status der Familie erhalten wir in der Information, dass Þórólfr seine Knǫrr verkauft und stattdessen zwei Langschiffe kauft.³²³ Abermals äußert Þorsteinn den Gedanken, dass einer der beiden Brüder nicht zurückkehren könnte; wenn er schließlich dennoch unter bewusster Inkaufnahme dieser Gefahr aufbrechen möchte (›en þó mun ek eigi láta letjast ferðarinnar‹),³²⁴ scheint in seiner Figurenkonzeption ein Fatalismus durch, den wir ansonsten hauptsächlich aus dem Genre der Heldendichtung kennen. Durch seine

 Svarfœla saga, S. 130.  Svarfœla saga, S. 131; »Er nahm da seinen Fußschemel auf, ging damit hinaus und zerschmetterte ihn. Er sagte, dass er den Frauen nicht von Nutzen sein werde.«  Svarfdœla saga, S. 135; »›Daran tust du schlecht, denn dein Vater wird es so werten, wenn du nicht mehr zurückkehrst, dass ich dein Leben aufs Spiel gesetzt hätte.‹«  Svarfdœla saga, S. 134; »›Ich habe mich noch nicht in einem Zweikampf oder auf Wikingfahrt unter Beweis gestellt, und ich werde es noch länger versuchen‹, sagte Þorsteinn. ›Vater, ich möchte, dass du uns eine Wikingfahrt aufzeigst, durch die ich mir etwas Ruhm erwerben kann, und ich warte entweder auf Abhilfe oder meinen Tod, denn dann würde später wenigstens über mich geredet werden.‹«  Svarfdœla saga, S. 134.  Svarfdœla saga, S. 134.  Svarfdœla saga, S. 135; »›Aber dennoch werde ich mich nicht von der Fahrt abbringen lassen.‹«

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

bewusste Entscheidung zur Wikingfahrt vor dem Hintergrund dieses Wissens erhält seine Figur zusätzliche heroische Konturen.³²⁵ Der Gebrauch von níð nimmt ab der zweiten Auslandsfahrt einen elementaren Platz in der Erzählung über Þorsteinns Entwicklung ein. Im Laufe der Erzählung folgen wir dann den Brüdern auf ihrer Fahrt nach Schweden, zu der sie auf den väterlichen Rat hin aufbrechen. Dort angekommen, fordern sie Ljótr sofort zum Duell. Im Laufe des dann anschließenden Seekampfes zwischen Þorsteinn und Ljótr kommt es zu einem kurzen Waffenstillstand, während dem die beiden Kontrahenten über den weiteren Verlauf sprechen. Dieses Gespräch gibt uns weitere Aufschlüsse über die Art, wie Þorsteinns Figur gezeichnet wird. Ljótr gesteht Þorsteinn sofort zu, dass er ihm immensen Schaden zugefügt habe, und bemüht sich unter Verweis auf die Kampfstärke seines Drachenschiffes darum, Þorsteinn zur Einstellung des Konfliktes zu bewegen (›fýsi ek þik frá at leggja‹).³²⁶ Þorsteinn, dem der Sinn nach einer Beendigung der Auseinandersetzung durch den Tod eines der Kontrahenten steht, legt ihm diese Aufforderung als Schwäche aus und stachelt ihn an: ›Sé ek, at þú þorir eigi at berjast við mik, ok far þú leið þína ok ber níðings orð, hvarr sem þú ferr.‹ ³²⁷ Indem er hier direkt níð ins Spiel bringt, negiert er endgültig die Möglichkeit einer kampffreien Lösung. Sollte Ljótr den Kampf nicht fortsetzen, würde er ihn überall der Feigheit bezichtigen und dieser somit ein níðingr werden – der sichere soziale Tod für Ljótr, der nach den sozialen Spielregeln der Sagagesellschaft nun keine andere Wahl hat, als sich dem Kampf weiter zu stellen. Schlussendlich fügt sich Ljótr daher diesen Regeln und dem Kampf, der ihm den Tod bringt, nachdem er Þorsteinns Bruder Þórólfr seinerseits eine tödliche Wunde beigebracht hat. Damit erfüllt sich, was Þorsteinn zuvor bereits mehrfach als potenzielles Szenario beschrieben hat. Für uns als Rezipierende bleibt damit der Eindruck, dass er, obgleich er den Tod seines Bruders nicht vorsätzlich herbeigeführt hat, diesen – und den der gefallenen Mitstreiter – zumindest billigend in Kauf genommen hat, da er trotz des Wissens um den Schwur auf der gefährlichen Fahrt bestand. Wir erfahren im Anschluss an diese Episode von Þorsteinns Aufenthalt beim schwedischen Jarl Herrǫðr. Bei seinem ersten vollbewaffneten Auftritt vor dessen Halle schüchtert er die dort stehenden Wächter mit seiner schieren physischen Präsenz ein, so dass sich ihm niemand in den Weg stellt, als er zum Jarl möchte.³²⁸ Dieser hat zur Begrüßung viele warme Worte für ihn übrig: ›Heyrt hefi ek þín getit, at þú sér ágætr maðr, ok mun tíðendum gegna um þínar ferðir, ok gakk til sætis, ok drekkum báðir

 Vgl. zu diesem Themenkomplex speziell im Kreis der Völsungensage Deichl 2019, insbesondere das Kapitel »Schicksalsergebenheit«, S. 385 – 388.  Svarfdœla saga, S. 138; »›Ich lege dir nahe, den Kampf zu beenden.‹«  Svarfdœla saga, S. 138; »›Ich sehe, dass du nicht wagst, mit mir zu kämpfen. Dann gehe deiner Wege, doch trage das níðingsorð, wo auch immer du hin gehst.‹«  Svarfdœla saga, S. 140.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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saman í dag, ok seg mér tíðendi, ok sit gegnt mér í ǫndvegi.‹ ³²⁹ Aus dem Mund einer anderen Figur erfährt Þorsteinn eine Neubewertung als vortrefflicher Mann, der es wert ist, auf Augenhöhe mit einem Jarl zu speisen – es könnte aus der Sicht von modernen Rezipierenden angesichts der Umstände von Þorsteinns Auftritt bei der Jarlshalle leiser Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser ersten Bewertung Herrǫðrs angemeldet werden. Doch eine solche Erwartungshaltung würde nicht zum kolbítr-Motiv passen. Im späteren Verlauf der Handlung beobachten wir, dass diese Worte durchaus ernst gemeint zu sein scheinen und auch der Wahrheit entsprechen, da Þorsteinn sich an ihnen messen lassen kann und er sich in der allgemeinen gesellschaftlichen Bewertung bewährt. Ein Mann namens Moldi sucht unter den Gefolgsleuten des Jarls nach jemandem, der sich ihm als ebenbürtig erachtet und ihm im Duell gegenübertreten möchte. Am Schluss seines Rundganges gelangt er zu dem Hochsitz, auf dem Þorsteinn mit einem tief über den Kopf gezogenen Pelz lümmelt.³³⁰ Es kommt zu einem Wortwechsel zwischen Moldi und Þorsteinn, in dem sich Þorsteinn – hier nun im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit Ljótr in expliziterer Weise – des Formeninventars von níð bedient: Moldi spurði, hverr sá herkinn [væri], er þar lægi, en sæti eigi uppi sem aðrir menn í ǫndvegi. Þorsteinn kvað hann engu skipta. Moldi segir: ›Þú ert drjúglátr, eðr telst þú jafnsnjallr mér?‹ Þorsteinn segir: ›Eigi nennik því at kallast jafnsnjallr þér, því at ek kalla þik þess kvikindis læti hafa, sem gengr á fjórum fótum ok vér kǫllum meri.‹ Moldi segir: ›Þá skora ek á þik til holmgǫngu þrim nóttum eptir jól.‹ ³³¹

Hier setzt er den künftigen Kontrahenten mit einem weiblichen Pferd (meri) gleich und kehrt damit kurzerhand die Machtverhältnisse um: Nun ist nicht mehr Moldi in der aktiven Rolle und sucht nach einem Duellpartner, sondern er wird von Þorsteinn verbal in eine passive Position gedrängt und gleicht somit faktisch einer Stute. Dieser Situation kann er sich nach den sozialen Spielregeln nur durch eine Herausforderung zum Duell entziehen. Damit ist Moldis Herausforderung kein Stärkebeweis zum Selbstzweck mehr, sondern Reaktion auf eine Dominanzbezeugung, durch die er in seiner Ehre angegriffen wurde. Trotz der heftigen Schmähung durch Þorsteinn ist Moldi nicht bereit, das Duell in der Weihnachtszeit auszutragen.³³² Von Herrǫðr erhält  Svarfdœla saga, S. 141; »›Ich habe von dir erzählen gehört, dass du ein hervorragender Mann seist, und deine Fahrten werden wohl von Bedeutung sein; setze dich nun und lass uns heute gemeinsam trinken; berichte mir Neuigkeiten und setze dich mir gegenüber auf den Hochsitz.‹«  Svarfdœla saga, S. 144.  Svarfdœla saga, S. 144; »Moldi fragte, wer der Kerl sei, der da herumlümmelte und nicht wie andere Männer aufrecht auf dem Hochsitz saß. Þorsteinn sagte, das gehe ihn nichts an. Moldi sagte: ›Du bist hochmütig, oder nennst du dich etwa mir ebenbürtig?‹ Þorsteinn sagte: ›Ich nenne mich deswegen nicht dir ebenbürtig, weil ich sage, dass du die Art des Tieres an dir hast, das auf vier Beinen geht und das wir Stute nennen.‹ Moldi sagte: ›Dann fordere ich dich drei Nächte nach Weihnachten zum Duell.‹«  Svarfdœla saga, S. 144.

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Þorsteinn zur Vorbereitung auf den Kampf ein Schwert, das ihm bei der Bezwingung des Berserkers helfen soll.³³³ Über den dann folgenden weiteren Verlauf des Duells erfahren wir aufgrund einer Lakune nichts; wir können aber aufgrund der Ereignisse danach davon ausgehen, dass Moldi unterliegt und stirbt. Nur aus der sehr späten Handschrift Lbs. 1339, 4to erfahren wir vom Ausgang des Kampfes und Þorsteinns Rückkehr: [O]k svá gekk lengi dags, at eigi sá fyrir, hvárs hlutr lægri yrði, en þó um síðir varð sá endir á þeira einvígi, at Moldi fell með engum góðum orðstír, en Þorsteinn gekk til hallar, ok þakkar jarl honum þenna sigr með mǫrgum fǫrum orðum ok virði hann nú miklu framar en áðr, ok var Þorsteinn þar um hríð í miklu eptirlæti hjá jarli. ³³⁴

Durch den aufgebauten Kontrast (Moldi stirbt með engum góðum orðstír, also nicht ruhmvoll) wird Þorsteinn vom Erzähler implizit positiv bewertet. Auch die Reaktionen der anderen Figuren fallen wohlwollend aus, allen voran die des Jarls, die uns wiederum aus der Haupthandschrift der Saga erhalten ist. Von Herrǫðr nämlich nach seinem Wunsch bezüglich der Belohnung für die Überwindung Moldis gefragt, erwidert Þorsteinn, er wolle gerne dessen Tochter heiraten. Der Jarl begrüßt diesen Wunsch nicht nur, sondern er gesteht ihm noch wesentlich mehr zu: ›Fyrir lǫngu vissa ek þat, ok hefir lengr frestazt en ek hugða. Skal ek allt efna við þik, þat er ek hefi heitit, en þó vil ek mæla nǫkkut mínu máli þar um ok þínu; mun ek auka þína sæmd í því, at þú ráðir ríki þessu eptir minn dag ok komir aldri til Nóregs.‹ ³³⁵

Þorsteinn bekommt nicht nur die Tochter des Jarls zur Ehefrau, ihm wird vielmehr noch in Aussicht gestellt, dass er direkt in dessen Erbfolge eintreten kann. An dieser Stelle endet die Handlung um Þorsteinn Þorgnýsson abrupt mit einer Lakune in der Haupthandschrift. Alles, was er innerhalb der Saga erreicht, wäre undenkbar ohne die Bezugnahme auf níð. Die ganze Erzählung über seine Fahrt bleibt frei von expliziten moralischen Bewertungen, so dass die Rezipierenden auf die eigenen Schlüsse zurückgeworfen wird. Die Schilderungen von Þorsteinns Konkurrenten lassen sie zwar als Berserker, jedoch durchaus als sehr ehrenwerte und noble Männer erscheinen, wie bereits festgestellt worden ist: »both Ljótr and Moldi are presented as mostly ho-

 Svarfdœla saga, S. 145 – 146.  Svarfdœla saga, S. 209; »Und so ging es den Großteil des Tages über, dass niemand wusste, wer unterliegen würde, aber später kam ihr Zweikampf doch noch zu dem Ende, dass Moldi schandhaft fiel. Þorsteinn ging zur Halle, und der Jarl dankte ihm den Sieg mit vielen schönen Worten. Er würdigte ihn jetzt noch viel mehr als zuvor, und Þorsteinn stand eine Zeit lang sehr in der Gunst des Jarls.‹«  Svarfdœla saga, S. 148; »›Schon lange habe ich das gewusst, und es hat länger gedauert, als ich dachte. Ich werde mein Wort dir gegenüber halten, dennoch möchte ich noch etwas über meine und deine Angelegenheiten sagen; ich werde deine Ehre dadurch vergrößern, dass du nach meiner Zeit über mein Reich herrschen und nie nach Norwegen zurückkehren wirst.‹«

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nourable characters who do not want to fight against Þorsteinn.«³³⁶ Dass Þorsteinn letzten Endes jedoch mit seinen Nachkommen in einen wohl ebenso hohen sozialen Status erhoben wird, dürfte uns signalisieren, dass seine Taten gutgeheißen werden. Für ihn lohnt sich der Einsatz von níð mit dem gleichzeitigen Beweis von körperlicher Stärke.

4.2.2.5 Egill Skallagrímsson Während der Auseinandersetzung mit dem norwegischen König Eiríkr blóðøx (›Blutaxt‹) und seiner zauberkundigen Frau Gunnhildr kommt es innerhalb der Egils saga zum Äußersten. Dabei weicht die Form, in der Egill níð in Kraft setzt, in einigen Gesichtspunkten von den übrigen Sequenzen der Isländersagas ab.³³⁷ Das erste Mal hält sich der junge Egill dort kurz nach seiner Ausfahrt von Island auf. Auf einer Feier beleidigt er in betrunkenem Zustand Bárðr, einen vom Königspaar äußerst geschätzten Mann.³³⁸ Als dieser zusammen mit der Königin daraufhin versucht ihn zu vergiften, eskaliert die Situation, Egill tötet ihn und flieht in die mondlose Nacht.³³⁹ Zwar kann diese Erschlagung für den Moment durch eine Bußgeldzahlung geregelt werden, doch das Verhältnis zwischen Egill und dem Königshaus ist spätestens seit diesem Zeitpunkt nachhaltig geschädigt. Nach einem Aufenthalt in England kehrt er wieder zurück nach Norwegen, um Ásgerðr, die verwitwete Frau seines Bruders Þórólfr, zu heiraten. Dort flammt der Konflikt mit den hiesigen Herrschern erneut auf. Im Zuge einer Erbstreitigkeit, die sich nach dem Tod des Schwiegervaters entzündet, legt sich Egill mit dem Norweger Berg-Ǫnundr an, einem Günstling des Königshofs und Ehemann von Ásgerðrs Schwester Gunnhildr. Dessen Ansicht nach stehe ihm allein das Erbe zu. Egill lädt die Beteiligten, zu denen auch Eiríkr gehört, vor das Gulathing, um dort eine Entscheidung über den Erbteil seiner Frau herbeizuführen. Die Verhandlung versinkt nicht zuletzt wegen Gunnhildrs Intervention schon vor einer Rechtsfindung im Chaos.³⁴⁰ Egill fordert seinen Kontrahenten zum Duell auf und stellt ihm bei Verweigerung den Status als níðingr in Aussicht: ›Þá vil ek bjóða þér hólmgǫngu ok þat, at vit berimsk hér á þinginu; hafi sá fé þetta, lǫnd ok lausa aura, er sigr fær, en þú ver hvers manns níðingr, ef þú þorir eigi.‹ ³⁴¹ Die Situation wird aufgelöst, indem Eiríkr selbst in den Ring treten will, was Egill mit Blick auf dessen behauptete Überlegenheit ab-

 Merkelbach 2019, S. 108.  Eine strukturelle Ähnlichkeit im Aufbau des níð besteht zur später diskutierten Vatnsdœla saga, vgl. Almqvist 1965, S. 97– 98, und Kap. 4.2.2.6.  Egils saga, S. 108 – 109.  Egils saga, S. 110 – 111.  Egils saga, S. 151– 157.  Egils saga, S. 157– 158; »›Dann will ich dich zum Holmgang herausfordern und verlange, dass wir uns hier auf dem Thing schlagen; wer den Sieg erringt, der soll den Besitz, die Ländereien und das lose Gut haben, aber du sei jedes Manns níðingr, wenn du es nicht wagst.‹«

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lehnt.³⁴² Unmittelbare Folgen ergeben sich daraus nicht; keine der betroffenen Figuren scheint in ihrer Ehre verletzt worden zu sein. Dass der König selbst anbietet, ihn im Kampf zu vertreten, gereicht Ǫnundr nicht zum Nachteil. Und auch auf Egill, der auf den ungleichen Status und die gegnerische Überlegenheit verweist, fällt die Androhung des níðingsorð augenscheinlich nicht zurück. Egill bricht auf, nicht ohne jedoch nochmals auf seinen Anspruch auf den Erbteil zu pochen und eine verbale Spitze gegen Eiríkr zu setzen. Eine anschließende Verfolgungsjagd endet ergebnislos, weil Egill entkommen kann. Im Anschluss erhält er von seinem Verbündeten Arinbjǫrn ein neues Schiff.³⁴³ [B]úask þeir til at sigla, ok er þeir váru seglbúnir, gekk Egill upp í eyna. Hann tók í hǫnd sér heslistǫng ok gekk á bergsnǫs nǫkkuram þá er vissi til lands inn; þá tók hann hrosshǫfuð ok setti upp á stǫngina. Síðan veitti hann formála ok mælti svá: ›Her set ek upp níðstǫng, ok sný ek þessu níði á hǫnd Eiríki konungi ok Gunnhildi dróttningu,‹ – hann sneri hrosshǫfðinu inn á land, – ›sný ek þessu níði á landvættir þær, er land þetta byggva, svá at allar fari þær villar vega, engi hendi né hitti sitt inni, fyrr en þær reka Eirík konung ok Gunnhildi ór landi.‹ Síðan skýtr hann stǫnginni niðr í bjargrifu ok lét þar standa; hann sneri ok hǫfðinu inn á land, en hann reist rúnar á stǫginni, ok segja þær formála þenna allan. ³⁴⁴

Egill hebt den Konflikt damit auf eine neue Stufe, denn er »literally adds insult to injury by leveling a magic curse against king and queen«.³⁴⁵ Tulinius sieht hierin die Beschreibung eines heidnischen Rituals, betont aber gleichzeitig, dass dieses nicht den ansonsten üblichen Darstellungen heidnischer (Opfer‐)Praktiken entspricht: »Blót seems to imply a ritual performed by a group and subject to certain rules. When Egill raises a níðstöng, ›scorn-pole,‹ and invokes the land spirits to drive King Eiríkr from the country, this is certainly a heathen ritual but hardly blót.«³⁴⁶ Was Egills níð neben den detaillierten ritualhaft wirkenden Beschreibungen von nahezu allen anderen besprochenen Episoden in den Sagas unterscheidet ist die Tatsache, dass er durch die Ansprache der landvættir das níð sowohl gegen den König als auch gegen seine Frau richtet. Nicht zuletzt dieses Detail widerspricht der beinahe durchgehend feststellbaren Beobachtung, dass níð eine soziale Interaktionsform zwischen Männern  Egils saga, S. 158.  Egils saga, S. 151– 163.  Egils saga, S. 171; »Sie machten sich bereit zum Segeln, und als sie mit ihren Vorbereitungen fertig waren, ging Egill hinauf auf die Inselspitze. Er nahm eine Haselstange in die Hand und ging auf einen Bergvorsprung, der in das Land hineinwies. Da nahm er einen Pferdekopf und steckte ihn auf die Stange. Dann sagte er einen Spruch auf und sagte: ›Hier errichte ich eine níðstǫng und richte dieses níð gegen König Eiríkr und Königin Gunnhildr.‹ – er dreht den Pferdekopf in Richtung Land – ›Ich richte dieses níð gegen die landvættir, die auf diesem Gebiet leben, so dass sie alle sich verirren und keiner seine Wohnstatt fassen oder finden kann, bevor sie König Eiríkr und Gunnhildr aus dem Land vertrieben haben.‹ Dann rammte er die Stange in eine Felsspalte und ließ sie dort stehen. Er drehte auch den Kopf landeinwärts, und er ritzte Runen in die Stange, und sie enthielten diese ganze Beschwörung.«  Andersson 2006, S. 106.  Tulinius 2014, S. 138.

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darstellt.³⁴⁷ Hier ergibt sich ein Problem, das sich in diesem Rahmen nicht abschließend und zufriedenstellend lösen lassen wird, nämlich »hur man skall förklara at något obscent eller smädande inslag, såsom Noreen menar, icke förefinnes i Egils nidresningsepisod«.³⁴⁸ Gerade die Einbeziehung von Eiríkrs Frau Gunnhildr und das Fehlen eines explizit so bezeichneten Stutenkopfes (an. hross ›Pferd‹ ist geschlechtsneutral) macht das Erkennen einer spezifisch gegen die Auffassung von Männlichkeit gerichteten Schmähung schwierig. Almqvist selbst bietet für dieses Dilemma mehrere Möglichkeiten an, von denen keine ihn abschließend überzeugt: 1. Níð müsse ihm zufolge nicht zwangsläufig eine sexuelle Schmähung beinhalten. Egills níð könne daher auch ohne eine derartige Symbolik funktionieren; es sei überdies im Text als solches bezeichnet und daher identifizierbar. 2. Der Verfasser der Saga habe fälschlicherweise von einem Pferdekopf statt einem Stutenkopf gesprochen. Angesichts des Detailreichtums der übrigen Beschreibungen sei diese Tatsache wahrscheinlicher, als dass er sich bei den anderen Umständen geirrt habe. 3. Der eine Pferdekopf könne für beide Partner stehen – das würde das geschilderte Geschlecht obsolet machen und sowohl Eiríkr als auch Gunnhildr als pars pro toto mit einem Pferd und dem damit assoziierten überbordenden Paarungsverhalten gleichsetzen [Anm.: Eiríkr wäre wegen seiner Passivität in dieser Konstellation als argr charakterisiert, seine Frau hingegen als übermäßig sexuell aktiv, mithin als rǫg]. 4. Die genannte Stange selbst könne als Symbol für eine sexualisierte Schmähung stehen, was im Zusammenspiel mit der vorangegangenen Variante Sinn ergebe, dann aber nur implizit aus dem Text hervorgehe.³⁴⁹

Es ist anzumerken, dass gerade Punkt 3 gut zu der Charakterisierung von Gunnhildr passte, wie sie uns auch in der Njáls saga begegnet ist, wo sie als sexuell aktiv dargestellt wird und in diesem Zuge Hrútr mit einem Zauber belegt.³⁵⁰ Der historische Hintergrund ihrer Figur könnte tatsächlich ausschlaggebend dafür sein, dass Almqvists vorgeschlagenen Deutungen 3 und 4 letztendlich der Vorzug zu geben wäre: Die historische Königin Gunnhildr Ǫzurardóttir wird in den Quellen als ähnlich grausam wie ihr Mann beschrieben, während ihr in den literarischen Quellen wie der Heimskringla darüber hinaus erotische und magische Kompetenzen zugeschrieben werden.³⁵¹ In der Egils saga scheinen diese Eigenschaften im Gespräch der Eheleute auf, als Gunnhildr ihren Mann zur Rache an den Söhnen Skalla-Grímrs aufhetzen möchte und dieser mit einer Anspielung auf ihre sexuelle Aktivität reagiert.³⁵² Diese ange-

 Vgl. dazu Kap. 3.5.  Almqvist 1965, S. 99.  Auflistung nach Almqvist 1965, S. 99 – 100.  Vgl. Kap. 4.1.3.  Vgl. zur Figurenzeichnung Gunnhildrs Heinrichs 2000.  Egils saga, S. 123: »Meir frýr þú mér, Gunnhildr, grimmleiks en aðrir menn; en verit hefir kærra við Þórólf af þinni hendi en nú er«; »›Gunnhildr, du hetzt mich mehr zur Härte auf als andere, aber früher ist es Þórólfr von deiner Seite aus besser ergangen als jetzt.‹« Vgl. dazu Heinrichs 2000, S. 83. Die Tatsache,

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deuteten Überschreitungen der weiblichen Geschlechterrolle kämen schließlich Almqvists vorgeschlagenen Deutungsversuchen von Egills níð entgegen: Durch diesen Umstand kann sie überhaupt erst darin einbezogen und im selben Atemzug und derselben Handlung geschmäht werden. Die Gleichsetzung mit dem Pferd und das Aufspießen auf der Stange legt ihre zugeschriebene Schande genauso offen wie die seine. So schreibt Markey über diese Szene und Eiríkrs Rolle, dass die Tatsache »that Eiríkr is governed by his wife […] may be interpreted as an implication of being ragr/ argr.«³⁵³ Sollte diese Sichtweise zutreffen, wäre die Egils saga die einzige im untersuchten Corpus, in der auch einer Frau ergi durch ein beschriebenes níð zugeschrieben wird – sofern wir nicht das illmæli gegen Droplaug auch als níð deuten möchten.³⁵⁴ Am Ende dieser Episode geht der Isländer gestärkt aus der Begegnung hervor, da ihm der Einsatz von níð Macht über seine Gegner und die Möglichkeit zur Vereitelung von deren Plänen verliehen hat: Durch die Ausübung seiner magischen Kräfte – Praktik der níðstǫng, Anwendung der Sprachmagie und der Runenritzung, Beeinflussung der Schutzgeister des Landes – bestimmt Egil das Schicksal seiner Gegner, so daß er ihnen das aufzwingt, was sie ihm zugedacht haben: den Verlust des Heimatlandes.³⁵⁵

Denn tatsächlich müssen die beiden aus Norwegen fliehen, und selbst wenn sich noch einige Episoden in der Saga um die Auseinandersetzung mit den beiden drehen, stellt diese hier beschriebene níð-Szene einen Wendepunkt in der Saga dar. Die postulierte Überlegenheit des Isländers gegenüber der norwegischen Königsherrschaft wurde darin zementiert; was folgt, sind Rückzugsgefechte der Herrscher. Das nächste Aufeinandertreffen findet in York statt, wo Egill sich mit der Unterstützung seines Freundes Arinbjǫrn behaupten kann, nachdem er Eiríkr und Gunnhildr aufgesucht hat. Sie haben den letzten Abschied nicht vergessen und lassen ihn festsetzen, wobei es Arinbjǫrns Intervention zu verdanken ist, dass sie ihn nicht an Ort und Stelle hinrichten.³⁵⁶ Egill wird bis zum Morgen Zeit für ein Preisgedicht gegeben, um sich bei Gefallen eine Begnadigung zu erringen. Ein letztes Mal lässt Gunnhildr ihre Zauberkräfte spielen, indem sie in Gestalt einer Schwalbe an seinem Fenster sitzt und versucht, ihn von der Dichtung abzulenken.³⁵⁷ Der Versuch misslingt, so wie ihr ganzes Handeln während dieses Abschnitts der Saga sie nicht mehr zum gewünschten Ziel, Egills Tod, führen kann.³⁵⁸

dass ihrer Ansicht nach das Adjektiv kærr (›lieb, freundlich‹) in der Saga mit einer erotischen Nebenbedeutung verwendet wird, erläutert sie auf S. 86.  Markey 1972, S. 10.  Das dürfte allerdings nicht der Fall sein; vgl. dazu Kap. 2.2.3.2.  Heinrichs 2000, S. 102.  Egils saga, S. 181. Er spricht gegenüber Gunnhildr von ihrer Aufhetzung, indem er das Wort eggja verwendet und bezeichnet die geplante Tötung Egills als ihr níðingsverk.  Egils saga, S. 181– 182.  Vgl. Heinrichs 2000, S. 102.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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Egill schafft es mit dem berühmten Gedicht Hǫfuðlausn (›Haupteslösung‹) den König zur Umkehr zu bewegen und unbeschadet den Hof zu verlassen: »Contrary to all reasonable expectations, Erik allows Egil to depart unharmed, though without an official reconciliation.«³⁵⁹ So ist an dieser Stelle nicht nur der Umgang mit den Tötungen von Sohn und Ziehsohn unverständlich,³⁶⁰ sondern auch die Tatsache, dass Egills níð keine weitere Rolle mehr spielt, obwohl der Handlungsort gerade derjenige ist, an dem sich Eiríkr nach seiner Vertreibung aus Norwegen niedergelassen hat. Die Dichtkunst des Helden vermag es sogar, die sozialen Folgen seines níð auszuhebeln. Seine Gegner verschwinden sehr leise aus der Saga. Über Eiríkr hört Egill aus der Ferne Berichte darüber, dass er während einer Wikingfahrt im Westen gefallen sei.³⁶¹ Gunnhildr wird im selben Atemzug erwähnt und es heißt, sie habe sich mit ihren Söhnen nach Dänemark zurückgezogen: »Ihre Funktion für Egils Werdegang ist beendet, und der Autor entläßt sie – etwa vierzig Jahre alt – aus der Saga.«³⁶² Der Held selbst begibt sich gegen Ende der Saga wieder zurück nach Island und lässt sich im Borgarfjǫrðr nieder, wo er sein Alter verbringt.³⁶³ Andersson bezeichnet Egils Lebensende und auch das Ende seiner Saga als »antiheroic finale«.³⁶⁴ Dazu trägt sicherlich nicht zuletzt die jeweils in Strophenform vorgetragene Klage über den Verlust seiner Söhne und später seine dahinschwindende Männlichkeit bei.³⁶⁵ Insgesamt zeichne er sich Andersson zufolge durch »conflicting personal qualities« aus, was den Eindruck eines »mixed portrait« hinterlasse.³⁶⁶ In dieser Ambiguität gleicht er den Skalden der Skaldensagas, die ebenfalls von sehr gemischtem Charakter sind. Dieser recht negativen abschließenden Interpretation gegenüber steht das positive Urteil, das der Erzähler am Ende der Saga über Egills Nachkommen, die Mýramenn, fällt: Frá Þorsteini [Egilssyni] er mikil ætt komin ok mart stórmenni ok skáld mǫrg, ok er þat Mýramannakyn, ok svá allt þat, er komit er frá Skalla-Grími. ³⁶⁷ Anders, als man es von einem Skalden vielleicht erwarten könnte, bedient Egill sich nið in seiner skulpturalen Form und nicht – wie es naheliegend wäre – der verbalen. Dass diese im Kontext des níð geradezu auffällig vermieden wird, mag daran liegen, dass der Einsatz von Egills überragender Dichtkunst der späteren Szene vorbehalten ist, in der er gerade durch diese Dichtkunst entgegen allen Erwartungen die Folgen der níðstǫng abwenden kann. Somit ist er ein Gegenentwurf zu den übrigen hier besprochenen Skalden, deren Dichtkunst mit dem Einsatz  Andersson 2006, S. 106.  So merkt es Andersson 2006, S. 107, an.  Egils saga, S. 211.  Heinrichs 2000, S. 102.  Egils saga, S. 239 – 240.  Andersson 2006, S. 115.  Vgl. Kap. 4.1.1.  Andersson 2006, S. 115.  Egils saga, S. 299; »Von Þorsteinn Egilsson stammt ein großes Geschlecht ab und viele bedeutende Männer und bedeutende Skalden, und das ist das Geschlecht der Leute aus Mýrar, so wie das gesamte Geschlecht, das von Skalla-Grímr abstammt.«

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von níð direkt verknüpft wird. Der Einsatz von nið ist jedoch auch in Egills Biografie ein zentraler und nicht wegzudenkender Bestandteil der Handlungen, die ihm zu anhaltendem Ruhm gereichen. Gleichzeitig stellt sie einen erzählerischer Höhe- und Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem norwegischen König Eiríkr und seiner Frau Gunnhildr dar.

4.2.2.6 Zwei Blickwinkel auf den Anwender: Das níð gegen Finnbogi Finnbogi ist ein Held, der in seiner Saga als geradezu übermenschlich stark inszeniert wird. Er scheint Bestandteil des kollektiven historischen Wissens im Island des 13. Jahrhundert gewesen zu sein, was außerhalb der Sagas zusätzlich in Landnámabók und Íslendingadrápa belegt ist.³⁶⁸ Zu diesem Wissen gehört Müller zufolge auch die Tatsache, dass von seinem Kontrahenten Jǫkull eine níðstǫng gegen ihn errichtet

 Vgl. dazu Müller 2001, S. 98 – 99. Darüber hinaus ist Finnbogi selbst ein interessanter níð-Anwender, der sein níð nicht gegen einen Menschen richtet, sondern gegen ein vermenschlichtes Tier, einen Bären. Dieser wird erst zum Geächteten erklärt, woraufhin Finnbogi ihm im Wald begegnet und dort zum Kampf herausfordert. Am Ende seiner dreistufigen Herausforderung steht der Vorwurf, der Bär habe eher den Mut des feigsten Tieres [er benutzt das Wort argr, gemeint ist wohl die Stute] denn eines Bären, wenn dieser nicht kämpfe. Finnboga saga, S. 274– 275: Þá mælti Finnbogi: »Stattu upp, bersi, ok ráð móti mér; er þat heldr til nökkurs en liggja á sauðarslitri þessu.« Björninn settist upp ok leit til hans ok kastar sér niðr. Finnbogi mælti: »Ef þér þykir ek ok mjök vápnaðr móti þér, þá skal ek at því gera,«– tekr af sér hjálminn, en setr niðr skjöldinn ok mælti: »Stattu nú upp, ef þú þorir.« Björninn settist upp ok skók höfuðit, lagðist niðr aptr síðan. Finnbogi mælti: »Þat skil ek, at þú villt, at vit sém jafnbúnir,« – kastar sverðinu frá sér ok mælti: »Svá skal vera sem þú vill, ok statt nú upp, ef þú hefir þat hjarta, sem líkligt væri, heldr en þess kvikendis, er ragast er.« Björninn stóð upp ok byrsti sik ok gerðist mjök ófrýnligr, hljóp at Finnboga ok færir upp hramminn ok ætlar at ljósta hann með; ok í því er hann hefr sik upp til, hleypr Finnbogi undir hann framan. Þeir gangast at lengi, ok gengr upp fyrir þeim flest þat, er fyrir þeira fótagangi varð. Traðkit varð mikit, ok varð sú endalykt, at hann gengr björninn á bak aptr ok braut í sundr hrygginn í honum ok býr um hann sem áðr; »Da sagte Finnbogi: ›Steh auf, Bär, und greif mich an; das ist besser als bei diesem zerfetzten Schaf zu liegen.‹ Der Bär setzte sich auf, blickte ihn an und warf sich nieder. Finnbogi sagte: ›Wenn es dir so scheint, als wäre ich dir gegenüber stark bewaffnet: das kann ich ändern!‹ – er nahm den Helm ab und legte den Schild nieder und sagte: ›Steh jetzt auf, wenn du es wagst.‹ Der Bär setzte sich auf und schüttelte den Kopf, danach legte er sich hin. Finnbogi sagte: ›Ich verstehe, dass du möchtest, dass wir ebenbürtig ausgestattet sind.‹ – Er warf das Schwert von sich und sagte: ›Es soll so sein, wie du willst. Steh jetzt auf, wenn du das Herz hast, was zu erwarten ist, und nicht das jenes Tieres, das am feigsten [wörtlich: am meisten argr] ist.‹ Der Bär stand auf und wurde wütend und sehr ungemütlich. Er lief auf Finnbogi zu und schnellt mit der Tatze hoch, in der Absicht, ihn damit zu schlagen. Und gerade dann, als der Bär dabei war, lief Finnbogi nach vorne und unter ihn. Sie kämpften lange, und der Boden, auf dem sie herumtrampelten, wurde zerstört. Sie zertrampelten eine große Bodenfläche und es kam so zu einem Ende, dass er den Bären von hinten erwischt und seinen Rücken brach. Er legte ihn so hin wie zuvor.« In diesem Bären fallen Aspekte der Monstrosität eines Wildtieres mit denen eines sozial auszugrenzenden Menschen zusammen; er wird in gewisser Weise zum doppelten níðingr gemacht. Vgl. zu diesem Kampf Rohrbach 2009, die entgegen der geschilderten Passage und der zuvor erfolgten Ächtung nicht von einer anthropomorphen Darstellung des Bären ausgeht, und Wetzler 2014, der im Bärenkampf eine Parallele zum Ringkampf zwischen Menschen sieht und damit implizit von einer anthropomorphen Darstellung ausgeht.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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wurde, wie neben der Finnboga saga und der Vatnsdœla saga auch eine Handschrift der Landnámabók berichtet: [Þ]ar reiste Jokull nid Fimboga. ³⁶⁹ Damit gehört er zu den Sagafiguren, die selbst auf der »Täter«- und der »Opferseite« von níð stehen.³⁷⁰ Die Wiedergabe der Ereignisse in der Landnámabók ist, der Natur des Textes geschuldet, sehr verknappt, weswegen wir keinen Einblick in die Umstände erhalten, die dazu geführt haben. Im Mittelpunkt der Vatnsdœla saga stehen die Nachkommen des Siedlers Ingimundr, allen voran dessen Söhne Þorsteinn und Jǫkull. Beide erweisen sich als geeignet, das Vaterserbe würdig weiter zu tragen und überwinden mehrere Bedrohungen. Dazu gehört etwa die dreimal erzählte Bezwingung von diebischen Antagonisten, deren Diebstähle unter anderem mit ergi in Verbindung gebracht werden.³⁷¹ Die daran anschließende Anwendung von níð durch Jǫkull geschieht, im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen, in diesem Text im programmatischen Rahmen einer positiven Figurenzeichnung. Die Anwendung von níð in der Vatnsdœla saga findet offen statt und wird in ihrer Darstellung entsprechend von Öffentlichkeitsmarkern begleitet. Auf einer winterlichen Hochzeit – also einem Fest mit breiter Öffentlichkeit – gerät ein Mann namens Bergr mit Þorsteinn anlässlich einer zunächst harmlos wirkenden Szene aneinander. Berg bekommt von Jǫkull einen Hieb mit einem Schwertknauf versetzt und schnell eskaliert die Sache derart, dass er zusammen mit Finnbogi von der Hochzeit abreisen muss.³⁷² Als nächstes heißt es, dass Bergr nach Vergeltung sinnt und die Sache entsprechend vor das Thing bringen möchte. Die Öffentlichkeit wird im Vergleich zur vorherigen Szene noch größer, und es kommt zu mehreren Aufforderungen zum Duell. Nachdem Þorsteinn von Finnbogi herausgefordert worden ist, sagt Bergr – für alle deutlich vernehmbar – zu seinem Kontrahenten Jǫkull: ›Slíkt it sama vil ek mæla við þik, Jǫkull, at ek býð þér hólmgǫngu at ákveðnum tíma Finnboga, ok skulu þér þá lútir fara Hofverjar.‹ ³⁷³ Dass mit der Bezugnahme auf den gebückten Gang tatsächlich eine sexuell gemeinte Schmähung verbunden ist, wird bei Jǫkulls Antwort unübersehbar. In einer längeren direkten Rede weist er die Vorwürfe zurück und wird expliziter, wobei er die Aufforderung zum Duell wiederholt: ›[F]ór Bergr þá lútari, bikkjan, er ek sló hann, svá at hann fell við, enda kom þú nú til hólmustefnunnar, ef þú hefir heldr manns hug en merar; en ef nǫkkurir koma eigi, þá skal þeim reisa níð með

 Melabók, S. 96; »Dort errichtete Jǫkull dem Finnbogi ein níð.« Vgl. Müller 2001, S. 99. Hier und im Folgenden wird wegen der verschiedenen Schreibweisen in den Quellen im Deutschen zur Vereinheitlichung konsequent die Schreibung Jǫkull verwendet.  Eine andere Figur, die (möglicherweise) auf beiden Seiten eines níð steht, ist Grettir, vgl. Kap. 5.3.4.  Vgl. Hahn 2020, S. 54– 57.  Vatnsdœla saga, S. 86 – 87.  Vatnsdœla saga, S. 88; »›Genau das gleiche möchte ich dir sagen, Jǫkull, dass ich dich zum Duell herausfordere zu Finnbogis angesagter Zeit, und ihr Leute von Hof werdet dann gebückt gehen!‹«

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þeim formála, at hann skal vera hvers manns níðingr ok vera hvergi í samlagi góðra manna, hafa goða gremi ok griðníðings nafn.‹ ³⁷⁴

Der sexualisierte Vorwurf des gebückten Gangs wird durch seine Worte intensiviert und an den Gegner zurückgespiegelt. Gleichzeitig erfolgen dessen Gleichsetzungen mit einer Hündin und einer Stute, den beiden Tieren, die am stärksten mit der níðSymbolik verknüpft sind. Zudem verbreitet sich diese Aufforderung zum Duell und die Warnung vor der níðstǫng innerhalb der Diegese, was durch die Aussage [v]ar þetta nú gǫrt at tíðendasǫgn um sveitir kenntlich gemacht wird.³⁷⁵ Zwei Komponenten spielen für die angedrohte Konsequenz für das Fehlen beim Duell eine Rolle, nämlich die unterstellte und durch das níð offengelegte Feigheit des Anderen und die Tatsache, dass gegen die Abmachung verstoßen wurde, sich physisch zu messen; letzteres wird deutlich in der Bezeichnung griðníðingr. ³⁷⁶ Zum verabredeten Duell kommt es indes nicht, weil Bergrs Frau Helga ohne Finnbogis Wissen ein Unwetter herbeizaubert, das die Leute davon abhält, von Borg aus zum Treffpunkt aufzubrechen.³⁷⁷ Als Bergr wegen des Unwetters sagt, er halte es für undenkbar, dass jemand das Haus verlasse, wird klar, dass Finnbogi sich über die Folgen des Wegbleibens vom Duell im Klaren ist: ›Annarr maðr er Jǫkull þá en ek ætla […] ef hann er eigi kominn, ok hefði betra verit at ganga eigi jafnlangt fram við hann ok þola nú eigi hverja skǫmm á aðra ofan.‹ ³⁷⁸ Die ebenfalls anwesende Helga gibt zu bedenken, dass sie ohnehin nichts gegen Jǫkull ausrichten könnten. Nach diesen Worten ist das Gespräch beendet, en þeir fara hvergi. ³⁷⁹ Die Brüder Þorsteinn und Jǫkull hingegen begeben sich tatsächlich zum Kampfplatz und setzen die zuvor gemachten Drohungen in die Tat um, nachdem sie Finnbogis Abwesenheit festgestellt haben: Þeir brœðr biðu til nóns, ok er svá var komit, þa fóru þeir Jǫkull ok Faxa-Brandr til sauðahúss Finnboga, er þar var hjá garðinum, ok tóku súlu eina ok báru undir garðinn: þar váru ok hross, er þangat hǫfðu farit til skóls í hríðinni. Jǫkull skar karlshǫfuð á súluendanum ok reist á rúnar með ǫllum þeim formála, sem fyrr var sagðr. Síðan drap Jǫkull meiri eina, ok opnuðu hana hjá brjóstinu ok fœrðu á súluna ok létu horfa heim á Borg. ³⁸⁰

 Vatnsdœla saga, S. 88 – 89; »›Bergr ist noch gebückter gegangen, die Hündin, als ich ihn geschlagen habe, so dass er hinfiel! Komm du nur zum verabredeten Holmgang, wenn du eher den Verstand eines Mannes als den einer Stute hast! Und wenn jemand nicht kommt, soll ihm ein níð mit der Formel aufgestellt werden, dass er jedes Mannes níðingr sein soll und nicht in Gesellschaft guter Männer sein kann sowie den Zorn der Götter und den Namen eines griðníðingr hat.‹«  Vatnsdœla saga, S. 89; »Das wurde nun als Neuigkeit in der Gegend verbreitet.«  Vgl. Bandlien 2017, S. 258.  Vatnsdœla saga, S. 89.  Vatnsdœla saga, S. 91; »› Jǫkull ist ein anderer Mann als ich dachte […], wenn er nicht gekommen ist. Und es wäre besser gewesen, ihm gegenüber nicht ganz so weit zu gehen und nun nicht Schmach über Schmach zu ertragen.‹«  Vatnsdœla saga, S. 91; »und niemand von ihnen machte sich auf den Weg.«  Vatnsdœla saga, S. 91; »Die Brüder warteten bis zum Mittag, und als es so weit war, gingen Jǫkull und Faxa-Brandr zu Finnbogis Schafstall, der dort neben dem Zaun stand. Sie nahmen eine Stange und

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Müller führt an, dass schon Finnbogis Reaktion auf das Unwetter zeige, dass er die Schande bewusst in Kauf nehme.³⁸¹ Für Almqvist steckt in der beschriebenen Darstellung selbst ein Detail, das über eine bloße Gleichsetzung eines Gegners mit einer Stute hinausgeht: Der eingeritzte Männerkopf symbolisiert ihm zufolge einen der beiden ferngebliebenen Kontrahenten, der in Anspielung auf gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr den anderen durchbohrt, der durch den aufgesteckten Pferdekopf verkörpert wird.³⁸² Auf diese Schande wird durch einen Erzählerkommentar Bezug genommen, als es heißt, dass die Schmach, der sich die Leute von Borg durch die beiden Brüder ausgesetzt sehen, sich in der ganzen Gegend verbreitet.³⁸³ Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass Jǫkulls Stärke und Bereitschaft zum Kampf in den Augen seiner Feinde als herausragend eingestuft werden; nicht nur Finnbogis, sondern auch Helgas Kommentar zeigt dies. In Bezug auf das eingesetzte níð wird er gewissermaßen vorab durch den Erzähler ›exculpiert‹, weshalb er ohne Probleme auf dieses Mittel der Auseinandersetzung zurückgreifen kann. Nicht nur, dass das níð von Anfang an durch Öffentlichkeitsmarker begleitet wird, sondern auch die Tatsache, dass er als Reagierender dargestellt wird und der Einsatz von níð vorab angedroht wird, zeugt von diesem Eindruck: »[Die] Warnung […] liefert zum anderen auch die Rechtfertigung für die Vatnsdœlir: Sie verhalten sich – bei dem in der Vatnsdœla saga eingenommenen Blickwinkel – durchaus fair.«³⁸⁴ An dieser Einschätzung ändert auch der kläglich scheiternde Racheversuch der Männer von Borg nichts. Im Gegenteil: Er endet ebenfalls erfolglos, indem Bergr und Finnbogi mit ihren Männern die Flucht ergreifen und damit »aus der Saga« reiten: Finnbogi verkauft sein Gut und zieht um, während es zu Bergr noch heißt: Bergr fór á brott, ok er þat eigi sagt í þessi sǫgu, hvat hann lagði helzt fyrir sik, ok lýkr þar skiptum þeira Ingimundarsona. ³⁸⁵ Mit diesem sehr leisen Abgang wird final die Überlegenheit deutlich, mit der Jǫkull und sein Bruder gegenüber Bergr und Finnbogi gezeichnet werden sollen. In diesem Sinne ist in der Vatnsdœla saga aktiv angewandtes níð ein konsequentes Mittel, um die bereits etablierte positive Figurendarstellung zu vollenden. Besonders ins Gewicht fällt dabei,

stellten sie vor dem Zaun auf. Dort waren auch Pferde, die dort in dem Unwetter Unterschlupf gesucht hatten. Jǫkull schnitzte einen Männerkopf in das Stangenende und ritzte Runen darauf mit all den Formeln, die zuvor erwähnt worden waren. Dann tötete Jǫkull eine Stute, öffnete sie an ihrem Brustkorb, steckte sie auf die Stange und ließ sie nach Hause nach Borg blicken.«  Vgl. Müller 2001, S. 101.  Vgl. Almqvist 1965, S. 97. Zur zusätzlich angenommenen magischen Komponente in dieser Szene s. ibd., S. 99. Sayers expliziert die Beschreibung dieser Szene: »[A] pole topped by a manʼs head carries the transfixed body of a mare, with the pole passing through the chest of the animal and, one must assume, out through the anus«, Sayers 1997, S. 30.  Vatnsdœla saga, S. 92.  Müller 2001, S. 101.  Vatnsdœla saga, S. 95; »Bergr machte sich auf den Weg, und es ist in dieser Geschichte nicht gesagt, womit er sich noch befasste, und hier enden die Auseinandersetzung zwischen ihnen und den Söhnen Ingimundrs.«

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dass Finnbogi der Herausforderer ist, der dann aber selbst nicht zum Duell erscheint.³⁸⁶ In Finnbogis Saga selbst wird das níð zwar ebenfalls erwähnt, allerdings werden die näheren Umstände so dargestellt, dass die Bewertung der beiden Kontrahenten Finnbogi und Jǫkull genau entgegengesetzt zu der in der Vatnsdœla saga ausfällt. Dies beginnt schon bei der Darstellung des auslösenden Streits, bei der Jǫkull in die Rolle eines schlechten Verlierers gedrängt wird.³⁸⁷ Wir erfahren, dass er um die Hand von Þóra anhalten möchte, einer jungen Frau aus Bólstarðarhlíð.³⁸⁸ Als Finnbogi sich aber (nicht zuletzt materiell) dafür einsetzt, dass Þóra mit seinem Verwandten Þorkell verheiratet wird, willigt deren Familie ein und Jǫkull wird bei seinem nächsten Besuch abgewiesen.³⁸⁹ Beim nächsten Zusammentreffen mit Finnbogi wird er dann ausfallend, und in der Finnboga saga ist es Finnbogi, der in einer Reaktion auf eine Provokation durch Jǫkull auf die unterstellte ergi der Leute aus dem Vatnsdalr anspielt: ›Þó at þér þyki Þorkell mágr minn, ekki skjótligt mjök, þá er hann þó ekki uppburðaminni um þat, er til kvennanna heyrir, en þér garparnir.‹ ³⁹⁰ Noch vor der späteren Herausforderung zum Duell werden wir Zeuge einer Szene, in der Jǫkull einen Überfall auf Þorkell vorhat und sich zu diesem Zwecke nach Bólstarðarhlíð begibt. Dort wird er aber schwer verwundet und muss sich zurückziehen, was den Spott der Leute mit sich zieht, auf den in der Finnboga saga durch den Erzähler ähnlich Bezug genommen wird wie in der Vatnsdœla saga auf den wiederholten Spott gegen Finnbogi und Bergr: Spyrjast nú þessi tíðendi, ok þykir Jökull hafa illt af beðit. ³⁹¹ Auf einer Hochzeit kommt es zu einer ähnlichen Szene zwischen den Leuten von Borg und aus dem Vatnsdalr wie schon in der Vatnsdœla saga. Eine Rangelei eskaliert in der Aufforderung zum Duell, die hier aber »unvermittelt, nachtragend und unversöhnlich« wirkt.³⁹² Diese Wirkung liegt nicht zuletzt daran, dass die Aufforderung nicht in einer direkten Rede geäußert, sondern nur durch den Erzähler Bezug darauf genommen wird.³⁹³ Hier ist es Bergrs Frau Dalla, die nicht mit dem Duell einverstanden ist, und hier erfährt Finnbogi von ihrem Plan, schlechtes Wetter heraufzubeschwören. Finnbogi erhält dadurch die Möglichkeit, ihr aktiv zu widerspre-

 Vgl. Müller 2001, S. 101.  Müller 2001, S. 101.  Finnboga saga, S. 301– 302.  Finnboga saga, S. 303 – 304.  Finnboga saga, S. 305; »›Auch wenn euch mein Verwandter Þórkell nicht besonders flink [gemeint ist: im Denken] erscheint, so ist er doch nicht so scheu wie ihr Helden, wenn es um die Frauen geht.‹« Der ergi-Vorwurf liegt hier im unterstellten Fehlen von Konfliktbereitschaft im Werben um Þóra, bzw. auch darin, hier nicht zum Zuge gekommen zu sein – eine Abwertung hinsichtlich der sozioökonomischen Verhältnisse klingt somit ebenfalls an, da die Eheschließung auch mit finanzieller Unterstützung durch Finnbogi ermöglicht wurde.  Finnboga saga, S. 308; »Diese Nachrichten verbreiteten sich nun, und Jǫkull schien dabei schlecht weggekommen zu sein.«  Müller 2001, S. 101.  Finnboga saga, S. 311.

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chen, aber sie lässt sich nicht von ihrem Plan abbringen.³⁹⁴ Im Gegensatz zur Darstellung in der Vatnsdœla saga hält er es hier trotz seines Missfallens der Situation für völlig ausgeschlossen, dass es jemand zum Kampfplatz schaffen könnte. Das Fernbleiben vom Kampfplatz ist so zwar genauso durch Magie und das schlechte Wetter motiviert wie in der Vatnsdœla saga, Finnbogis Sichtweise wird aber viel stärker in den Mittelpunkt gerückt, was zu einer gesteigerten Nachvollziehbarkeit durch die Rezipierenden führt. Die Errichtung der níðstǫng durch Jǫkull hingegen wird in der Finnboga saga deutlich weniger ausführlich und mit größerer narrativer Distanz beschrieben: Þat spurðist ok, at þeir Hofssveinar höfðu komit á mótit, ok þat með, at Jökull hafði reist Finnboga níð allhæðiligt, þar sem þeir skyldu fundizt hafa. ³⁹⁵ Was in der Vatnsdœla saga geradezu mit Genuss ausgemalt wird, ist in der Finnboga saga nur ein kurzer Verweis auf das Wissen der Sagagesellschaft. Der Erzähler wendet mehr Zeit auf, Finnbogis wütende und betrübte Reaktion auf das níð zu schildern, und kommt kurz darauf stattdessen auf die vielversprechenden Söhne des Paares zu sprechen.³⁹⁶ Im darauffolgenden Kapitel gelingt es Finnbogi nicht nur, Jǫkull zu stellen und ihm eine schwere Wunde zuzufügen, die ihn kampfunfähig macht, sondern auch seine eigenen Kampffertigkeiten gegenüber einer zahlenmäßigen Übermacht unter Beweis zu stellen.³⁹⁷ Zwar wird Jǫkull noch ein zweites und drittes Mal von Finnbogi verwundet,³⁹⁸ was erneut von der negativen Bewertung seiner niederen Beweggründe zeugt, wie des Neides wegen der verpassten Chance zur Heirat.³⁹⁹ Zum Schluss kommt es dennoch zum Frieden zwischen den Parteien, und der Ton wird versöhnlich. Die Saga endet schließlich mit einem positiven Ausblick auf Finnbogis Nachkommen. Durch die unterschiedlichen Blickwinkel in beiden Sagas wird das als »historisches Wissen« vorausgesetzte níð und sein Einsatz durch Jǫkull stark dem Anspruch an die Figurenzeichnung angepasst.⁴⁰⁰ Dies legt eine Deutung nahe, die Schach hinsichtlich der Figurendarstellungen und mit Blick auf die außerliterarischen historischen Umstände herausgearbeitet hat: The remarkable transformation of these two characters lends substantial support to the view, avanced by Sigurður Nordal and Einar Ól. Sveinsson, that Finnboga saga was written as a deli-

 Zur positiven Zeichnung Finnbogis trägt außerdem noch bei, dass er sich zuvor mit Bergr auf dem Weg zur Hochzeitsfeier durch einen Schneesturm gekämpft hat, was den Rezipierenden zeigt, dass er durchaus in der Lage ist, mit solchen extremen Wetterlagen umzugehen, sofern sie natürlichen und nicht magischen Ursprungs sind, vgl. Finnboga saga, S. 309 – 310.  Finnboga saga, S. 311; »Es wurde auch berichtet, dass die Leute aus Hof zum Treffpunkt gekommen waren, und auch das, dass Jökull dem Finnbogi dort, wo sie sich hätten treffen sollen, ein níð errichtet hatte, dass diesem sehr zum Spott gereichte.«  Finnboga saga, S. 311.  Finnboga saga, S. 313.  Finnboga saga, S. 322.  Vgl. Schach 1978, S. 270.  Vgl. Müller 2001, S. 102.

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berate reply to Vatnsdœla saga, designed to repudiate portions tot he story and to rehabilitate and enhance the figure of the titular hero.⁴⁰¹

In der Vatnsdœla saga ist er selbst eine der fokussierten Hauptfiguren und wird dort schon durch die »Räuber-Episoden« entsprechend positiv aufgebaut. Dass er níð nicht einsetzt, ohne vorab vor dem Einsatz zu warnen, kommt ihm in der Bewertung durch den Erzähler und die anderen diegetischen Figuren ebenfalls zugute. Die wiederholten Abwertungen des Gegners Finnbogi in den Augen der Sagagesellschaft tragen wie dessen leises Verschwinden aus der Saga zu diesem Bild bei.⁴⁰² In der Finnboga saga ist der Fall genau anders herum gelagert, da hier entsprechend der vorherrschenden Figurenprogrammatik Finnbogis Perspektive erzählerisch stärker plausibilisiert werden »muss«. Mit einer solchen Plausibilisierung konfligierte jedoch eine positive Darstellung der Söhne Ingimundrs; in aller Konsequenz werden sowohl Jǫkulls Perspektive als auch sein níð mehrfach relativiert und geradezu heruntergespielt, während er selbst mehrfach angegangen und physisch beinahe vernichtet wird. In der Finnboga saga ist er der ausgebootete Nebenbuhler, der aus unlauteren und nachtragenden Motiven zu níð greift.

4.2.3 Anwender von níð: Zusammenfassung Was die Bewertung von níð-Anwendern in den Isländersagas angeht, hat sich ein differenziertes Bild gezeigt. In der Anwendung ist allen Figuren gemeinsam, dass sich ihr níð gegen andere Figuren richtet, die ihnen hinsichtlich ihrer sozialen Reputation in der Diegese mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar höherstehend sind. Auch in Fragen der sozialen Rangordnung, also wenn der relative Status noch nicht festgelegt ist oder eine Neuordnung des Gefüges ausgelöst werden soll, kann níð zur Herbeiführung einer Entscheidung herangezogen werden. Ein Fall, in dem der soziale Status (neu) verhandelt werden soll, betrifft aus Hallgerðrs Sicht die Konstellation zwischen ihrem Mann und seinem Freund Njáll, den sie über Sigmundr attackiert. Die Þorsteins saga Síðu-Hallssonar hat den Streit um ein Godenamt zum Inhalt, über dessen rechtmäßige Ausübung nicht nur am Thing verhandelt wird, sondern die auch durch níð zementiert werden soll. Und der Skalde Egill trägt seinen Konflikt mit dem norwegischen Königshaus nicht nur einmal dadurch aus, dass er sich auf níð bezieht oder es einsetzt. Sofern bei Skaldenfiguren im Rahmen ihrer Exposition Bezug darauf genommen wird, dass sie níð als Kunstform in ihrem Repertoire haben, geschieht dies ausschließlich in der Hälfte ihrer Figurenbeschreibung, in der ihre negativen Seiten ge-

 Schach 1978, S. 270.  Finnbogis Status als Sagaheld wird nicht »angetastet«, wie Müller 2001, S. 102, schreibt, sondern nach den impliziten moralischen Wertemaßstäben der Sagas geradezu demontiert.

4.2 Figurenanalysen I: Konzeptualisierung und Bewertung von níð-Anwendern

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schildert werden. Zu diesen gehören ein schwieriger sozialer Umgang, Maßlosigkeit und eine als hässlich erachtete Physiognomie. Da es sich bei der Figurenexposition um den ersten Auftritt einer Figur in einer Saga handelt und diese direkt vom Erzähler stammt, handelt es sich bei Zuschreibungen in diesem Rahmen um die direktesten und prägendsten Charakteristika, die wir aus erster Hand vom Erzähler über eine Figur erhalten. Die in zwei von vier der sogenannten Skaldensagas anzutreffende erzählerische Vorgehensweise, bereits bei der Figurenexposition von Skalden auf níð zu verweisen, verstärkt den Umstand, dass innerhalb der sogenannten Skaldensagas drei von vier Texten eine Hauptfigur haben, die durch ihre Hinwendung zur níðDichtung gezielt von Beginn an als negativ charakterisiert wird. Wegen der Stellung dieser Information innerhalb der Figurenexposition erscheinen diese Figuren für die Rezipierenden negativ. Hier ist die Erwähnung von níð elementarer Bestandteil in der Charakterisierung der Helden innerhalb dieser textlichen Binnengruppe als »kapriziöse Einzelgänger«.⁴⁰³ Doch auch in den anderen Fällen kommt es dazu, dass während der erzählten Geschichte auf níð Bezug genommen wird. Andere Skalden, die nicht von Beginn an und unmittelbar mit níð in Verbindung gebracht werden, dieses aber im späteren Verlauf der Handlung nutzen, zeichnen sich durch nachteilige Charakteristika aus. Zum Ausdruck kommt der aufgrund seiner Stellung innerhalb der Expositionen negativ konnotierte Hang zur níð-Dichtung durch die altnordischen Adjektive níðskár oder níðskældinn. Allerdings können milder erscheinende Beschreibungen wie spottsamr gewählt werden, die ebenfalls mit der altnordischen Dichtkunst in Verbindung gebracht werden können. Auf verschiedene andere Weisen wird die grundsätzlich problematische Natur von skaldischer Dichtkunst in der Form von níð durch die Figuren und ihre Benennungen und Beziehungen deutlich gemacht: Durch cognomina wie vandræðaskáld oder auch den selbst gewählten Namen Níðungr inn nákvæmi kommt zum Ausdruck, dass sich auch die Skalden selbst und ihr Umfeld sehr wohl um die soziale Einschätzung von níð-Anwendern innerhalb der Diegese im Klaren sind. Im letzten Beispiel wird die negative Konnotation durch Assoziationen mit weit entfernten und unheimlich-mystischen geografischen Regionen evoziert. Im gleichen Zug lässt der Erzähler den Skalden Verbindungen zu unzivilisierten Lautäußerungen herstellen, wenn dieser angibt, der Sohn eines Mannes zu sein, der den Beinamen gjallandi trägt. Auch bei Figuren der übrigen Isländersagas kann níð als erzählerisches Mittel dazu dienen, bestimmte problematische Charakterzüge vorwegzunehmen und zu thematisieren. So geschieht dies beim jungen Grettir, der nach seiner Kindheit die Begabung zum Dichten entdeckt, sich jedoch vor allem durch die Hingezogenheit zu deren Schattenseite auszeichnet, was abermals durch die Bezeichnung níðskældinn zum Ausdruck kommt.

 So Vésteinn Ólason 2011, S. 76.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

Wie bereits ersichtlich wurde,⁴⁰⁴ galten im altisländischen Recht strenge Strafen für níð-Strophen, die nach dem erreichten Grad der Öffentlichkeit gestaffelt waren. Grundlage für die juristische Einordnung war die Möglichkeit einer Zuordnung der Verse zu ihrem Verfasser durch genau diese Öffentlichkeit. Ihr oblag es, bedingt durch das gesellschaftliche System ohne eine staatliche Exekutive, auf dem Althing die Rechtsfindung zu betreiben und Urteile zu verhängen. Dafür musste allerdings unbedingte Nachvollziehbarkeit gewahrt sein; für ein nach diesen Maßstäben rechtsfehlerfreies Urteil bedurfte es der genauen Kenntnis über die Identität des Skalden und des Publikums, das seine Strophen vernahm. So lässt es sich erklären, dass sich bei den Anwendern von níð zwei Gruppen finden lassen, die sich hinsichtlich ihrer impliziten moralischen Bewertung durch den Erzähler und die anderen Figuren innerhalb der Erzählwelt unterscheiden. Figuren wie Þorsteinn Þorgnýsson in der Svarfdæla saga, Egill Skallagrímsson und der Jǫkull Ingimundarson der Vatnsdœla saga nehmen offen Bezug auf den níð-Diskurs – überdies alle, ohne selbst Strophen zu verfassen – und machen die Schmähungen der Gegner öffentlich. Aufforderungen zum Kampf mit Mitteln des níð sind wir an mehreren Stellen begegnet und sie führen auf unproblematische Weise dazu, dass das Kräftemessen im Kampf zwischen den betroffenen Figuren zum entscheidenden Faktor für deren Aufstieg oder Fall wird. In diesen Episoden ist gleichzeitig für die intradiegetischen Figuren und die Rezipierenden jederzeit klar, wer sich níð zu eigen macht und wo dies geschieht. Dadurch ist es möglich, dass die Bezugnahme auf níð sich für eine Figur als vorteilhaft erweist. Anders gestaltet sich dies jedoch, wenn die Zuordnung des níð zu seinem Urheber durch die Öffentlichkeit gestört ist. Dieser Fall tritt speziell dann ein, wenn der Urheber sich daran macht, aktiv die Zuordnung zu verschleiern, wie es etwa der Skalde Kali oder Hallgerðr mit der Anstiftung Sigmundrs tut, oder bei Þórháddr, der den Landstreicher Grímkell zur Verbreitung eines ragmæli anstiftet. Dass Hallgerðrs Vorgehen durch andere Figuren erkennbar abgewertet und Grímkell vor allem durch den Erzähler negativ dargestellt wird, lässt sich nicht zuletzt durch die Erschütterung des Rechtsfriedens erklären, die ihre jeweiligen Handlungen zwangsläufig nach sich ziehen.⁴⁰⁵ Es zeigt sich, dass mitAusnahme des Skalden Kali die Figuren dieser Gruppe im Kontext der Neuverhandlung des sozialen Status aufgetaucht sind. Die Vermutung liegt nahe, dass bei der geplanten Entscheidung über die Statusveränderung Mittelbarkeit eine wichtige Rolle spielt, mithin eine níð-bezogene Handlung von einer Figur auf eine oder mehrere andere übertragen wird. Dies ist ein Aspekt, den wir zu einer späteren Gelegenheit noch einmal aufgreifen werden.⁴⁰⁶ Zwischen diesen Polen ordnet sich der Skalde Þorleifr ein, der zwar als positive Kontrastfigur zum Jarl auftritt, allerdings ebenfalls den Zusammenhang zwischen ihm  Vgl. Kap. 2.2.2.  Die Erzählpositionen einer indirekten Handlungsweise erläutern wir in Kap. 4.4.1 und 4.4.2.  Vgl. dazu Kap. 4.4, in dem Mittelbarkeit im Umfeld von níð als eines der prägenden Merkmale der Erzähltechnik solcher Episoden besprochen wird.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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und den Strophen verschleiert. Dass er für die Rezipierenden am Ende eher als Opfer denn als Täter dasteht, ist auf den Effekt seiner Kunstfigur zurückzuführen: Indirekt tritt er in der Rolle als Níðungr öffentlich auf, und direkt nach seiner Vorstellung wird er (zuletzt) vom Jarl zweifelsfrei identifiziert. Gleichzeitig ist jederzeit nachvollziehbar, dass er gerade in einer Rolle auftritt. Doch bereits vor seiner Strophenrezitation wäre er aufgrund diverser Hinweise innerhalb der Diegese als jemand anderes erkennbar gewesen. Besonders interessant gestaltet sich der Fall Jǫkull in der Finnboga saga: Anders als in der Vatnsdœla saga ist das níð gegen Finnbogi hier nicht erzählerischer Höhepunkt einer episodischen Aneinanderreihung von Selbstbehauptungen, sondern erscheint im Gegenteil als der charakterliche Tiefpunkt einer Figur, die von Neid zerfressen alles daran setzt, ihrem hilflosen Gegner Schaden zuzufügen.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps? In den nun folgenden Kapiteln werden wir nach den vorangegangenen Betrachtungen der ›Täter‹ den Blickwinkel wechseln und auf die ›andere Seite‹ der sozialen Interaktionen sehen, die ›Opferseite‹. Dabei wird es wieder bedeutsam sein, nicht nur die Entwicklungen der Figuren zu verfolgen, sondern gleichzeitig auf die begleitende Erzählerhaltung zu achten. Hierfür werden wir primär drei Texte untersuchen, die sich durch unterschiedliche Zugänge zu ihren Hauptfiguren – die aber alle mit níð in Berührung kommen – auszeichnen. In einem Ausblick, der gleichzeitig den primär figurenbezogenen Teil dieses Buches beschließt, werden wir zugleich versuchen, die gewonnen Erfahrungen auf zwei weitere Texte zu übertragen, deren Hauptfiguren bereits im Kindesalter níð zum Opfer fallen. In diesen beiden Texten spielt jedoch die thematische Auseinandersetzung mit dem Thema níð keine so zentrale Rolle wie in den zuerst untersuchten Texten. Der Þorleifs þáttr jarlaskálds beginnt mit einer programmatischen Figurenexposition des norwegischen Herrschers Hákon Hlaðajarl, die keinen Zweifel daran lässt, dass wir es im Laufe der Erzählung mit einer wahrhaftig antagonistischen und diabolischen Gestalt zu tun bekommen werden: Nu skal segja þann ævintýr, er gerðist á ofanverðum dǫgum Hákonar Hlaðajarls, í hverjum kynstrum, gǫldrum ok gerningum hann varð forsmáðr ok mjǫk at verðugu, því at hans mannillska ok guðníðingskapr var mǫrgum manni til mikils þunga ok óbætiligs skaða andar ok líkama. ⁴⁰⁷

 Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 215; »Nun soll jenes Abenteuer erzählt werden, das sich zu Beginn der Tage Hákons des Ladejarls zutrug. In allen Zauberkünsten, Sprüchen und Hexereien wurde er sehr geschmäht, und das sehr zu Recht, weil seine Schlechtheit und Gotteslästerei vielen Männern zu großer Beschwer gereichten, und viel ungesühnten Schaden an Leib und Seele [anrichteten].«

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

Im Gegensatz zu seinem Gegenspieler, dem titelgebenden Þorleifr, gereicht Hákons Gewandtheit in der Magie ihm zum Nachteil: Dessen Zauberkunst beruht auf den »Kenntnissen der Natur und nicht auf Unterstützung durch heidnische Götzen«,⁴⁰⁸ wie es bei Hákon der Fall ist. Dies legt der erst in späterer Zeit gebräuchlich werdende Terminus guðníðingskapr (›Gotteslästerei‹) nahe, der klarstellt, dass sich hier ein Mensch vom christlichen Gott abgewandt hat,⁴⁰⁹ und der zugleich níðingr als Wortbestandteil enthält. Der Erzähler legt damit einen eindeutigen moralisch-wertenden Maßstab an die Figur des Jarls an.⁴¹⁰ Wir erfahren zu Beginn der Erzählung von Þorleifrs Aufenthalt in Norwegen noch mehr Aufschlussreiches über den Jarl, das sich gut in das Exposé zu Beginn des þáttrs fügt. Nachdem die beiden aufeinandergetroffen sind und sich gegenseitig vorgestellt haben, schlägt der Jarl dem Dichter einen Handel vor, der jedoch nicht zustande kommt. Dies kränkt Hákon so sehr, dass er sich bald selbst nimmt, was ihm seiner Ansicht nach zusteht: [F]ór hann með fjǫlmenni til skips Þorleifs ok lét taka þar menn alla ok binda; síðan rænti [hann] þar fjárhlut ǫllum ok kastaði á sinn eign, en lét brenna skipit at kǫldum kolum. Ok eptir þetta lét hann skjóta ásum milli búðanna ok lét þar hengja við alla fǫrunauta Þorleifs. ⁴¹¹

Den Rezipierenden des Þáttrs bietet sich hier das Bild eines jähzornigen, maß- und zügellosen Mannes, der auf eine Kränkung durch einen isländischen Handelsreisenden hin jegliches Augenmaß verliert. In der Folge raubt, brandschatzt und mordet er. Für die Rezipierenden bedarf es hier keiner expliziten moralischen Bewertung durch den Erzähler mehr; die negative Zeichnung der Figur des Jarls ist mehr als eindeutig. In den moralischen Kategorien der (zeitgenössischen) Rezipierenden kann dieses Handeln nur als níðingsverk aufgefasst werden.⁴¹² Während der Szene, in der Þorleifr zur Rache für diesen Überfall auf sein Schiff in seiner Verkleidung als der alte Níðungr an Hákons Hof kommt, werden Hákon und sein Hofstaat mehrfach als lächerlich und wenig intelligent dargestellt, da sie ihn zunächst nicht erkennen. Nachdem er dort Hákon mit seinem níð belegt hat und geflohen ist, sinnt der in schwarzer Magie bewanderte Jarl nach Rache. Er schließt sich mit zwei Zauberinnen zusammen, um mit okkulten Kräften einen beseelten Holzmann (an. trémaðr) namens Þorgarðr zu erschaffen und mit dem Mord an Þorleifr

 Würth 1991, S. 110.  Vgl. Thorvaldsen 2011, S. 171.  Ashman Rowe 2005, S. 53 – 54, weist darauf hin, dass diese moralische Dimension auf der textuellen Ebene dem historischen Einfluss von Jón Þórðarson auf die Textüberlieferung geschuldet sei.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 217; »Er begab sich mit Gefolgsleuten zu Þorleifrs Schiff und ließ da alle Männer festnehmen und fesseln; dann raubte er dort alle Güter und nahm sie an sich, aber ließ das Schiff zu kalter Asche niederbrennen. Danach ließ er er Pfähle zwischen den Häusern in den Boden rammen und dort alle Begleiter Þorleifrs hängen.«  Die geschilderten Grausamkeiten gegenüber der Mannschaft könnten ahistorisch zu sein, da in früheren Quellen nur von der Verbrennung des Schiffs als Motivation für das níð die Rede ist, vgl. Ashmann Rowe 2005, S. 75.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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zu beauftragen. Zum Leben erweckt wird diese Holzpuppe durch das Herz eines eigens zu diesem Zweck getöteten Mannes: lét hann [Hákon] drápa einn mann ok taka ór hjartat ok láta í þenna trémann. ⁴¹³ Gerade in der Beschreibung dieser Szene werden alle sprachlichen Register gezogen, um Hákon nochmals in einem möglichst schlechten Licht darzustellen: Der Mord an dem unfreiwilligen Herzspender wird mit gleich vier entsprechenden Signalwörtern belegt, die Begabung des Kunstmenschen mit Bewegungs- und Sprechfähigkeit wird als »teuflische Kraft« (fjandans krapti) gegeißelt, ganz im Gegensatz zu der positiv konnotierten Erschaffung des ersten Menschenpaares in Vǫluspá und Gylfaginning, so dass der Schöpfungsteil der Thorgard-Erzählung geradezu als ins Schwarzmagische verzerrte Kontrafaktur des Askr-EmblaMythos figuriert.⁴¹⁴

Teicherts Beobachtung entspricht Harrisʼ Feststellung, dass »[t]he author had a talent not only for the grotesque, but for effective contrasts, and the central part of the þáttr is structured as four contrasting scenes.«⁴¹⁵ Man muss hier also gar nicht erst den Text des Þáttr verlassen, um einen Gegensatz zu der negativen Beschreibung dieser Beseelung zu finden – der Gegensatz findet sich im Þáttr selbst in der von Þorleifr durch die Kraft von Sprache und Täuschung erschaffenen Figur Níðungr. Der dahinter stehende »Schöpfungsakt« des Dichters wird in der Gesamtwertung als Innovation eines Isländers gegenüber dem unmoralischen Jarl Hákon dargestellt.⁴¹⁶ Im Übrigen spiegeln sich Hákons üble Verhaltensweisen in der Umsetzung von Þorleifrs Rache: »Þorleifr pretends to eat greedily as a punishment for Hákon’s greed in stealing his wares, and his spell making the weapons in Hákon’s hall fight by themselves results in the death of some of Hákon’s men, just as Hákon caused Þorleifr’s men to be killed.«⁴¹⁷ Die abschließende moralische Wertung im Text fällt klar zugunsten des isländischen Skalden aus, der durch Hákons Überfall auf sein Schiff in einer Position dargestellt wird, in der er sich wehren muss. Dies wird zum Ausdruck gebracht durch die Reaktion auf seinen Tod, von dem es heißt, die Menschen hielten ihn für einen großen Schaden (ok þótti mǫnnum þat allmikill skaði).⁴¹⁸

 Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 225; »[Hákon] ließ einen Mann töten, sein Herz entnehmen und in den Holzmann einsetzen.« Zu einer Einordnung dieser Episode in einen größeren Kontext von fantastischem Erzählen und Golemmotivik innerhalb der altnordischen Literatur vgl. Teichert 2014, insbes. S. 176 – 182. Hier weist Teichert auf die Parallelen zwischen der Erschaffung Þorgarðrs und der Athropogonie in der eddischen Überlieferung hin, vor allem in Bezug auf Holz als das verwendete »Grundmaterial«.  Teichert 2014, S. 179.  Harris 2008b, S. 109. Die Kontraste bestehen laut ihm in der Gegenüberstellung von Þorleifrs Gedicht an Sveinns Hof und dem níð gegen Jarl Hákon sowie der Begrüßung an beiden Höfen. Darüber hinaus unterstreicht er den Gegensatz zwischen den heidnischen und christlichen Gegebenheiten, vgl. S. 9 – 10.  Vgl. zur positiven Wertung Þorleifrs nochmals Würth 1991, S. 79.  Ashmann Rowe 2005, S. 75 – 76.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 227; »Und dies schien den Leuten ein großer Schaden zu sein.«

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

Einige Figuren in den Isländersagas scheinen von Zuschreibungen von ergi und níð geradezu verfolgt zu werden und bei der Figurendarstellung des Jarls haben wir einen Eindruck davon bekommen, wie energisch bei einzelnen Figuren eine erzählerische Agenda verfolgt werden kann. Im Þorleifs þáttr jarlaskálds hat dies zum Ergebnis, dass von Beginn bis Ende dem isländischen Skalden ein durch und durch schlechter Antagonist gegenübersteht. Bei ihm handelt es sich jedoch um keine Hauptfigur eines Textes, weshalb dessen initiale negative Charakterisierung über den níð-Diskurs vor allem der positiven Charakterisierung der vom Erzähler fokussierten Figur dient: Hákon wird im Þorleifs þáttr jarlaskálds den Rezipierenden expressis verbis von Beginn an unter der Kombination »níðingr und Antagonist« vorgeführt. Wir widmen uns daher der Fragestellung, ob es innerhalb der Isländersagas auch Hauptfiguren gibt, die so dauerhaft mit ergi und níð in Verbindung gebracht werden, wie es beim Jarl Hákon der Fall ist, ob also die kategorielle Kombination »níðingr und Protagonist« von den Erzählern der Isländersagas als zulässige Möglichkeit zur Figurenzeichnung gesehen wird. Einen Vorstoß in diese Richtung unternimmt Schmidt, der in seinen Untersuchungen zur Færeyinga saga vor allem deren Hauptfigur Þrándr in die Nähe der níðThematik stellt.⁴¹⁹ Er vermeidet in Zusammenhang mit Þrándr zwar den Begriff níðingr, attestiert ihm aber durchaus die Tendenz zur Transgression von Geschlechternormen und zu einem sozial destabilisierenden Verhalten: Þrándr verhält sich Zeit seines Lebens nie entsprechend der Maßgaben eines ›männlich‹ konnotierten Wikingerhelden: Er greift nie selbst zur Waffe, er scheut mehrfach vor der Androhung von Gewalt zurück und willigt in die Forderungen seines Gegenübers (in der Regel Sigmundr) ein, wodurch er sich als feige erweist. Stattdessen betätigt er sich in meist sehr subtiler Art und Weise als Hetzer, eine Kategorie von literarischer Funktion, die vor allem von weiblichen Sagafiguren bedient wird; er manipuliert und dirigiert dadurch Drittparteien in seinem Sinne und setzt so andere für seine Zwecke [ein].⁴²⁰

Mit dieser Beschreibung kommt Schmidt dem Bild eines níðingr nahe, ohne Þrándr explizit als solchen zu benennen. Diese Charakterisierung wie die Feststellung der bewusst uneindeutig gehaltenen Erzählhaltung⁴²¹ zeigt aber, dass Schmidt die Kombination »níðingr und Protagonist« nicht für ausgeschlossen hält. Drei Figuren sollen hier auf den Prüfstand gestellt werden, um diese Konstellation und die Erzählhaltung in Bezug darauf zu identifizieren. Der Name Króka-Refr wurde in Verbindung mit ergi bereits kurz genannt.⁴²² Er erhält während eines Aufenthalts in Grönland den zweifelhaften Spitznamen Refr inn ragi, der nicht so recht zu seinen Handlungen zu passen scheint, die als konform mit dem herrschenden Männerbild geschildert werden.  Vgl. Schmidt 2016, 2018.  Schmidt 2018, S. 170 – 171.  Vgl. Schmidt 2016. Seine Interpretation der aktiven Zurückhaltung des Erzählers in Fragen von ›gut‹ und ›böse‹ findet sich insbesondere auf S. 301– 304.  Vgl. Kap. 2.1.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Darüber hinaus sind zwei der schillerndsten Figuren in den Isländersagas der Gode Guðmundr inn ríki und der weise Njáll Þorgeirsson. Der erste der beiden kann zwar keine Saga mit seinem Namen vorweisen, dafür jedoch mehrere Auftritte in unterschiedlichen Texten. Zudem ist er faktisch die Hauptfigur der Ljósvetninga saga. Beide Figuren scheinen ebenfalls sowohl von den Erzählern der Texte, in denen sie eine Rolle spielen, als auch von den übrigen Figuren der Diegese aktiv in die Nähe des ergiKomplexes gerückt zu werden. Njáll sticht wegen seiner Bartlosigkeit von Beginn an hervor, da ihm diese Eigenschaft regelmäßig zum Vorwurf gemacht wird. Über Guðmundr inn ríki, dessen ganzer Charakter in den Augen einiger Forscher schon so angelegt zu sein scheint, dass er die Figuren um sich herum regelmäßig zu wiederkehrenden Vorwürfen der ergi (und damit zu níð) provoziert, schreiben etwa Hahn und Schmidt: Guðmundr’s character seems clearly ›anti-heroic‹, as even though he is a main protagonist of the saga, the text ceaselessly works on his – almost comically appearing – vilification. Being depicted as the prototype of a níðingr, the most despised social being in saga society, Guðmundr’s portrayal is an arch-image of the ›bad boy‹.⁴²³

Es verwundert im Übrigen nicht, dass eine offenbar derartig polarisierende Gestalt unter dem Blick von gegenwärtigen Rezipierenden leicht unter Zugrundelegung moderner Kategorien interpretiert wird. So äußert der isländische Psychiater Óttar Guðmundsson in seinem Buch Sex in the Sagas. Love and Lust in the Old Icelandic Literature zu dieser Figur einen klaren Befund: »Gudmundur at Mödruvellir is one of the few powerful men in the Sagas who is obviously homosexual.«⁴²⁴ Eine derart bestimmte Deutung übergeht allerdings mehrere Schwierigkeiten, mit denen wir uns bei der Interpretation mittelalterlicher Texte konfrontiert sehen. Nicht zuletzt ist es schon aufgrund von terminologischen Bedenken nicht möglich, sich ihr vorbehaltlos anzuschließen. Anlässlich dieser Ausgangslage und der Tatsache, dass moderne Rezipierende durchaus Parallelen zum gegenwärtigen Identitätskonzept der Homosexualität erkennen, lässt sich nicht zuletzt aufgrund des pointierten Zitats von Hahn und Schmidt fragen, ob die genannten Figuren im Rahmen der mittelalterlichen Vorstellungswelt, der sie entstammen, bereits als níðingar konzipiert sind. Dem schließt sich die Frage an, ob man von einem Figurentyp des ›typischen níðingr‹ innerhalb der Sagas sprechen kann.

4.3.1 Refr inn ragi Refr, der lieber am Feuer liegt, statt sich an den anfallenden Arbeiten zu beteiligen, wird in seiner Saga entsprechend der Motivik eines typischen kolbítr vorgestellt. Zwar

 Hahn/Schmidt 2016, S. 13, in Bezug auf den Artikel von Tirosh 2016, S. 240 – 272, im selben Band.  Óttar Guðmundsson 2016, S. 117.

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ist er groß und stark, aber auch unzugänglich und faul. Als ein Streit mit einem Nachbarn, den sein Vater zu dessen Lebzeiten noch unter Kontrolle gehalten hatte, wieder ausbricht und einer der Hirten des elterlichen Hofes erschlagen wird, besteht Handlungsbedarf. Refrs verwitwete Mutter sucht ihn am Herdfeuer auf und versucht ihn mit einer hvǫt zum Handeln zu bewegen. Hon mælti þá: ›Ávallt hrýss mér hugr við, er ek sé þik, frændaskömm þína, fyrir mínum augum ok hve mikill ógæfumaðr ek var, þá er ek ól þinn óvita. Væri þar betri dóttir; mætti ek þá gefa hana þeim manni, er oss væri nökkut traust at. En þótt landeign vár sé beitt upp eðr taða niðr brotin eða menn drepnir, þá liggr lydda þín ok lætr sem vér eigum ekki at annast.‹ ⁴²⁵

Nach diesen Worten, die er zutreffend als hvǫt interpretiert, greift er zur Waffe, um nicht weiteren Aufhetzungen ausgesetzt zu sein.⁴²⁶ Er stellt den Nachbarn, tötet ihn und verlässt anschließend ungesehen dessen Hof. Bei seiner Rückkehr erzählt er seiner Mutter von der vollzogenen Rache, worauf diese zufrieden reagiert und ihm aufträgt, bis zur rechtlichen Klärung der Erschlagung zu ihrem Bruder zu gehen.⁴²⁷ Mit diesem Aufbruch von zu Hause wird das Ende von Refrs jugendlicher kolbítr-Phase markiert. Zusammen mit seinem Onkel baut er ein Schiff, was von den Bewohnern der Gegend mit Erstaunen und Bewunderung aufgenommen wird und erstmalig zu einem Umschwung der öffentlichen Meinung über ihn führt: Spyrst þetta nú víða, at Refr Steinsson hafði gert byrðing haffærandi; þóttu þat vera hér fáheyrð tíðindi, því at hann var kallaðr af mörgum mannvitull. ⁴²⁸ Im darauffolgenden Frühling wird Refrs Männlichkeit erneut in Frage gestellt, als er von einem gewissen Gellir ohne besondere Motivierung zum Ringkampf aufgefordert wird. Er verweigert sich, woraufhin es zu einer Rauferei kommt, nach der Gellir sich damit brüstet, dass Refr sich nicht dafür rächen werde.⁴²⁹ Doch bald darauf rächt sich Refr: »Nú skal ek gjalda þér tvau högg

 Króka-Refs saga, S. 123 – 124; »Sie sagte da: ›Mir graust es immer, wenn ich dich vor meinen Augen sehe, du Schandfleck der Familie! Und was für ein glückloser Mensch ich war, dass ich dich Dummkopf großgezogen habe. Eine Tochter wäre da besser; die könnte ich einem Mann geben, der uns ein wenig Schutz wäre. Und obwohl unser Landbesitz abgeweidet und die Weide niedergetreten wird und Männer getötet werden, liegst du Nichtsnutz herum und tust als hätten wir nichts, worum wir uns kümmern müssten!‹«  Króka-Refs saga, S. 124: Refr ríss þá upp ok mælti: ›Harðar munu at heyra þínar fleiri átölur, móðir, er slíkar eru inar fyrstu.‹ Hann tekr ofan höggspjót mikit; »Refr erhob sich da und sagte: ›Deine weitern Vorwürfe werden hart zu hören sein, Mutter, wenn die ersten schon so sind.‹ Er nahm einen großen Hauspieß.«  Króka-Refs saga, S. 125 – 126.  Króka-Refs saga, S. 128 – 129; »Die Nachricht verbreitet sich nun weiter, dass Refr Steinsson ein seetüchtiges Handesschiff gebaut hatte; das schienen hier ungewöhnliche Nachrichten zu sein, weil er von vielen Männern einfältig genannt wurde.«  Króka-Refs saga, S. 130.

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með einu.« ⁴³⁰ Nach diesen Worten bringt er Gellir um und macht sich im Anschluss bereit für eine Ausfahrt nach Grönland. Dort schließt er Kontakt mit Björn, einem lokalen Siedler, der zugleich Vater der vielversprechendsten Heiratspartnerin der Gegend ist. Von Helga, so ihr Name, heißt es, sie sei attraktiv und intelligent (Hon var væn ok kæn).⁴³¹ Der Erzähler bietet noch einen kurzen Blick auf die andere Seite der Bucht. Dort lebt ein sehr streitbarer Mann namens Þorgils mit seinen Söhnen. Deren ältester, Þengill, hat vor Refrs Ankunft vergeblich Björn um die Heirat mit Helga gebeten. Kurz nach seiner Ankunft in Grönland hält jedoch Refr erfolgreich um die Hand von Helga an und zieht mit ihr auf dem Hof ihres Vaters zusammen, gerät also in direkte Nachbarschaft mit Þorgils und seinen Söhnen. Eines Tages in Grönland verlässt Refr unbewaffnet das Haus und begegnet einem Eisbären. Die folgenden Ereignisse werden innerhalb der Saga wie folgt beschrieben, wobei ihre Darstellung an dieser Stelle die Wiedergabe des gesamten Kontextes erforderlich macht: Refr gat at líta fram á nesit, hvar hvítabjörn var. Björninn skundar nú sinni ferð, er hann sá einn mann. Refr þykkist þá óvarliga farit hafa. Nýsnævi var á jörðu ok auðsæ spor, hvert sem rekja skyldi. Refr sá eigi efni sín á at ganga á mót birninum vápnlauss; snýr hann nú aptr til hrófsins ok tók öxina, læsir síðan hrófinu, snýr nú þangat, sem björninn hafði verit, ok var hann þá dauðr. Höfðu þeir bræðr, synir Þorgils, sigrat björninn, er þeir höfðu gengit frá róðri. Refr gekk þá heim. Þar er nú til máls at taka, at þeir Þorgilssynir koma heim. Faðir þeirra spurði, hvat þeir hefði fiskt. Þeir létust ekki fiskt hafa, – ›en veitt höfum vér hvítabjörn einn.‹ Þorgils mælti: ›Mikit er um uppheldi yðvart, er þér vituð búi váru, ok munu fáir svá fyrir vinna.‹ Þengill mælti: ›Búit var við, at vér mundum lítit fá af veiðiskap þessum, ef eigi hefði Refr inn ragi sýnt sinn drengskap. Hygg ek þat, at aldri hafi dáðlausara höfuð komit til Grænlands en hann berr, því at mannsspor liggja frá hrófinu, ok hafði horfit aptr, ok var hland drifit í sporunum.‹ Þengill mælti þá við Ref mörgum áþéttisorðum. Þorgils, faðir hans, þagði. Þengill spurði, hví hann þegði, – ›eða veiztu eigi, faðir, hverr Refr inn ragi er?‹ Þorgils mælti: ›Um slíkt er illt at ræða, ok ávallt mætti Grænland rauða kinn bera, er þat heyrði Refs getit, því at ek sá, þegar hann var hingat nýkominn, at öfluð hafði verit áðr Grænlandi in mesta skömm. Því hefi ek fátt við hann átt, at þá er ek var á Íslandi, var hann ekki í æði sem aðrir karlar, heldr var hann kona ina níundu hverju nótt ok þurfti þá karlmanns, ok var hann því kallaðr Refr inn ragi, ok gengu ávallt sögur af hans fádæmum endimligar. Nú vilda ek því, at þér ættið ekki við hann.‹ ⁴³²

 Króka-Refs saga, S. 130; »›Nun werde ich dir zwei Hiebe mit einem vergelten.‹«  Króka-Refs saga, S. 132.  Króka-Refs saga, S. 133 – 134; »Refr konnte aus dem Augenwinkel sehen, wo der Eisbär war. Der Bär beschleunigte nun sein Tempo, da er einen Mann sah. Refr schien es, als habe er leichtsinnig gehandelt. Es lag Neuschnee auf dem Boden und Spuren waren sichtbar, die man nachverfolgen konnte. Refr sah keine Chance darin, dem Bären waffenlos entgegenzutreten; er kehrte nun zu seinem Bootsschuppen zurück und nahm eine Axt, danach verschloss er den Schuppen; nun ging er dorthin, wo der Bär gewesen war, und der war da tot. Die beiden Brüder, Söhne des Þorgils, hatten den Bären besiegt, als sie vom Rudern kamen. Refr ging dann heim. Nun ist davon zu berichten, dass die Þorgilssöhne heimkamen. Ihr Vater fragte, was ihre Ausbeute beim Fischfang gewesen sei. Sie sagten, dass sie nicht gefischt hätten, – ›aber wir haben einen Eisbären erlegt.‹ Þorgils sagte: ›Eure Unterstützung, die ihr unserem Hausstand zukommen lasst, ist groß, und nur wenige würden so etwas schaffen.‹ Þengill sprach: ›Es war so, dass wir wenig von dieser Jagd erhalten würden, wenn Refr inn ragi nicht

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Die Episode ist dominiert von einer kontrastierenden Darstellungstechnik, die zwischen der Innensicht für Refrs Wahrnehmungen und seiner Motivation zur Rückkehr (Refr gat at líta fram á nesit, Refr sá eigi efni sín á at ganga á mót birninum vápnlauss) und Schilderungen von den Behauptungen der Þorgilssöhne in direkter Rede (›mannsspor liggja frá hrófinu, ok hafði horfit aptr, ok var hland drifit í sporunum‹) changiert. Während der Erzähler uns durch einen Wechsel seiner Erzählhaltung hin zur internen Fokalisierung die Innenperspektive zu Refrs Handeln bietet (er hält das Verlassen des Hauses ohne Waffe für leichtsinnig und sieht sich dem Bären gegenüber in diesem Zustand unterlegen, weshalb er zurückkehrt, um eine Waffe zu holen), werden die angeblichen Beobachtungen der Þorgilssöhne rein deskriptiv wiedergegeben. Allein die Tatsache, dass die Spuren im Schnee sichtbar sind, wird vom Erzähler bestätigt, was den Rezipierenden, die Refrs Gedanken kennen, nahelegt, dass die behaupteten Urinspuren lediglich eine Erfindung sind, die ihn schlecht dastehen lassen soll. Die Sympathien der Rezipierenden werden so gezielt auf Refr kanalisiert, und es kommt wegen der Art der Präsentation durch den Erzähler nicht im Ansatz der Verdacht auf, Refr könnte tatsächlich feige oder ängstlich sein. Diese Erzählweise ist sehr bemerkenswert, weil eine interne Fokalisierung selten als Erzählposition für Isländersagas fungiert.⁴³³ Eine solche Alteration vom vorherrschenden »Code« im Text (oder hier: im Corpus) dahingehend, dass phasenweise entgegen der ansonsten üblichen Erzählhaltung plötzlich Informationen zusätzlich gegeben werden, nennt Genette »Paralepse«.⁴³⁴ Es kommt dem Erzähler der Króka-Refs saga hier sehr genau darauf an, keinen Zweifel an den tatsächlichen und nicht ergi-verdächtigen Motiven seines Protagonisten zu lassen. Im Kontrast dazu wird für die Widergabe des Verhaltens seiner Gegenspieler wieder auf die übliche Nullfokalisierung gewechselt. Die vorübergehende Steigerung der Informationsdichte erfüllt in der Szene mit dem Eisbären den Zweck, den Protagonisten vor den folgenden ergi-Anschuldigen gleichsam in Schutz zu nehmen. Die Þorgilssöhne machen sich nach dem ersten Gespräch daran, den Bären zu zerlegen. Sie setzen ihr Geläster ununterbrochen mit dem Inhalt fort, at Refr hafi fyrir

seine ›Mannhaftigkeit‹ gezeigt hätte. Ich glaube, dass nie ein untüchtigeres Haupt nach Grönland gekommen ist als das, welches er trägt, denn die Spur eines Mannes geht von dem Bootsschuppen aus, und er ist umgekehrt, und in der Spur wurde Pisse verteilt.‹ Þengill sprach da mit vielen spotthaften Worten über Refr. Sein Vater Þorgils schwieg. Þengill fragte, warum er schweige, – ›oder weißt du, Vater, nicht, wer Refr inn ragi ist?‹ Þorgils sagte: ›Es ist schlecht, über so etwas zu sprechen, und Grönland wird immer rot anlaufen, wenn es von Refrs Taten hört. Ich sah nämlich, als er neu hierhergekommen war, dass Grönland schon zuvor die größte Schande erworben hatte. Denn ich hatte wenig mit ihm zu tun, weil er, als ich noch in Island war, von seiner Art her nicht so war wie andere Männer: Es war vielmehr so, dass er jede neunte Nacht eine Frau war und einen Mann brauchte, und deswegen nannte man ihn Refr inn ragi. So gehen immer Geschichten von seiner unglaublichen Abscheulichkeit [herum]. Jetzt verlange ich von euch, dass ihr nichts mit ihm zu tun habt!‹«  Vgl. Hahn 2020, S. 199, die eine längere Passage der Vatnsdœla saga als Beispiel für diese ansonsten weniger übliche Erzählhaltung bespricht.  Genette 2010, S. 124– 125.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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regi sakir gerr verit af Íslandi ok verit í burt keyptr nökkuru fé. ⁴³⁵ Es heißt weiter, dass sie ihr Geläster so lange fortsetzen, bis es in allgemeines Geschwätz übergeht und letzten Endes auch dem Geschmähten selbst zu Ohren kommt.⁴³⁶ In formeller Hinsicht erfüllt der Inhalt des Gesagten in Gänze die Kriterien von níð, wie sie uns nicht zuletzt in den altnordischen Rechtsquellen begegnen: Refr wird seine Männlichkeit in Abrede gestellt, indem er als konfrontationsscheuer Feigling beschrieben und der ergi bezichtigt wird. Dies manifestiert sich in dem Vorwurf, seine Fußspuren im Schnee wären von Urin getränkt, was dahingehend zu verstehen ist, dass er dies aus Angst vor dem Bären selbst verursacht hätte. Schließlich versteigt sich Þorgils zu dem bereits bekannten stark sexualisierten und formelhaften Vorwurf, Refr sei jede neunte Nacht eine Frau und bedürfte eines Mannes, der ihm Befriedigung verschaffen müsse. Die Motivation für diese ergi-Vorwürfe dürfte in Þengills vergeblichem Werben um Helga zu suchen sein. Diese Deutung ergibt sich aus der Art und Weise, in der die einzelnen Episoden aneinandergereiht sind; sie wird den Rezipierenden nahegelegt, aber nicht vom Erzähler explizit gemacht. Es ist im sozialen Kontext der Sagagesellschaft denkbar, dass für einen erfolglosen Werber um eine Frau deren Hochzeit wie ein níðingsverk ihm gegenüber wirkt. Meulengracht Sørensen sieht in dieser Konstellation den definitiven Auslöser des zentralen Konfliktes dieser Saga und nimmt dabei diese Deutung als gegeben.⁴³⁷ Refr stellt sich nach seiner Kenntnisnahme unwissend und geht in der Folge nicht auf das níð ein. Stattdessen konzentriert er sich darauf, seine wirtschaftlichen Verhältnisse zu ordnen und beginnt, sich auf den Abschied von Grönland vorzubereiten, indem er im Stillen seine Farm verkauft.⁴³⁸ Während dieser Zeit kommt Helgas Ziehvater Þormóðr auf ihn zu und fragt, ob er nicht gedenke, Rache für die geäußerten Schmähreden zu nehmen, da er sie durch seine Untätigkeit sonst bestätige.⁴³⁹ Wenn er nicht tatsächlich zum níðingr werden möchte, so sein implizierter Rat, dann sei er in der Pflicht, den im Umlauf befindlichen Gerüchten entgegen zu treten. Refr erwidert  Króka-Refs saga, S. 135; »…, dass Refr wegen ergi von Island wegmusste und mit einer gewissen Summe ›fortgekauft‹ wurde.«  Króka-Refs saga, S. 135: Þeir færðu þetta hróp á vöxtu, ok svá ferr þetta í fjölmæli, at Refr verðr þessa áheyrsla; »Sie bringen diese Schmähung zum Wachsen, und so geht sie in allgemeines Geschwätz über, so dass es Refr zu Ohren kommt.«  Meulengracht Sørensen 1983, S. 41.  Króka-Refs saga, S. 135.  Króka-Refs saga, S. 135: ›Illan orðróm hefir nær alþýða manns um þik, ok eru at því upphafsmenn Þorgils ok synir hans. En þá er ek fýsta, at ráð tækist með ykrr Helgu, hugðumst vér gipta hana dugandi dreng, ok svá ætla ek þik. En of mjök þykki mér þú sanna vándra manna orð, er þú lætr þá um kyrrt sitja. Nú bið ek þik, at þú látir þá kenna á sjálfum sér fyrir sín illyrði.‹; »›Fast alle Leute verbreiten ein schlechtes Gerücht über dich, und die Urheber davon sind Þorgils und seine Söhne. Als ich dazu riet, dass es zur Abmachung in Bezug auf Helga und dich kommen sollte, da dachten wir, dass wir sie einem tapferen Kerl vermählen würden, und ich halte dich auch für einen solchen. Aber zu sehr scheinst du mir das Wort der schlechten Leute zu bestätigen, wenn du sie deswegen in Ruhe lässt. Nun bitte ich dich darum, dass du sie selbst ihre Schmähungen erkennen lässt.‹« Vgl. zu dieser Aussage Evans 2019, S. 46.

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besonnen, dass man erst seine Pläne machen solle, bevor man sich in eine größere Unternehmung stürzen oder andere dazu aufhetzen wolle.⁴⁴⁰ Er macht sich mit einem neu geschmiedeten Speer auf den Weg zum Nachbarhof und konfrontiert dort Þorgils mit dem níð, für das er Kompensation verlangt. Der stellt sich zunächst ahnungslos, und nachdem Refr die Worte wiederholt hat, kanzelt er sein Anliegen ab und sagt: ›Eigi dyl ek þess, at vér mælum mart í gamni, en þó mun þetta eigi logit, því at ek ætla hér hvert orð satt í vera.‹ ⁴⁴¹ Mit dieser Bekräftigung, die einer erneuten Äußerung des níð gleichkommt, fällt er das Todesurteil über sich und seine Söhne: Sie werden als konsequente Folge aus der verweigerten Wiedergutmachung für die Schmähungen nacheinander von Refr getötet.⁴⁴² Refr verlässt Grönland und zieht wegen dieser Tötungen den Zorn des Norwegerkönigs Haraldr Sigurðarson auf sich. Für die Rezipierenden erscheint Refr entgegen dem Zorn des Königs als Figur, die sich ohne eigenes Verschulden dem níð von Þorgils und seinen Söhnen ausgesetzt gesehen hat, weil dieser ihm die erfolgreiche Werbung und Heirat nachgetragen hat. Refrs beschriebenes Verhalten und seine Überlegungen auf der Bärenjagd sind von Rationalität geprägt und der Erzähler, der sich auf seiner Seite positioniert, lässt wenig Zweifel daran aufkommen, dass Refr ein tadelloser Mann ist. Seine Reaktion auf das níð ist von der gleichen Besonnenheit getragen, die ihn nach der Begegnung mit dem Bären umkehren lässt, da er nicht im Affekt handelt. Stattdessen bereitet er – wohl wissend um den Ausgang des Konfliktes – seine Abreise aus Grönland vor und bietet Þorgils dennoch die Möglichkeit einer Wiedergutmachung durch Kompensation an. Zudem hat Refr keine andere Wahl, als auf das níð hin seine Ehre zu verteidigen; es griffe also zu kurz, wollte man seine Racheepisode allein auf sein individuelles zartes und verletzbares Ehrgefühl zurückführen.⁴⁴³ Insgesamt erscheint er uns trotz einiger Anhaltspunkte wie den sehr scharfen Worten in der hvǫt seiner Mutter oder dem Beinamen inn ragi, der in Grönland die Runde macht, nicht als ein níðingr. Die konkreten Vorwürfe von Effemination und Inversion spiegeln sich für die Rezipierenden offenkundig nicht in seinem Verhalten wider und auch der Erzähler positioniert sich dahingehend auf Refrs Seite. Diejenigen, die sie äußern, finden bald darauf durch seine Hand den Tod. Im Gegenteil dienen diese Anwürfe Refr als eine Möglichkeit, sich selbst und den Rezipierenden seiner Saga seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen; diese Episoden stellen einen Teil der fünf Episoden dar, die Meulengracht Sørensen hinsichtlich ihrer Funktion für Refrs

 Króka-Refs saga, S. 135.  Króka-Refs saga, S. 136; »›Ich verleugne nicht, dass wir vieles im Scherz sagen, aber das ist doch nicht gelogen, weil ich glaube, dass jedes Wort daran wahr ist.‹«  Króka-Refs saga, S. 136 – 138.  So klingt es bei Arnold an, wenn er schreibt »the revenge/counterrevenge duality […] flows directly from Refr’s tender pride.« Arnold 2003, S. 189 – 190. Kurz zuvor räumt er noch ein, dass sich Refr dem ehrbasierten Männerideal der Isländersagas entsprechend verhält, S. 189. Ein individuelles und besonders fragiles Männlichkeitsbild, das von dem aus anderen Sagas abwiche, ist bei Refr allerdings nicht feststellbar.

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Charakterisierung heraus stellt, und die nach ihm den Aufbau der ganzen Saga bestimmen: »All five sequences are aimed at building up an image of Refr as a hero.«⁴⁴⁴ Es ist nur folgerichtig, dass dieser Held am Ende die Freundschaft des Dänenkönigs erwirbt und in Dänemark seinen Lebensabend genießen kann.⁴⁴⁵ Seine Taten entkräften das níð, weil er durch die Rache verhindert, dass die vorgeworfene Feigheit sich an ihm manifestieren kann. Darüber hinaus ermöglicht die Auslagerung der Episode mit den Þorgilssöhnen an die Peripherie der isländischen Wahrnehmung eine relativ folgenlose Konfrontation mit níð: Das Gerede über Refrs Unmännlichkeit, das der erzählerischen Logik vieler anderer Texte nach potentiell eine sehr dauerhafte und kaum mehr zu tilgende Wirkung haben könnte,⁴⁴⁶ bleibt geografisch auf Grönland beschränkt. Lediglich seine Rache dafür hat Auswirkungen, die bis nach Norwegen reichen, vor denen er aber letztlich geschützt ist, weil er sich in Dänemark befindet. Die Króka-Refs saga führt uns in ihrer Hauptfigur keinen níðingr vor, sie zeigt aber anhand der narrativ elaborierten Eisbärenszene anschaulich, welcher Sorgfalt es bedarf, wenn níð als erzählerisches Mittel zur Charakterisierung einer Figur zum Einsatz kommen und den Rezipierenden gleichzeitig kein negatives Bild von ihr vermitteln soll. Nachdem wir Refr trotz seines Beinamens und der häufigen Konfrontation mit Männlichkeitsfragen – unter anderem durch níð – nicht als níðingr identifizieren konnten, wenden wir uns nun den anderen beiden Figuren zu. Hier erscheint der Befund deutlich diffiziler als bei Refr. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in beiden folgenden Texten eine episodisch-thematische Struktur wie in der Króka-Refs saga aus unterschiedlichen Gründen nicht klar zutage tritt.

4.3.2 Njáll Þorgeirsson Njáll hét maðr; hann var son Þorgeirs gollnis, Þórólfssonar. Móðir Njáls hét Ásgerðr ok var dóttir Áskels hersis ins ómálga; hon hafði komit út hingat til Íslands ok numit land fyrir austan Markarfliót, milli Ǫldusteins ok Seljalandsmúla. […] Hann [Njáll] var vel auðigr at fé ok vænn at áliti, en sá hlutr var á ráði hans, at honum óx eigi skegg. Hann var lǫgmaðr svá mikill, at engi fannsk hans jafningi, vitr var hann ok forspár, heilráðr ok góðgjarn, ok varð allt at ráði, þat er hann réð mǫnnum, hógværr ok drenglyndr, langsýnn ok langminnigr; hann leysti hvers manns vandræði, er á hans fund kom. ⁴⁴⁷

 Meulengracht Sørensen 1983, S. 42. Den strukturierten episodischen Aufbau thematisiert auch Arnold 2003, S. 194.  Króka-Refs saga, S. 160, vgl. Arnold 2003, S. 195.  Exemplarisch seien hier die Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, die Njáls saga und die Svarfdœla saga genannt, in denen die Verbreitung von níð durch Gerede (oder im letztgenannten Beispiel ein Stäbchen) thematisiert wird.  Njáls saga, S. 55 – 57; »Ein Mann hieß Njáll; er war der Sohn von Þorgeirr gollnir, dem Sohn Þórólfrs. Njálls Mutter hieß Ásgerðr, und sie war die Tochter des Hersen Áskell des Schweigsamen. Sie war hinaus nach Island gekommen und hatte östlich des Markarfljót zwischen Ǫldusteinn und Seljalandsmúli Land genommen. […] Er [Njáll] war gut situiert und von schöner Erscheinung, aber diese Sache war sein Schicksal, dass ihm kein Bart wuchs. Er war ein so mächtiger Gesetzesmann, dass es

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So wird die Hauptfigur der Brennu-Njáls saga vorgestellt und im Vergleich zu anderen Isländersagas erscheint diese Vorstellung in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Da ist gleich zu Beginn die Erwähnung seiner Abstammung von einer Landnahmefrau namens Ásgerðr, die insofern etwas Besonderes ist, als die meisten Personen, die Land nahmen, Männer waren.⁴⁴⁸ Wohl bereits an dieser Stelle wird die Aufmerksamkeit der Rezipierenden abgerufen und für ungewöhnliche Details in Njálls Beschreibung geschärft. Danach wird das auffälligste körperliche Merkmal Njálls angesprochen, das für den gesamten weiteren Verlauf der Saga eine wichtige Rolle spielt, nämlich seine Bartlosigkeit. Hier wird sie eindeutig als Makel etabliert, da ein Gegensatz zwischen seinem schön anzusehenden Gesicht und seinem nicht vorhandenen Bartwuchs hergestellt wird ([Hann var] vænn at áliti, en sá hlutr var á ráði hans, at honum óx eigi skegg) – zusätzlich zu diesem einschränkenden aber legt die Terminologie, die der Wendung hlutr á ráði zu Grunde liegt, den Schluss nahe, dass Njáll mit einem Makel behaftet ist.⁴⁴⁹ Eine solche Figurenbeschreibung, die die Aufmerksamkeit auf ein Merkmal lenkt, das als makelhaft angesehen wird, ist der Njáls saga nicht fremd. Njálls Enkel Ámundi, der Sohn von Hǫskuldr, wird blind geboren und entsprechend mit dem Beinamen inn blindi (›der Blinde‹) benannt.⁴⁵⁰ Nach der Erwähnung der Blindheit im Rahmen seiner Figureneinführung wird sogleich darauf verwiesen, dass er »trotzdem« über großen Wuchs und Stärke verfüge: hann hafði blindr verit borinn; hann var þó mikill vexti ok ǫflugr. ⁴⁵¹ Auf diese Gegenüberstellung weist Evans hin, dem zufolge dieser einschränkende Nachsatz verdeutlicht, dass aus der Sicht des Erzählers die Blindheit einen Makel darstellt, der grundsätzlich geeignet ist, die Männlichkeit des Betroffenen negativ zu beeinträchtigen: »The implication is that his blindness prevents him from taking part in the masculine system of revenge.«⁴⁵² In ähnlicher Weise ist auch der einschränkende Satz zu Njálls Bartlosigkeit zu verstehen.⁴⁵³ Dies wird gestützt von der Tatsache, dass im Gegensatz zu Njálls Vorstellung andere zentrale männliche Figuren bei ihrer Einführung sehr wohl auch hinsichtlich des vollen Haupthaares charakterisiert werden. Als Njálls Schwiegersohn Kári Sǫlmundarson an Bord eines Schiffes gesehen wird, wird neben seiner vornehmen

keinen gab, der ihm ebenbürtig war. Klug war er und vorseherisch, klug in seinem Rat und wohlwollend, und es wurde alles, was er seinen Männern riet. Von hohem Gemüt [war er] und tüchtig, langmütig und hatte ein gutes Gedächtnis. Er löste das Problem jedes Mannes, der zu ihm kam.«  Vgl. Jochens 1995, S. 86.  Vgl. Ármann Jakobsson 2007, S. 196.  Njáls saga, S. 272.  Njáls saga, S. 248.  Evans 2019, S. 90.  Anders beurteilt dies Schach, der in Bartlosigkeit lediglich ein Zeichen für »a certain inner inadequancy« sieht: Schach 1978, S. 241. Dass dies zuminest aus der Sicht anderer Figuren der Diegese nicht ganz zutreffend ist, zeigt unter anderem die fortwährende Instrumentalisierung von Njálls Bartlosigkeit durch Hallgerðr.

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Kleidung sein Haar thematisiert, und es heißt, er habe hárit bæði mikit ok fagrt. ⁴⁵⁴ Während der Figureneinführung von Njálls Freund Gunnarr wird nach der Nennung der positiv besetzten und männlichen Eigenschaften dessen Haar erwähnt: hárit mikit, gult, ok fór vel. ⁴⁵⁵ Dem gegenüber fällt Njálls fehlende Gesichtsbehaarung – der zudem ein Leitmotivcharakter für den weiteren Verlauf der Saga zukommt⁴⁵⁶ – stark auf, gerade weil mit ihr eine Sachverhalt zu einem relevanten Thema gemacht wird, der ansonsten in den Sagas keine größere Relevanz besitzt. Zwar heißt ein Vorfahre von Grettir inn skegglausi (›der Bartlose‹), davon abgesehen gereicht Bartlosigkeit in den Sagas ansonsten keinem der von ihr Betroffenen zur Schande.⁴⁵⁷ Mit diesem physischen Charakteristikum legt der Erzähler den Grundstein für eine Reihe von Anfeindungen seitens Hallgerðr, der Ehefrau Gunnarrs, die dieses Charakteristikum benutzt, um Njáll wiederholt der ergi zu bezichtigen.⁴⁵⁸ Dass beide Figuren – der bartlose Njáll und die nicht nur in Hinblick auf ihre Haarpracht exzessive Hallgerðr – von Anfang an kontrastiv angelegt sind, sieht Sayers: »This characterization of Njáll (hairless, deficient in the conventional insignium of manliness) puts him at the other end of a spectrum from long-haired Hallgerðr«.⁴⁵⁹ Letzten Endes ist seine Bartlosigkeit auch Bestandteil der Konflikte, die zum Untergang seines Hauses führen.⁴⁶⁰ Nicht alle weiteren Eigenschaften, durch die sich Njáll auszeichnet, erfüllen intertextuelle Erwartungshaltungen an einen »typischen Sagahelden«. Seine herausragenden Fähigkeiten als Gesetzeskenner (lǫgmaðr mikill) werden zwar ebenso betont wie seine wertvollen Ratschläge, die er anderen erteilt (ok varð allt at ráði, þat er hann réð mǫnnum). Die ihm zugeschriebenen Charaktereigenschaften sind – ganz seinem cognomen »der Weise« entsprechend – Weisheit und Einsicht in die Zukunft (vitr var hann ok forspár). Darüber hinaus finden sein diplomatisches Geschick und die zugeschriebene Kompetenz bei Problemlösungen Erwähnung (hann leysti hvers manns vandræði, er á hans fund kom). Diese Eigenschaften werden seiner Bartlosigkeit entgegengesetzt, so dass nach Sayers seine »absence of facial hair is compensated for by the seer’s power, seated in the mind«.⁴⁶¹ Die Befähigung zur Zukunftsschau stellt jedoch eine Grenzüberschreitung dar, wird eine solche übernatürliche Fähigkeit von der Sagagesellschaft doch oft kritisch gesehen.⁴⁶² Somit ist der Ausgleich für den feh-

 Njáls saga, S. 203; »sowohl volles als auch schönes Haar.«  Njáls saga, S. 53; »Das Haar [war] voll und blond und es stand ihm gut.«  Vgl. Ármann Jakobsson 2007, S. 196.  Vgl. Dronke 1981, S. 11.  Im Gegensatz zum Bart haben wir in Kap. 4.1.2 am Beispiel des Auðunnar þáttr vestfirzka gesehen, dass das Haupthaar einer Figur durchaus Gegenstand von ergi-Zuschreibungen innerhalb eines Statusdiskurses werden kann.  Sayers 1994, S. 12.  Vgl. Sauckel 2018, S. 228.  Sayers 1994, S. 12.  Vgl. Sauckel 2016, S. 101, und 2018, S. 227, die Njálls Figureneinführung als die Vorstellung eines typischen Vertreters des Typs »trickster« liest, als den sie Njáll sieht.

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lenden Bart nicht so eindeutig positiv wie es Sayers in seinem erwähnten Zitat impliziert. Es entspricht ebenfalls nicht dem gängigen Bild eines Sagahelden, dass bei dessen erster Vorstellung an keiner Stelle seine körperliche Konstitution angesprochen wird. Auch seine geschilderte Abstammung lässt Fragen offen: Die Identität seines Vaters wird abgesehen von seiner Namensnennung nicht näher beschrieben, während die Angaben zu seiner Mutter nicht mit denen in der Landnámabók übereinstimmen, woraus Sauckel folgert: »Njáll’s lineage must remain unknown.«⁴⁶³ Weder überragende physische Stärke noch gesteigerter Kampfgeist oder Tapferkeit werden Njáll zugeschrieben. Doch die für den weiteren Verlauf der Saga wichtigen Merkmale sind alle angesprochen, und es sind erste Hinweise auf eine Form von Männlichkeit gestreut, die von derjenigen der meisten anderen Sagahelden abweicht:⁴⁶⁴ Njáll ist diplomatisch und nicht kämpferisch und stark – und ihm fehlt der Bart, dessen Abwesenheit kenntlich gemacht wird, während die körperliche Konstitution vom Erzähler nicht einmal erwähnt wird. Hallgerðr nimmt regelmäßig Bezug auf Njálls Bartlosigkeit und verknüpft sie mit fehlender Männlichkeit, die sich etwa in der Unfähigkeit (oder Unwilligkeit) zur Rache ausdrückt. ›Hverr mun hefna,‹ segir hon, ›hvárt karl inn skegglausi?‹,⁴⁶⁵ fährt sie Þráinn Sigfússon an, den sie zur Tötung an Þórðr leysingjason anstacheln will, woraufhin dieser Skrupel äußert. Sie kritisiert sowohl die Bartlosigkeit als auch seine diplomatischen Versuche, Konflikte mit Gunnarr friedlich beizulegen: »Tugging Njall’s absent beard, Hallgerðr openly implies that he falls short of other men in his conduct as well as in his appearance«.⁴⁶⁶ In der Verweigerung der Rache zeigt sich ein Abweichen von (heidnischen) Standards der Fehdekultur, die Njáll bisweilen von anderen Figuren zur Last gelegt wird, allen voran selbstverständlich Hallgerðr. Selbst noch in seinen letzten Momenten, während der brenna, schlägt er, inmitten des lichterloh brennenden Hauses stehend, Flosis Angebot aus, vor den Flammen gerettet zu werden, da er mit den Standards der Fehdekultur aufgrund seines Alters nicht mithalten könne: ›Eigi vil ek út ganga, því at ek em maðr gamall ok lítt til búinn at hefna sona minna, en ek vil eigi lifa við skǫmm.‹ ⁴⁶⁷ Für Lönnroth, der in Njáll eine Art »noblen Heiden« zu erkennen glaubt, scheinen hier noch einmal heidnische Elemente einer ansonsten schon einem christlichen Heiligen ähnelnden Figur durch.⁴⁶⁸ Doch bei genauerem Hinsehen scheint Njálls Charakteristik vielschichtiger und die Hand-

 Sauckel 2016, S. 101.  Für Ármann Jakobsson kann Njáll durchaus als ein prototypischer Vertreter eines neuen Männlichkeitstypus gesehen werden, der nicht mehr den bis zur Niederschrift seiner Saga gängigen Idealen entspricht, vgl. Ármann Jakobsson 2007, S. 195.  Njáls saga, S. 107; »›Wer sollte ihn rächen? Etwa dieser bartlose alte Kerl?‹«  Falk 2005, S. 235.  Njáls saga, S. 330; »›Ich will nicht hinaus gehen, da ich ein alter Mann bin und kaum im Stande, meine Söhne zu rächen, und ich will nicht in Schande leben.‹«  Lönnroth 1976, S. 147.

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lungsverläufe, die letztlich in der brenna münden, komplexer als es Lönnroths Bild von einem »noblen Heiden« zulässt.⁴⁶⁹ Um dies besser nachvollziehen zu können, sollten wir einen genaueren Blick auf die Ereignisse und Figurenkonstellationen werfen, die letztlich in den Flammen von Bergþórshvóll münden.

4.3.2.1 Männerfreundschaft und Diplomatie Die Ereignisse bis zur Annahme Hǫskuldrs als Ziehsohn sind eng mit der Fehde zwischen den beiden Höfen auf Hlíðarendi und Bergþórshvóll verbunden. Über all diesen Geschehnissen steht, quasi als unverletzliche Konstante des ersten Teils der Saga, die tiefe Freundschaft und Verbundenheit zwischen Gunnarr und Njáll. Für den Erzähler stellt sie eine gute Möglichkeit dar, Njáll indirekt über seine Handlungen und Worte in der Interaktion mit Gunnarr zu charakterisieren. Dabei werden einige Aspekte seiner Figureneinführung aufgegriffen und teilweise auf eine andere Weise dargestellt, als es dort den Eindruck hat, wie wir bald sehen werden. Diese Freundschaft wird das erste Mal kurz nach Njálls Figureneinführung erwähnt, als Unnr zu Besuch bei ihrem Verwandten Gunnarr ist. Sie begehrt von ihm eine Rechtsauskunft bezüglich ihres Erbes, die zu geben er sich außerstande sieht. Unnr antwortet ihm unter Bezugnahme auf Njálls bereits bekannte Rechtskundigkeit: ›Far þú ok finn Njál at Bergþórshváli; hann mun ráðin kunna til at leggja. Er hann ok vin þinn mikill.‹ ⁴⁷⁰ In der Folge tut sich für die Rezipierenden eine vom Erzähler nicht weiter kommentierte Kluft zwischen der vorgeblichen und schon in der Figureneinführung erwähnten Rechtskunde Njálls und der tatsächlichen Natur seiner Ratschläge auf. Njálls Rat, den er in Form einer Prophezeiung äußert, hilft Gunnarr zwar, das Ziel zu erreichen, beruht aber in seinem Kern darauf, die öffentliche Meinung ganz bewusst zu manipulieren und zu steuern.Von einem Erzählerkommentar wird dieser Rat  Vgl. Lönnroth 1976, S. 136 – 149, wo er diesen theoretischen Ansatz ausführt: In Anlehnung an den Römerbrief des heiligen Paulus geht er davon aus, dass auch bei den bereits christianisierten Isländern des dreizehnten Jahrhunderts die Idee von heidnischen Menschen verbreitet war, die Gottes Anwesenheit bereits vor dessen Selbstoffenbarung anhand der Wunder seiner Schöpfung spüren und dementsprechend handeln konnten (vgl. Röm 1,18 – 32). Aufgrund des Weiterwirkens dieser Idee im europäischen Mittelalter ist Lönnroth zufolge davon auszugehen, dass die Sagas schreibenden Isländer über ihre Vorfahren des Sagazeitalters ähnlich gedacht haben müssten. Lönnroth zufolge werden in der Njáls saga vornehmlich Gunnarr, Kolskeggr und Njáll diesem Bild entsprechend dargestellt, da sie zwar aufgrund ihrer historischen Lebenszeit Heiden sind, aber in der Saga nicht heidnischen Göttern opfern. Allen sei bereits vor der erstmaligen Verkündung des neuen Glaubens auf Island durch den Missionar Þangbrandr bewusst, dass es einen ihnen noch unbekannten Gott gibt, an dessen Regeln sie sich halten. Im ersten – heidnisch geprägten – Teil der Saga werden Figuren des Typs »noble Heiden« häufig solchen gegenübergestellt, die etwa als guðníðingar (vgl. dazu Kap. 4.3) bezeichnet werden. Einar Ól. Sveinsson hat herausgestellt, dass die »benevolence«, die er Njáll attestiert, in Einklang mit dem christlichen Weltbild zu sehen, Njáll jedoch weit vor der Christianisierung geboren worden sei, Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 167.  Njáls saga, S. 58; »›Geh und such Njáll in Bergþórshvóll auf. Er wird dir Rat geben können. Außerdem ist er ein guter Freund von dir.‹«

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nicht begleitet, da er vollständig in direkter Rede gehalten ist und nicht gesondert eingeleitet wird. Njálls Rat beinhaltet nämlich eine Verkleidung als betrügerischer fahrender Händler, die bewusst so gehalten werden soll, dass sich ein schlechter Ruf über das alter ego verbreitet.⁴⁷¹ Darüber hinaus soll er in dieser Verkleidung gezielt schlecht von den Bewohnern des Reykjadalrs sprechen,⁴⁷² um im Gespräch letztendlich Hrútr selbst dazu zu bringen, das Verfahren wegen Unnrs Erbe zu ermöglichen. Die entsprechende Vorladung zum Thing soll Gunnarr so leise aufsagen, dass sie nur von seinen eigenen Begleitern gehört wird. Dies solle es dann Njáll ermöglichen, ihm vor dem Thing Beistand zu leisten.⁴⁷³ Hier soll die Öffentlichkeit zweimal gezielt gesucht und gesteuert werden, nur um sie am Schluss durch die leise Rezitation der Vorladung auf ein Maß zu verkleinern, das gerade noch ausreicht, um die Rechtskraft der Vorladung zu erreichen. Vor dem Hintergrund der gerade erwähnten Freundschaft und Unnrs Problemen mit der Erbstreitigkeit wird die Sympathie der Rezipierenden mit den Protagonisten gezielt gesteuert: Die Tatsache, dass hier ein Bild von Rechtskundigkeit in ihrer negativen Form gezeichnet wird, tritt in den Hintergrund. Die erfolgreiche Vertretung in Unnrs Erbschaftsangelegenheit setzt die bewusste Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung und das gezielte Ausreizen der prozessualen Vorschriften (namentlich: der Hörbarkeit der Vorladung) durch die Steuerung dieser Wahrnehmung voraus. Diese Umstände sind sehr bezeichnend, denn es ist »the first time the audience sees Gunnarr and Njáll in action«.⁴⁷⁴ Direkt im Anschluss an die erfolgreiche Durchführung des Plans berichtet die Saga uns von Hǫskuldr Dala-Kollsson (nicht Njálls späterer Ziehsohn), der einen seltsamen Traum hat: Hǫskuldr vaknaði þessa nótt á Hǫskuldsstǫðum ǫndverða ok vakði upp alla heimamenn sína. ›Ek vil segja yðr draum minn,‹ segir hann; ›ek þóttumk sjá bjarndýri mikit ganga út ór húsunum, ok vissa ek, at eigi fannsk þessa dýrs maki, ok fylgðu því húnar þveir, ok vildu þeir vel dýrinu. Þat stefndi til Hrútsstaða ok gekk þar inn í húsin. Síðan vaknaða ek. Nú vil ek spyrja yðr, hvat þér sáð til ins mikla manns.‹ ⁴⁷⁵

 Njáls saga, S. 60: ›[M]un þá sá orðrómr á leggjask, at Kaupa-Heðinn sé manna verstr viðfangs ok sízt sé logit frá honum‹; »›Es wird sich dann die gemeinsame Meinung festigen, dass Kaupa-Heðinn ein äußerst schlechter Umgang sei, und das soll über ihn nicht gelogen sein.‹«  Njáls saga, S. 61: »Þjófar eru þar ok illmenni,‹ skalt þú segja.‹; »›Da gibt es Diebe und Schurken‹, sollst du sagen.‹«  Vgl. Njáls saga, S. 62.  Allen 1971, S. 61.  Njáls saga, S. 64; »Da erwachte Hǫskuldr auf Hǫskuldsstaðir früh in dieser Nacht und weckte alle seine Hofleute. ›Ich will euch von meinem Traum erzählen‹, sagt er; ›Mir schien es, als habe ich einen großen Bären aus dem Hof kommen sehen und ich wusste, dass es kein Tier gibt, das diesem gleich wäre. Und ihm folgten zwei Jungtiere [Anm.: in einigen Handschriften findet sich hier das Wort hundar (Hunde), vgl. Njáls saga, S. 64, Fn. 5], und sie waren dem Tier sehr zugetan. Es steuerte auf Hrútsstaðir zu und ging da in die Häuser. Dann wachte ich auf. Jetzt will ich euch fragen, was euch an dem großen Mann aufgefallen ist.‹«

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Die Gefragten geben eine Beschreibung des vermeintlichen Händlers, woraufhin Hǫskuldr auf die Bedeutung seines Traums schließt: ›Þetta er engis manns fylgja nema Gunnars frá Hlíðarenda.‹ ⁴⁷⁶ Dass hier Gunnarr sofort mit einem offensichtlich weiblichen Tier mit zwei Jungtieren assoziiert wird, ist bemerkenswert, stellen in den Sagas Fylgjen doch häufig das innere Wesen einer Figur sinnbildlich dar.⁴⁷⁷ Zwar werden im Folgenden noch Gunnarrs körperlichen Fähigkeiten hervorgehoben, doch ebenso wichtig für die Gesamtbetrachtung dieser Szene ist der Kontext, in dem diese Assoziation erfolgt: Erzählt wird von einem groß angelegten und von schmutzigen Tricks durchzogenen Täuschungsmanöver, innerhalb dessen man durchaus fragwürdige »juristische Winkelzüge«⁴⁷⁸ identifizieren kann. Die Entscheidung des Erzählers, Gunnarrs Fylgje als ein weibliches Tier mit seinen Jungtieren darzustellen, räumt ihm die Möglichkeit dazu ein, über den Traum der Gegenpartei auch andere Figuren innerhalb der Diegese Stellung zu der Täuschungshandlung nehmen zu lassen: Durch die semantische Nähe einer Assoziation mit weiblichen Tieren zum níð-Diskurs wird klar, dass Gunnarrs Vorgehen von Hǫskuldr abgewertet wird, wobei der Erzähler sich zu dieser Wertung nicht selbst positioniert.⁴⁷⁹ In diesem Zuge wird Njáll indes als Drahtzieher hinter dieser Aktion identifiziert, da die Freundschaft zwischen den beiden ebenso bekannt ist wie dessen versierter Umgang mit den rechtlichen Vorschriften: ›[M]un eigi Gunnarr einn hafa um ráðit. Njáll mun þessi ráð hafa til lagt, því at engi er hans maki at viti.‹ ⁴⁸⁰ Letzten Endes gewinnt Gunnarr den Rechtsstreit, da Hǫskuldr es nicht wagt, gegen ihn zum Holmgang anzutreten, als die Klage kurz davor ist, abgeschmettert zu werden.⁴⁸¹ In der Folge steigt Gunnarrs Ansehen nach der Thingverhandlung in der gesellschaftlichen Wertung: Menn riðu heim nú af þinginu, ok hafði Gunnarr ina mestu sœmð af málinu. ⁴⁸² Insgesamt hinterlässt diese Episode trotz des Schlusssatzes ein zwiespältiges Bild bei den Rezipierenden, die die unlauteren Methoden bei der Durchsetzung von Unnrs Interessen bis ins Detail präsentiert bekommen. In diesem Zuge wird er mit der Abwertung konfrontiert, die mit diesem Vorgehen einhergeht und gezielt mit der Symbolik von níð spielt, in der sich das wahre Wesen dieses »perfiden Plan[s]«⁴⁸³ zeigt.

 Njáls saga, S. 64– 65; »›Das ist niemand anderes fylgja als Gunnarrs von Hlíðarendi!‹«  Vgl. zu dieser Beobachtung unter Hinweis auf weitere Forschungsliteratur Mundal 1974, S. 39 – 41.  So Sauckel 2018, S. 230. Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 164, merkt an, wie wenig Gegenliebe Njálls Vorschlag bei Gunnarr wohl erfahren dürfte: »[A]ccording to Njál’s plan a well-mannered man has to demean himself to play the role of a vulgar and disagreeable creature.«  Für den Hinweis auf diesen Umstand und die angeregten Diskussionen möchte ich Josef Juergens meinen herzlichen Dank ausdrücken. Einen ähnlichen impliziten Erzählerkommentar finden wir überdies in der Svarfdœla saga, vgl. Kap. 4.3.4.  Njáls saga, S. 65; »›Das wird sich Gunnarr nicht allein ausgedacht haben. Njáll wird ihm wohl diesen Rat gegeben haben, denn niemand ist ihm an Weisheit ebenbürtig.‹«  Njáls saga, S. 67.  Njáls saga, S. 68; »Die Männer ritten nun vom Thing nach Hause, und Gunnarr erwarb die höchste Ehre durch diese Sache.«  Sauckel 2018, S. 230.

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Diese Abwertung schlägt auf Njáll durch, der hinter Gunnarrs Scharade steckt. Auf der anderen Seite wird selbst von seinen Gegnern anerkennend Bezug auf seine Rechtskunde genommen und auch Gunnarr kann sich wegen seiner allseits anerkannten physischen Stärke vor dem Thing behaupten. Auch moderne Rezipierende scheinen in der Bewertung dieser Episode bisweilen dem gezeichneten Bild Njálls als großem Rechtskundigem zu erliegen, wenn etwa der Trick als solcher identifiziert wird, im Anschluss aber wieder allgemein die Rede von Njálls »legal wisdom« ist.⁴⁸⁴ Besonders ironisch wirkt Njálls Vorschlag, weil er von derselben Figur kommt, die sich später auf dem Althing so klar für die gesetzmäßige Ordnung ausspricht: ›[H]lýðir þat hvergi at hafa eigi lǫg í landi.‹ ⁴⁸⁵ Das berühmteste Zitat, das Njáll in Bezug auf seine Rechtskunde prägt, ist jedoch die häufig zitierte Äußerung ›[m]eð lǫum skal land várt byggja, en med ólǫgum eyða.‹ ⁴⁸⁶ Angesichts der hier geschilderten und der noch folgenden juristischen Winkelzüge erscheint das Bild von Njáll als ein vollkommen dem Gesetz ergebener Diener des Rechts, das bisweilen gezeichnet wurde,⁴⁸⁷ nicht sehr überzeugend. Eine weitere Szene, in der die Freundschaft zwischen den beiden Männern thematisiert wird, ist Gunnarrs Bekanntmachung seiner Heirat mit Hallgerðr, nachdem er von seiner Auslandsreise zurückgekehrt ist. Auf die Ankündigung seines Freundes reagiert Njáll sehr bedrückt und mit Vorbehalten: Gunnarr reið heim af þingi ok til Bergþórshváls ok sagði Njáli kaup sín. Hann tók þungt á kaupum hans. Gunnarr spurði, hvat hann fyndi til, at honum þótti slíkt svá óráðligt. ›Af henni mun standa allt it illa, er hon kemr austr hingat,‹ segir Njáll. ›Aldri skal hon spilla okkru vinfengi,‹ segir Gunnarr. ›Þat mun þó svá nær leggja,‹ segir Njáll, ›en þó munt þú jafnan bœta fyrir henni.‹ ⁴⁸⁸

Hier zeichnet sich abermals Njálls prophetische Gabe ab, die ihm ermöglicht, kommende Dinge zu benennen; den Rezipierenden muss die Warnung vor Hallgerðr schon deshalb plausibel sein, weil die von ihr ausgehende Gefahr bereits im ersten Kapitel

 So etwa Allen 1971, S. 61– 62, Zitat: S. 62.  Njáls saga, S. 242; »›Es wird nicht nutzen, keine Gesetze im Lande zu haben.‹«  Njáls saga, S. 172; »›Mit Gesetzen wird unser Land aufgebaut werden, aber mit Unrecht zerstört.‹« Hamer sieht in diesem Zitat eine Doppeldeutigkeit, da land várt sich vordergründig auf Island bezieht, aber genauso gut auch nur das Land gemeint sein könnte, auf dem sich sein Hof befindet, vgl. Hamer 2014, S. 158.  Etwa Allen 1971, S. 136: »It is the tragedy of Gunnarr, and of the lawyer, Njáll, that the law to which they try to submit their hopes and passions is inadequate to contain them.« Allen schränkt dieses kurz später – wenn auch recht zögerlich – wieder ein: »But he [Njáll] is not above manipulating the law for his own family’s benefit, although it may be argued that the nation also benefits from his maneuvering«, Allen 1971, S. 137.  Njáls saga, S. 87; »Gunnarr ritt vom Thing heim nach Bergþórshváll und erzählte Njáll von seiner Abmachung. Er nahm seine Abmachung schlecht auf. Gunnarr fragte, was er daran finde, dass er dies für so unklug halte. ›Alles, was von ihr, die aus dem Osten hergekommen ist, kommt, wird schlecht sein‹, sagte Njáll. ›Sie wird unsere Freundschaft nie zerstören‹, sagte Gunnarr. ›Sie wird aber nahe darankommen‹, sagte Njáll, ›aber trotzdem sollst du ein gerechtes Angebot für sie machen.‹«

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angekündigt und mehrmals thematisiert wird; diese Gefahr ist bereits fester programmatischer Bestandteil der Erzählung. Diese Hochzeit findet bald darauf auf dem Hof von Hlíðarendi statt, wo Hallgerðr ihre Tochter Þórhildr dem frisch geschiedenen Þráinn Sigfússon verspricht. Von der Hochzeit selbst heißt es, dass sie nach diesem Eheversprechen noch gut verlaufe.⁴⁸⁹ Wir erfahren im Anschluss an dieses Kapitel von dem Freundschaftsbrauch der beiden Männer, jährlich im Wechsel ein Fest auszurichten: Þat var siðvenja þeira Gunnars ok Njáls, at sinn vetr þá hvárr heimboð at ǫðrum ok vetrgrið fyrir vináttu sakir. ⁴⁹⁰ Als die Reihe an Njáll ist, kommt es zur ersten heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Ehefrauen, von der im weiteren Verlauf der Saga eine ernsthafte Bedrohung für die Freundschaft ausgehen soll. Als es um die Sitz- und damit die soziale Rangordnung geht, entzündet sich ein Streit, in dessen Verlauf Njáll genau wie seiner Frau Bergþóra unterstellt wird, sie entsprächen beide nicht den Erwartungen an ihre Geschlechterrollen. Konkret zum Ausdruck kommt dies, als Hallgerðr auf Bergþóras beschädigte Fingernägel und Njálls fehlenden Bart Bezug nimmt (›hann er skegglauss‹).⁴⁹¹ Bergþóra reagiert darauf, indem sie Hallgerðr die Ermordung ihrer früheren Ehemänner vorwirft. Auf Hallgerðrs indirekte Aufforderung hin, Gunnarr solle sich für diesen Vorwurf rächen, bezieht Gunnarr klar Stellung für die Freundschaft, die ihn mit Njáll verbindet: ›Heim mun ek fara, ok er þat makligast, at þú sennir við heimamenn þína, en eigi annarra manna híbýlum, enda á ek Njáli marga sœmð at launa, ok mun ek ekki vera eggjanarfífl þítt.‹ ⁴⁹² Aus gesellschaftlicher Sicht ist nach den Regeln von männlicher Ehre der Reaktionsspielraum für Gunnarr an sich sehr beschränkt, da er nach diesen Regeln nun bereits auf Hallgerðrs Hetze reagieren müsste. Hallgerðr wird daher bald darauf wesentlich konkreter: Als Gunnarr und Njáll sich auf einen finanziellen Vergleich in Form einer Wergeldzahlung für Njálls erschlagenen Knecht Atli einigen, lässt sie wenig Zweifel daran, dass sie eine andere Form der Konfliktlösung bevorzugt hätte, wenn sie beiden Männern vorwirft, blauðr zu sein.⁴⁹³ Ihr stößt zwar hauptsächlich auf, dass Gunnarr die volle Mannbuße für Atli bezahlt und ihn damit quasi postum zum freien Mann aufwertet. Allerdings scheint sie die Regelung dieser Mordsache über die Zahlung einer Buße generell abzulehnen und eine ›männlichere‹ Art der Konfliktlösung zu bevorzugen, das heißt in Form einer offenen Auseinandersetzung oder eines Kampfes zwischen den beiden Männern –

 Njáls saga, S. 91.  Njáls saga, S. 90; »Es war Brauch zwischen Gunnarr und Njáll, dass sie wegen ihrer Freundschaft jeden Winter abwechselnd einander zu einem Mahl und Aufenthalt im Winter zu sich einluden.«  Njáls saga, S. 91; »›Er ist bartlos‹«. Diese Aufhetzungen besprechen wir gesondert in Kap. 4.4.3. Darin wird auch der Bedeutungsgehalt der Fingernägel erläutert, der im mittelalterlichen Verständnis weit über reine Ungepflegtheit hinaus geht.  Njáls saga, S. 91; »›Ich werde jetzt nach Hause gehen. Es ist völlig in Ordnung, dass du mit deinen Knechten streitest, aber nicht in eines anderen Mannes Haushalt. Außerdem habe ich Njáll viel an Verdienst zu verdanken und ich werde nicht der Trottel für deine Aufhetzung sein.‹«  Njáls saga, S. 102.

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darauf lässt jedenfalls ihre Charakterisierung der beiden als blauðir schließen. Aus ihrer Sicht verhalten sich sowohl ihr Mann Gunnarr als auch dessen Freund Njáll unmännlich. Die fehlende Bereitschaft Njálls, den Mord an Atli über einen Kampf zu rächen und ihn stattdessen über ein Bußgeld zu regeln, dürfte hier für Hallgerðr jedoch schwerer wiegen als das Eingehen ihres Mannes auf diese Einigung. Dieses Verhalten passt in das Bild eines verweichlichten und geschlechtlich uneindeutigen Mannes, das sie von Njáll zeichnet. Während der Fehde, die sich bald entwickelt, vertreten Gunnarr und Njáll nach mehreren Tötungen ein diplomatisches Konfliktlösungsmodell, mit dem sie innerhalb der Sagagesellschaft anecken. Doch nicht nur dieser Umstand stellt ein Problem dar, sondern auch eine Handlungsweise, die allgemein als weiblich empfunden wird: »Njáll [agiert] im Gegensatz zu vielen anderen freien Männern und Goden der Isländersagas oftmals von zuhause aus«,⁴⁹⁴ was als Aufenthalt in der Sphäre innan stokks zu deuten ist. Konsequent ist daher die Beobachtung, dass er im Laufe der Saga nicht wie andere Figuren etwa bei der Feldarbeit oder in bewaffneter Auseinandersetzung beschrieben wird.⁴⁹⁵ Sauckel zufolge dient in der Folge dieser Beobachtung die einzige Waffe, mit der Njáll beschrieben wird, lediglich als eine Art »Accessoire« für seine Kleidung.⁴⁹⁶

4.3.2.2 Wessen níðingsverk sind die Flammen von Bergþórshváll? Das Verhältnis zwischen Njáll und seinen leiblichen Söhnen ist kompliziert und unterliegt dem zusätzlichen Spannungsfeld der innigen Beziehung zwischen Njáll und seinem Ziehsohn Hǫskuldr Þráinsson, der nach Gunnarrs Schwiegervater benannt ist.⁴⁹⁷ Nachdem sein Sohn Skarpheðinn den Kontrahenten Þráinn Sigfússon getötet hat, zieht Njáll dessen Sohn Hǫskuldr auf seine Seite, indem er ihm einen goldenen Ring anbietet: Njáll mælti: ›Villtú þiggja gullit at gjǫf?‹ ›Vil ek,‹ segir sveininn. ›Veiztú,‹ segir Njáll, ›hvat fǫður þínum varð at bana?‹ Sveininn svarar: ›Veit ek, at Skarpheðinn vá hann, ok þurfu vit ekki á þat at minnask, er sætzk hefr á verit ok fullar bœtr hafa fyrir komit.‹ ›Betr er svarat,‹ segir Njáll, ›en ek spurða, ok munt þú verða góðr maðr.‹ ⁴⁹⁸

 Sauckel 2018, S. 228.  Vgl. Sauckel 2018, S. 228 – 229.  Njáls saga, S. 296; Sauckel 2014, S. 80 – 81, Sauckel 2018, S. 229.  Vgl. zu Hǫskuldrs Namensgebung Njáls saga, S. 149. Beobachtet haben dieses Spannungsfeld zwischen ihm und Njálls leiblichen Kindern unter anderem Lönnroth 1976, S. 28 – 29, Miller 2014, S. 2010, der einen Vater-Sohn-Konflikt noch im Moment des Todes ausmacht, und Tirosh 2014, demzufolge Njáll seine leiblichen Kinder wegen Hǫskuldrs Tod selbst mit in den Tod nimmt.  Njáls saga, S. 236 – 237; »Njáll sagte: ›Willst du dieses Gold als Geschenk annehmen?‹ ›Das will ich‹, sagte der Junge. ›Weißt du‹, fragte Njáll, ›was deinem Vater den Tod brachte?‹ Der Junge antwortete: ›Ich weiß, dass Skarpheðinn ihn erschlug, aber wir müssen nicht an das erinnern, was vor Gericht gebracht und wofür volle Buße entrichtet wurde.‹ ›Das ist besser geantwortet als ich gefragt habe‹, sagte Njáll, ›und du wirst ein guter Mann werden.‹«

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Dies interpretiert Allen als eine »desperate gesture on Njall’s part, for he gambles that his new kinship with Hǫskuldr […] will prevail over the deadly enmity growing between his sons and the Sigfússons.«⁴⁹⁹ Maxwell hingegen erkennt eine »spiritual kinship«, die die beiden verbinde.⁵⁰⁰ In jedem Fall ist es bemerkenswert, wie Njáll hier Hǫskuldr faktisch selbst zu seiner eigenen Parallelfigur macht, indem er ihn für dessen Vertrauen in den Urteilsspruch und die damit verbundene Abkehr von der Fehdekultur lobt, die seine eigenen Söhne pflegen. Wenn er ihm sagt, er werde ein guter Mann werden, lässt er damit implizit erkennen, dass er in Hǫskuldr einen wahren Erben sieht. Zwar heißt es, dass Njálls leibliche Söhne keinen Zwiespalt mit Hǫskuldr haben,⁵⁰¹ doch führt die neue Konstellation alsbald zu Spannungen und schlussendlich in die Katastrophe. Allen fasst die Auswirkungen folgendermaßen zusammen: »The ultimate effect of this arrangement is not to forestall the feud, but to bring the tension into the very heart of the family.«⁵⁰² Mehrmals bekennt sich Njáll im Laufe der Erzählung zu der großen Zuneigung, die ihn mit Hǫskuldr verbindet. Als er sich bald für ihn nach einer guten Ehepartnerin umsieht, fällt seine Wahl auf Hildigunnr, die von Þórðr Freysgoði abstammt.⁵⁰³ Nachdem er bei ihrem Onkel Flosi den entsprechenden Antrag vorgebracht hat, stellt sich heraus, dass sie aufgrund ihrer Abstammung nur mit einem Mann verheiratet sein möchte, der ein Godentum innehat. Ein verfügbares oder erwerbliches Godentum kann Njáll jedoch nicht auftreiben. Daher lässt er auf dem darauffolgenden Althing alle an ihn herangebrachten Sachen an seiner vorsätzlich mangelhaften Beratung scheitern, um anschließend mit dem Verweis auf die Rechtssicherheit die Einrichtung eines zusätzlichen fünften Gerichts faktisch zu erpressen. Hier widersprechen die dargestellten Taten abermals den übrigen Informationen, die uns der Erzähler über andere Figuren zukommen lässt. In einem Gespräch einige Kapitel zuvor lässt Gunnarrs Sohn Hǫgni sich positiv über den allgemein anerkannten Wahrheitsgehalt von Njálls Ratschlägen aus: ›Trúa mynda ek, ef Njáll segði mér,‹ segir Hǫgni, ›því at þat er sagt, at hann ljúgi aldri.‹ ⁵⁰⁴ Diese geäußerte Ansicht passt definitiv nicht zu Vorgängen, die sich aufgrund ihrer Auswirkungen auf die verfassungsmäßige Ordnung Islands am Rande eines Staatsstreiches bewegen. Nicht umsonst spricht Andersson von Njálls Handlung auf diesem Althing von einem »apparent coup«.⁵⁰⁵

 Allen 1971, S. 90.  Maxwell 1957, S. 40.  Njáls saga, S. 237.  Andersson 2006, S. 197.  Njáls saga, S. 240.  Njáls saga, S. 194; »›Ich würde es glauben, wenn Njáll es mir sagte«, meinte Hǫgni, »denn es heißt, dass er niemals lügt.« Auf den Umstand, dass sich hier die vom Erzähler wiedergegebenen Behauptungen anderer Figuren und Njálls Handlungen widersprechen, verweist Tirosh 2014, S. 213.  Andersson 2006, S. 197.

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In eines der Godenämter, die im Zuge dieser Verfassungsänderung entstehen, hievt Njáll dann Hǫskuldr, dem danach der Weg zur Ehe mit Hildigunnr freisteht.⁵⁰⁶ Das neu gewonnene Glück ist allerdings zerbrechlich: Nach einigen Anläufen gelingt es Mǫrðr Valgarðsson, die Njálssöhne gegen Hǫskuldr aufzubringen, so dass sie sich schließlich mit ihm für ein Mordkomplott gegen ihren Ziehbruder zusammentun und ihn erschlagen.⁵⁰⁷ Auf die Botschaft von seiner Ermordung reagiert Njáll äußerst bestürzt: ›Hǫrmulig tíðendi,‹ segir Njáll, ›ok er slíkt illt at vita, því at er sannligt at segja, at svá fellr mér nær um trega, at mér þœtti betra at hafa látit tvá sonu mína ok væri Hǫskuldr á lífi.‹ ›Þat er nú nǫkkur várkunn,‹ segir Skarpheðinn; ›þú ert maðr gamall, ok er ván, at þér falli nær.‹ ›Eigi er þat síðr,‹ segir Njáll, ›en elli, at ek veit gørr en þér, hvat eptir mun koma.‹ ›Hvat mun eptir koma?‹ segir Skarpheðinn. ›Dauði minn,‹ segir Njáll, ›ok konu minnar ok allra sona minna.‹ […] Sjá einn hlutr var svá, at Njáli fell svá nær, at hann mátti aldri ókløkkvandi um tala. ⁵⁰⁸

Hier fallen mehrere Themen zusammen, die eng an Njálls Charakterisierung in seiner Saga geknüpft sind: Seine Zukunftssicht, das schlechte Verhältnis zu seinen Söhnen und das überragend gute Verhältnis zu Hǫskuldr. An dieser zukunftsgerichteten Aussage, die auf die brenna anspielt, wird zum wiederholten Male in der Saga Njálls prophetische Gabe thematisiert, die selbst noch im Moment seiner größten Trauer funktioniert.⁵⁰⁹ Später bringt er zusäzlich explizit zum Ausdruck, dass diese Äußerung in Bezug auf seine übrigen Söhne nicht im Affekt geschah, sondern dass er tatsächlich lieber diese als Hǫskuldr verloren hätte. Zu Beginn der Thingverhandlung nach dem Mord richtet er das Wort an alle Anwesenden und sagt: ›Ek vil yðr kunnigt gera, at ek unna meira Hǫskuldi en sonum mínum, ok er ek spurða, at hann var veginn, þótti mér sløkkt it sœtasta ljós augna minna, ok heldr vilda ek misst hafa allra sona minna ok lifði

 Njáls saga, S. 242– 248.  Njáls saga, S. 274– 281. Dazu kommt, dass sich Mǫrðr bei den ersten Versuchen, Hǫskuldr gegen seine Ziehbrüder aufzubringen, symbolisch am Rande des níð bewegt: Schon die Aufforderung seines Vaters zu diesem Tun enthält die Aufforderung, er möge die Njálssöhne durch üble Nachrede gegen Hǫskuldr aufbringen, im Altnordischen markiert durch das Wort rœgja, das etymologisch ergi und ragmæli nahe steht (S. 275). Anlass für seine Lästereien über die Njálssöhne ist dann ausgerechnet ein Pferd, also das Symboltier schlechthin, wenn es um níð geht. Konkret sagt er zu Hǫskuldr anlässlich eines von dessen Ziehbrüdern geschenkten Pferdes: ›Þeir gáfu þér hest brúnan, er þeir kǫlluðu vánfola, ok gerðu þat til spotts við þik, því at þeim þóttir þú ok óreyndr.‹ (S. 277; »›Sie gaben dir das braune Pferd, das sie ›Eingewöhnungsfohlen‹ nannten, und das machten sie dir zum Spott, denn sie denken, dass du auch noch unerfahren bist.‹«)  Njáls saga, S. 281; »Njáll sagte: ›Das sind schreckliche Neuigkeiten, und es ist so schlimm zu wissen, weil es mir so nahe geht, dass es mir besser schiene, zwei meiner Söhne verloren zu haben, und Hǫskuldr wäre dafür am Leben.‹ ›Das ist jetzt entschuldbar: Du bist ein alter Mann, und es ist normal, dass es dir nahe geht.‹, sagte Skarpheðinn. Njáll sagte: ›Das wiegt nicht weniger schwer als das Alter, dass ich besser weiß als ihr, was hiernach noch kommen wird.‹ ›Was soll denn danach kommen?‹, fragte Skarpheðinn. ›Mein Tod‹, sagte Njáll, ›und der meiner Frau und aller meiner Söhne.‹ […] Diese Sache war so, dass sie Njáll derart nahe ging, dass er nie ohne zu weinen darüber sprechen konnte.«  Vgl. Tirosh 2014, S. 212.

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hann.‹ ⁵¹⁰ Diese Liebesbekundung hat viel Beachtung gefunden. Von der Forschung wurde eine religiöse Symbolsprache identifiziert, derer sich Njáll hier bedient, was einen Eindruck von Distanz erwecke,⁵¹¹ man könne darin außerdem »biblical overtones« erkennen.⁵¹² Von einer religiösen Ausdeutung distanziert sich hingegen Ármann Jakobsson und führt an, dass es bei diesem Zitat ausschließlich um die Darstellung von väterlicher Zuneigung vor einem größeren Publikum gehe: »[H]e loved Hǫskuldr dearly«.⁵¹³ Durch seine Aussage zur Eröffnung des Verfahrens ist unabhängig von der konkreten Ausdeutung von Beginn an klar, dass es sich um keine gewöhnliche Tötungssache handelt, sondern hier über das Wergeld für einen allgemein anerkannt außergewöhnlichen Mann verhandelt werden soll.⁵¹⁴ Es folgt eine denkwürdige öffentliche Verhandlung auf dem Althing, auf der wir einen scheinbar völlig veränderten Njáll erleben. Sein Handeln lässt auf den ersten Blick wenig von dem berechnenden Wesen erkennen lässt, durch das er sich zuvor im Lauf der Handlung stets ausgezeichnet hat. Diese Beobachtung hält Ármann Jakobsson fest, wenn er sagt, dass »Njáll’s behavior in this scene is curious from start to finish.«⁵¹⁵ Nach Eröffnung der Verhandlung wird ein Schiedsgericht von zwölf Männern gebildet, die über die Höhe der Buße für Hǫskuldr entscheiden sollen. Unter ihnen befindet sich auch Guðmundr inn ríki, der von Njáll selbst für das Gremium benannt wird.⁵¹⁶ Nachdem der Zwölferrat die sehr hohe Mannbuße festgelegt hat, die an Flosi zu entrichten ist, wird ein Stapel gebildet, auf den die zur Kompensation dienenden Wertgegenstände abgelegt werden.Von Njáll heißt es, dass er seinen Anteil dazu lege: Njáll tók silkislœður ok bóta ok lagði á ofan á hrúguna. ⁵¹⁷ Mit dieser Dreingabe besiegelt er das Schicksal seiner Familie, selbst wenn er sich den Söhnen gegenüber zufrieden über die Tatsche zeigt, dass eine friedliche Einigung mit Flosi erreicht wurde.⁵¹⁸ Als Flosi dann aber den Stapel begutachtet, ergibt sich anlässlich eben dieser Dreingabe von Njáll ein Schlagabtausch zwischen Flosi und Skarpheðinn:

 Njáls saga, S. 309; »›Ich will euch kundtun, dass ich Hǫskuldr mehr geliebt habe als meine Söhne, und als ich erfuhr, dass er erschlagen wurde, schien es mir, als wäre das süßeste Licht meiner Augen erloschen, und ich hätte es lieber, dass ich alle meine Söhne verloren hätte, und er lebte.‹«  Vgl. die Übersicht der entsprechenden Positionen bei Ármann Jakobsson 2007, S. 213; nicht zuletzt die religiös geprägte Sprache hat wohl dazu beigetragen, dass Hǫskuldrs Ermordung mit der Ermordung Baldrs in der Mythologie gleichgesetzt wurde, die dort als Urkatastrophe interpretiert wird, vgl. Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 169.  Maxwell 1957, S. 42.  Ármann Jakobsson 2007, S. 213.  Darüber sind sich auch die Schiedsleute einig, nachdem der Gode Snorri erklärt, dass er das dreifache der üblichen vollen Buße für angemessen halte, wofür er die kollektive Zustimmung erhält. Njáls saga, S. 311.  Ármann Jakobsson 2007, S. 199.  Njáls saga, S. 309 – 310.  Njáls saga, S. 312; »Njáll nahm ein Seidengewand und Schuhe und legte sie oben auf den Haufen.«  Njáls saga, S. 313.

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Flosi gekk í lǫgréttu at hyggja at fénu ok mælti: ›Þetta fé er mikit ok gott ok vel af hǫndum greitt, sem ván er at.‹ Síðan tók hann upp slœðurnar ok spurði, hverr til mundi hafa gefit, en engi svaraði honum. Í annat sinn veifði hann slœðunum ok spurði, hverr til mundi hafa gefit, ok hló at, ok svaraði engi. Flosi mælti: ›Hvárt er þat, at engi yðvarr veit, hverr þenna búnin hefir átt, eða þorið þér eigi at segja mér?‹ Skarðheðinn mælti: ›Hvat ætlar þú, hverr til hafi gefit?‹ Flosi mælti: ›Ef þú vill þat vita, þá mun ek segja þér, hvat ek ætla: þat er mín ætlan, at til hafi gefit faðir þinn, karl inn skegglausi – því at margir vitu eigi, er hann sjá, hvárt hann er karlmaðr eða kona.‹ ⁵¹⁹

Er greift hier die Bartlosigkeit auf, die sowohl vom Erzähler als auch innerhalb der Diegese mehrfach von Hallgerðr thematisiert wurde. Wir dürfen guten Gewissens davon ausgehen, dass allgemeines Gerede hierüber fester Bestandteil der erzählten Welt geworden ist, und dass Flosi hierauf zurückgreift. Skarpheðinn, der im Vorfeld zur Verhandlung bereits mehrmals durch Beleidigungen mit Unmännlichkeitsbezug gegenüber anderen aufgefallen ist,⁵²⁰ setzt dieses begonnene Muster fort. Er bringt es Flosi gegenüber zu einem Abschluss, indem er ihm das streitgegenständliche Gewand mit einer Bemerkung dahingehend entgegenwirft, dass er es eher selbst gut gebrauchen könne: ›Því þá – ef þú ert brúðr Svínfellsáss, sem sagt er, hverja ina níundu nótt ok geri hann þik at konu.‹ ⁵²¹ Ob diese Anschuldigungen implizieren, dass die Hosen, die er Flosi zuwirft, als weiblich aufgefasst wurden, oder ob Skarpheðinn womöglich ironisch ist und damit aufzeigen will, dass bei entsprechend boshafter Absicht alles Mögliche als effeminiert aufgefasst werden kann, wird nicht eindeutig ersichtlich.⁵²² Skarpheðinns Worte jedoch sind níð, genauer gesagt beinhalten sie beinahe alles, was als ýki bezeichnet wird: Die Anschuldigung, sich von einem Troll penetrieren zu lassen und die zeitliche Angabe, dass dies jede neunte Nacht der Fall wäre, entsprechen beinahe wörtlich der Definition, die sich in den Gulaþingslǫg findet.⁵²³ Angesichts dieser Verbalinjurien platzt der mit so viel Mühe anberaumte Vergleich. Der wutentbrannte Flosi kündigt alle Abmachungen und löst die Versammlung auf: Flosi hratt þá fénu ok kvazk þá engan penning skyldu af hafa ok sagði, at vera skyldi

 Njáls saga, S. 313 – 314; »Flosi ging zur lǫgrétta, um die Güter in Augenschein zu nehmen und sagte: ›Das ist viel an Geld, und gut und gut entrichtet, wie es zu erwarten ist. Dann nahm er das Seidengewand und fragte, wer es dazu gegeben habe, und lachte darüber, aber es antwortete niemand. Flosi sagte: ›Woher kommt das, dass niemand von euch weiß, wer dieses Kleidungsstück hier gehabt hat? Oder traut ihr euch einfach nicht, es mir zu sagen?‹ Skarpheðinn sagte: ›Was denkst du, wer es dazu gegeben hat?‹ Flosi sprach: ›Wenn du das wissen willst, dann würde ich dir sagen, was ich denke: Das glaube ich, dass es dein Vater dazu gegeben hat, der bartlose Alte – denn viele, die ihn sehen, wissen nicht, ob er ein Mann oder eine Frau ist.‹«  Vgl. Sauckel 2018, S. 232– 234.  Njáls saga, S. 314; »›Deswegen, weil du jede neunte Nacht die Braut des Trolls auf Svínafell bist, wie es heißt, und er dich zur Frau macht!‹«  Vgl. Ármann Jakobsson 2007, S. 200.  Vgl. dazu Kap. 2.2.2.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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annat hvárt: at Hǫskuldr skyldi vera ógildr, ella skyldi þeir hefna hans. ⁵²⁴ Damit sind alle Hoffnungen auf Frieden gescheitert und Njálls Vorhersagen werden sich bewahrheiten, wie er bei Erhalt der Nachricht noch einmal bekräftigt.⁵²⁵ Gerade das von Njáll hinzugefügte Gewand hat viele Fragen aufgeworfen, weil die Umstände darauf hindeuten, dass der Vergleich auch ohne diese Dreingabe erfüllt gewesen wäre.⁵²⁶ Die Ansicht, es sei als gut gemeintes Geschenk gedacht, mag angesichts ähnlicher (und undschädlicher) Geschenke in anderen Isländersagas einleuchtend erscheinen, überzeugt aber angesichts der Umstände dieser Szene nicht.⁵²⁷ Naheliegender ist es schon eher, von einer Handlung auszugehen, durch die eine explizite Überkompensation zur Schau gestellt werden soll. So interpretiert es etwa Allen, demzufolge durch das Seidengewand deutlich gemacht wird, dass seine Söhne mit dem Vergleich zu billig weggekommen seien – immerhin handelt es sich bei dem von ihnen Erschlagenen um niemand geringeren als Hǫskuldr.⁵²⁸ Eine Kompensation, die über das abgemachte Maß hinaus ginge, könnte damit nur als Affront aufgefasst werden. Angesichts der bei seinen Gegenspielern vorherrschenden Charakterisierung Njálls als ein zweifelhafter und unmännlicher Zeitgenosse scheint der Ansatz, den Meulengracht Sørensen und Ármann Jakobsson verfolgen, ebenfalls einen wichtigen Punkt zu berühren: Ihnen zufolge versteht Flosi das Gewand als direkten Angriff auf seine Männlichkeit.⁵²⁹ Zusätzlich mag das Gewand noch eine Remineszenz an Hǫskuldrs blutige Kleidung sein, die Flosi vor Beginn der Verhandlung von dessen Witwe Hildigunnr entgegen geschleudert wurde.⁵³⁰ Diese Version ist vor allem wegen des einschlägigen verbalen Schlagabtauschs zwischen Flosi und Skarpheðinn ebenfalls sehr wahrscheinlich, selbst wenn sie Tirosh bei der Klärung der Frage nach Njálls Motiv dafür nicht weit genug geht.⁵³¹ Ihm zufolge liegt Njálls Absicht gerade im Vertrauen auf die Impulsivität seines Sohnes, die zum Bruch des Vergleichs und zum Mordbrand führen muss.⁵³² Nach dem Scheitern der Kompensation sind auf der Handlungsebene alle Positionen auserzählt, die zum Mordbrand führen. In der Forschung wurde versucht verschiedene Aspekte zu identifizieren, aus denen sich eine Erklärung für die Geschehnisse finden ließe. Ein monokausales Zurückführen auf unzuverlässiges Erzählen sei hinsichtlich der brenna nach Müller nicht möglich, obwohl sie von »Ver-

 Njáls saga, S. 314; »Flosi stieß da das Geld beiseite und gab bekannt, er wolle nicht die kleinste Münze davon haben. Er sagte auch, dass es anders sein solle: dass Hǫskuldr ungebüßt sein solle, außer sie würden ihn rächen.«  Njáls saga, S. 314.  Die wissenschaftlichen Reaktionen darauf listet Tirosh 2014, S. 210 – 211, auf.  Sauckel 2014, S. 47, weist etwa darauf hin, dass Egill ein solches Seidengewand geschenkt bekommt. In der Egils saga löst es allerdings keinen Eklat aus.  Allen, 140 – 141.  Meulengracht Sørensen 1983, S. 9 – 11, und Ármann Jakobsson 2007, S. 198 – 199.  So sieht es Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 153. Hildigunnrs hvǫt wird auch in Kap. 4.4.3 besprochen.  Vgl. Tirosh 2014, S. 211.  Vgl. Tirosh 2014, S. 212.

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wicklungen« bedingt sei, »die unter anderem durch Lügen oder böswillige Verleumdungen entstanden sind.«⁵³³ Der Erzähler selbst lässt dem gegenüber seinen Protagonisten in der Reaktion auf die Todesnachricht des Ziehsohns recht direkt eine Verbindung zwischen der Ermordung Hǫskuldrs und seinem Tod sowie dem seiner Familie herstellen. Diese unmittelbare kausale Verknüpfung können Rezipierende durch die folgenden geschilderten Umstände nachvollziehen. An Njálls Reaktion auf die Erschlagung seines Ziehsohnes knüpft Tulinius mit der Aussage an, die Saga würde ganz offensichtlich einen Kausalzusammenhang zwischen Hǫskuldrs Ermordung und dem Mordbrand herstellen.⁵³⁴ Tatsächlich wird aber, und das entspricht mehr Müllers Aussage, eine mehrfache Motivierung der brenna durch unterschiedliche Ereignisse und Figurenkonstellationen dem Erzählten eher gerecht als ein allzu großer Fokus auf eine einzelne Komponente. Der Vergleich auf dem Althing »muss« aus ganz unterschiedlichen Gründen scheitern, die sich alle aus vorhergehenden Episoden der Saga ergeben. Da wäre zum einen Flosis Aufhetzung durch seine Verwandte Hildigunnr, die ihm den Status eines níðingr in Aussicht stellt, falls er nicht Rache für Hǫskuldr nimmt.⁵³⁵ Zusätzlich werden wir Zeuge davon, wie sich Skarpheðinn von Flosis Provokationen dazu hinreißen lässt, diesen durch eine verbale Replik voller níð-Symbolik in eine Situation zu manövrieren, aus der er nach der sozialen Logik der Sagagesellschaft ohne Gewaltanwendung nicht mehr herauskommt. Und zuletzt ist da Njáll selbst, der bereits seinen Tod vorausgesehen und mit Hǫskuldrs Tod möglicherweise seinen Lebenswillen eingebüßt hat. Er ist es schließlich, der das Gewand auf den Haufen legt, an dem sich der Streit zwischen den Parteien entzündet. Diese Motivierungsbündelung sorgt schließlich dafür, dass an dieser Stelle keine Notwendigkeit für explizit unzuverlässiges Erzählen entsteht, um ein (negatives) Werturteil über Njáll zu fällen. War dies noch der Fall bei der Konterkarierung der seitens des Erzählers festgestellten Rechtskunde durch die juristischen Tricks, so zeichnet sich die zentrale Szene auf der Thingverhandlung durch eine weitgehende Abszenz von Erzählerkommentaren aus. Die verschiedenen denkbaren Gründe für das Scheitern des Vergleichs werden alle glaubhaft nebeneinander dargelegt, so dass Njálls Anteil daran nicht im Vordergrund steht.⁵³⁶ Andersson hält eine intendierte Melange aus Motivationen für die wahrscheinlichste Erklärung dieser Stelle: »The lack of clarity may well have been intended by the author«.⁵³⁷

 Müller 2001, S. 66.  Vgl. Tulinius 2015, S. 113.  Darauf weist etwa Sauckel 2018, S. 231, hin.  Dabei stehen die einzelnen Episoden nicht ganz so isoliert neben- und nacheinander, wie es zunächst bei Maxwell 1957, S. 25, klingt, wenn er seinen heute wenig etablierten Begriff »principle of the integrity of episodes« einführt. Im Kern beschreibt er dort aber die hier zum Ausdruck kommende Gesamtkomposition der Saga aus mehreren thematisch zusammengehörigen Episoden nach dem Muster des aristotelischen Dramas.  Andersson 2006, S. 199.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Nach dieser langen Vorbereitung der brenna auf der Erzählebene folgen einige Kapitel, in denen ebensolche Vorbereitungen von den späteren Mordbrennern innerhalb der Diegese getroffen werden. Flosi und seine Leute bereiten sich darauf vor und die Kunde von den laufenden Planungen verbreitet sich. Von Hǫskuldrs Tochter Hróðný muss sich der Mordbrenner Ingjaldr wegen seiner Pläne als níðingr bezeichnen lassen: ›Allmikill níðingr ertú,‹ segir hon, ›þar sem Njáll hefir þik þrysvar leyst ór skógi.‹ ⁵³⁸ Sie stellt auf alte Loyalitäten ab und gibt zu erkennen, dass sie einen Bruch mit diesen Loyalitäten für níðingsverk hielte. Darüber hinaus hält sie die blutverschmierte Kappe ihres Vaters hoch, ein Detail, in dem die Bildsprache von Hildigunnrs hvǫt gespiegelt wird.⁵³⁹ In der Zwischenzeit macht sich auf Bergþórshváll eine beinahe feierlich wirkende Aura des Untergangs breit, die sich nicht zuletzt in Bergþóras Ankündigung niederschlägt, nun das letzte Mahl für ihren Hausstand aufzutischen.⁵⁴⁰ Unmittelbar vor dem Brand nimmt Skarpheðinn noch an der Tür Kári das Versprechen ab, ihn und seine Familie zu rächen.⁵⁴¹ Kurz darauf werden die letzten Ereignisse um die Familie mit dem Satz [s]íðan tóku þeir eld ok gerðu bál mikit fyrir dyrunum eingeleitet.⁵⁴² Die Schilderung der brenna selbst erzeugt bei den Rezipierenden erneut einen ambivalenten Eindruck, der sich gut an der großen inhaltlichen Bandbreite der geäußerten Interpretationen festmachen lässt. Für Gottzmann etwa stellt die Tatsache, dass sich die Njálssöhne auf das Geheiß ihres Vaters hin wieder zurück in die Flammen gehen, einen Beweis für die Gehorsamspflicht und Solidarität der gesamten Familie dar.⁵⁴³ Auf der anderen Seite sieht Tirosh in Njáll einen bösen alten Mann, der seinen geliebten Ziehsohn verloren hat und damit sein Leben und das der Schuldigen auslöschen möchte.⁵⁴⁴ Einen sehr religiös geprägten Aspekt im Erzählen über die brenna erkennt Maxwell, wenn er schreibt: »His [Njáll’s] saintly firmness at the burning makes his death, like Hoskuldʼs, a sacrifice, of which the brightness of his body after death is a token to thirteenth-century readers.«⁵⁴⁵ Doch auch in Njálls Sprechen selbst, während die Flammen über dem gemeinsamen Hof lodern, drückt sich sein christliches Urvertrauen auf einen gütigen Gott aus, der für ihn im Jenseits nicht die Hölle vorsieht: ›Trúið þér ok því, at guð er miskunnsamr, ok mun hann oss eigi

 Njáls saga, S. 319; »›Ein gewaltiger níðingr bist du‹, sagte sie, ›weil Njáll dich doch dreimal vor dem Wald [= der Acht] bewahrt hat.‹«  Dies wird in Kap. 4.4.3 thematisiert.  Njáls saga, S. 324.  Njáls saga, S. 327.  Njáls saga, S. 328; »Dann nahmen sie Feuer und legten vor den Türen einen großen Brand.«  Gottzmann 1982, S. 274– 275.  Tirosh 2014.  Maxwell 1957, S. 40. Diese Aura des Religiösen kontrastiert ihm zufolge mit Mǫrðrs heidnischer Durchtriebenheit.

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bæði láta brenna þessa heims ok annars.‹ ⁵⁴⁶ Als sein Körper aus den Trümmern geborgen wird, ist er unversehrt und scheint zu leuchten.⁵⁴⁷ Mit dem Erlöschen der Flammen auf Bergþórshváll reißt aber noch nicht die Kette von Ereignissen ab, die Rückschlüsse auf die Beurteilung der Ermordeten lassen. So erlauben die geschilderten Ereignisse nach dem Mordbrand einen Blick auf die Bewertung der Tat und der Täter, sie stellen mithin auch eine vom Erzähler fortgesetzte indirekte Charakterisierung Njálls dar. In Flosis Aussage, als er am Morgen nach dem Mordbrand auf diesen angesprochen wird (›[b]æði munu menn þetta kalla stórvirki ok illvirki‹⁵⁴⁸) lässt sich zum einen durchaus Reue erkennen,⁵⁴⁹ zum anderen kann sie als metaleptische Aufforderung an uns Rezipierende aufgefasst werden, die geschilderten Ereignisse für sich zu kategorisieren und möglicherweise auch zu diskutieren. Hier treten beide Gesichtspunkte deutlich hervor: Für manche stellt der Untergang der Familie, die sich nicht in das soziale Gefüge der Sagagesellschaft einordnen konnte, eine Großtat dar. Andere, wie Hróðný Hǫskuldsdóttir, empfinden ihn als Sakrileg. Zudem zeigt Flosi selbst sich an anderer Stelle wenig stolz auf seine Beteiligung an der brenna, weil dieser Tat kein Ruhm innewohne.⁵⁵⁰ Aber der Erzähler schildert nach dem Mordbrand noch Ereignisse, die Flosi für seine Tat vor der Gesellschaft und die Rezipierenden der Saga zu rehabilitieren vermögen.⁵⁵¹ Es ist eine ironisch bis tragisch wirkende Wendung, dass die Zuständigkeit für die Verhandlung über die brenna gerade beim fimmtadómr liegt, jenem obersten Fünften Gericht, das Njáll für seinen Ziehsohn Hǫskuldr einrichten lassen hat, und das nun mit seinem Tod befasst wird und aufgrund interner juristischer Streitigkeiten lange an der Rechtsfindung scheitert.⁵⁵² Für Allen, der in Flosi ohnehin eine ambige Figur sieht, die zu Gutem wie Schlechtem in der Lage ist, ist der letzte Eindruck von Flosi – gerade im Zusammenhang mit den Verhandlungen nach der brenna – ein positiver: »[O]n the whole it must be said that Flosi succeeds in obtaining respect, a respect reinforced by his generally decent conduct after the Burning.«⁵⁵³ Schließlich wird unter einem zwölfköpfigen Schiedsgericht, dem der Gode Snorri vorsteht, ein endgültiger Vergleich geschlossen, der für Njáll ein dreifaches Wergeld vorsieht, und für Bergþóra ein zweifaches.⁵⁵⁴ Das Wergeld entspricht damit hinsichtlich der Höhe dem, das einst für

 Njáls saga, S. 329; »›Vertraut auch darauf, dass Gott gütig ist, und dass er uns nicht sowohl in dieser als auch der anderen Welt brennen lässt.‹«  Njáls saga, S. 342– 343.  Njáls saga, S. 334; »Die Leute werden werden dies sowohl eine große als auch eine böse Tat nennen.«  Vgl. Allen 1971, S. 115.  Njáls saga, S. 336.  Meulengracht Sørensen schreibt dazu: »Sagaen giver os ikke grund til at slutte, at Flosis hævnen er en handling, som han burde have undgået, fordi han er kristen«, Meulengracht Sørensen 1994, S. 488.  Njáls saga, S. 394– 401.  Allen 1971, S. 115.  Njáls saga, S. 412– 413.

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Hǫskuldr gezahlt worden und je nach Sicht der Figuren und Rezipierenden zu hoch oder lächerlich niedrig ausgefallen ist. Flosi wird mit einigen anderen Mordbrennern in die dreijährige Acht geschickt, wobei es ihn schlussendlich nach Rom verschlägt, wo er vom Papst Vergebung für seine Sünden erhält.⁵⁵⁵ Kári Sǫlmundarson löst das Versprechen ein, das er Skarpheðinn Njálsson an der Tür des brennenden Hofes gegeben hat und übt Rache am Mordbrenner Kolr Þorsteinsson.⁵⁵⁶ Schlussendlich stimmt der Erzähler nochmals sehr versöhnliche Töne an. Anlass für diese Annahme geben die letzten Informationen, die wir vom Anführer der Mordbrennertruppe erhalten. In einer still und feierlich wirkenden Szene wird nämlich von Flosis letzter Fahrt an seinem Lebensabend erzählt: Þat segja menn, at þau yrði ævilok Flosa, at hann fœri utan, þá er hann var orðinn gamall, at sœkja sér húsavið, ok var hann í Nóregi þann vetr. En um sumarit varð hann síðbúinn. Rœddu menn um, at vánt væri skipit. Flosi sagði, at væri œrit gott gǫmlum ok feigum, ok sté á skip ok lét í haf, ok hefir til þess skips aldri spurzk síðan. ⁵⁵⁷

Es erscheint zweifelhaft, dass der Haupttäter eines Mordbrandes vom Erzähler noch in einem dermaßen versöhnlichen Maße geschildert würde, wenn der Mordbrand selbst eine absolut unverzeihliche Tat und den völligen Bruch mit der sozialen Ordnung darstellen würde, als der er oft gesehen wird. Auf der anderen Seite wird für Njáll nach langem juristischem Ringen die dreifache Mannbuße festgelegt und es folgt dennoch zumindest ein weiterer Totschlag im Nachgang zur brenna. Gerade der Umstand, dass der Mörder in Rom Absolution erhält, während gleichzeitig der Ermordete auf Gottes Barmherzigkeit vertraut, legt schließlich nahe, dass der Erzähler keine eindeutige Stellung bezieht. In jedem Fall relativiert Flosis weiterer Lebenslauf indirekt das Bild vom »Heiligen Njáll«. In der Gesamtschau – und damit kommen wir zum Ende dieser Betrachtungen – ist die Figur des weisen Njáll nämlich derartig vielschichtig und komplex angelegt, dass eine konkrete abschließende Aussage dazu, wie sie zu verstehen ist, schier unmöglich erscheint. Die Forschung spricht in dieser Frage nicht mit einer Stimme, wie ersichtlich wurde. Während bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Zeichnung der Figur als überragend positiv vorherrschte, scheint sich diese Idee mit der Jahrtausendwende geradezu ins Gegenteil verkehrt zu haben.⁵⁵⁸ Für beide Positionen gibt es glaubhafte

 Njáls saga, S. 461– 462.  Njáls saga, S. 461.  Njáls saga, S. 463; »Die Leute erzählen, dass dies Flosis Lebensende war, dass er hinausfuhr, als er alt geworden war, um sich Holz zum Hausbau zu holen, und er verbrachte diesen Winter in Norwegen. Aber im Sommer wurde er erst spät reisefertig. Die Männer sprachen davon, dass es ein schlechtes Schiff wäre. Flosi sagte, es wäre völlig ausreichend für einen alten und todgeweihten Mann, und er stieg auf das Schiff und ließ es zu Wasser, und später wurde nie wieder etwas von diesem Schiff gehört.«  Vgl. dazu die Auflistung jüngerer Forschungspositionen bei Sauckel 2018, S. 223 – 224, die nur noch eine rein positiv gezeichnete Lesung nach der Jahrtausendwende anführt. Sauckel mit ihrem

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Argumente, die nachvollziehbar anhand von Textbelegen herausgearbeitet werden, jedoch jeweils für sich genommen kein abschließendes und überzeugendes Gesamturteil über diese Figur zulassen. In diesem Kapitel haben wir in Hinblick auf die Fragestellung nach Hauptfiguren, die als níðingr gekennzeichnet sind, vor allem solche Textstellen beleuchtet, die im Zusammenhang mit ergi und den damit verbundenen Implikationen stehen. Dinge, die anderen Figuren nicht unbedingt zum Nachteil gereichen müssen, werden bei Njálls Figureneinführung entweder vielsagend verschwiegen oder gesondert problematisiert. Das prominenteste Beispiel ist sein fehlender Bartwuchs, der Hallgerðr zur Blaupause für ihren lebenslangen Spott und die Darstellung als bartlosen und der Koprophagie ergebenen níðingr dient. Und bei genauerem Hinsehen hinterlässt auch der erste Eindruck von Njálls angepriesener Rechtskunde einen sehr gegenteiligen Eindruck bei den Rezipierenden, da durch Njálls Rat ein assoziativer Spielraum eröffnet wird, der sich ebenfalls der Bildsprache von níð bedient, wenn Dritten über Gunnarrs weibliche Bärenfylgje die Identifikation mit Njáll gelingt. Hier können wir also durchaus die Zuverlässigkeit des Erzählers anzweifeln, der zu Beginn von Njálls Rechtskunde gesprochen hat, denn die Annahme »there are no grounds to doubt the information he [=the narrator] gives about his characters«⁵⁵⁹ gerät bereits in den ersten Kapiteln über Njálls Handlungen ins Wanken. Njálls unverbrüchliche Freundschaft mit Gunnarr erscheint anderen diegetischen Figuren als verdächtig tief und wohl näher als es zwischen Männern noch sozial akzeptabel wirkt. Viele seiner Handlungen werfen Fragen auf, die sich nicht restlos klären lassen. Hierzu gehört im Zusammenhang mit seiner Freundschaft zu Gunnarr vor allem die diplomatische Art und Weise, in der er sich der Konfliktlösung nähert und versucht, das etablierte Blutfehdesystem zu untergraben. Ein Seidengewand, wie er es Flosi bei der Schlichtung auf dem Thing auf den Stapel legt, scheint mit Seitenblick auf die Egils saga nicht per se problematisch zu sein. Da es aber von Njáll kommt, gerät es innerhalb der Diegese der Njáls saga für den so »Beschenkten« zum Affront und zur Beleidigung seiner Männlichkeit. Es ist dann sein Verhalten in Bezug auf die Söhne nach der Tötung Hǫskuldrs, welches in die brenna mündet, das die mit einem Konglomerat von Motivierungen konfrontierten Lesenden verstören und befremden kann. Diese Umstände konterkarieren auf heftige Weise das vom Erzähler und anderen Figuren gezeichnete Bild des weisen und friedfertigen Njáll, das von wissenschaftlicher Seite lange gestützt wurde und noch gestützt wird. Hier zeigt sich allerdings Njálls volles Potential zur sozialen Destabilisierung, das in Teilen von anderen Figuren zugeschrieben, in Teilen aber auch von ihm selbst ausagiert wird. Von Njáll geht, das scheinen einige Ereignisse in seiner Saga zu sagen, eine Bedrohung für das Gesellschaftsgefüge aus, die zum Teil in ihm selbst angelegt, zum Teil von anderen

Interpretationsansatz, der Njáll als Trickster sieht, zählt zu den Stimmen, die einen kritischeren Blick auf diese Figur haben.  So Allen 1971, S. 104, über den Erzähler der Saga.

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Figuren zugeschrieben und zum Teil durch seine eigenen Handlungen bedingt ist. Damit ist die brenna nicht nur ein »symbol for the failure of law and for a destruction of order«,⁵⁶⁰ sondern sie markiert auch das Ende einer Figur, die durch ihre bisweilen manipulativen Handlungsweisen ebenfalls selbst Recht und Ordnung in erheblichem Maße erschüttert hat. Während also durchaus viele positive Anlagen vorhanden sind, gibt es ebenso viele Elemente in der Saga, die ihre Hauptfigur auf der sozialen Skala zwischen dem Status als níðingr und als idealtypischen Vertreter der neuen christlichen Zeit hin und her oszillieren lassen. So ist es auch im Rahmen des Möglichen anzunehmen, dass der bartlose Njáll, wie kaum eine andere Figur der Isländersagas mit Anschuldigungen der ergi behaftet, selbst den Brand auf Bergþórshváll heraufbeschworen hat. Dieser Konflikt lässt sich auch durch die hier getroffenen Beobachtungen nicht auflösen; der Befund aus diesem Kapitel fügt sich aber das Bild eines Tricksters, wie es Sauckel von Njáll zeichnet.⁵⁶¹ Die christlich-religiös geprägten Aussagen und Beschreibungen, die mit Njáll und dem Tod seiner Familie zusammenhängen, stehen so in starkem Kontrast zu seinen als negativ empfundenen Eigenschaften und einigen begangenen Taten. Es scheint wohl das Sinnvollste zu sein, diese Figur in ihrer ganzen Ambiguität anzunehmen und gerade in dieser Ambiguität einen der Hauptgründe für den allgemein anerkannten Ruhm der Saga zu sehen.⁵⁶² Wir müssen uns also bei Njáll noch mehr als in anderen Sagas aktiv einem Prozess ergeben, der eine vielschichtige Figurenzeichnung zulässt und damit über die häufig typisierende mittelalterliche Erählrezeption hinausgeht. Ähnliches geschieht in dieser Saga auch mit der Figur desjenigen, der die Njállssöhne zur Erschlagung Hǫskuldrs aufstachelt, Mǫrðr Valgarðsson, dem Cochrane attestiert: »Many of Mǫrðr’s actions […] might be compared to those of Njáll, but we do not react to Njáll in the same way as Mǫrðr because of the narrator’s systematic control of our perspective, perception and opinion.«⁵⁶³ Ihm zufolge kann diese Erzählhaltung dazu führen, dass durch die stark negative Zeichnung von Mǫrðrs Figur Njálls Handlungen zum Teil geradezu überstrahlt werden und so den Rezipierenden möglicherweise in ihrem vollen Ausmaß entgehen.⁵⁶⁴ Im Zusammenhang mit der Hauptfigur wird deutlich: Njálls Flammentod wird vom Erzähler und innerhalb der Diegese als níðingsverk wahrgenommen, wie es bei brennur in anderen Sagas oft der Fall ist.⁵⁶⁵ Offen ist aufgrund der Umstände und mehrfachen Motivierungen genau die Frage, auf die Flosi selbst anspielt, wenn er – möglicherweise direkt an die Rezipierenden gerichtet – über die unterschiedlichen Beurtei-

 Allen 1971, S. 129.  Sauckel 2018.  Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 166, führt an, dass Njáll mitunter eine widersprüchliche Figur ist.  Cochrane 2016, S. 139.  Cochrane 2016, S. 139 – 141.  Exemplarisch dafür sei auf die geplante brenna Guðmundrs verwiesen, der androht, seiner Familie das Haus über dem Kopf anzuzünden, Kap. 4.3.3.

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lungsmöglichkeiten der brenna spricht: Wessen níðingsverk ist sie eigentlich? Die Saga gibt uns hierauf keine verlässliche Antwort. Und gerade in diesen hier gemachten Beobachtungen über ihre Haupfigur wird etwas bestätigt, was der Saga mehrmals in unterschiedlicher Form attestiert wurde, nämlich ihre absolute Ausnahmestellung innerhalb der Textgruppe, die wir als Isländersagas kennen. Wenn Miller in seiner Untersuchung über die Entwicklung der Isländersagas zur Njáls saga schreibt »Whoever composed Njáls saga was able to laugh at both the conventions of saga composition and at his fellow Icelanders.«,⁵⁶⁶ so kann diesem Verdikt schon angesichts der hochkomplexen und mehrdeutigen Charakterisierung ihrer Hauptfigur kaum widersprochen werden.

4.3.3 Guðmundr inn ríki Von Refr und Njáll ausgehend wenden wir uns nun der bereits erwähnten dritten Figur zu, die sich níð ausgesetzt sieht. Einer der wohl mächtigsten Männer der isländischen Geschichte war Guðmundr inn ríki, dessen Beiname sich sowohl mit »der Reiche« als auch »der Mächtige« übersetzen lässt. Eine eigene Saga besitzt er zwar nicht, aber dennoch zeugen viele Auftritte in unterschiedlichen Texten von der Prominenz seines historischen Vorbildes. Der Schwerpunkt dieser Betrachtungen liegt auf der Ljósvetninga saga, die bei der Darstellung regionaler Streitigkeiten eine Auseinandersetzung der Isländer mit ihren eigenen Herrschern darstellt. Fremdherrschaft ist weniger ihr Thema, was sie beispielsweise von der Egils saga unterscheidet. Sie zeichnet sich daher Andersson zufolge gegenüber anderen Sagas durch einen tendenziell inwärts gerichteten und herrschaftskritischen Blickwinkel aus.⁵⁶⁷ Dementsprechend eignet sich diese Saga als erster Untersuchungsgegenstand zur Figur des Goden Guðmundr. Es kommen wegen der vielen intertextuellen Referenzen auch die anderen Texte zur Sprache, die Guðmundr einen (meist nur kurzen) Auftritt zugestehen. So können wir uns ein übergreifendes Bild von dieser Figur und ihrer Charakterisierung im intertextuellen Gefüge der Sagawelt machen. Leider ist es aufgrund der komplexen Überlieferungslage schwieriger als bei anderen Sagas, hinsichtlich der Ljósvetninga saga von »dem Text« als Grundlage zu sprechen. Es existieren zwei Hauptversionen, die mit A (AM 561 4to) und C (hauptsächlich die sehr lückenhafte Handschrift AM 162c fol. neben mehreren Abschriften auf Papier) bezeichnet werden. Der größte Unterschied zwischen diesen beiden Fassungen ist der Einschub mehrerer mit der Handlung verknüpfter Þættir nach den zur A-Fassung so gut wie identischen ersten vier Kapiteln der C-Fassung, die als spätere  Allen 1971, S. xvi. Andersson 2006, S. 202– 203, sieht in der Saga Höhepunkt und gleichzeitig Ende der Tradition »klassischer« Isländereagas. Ähnlich äußert sich Ármann Jakobsson zum revolutionären Potential der Saga, allerdings vorrangig in Bezug auf Fragen der Geschlechterrollen: »the queer becomes the norm«, Ármann Jakobsson 2007, S. 215.  Vgl. Anderson 2006, S. 119 – 131.

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Hinzufügung aufgefasst werden.⁵⁶⁸ Die C-Fassung wurde im Vergleich zur A-Fassung bisweilen als weniger erfolgreiche, stümperhafte und konzeptuell mangelhafte Umformung des Sagatextes bezeichnet.⁵⁶⁹ Insgesamt lässt sich die Saga in drei Teile aufgliedern. Die ersten vier Kapitel sind in beiden Versionen im Wesentlichen gleich und passen augenscheinlich kaum zum Rest der jeweiligen Variante. Daran schließt sich – mit den erwähnten Unterschieden – eine Erzählung an, die sowohl in den Fassungen A als auch in C in zwei Teile zerfällt, deren erster Guðmundr als zentrale Figur zum Inhalt hat, wohingegen sich der zweite mit dessen Sohn Eyjólfr beschäftigt.⁵⁷⁰ Da wegen der stärkeren Fokussierung auf lediglich eine Textvariante die wesentlichen Teile der folgenden Betrachtung dieser Saga in den beiden Hauptfassungen von der textkritischen Diskussion unberührt bleiben sollen, sei an dieser Stelle lediglich am Rande auf die Problematik einer sehr großen Varianz innerhalb der Überlieferung hingewiesen. Wo es nötig ist, findet sich daher ein Hinweis darauf, ob eine Textstelle sich in der Fassung A oder in beiden findet. Grundsätzlich aber orientieren sich die folgende Betrachtung der Saga und die Kapitelzählung an der Fassung C, deren Kapitel in der Íslenzk fornrit-Ausgabe, die sich beim Leittext an Fassung A orientiert, in Klammern angegeben sind. Es gibt feststellbare Parallelen zwischen Njáll und Guðmundr inn ríki, wie Tirosh schon am Beipiel ihrer Bereitschaft zum Opfer von Familienmitgliedern und den Gerüchten über ihre Männlichkeit festgestellt hat: Guðmundr’s case, like Njáll’s, shows a protagonist willing to sacrifice his own family to avenge a beloved man. Much like Njáll, Guðmundr is portrayed as a man whose masculinity is called into question by his opponents.⁵⁷¹

Doch auch die Art und Weise, in der von ihnen erzählt wird, bietet einige Gemeinsamkeiten, die wir im Folgenden sehen werden.

4.3.3.1 Die C-Version der Ljósvetninga saga Zu Beginn der Saga gibt der Erzähler einen Überblick über die Region und die Familie des Goden Þorgeirr am Ljósavatn, dessen Nachkommen später in eine Fehde mit Guðmundr und seiner Familie verwickelt sein werden. Im Folgenden wird von den Söhnen Þorgeirrs berichtet, die zu diesem Zeitpunkt noch von Guðmundr unterstützt werden. Eine wirkliche Figureneinführung erhalten wir nicht von ihm, vielmehr taucht Guðmundr völlig unvermittelt und ohne weitere Kontextualisierung im ersten Hand-

 Vgl. zu diesem Absatz: Magerøy 1993, S. 393 – 394. Ausführlicher und rezenter zur Handschriftensituation vgl. Tirosh 2019, S. 20 – 35.  Vgl. Borggreve 1970.  Magerøy spricht vom »Guðmunds-bolken« und vom »Eyjólfs-bolken«, Magerøy 1991, S. 65.  Tirosh 2014, S. 218.

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lungsteil mit den Þorgeirrssöhnen auf: Hann [=Jarlinn] sendi út hatt girzkan ok taparøxi þeim Guðmundi ok Þorgeiri goða til trausts. ⁵⁷² Trotz dieses unvermittelten und erzählerisch nicht weiter motivierten Auftauchens erhalten wir zumindest eine erste indirekte Charakterisierung Guðmundrs. Die Tatsache, dass er die Unterstützung eines norwegischen Jarls erhält, lässt bereits an dieser Stelle seinen hohen Status erkennen.⁵⁷³ Die späteren Konflikte zwischen den Leuten am Ljósavatn und den Mǫðruvellingar, zu denen Guðmundr gehört, werden proleptisch durch die Feststellung [þ]eir lǫgðu nú í fjándskap við Guðmund, sem lengi helzk síðan am Ende dieses Handlungsteils vorweggenommen.⁵⁷⁴ Die daran anschließenden Kapitel 5 bis 12 der Saga (darunter befinden sich die eingeschobenen Þættir, die der A-Version fehlen) dienen Andersson zufolge hauptsächlich Guðmundrs initialer negativer Charakterisierung.⁵⁷⁵ Im fünften Kapitel der C-Fassung, das den Beginn des sogenannten Sǫrla þáttr markiert, begegnet uns eine initiale Charakterisierung dieser Figur, die, wenn überhaupt, nur auf den ersten Blick positiv erscheint. Darüber hinaus entspricht sie kaum den intertextuellen Erwartungen, die ein Kenner der Isländersagas an solche Figureneinführungen heranträgt:⁵⁷⁶ Þat er sagt, at Guðmundr inn ríki var mjǫk fyrir ǫðrum mǫnnum um rausn sína. Hann hafði hundrað hjóna og hundrað kúa. Þat var ok siðr hans at láta lǫngum vera með sér gǫfugra manna sonu, ok setti þá svá ágætliga, at þeir skyldi engan hlut eiga at iðja annan en vera ávallt í samsæti með honum. En þat var þó sá siðr þeira, er þeir váru heima, at þeir unnu, þó at þeir væri af gǫfgum ættum. Þá bjó Einarr at Þverá í Eyjafirði, en Guðmundr inn ríki á Mǫðruvǫllum, bróðir hans. ⁵⁷⁷

 Ljósvetninga saga, S. 6; »Er [der Jarl] sandte Guðmundr und Þorgeirr eine Russenmütze und eine Axt zur Unterstützung.« Dieser Satz findet sich nur in der A-Redaktion der Saga, vgl. Andersson/Miller [Hrsg.] 1989, S. 125, Fn. 12.  Vgl. Magerøy 1991, S. 68.  Ljósvetninga saga, S. 10; »Sie hatten nun Feindschaft mit Guðmundr, die sich später lange hielt.«  Vgl. Andersson 2006, S. 123.  Vgl. zu dieser Feststellung Magerøy 1991, S. 66, der das Fehlen einer Figureneinführung im üblichen gewohnten Ausmaß als charakterisierend für die Ljósvetninga saga ansieht. Vgl. zu den einzelnen Figurenexpositionen der Saga Danielsson 1986, S. 34.  Ljósvetninga saga, S. 109; »Es wird gesagt, dass Guðmundr hinsichtlich seines Auftretens andere Männer weit übertraf. Er hatte hundertzwanzig Dienstleute im Hausstand und hundertzwanzig Kühe. Es war auch sein Brauch, die Söhne vornehmer Männer lange bei sich zu haben, und behandelte sie so bevorzugt, dass sie keine andere Sache zu tun haben sollten als immer mit ihm zusammen zu sitzen. Aber es war durchaus so üblich, dass sie arbeiteten, wenn sie zuhause waren, auch wenn sie aus vornehmen Geschlechtern stammten. Damals wohnte auch Einarr auf Þverá im Eyjafjǫrðr, und sein Bruder Guðmundr wohnte auf Mǫðruvellir.« An der gleichen Stelle gleich zu Beginn des fünften Kapitels, an der sich eine Figureneinführung und eine Genealogie anbieten würden, erfahren wir in der AFassung stattdessen zunächst von Guðmundrs Frau Þórlaug und deren Herkunft. Auch diese Fassung erscheint vor dem Hintergrund der intertextuellen Erwartungshaltung ungewöhnlich. Dies lässt sich an dem sonst nicht üblichen Vorgehen festmachen, dass sich der Erzähler an die meist fokussierte männliche Figur der Saga über ihre Frau annähert.

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Der Begriff hundrað (wörtlich: ›hundert‹) ist hier nicht wortwörtlich als die Maßeinheit »ein Großhundert«, also die Zahl 120, zu verstehen, sondern es soll damit lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass Guðmundrs Viehbestand sehr groß ist.⁵⁷⁸ Eine so detailliert scheinende Aufzählung der einzelnen Vermögenspositionen ist bei der Vorstellung eines Protagonisten genauso ungewöhnlich wie die Erwähnung seiner Vorliebe, sich mit reichen jungen Männern zu umgeben. Hier findet sich ein Hinweis des Erzählers auf das Verlangen nach homosozialem Umgang, mithin eine der ›prähomosexuellen Kategorien‹ Halperins.⁵⁷⁹ Dieser Hinweis fällt deutlicher aus als es in anderen Sagas in Bezug auf Männer der Fall ist, da die Schilderung Guðmundrs, der gemeinsam mit den jungen Männern Zeit verbringt, durch die Wahl des Motivs eines Beisammensitzens (þeir skyldi engan hlut eiga at iðja annan en vera ávallt í samsæti með honum) homosoziale Anklänge verliehen bekommt. Dass dieser Umstand hier nicht von einer anderen Figur, sondern vom Erzähler selbst erwähnt wird, bereitet schon unmittelbar zu Beginn des sogenannten Sǫrla þáttr einer Charakterisierung der Hauptfigur durch ergi den Weg. Auf einer Hochzeit, bei der sowohl Guðmundr als auch seine Frau Þórlaug anwesend sind, entspinnt sich zwischen ihr und der ebenfalls neben der Braut sitzenden Geirlaug ein Streitgespräch. Auslöser ist die Reihenfolge, in der die beiden Frauen das Wasser zum Händewaschen gereicht bekommen sollen – jede möchte der anderen den Vortritt lassen und sie beginnen, ihren eigenen Status über ihre Männer zu definieren. Dabei kommt es zu einer folgenschweren Äußerung, die nur teilweise in der Fassung C überliefert ist: Þórlaug svarar: ›Víst hygg ek þik vel gefna. En nú er þat komit, at ek veit eigi aðra framar gipta en mik.‹ Geirlaug svarar: ›Þá værir þú vel gefin, ef þar væri einmælt um, at bóndi þinn væri vel hugaðr eða snjallr.‹ Þórlaug svarar: ›Þetta er illa mælt, ok muntu fyrst manna mæla.‹ Hon svarar: ›Satt mun þat, fyrir því at fleiri mæla it sama, en Þorkell hákr hefir haft þetta fyrst fyrir mér ok þeir Þórir bóndi minn, en hverr maðr mælir þat sama, er tungu hrœrir.‹ ⁵⁸⁰

Wenn Geirlaug hier sagt, dass Uneinigkeit darüber bestehe, ob Guðmundr klug und mutig sei (›ef þar væri einmælt um, at bóndi þinn væri vel hugaðr eða snjallr‹), dann unterstellt sie (oder besser die Leute, die das Gerücht in die Welt gesetzt haben) ihm implizit, er sei argr und stellt seine Männlichkeit in Frage: »En ósnjallr gat þýtt ragur,

 Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. hundrað, und Andersson/Miller (Hrsg.) 1989, S. 135, Fn.31.  Vgl. Halperin 2003, S. 192– 197.  Ljósvetninga saga, S. 18; »Þórlaug antwortete: ›Sicher denke ich, dass du gut verheiratet bist. Aber nun ist es so, dass ich niemanden kenne, der besser verheiratet ist als ich.‹ Geirlaug antwortete: ›Du wärst dann gut vergeben, wenn es einen Konsens darüber gäbe, dass dein Mann klug oder mutig wäre.‹ Þorlaug antwortete: ›Das ist schlecht gesprochen, und du bist wohl die erste Person, die so etwas sagt.‹ Sie [Geirlaug] antwortete: ›Es wird schon wahr sein, weil viele das gleiche sagen. Aber Þorkell hákr hat es zuerst mir und meinem Mann Þórir gesagt, aber das gleiche sagt jeder, der die Zunge rührt.‹«

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og ragur gat þýtt kynvilltur.«⁵⁸¹ Zu Recht weist Þórlaug sie darauf hin, dass dies üble Nachrede und damit ehrenrührig sei (›Þetta er illa mælt‹). Als sich Geirlaug darauf hinausredet, es wäre bereits ein großer Kreis von Personen, der Guðmundrs Männlichkeit anzweifelte und sowohl sie als auch ihr Mann hätten davon gehört, bricht Þórlaug das Gespräch ab (›hættum tali þessu‹).⁵⁸² Dieses Gerede betrifft die Ehre ihres Mannes: In dem Moment, in dem Zweifel an dessen Männlichkeit geäußert werden, obliegt es primär ihm, die gesellschaftliche Reputation der beiden Eheleute wiederherzustellen. Dieser Streit ist jedoch innerhalb der Handlung nicht besonders gut motiviert: »it is not at all clear why Geirlaug would choose to publicize the accusation against Gudmund on this particular occasion«⁵⁸³. Darüber hinaus fällt es schwer zu glauben, dass sie ihren eigenen Mann als Quelle solcher Aussagen benennen sollte; immerhin führt die Kenntnis solcher Aussagen häufig zu physischen Racheakten. Der Erzähler nimmt also an dieser Stelle eine Schwäche bei der Motivierung des Erzählten in Kauf, um das Augenmerk auf Guðmundrs defizitäre Charakterisierung zu richten. Im Gegensatz zu den einführenden Worten über ihn, seinen Lebensstandard und seine Gewohnheiten, die der Erzähler uns mitteilt, wird er hier auf indirekte Weise durch andere Figuren charakterisiert. Þórlaug drängt ihren Mann Guðmundr unter der Vortäuschung einer Krankheit zur vorzeitigen Abreise, und setzt ihn auf dem Heimweg von den Gerüchten in Kenntnis, die über ihn im Umlauf sind (Síðan sagði hon honum, hvat þær hǫfðu talat, ok fjándmæli manna við hann).⁵⁸⁴ Guðmundr weiß die möglichen gesellschaftlichen Folgen dieser üblen Nachrede gleich richtig einzuordnen, sagt aber, er versuche dennoch, eine Lösung zu finden (›En eigi þykki mér þat ráðit, hvárt oss verðr þetta at engu‹).⁵⁸⁵ Er bespricht sich mit seinem Ziehbruder Einarr Konálsson, wobei sich beide darin einig sind, dass diese üble Nachrede Folgen haben muss ›hefna skal, hvárt sem þat verðr fyrr eða síðar‹. ⁵⁸⁶ Sein Ziel ist es, erst einen Thingmann von Þórir Helgason unschädlich zu machen und dann gegen ihn selbst einen dreijährigen Landesverweis durchzusetzen. Diesen scheinen Þórlaug und er nach Geirlaugs Aussage als hauptverantwortlichen Miturheber der Gerüchte zu identifizieren.

 Ljósvetninga saga, S. 18, Fn. 4; »Ósnjallr bedeutet argr, und argr bedeutet pervers«. Andersson und Miller übersetzen vel hugaðr eða snjallr recht frei und interpretierend als »manliness«, Andersson/ Miller 1989, S. Dazu äußert sich Andersson 2006, S. 126: »The implication is that he is homosexual, a deadly charge in the Old Icelandic value system.« Dass es sich um eine Implikation und nicht um eine wörtliche Unterstellung handelt, hebt auch Tirosh hervor: »Geirlaug is not explicitly saying that Guðmundr is argr«, Tirosh 2019, S. 121.  Ljósvetninga saga, S. 18; »›Lasst uns dieses Gespräch beenden.‹«  Andersson 2006, S. 127.  Ljósvetninga saga, S. 19; »Dann sagte sie ihm, was sie besprochen hatten, und erzählte ihm von dem feindseligen Gerede der Männer über ihn.«  Ljósvetninga saga, S. 19; »›Und ich habe nicht die Absicht, dass uns das nirgendwo hinführt.‹«  Ljósvetninga saga, S. 20; »›Das muss gerächt werden, ob das nun früher geschieht oder später.‹«

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Guðmundr vertritt bald den Kaufmann Helgi in einer Rechtssache gegen Þórir Akraskeggr, der diesen bei einem Handel übers Ohr gehauen hat.⁵⁸⁷ Innerhalb dieser Verhandlung wechselt sein Ziehbruder Einarr die Seiten und unterstützt Þórir Helgason und seinen Thingmann Þórir Akraskeggr. Dennoch vermag sich Guðmundr durchzusetzen und spricht sich für eine Verbannung aus, die durchgesetzt wird.⁵⁸⁸ In der Folge wird der Besitz des Verbannten gepfändet und aufgeteilt; hier erlaubt sich Þórir etwas, das Guðmundr in die Hände spielt: Er manipuliert die Markierungen der Schafe aus der Herde seines Namensvetters und schanzt sich so selbst zusätzliche Tiere zu.⁵⁸⁹ Daraufhin verklagt Guðmundr wiederum Þórir Helgason auf Landesverweis, der auf dem Thing zuerst die Entscheidung über den Fall Einarr überlassen hat, nur um dann hinzuzufügen: ›Eigi mun ek enn láta þrjóta boðin við þik, Guðmundr, því at ek veit, at þér þykkir annat miklu stórligar við mik en um haframerkingina Þóris Akraskeggs, því at ek veit, at þú kennir mér þat einum, er margir mæla, – ok eru þó eigi aðrir minna af valdir –, at ek hafa mælt ragliga við þik. Vil ek þat nú reyna, hvárt þetta er sannmæli eða eigi, því at ek vil skora á þik til holmgǫngu […] Ætla ek, áðr en þeim fundi lúki, at fœrask skal af tvímælit, hvárt sannara er, at þú sér maðr snjallr ok vel hugaðr, eða sé hinn veg, sem vér hǫfum áðr orðum til komit ok allmargir hafa sagt fyrir oss, at þú sér eigi snjallr.‹ ⁵⁹⁰

Þórir dringt also auf eine endgültige Lösung des länger hin und her wogenden Konfliktes mit Guðmundr und fordert ihn daher zum Holmgang heraus. Er weist darauf hin, dass seine Anschuldigungen Guðmundr gegenüber für diesen schwerer wiegen müssen als sein Betrug mit den markierten Schafen, für den immerhin eine dreijährige Acht verhängt wurde (þér þykkir annat miklu stórligar við mik en um haframerkingina Þóris Akraskeggs).War zuvor immer nur die Rede davon, Guðmundr sei eventuell nicht tapfer, spricht Þórir jetzt explizit von dessen Verdacht, er habe ihm unterstellt, argr zu sein (›at ek hafa mælt ragliga við þik‹). Guðmundr bleibt gar keine andere Wahl, als auf diese Herausforderung einzugehen, um seine männliche Ehre zu verteidigen. Die Rollen sind hierbei gewissermaßen vertauscht, da der Herausforderer nicht derjenige ist, dem ragmæli widerfahren ist, sondern derjenige, der es geäußert hat. Diese Rolleninversion hat zur Folge, dass Guðmundr vor dem Althing als passiv und wenig

 Vgl. Ljósvetninga saga, S. 23.  Vgl. Ljósvetninga saga, S. 33.  Vgl. Ljósvetninga saga, S. 34– 35.  Ljósvetninga saga, S. 39 – 40; »›Ich werde meine Angebote an dich nicht versiegen lassen, Guðmundr, denn ich weiß, dass dir in Bezug auf mich noch etwas anderes und viel größeres durch den Kopf geht als die Kennzeichnung der Böcke von Þórir Akraskeggr. Denn ich weiß, dass du mir die eine Sache zuschreibst, die viele Leute sagen, – und trotzdem sind andere nicht weniger daran beteiligt –, nämlich, dass ich über dich schandhaft [wörtlich: ›argr-haft‹] geredet hätte. Ich will jetzt auf die Probe stellen, ob dieses Gerede wahr ist oder nicht, denn ich will dich zum Holmgang auffordern. […] Ich denke, dass der Zweifel beseitigt werden wird, bevor das Zusammentreffen beendet ist, ob es wahrer ist, dass du ein tüchtiger und vernünftiger Mann bist, oder ob es so ist, wie wir [=Þórir] es zuvor gesagt haben und wie es ganz viele vor uns gesagt haben, dass du nicht tüchtig bist.‹«

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tatenkräftig erscheint. Nicht umonst kommt es nach Þórirs Aussagen zu lautem Tumult innerhalb der versammelten Menge.⁵⁹¹ In der Nacht vor dem angesetzten Termin gibt Guðmundr sich siegesgewiss, denn er heckt mit seinem Verbündeten Vigfúss einen Plan aus, der den Zweikampf verhindern soll. Da die Gegenseite Wind davon bekommt (›en sáttu eigi, at feldarrǫggvarnar hrœrðusk, er hann hló?‹,⁵⁹² fragt Einarr nach einem kurzen Besuch Þórir), verläuft das Geschehen in der Folge anders als ursprünglich vorgesehen: Guðmundr bekommt von Þórir das Recht zugestanden, über die Punkte des Streites zwischen den beiden zu urteilen und er erlegt ihm eine hohe Strafe auf. Obwohl dieses Urteil nicht durch eine Entscheidung im angedachten Holmgang gefallen ist, stärkt es vordergründig Guðmundrs Position: Svá komsk þar orðrómr á, at Guðmundr hefði haft mestan sœmdarhlut af málum þessum. ⁵⁹³ Guðmundr hat seinen Widersacher aus dem Weg geschafft, dabei allerdings nur scheinbar seine Ehre behalten. In Wahrheit behält Þórir die ganze Zeit über das moralische Oberwasser und der Erzähler lässt ihn nach der Verbannung noch für eine lange Zeit glücklich und ungestört leben.⁵⁹⁴ Geradezu mit Wonne schildert die Saga im Folgenden, wie schwer es für Guðmundr ist, die eingangs im Gespräch zwischen den Frauen erwähnten Anschuldigungen von ergi wieder los zu werden. Nach dem Prozess gegen Þórir konfrontiert Guðmundr zusammen mit einigen Unterstützern Þórkell hákr in dessen Haus, wo dieser ihn in nach seiner Anreise fragt und diese dann mit derben Worten kommentiert: ›Þú hafðir bratta leið ok erfiða, ok trautt kann ek at ætla, hversu rassinn myndi sveitask ok erfitt hafa orðit í þessi ferð‹. ⁵⁹⁵ Diese Aussage beinhaltet eindeutig sexuell konnotierte Vorwürfe von ergi – einen anderen Grund auf den mutmaßlichen Zustand von Guðmundrs Hintern zu sprechen zu kommen gibt es in diesem Zusammenhang nicht.⁵⁹⁶ Zudem passt er gut zur folgenden Steigerung von Guðmundrs negativer Charakterisierung, die vom Erzähler geschickt eingeleitet wird, indem dieser schon zu Beginn auf den Milchbottich in der Ecke hinweist (Mjólkrketill stóð í horninu).⁵⁹⁷ Im Verlauf des Kampfes zwischen den beiden Kontrahenten kommt es nämlich zu einer grotesken Szene kurz vor Þórkells Tod, in der der erwähnte Milchbottich bald zum Stolperstein wird:

 Ljósvetninga saga, S. 42: Varð þá mikit óp at Lǫgbergi at orðum hans; »Es gab da einen großen Aufruhr am Gesetzesfelsen bei seinen Worten.«  Ljósvetninga saga, S. 42; »›Hast du etwa nicht gesehen, dass sich die Zottelköpfe gerührt haben, als er lachte?‹«  Ljósvetninga saga, S. 43.  Vgl. dazu Andersson 2006, S. 127.  Ljósvetninga saga, S. 52; »›Du hattest einen weiten und beschwerlichen Weg, und ich kann kaum abschätzen, wie verschwitzt und wund dein Arsch auf diesem Weg geworden sein muss.‹«  Möglicherweise ist die Implikation sogar eine von »post-coital excretion«, so Tirosh 2016, S. 259. Vgl. zu dieser Implikation die folgende Szene mit dem Milchbottich.  Ljósvetninga saga, S. 43, Fn. 1; »Ein Milchbottich stand in der Ecke.«

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Guðmundr hopaði undan ok hrataði í mjólkrketilinn. Þat sá Þorkell ok hló at ok mælti: ›Nú kveð ek, [at] rassinn þinn hafi áðr leitat flestra lœkjanna annarra, en mjólkina hygg ek hann eigi fyrr drukkit hafa. Enda rázk þú nú hingat, Guðmundr; úti liggja nú iðrin mín‹. ⁵⁹⁸

Viel stärker können Anspielungen auf eine unterstellte Passivität Guðmundrs im sexuellen Umgang mit anderen Männern nicht mehr expliziert werden: »These taunts against Guðmundr reach the limit of unequivocial grossness with which saga writers could put níð on parchment«.⁵⁹⁹ Die gedanklich gezogene Parallele zwischen Milch und Ejakulat dient der Kommentierung von Guðmundrs attestierter sexuellen Passivität. Milch ist hier nicht mehr vordergründiges Symbol für Weiblichkeit oder einen niedrigen sozialen Status, wie es häufiger vorkommt, sondern sie wird reduziert auf die Eigenschaft als weiße und etwas zähere Flüssigkeit, die im Kosmos der Sagagesellschaft Männern zum Schaden gereichen kann.⁶⁰⁰ Þorkell bringt mit diesem Zitat eine gedankliche Linie auf die Spitze, die er zuvor mit der Bemerkung über Guðmundrs verschwitzten Hintern eröffnet hat und die nun mit einer Inversion des Geschmähten endet: »The image also inverts Gudmund in other ways, turning him upside down by making his anus his mouth.«⁶⁰¹ Nachdem ihm bereits zuvor anlässlich des Urteils gegen Þórir nur auf den ersten Blick ein Ehrgewinn attestiert wurde, bleibt das geäußerte níð, anders sind die wiederholten Anspielungen auf den Zustand von Guðmundrs Hintern nicht zu verstehen, wie ein Makel an ihm haften und wird von Þórkell noch bis zum Schluss gegen ihn wiederholt.⁶⁰² Die ganze Szene, in der Guðmundr mit einer Übermacht von Leuten Þorkell überfällt und im Kampf um dessen Schläge herumtänzelt ([hann] hopaði undan heißt es unmittelbar vor dem Sturz in den Milchbottich), ist sehr überspitzt dargestellt und lässt ihn als feigen Opportunisten erscheinen.⁶⁰³ Nicht zuletzt Þorkells Kommentar kurz vor seinem Tod dient einer weiteren Verächtlichmachung Guðmundrs. Dabei müssen wir uns als moderne Rezipierende wieder vor Augen halten, dass der Wahrheitsgehalt solcher Vorwürfe für die Sagagesellschaft eine untergeordnete Rolle spielt:

 Ljósvetninga saga, S. 52; »Guðmundr duckte sich nach unten weg und fiel in den Milchbottich. Das sah Þorkell und er lachte darüber und sagte: ›Das sagʼ ich jetzt, dass dein Arsch zuvor die meisten anderen Bäche genossen hat, aber Milch hat er, glaube ich, bislang noch nicht getrunken! Und jetzt komm her, Guðmundr; meine Eingeweide hängen jetzt heraus.‹«  Meulengracht Sørensen 1983, S. 37.  Zu Milch vgl. Kap. 4.1.6. Entsprechend versteht diese Stelle auch Tirosh 2016, S. 260.  Andersson/Miller [Hrsg.] 1989, S. 139, Fn. 125.  Guðmundr wird in einem anderen Text ebenfalls derb als argr bezeichnet, nämlich dem Ǫlkofra þáttr, der später Gegenstand der Betrachtung sein wird; auch in der Njáls saga gibt es eine kurze Stelle, wo er an diese Vorwürfe erinnert wird, vgl. Andersson/Miller 1989, S. 87.  Vgl. Tirosh 2016, S. 242.

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Readers will inevitably wonder, in the literal way we have of interrogating texts, whether the charge against Gudmund is »true« or not, but that may be beside the point; it may simply be a metaphorical rendering of the maximum disparagement available in this culture.⁶⁰⁴

Die C-Fassung des Textes geht indes an dieser Stelle noch deutlich weiter, da Þorkell dort das Heraushängen seiner Eingeweide noch mit dem Satz ›þar hefir þú jafngjarn á verit, er þik lysti þessa‹ kommentiert.⁶⁰⁵ Diesen Satz lesen Gísli Sigurðsson und Tirosh als eindeutige sexuell gemeinte Bemerkung, was in seinem Kontext auch kaum anders verstanden werden kann.⁶⁰⁶ Dabei dürfte es sich allerdings eher um eine allgemein gehaltene Assozitation Guðmundrs mit dem Themenkomplex gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs handeln. Tiroshs Vorschlag, die heraushängenden Eingeweide als Lacan’schen Phallus zu verstehen, mit dem er Guðmundr gegenüber als Aggressor auftrete, geht daher zu weit, selbst wenn er dem Umstand Rechnung trägt, dass Guðmundr erst in dieser Konstellation passiver Partner im Sinne einer ergi-Zuschreibung wäre.⁶⁰⁷ Nach dieser tödlichen Auseinandersetzung kommt es zu einer Bußgeldzahlung an die Verwandten von Þorkell. Dessen Brüder akzeptieren die angebotene Summe sofort, allerdings nicht aus tatsächlichem Versöhnungswillen und Einverständnis mit der angebotenen Summe. Die geäußerten Bedenken dahingehend, dass eine Ablehnung Guðmundr gegenüber unklug wäre, spricht für dessen Macht im Bezirk, die es ihm ermöglicht, anderen die Bedingungen für eine Kompensation zu oktroyieren.⁶⁰⁸ Diese Zurschaustellung von Macht wird gleich im Anschluss vom Erzähler dazu genutzt, seine fokussierte Figur verächtlich zu machen, da die Kompensation für Guðmundr nach hinten los geht. Es ist angesichts der geäußerten Taktierereien anzunehmen, dass die Familie des Getöteten mit der gebotenen Summe nicht zufrieden war. So tötet ein Verwandter Þorkells namens Eilífr bald darauf Guðmundrs hochgeschätzten Sklaven Rindill. Die Szene, in der Rindill stirbt, ist etwas eigenartig und nimmt einen thematischen Bezug auf die Szene von Þorkells Tötung, der mit einem erneuten Verweis auf Milch hergestellt wird: Rindill sucht zusammen mit einem weiteren Mann nach seinem Pferd, während Guðmundr mit dem Gefolge weiter reitet. Er hält nach dem Auffinden des Pferdes eine kleine Zwischenmahlzeit: Rindill hafði skyr ok mataðisk skjótt, því at skyrit var þunnt. ⁶⁰⁹ Danach wird er von Eilífr konfrontiert

 Andersson 2006, S. 128; im Kommentar zu ihrer Übersetzung schreiben Andersson/Miller 1989, S. 105: »It is unlikely that Gudmund was in reality homosexual«, was etwas weiter geht als man gesichert sagen kann; diese Identität für das Mittelalter anzunehmen ist anachronistisch, und über die Sexualität einer literarischen Figur zu diskutieren, ist vor diesem Hintergrund wenig sinnvoll, vgl. Kap. 1.1, und die Anmerkungen von Tirosh 2016, S. 243 – 244.  Ljósvetninga saga, S. 52, Fn. 4; »›darauf warst du doch so begierig, weil es dich danach verlangte.‹«  Gísli Sigurðsson 2007, S. 211, Tirosh 2016, Tirosh 2019, S. 142– 143.  Vgl. Tirosh 2016, S. 265 – 266.  Ljósvetninga saga, S. 53, vgl. Andersson/Miller 1989, S. 194, Fn. 128.  Ljósvetninga saga, S. 55; »Rindill hatte Skyr dabei und aß ihn schnell, weil der Skyr dünn war«.

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und rasch mit einem Speer aufgespießt: ok setti þegar kesjuna á Rindil miðjan, en skyrit sprændi ór honum ok upp á Eilíf. ⁶¹⁰ Auf erzählerischer Ebene wird hier zum zweiten Mal ein frequentatives Muster bedient, das unter Einbeziehung der Assoziationen mit Milch im Kontext von Unmännlichkeitsvorwürfen Guðmundr der ergi bezichtigt. Frequenz ist ein wichtiges Instrument zur Steuerung der Aufmerksamkeit und Erwartungen der Rezipierenden.⁶¹¹ Aus inhaltlicher Sicht wird wieder dieselbe Assoziationskette zwischen Milch und ergi aufgerufen wie bei der Tötung Þorkells, wenn aus Rindills Speerwunde der zuvor gegessene Skyr rinnt, »reminding one of the milk previously mentioned and presumably too, in view of the context, the colour of the semen one may suppose he had received inside him from Guðmundr.«⁶¹² Schließt man sich dieser Interpretation an, ergibt der Szenenaufbau im Zusammenhang mit der Milchkübelszene des vorherigen Kapitels eine kompositorische Parallele. Am Anfang beider Episoden platziert der Erzähler vorab Milch durch ein scheinbar nebensächliches Szenendetail, es kommt zu einer kämpferischen Auseinandersetzung, und schließlich wird auf die zuvor erwähnte Milch dergestalt Bezug genommen, dass Guðmundr das Ziel einer Schmähung wird. Die Schwachstelle in Gísli Sigurðssons Interpretation ist, dass ihr zufolge Rindill und nicht Guðmundr der Penetrierte wäre; die Anschuldigung der ergi würde daher vornehmlich Rindill treffen. Da Guðmundr aber der Saga zufolge Rindill sehr schätzt und nach seinem Tod keine Spur von Mäßigung bei der Rache zeigt, führt dieser Umstand letztlich dazu, dass er selbst indirekt mit ergi charakterisiert wird. Auf die Nachricht von dessen Tod reagiert er nämlich drastisch. Er lässt Flammen an das Haus anlegen, in dem Eilífr Zuflucht gefunden hat, obwohl sich seine eigenen Familienmitglieder darin befinden.⁶¹³ Er wird wiederholt darauf hingewiesen, dass seine Rache völlig außer Verhältnis zu dem sozialen Status des getöteten Rindill steht und nur mit Mühe können die Leute ihn davon abbringen, die brenna bis zum Ende durchführen zu lassen.⁶¹⁴ Zwar wird sein geplantes Tun nicht expressis verbis als níðingsverk bezeichnet, doch auch die Be-

 Ljósvetninga saga, S. 55; »und er trieb Rindill sofort seinen Hauspieß in den Bauch, und der Skyr spritzte heraus und auf Eilífr«.  Bei der Erzählung dieser Abfolge handelt es sich um das Muster »[n]-mal erzählen, was n-mal passiert ist«, Genette 2010, S. 74, das er als »Singulativ« bezeichnet. Lediglich das letzte Element dieser Abfolge ist qualitativ so unterschiedlich von den vorhergehenden Elementen, dass die Reihung aufgebrochen wird. Dies trifft bei Guðmundr zu, wie später noch zu sehen sein wird, da der dritte Anlass, zu dem er mit Milch konnotiert wird, gleichzeitig seine Todesszene ist.  Gísli Sigurðsson 2007 S. 211. Tirosh sieht darin eine symbolische Penetration Rindills, »which causes him to spurt out the white liquid on his aggressor, thus hinting that he sexually enjoys the pentration«, Tirosh 2016, S. 261– 262. Damit geht er allerdings sehr weit in der Interpretation dieser Szene. Dem vorzuziehen ist daher die erwähnte Interpretation Gísli Sigurðssons. Kraus verneint ausdrücklich die einer solchen Deutung zugrundegelegte Assoziation, da die Anspielung ihr zufolge nicht viel weiter gehe, als dass in Anlehnung an Rindills Spitznamen an Vogelkot erinnert werde, Kraus 2013, S. 211, Fn. 632.  Ljósvetninga saga, S. 57.  Ljósvetninga saga, S. 57.

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nennung als óhœfa ›schandhafte Tat‹ lässt die allgemeine Missbilligung erkennen. Dass Guðmundr sein enges, nach der vorangehenden Episode auch erotisch aufgeladenes Verhältnis zu einem »political nobody«⁶¹⁵ über seine Familie zu stellen gedenkt, entlarvt ihn in den Augen der Sagagesellschaft einmal mehr als unmoralisch handelnden und wenig verlässlichen Menschen. Zu einem unrühmlichen Abschluss gebracht wird die im Umfeld von Þorkells Tötung eingeleitete frequentative Erzählung mit dem dritten und letzten Element ihrer Reihung, die gleichzeitig das Ende der Guðmundr-Handlung der Saga darstellt. Es wird gesagt, dass er im fortgeschrittenen Alter auf seinem Hof in Mǫðruvellir verweilt, als der Bauer Þórhallr einen merkwürdigen Traum hat, den er sich vom kundigen Finni deuten lassen möchte. Dieser lehnt allerdings ab und verweist ihn an Guðmundr, dessen Bruder Einarr ebenfalls von einem seltsamen Traum geplagt wird, in dem ein Ochse nach Mǫðruvellir kommt und dort am Hochsitz des Hofes verendet.⁶¹⁶ Nachdem er mit Þórhallr über dessen Traum geredet hat, bringt seine Frau Þórlaug das Essen herein – es handelt sich um heiße Milch, und nach den vorhergehenden Episoden und den Andeutungen im Traum ist klar, dass das dritte Element der Reihung diesen Erzählstrang auf die Spitze treiben muss: Ok eptir þat réttisk Guðmundr upp, ok var þá fram kominn matr. Mjólk var heit, ok váru í steinar. Þá mælti Guðmundr: »Eigi er heitt.« Þórlaug mælti: ›Kynliga er þá,‹ – ok heitti steinana aptr. Síðan drakk Guðmundr ok mælti: ›Eigi er heitt.‹ Þórlaug mælti: ›Eigi veit ek nú, Guðmundr, hvar til kemr heitfengi þitt.‹ Ok enn drakk hann ok mælti: ›Ekki er heitt.‹ Þá hneig hann á bak aptr ok var þegar andaðr. ⁶¹⁷

Für Gísli Sigurðsson besteht das Abweichen von dem etablierten Erzählschema beim dritten Ereignis darin, dass nicht mehr Guðmundrs unterstellte Verhältnisse mit Männern im Vordergrund stehen, sondern die deshalb gescheiterte Beziehung zu seiner Frau.⁶¹⁸ Der thematische Fokus rückt ab von den zuvor zugeschriebenen Beziehungen mit anderen Männern (jeweils einmal in der aktiven und einmal in der passiven Rolle) hin zum Scheitern der Beziehungen mit Frauen. Besonders überzeugend erscheint die Ausdeutung jedoch nicht, dass die Milch ein Zeichen von Þórlaugs Zuneigung sei. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass Guðmundr gezielt in einem Moment mit Milch assoziiert wird, in dem er sich in der Sphäre innan stokks befindet, also genau der Sphäre, die semantisch mit Weiblichkeit und Milch verknüpft ist und

 So Tirosh 2016, S. 254.  Ljósvetninga saga, S. 60.  Ljósvetninga saga, S. 61; »Danach streckte sich Guðmundr, und dann wurde das Essen aufgetischt. Die Milch war heiß und es waren Steine darin. Da sagte Guðmundr: ›Das ist nicht heiß.‹ Þórlaug sagte: ›Das ist seltsam‹, und erhitzte die Steine neu. Danach trank Guðmundr und sagte: ›Das ist nicht heiß.‹ Þórlaug sagte: ›Ich weiß auch nicht, Guðmundr, wo dein Verlangen nach Wärme herkommt.‹ Und nochmal trank er und sagte: ›Es ist nicht heiß.‹ Da fiel er hintenüber und war tot.«  Gísli Sigurðsson 2007, S. 211: »[H]is wife’s gift of warm milk may be seen as her way of expressing her love, but Guðmundr fails to find the heat that she has put into it and he dies soon after.«

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ergi bedeuten kann. Der Erzähler positioniert sich nicht eindeutig zu den Umständen von Guðmundrs Tod und dessen Bedeutung, lässt aber immerhin noch den Bruder Einarr erklären, wie es zu dieser Szene kam: ›Eigi hefir draumr þinn, Þórhallr, lítinn krapt. Ok þat hefir Finni sét á þér, at sá væri feigr, er þú segðir drauminn, ok þess unni hann Guðmundi. Ok kaldr hefir hann nú verit innan, er hann kenndi sín eigi.‹ ⁶¹⁹ Unabhängig von der Ausdeutung gerade des letzten Satzes⁶²⁰ ist bemerkenswert, dass die viele Kapitel zuvor eingeleitete Dreifachsequenz ihrerseits mit einer Dreifachsequenz beschlossen wird, die zwar keine gezielte sexuelle Schmähung enthält, dafür aber das Thema Milch in einem semantisch potentiell gefährlichen Umfeld mehrfach betont und so noch im Moment von Guðmundrs Tod die Rezipierenden an die zuvor geäußerten Assoziationen erinnert. Es ergibt sich ein Frequenzschema, innerhalb dessen sich das Thema der ergi (teilweise im Rahmen von níð geäußert) den einzelnen Szenen über verschiedene Assoziationen mit Milch zuordnen lässt. Der Fokus ist dabei jeweils ein leicht anderer, was letztlich zu einem vollständigen Bild einer Figur führt, die als argr gekennzeichnet werden soll.:

Abbildung 2: Frequenz im Erzählen über Guðmundr, thematische Vernüpfung von Milch und ergi (eigene Darstellung)

Nicht nur frequentatives Erzählen trägt zu einem negativen Bild von Guðmundr bei, sondern auch die Bildung von Kontrast- und Parallelpaaren. So wird etwa sein Bruder Einarr als der klügere von beiden inszeniert,⁶²¹ während sein Sohn Eyjólfr, der den zweiten Teil der Handlung bestimmt, ebenso wie sein Vater agiert, ohne jedoch

 Ljósvetninga saga, S. 61; »›Nicht wenig Macht hatte dein Traum, Þórrhallr. Denn das hat Finni an dir gesehen, dass derjenige todgeweiht sein würde, dem du den Traum sagen würdest, und das hat er Guðmundr zugestanden. Und der ist jetzt kalt im Inneren geworden, weil er sich selbst nicht fühlte.‹«  Vgl. dazu Andersson/Miller, S. 112, die in diesem Satz einen letzten Hinweis auf Guðmundrs »obsession with personal status to the exclusion of kin that is quite unexampled in the sagas« sehen.  Vgl. Magerøy 1991, S. 70.

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níð ausgesetzt zu sein. Schematisch ist dieser zweite Teil sehr ähnlich zum ersten, und in beiden kulminieren die Konflikte der jeweils fokussierten Figur aus Mǫðruvellir in einer Tötung.⁶²² Über den Kontrast zwischen der Eigenschaft als meist fokussierte Figuren und der gleichzeitigen exzessiv negativen Charakterisierung von Guðmundr und seinem Sohn Eyjólfr durch den Erzähler der Ljósvetninga saga schreibt Vésteinn Ólason: Obwohl der Fokus auf Vater und Sohn gerichtet ist, erscheinen sie als negative Charaktere. Es fehlt ihnen an Mut und Verstand, und ihr Reichturm geht Hand in Hand mit Vermessenheit und Herrschsucht.⁶²³

Wenn Tirosh über die Darstellung Guðmundrs in der Ljósvetninga saga schreibt »his overall portrayal can be explained as a rare literary manifestation of an argr man«,⁶²⁴ ist dem nichts hinzuzufügen. Man kann, wie bereits geschehen, tatsächlich so weit gehen und sagen, dass Guðmundr gezielt vom Erzähler und den Figuren innerhalb der Diegese als níðingr inszenziert wird, selbst wenn dieser Begriff nicht explizit fällt. Indem er sich mit jungen Männern umgibt, äfft er nicht nur die sozialen Strukturen ausländischer Königshöfe in einem Akt der Selbstüberhöhung nach, sondern der Erzähler eröffnet ein Feld für Implikationen, die den gesamten weiteren Verlauf der Saga prägen.⁶²⁵ Nicht zuletzt dieses Feld war es wohl, das Óttar Guðmundsson zu dem oben zitierten Verdikt bewogen hat, dass Guðmundr eine eindeutig homosexuelle Figur sei. Dagegen haben wir bereits argumentiert, formal erfüllt die Darstellung von Guðmundrs Figur aber in der C-Fassung der Ljósvetninga saga mehrere der von Halperin angeführten »prähomosexuellen Kategorien«. In seinem überbordenden Zorn, ausgelöst von Rindills Tod, sowie seiner Anfälligkeit für Schmeicheleien wirkt er für die Sagagesellschaft unmännlich. Seine argwöhnisch beäugte Vorliebe für die Gegenwart junger Männer, die bereits bei seiner Figureneinführung erwähnt wird, entspricht, wenn man sie im Gesamtkontext von Guðmundrs Charakterisierung als implizit erotisch auffasst, der Kategorie der Freundschaft. Schließlich haben bereits Andersson und Miller darauf hingewiesen, dass Guðmundr in der Milchkübelszene durch Þorkells Äußerungen gleichsam invertiert wird, was inhaltlich Halperins Kategorie der Inversion entspricht.⁶²⁶

 Vgl. Magerøy 1991, S. 71– 72.  Vésteinn Ólason 2011, S. 79.  Tirosh 2016, S. 243.  Vgl. Andersson 2006, S. 123.  Vgl. Andersson/Miller 1989, S. 193, Fn. 125. Darüber hinaus wäre auch die Kategorie der »aktiven Sodomie«, die Halperin irreführend als »Päderastie« bezeichnet, einschlägig, sofern man sich auf die oben erwähnte Interpretation Tiroshs zu der Szene einlässt, in der Rindill getötet wird. Nach dieser Lesung wäre Rindill der sozial niedriger stehende Partner einer solchen sexuellen Beziehung, was dem Kern dieser Kategorie entspricht: Vgl. Halperin 2003, S. 185. Da wir diese Kategorie für diese Untersuchung bereits zu Beginn ausgeschlossen haben, weil sie sich nicht deutlich genug im semantischen Spektrum der ergi wiederfindet, sei dies hier nur am Rande erwähnt.

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4.3.3.2 Guðmundrs Auftritte in anderen Texten Wie bereits erwähnt hat Guðmundr über die Ljósvetninga saga hinaus noch eine ganze Reihe Auftritte von unterschiedlicher Länge in anderen Sagas. So tritt er unter anderem als profitorientierter Unterstützer auf, um Einfluss auf Streitigkeiten zu nehmen, die vor dem Thing verhandelt werden. Da er im intertextuellen Geflecht der Isländersagas wohlbekannt ist,⁶²⁷ bedarf es bei solchen Episoden keiner weiteren Vorstellung, so dass er mitunter wie ein deus ex machina auftreten, die Handlung beeinflussen und genauso schnell wieder verschwinden kann, wie er aufgetreten ist. Dabei scheinen viele der intertextuellen Verweise von seiner als bekannt vorausgesetzten Inszenierung als níðingr zu profitieren. Im sechsten Kapitel der Vápnfirðinga saga unterstützt er Brodd-Helgi in einer Streitigkeit um Vermögen, wobei er sehr unvermittelt erwähnt wird und das als aussichtslos erscheinende Verfahren direkt vor dem Urteilsspruch noch zugunsten seines Mandanten wenden kann.⁶²⁸ Die Feindschaft zwischen Brodd-Helgi und seinem Widersacher wird dadurch nur größer, weshalb Guðmundr ihn ein zweites Mal vertritt. Da ihm aber der Lohn vorenthalten wird, kündigt er die Zusammenarbeit auf und es heißt ok er nú lokit vinfengi þeira. ⁶²⁹ Helgis Rivale Geitir erfährt davon und bietet Guðmundr Geld für dessen Freundschaft und vor allem den rechtlichen Beistand, was der so Umworbene aber ausschlägt.⁶³⁰ Doch kann aufgrund der engen Raffung der Ereignisse und der kontrastiven Erzählstruktur (Streit um die Bezahlung – Aufkündigung des Bündnisses – Angebot von Geld – Eingehen eines neuen Bündnisses) für die Rezipierenden, die mit der Figur des Guðmundr vertraut sind, der Verdacht von Käuflichkeit nicht beseitigt werden. In der Vatnsdœla saga gibt es mehrere Nennungen seines Namens. Nachdem er kurz als Guðmundr inn ríki erwähnt wird, um eine verwandtschaftliche Beziehung zu erläutern,⁶³¹ wird zu einer weiteren ähnlichen Gelegenheit zu einer negativen Charakterisierung des Verwandten ausgeholt. Über Glœðr, seinen Neffen, heißt es bei dessen Einführung in die Saga: Glœðr var áburðarmaðr mikill, málugr ok óvitr ok inn mesti gapuxi. ⁶³² In dieser Beschreibung klingt deutlich die Dekadenz des Onkels an, die wir in der Ljósvetninga saga bereits bezeugen konnten und die als Intertext sicher mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurde. In der Grettis saga ist er derjenige, der Grettir den Weg nach Drangey weist, wo dieser am Ende sein Leben verlieren wird.⁶³³ Auch in der Njáls saga tritt er mehrmals in Erscheinung, meistens im Umfeld von Verhandlungen, so etwa auch der im vorherigen

 Vgl. Schach 1978. S. 265.  Vápnfirðinga saga, S. 38.  Vápnfirðinga saga, S. 44– 45; Zitat: S. 45; »und nun ist ihre Freundschaft beendet.«  Vápnfirðinga saga, S. 45.  Vatnsdœla saga, S. 28.  Vatnsdœla saga, S. 115 – 116; »Glœðr war ein prachtvoll auftretender Mensch, geschwätzig und unklug und der größte Angeber.«  Grettis saga, S. 218.

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Kapitel besprochenen Verhandlung über Hǫskuldrs Tötung, wo Skarpheðinn auf die ansonsten in der Njáls saga nicht referierten Ereignisse um Þórkell hákr anspielt.⁶³⁴ Dennoch ist seine Darstellung in der Njáls saga positiver als in anderen Texten, selbst wenn ein thematischer Fokus auf seiner Gastfreundschaft liegt, die die wissenden Rezipierenden als Ausdruck seiner Vorliebe für vornehme Jünglinge entschlüsseln können.⁶³⁵ Auch seine schiere Machtfülle und der Hang zu Tyrannei und Dekadenz klingen an.⁶³⁶ Nach einer siegreichen Auseinandersetzung der Leute vom Ljósavatn mit Þorkell hákr wird davon berichtet, dass die unterlegene Partei üble Nachreden verbreitet: [H]ǫfðu Ljósvetningar sigr; gerðu þeir þá illmæli um Guðmund Þórir Helgason ok Þorkell hákr. ⁶³⁷ Am herausstechendsten unter all den Texten neben der Ljósvetninga saga ist aber Guðmundrs Darstellung im Ǫlkofra þáttr, einer kurzen Erzählung über den wenig sympathisch erscheinenden Bierbrauer Þórhallr, der beim Kohlebrennen aus Versehen einen Waldbrand auslöst. Da das verbrannte Stück Wald einigen vermögenden Leuten aus der Gegend gehört, wird die Sache bald zum Thema einer gerichtlichen Auseinandersetzung. In diese Auseinandersetzung klinkt sich auch Guðmundr ein, und bald sieht sich Þórhallr auf verlorenem Posten, während ihm die Mächtigen des Landes in der Verhandlung gegenüberstehen. Allein ein Mann namens Broddi Bjarnarson erklärt sich damit einverstanden, ihm rechtlichen Beistand zu leisten. Auf ihren Höhepunkt steuert die Erzählung in der Szene auf dem Thing zu, als Þorsteinn Síðu-Hallsson das Urteil verkündet und Broddi die anwesenden und Klage führenden Goden brüskiert. Im Rahmen einer senna beleidigt er reihum die Mächtigen auf dem Thing, unter denen sich natürlich auch Guðmundr befindet. Die Goden sollen für den Verlust an Waldland mit sechs Ellen Stoff entschädigt werden, wie Þorsteinn entscheidet (›Nú viljum vér gera sex álnar hverjum yðrum, ok skal þat gjaldask hér þegar‹).⁶³⁸ Doch Broddi hat sich zwischenzeitlich gut vorbereitet und ergreift sogleich die Initiative. Er nimmt die Stoffstücke und schleudert sie den Goden entgegen mit den Worten ›Slíkt kalla ek argaskatt.‹ ⁶³⁹ Das Wort argaskattr ist ansonsten nicht belegt, doch es scheint ziemlich eindeutig, dass es auf eine Zahlung anspielt, die einem Mann für sexuelle Dienste geleistet wird – dieser wäre dann derjenige, der die passive Rolle eingenommen hätte.⁶⁴⁰ Somit gäben die Goden direkt zu, argr zu sein, nähmen sie die

 Vgl. dazu Gurevich 2009, S. 62, Fn. 1.  Vgl. Tirosh 2014, S.223, Gísli Sigurðsson 2007, S. 211 (in Bezug auf Rindill), sowie Andersson/Miller 1989, S. 88. Dort findet sich eine vollständige Auflistung der Sagas, in denen Guðmundr »Gastauftritte« hat.  Vgl. Schach 1978, S. 267.  Njáls saga, S. 303; »Die Leute vom Ljósavatn trugen den Sieg davon; da verbreiteten Þórir Helgason und Þorkell hákr üble Nachrede über Guðmundr.«  Ǫlkofra þáttr, S. 90; »›Wir wollen jedem von euch sechs Ellen zusprechen, und das soll noch hier sofort vergolten werden.‹«  Ǫlkofra þáttr, S. 91; »›So etwas nenne ich Weichlingstribut [wörtlich: ›Tribut desjenigen, der argr ist‹]!‹«  Vgl. Ǫlkofra þáttr, S. 91, Fn. 1, und Meulengracht Sørensen 1983, S. 35.

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Bußzahlung an. Die so geschmähten Goden sind mit Blick auf ihre gesellschaftliche Reputation nach Broddis Anwürfen selbstverständlich im Zugzwang; sie ermahnen ihn, keinen Streit mit ihnen anzufangen und drohen ihm (›ok ferr þú lítt þverafœti at fjándskap við oss‹).⁶⁴¹ Darauf reagiert er mit weiteren Schmähungen gegen sie, trotz des ausdrücklichen gesetzlichen Verbotes von níð auf einem Thing.⁶⁴² Zuerst wendet er sich Skapti Þóroddsson zu, dem er vorwirft, verbotenerweise Liebesgedichte für die Frau seines Freundes Ormr gedichtet zu haben.⁶⁴³ Der nächste in der Reihe ist Þorkell trefill, der sich eine besonders perfide und elaborierte Episode über sich selbst anhören muss, als es heißt, ein Hengst habe ihm nachgesetzt und es sei nicht klar gewesen, ob er sich mit ihm oder seinem Reitpferd gepaart habe: ›[O]k hefi ek eigi spurt til sanns, hverjum þá slauðraði, en hitt sá menn, at þú vart lengi fastr, því at hestrinn lagði fœtrna fram yfir kápuna‹. ⁶⁴⁴ Zwar sagt er nicht direkt, dass der Hengst sich mit Þorkell (und nicht etwa dessen Stute) gepaart hätte, allerdings ist die Unterstellung eindeutig. Es kommen dadurch zwei Anschuldigungen zur Sprache, die zwar nach heutigen Maßstäben nicht mehr als zusammengehörig empfunden werden, in der Sagagesellschaft aber als eng miteinander verbunden gesehen wurden: Bestialität und homosexueller männlicher Geschlechtsverkehr. Die Vorwürfe eines solchen Verhaltens werden in den Gesetzen gegen níð als justiziable Schmähung verboten.⁶⁴⁵ Der Vorwurf, argr zu sein, impliziert, dass das Tier, mit dem der Geschmähte gleichgesetzt wird, weiblich ist. Ähnliches, wenn auch eher moralisch als sexuell aufgeladen, muss sich Eyjólfr Þórðarson anhören, dem Broddi unterstellt, er hätte sich, bei einem Diebstahl ertappt, vor Schreck in eine Stute verwandelt (›Varðtu þá svá hræddr, at þú brátt þér í merar líki‹). ⁶⁴⁶ Diese Aussage ist zwar nicht wie die vorhergehende explizit sexuell aufgeladen, dennoch tritt der argr-Vorwurf in der Eyjólfr unterstellten Feigheit und dessen Gleichsetzung mit einem weiblichen Pferd sehr deutlich hervor. Zwei weiteren Goden, nämlich Snorri und seinem eigenen Verwandten Þorkell Geitison, wirft Broddi ebenfalls ergi vor: Snorri, indem er behauptet, dieser wäre zu feige, seinen Vater zu rächen (›en þú hefnir eigi fǫður þíns‹)⁶⁴⁷ und Þorkell, den er an die Narben erinnert, die sein Vater ihm zugefügt hat.⁶⁴⁸

 Ǫlkofra þáttr, S. 91; »›Zudem hast du wenig Lust auf eine Feindschaft mit uns.‹«  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 35.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 35.  Ǫlkofra þáttr, S. 91; »›Aber ich habe nicht eindeutig erfahren, wen von euch er bestieg, aber das haben die Leute gesehen, dass du lange festsaßt, weil der Hengst dir seine Beine über die Kapuze gelegt hat.‹«  Vgl. Kap. 2.2.2.  Ǫlkofra þáttr, S. 92; »›Du warst da so erschrocken, dass du dich sofort in eine Stute verwandelt hast.‹«  Ǫlkofra þáttr, S. 92; »›Aber du rächst deinen Vater nicht.‹«  Ǫlkofra þáttr, S. 92.

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Danach ist von Þórhallr ǫlkofri nicht mehr die Rede (Er nú Ǫlkofri ór sǫgunni ⁶⁴⁹), das von Þorsteinn gesprochene Urteil scheint damit allgemeine Akzeptanz gefunden zu haben. Auf dem Nachhauseweg trifft Broddi auf einer Brücke den sechsten der am Prozess beteiligten Goden, Guðmundr inn ríki, dem er auf die Frage nach seinem bevorzugten Heimweg vom Thing erwidert: ›[E]ða ætlar þú, Guðmundr, at verja mér skarðit? Allmjǫk eru þér þá mislagðar hendr, ef þú varðar mér Ljósavatnsskarð, svá at ek mega þar eigi fara með fǫrunautum mínum, en þú varðar þat eigi it litla skarðit, sem er í milli þjóa þér, svá at ámælislaust sé.‹ ⁶⁵⁰

Diese Äußerung ist ähnlich heftig wie jene, die Guðmundr beim Kampf in der Ljósvetninga saga zu hören bekommt, als er in den Milchbottich fällt. Hier wie dort wird ihm neben passivem Analverkehr auch Promiskuität unterstellt. Und hier wie dort ist die sexualisierte ergi-Anschuldigung Teil einer frequentativ gestalteten Reihung. Während sie in der Ljósvetninga saga der Auftakt zu einer Reihe von Episoden ist, in denen Guðmundr über die Assozitation mit Milch verächtlich gemacht wird, stellt die Episode im Ǫlkofra þáttr den Höhepunkt einer Sequenz gegenüber verschiedenen Goden dar. Nach Broddis Worten, die natürlich auch beim Thing die Runde machen, trennen sich die beiden schweigend und Guðmundr lässt ihn in Ruhe. Broddi selbst kann durch seine eigenen Äußerungen nicht mehr von dem Vorhaben abrücken, durch den Pass zu reiten (›Ek mun ríða þá leið, er ek hefi sagt Guðmundi, því at hann mun virða mér til hugleysis, ef ek fer eigi svá‹),⁶⁵¹ doch die Rückkehr verläuft für ihn und seine Begleitung problemlos. In der Gesamtschau weisen die gemachten Beobachtungen zu Ljósvetninga saga und vor allem dem Ǫlkofra þáttr darauf hin, dass wir uns Guðmundr den Mächtigen in den Augen der Rezipierenden dieser Texte als ›den Mächtigen‹ (quasi mit in der Luft gezeichneten und ironisierenden Gänsefüßchen) vorzustellen haben. Als solcher ist seine Figur untauglich für die Ausübung von Macht, wie bereits die vom Erzähler geschilderten Parodien auf den Habitus von Herrschern deutlich machen. Doch die Verächtlichmachung seiner Figur hört nicht an diesem Punkt auf: Gezielt wird von seiner Vorliebe für die Gesellschaft junger Männer ausgehend in seinen Handlungen der ergi-Komplex bedient. Er ist damit nicht nur kein guter lokaler Machthaber, sondern, eng damit verknüpft und viel schlimmer noch, auch kein ganzer Mann in den Augen der Sagagesellschaft. Durch dieses doppelte Versagen auf charakterlicher Ebene macht ihn der Erzähler dieser Texte (wohl im Gegensatz zur tatsächlichen historischen Rolle, die die Vorlage seiner Figur ausfüllte) zum níðingr. Damit wird er  Ǫlkofra þáttr, S. 92; »Und jetzt ist Ǫlkofri aus der Geschichte.‹«  Ǫlkofra þáttr, S. 94; »›Oder gedenkst du, Guðmundr, mir den Gebirgspass zu versperren? Du handelst sehr falsch, wenn du mir den Ljósavatnspass versperrst, so dass ich nicht mit meinen Begleitern hindurch kann. Du schaffst es ja nicht einmal, deine kleine Arschritze zu verteidigen, so dass sie frei von Schande wäre!‹«  Ǫlkofra þáttr, S. 94; »›Ich werde diesen Pass entlangreiten, wie ich es Guðmundr gesagt habe, denn er wird es mir als Feigheit auslegen, wenn ich nicht so handle.‹«

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als Gefahr für die Gemeinschaft deklariert und ihm wird der Rang als vollwertiges Gesellschaftsmitglied abgesprochen, obgleich er sich kraft seiner Abstammung und seiner Macht selbst dort halten kann. Wie bei anderen Figuren in den Sagas erhalten wir jedoch keine Informationen über seine Identität oder seine tatsächlichen sexuellen Präferenzen, wie wir sie aus gegenwärtiger Sicht erwarten könnten. Guðmundr als eine der schillerndsten Figuren der Isländersagas besitzt sehr viele negative Eigenschaften, nicht zuletzt die vom Erzähler und den anderen Figuren zugeschriebene Eigenschaft als níðingr. Aus der Kenntnis um diese Tatsache schöpfen auch die verschiedenen anderen Texte neben der Ljósvetninga saga, die ihn auftreten lassen. Er erfüllt mit Blick auf diese Texte in seiner Charakterisierung nahezu alle »prähomosexuellen Kategorien«, was durch den Einsatz von níð und ergi-Zuschreibungen sowohl durch diegetische Figuren als auch den Erzähler selbst in dieser Eindeutigkeit überhaupt erst ermöglicht wird. Nach diesen Beobachtungen wenden wir uns nun zwei weiteren Texten zu, die níð im Zusammenhang mit ihren behandelten Figuren erwähnen, wobei der thematische Zusammenhang zu diesen Figuren nicht so eng ist wie bei den drei besprochenen Beispielen. Dennoch können einige der beobachteten Erzählstrategien in der Interpretation der Grettis saga und der gemeinhin wenig beachteten Svarfdœla saga hilfreich sein und neue Blicke auf ihre Hauptfiguren eröffnen.

4.3.4 Exkurs: Níð gegen Kinder und seine Folgen Oft wird der Wendepunkt in Grettirs Biografie in seiner Begegnung mit dem Wiedergänger Glámr gesehen, der ihn kurz vor seinem Tod in einer eindrucksvollen Szene mit einem Fluch belegt. Die zentrale Bedeutung dieser Begegnung führt nicht zuletzt zu dem Verdikt, man könne in dieser Szene durchaus »the narrative heart of the saga« erkennen.⁶⁵² Mehrmals ist genau diese Sequenz als ein Übergang in einen Bereich außerhalb des sozialen Raums der Sagagesellschaft gedeutet worden.⁶⁵³ Dass Grettirs Biografie sich mit Blick auf die Glámr-Episode nicht so einfach in ein »davor« und »danach« einteilen lässt, hält Janice Hawes einigen Forschungsurteilen entgegen, wenn sie argumentiert, dass »Glámrʼs curse is not the only reason that Grettir is a social outcast by the end of the saga, nor is Grettir simply a victim of ill luck. In fact, Grettir shows many of these dangerous qualities well before he encounters Glámr«⁶⁵⁴ Grettirs Figur muss also vielschichtiger sein und die Erzählung über ihn ausdiffe-

 So Evans 2019, S. 137.  Vgl. Hawes 2008, S. 20 – 21, und die dortige Übersicht über die entsprechenden Forschungspositionen.  Hawes 2008, S. 21– 22. Zudem spricht sie in diesem Aufsatz die Herleitung von Grettirs Außenseiterrolle hauptsächlich aus einem folkloristischen gemeinsamen Ursprung mit dem altenglischen Beowulf an, der häufiger als Vergleichspunkt für die Grettis saga genommen wird. Vgl. dazu etwa die auszugsweise durchgeführte kontrastive Lesung beider Texte bei Cook 1989, S. 226 – 228.

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renzierter als eine einfache Darstellung von Glámrs Fluch als monokausale Ursache hinter dem weiteren Lebensweg als Geächteter. Wenn aber das Duell mit Glámr nicht der einzige Grund für Grettirs biografische Entwicklung ist, gilt es, andere Ursachen zu identifizieren. Für die Untersuchung in diesem Kapitel soll daher der Fokus auf der Erfahrung von níð in der Kindheit liegen, die, so die zu bedenkende Annahme, für die Darstellung von Figuren und ihrer Entwicklung von Kindheit an narrativ nutzbar gemacht werden kann. Neben Grettir soll auch dem Berserker Klaufi aus der Svarfdœla saga besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, den eine ebenfalls in seiner Kindheit gemachte níð-Erfahrung möglicherweise mit diesem Sagahelden verbindet. Dabei ist es wichtig, einige Worte zum Thema »Kindheit« vorweg zu schicken. Es ist von Philippe Ariès vehement und mit nachhaltiger Wirkung für Teile der mediävistischen Forschung in Frage gestellt worden, ob im Zusammenhang mit dem mittelalterlichen Weltbild von einer ähnlichen konzeptuellen Ausgestaltung der Kindheit ausgegangen werden kann wie in modernen Zeiten.⁶⁵⁵ Seine Thesen werden heute nicht nur von der Geschichts-, sondern auch von den Erziehungswissenschaften überwiegend abgelehnt.⁶⁵⁶ Geht man für diese Fragestellung zunächst von den historischen Gesetzen Islands aus, wird man in den Frostaþingslǫg fündig. Eine dortige Legaldefinition des Wortes fulltiða, das in etwa mit »Volljährigkeit« wiedergegeben werden kann, legt als Eintrittsalter 15 Winter fest.⁶⁵⁷ Dass auf juristischer Ebene in Bezug vor allem auf die Rechtsfähigkeit eines Individuums Altersgrenzen reglementiert sind, sagt aber noch nicht unmittelbar etwas über die soziale und die für diese Untersuchung vorrangig bedeutsame literarische Bewertung von Kindheit. Dieser Fragestellung widmet sich Ármann Jakobsson zu Beginn seiner Untersuchung über problematische Kinder in den Sagas.⁶⁵⁸ In überzeugender Weise argumentiert er gegen diese Position, indem er anhand einer hier bereits besprochenen Szene in der Njáls saga⁶⁵⁹ aufzeigt, dass eine unterschiedliche Wahrnehmung von Kindern und Erwachsenen gerade auf erzählerische Weise instrumentalisiert wird, wenn kindhafte

 Ariès 1965, S. 128.  Zu den Auswirkungen dieser Aussage vor allem auf die französische Geschichtswissenschaft und der folgenden Auseinandersetzung mit Arièsʼ Thesen vgl. Hanawalt 2002, insbesondere S. 440 – 445. Richard-Elsner 2015 bietet dagegen einen rezeptionshistorischen Überblick innerhalb der Erziehungswissenschaften.  Vgl. Lewis–Simpson 2008, S. 3, Frostaþingsbók IX, §§ 22,23.  Ármann Jakobsson 2003, S. 5 – 24. Er weist hier einleitend auf die Beständigkeit der Feststellungen des Nichtmediävisten Ariès in Hinblick auf viele spätere Arbeiten unterschiedlichster mediävistischer Disziplinen hin, S. 5 – 6. Als rezentes Beispiel für diesen weiter fortbestehenden Einfluss sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf den Aufsatz von Berit J. Sellevold 2008 zu Kindergräbern im mittelalterlichen Norwegen verwiesen, in dem sie sich hierzu auf der Grundlage archäologischer Funde positioniert, vgl. Lewis-Simpson 2008, S. 11.  Nämlich bei der Untersuchung verschiedener Aspekte von ergi in Kap. 4.1.3. Die Szene ist diejenige, in welcher die beiden Jungen im Spiel Hrútrs Problem beim Geschlechtsverkehr mit seiner Frau thematisieren, das darauf zurück zu führen ist, dass aufgrund eines Fluches der norwegischen Königin Gunnhildr sein Glied jedes Mal anschwillt, wenn er mit seiner Frau schlafen möchte.

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Unschuld dazu dient, Absurditäten der Handlung aufzudecken.⁶⁶⁰ Diese Art der erzählerischen Darstellung könnte gar nicht funktionieren, wenn der Text eine einheitliche gesellschaftliche Wahrnehmung von Kindern und Erwachsenen implizierte. Ármann Jakobssons Argumentation, dass die von den spielenden Jungen eröffnete neue Plotdimension gerade erst durch die kindlichen Züge dieser Jungen möglich wird, ist schlüssig. Andere von ihm diskutierte Beispiele aus der Droplaugarsona saga und die Diskussion über die kindliche Hallgerðr in der Njáls saga zeigen, dass die Erzählhaltung der Isländersagas zumindest ein grundsätzliches Bewusstsein für die Verschiedenheit von Kindern und Erwachsenen transportiert. Im Fall der Szene mit der jungen Hallgerðr entsteht nach seiner Auffassung bei gemeinsamer Betrachtung mit der später folgenden Hallgerðr-Szene sogar ein übergeordneter narrativer Rahmen, in dem Kinder das verbindende Motiv der beiden Szenen sind.⁶⁶¹ Problematisch wäre im Übrigen noch eine modern gedachte, unkommentierte und somit anachronistische Zugrundelegung des Konzeptes ›Adoleszenz‹ als derjenige Abschnitt im Leben eines Menschen, der den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter bezeichnet. Über die Wahrnehmung dieses Lebensabschnitts bei jungen Männern im europäische Mittelalter schreibt Karras angelehnt an die Feststellungen von Barbara Hanawalt »Medieval people did not view the boy in his midteens as a child as people do today«⁶⁶² und stellt sich damit gegen die Aussage von Ariès, nach der Adoleszenz und Kindheit bis in das 18. Jahrhundert hinein vermischt gewesen seien.⁶⁶³ Im norrönen Bereich trifft man bezüglich der Adoleszenz bereits auf sprachlicher Ebene auf eine Barriere: »The Old Norse language does not have a term for adolescence as such.«⁶⁶⁴ Für die Auseinandersetzung mit Ariès durch verschiedene Historiker resümiert Hanawalt allerdings: »In medieval and Renaissance records, miracle stories, learned and popular writing, art, artifact, and dress, the period of childhood was distinguishable from the stages of adolescence and adulthood.«⁶⁶⁵

 Ármann Jakobsson 2003, S. 6 – 7. In dieser konkreten Szene besteht die offen gelegte Absurdität in Hrútrs Unfähigkeit, aufgrund der Größe seines Genitals mit seiner Frau zu verkehren. Hrútr schließt jedoch Frieden mit dem einen Jungen, indem er ihm einen Ring schenkt, daher dient die Episode keinerlei erzählerischer Motivation von später folgenden Konflikten. Ármann konstatiert angesichts der relativen Folgenlosigkeit dieser Szene, dass »[t]heir intervention in the narrative leads to nothing […] The boys in Njáls saga do not have such an important plot function [Anm.: wie die des Jungen in der dort besprochenen Droplaugarsona saga], since the scene is the last in this particular segment of the saga; they provide, however, a significant commentary on the narrative. Furthermore, their childish reinterpreting of the plot adds a new dimension to it: the absurdity of the situation is revealed, along with the game-like structure of the processes at the Alþing.« S. 9 – 10.  Vgl. Ármann Jakobsson 2003, S. 11.  Karras 2003, S. 14. Vgl. dazu den Aufsatz von Hanawalt 2002.  Vgl. Ariès 1965, S. 25.  Larrington 2008, S. 151. In der lateinischen kontinentaleuropäischen Schriftlichkeit war die adolescentia einer der Lebensabschnitte des Menschen, für den frühmittelalterlichen Gelehrten Isidor von Sevilla begann sie mit 14 Jahren und endete mit 28. Vgl. hierzu Karras 2003, S. 13.  Hanawalt 2002, S. 456 – 457.

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Als abschließende Bemerkung zu diesem Exkurs lässt sich festhalten, dass sich die Betrachtungsweise von Kindheit in den Isländersagas differenzierter darstellt als von Ariès für das gesamte (kontinentaleuropäische) Mittelalter angeführt, selbst wenn die in den Sagas gezeigte Bewertung von Kindern unterschiedlich von der modernen. Die von Ármann Jakobsson untersuchten Textstellenbelege zeigen indes überzeugend auf, dass eine literarische Funktionalisierung von Kindern durch die Erzähler der Isländersagas in einigen Fällen durchaus gegeben war. Anschließend an diese Beobachtungen ist es – mit Einschränkungen –gerechtfertigt, an dieser Stelle explizit die frühen Lebensjahre der beiden eingangs erwähnten Sagafiguren zu untersuchen, die sich von der ihnen gemeinsamen Erfahrung von níð ausgehend in auffälliger Weise entwickeln und als Erwachsene ebenfalls zu Mitteln des níð greifen. Dass hierbei gerade die Lebensphase der Kindheit aus narrativer Sicht eine zentrale Rolle für die Charakterisierung der beiden Figuren Grettir und Klaufi spielt, soll im Folgenden gezeigt werden. Grettirs Figureneinführung zeichnet ein sehr gemischtes Bild von seinem Wesen und gibt schon allein aufgrund ihrer Ausführlichkeit den Rezipierenden einen Hinweis darauf, dass nun eine zentrale Figur vorgestellt wird:⁶⁶⁶ Þessi váru bǫrn þeira Ásdísar: Atli var ellstr; hann var gegn maðr ok gæfr, hœgr ok hógværr; við hann líkaði hverjum manni vel. Annan son áttu þau, er Grettir var kallaðr; hann var mjǫk ódæll í uppvexti sínum, fátalaðr ok óþýðr, bellinn bæði í orðum ok tiltekðum. Ekki hafði hann ástríki mikit af Ásmundi, fǫður sínum, en móðir hans unni honum mikit. Grettir Ásmundarson var fríðr maðr sýnum, breiðleitr ok skammleitr, rauðhærðr ok næsta freknóttr, ekki bráðgǫrr, meðan hann var á barnsaldri. ⁶⁶⁷

Prägend ist bei Grettir wie bei den Hauptfiguren in vielen anderen Texten die Kontrastierung über den älteren und zuerst genannten Bruder Atli. Dieser wird vom Erzähler mit einer beinahe absurden Anzahl an positiv besetzten Adjektiven bedacht und somit geradezu als reine Lichtgestalt beschrieben – es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er gerade dadurch sehr blass und typenhaft erscheint. Im Gegensatz dazu wird Grettirs Figur deutlich facettenreicher, wenn auch negativer, beschrieben. Merkelbach stellt fest, dass hier noch weitere Kontrastierungen zur Beschreibung von Grettir angewandt werden, namentlich zwischen dem jungen und

 Vgl. Cook 1984– 1985, S. 136.  Grettis saga, S. 36; »Das waren die Kinder von Ásmundr und Ásdís: Atli war der Älteste, er war ein ruhiger und umgänglicher Mann, freundlich und von ruhigem Wesen; in seiner Gegenwart fühlte sich jeder wohl. Sie hatten einen zweiten Sohn, der Grettir hieß; er war schwierig im Umgang, als er aufwuchs, er sprach wenig und war nicht sehr umgänglich, dreist in Wort und Tat. Er bekam nicht viel Liebe von seinem Vater Ásmundr, aber seine Mutter liebte ihn sehr. Grettir Ásmundarson war ein sehr ansehnlicher Mann, aber im Kindesalter nicht besonders vielversprechend.«

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dem erwachsenen (gut aussehenden) Grettir und den beiden Eltern.⁶⁶⁸ Der kleine Grettir hat ein sehr schwieriges Verhältnis zu seinem Vater Ásmundr, was mehrfach festgehalten und untersucht worden ist.⁶⁶⁹ Innerhalb der dreigliedrig aufgebauten Beschreibung (Charakter – Beziehungen – physisches Erscheinungsbild) steht die Beschreibung des schwierigen Charakters vor dem Verhältnis zum Vater, was laut Cook dazu beitrage, den kausalen Zusammenhang zwischen beidem zunächst zu verschleiern und die Rezipierenden dazu zwinge, im weiteren Verlauf der Saga Antworten zu suchen.⁶⁷⁰ Im Übrigen ist diese Figureneinführung mit Blick auf Grettirs spätere Entwicklung vergleichsweise ähnlich zu vielen anderen im Corpus der Isländersagas.⁶⁷¹ Eine erste Gelegenheit hierzu bietet der Erzähler noch im selben Kapitel an, indem er ausführlich von drei Aufgaben berichtet, die Ásmundr seinem arbeitsunwilligen zehnjährigen Sohn stellt. Insgesamt fällt auf, dass Grettir sich bei allen Aufgaben deutlich gewählter ausdrückt als sein Vater und oft in aphoristischer Weise seine Sicht der Dinge zum Ausdruck bringt.⁶⁷² Als erstes soll er die Hausgänse hüten, wozu Grettir eine eindeutige Meinung hat, denn er nennt es ›Lítit verk ok lǫðrmannligt.‹ ⁶⁷³ Sein Vater

 Merkelbach 2016, S. 66. Hier hebt sie zudem explizit hervor, dass uns hier anders als bei vielen anderer Sagahelden eine noch nicht fertige Persönlichkeit gegenübertrete, die noch das Potential zu Weiterentwicklungen habe.  Etwa von Cook 1982– 1985, S. 136, Ármann Jakobsson 2003, S. 18, Larrington 2008, S. 157, und Merkelbach 2016, S. 65 – 76. In der Erzählung wird dieses schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn bereits dadurch vorweggenommen, dass Ásmundr seinerseits eine problematische Beziehung mit seinem Vater hatte, vgl. dazu Evans 2019, S. 111.  Cook 1982– 1985, S. 136. Später ziehen sich laut Cook verschiedenste Unwägbarkeiten durch den Text, die die Rezipierenden manches Mal über Grettirs Persönlichkeit und seine Motive im Unklaren lassen. Dazu zählt beispielsweise die Episode mit den zwölf Berserkern auf Háramarsey im 19. Kapitel der Saga. Grettir lädt sie im Rahmen einer Finte zunächst zur Frau seines Retters Þorfinnrs ein, wobei er die Hausherrin und ihre Tochter in blanke Panik versetzt. Die Verwirrung über Grettirs wahre Motive, in der sich Þorfinnrs Frau und die gemeinsame Tochter hier befinden, erfasst durch die sehr zurückgezogene und allein auf die Wiedergabe von Grettirs Handeln beschränkte Erzählhaltung die Rezipierenden: »To put it another way, the situation of Þorfinnr’s wife and daughter is a perfect objectification of the reader’s situation. Is Grettir being sincere in his offer of friendship to the berserks? Is he planning to join their number and in this way get the sword that Þorfinnr has withheld from him? Or, on the other hand, is he only pretending to be friendly to the berserks in order to win their confidence so that he can trick them later, and in this way earn the sword from a grateful Þorfinnr?«, Cook 1982– 1985, S. 142. Das führt im Ergebnis dazu, dass »we are still in a state of suspense when we read this chapter, because we do not yet know enough about Grettir to be absolutely certain how he will behave.«, Cook 1982– 1985, S. 143. Für die Charakterisierung zu Beginn der Saga spielt Monstrosität noch keine Rolle. Viel von den »klassischen« monströsen Zügen – gemeint sind hier Monster wie Trolle und Riesen – scheint Grettir aber aus der Abstammung der mütterlichen Linie erhalten zu haben, während die Saga sich im Gegensatz zu anderen Quellen über Grettir zur väterlichen Linie ausschweigt, vgl. Poole 2004, S. 7– 8. Ähnliche Züge sehen wir beispielsweise beim Skalden Egill Skallagrímsson in seiner Saga.  Vgl. Evans 2019, S. 110.  Vgl. Cook 1989, S. 235.  Grettis saga, S. 37; »›Eine unbedeutende Aufgabe und nichts für einen gestandenen Mann.‹«

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entgegnet, wenn Grettir seine Aufgabe gut mache, könne sich ihr Verhältnis entspannen (›Leys þú þetta vel af hendi, ok mun þá batna með okkr‹),⁶⁷⁴ woraufhin Grettir sich auf andere Weise als von Ásmundr vorgesehen den Gänsen widmet. In einer direkten und intern fokalisierten Aussage des Erzählers wird gesagt, dass er aufgrund seiner Ungeduld bei dieser Aufgabe schnell erzürne (Honum gerði mjǫk hermt við þessu, því at hann var lítill skapdeildarmaðr),⁶⁷⁵ nur um sich im nächsten Satz wieder auf eine Position der Nullfokalisierung zurück zu ziehen und vom Auffinden der toten Gänse zu erzählen: Nǫkkuru síðar fundu fǫrumenn kjúklinga dauða úti ok heimgæss vængbrotnar. ⁶⁷⁶ Die Kausalität zwischen Grettirs Wut und dem Zustand der Gänse ist zwar stichhaltig und plausibel herstellbar, wenn auch nicht explizit dem Text zu entnehmen. Grettir selbst reagiert auf die Konfrontation durch seinen Vater mit Grinsen und einer Strophe. Eine restliche Unsicherheit bleibt jedoch, vor allem, weil die Entdeckung laut dem Erzähler von Landstreichern gemacht wird, deren Auftauchen ex nihilo in keiner Weise erklärt wird.⁶⁷⁷ In jedem Fall erhalten die Rezipierenden durch die Beschreibung seiner Ungeduld und der spöttischen Rezitation einer Strophe ein vollständigeres Bild von Grettirs Charakter, das dazu dient, die noch folgenden Episoden einordnen zu können. Ásmundrs zweite Aufgabe, nämlich diesem den Rücken mit einem Kamm zu kratzen, bewertet Grettir ebenso wie die erste: ›Heitt mun þat um hǫnd,‹ sagði Grettir, ›en þó er verkit lǫðrmannligt.‹ ⁶⁷⁸ Hier spielt in seine Bewertung möglicherweise der zugewiesene Einsatzort eine Rolle: »Assigning a task which places him at the fireside is, in Grettir’s view, to make him into the kolbítr which, despite his indolence, is not a role that he has deliberately chosen for himself.«⁶⁷⁹ Wie die erste Aufgabe endet auch

 Grettis saga, S. 37; »›Erledige das gut, und dann wird es besser mit uns werden.‹«  Grettis saga, S. 37.  Grettis saga, S. 37; »Kurz darauf sahen Landstreicher die Küken tot und die Hausgänse mit gebrochenen Flügeln«. Erst im folgenden Kapitel, das Grettir mit vierzehn Jahren vorstellt, wird punktuell durch die interne Fokalisierung Grettirs Gefühlsleben sichtbar gemacht und den Rezipierenden gezeigt, dass er Dinge wohl oft persönlich nimmt und sich schnell als Ziel von Spott fühlt, vgl. dazu Merkelbach 2016, S. 71. Über ein Ballspiel gegen den älteren Auðunn, bei dem dieser einen für Grettir unhaltbaren Ball spielt, wird gesagt: Grettir varð reiðr við þetta, ok þótti Auðunn vilja leika á sik (»Grettir wurde darüber wütend und dachte, Auðunn wolle Spielchen mit ihm treiben«) – in der Folge kommt es zu einer blutigen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Grettis saga, S. 43 – 44. In der Tatsache, dass Grettir vom älteren und körperlich überlegenen Auðunn während dieser Auseinandersetzung zunächst zu Boden gebracht und dann festgehalten wird, kann man möglicherweise eine ironische erzählerische Wiederholung der Strangulation der Gänse sehen, wie sie Grettir in seiner Strophe zugibt, vgl. Poole 2004, S. 13.  Landstreicherfiguren als plot devices werden in Kap. 4.4.1 im Zusammenhang mit der Erzählung über die Verbreitung von níð thematisiert.  Grettis saga, S. 38; »›Das mag zwar warm an den Händen sein‹, sagte Grettir, ›aber dennoch ist die Aufgabe nichts für einen gestandenen Mann.‹«  Larrington 2008, S. 157. Vgl. zu dieser Feststellung Cook 1982– 1985, S. 149: »Grettir has had from his earliest youth a proper sense that he was not cut out for the ordinary tasks and conflicts of men«. Dieses Selbstbild Grettirs zeichnet sich bereits hier ab.

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diese in einem Fiasko, als sich Grettir im Laufe des Winters von seinem Vater reizen lässt und ihm dann einen scharfen Wollkamm über den Rücken zieht. ⁶⁸⁰ Auslöser ist, dass Ásmundr ihn als »mannskræfan« ⁶⁸¹ bezeichnet, ein Wort, das Evans zufolge Anklänge an níð erzeugt.⁶⁸² Grettirs Reaktion dient demnach der Wiederherstellung der verloren gegangenen Kontrolle über die Situation, indem er dem Vater zu verstehen gibt, dass er sich ihm nicht ohne weiteres unterordnen wird.⁶⁸³ Erzürnt weist Ásmundr ihm nach einiger Zeit dann einen dritten Auftrag zu. Grettir soll sich um dessen Stute Kengála kümmern. Grettir solle alle Pferde an eine sichere Stelle bringen, sobald sie nicht mehr grasen wolle, da dann der Winter kommen werde.⁶⁸⁴ Grettir schätzt den dritten Auftrag mit Einschränkungen zunächst als positiver ein: Grettir svarar: ›Þetta er kalt verk ok karlmannligt; en illt þykki mér at treysta merinni, því at þat veit ek engan fyrr gǫrt hafa.‹ ⁶⁸⁵ Im Kontrast zur Arbeit am Feuer ist die Pflicht, unter freiem Himmel auf Kengála aufzupassen, aus Grettirs Sicht viel passender für einen Mann. Nicht nur die damaligen Rezipierenden der Sagas werden sich allerdings an dieser Stelle gefragt haben: Wieso sollte Ásmundr gerade jetzt dazu übergehen, seinen Sohn vor eine ehrenvolle Aufgabe zu stellen? Würde zu dem Bild, das Erzähler bis zu diesem Punkt von der Vater-Sohn-Beziehung der beiden gezeichnet hat, nicht viel eher eine erniedrigende Aufgabe passen, um den Sohn weiter zu demütigen?⁶⁸⁶ Gerade die Fokussierung auf die Kälte und die Tatsache, dass es eine Tätigkeit útan stokks ist, die sich von den beiden vorangehenden und in der weiblichen Sphäre angesiedelten Tätigkeiten unterscheidet, könnte Ásmundr hier dazu dienen, Grettir  Grettis saga, S. 38.  Grettis saga, S. 38; »›elender Kerl‹«.  Vgl. Evans 2019, S. 112.  Vgl. Evans 2019, S. 112.  Grettis saga, S. 39 – 40.  Grettis saga, S. 40; »Grettir antwortet: ›Das ist eine kalte Arbeit und was für gestandene Männer; aber es erscheint mir übel, sich auf eine Stute zu verlassen, denn ich habe noch von niemandem gehört, der das gemacht hätte.‹« Für Cook 1982– 1985, S. 137, speist sich Grettirs partielle Ablehnung aus einer generellen charakterlich bedingten Abneigung gegenüber Befehlen: »Grettir’s comment on this job is that it is more manly than the other two, but cold, and that he doesn’t like taking orders from a mare« – das mag zutreffend sein, jedoch soll im Folgenden gezeigt werden, dass es noch weitere, in der Struktur der Saga verankerte Erklärungen gibt, die über diese Erklärung hinaus gehen.  Diese Vaterhaltung zieht sich im Übrigen durch den späteren Handlungsverlauf, wenn Ásmundr ihm vor einer Auslandsfahrt keine Unterstützung zukommen lässt, »thereby denying him an opportunity at proving himself in the same way that Ásmundr had done when given the chance«, Merkelbach 2016, S. 68. Im Folgenden geht Merkelbach auf die fortgesetzten verbalen Demütigungen durch Grettirs Vater ein, denen er schon vor der Erteilung des hier besprochenen Auftrags, auf Kengála aufzupassen, ausgesetzt ist. Eine zusätzliche Dimension der Verweigerungshaltung Ásmundrs ergibt sich, wenn man der psychoanalytischen Betrachtungsweise folgt, nach der ein Schwert ein Phallussymbol ist (Grettir selbst benutzt dieses Wort in einer Strophe als Umschreibung für ›Penis‹, vgl. Kap. 4.1.3). Mehr zu dieser Lesart und einer Deutung der Tatsache, dass seine Mutter dieses Symbol für Männlichkeit selbst für eine Weile besessen hat, findet sich bei Evans 2019, S. 118 – 119. Die Episode zwischen Ásmundr und Grettir würde dann später in Glámrs Verhalten gespiegelt, wenn er in der Auseinandersetzung mit Grettir verhindert, dass dieser seine ganze Kraft einsetzen kann, vgl. Poole 2004, S. 9 – 10.

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gezielt auf eine falsche Fährte zu locken. Tatsächlich deutet der misstrauische Nachsatz gegenüber dieser Tätigkeit zumindest auf eine Ahnung Grettirs hin. Nicht zuletzt die indifferente Erzählhaltung beim Bericht über seine Kindheit legt den Schluss nahe, dass Grettir sich über den wahren Inhalt seiner Tätigkeit täuschen könnte: »That he has to tend to a mare, an animal which symbolises effeminacy in the discourse of níð, may belie Grettir’s initial assessment of the job as karlmannligt.«⁶⁸⁷ Genau dies dürfte das zentrale Kriterium sein, das den dritten Auftrag von den beiden vorherigen unterscheidet. Während die beiden anderen lediglich als niedere Tätigkeiten im häuslichen Bereich angesehen werden könnten, stellt der Erzähler bei der Schilderung der dritten Aufgabe einen implizierten inhaltlichen Anschluss an die Formen von níð her. Dieser ergibt sich aus dem Kontext, in dem eine väterliche Demütigung auf die nächste folgt und schließlich Grettirs signalhaft wirkender Feststellung, dass etwas Übles daran sei, auf eine Stute aufzupassen. Die Gestaltung der Tätigkeit (er muss sein Handeln von Kengálas Verhalten abhängig machen) bringt es aber mit sich, dass er sich nicht nur unterordnen muss, sondern sich faktisch einer Stute unterordnet, »making his subordination to her all the more shameful for him.«⁶⁸⁸ Es ist geradezu selbsterklärend, dass auch diese Aufgabe in einem Fiasko endet, das Kengála schlussendlich das Leben kostet.⁶⁸⁹ Hinsichtlich der an Grettir gestellten Aufgaben lässt sich also eine dreistufige Wiederholung beobachten, an deren Ende eine Eskalation steht. Die Kombination von ergi-Vorwürfen und Frequenz auf der Erzählebene haben wir bereits am Beispiel von Guðmundr bezeugt.⁶⁹⁰ Von einer frequentativen Erzähltechnik macht der Erzähler der Grettis saga auch an anderer Stelle Gebrauch. Wenn in den Kapiteln 28, 29 und 30 dreimal nacheinander Kämpfe initiiert und wieder abgebrochen werden, lässt dies die Lesenden erwarten, dass die Ereigniskette durch ein singuläres Ereignis unterbrochen wird, das von den anderen Elementen der Kette in einem zentralen Punkt verschieden ist – der darauffolgende Kampf sollte also zum Ende gebracht werden.⁶⁹¹ Aus Grettirs Reaktion können wir eine Gleichsetzung der letzten Aufgabe mit níð in seiner Wahrnehmung ablesen, obwohl diese nicht vom Erzähler expliziert wird. Es

 Larrington 2008, S. 157  Evans 2019, S. 114.  Als Grettir draußen in der Kälte ungeduldig wird, weil die Stute sich trotz eines einsetzenden Sturms nicht bewegt, trennt er ihr als Rache für das Ausharren in der Kälte das Rückenfell vom Widerrist bis zur Kruppe vom Körper ab. Ásmundr bemerkt dies erst einige Tage später und er lässt Kengála daraufhin töten. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn kühlt daraufhin noch weiter ab. Grettis saga, S. 40 – 42. Dass Grettir der Stute das Rückenfell abzieht, könne man laut Poole als erzählerischen Widerhall der Szene sehen, in der Grettir seinem Vater den scharfen Eisenkamm über den Rücken zieht, vgl Poole 2004, S. 10.  Vgl. Kap. 4.3.3. Bei der Erzählung der Abfolge von drei Aufgaben seines Vaters, an denen Grettir nacheinander scheitert, handelt es sich um das Muster »[n]-mal erzählen, was n-mal passiert ist«, Genette 2010, S. 74.  Vgl. Cook 1982– 1985, S. 146. Dieses Muster entspricht ebenfalls dem singulativen Erzählen Genettes.

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würde allerdings für eine solche Intention seines Vaters sprechen, dass dieser ihn nur kurz zuvor mit einem Schimpfwort (mannskræfan) gegen sich aufgebracht hat, das in die Richtung dieses Diskurses weist. Die schlussendlich bleibende Unsicherheit, ob es sich bei der letzten Aufgabe tatsächlich um níð handelt, passt im Übrigen zu dem Bild der gezielten Rezipierendenverunsicherung, das Cook von der Darstellungsweise der Kindheitsepisode zeichnet: »The story of Grettirʼs prankish responses to the three tasks assigned by his father, however, proves to be ambiguous.«⁶⁹² Für die in der Erzählung fokussierte Figur scheint der Fall klarer als für die Rezipierenden, die während der Saganarration in Bezug auf die Charakterisierung von Grettirs Figur noch häufiger im Unklaren sind.⁶⁹³ Gerade Zweideutigkeit ist es schließlich, die einen großen Anteil an der Charakteristik von níð ausmacht, womit die erzählerische Darbietung der drei Episoden geschickt spielt. Grettirs Reaktion auf die Aufgaben können wir dann so verstehen, dass er – unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen von níð – die Notwendigkeit erkennt, seine Männlichkeit unter allen Umständen unter Beweis zu stellen: »Grettir’s childhood need to dominate other subjects indicates his will – undoubtedly unconscious – to perform hegemonic masculinity.«⁶⁹⁴ Das nie explizit gemachte níð steht allerdings nicht funktionslos im luftleeren Raum über seiner Kindheit: Zum einen dient es der zusätzlichen Plausibilisierung des geschilderten Verhaltens. Darüber hinaus sickert es in Grettirs Figur ein und manifestiert sich dort als Teil seiner Charakteristik. Direkt im Anschluss an diese Erzählung von seiner Kindheit wird nämlich zum ersten Mal erwähnt, dass Grettir sich selbst mit seinen Dichtungen dieser Form zuwendet; in diesem Sinne könnte man davon sprechen, dass das im Raum stehende níð auf ihn abzufärben beginnt: Mǫrg bernkubrǫgð gerði Grettir, þau sem eigi eru í sǫgu sett. Hann gerðisk nú mikill vexti; eigi vissu menn gǫla afl hans, því at hann var óglíminn. Orti hann jafnan vísur ok kviðlinga ok þótti heldr níðskældinn. Eigi lagðisk hann í eldaskála ok var fátalaðr lengstum. ⁶⁹⁵

 Cook 1982– 1985, S. 136. Vgl. Ármann Jakobsson 2003, S. 17– 18.  Grettirs Figur ist bereits ausgehend von der Ursache-Wirkung-Problematik bei seiner Figureneinführung als zweideutig angelegt. Er selbst reagiert auf seine erste Tötung eines Menschen mit Zweideutigkeit in einer Strophe, die er als Reaktion darauf aufsagt, vgl. Poilvez 2016, S. 22– 23. Auf dem Weg zum Alþingi macht sich ein Mann namens Skeggi während eines Streits über Grettirs Unterlegenheit gegenüber Auðunn lustig und wird daraufhin von Grettir getötet. Diese erste Tötung ist somit die unmittelbare Folge dieses gegen Grettir gerichteten Spotts, vgl. Larrington 2008, S. 162. Die Szene kann darüber hinaus so verstanden werden, dass Grettir sich hier in einer Notwehrsituation befindet, da Skeggi mit der Axt auf ihn zu rennt – dies würde Sympathien der Rezipierenden für Grettir erzeugen und so zu einer positiveren Bewertung dieser Szene führen, vgl. Hawes 2008, S. 30 – 31.  Evans 2019, S. 115.  Grettis saga, S. 42; »Viele Kinderstreiche spielte Grettir, die in dieser Saga nicht erzählt werden. Er wurde nun sehr groß; die Leute kannten seine Kräfte nicht vollständig, weil er sich nicht an Ringkämpfen beteiligte. Er dichtete stets Strophen und kleinere Verse und schien eher dem Níð-Dichten zugewandt. Er lag nicht vor der Kohlengrube und war sehr schweigsam.«

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Dieser abschließende Erzählerkommentar über Grettirs kindliche Eskapaden weist erneut in die Richtung einer unterschiedlichen Beurteilung von Kindern und Erwachsenen, da »[t]he word bernskubrǫgð ›childish pranks‹ indicates that the reader is not to take the heroʼs actions seriously«.⁶⁹⁶ Schließlich wird auch seine Transformation zum Erwachsenen beschrieben, da er wächst und offensichtlich stärker wird, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt noch eine Kraftprobe aussteht. Die Schilderung, dass er sich nicht an Ringkämpfen beteiligt, weist auf einen Einzelgänger hin.⁶⁹⁷ Das für diese Untersuchung wichtigste Detail ist aber, dass, wie bereits zu sehen war, unmittelbar nach den drei Aufgaben noch ein weiteres Anzeichen für ein schwieriges Wesen gegeben wird, wenn Grettir als níðskældinn bezeichnet wird.⁶⁹⁸ Kurz nach der Erschlagung Skeggis wird Grettir das erste Mal aus Island verbannt. Sein Vater Ásmundr bittet den befreundeten Kaufmann Hafliði, ihn auf eine Fahrt nach Norwegen mitzunehmen und auf ihn aufzupassen. Hafliði nimmt ihn trotz seiner Bedenken wegen Grettirs schwierigem Charakter freundlich auf.⁶⁹⁹ Kaum an Bord, zeigt er sich ähnlich arbeitsfreudig wie auf dem elterlichen Hof und verweigert sämtliche Mithilfe. Als sie auf hoher See in ein Unwetter geraten, kommt es zu einer unschönen Szene: Einn dag var þat, at veðr var bæði hvasst ok kalt; þá kǫlluðu sveinar, báðu Gretti nú duga, – ›því at oss kólnar á klónum.‹ Grettir leit upp ok mælti: 13. Happ ‘s þat, ef hér skal kroppna hverr fingr á kyrpingum. Ekki fengu þeir af honum starfann, en líkaði nú verr en áðr, ok kváðu hann skyldu taka gjǫld á sjálfum sér fyrir níð sitt ok lǫgleysu þá, er hann gerði. ⁷⁰⁰

Auf den ersten Blick erscheint es, weshalb die Seeleute hier Grettirs – man muss davon ausgehen: exemplarisch – zitierte Strophe als níð qualifizieren, da sie augenscheinlich nur die vor Kälte verkrampften Finger der anderen zum Inhalt hat und sie auf eine nicht explizit ergi-bezogene Weise beleidigt.⁷⁰¹ Aber aufgrund des kontextuellen

 Ármann Jakobsson 2003, S. 17.  Diese Tatsache könnte ihm als Makel ausgelegt werden, wenn man sich die Bedeutung von Ringkämpfen für die Sagagesellschaft vor Augen hält, vgl. dazu Wetzler 2014.  Vgl. zur Bedeutung der Begriffe níðskar und níðskældinn bei der Figurenexposition von níð-Anwendern Kap. 4.2.1.  Grettis saga, S. 48 – 50.  Grettis saga, S. 51; »Eines Tages war das Wetter stürmisch und kalt; da riefen die Männer und baten Grettir, sich nützlich zu machen, – ›uns frieren nämlich die Hände ab!‹ Grettir sah auf und sprach: ›Wunderbar ist‘s, wenn sich hier zusammenkrümmt/ jeder Finger bei den erbärmlichen Kerlen.‹ Sie bekamen von ihm keine Mitarbeit, und es gefiel ihnen noch weniger als vorher schon. Sie sagten, er werde noch den Preis bezahlen für sein níð und seine Gesetzlosigkeit, die er an den Tag legte.«  Eine ähnliche nicht gänzlich aufzulösende Diskrepanz zwischen der textuellen Bezeichnung als níð und dem sehr harmlosen Inhalt der damit bezeichneten überlieferten Strophe findet sich im Þorleifs

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Hinweises auf níð ist es ist durchaus denkbar, hier eine elaboriertere Beleidigung anzunehmen als die zunächst recht plump erscheinende Bezeichnung der Kaufleute als kyrpingar (»elende Kerle«). Gerade die von den bittenden Seeleuten angesprochene Kälte aufgrund der widrigen Witterungsverhältnisse spricht für eine erweiterte Lesung von Grettirs Strophe: Die äußeren Umstände sind auf Hafliðis Schiff ähnlich wie in der Szene, in der Grettir auf Kengála aufpassen musste. Insofern findet hier eine narrative Spiegelung der Situation statt, in der Grettir als Kind frierend auf die Stute Kengála aufpassen musste. Das folgerichtige Resultat ist die deutliche Verstimmung unter den so beleidigten Männern, die uns vom Erzähler durch die Wiedergabe von deren Drohungen mitgeteilt wird. Unmittelbar im Anschluss an diese Szene schaltet sich Hafliði ein und versucht zu vermitteln: Veðrit gekk upp at eins; stóðu þeir þá í austri, svá at dœgrum skipti; þeir heituðusk þá við Gretti. Ok er Hafliði heyrði þetta, gekk hann þar at, er Grettir lá, ok mælti: ›Eigi þykki mér samkeypi yðvart kaupmanna gott; þú gerir þeim ólǫg, en níðir þá á svá gǫrt ofan, en þeir heitask at steypa þér fyrir borð; nú er slíkt ótiltœkiligt.‹ ⁷⁰²

Der große zentrale Störfaktor für die Fahrt neben Grettirs fehlender Bereitschaft zur Mithilfe ist aus der Sicht von Hafliði und seinen Gefährten die Freude am Dichten von Níð-Strophen. Beides sind Wesenszüge, die bereits im Einführungskapitel in Grettirs Figur eingeschrieben werden und hier nach dem kindlichen Alter nochmals zum Tragen kommen. Generell lässt der Erzähler bis zu diesem Punkt des Kapitels keinen Zweifel, dass sich Grettir hier von seiner schlechtesten Seite zeigt: »Other words used in this context, like óþolanda, ólǫg, ótiltœkiligt, and ógeranda (p. 52) [Anm.: ›unertrgäglich‹, ›rechtswidrig‹, ›nicht zielführend‹, ›unmöglich‹⁷⁰³] show that Grettir is at his worst at the beginning of this episode.«⁷⁰⁴ Es ist daher naheliegend, wenn der Erzähler das weitere Gespräch zwischen den beiden für die zusätzliche vertiefte Charakterisierung von Grettir nutzbar macht. Nachdem Grettir sich uneinsichtig zeigt (›Hví munu þeir eigi ráða tiltekðum sínum?‹),⁷⁰⁵ regt Hafliði an, er solle doch eine Strophe über ihn dichten, um die Laune der anderen zu heben (›Þeir finna at við þik, at þú níðir þá; nú vil ek,‹ sagði Hafliði, ›at þú kveðir til mín nǫkkura níðvísu, ok má vera, at

þáttr jarlaskálds, der im Kap. 4.4.2 besprochen wird. Almqvist hat ebenfalls den auf den ersten Blick nicht erkennbaren Bezug zu ergi angemerkt, wobei seine Deutung des ergi-Begriffs deutlich stärker rein auf den passiven homosexuellen Verkehr eingeschränkt zu sein scheint, vgl. Almqvist 1965, S. 69.  Grettis saga, S. 52; »Ein Sturm kam mehr und mehr auf und sie standen Tag und Nacht beim Wasserschöpfen; da drohten sie Grettir. Und als Hafliði das hörte, ging er dorthin, wo Grettir lag, und sprach: ›Ich habe nicht das Gefühl, dass du und die Kaufleute einen guten Umgang habt. Du handelst ihnen gegenüber rechtswidrig, und darüber hinaus dichtest du níð – sie drohen schon, dass sie dich über Bord werfen. Das ist so nun wirklich nicht zielführend.‹«  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. óþolanda, ólǫg, ótiltœkilegt bzw. ógeranda.  Cook 1982– 1985, S. 140.  Grettis saga, S. 52; »›Warum kümmern die sich nicht um ihren eigenen Kram?‹«

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þeir umberi betr við þik.‹)⁷⁰⁶ – hier bietet sich dem Erzähler die Gelegenheit für eine vertiefte und differenziertere Charakterisierung, die sich wieder von der ausschließlich negativen indirekten Charakterisierung durch die Seeleute entfernt. Grettir lehnt Hafliðis Ansinnen zunächst erschrocken ab und verweist auf die Tatsache, dass er niemals (aldri) eine negative Strophe über ihn dichten werde. Hafliði spiele in einer ganz anderen Liga als die kyrpingar, gemeint sind wieder die Kaufleute, mit denen er unterwegs ist und die Grettir eben noch mit níð bedacht hat. Hafliði, der wohl mit einer solchen Reaktion gerechnet und seinen Vorschlag damit in Erwartung von Grettirs Ablehnung unterbreitet hat,⁷⁰⁷ wandelt die Idee um: ›Kveða má svá, at fegri sé vísan, ef grafin er, þótt fyrst sé eigi allfǫgr.‹ ⁷⁰⁸ Darauf schließlich lässt sich Grettir ein, so dass die beiden eine Begegnung an Deck inszenieren, während der Grettir eine Strophe über Hafliði aufsagt. Und tatsächlich sorgt diese Strophe für einen brüchigen Frieden auf dem Schiff: 14. Annat vas, þás inni át Hafliði drafla, hann þóttisk þá heima, hvellr at Reyðarfelli; en dagverðar darra dóms skreytandi neytir tysvar Tveggja nesja takhreins degi einum. Kaupmǫnnum þótti allilla, ok sǫgðu, at hann skyldi eigi til einskins gera at níða Hafliða bónda. Hafliði mælti þá: ›Nóga hefir Grettir verðleika til þess, þótt þégerðuð honum nǫkkura smán, en eigi vil ek hafa sœmð mína í veði til móts við illgirni hans ok forsjáleysi; nú munu vér þessa ekki at sinni hefna, meðan vér erum í svá miklum háska staddir, en minnizk þessa þá, er þér komið á land, ef yðr líkar.‹ Þeir svǫruðu: ›Mun oss eigi mega sem þér? Hvat mun oss heldr bíta níð hans en þík?‹ ⁷⁰⁹

 Grettis saga, S. 52; »›Sie werfen dir vor, dass du níð dichtest. Jetzt will ich, dass du eine níð-Strophe auf mich dichtest, und es kann sein, dass sie etwas Nachsicht mit dir üben‹, sagte Hafliði.«  Anders lässt sich nicht erklären, dass eine Figur in einem altnordischen Text darum bittet, dass níð über sie gedichtet wird: Immerhin bringt Hafliði sich damit in eine Position, in der potenziell beleidigende Verse über ihn öffentlich vorgetragen werden. Sein Vorschlag beinhaltet daher eine sehr starke Unterordnung gegenüber Grettir, vgl. Evans 2019, S. 133.  Grettis saga, S. 52; »›Es kann auch so gedichtet sein, dass die Strophe schöner wirkt, wenn man ihren Sinn herausfindet, auch wenn sie zunächst nicht sehr schön zu sein scheint.‹«  Grettis saga, S. 52– 53; »›Es war anders, als Hafliði drinnen geronnene Milch aß, er schien da daheim zu sein, der Laute, am Reyðarfell. Nun genießt der Krieger zweimal an einem Tag das Frühstück der Seeleute.‹ Den Kaufleuten gefiel das äußerst schlecht, und sie sagten, dass er nicht umsonst níð über den Bauern Hafliði machen solle [=sie es ihm heimzahlen würden]. Hafliði sprach da: ›Grettir hat es hinreichend verdient, dass ihr ihm Schande bereitet! Aber ich will nicht, dass meine Ehre wegen seiner Boshaftigkeit und seinem Leichtsinn auf dem Spiel steht. Wir werden das lieber nicht an ihm rächen, während wir uns in so großer Gefahr befinden. Erinnert euch aber dessen, sobald ihr an Land gekommen seid, wenn ihr wollt.‹ Sie antworteten: ›Sollten wir das nicht genauso können wie du? Was soll uns sein níð auch eher beißen als dich?‹«

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Diese Strophe ist in zweifacher Hinsicht schwierig: Der Bezug zur níð-Thematik soll hier per se schon so verschleiert hergestellt werden, dass es nahezu unmöglich erscheint, ihn zu erkennen.⁷¹⁰ Am ehesten denkbar scheint eine angenommene Verbindung zwischen dem Aufnehmen und von sich geben von Milch zu sein, die je nach Kontext mit Unmännlichkeit in Verbindung stehen kann.⁷¹¹ Unabhängig vom exakten Inhalt der Strophen wird an dieser Stelle jedenfalls deutlich, wie stark der Themenkomplex níð innerhalb der Erzählung zu strategischen Zwecken funktionalisiert wird. Mit Blick auf die rechtlichen Regelungen dürfte es absolut ausgeschlossen sein, dass eine reale Person – im Gegensatz zur literarischen Figur Hafliðis – zweideutige Strophen über sich verlangen sollte, wenn sie noch halbwegs bei Verstand wäre.⁷¹² Durch Grettirs Einwilligung in Hafliðis Forderung mündet der scheinbar unlösbare Konflikt mit den Kaufleuten in eine tragfähige Lösung. Die (blutige) Rache an Grettir, die nach den erzählerischen Gesetzmäßigkeiten des níð aus der Sicht der Kaufleute zwingend notwendig ist, wird durch den Verweis auf die Wetterlage für den Moment verdrängt und auf später verschoben. Eine sehr ähnliche Ausgangslage finden wir in der Fóstbrœðra saga, wo ein sich abzeichnender Konflikt ebenfalls mit einem Verweis auf die Situation auf See ausgebremst wird.⁷¹³ Tatsächlich wird die Rache der Kauf-

 Diesen Beobachtung liefert Almqvist, der die Strophe wie folgt ins Schwedische übersetzt: »Det var annorlunda, då Hafliði inomhus åt ystad mjölk; han tyckte sig då, den högröstade, vara hemma på Reyðarfell (herre i sitt eget hus). Nu spisar krigaren skeppsfolkets frukost två gånger på samma dag«, Almqvist 1965, S. 69.  Dies erfordert die Lesung von en dagverðar darra/ dóms skreytandi neytir/ tysvar Tveggja nesja/ takhreins degi einum in der Art, dass »zweimal essen« im Sinne von »erbrechen« interpretiert wird – damit würde auf eine mangelnde Seetauglichkeit Hafliðis angespielt. Für Kock bedeutet das zweimalige Essen, dass Hafliði auf den ersten Blick gierig erscheine, wenn er zweimal ein Frühstück zu sich nehme, auf den zweiten Blick bedeute es aber, dass er früher als jeder andere auf den Beinen sei, Kock 1923 – 1944, §1570. Zur möglichen gedanklichen Verbindung zwischen Milch und Unmännlichkeit vgl. Tirosh 2016, S. 258 – 266. Im Þorgríms þáttr Hallasonar wird augenscheinlich diese gedankliche Verbindung für gezielten Spott gegenüber seiner Hauptfigur ausgenutzt, vgl. darüber hinaus zum Thema Milch Kap. 4.1.6. Die mögliche negative Bedeutung könnte sein, dass der sonst gute Speise gewöhnte Hafliði nunmehr zweimal täglich die einfache Mahlzeit der Seeleute zu sich nehmen muss – das wäre auf den ersten Blick ein Statusverlust, dürfte ihn aber in der Gunst der Seeleute steigen lassen,vgl. dazu Almqvist 1965, S. 69, Kock 1923 – 1944, §1570. Kraus weist darauf hin, dass auch an anderer Stelle in der Grettis saga Milch zum gezielten männlichkeitsbezogenen Spott eingesetzt wird, Kraus 2013, S. 210, wobei für sie an dieser Stelle (ähnlich wie für Kock) drafli mit der isländischen Heimat verbunden zu sein scheint, die mit dem Leben zur See kontrastiert wird, Kraus 2013, S. 215.  Eine ähnliche literarische Funktionalisierung von Umständen, die aus rechtsgeschichtlicher Perspektive deutlich anders beurteilt würden, findet sich bei der narrativen Nutzbarmachung von Landstreicherfiguren, die in Kap. 4.4.1 näher vorgestellt werden.  Fóstbrœðra saga, S. 222– 223: Skúfr mælti: ›Þat er eigi sami, at menn sé ósattir á kaupskipum í hafi, því at þar fylgir mart til meins, ok sjaldan mun þeim skipum vel farask, er menn eru ósáttir innan borðs. Nú viljum vér beiða ykkr, at þit setið grið meðal ykkar, meðan þit eruð í hafi á skipi.‹ Nú var svá gǫrt; »Skúfr sprach: ›Das gehört sich nicht, dass Männer auf einem Schiff auf hoher See uneinig sind, denn darauf folgt viel Schaden. Selten ergeht es Schiffen gut, wenn die Männer an Bord uneinig sind. Ich fordere

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leute an Grettir dann nie vollzogen, da Grettir von Hafliði im Sturm zur Mithilfe bewegt werden kann und er sich so bei den Kaufleuten in gewisser Weise rehabilitiert.⁷¹⁴ Insgesamt gewinnen wir durch diese Episode neue Eindrücke von ihm, die seine bisherigen Charakterisierungen etwas relativieren: We learn two things about Grettir from this: first, that he does not behave badly toward all men indiscriminately (he says later, in a different context, »eigi geri ek mér alla menn jafna,« p. 65), but that in fact his nastiness is directed only toward those he considers inferior. Such a sense of discrimination is not altogether unattractive, especially when it is combined with true admiration for superior persons, such as Grettir shows for Hafliði, The second thing we learn is that when he is presented with a challenge by someone he admires, Grettir responds positively.⁷¹⁵

Spätestens an diesem Punkt dürfte klar geworden sein, dass die eingangs erwähnte Glámr-Episode tatsächlich nicht als singuläres auslösendes Ereignis für Grettirs zwiespältigen Charakter und mithin seine soziale Außenseiterrolle steht,⁷¹⁶ sondern diese Eigenschaften viel früher in seine Figur eingeschrieben werden. Ein Quell für sein sprunghaftes Verhalten ist bereits in seinem Konflikt mit dem Vater zu suchen, in dessen Verlauf und Zuspitzung die Szene mit dem angedeuteten níð des Vaters gegen seinen Sohn einen Höhepunkt einnimmt. Im Gegensatz zu vielen Skaldenfiguren, die bereits im Zuge ihrer Figureneinführung mit der früh angelegten Bereitschaft zum níð in Verbindung gebracht werden, wird dieser Zusammenhang bei Grettir erst nach den initialen Erlebnissen seiner Kindheit hergestellt und direkt darauf bei der Fahrt auf Hafliðis Schiff im Jugendalter (oder, mit den einleitenden Worten zur Adoleszenz im Hinterkopf, weniger modern gesprochen: als junger Erwachsener) verfestigt. Gleichzeitig wird aber auch ein differenzierteres Bild von seinem Charakter gezeichnet, indem gezeigt wird, wie sehr er sich der disruptiven Wirkung von níð selbst bewusst ist. Zudem springt er in einer Notsituation helfend bei und kommt so zumindest ein wenig für das vorangegangene Unrecht auf.

euch jetzt auf, den Zwist zwischen euch beizulegen, solange ihr auf dem Schiff und auf hoher See seid.‹ Und so geschah es.«  Dass das Thema ›Rache‹ letzten Endes nicht weiter aufgegriffen und zu einem konsequenten Ende geführt wird, wird erzählerisch zumindest durch einen Schiffbruch und die daran anschließende Handlung zusätzlich glaubhaft gemacht: das Schiff läuft wegen aufziehenden Nebels auf Grund, so dass die Mannschaft gezwungen ist, auf einem Beiboot an die norwegische Küste zu fliehen, Grettis saga, S. 55 – 56. Mit einem Schiffbruch und einer daher nicht unmittelbar auserzählten Streithandlung endet die eben erwähnte Episode in der Fóstbrœðra saga. In beiden Texten entfällt durch den Schiffbruch eine normale Ausgangssituation für die angekündigte und zu erwartende physische Konfliktlösung.  Cook 1982– 1985, S. 140.  In Wahrheit beginnt sich diese Charakterisierung schon während seiner Kindheit herauszubilden: »[A]s an adult, Grettir turns against society, as he once turned against his father«, Merkelbach 2019, S. 57. Auch vor dem Hintergrund einer überbordenden Männlichkeit ist seine Figur gelesen worden, vgl. Evans 2019, S. 107– 143.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Im Gegensatz zu Grettir erhalten wir über Klaufis familiären Hintergrund von Beginn an nicht sonderlich viele Informationen. Er erhält keine dezidierte Figureneinführung, was nicht zuletzt dem schwierigen Überlieferungszustand der Svarfdœla saga geschuldet sein mag. Klaufi wird von Gríss, einem Verwandten Ljótólfrs aus dem Svarfaðardalr, nach Island gebracht und ist ab da die meistfokussierte Figur zu Beginn des zweiten Teils der Saga. Auf einer Reise in Norwegen kommt eine Frau mit zwei Kindern zu Gríss und bittet ihn, sie gegen die Zahlung von viel Geld nach Island zu ihrem Bruder Þorsteinn svǫrfuðr mitzunehmen.⁷¹⁷ Beide Kinder wurden von Snækollr Ljótsson gezeugt, der berserkerhafte Züge trägt.⁷¹⁸ Dessen mutmaßlicher Vater wiederum ist jener Ljótr bleiki, den im ersten Teil der Saga Þorsteinn Þorgnýsson mit Hilfe von níð überwindet.⁷¹⁹ Bei den Kindern handelt es sich um Klaufi und seine Schwester Sigríðr. Wenn Gríss anlässlich der gebotenen Summe und der genannten Verwandtschaft der Kinder nachhakt, wie die Mutter der beiden trotz der guten Herkunft so sehr verarmen konnte,⁷²⁰ lenkt diese Nachfrage nochmals den Fokus auf die Tatsache, dass Klaufi und seine Schwester nach den Maßstäben der Sagagesellschaft durchaus von gehobener Geburt sind: Immerhin ist ihr Onkel (oder Großvater, je nach Version der Saga)⁷²¹ der namensgebende Siedler im nordisländischen Svarfaðardalr, in dem sich der größte Teil der Handlung abspielt. Zurück in Island lässt sich Þorsteinn von seiner Verwandtschaft mit den beiden Kindern überzeugen und er nimmt sie formell in die Familie auf: Um morguninn, er þeir sátu undir borðum, bað Þorsteinn færa sér bǫrnin, ok gerði hann meyjunni þann þykk, at hon grét þegar, en sveininn lék hann miklu harðara, ok þagði hann. ⁷²² Auf diese Probe hin bietet er Gríss eine Bezahlung für das Aufziehen der beiden Kinder an, wobei er für Klaufi das Doppelte wie für Sigríðr bietet – den Grund für diese unterschiedliche Bezahlung solle er sich selbst aussuchen. Gríss entscheidet sich dafür, den zweijährigen Klaufi bei sich aufzunehmen und ihn – zu diesem Zeitpunkt möglicherweise bereits in der Antizipation einer gewissen physischen Konstitution – viel arbeiten zu lassen. Þorsteinn stimmt zu und die Ziehelternschaft wird öffentlich gemacht.

 Svarfdœla saga, S 154.: Kona kom til fundar við Grís ok hafði tvau bǫrn meðferðar ok beiddi Grís, at hann mundi flytja bǫrnin til Íslands. […] Hon kvað móðurbróður barnanna í því heraði, sem hann átti bú – ›ok heitir Þorsteinn svǫrfuðr‹; »Eine Frau kam zu Gríss und sie hatte zwei Kinder bei sich und bad Gríss, dass er die Kinder nach Island bringen möge. […] Sie nannte den Onkel der Kinder in der Gegend, wo er wohnte – ›und er heißt Þorsteinn svǫrfuðr.‹«  Vgl. Merkelbach 2019, S. 108.  Vgl. dazu Kap. 4.2.2.4. Die Besprechung der erzählerischen Herleitung der Genealogie der Berserkerfamilie in der Svarfdœla saga ist Kap. 4.4.5 vorbehalten.  Svarfdœla saga, S 154; ›Hví ertu svá dálig orðin af svá góðum ættum?‹; »›Wie bist du so elend geworden, die du aus so gutem Geschlecht stammst?‹«  Zu dieser Problematik vgl. Merkelbach 2021 (in Vorbereitung).  Svarfdœla saga, S 155; »Am Morgen, als sie bei Tisch saßen, bat Þorsteinn darum, dass ihm die Kinder gebracht würden, und er gab dem Mädchen einen Klaps, so dass sie sofort weinte. Aber den Jungen schlug er viel härter, und dieser schwieg.«

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Im darauffolgenden Kapitel begegnen wir dem nunmehr zehnjährigen Klaufi, der sich dem nicht näher spezifizierten ragmæli eines Freundes von Ljótólfr namens Þórðr fangari ausgesetzt sieht. Das Stäbchen mit dem ragmæli darauf wird Klaufi von seinem Freund Heklu-Skeggi überbracht. Der inneren Logik von níð folgend erbittet er sich als unmittelbare Reaktion auf die Kenntnis dieses Stäbchens von seinem Ziehvater Gríss eine Axt, um sich rächen zu können. Es heißt, dass er die Axt nicht ohne Weiteres erhalte: En um morguninn kallar Klaufi til ǫxar við Grís ok fekk eigi, fyrr en hann ógnaði honum til. ⁷²³ Diese hier nicht weiter begründete Reaktion ähnelt derjenigen von Grettirs Vater Ásmundr, der seinem Sohn die verlangte Waffe verweigert, selbst wenn die ziehväterliche Reaktion hier in ihrer Drastik letztlich nicht an jene heranreicht. Sie gibt aber einen Hinweis darauf, dass es mit dem Verhältnis zwischen Klaufi und seinem Ziehvater ebenfalls nicht zum Besten steht. Ratschlag holt Klaufi sich schließlich bei seinem Verwandten Þorsteinn svǫrfuðr, womit sich das Motiv des Vaterrats nach der Lakune wiederholt und spiegelt: Im ersten Teil der Saga war es der von der Erzählung fokussierte Vorfahre von Þorsteinn svǫrfuðr, Þorsteinn Þorgnýsson, der sich bei seinem Vater Rat holte, um seine Tapferkeit unter Beweis stellen und Ehre erwerben zu können.⁷²⁴ In der Folge besiegte er Ljótr bleiki mit Mitteln des níð. ⁷²⁵ Nun wird uns mit Klaufis Ersuchen an Þorsteinn svǫrfuðr ein väterlicher Rat unter umgekehrten erzählerischen Vorzeichen präsentiert. Männlichkeit und Ehre müssen hier nicht erworben werden, sondern sie stehen durch das ragmæli unter Bedrohung und müssen verteidigt werden. Anders als sein Vorfahr steht Klaufi hier auf der anderen Seite des níð und erscheint insoweit als die Kontrastfigur des alten Þorsteinn. Þorsteinn reagiert beschwichtigend, als Klaufi ihm von Þórðrs Schmähung erzählt und fragt, wie er damit umgehen solle. Klaufi solle, so sein Rat, selbst seine Kräfte einschätzen und darauf basierend seine Entscheidung treffen. In seiner Entgegnung darauf nimmt Klaufi Bezug auf sein junges Alter: ›Þó at ek sé ungr [at] aldri, þá er mér þó leitt at liggja undir ragmæli þræls þess, ok vil ek, at þú farir með mér, ok prófum, hversu gengr.‹ ⁷²⁶ Damit macht er deutlich, dass er sich trotz seines Alters – wir erinnern uns: Volljährigkeit im Rechtssinne erlangten Individuen für gewöhnlich mit 15 Jahren – nicht der rechtlichen und sozialen Dynamik von níð entziehen möchte. Þorsteinns Aussage und Klaufis Reaktion darauf legen den möglichen Rückschluss nahe, dass in Klaufis Alter ein Grund vorliegt, der aus Þorsteinns Sicht ein Ignorieren von Þórðrs níð

 Svarfdœla saga, S. 157; »Und am Morgen fragte Klaufi bei Gríss nach einer Axt, und er bekam sie nicht, bevor er ihm drohte.«  Es wurde die Annahme geäußert, dass es sich um dieselbe Figur handeln müsse, vgl. Finnur Jónsson 1886, S. 125. Dagegen spricht jedoch auf textueller Ebene einiges: »Í seinna hluta sögunnar er Þorsteinn svörfuður aldrei kallaður Þorgnýsson og þess ekki getið, að kona hans héti Ingibjörg«, Jónas Krisjánsson 1956, S. lxxv, wo er noch mehr Argumente gegen Finnurs Lesung aufführt. Auch Heinemann 1997, S. 239 – 240, vertritt die Auffassung, dass der »zweite« Þorsteinn der Sohn des »ersten« ist.  Dies wurde in Kap. 4.2.2.4 besprochen.  Svarfdœla saga, S. 168; »›Obwohl ich jung bin, möchte ich nicht dem ragmæli dieses Knechts unterliegen. Ich möchte, dass du mitkommst und wir sehen, wie es ausgeht.‹«

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ohne schwerwiegende soziale Konsequenzen ermöglichen könnte. Das Duell selbst ist geprägt von einer Atmosphäre, unter der die Männlichkeit der Duellanten einer starken Geduldsprobe unterworfen wird. In Hof – diesen Ort hat Þórðr festgelegt – werden wir mit Gríss und Þorsteinn neben einigen Umstehenden Zeugen des Ringkampfes zwischen Klaufi und Þórðr: Þeir takast fangbrǫgðum ok glíma lengi, þat til ambátt ein kom í stofudyrrnar ok kallar þetta ambáttafang, er hvárrgi fell, ok bað þá kyssast ok hætta síðan. Klaufi reiddist við þetta ok tekr Þórðr upp á bringu sér ok keyrir niðr fall mikit, svá at allir ætluðu hann meiddan; eptir þat gyrðir Klaufi hann svá fast, at helt við meizl. Kerling ein sat í stofuhorni ok lét allvel yfir þessu verki. ⁷²⁷

Den eindeutig gegen die Männlichkeit der beiden Kämpfer gerichteten Kommentar der Magd nimmt Klaufi als das auf, was er ist, nämlich eine Kränkung, die aus seiner Sicht möglicherweise umso schwerer wiegt, als sie aus dem Mund einer sozial niedrig stehenden Frau stammt. Über diese Kränkung ärgert er sich so sehr, dass er seinen Kontrahenten mit einem entscheidenden Wurf – und zu den Kommentaren einer alten Frau – zu Boden bringt. Die Schilderung seiner Wut ist aufgrund der hier plötzlich auftretenden Innenperspektive innerhalb einer sonst mit der sagatypischen nullfokalisierten Distanz erzählten Passage Grettirs Wutausbruch beim kindlichen Ballspiel ähnlich. Hatte Klaufi sich im Gespräch mit Þorsteinn noch als entschlossen gezeigt, die Demütigung durch Þórðr nicht zu dulden und sich ihm planvoll im Duell zu stellen, erscheint er hier insgesamt jähzornig. Insoweit wirkt der provozierende Zuruf der Magd als Katalysator, der wegen Klaufis aufkommender Wut den Kampf zu einer schnelleren Entscheidung bringt, sobald sein Gegner am Boden liegt. Doch aus erzählstrategischer Sicht scheint Klaufis Jähzorn in Momenten, in denen er seine Männlichkeit in Frage gestellt sieht, noch nicht auserzählt zu sein. Gríss gibt ihm nach dem Kampf Anlass zu einer weiteren wütenden Reaktion, in der wir mehr von Klaufis Wesen erkennen können: Gríss mælti: ›Nafn mun ek gefa þér, Klaufi, ok kalla þik bǫggvi, ok skaltu hafa glófa at nafnfesti.‹ Þórðr komst til bekkjar með fulltingi annarra manna. Þá drífa menn út, ok er Klaufi kom út, mælti hann: ›Illa kann sá feginn at verða, er hann lætr eptir handagervi sína, þó at hann þiggi aðra.‹ Gekk hann þá inn í stofu ok sá, hvar Þórðr sat. Hann færði þá ǫxina í hǫfuð honum, ok fekk hann bana. Klaufi gekk út þegar. Þorsteinn spurði, hví ǫxin væri blóðug. Klaufi mælti: ›Ek bannaða Þórði at bjóða fleirum mǫnnum fang.‹ ⁷²⁸

 Svarfdœla saga, S 157; »Sie begannen mit dem Ringkampf und hatten lange miteinander gerungen, als eine Magd zur Tür hereinkam und dies als Mägdekampf bezeichnete, weil keiner von beiden fiel. Sie forderte sie auf, sich doch zu küssen und dann den Kampf zu beenden. Klaufi wurde darüber wütend und er hob Þórðr auf Brusthöhe hoch und schmetterte ihn so heftig zu Boden, dass alle annahmen, er wäre übel zugerichtet. Danach schlug Klaufi ihn so fest, dass er stark verletzt wurde. Eine alte Frau saß in der Ecke und ließ sich über diese Tat aus.«  Svarfdœla saga, S. 157– 158; »Gríss sprach: ›Ich will dir einem Namen geben, Klaufi, und dich Bǫggvir (›Schadensstifter‹) nennen – hier sind Handschuhe zur Taufe!‹ Þórðr gelangte mit Hilfe einiger anderer zu einer Bank. Die Leute gingen hinaus, und als Klaufi nach draußen kam, sagte er: ›Kaum

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Angesichts des wohl als lahm empfundenen Ringkampfes, den er sich mit Þórðr geliefert hat, wenn wir den geschilderten Reaktionen der Zuschauer Glauben schenken können, erscheint der Spitzname bǫggvir ›Schadensstifter‹ beinahe sarkastisch.⁷²⁹ Dazu kommt der Verweis auf die Handschuhe, denen in dieser Szene eine zentrale Funktion zukommt.⁷³⁰ So wie in der Njáls saga Flosi auf dem Thing neben dem Stoß von Gütern steht, die als Kompensation gedacht sind, und erbost das als Affront aufgefasste Seidenmäntelchen hochhält, das Njáll daraufgelegt hat, scheint Klaufi die Handschuhe hier aufzufassen. Die Provokation seines Ziehvaters entfaltet sich aber erst in dem Moment vollständig vor seinen Augen, als Klaufi die Leute aus dem Gebäude strömen sieht, die zuvor seinem Konkurrenten auf eine Sitzbank geholfen haben. Im Gegensatz zum Wutausbruch, der das Duell beendet hat, findet hier keine interne Fokalisierung statt – Klaufis Motive müssen wir uns aus seinen geschilderten Worten und Verhaltensweisen erschließen. Er ist, das will uns der Erzähler wohl nahelegen, zu der Einsicht gelangt, dass ein bloßer Kräftesieg über Þórðr angesichts der Gesamtumstände des Zweikampfes nicht ausreicht, um sein gesellschaftliches Ansehen wiederherzustellen. Durch das ragmæli auf dem Runenstäbchen sah er sich gezwungen, in einen Kampf einzutreten, während dessen er sich von einer Magd beschimpfen lassen musste und dessen Ende lautstark von einer alten Frau kommentiert wurde – angesichts der gesellschaftlichen Umstände für ihn kein tragbarer Zustand. Im Anschluss an diese Episode wirken der Spitzname und das Paar Handschuhe auf ihn wie zusätzlicher Hohn, worauf die Aussage hindeutet, dass, wer ein Paar Handschuhe verliert, auch dann kaum froh werden kann, wenn er ein neues erhält. Das Paar Handschuhe steht in dieser Interpretation dann für die intakte Männlichkeit und die damit verbundene gesellschaftliche Reputation. Diese wiederherzustellen bedarf aus Klaufis Sicht der physischen Vernichtung desjenigen, der den Ehrverlust initiiert hat: Erst durch Þórðrs Tod ist das ragmæli gegen Klaufi wieder aus der Welt geschafft; es hat am Ende demjenigen den Untergang gebracht, der es in Umlauf gebracht hat und dieser kann niemandem mehr Schaden zufügen. Für den jungen Klaufi ist diese Tötung eines anderen Mannes nur die erste, der sich noch mehrere anschließen, während sich die familiäre Anlage zum Berserker in ihm weiter ausprägt.⁷³¹

kann einer, der seine Handschuhe sucht, glücklich werden, selbst wenn er andere bekommt.‹ Er ging zurück nach drinnen und sah dorthin, wo Þórðr saß. Er hieb ihm die Axt in den Kopf, und Þórðr starb davon. Klaufi ging dann wieder nach draußen. Þorsteinn fragte ihn, warum seine Axt blutig sei. Klaufi sagte: ›Ich habe Þórðr davon abgehalten, andere Männer zum Zweikampf herauszufordern.‹«  Klaufis Spitzname ist auch in der Landnámabók belegt, wo er in den Handschriften entweder als bøggvir oder boggnir begegnet, vgl. Landnámabók, S. 253, Fn. 7.  Dies umso mehr, als Kleidergeschenke zwischen sozial gleichgestellten Isländern für gewöhnlich eine sehr große Rolle spielen und als Mittel zur Bekräftigung von sozialen Bändern dienen, vgl. Sauckel 2014, S. 49.  Vgl. Merkelbach 2019, S. 108.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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Beobachtbar wird sein Hang zu problematischen Verhaltensweisen vor allem bei der Hochzeit zwischen Gríss und Klaufis Schwester Sigríðr in Grund. Es sind zudem Þorsteinn, sein Verwandter Karl und Klaufi anwesend.⁷³² Gríss schlägt bei seiner Hochzeitsrede einen mannjafnaðr zwischen den Anwesenden vor.⁷³³ Trotz der Bedenken, die Þorsteinn äußert, wird diese Idee in die Tat umgesetzt und es heißt: Þorsteinn sagði þat óvitrliga til lagit, – ›ok mun þaðan jafnan margt koma, sem Gríss er.‹ Eigi at síðr halda þeir á þessu tali, ok hóf Karl inn rauði þat fyrst ok tók sér jafnaðarmann Ljótólf goða ok strengdi þess heit, at hann skyldi hafa heimilat ragmæli á hendr honum á þriggja vetra fresti. ⁷³⁴

Im Anschluss daran wählt Gríss als Partner für den Männervergleich Skíði und schwört, alle Häfen anzusteuern, die dieser ansteuert. Klaufis jafnaðarmaðr ist Ólafr Ásgeirsson. Klaufi schwört, dass er mit Ljótólfrs Geliebter Yngvildr ohne dessen Einwilligung das Lager teilen werde. Die Eide erklären im Kontext der bisherigen Schilderungen in der Saga Þorsteinns Bedenken: Auf der Hochzeit in Grund werden scheinbar beiläufig soziale Existenzen aufs Spiel gesetzt, denn was ragmæli für denjenigen bedeutet, dem es anhaftet, wurde innerhalb der Saga anhand der Episode zwischen Klaufi und Þórðr – und auch in dem Abschnitt vor der großen Lakune – bereits deutlich durchexerziert. Darüber hinaus wird an dieser Stelle ein neuer Diskurs aufgegriffen, der die Saga im weiteren Verlauf auszeichnet, nämlich die Machtausübung durch Sexualität, indem Klaufi Yngvildr für sich beansprucht. Karras bringt bringt ihre Rolle in der Saga auf den Punkt: »She is emblematic of the way men in the sagas use sex to exercise power over each other«.⁷³⁵ Die Geschehnisse um Yngvildr sollen in diesem Zusammenhang jedoch nur ansatzweise beleuchtet werden, soweit sie für die Belange dieses Kapitels Relevanz besitzen. Eine schwierig zu deutende und mit explizit angedeuteter níð-Symbolik aufgeladene Szene wird uns kurz vor der Episode geschildert, in der Klaufi es schlussendlich durch eine List schafft Yngvildr zu erringen und die großspurig angekündigten Versprechungen im Rahmen des mannjafnaðr einzulösen: Ok nú ferr Karl til heiðarinnar ok kemst eigi lengra en upp í heiðina; þá varð þat til tíðenda, at Klaufi fell af baki; þá drápu þeir hross eitt, er laust hljóp með þeim, ok flógu af skinn ok þǫndu um Klaufa ok bundu hann um þvert bak á hrossi ok snúa við þat ofan eptir dalnum ok fundu Ásgeir fyrir neðan Vatnsdalsá. ⁷³⁶

 Bei Karl handelt es sich entweder um Þorsteinns Sohn oder seinen Bruder.  Svarfdœla saga, S. 165.  Svarfdœla saga, S. 165; »Þorsteinn sagte, dass das unklug geplant sei, ›und so etwas kann nur von Grísskommen.‹ Sie hielten nach diesem Einwand nicht weniger daran fest, und Karl inn rauði fing an und wählte sich den Goden Ljótólfr als jafnaðarmaðr und legte das Gelübde ab, dass er vor Ablauf von drei Wintern beweisen werde, dass man diesen zu Recht argr nennen könne [wörtlich etwa: »dass er ein ragmæli zu dessen Lasten innerhalb der Frist von drei Wintern bewiesen haben werde«].«  Karras 1992, S. 300 – 301, Fn. 13.  Svarfdœla saga, S. 168; »Nun ist Karl auf dem Weg zum Hochland und kommt nicht weiter hinauf als ein Stück des Hochlandes. Da war das zu vermelden, dass Klaufi vom Pferderücken fiel. Sie töteten

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

Im unmittelbaren Anschluss an das Treffen beim Fluss teilen sie Ásgeirr in Anspielung auf Klaufis Sturz vom Pferd mit, sie seien mit dem »gefallenen Klaufi« unterwegs (›fǫrum hér með Klaufa veginn‹).⁷³⁷ Karl droht Ásgeirr dann, er werde seine Leben verlieren, wenn er nicht seine Tochter dem gefallenen Klaufi verspreche. Als er daraufhin Klaufis Hand ergreift und ihm Yngvildr verspricht, gibt Klaufi zu erkennen, dass er in Wahrheit nicht tot ist. Das Eheversprechen ist aber durch den Handschlag besiegelt.⁷³⁸ Insgesamt wirkt es in der Episode, als sei es von Anfang an Klaufis Plan gewesen, sich im Pferdebalg getarnt zu Ásgeirr bringen zu lassen und ihm auf diese Weise das Eheversprechen für seine Tochter abzutrotzen. Uns begegnet hier ein anderer Klaufi als der jähzornige und mitunter völlig untermotiviert zu Tötungen neigende Zehnjährige. Auf einem Pferderücken festgebunden, in ein Pferdefell eingeschlossen – damit gleichsam nach außen hin selbst zum Pferd geworden – ist er untätig, passiv, bis zur Ankunft bei Ásgeirr und der dortigen List. Dass Klaufi für diese List in ein Pferdefell eingewickelt wird, erscheint wie eine äußerst bildhafte Art und Weise, jemanden ›zum Pferd‹ zu machen und geht hinsichtlich der Bildgewalt in dieser Szene weit über die rituelle Gleichsetzung durch Verse oder eine níðstǫng hinaus.⁷³⁹ Ein zentrales Motiv von níð ist immerhin die Gleichsetzung eines Mannes mit einem (weiblichen) Pferd, die in der nordischen Mythologie am radikalsten von Loki vollzogen wird.⁷⁴⁰ Doch obwohl der Sagaerzähler an dieser Stelle zumindest das Bildinventar von níð aufgreift und in den Raum stellt, lässt die Verwendung der Motivik an dieser Stelle einige Fragen offen, die sich nicht zufriedenstellend klären lassen. Man darf getrost zweifeln, ob Klaufi mit dem ganzen Wissen um die Tragweite dieser Symbolik tatsächlich aktiv darum bitten würde, auf eine so ungünstige Weise dorthin transportiert zu werden.⁷⁴¹ Darüber hinaus erweckt die Schilderung über die Häutung des Pferdes eher den Anschein eines spontanen Einfalls. Letzten Endes erscheint es am plausibelsten anzunehmen, dass die Erzählinstanz hier zunächst auf Klaufis vorgetäuschten Sturz vom Pferd eingeht, um dann pointiert zur Szene über das Eheversprechen überleiten zu können. Dass ein mutmaßlich ge-

da ein Pferd, das frei bei ihnen lief und zogen ihm die Haut ab, wickelten sie um Klaufi und banden ihn quer auf einen Pferderücken. Sie wenden sich talwärts und trafen dort Ásgeirr unterhalb der Vatnsdalsá.«  Svarfdœla saga, S 168.  Svarfdœla saga, S. 168 – 169.  Das hier verwendete altnordische Neutrum hross kann sowohl einen Hengst als auch eine Stute bezeichnen, was wohl absichtlich offengelassen wird.  Die verbale Praxis, jemanden »zum Pferd zu machen« (an.: gera meri ór einum) war in der Sturlungenzeit ein Mittel politischer Agitation, wie Sayers anhand eines Textbeleges innerhalb der Íslendinga saga herausstellt, vgl. Sayers 1997. Sayers wirft zudem die Parallele zu Loki auf: ibd. S. 29.  Bei der weiter oben in diesem Kapitel besprochenen Episode mit Hafliði ist der Fall streng genommen etwas anders gelagert, da Hafliði von Grettir Strophen erwartet, die per se gut sind und lediglich am Anfang negativ wirken. Ob Klaufi tatsächlich in allerletzter Konsequenz dazu bereit wäre, sich freiwillig der Bildsprache von níð zu unterwerfen, ist stark zweifelhaft.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

217

übter und erfahrener Reiter wie Klaufi tatsächlich vom Pferd stürzen sollte, wird bereits mit einer gewissen relativierenden Distanz geschildert, die beinahe schon ungläubig wirkt, wenn es heißt þá varð þat til tíðenda, at Klaufi fell af baki. Der Erzähler markiert hier die Wiedergabe von Wissen aus zweiter Hand oder Hörensagen und spricht folglich an keiner Stelle direkt von einem Plan Klaufis bei dem Sturz. Auch im Vorfeld wird nichts davon berichtet. Die Tatsache, dass Klaufi in ein Pferdefell gewickelt wird, wird von den anderen Figuren nicht thematisiert, sie löst also keine intradiegetischen Reaktionen aus. Ihre Funktion besteht in der Motivierung der ›Brautwerbungsszene‹ mit Yngvildrs Vater Ásgeirr. In der Gesamtstruktur der Saga nimmt die Yngvildr-Handlung einen sehr großen Teil ein, da sich ein Großteil der Konflikte und Gewaltausbrüche des zweiten Teils in ihr – und an der Figur Yngvildr selbst – verwirklicht. Das Eheversprechen, mit dem Klaufi seinen Teil der Abmachungen im Rahmen des Männervergleichs auf der Hochzeit seiner Schwester mit seinem Ziehvater einlöst, stellt einen Wendepunkt dar. Es zieht weitgehende Folgen für die Beteiligten des Svarfaðardalrs nach sich und mündet in den wohl grausamsten und exzessivsten Schilderungen von Gewalt gegen Frauen im gesamten Corpus der Isländersagas. Dies und die Tatsache, dass es letztlich Yngvildr ist, die Klaufi töten lässt, gibt potenziell Raum für implizierte Kommentare des Erzählers, wie sie Lönnroth in den Sagas identifiziert hat.⁷⁴² Einen ähnlichen Erzählerkommentar fanden wir bereits in der Njáls saga über Gunnarr, dessen Fylgje als weibliche Bärin mit ihren Jungtieren dargestellt und in einem negativen Kontext sofort mit ihm assoziiert wird.⁷⁴³ Man muss hier im Übrigen gar nicht so weit gehen und unterstellen, der Erzähler würde hier gleichsam selbst in die Handlungsebene eintauchen und aktiv níð gegenüber einer von ihm beschriebenen Figur betreiben. Es ist aber doch hinreichend wahrscheinlich, dass diese Episode ein Substrat für eine weitere Facette der Figur Klaufis bildet, die von zeitgenössischen Rezipierenden im Kontext des initialen níð durch Þórðr verstanden wurde. Auf diese Weise dient diese Schilderung von Klaufis Auftritt als indirekter Erzählerkommentar einer narrativen Programmatik, die eine Missbilligung der Erzählinstanz gegenüber Klaufis nächster Handlung zum Ausdruck bringt – der Überlistung Ásgeirrs bei der »Brautwerbung« um seine Tochter und den Steinen, die er dadurch ins Rollen bringt. Sowohl in Grettirs als auch in Klaufis Fall ist das erzählte Erleben von níð verwoben in eine Kindheit, die geprägt wird von Gewalt und Erniedrigung durch andere, darunter vor allem Vater und Ziehvater, aber auch Spielgefährten, auf die mit physischen Kraftausbrüchen reagiert wird. Sicherlich müssen diese vormodernen Figuren mit höchster Vorsicht einer tiefergehenden psychologisierenden Betrachtung unterzogen werden, jedoch sind die geschilderten Reaktionen und Verhaltensweisen mit dem Wissen um die sozialen Implikationen von níð im Hinterkopf bereits aus sich

 Vgl. Lönnroth 2011.  Vgl. Kap. 4.3.2.1.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

heraus verständlich. In beiden Fällen begleiten níð und der flankierende ergi-Diskurs die beiden Figuren noch durch das spätere Leben: Grettir schreibt sich das Dichten von Spottversen auf die Fahne und macht auf der Schifffahrt mit dem Bauern Hafliði regen Gebrauch von dieser Fertigkeit. Hier wird der Einsatz von níð bewusst ambig gestaltet, da Grettir eine Strophe dichten soll, die auf beide Arten verstanden werden kann. Grettir sieht sich später allerdings selbst dem ätzenden Spott der Bauerstochter auf Reykir ausgesetzt. Mit seinem so geschilderten sehr zwiespältigen Wesen trifft er auf den Wiedergänger Glámr, wobei diese Begegnung zusammen mit den zuvor durchlebten Episoden endgültig seine eingangs erwähnte Position als Außenseiter zementiert. Für Evans stellt Glámr »an external manifestation of the problematic facets of Grettir’s own masculine identity«⁷⁴⁴ dar. Níð liefert in der Folge einer solchen Lesart keine alleinursächliche Erklärung für Grettirs soziale Randstellung; es ist aber durch seine ständig präsente Infragestellung männlicher Identität sehr wohl ein fruchtbarer Nährboden für später folgende Ereignisse, die schlussendlich in Grettirs Abtrennung von der Gesellschaft münden.⁷⁴⁵ Klaufi, dem ein gewisses Gewaltpotential – und damit ähnlich wie bei Grettir übersteigerte Männlichkeit – schon aufgrund des von Merkelbach postulierten »Berserkergens« in seiner Familie in die Wiege gelegt ist, wird durch die gezielte Provokation eines ragmæli und daran anschließende spöttische Kommentare zu seinen ersten Tötungen getrieben. Er lässt sich getrieben von dem Verlangen nach dem Vergleich mit anderen Männern auf einer Hochzeit dazu hinreißen, Versprechen abzugeben, die das Potential haben, das gesamte soziale Gefüge seiner Heimat ins Chaos zu stürzen. Wir beobachten erst, wie er der Frau, um die sich diese Versprechen und ein Großteil der Handlung drehen, den Weg ins Elend bereitet. Schlussendlich wird er von ihren Brüdern getötet, nur um sich dann als völlig entfesselter Untoter zu erheben, der sich, den eigenen Kopf in der Hand schwingend, in den Kampf stürzt und die Lebenden erst in Ruhe lässt, nachdem seine Asche in einer bleiernen Urne unter mehreren Siegeln in einer heißen Quelle versenkt wird.⁷⁴⁶ Die Reiseschilderung zur verhängnisvollen Werbung um Yngvildrs Hand ist in Vorwegnahme dieser Ereignisse gesäumt von einer Inszenierung, die sich der Bildsymbolik von níð bedient. Sie gibt damit dem Erzähler die Möglichkeit, das initiale níð gegen den jungen Klaufi, das in seinen eigenen Augen wohl nur mangelhaft gerächt wird, in eine für aufmerksame Rezipierende als sehr negativ erkennbare kommentierend-warnende Darstellung von Klaufi umzuwandeln. Sofern man sich auf die hier vorgeschlagenen Interpretations-

 Evans 2019, S. 138.  Für Evans 2019, S. 142, stellt die übersteigerte Männlichkeit Grettirs den Grund für seine Unfähigkeit dar, am gesellschaftlichen Leben teil zu haben. Diese Übersteigerung wird gerade in seiner Kindheit sichtbar gemacht, in der er möglicherweise níð ausgesetzt ist – hier funktioniert die Heraushebung seiner Männlichkeit gerade in Abgrenzung von der durch diesen Diskurs in Aussicht gestellten Unmännlichkeit. Der Erzähler kann an Grettir diese Hypermaskulinität, die Evans ihm bescheinigt, genau deshalb plausibel entwickeln.  Svarfdœla saga, S. 207.

4.3 Figurenanalysen II: Der níðingr als Vertreter eines eigenen Hauptfigurentyps?

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ansätze einlässt, ergibt sich ein runderes Bild der Figuren: Beide Biografien gewinnen in ihrem Verlauf durch den narrativen Einsatz von níð ebenso an Tiefe wie die Motivierung der einzelnen Handlungsabschnitte, in denen es zum Tragen kommt. Dieser Effekt tritt bei Klaufi noch einmal um einiges stärker in den Vordergrund als bei Grettir.

4.3.5 Opfer von níð: Zusammenfassung Einen konkreten Hauptfigurentypen níðingr in den Isländersagas festzustellen und zu beschreiben, ist ein schwieriges Unterfangen. Es hat sich aber gezeigt, dass níð ein effektives Instrument sein kann, um Figurendarstellungen an Tiefe gewinnen zu lassen. Der Einsatz dieses Instruments muss allerdings sorgfältig geschehen, wenn es dazu dienen soll, den Protagonisten gestärkt aus einer solchen Episode hervorgehen zu lassen, wie es die Króka-Refs saga mit ihren Fokalisierungswechseln zeigt. Durch das zeitweise erfolgende Kippen in die interne Fokalisierung und die Verlagerung der betreffenden Episode an die kulturelle Peripherie gelingt es ihrem Erzähler, den Rezipierenden zwei Versionen derselben Ereignisse zu präsentieren und Zweifel an der Männlichkeit des Protagnisten auszuräumen. So kann Refr trotz der Tatsache, dass er als einziger im Corpus der Isländersagas den Beinamen inn ragi verliehen bekommt, in seiner Männlichkeit unbeschadet aus Grönland entkommen. Er erfüllt nicht die Kriterien eines níðingr und kann auch keiner der eingangs vorgestellten prähomosexuellen Kategorien zugeordnet werden. Eine gesellschaftliche Bedrohung stellt er allenfalls in der Sicht seiner Feinde dar. Seine Saga gerät so eher zu einer sehr scharfen Analyse der Dynamik von Unmännlichkeitsvorwürfen und der sozialen Logik, nach der níð funktioniert, als zu einer parodistischen Auseinandersetzung mit ihren Vorläufern, wie es Arnold am Ende seiner Untersuchung postuliert.⁷⁴⁷ Darüber hinaus haben wir Exculpierungsstrategien des Erzählers schon bei der Betrachtung von níðAnwendern beobachtet, speziell bei der gezielten Herstellung von Öffentlichkeit oder bei der unterschiedlichen Bewertung von Jǫkull in der Vatnsdœla saga und der Finnboga saga. ⁷⁴⁸ Njáll hingegen wird durch das Aufgreifen der Themenkomplexe von ergi und níð in seiner Saga gezielt als sehr ambige Figur gestaltet. Eine untypische Figureneinführung, motivische Anleihen aus der Bildsprache von níð, mehrfache Motivierungen und Andeutungen machen es den Rezipierenden schwer, ein eindeutiges Bild von Njáll zu fassen. Durch die Vorwürfe seiner größten Feindin Hallgerðr sehen wir das Bild eines effeminierten und unmännlichen alten Mannes, der nicht in der Lage ist,

 Arnold 2003, S. 216. Auch Merkelbach lehnt die Interpretation der Saga als Parodie ab und bescheinigt ihr, dass » by exploring the many different ways in which a man’s personal integrity and honour can be attacked, and the consequences of exile and outlawry to which these attacks and the retaliation against them can lead, Króka-Refs saga ultimately becomes a reflection on the price of honour«, Merkelbach 2021 (in Vorbereitung).  Vgl. die Ergebnisse in Kap. 4.2.3.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

den Erwartungen seiner Gesellschaft zu entsprechen. Seine Freundschaft zu deren Mann Gunnarr erscheint den anderen Figuren bisweilen eine Spur zu tief, sein Hang zur Diplomatie ein Gegensatz zu den althergebrachten Männeridealen. In seiner Bereitschaft, zum eigenen Vorteil anhängige Prozesse beim Thing zu verschleppen, können wir schließlich die Andeutung eines sozial zerstörerischen Potentials erkennen. Auch eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Ursache für die titelgebende brenna bleibt uns seine Saga schuldig; sie macht deutlich, dass sie als níðingsverk aufgefasst wird, lässt aber die Möglichkeit offen, dass der níðingr dahinter Njáll selbst sein könnte. Im Gegensatz zu Króka-Refr und Njáll schließlich hat Guðmundr keinen Erzähler auf seiner Seite, der ihn gleichsam zumindest zeitweise vor dem níð in Schutz nimmt. Hier greifen keine erzählerischen Mechanismen wie die interne Fokalisierung, durch die dem Erzähler der Króka-Refs saga eine Art Gegendarstellung zum níð gelingt, oder die Motivierungsbündelungen und das zeitweise erfolgende Kippen ins unzuverlässige Erzählen, die es so schwer machen, Njáll eindeutig als níðingr zu identifizieren. Guðmundr ist damit den Vorwürfen der anderen Figuren schutzlos ausgeliefert, ohne dass der Erzähler der Ljósvetninga saga kontextualisierend eingreifen würde. Im Gegenteil: Die explizit auf Vorwürfe der ergi ausgerichteten Charakterisierungen durch seine Gegenspieler werden in ein erzählerisches Gesamtkonzept eingefügt, in dem der Erzähler selbst das gezeichnete Bild vervollständigt. Dabei wird Guðmundr zunächst mehrfach mit Milch assoziiert, was zur Etablierung eines Schemas führt, durch das er fortlaufend abgewertet wird, und das sich auch auf die ebenfalls negative Darstellung seines Sohnes überträgt; er wird gleichsam in die schematische Ordnung eingepasst, die zuvor bereits an seinem Vater durchchoreografiert wurde.⁷⁴⁹ Die Darstellung Guðmundrs als eitler Pfau, als machtbesessener und moralisch zutiefst defizitärer Herrscher ist in diesem Gesamtkontext betrachtet ebenfalls dem so eröffneten Assoziationsraum der ergi zuzuordnen. Für die Rezipierenden verhält sich die Charakterisierung durch den Erzähler damit komplementär zur indirekten Charakterisierung durch andere Figuren. Dazu gehört, dass der Erzähler logische Brüche in Kauf nimmt und die Kulisse der Ereignisse gleichsam aktiv ausgestaltet, um Figuren so positionieren zu können, dass Guðmundr zur Zielscheibe werden kann. Besonders auffällig ist ein solcher logischer Bruch bei der Hochzeitsszene, während der sich Þórlaug mit ihrer Kontrahentin streitet. Das wiederholte Herstellen von ergi-Bezügen durch die Assoziation von Guðmundrs Figur mit Milch stellt eine wichtige erzählerische Komponente in seiner Charakterisierung dar. Durch seine durch Erzähler und handelnde Figuren zugeschriebene ergi stellt er eine Bedrohung für die Gesellschaft dar, in der er sich aufgrund seiner Autorität aber weiterhin frei bewegen kann. Gerade die Tatsache, dass níð weder einen dauerhaft schadhaften Effekt auf ihn hat noch, dass er sich davon sonderlich beeindrucken zu lassen scheint, macht ihn für sein soziales Umfeld so bedrohlich. Die Anwürfe, die dazu dienen sollen, ihn von dem Rest der Gesellschaft

 Vgl. zum Begriff des »Schemas« Koschorke 2012, S. 30.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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abzuschneiden, laufen angesichts seiner schieren Machtfülle ins Leere, sein Status bleibt unverrückbar erhalten, und letzten Endes »funktionieren« die ergi-Zuschreibungen und das níð nur auf der narrativen Ebene: »The accusation of sexual deviation against Guðmundrur is made into a central theme in Ljósvetninga saga, where the accused methodically and brutally destroys his accusers.«⁷⁵⁰ In Guðmundr erblicken wir dennoch wohl den einzigen eindeutigen níðingr, der als Hauptfigur in den Isländersagas fungiert. Sowohl die Grettis saga als auch die Svarfdœla saga schildern schließlich Kindheiten, in denen níð eine Rolle spielt. Vor dem Hintergrund der Strategien erzählerischen Managements von níð, die anhand von Króka-Refs saga, Njáls saga und Ljósvetninga saga gemacht wurden, wurde eine ergänzende Deutung der beiden anderen Sagas vorgeschlagen. Erkennt man an, dass auch in diesen beiden Texten eine narrative Funktionalisierung von níð im Zusammenhang mit frequentativem Erzählen, dem bewussten Erzeugen von Ambiguitäten und schließlich den für ergi und níð typischen Assoziationen mit Pferden und Milch stattfindet, erhalten beide Figurenbiografien zusätzliche Tiefe. Das Einnehmen von Außenseiterpositionen sowie die Entwicklung dieser Position in Wechselwirkung mit den Gesellschaften, die beide Figuren hervorgebracht haben, wird vor dem Hintergrund dieser Erzählweisen in beiden Fällen glaubhafter und plastischer.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen Níð bedeutet aus der Sicht der mittelalterlichen isländischen Gesellschaft eine immense Störung für das soziale Gleichgewicht. Dies trifft sowohl für die intradiegetische Gesellschaft des gemeinsamen literarischen Kosmos der Sagas als höchstwahrscheinlich auch für die realhistorische Gesellschaft der Sagazeit und der Zeit der Niederschrift zu, wie vor allem die zahlreichen Gesetzesvorschriften eindrucksvoll belegen.⁷⁵¹ Dinge, die auszusprechen in der zugrundeliegenden Werteordnung infam ist, werden bei der Anwendung von níð in verbalisierter oder skulpturaler Form mit den bereits beobachteten Folgen für die Betroffenen dargestellt. Beim Berichten über níð kommt dem Erzähler daher als vermittelnder Instanz eine besonders tragende Rolle beim Informationsmanagement zu.⁷⁵² Diese Rolle kann für die Rezipierenden eine deutliche Diskrepanz ergeben zwischen der Menge an gegebenen impliziten oder expliziten Informationen und den Schlüssen, die sich daraus ziehen lassen. Bezüglich der Informationen, die der Text selbst liefert und die die Rezipierenden des Textes aus ihm »herauslesen« müssen, stellt Genette fest: »Die Erzählung sagt immer weniger, als  Schach 1978, S. 266.  Vgl. zu den Gesetzesvorschriften und den Vorbehalten bei der direkten Anwendung auf die literarischen Texte Kap. 2.2.2.  Dies betrifft vor allem seine eigene Positionierung in einer Wir-gegen-sie-Situation, wie sie beim Erzählen von níð zutage tritt, vgl. Koschorke 2012, S. 90 – 96.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

sie weiß, aber sie lässt einen oft mehr wissen, als sie sagt.«⁷⁵³ Dieses Informationsgefälle kann für die Erzähler der Isländersagas ein hilfreiches Mittel sein, im Erzählen von Konflikten Stellung zu beziehen. Anhand dieser Prämisse wollen wir uns nach den Diskussionen über die unterschiedlichen Aspekte von Figuren bei der Lektüre von níð-Episoden in den Sagas nunmehr dem Erzählen selbst zuwenden. Es stellt sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Beobachtungen nicht zuletzt die Frage, inwieweit sich das große gesellschaftliche Tabu der damit verbundenen immensen sozialen Anschuldigungen schließlich in der Art des Erzählens über níð selbst niederschlägt; genauer gesagt, wie es die Menge an Informationen und die Art und Weise beeinflusst, in der sie der Erzähler weitergibt. Dabei scheint es ein Grundmuster zu geben, das auf narrativer Ebene durchexerziert wird: Bereits auf lexikalischer Ebene gibt es nämlich Ansatzpunkte für das aktive Vermeiden von Wörtern, die im Kontext von ergi stehen.⁷⁵⁴ In vielen Szenen der Isländersagas scheint es entsprechend zu genügen, das Thema über verschiedene Bilder anzudeuten, die von den Rezipierenden mit dem níð-Diskurs assoziiert werden können. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang unter anderem die Grettis saga, deren eponymer Held in seiner Kindheit möglicherweise von seinem Vater durch níð gedemütigt wird und der dadurch überhaupt erst seine spätere Entwicklung zum Außenseiter auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft einschlägt. Die Saga selbst benutzt in einer Episode genau diese Unsicherheit über das Erzählte und setzt sie gezielt zur Erzeugung von Ambiguität ein, worauf wir an anderer Stelle eingegangen sind.⁷⁵⁵ Nicht zuletzt die Njáls saga spricht dem Diskurs über unterstellte Unmännlichkeiten ebenfalls großen Raum zu, wie wir unter anderem bei der bereits angesprochenen Charakterisierung ihrer eponymen Figur gesehen haben. Auch diese ist nicht eindeutig zu verstehen, sondern vielmehr als ein Bündel von teilweise scheinbar im Widerspruch stehenden Merkmalen.⁷⁵⁶ Schon diese Beispiele legen nahe, dass es eine Korrelation zwischen dem was und dem wie des Erzählens gibt, dass also der Gegenstand der Erzählung die Erzählweise selbst bestimmt.⁷⁵⁷ Um dieser Korrelation zwischen histoire und discours nachzugehen, werden im Folgenden unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten jene Textpassagen (erneut) aufgegriffen, in denen níð dargestellt wird, und diese Darstellungen hinsichtlich ihrer narrativen Auseinandersetzung mit ihrem Thema untersucht. Eine solche Betrachtungsweise wendet sich ihrem Wesen nach vom stark figurenbezogenen Blickwinkel der letzten Kapitel ab und richtet das Augenmerk vermehrt auf Phänomene, die das Erzählen selbst prägen. Dabei beschäftigen sich die Kapitel 5.4.1 bis 5.4.3 mit dem ›Vermeiden‹

 Genette 2010, S. 127.  Vgl. Kap. 2.1.1.  Vgl. Kap. 4.3.4.  Vgl. Kap. 4.3.2.1.  Speziell für das Motiv des Diebstahls und die Erzählung darüber hat Hahn eine solche Korrespondenz zwischen Handlungs- und Erzählebene in ihrer Dissertation herausgearbeitet, vgl. Hahn 2020, S. 295 – 296.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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von níð auf der Handlungsebene, was zumeist durch den Einsatz von Stellvertreterfiguren erreicht wird, die wie Bausteine in den Text eingefügt oder ganz gezielt zur narrativen Funktionalisierung ausgebeutet werden können. Die drei Textbeispiele in Kapitel 5.4.4 belegen darüber hinaus, dass eine Vermeidungsstrategie die erzählerische Darstellung selbst beeinflussen kann, wenn die Thematisierung von níð innerhalb der Diegese auf einer nachgelagerten Ebene stattfindet oder sein Einsatz gezielten narrativen Leerstellen oder Unschärfen unterworfen wird. Den Abschluss bilden dann zwei Kapitel, die einen narrativen Effekt wieder aufgreifen, der in der figurenbezogenen Untersuchung der Ljósvetninga saga aufgefallen ist. Níð kann, wie dort zu sehen war, sequenziell eingesetzt werden, um ein bestimmtes schematisches Bild von einer Figur oder Familie zu etablieren. Diese schemabildende Wirkung von níð wird in Kap. 5.4.5 anhand von Genealogien nachvollzogen, während den Schwerpunkt in Kap. 5.4.6 die Etablierung von Schemata mit Hilfe der Þættir zur kulturellen Abgrenzung nach ›außen‹ bildet.

4.4.1 Landstreicherfiguren als Aktant bei der Generierung und Verbreitung von níð Für die Urteilsbildung der intradiegetischen Öffentlichkeit der Isländersagas über das Geschehen und die beteiligten Akteure ist, wie bereits mehrmals betont, die Verbreitung von Meinungen und Nachrichten von hoher Bedeutung. Diese müssen bei weitem nicht ausschließlich positiv besetzt sein, wie die hohe Frequenz von eher missbilligend wiedergegebenem Geschwätz in den Isländersagas bereits deutlich zeigt: »Gossip is often presented in a derogatory manner in the sagas, despite its ubiquity, much as in modern-day western society it is a word associated with tabloid sensationalism and lowbrow culture.«⁷⁵⁸ Die auf diese Weise erhaltenen Informationen über Figuren und Ereignisse bilden dann für die Sagagesellschaft – und daher auch mittelbar für die Rezipierenden der Erzählung – eine Grundlage für weitere Rückschlüsse zu den Geschehnissen. Das, was häufig unter Begriffen wie »Geschwätz«, »Gerede«, »Gerüchte«, »Verleumdungen« oder ihren fremdsprachlichen Äquivalenten zusammengefasst firmiert, kann sich als Kategorie der sozialen Interaktion durchaus auf die Verbreitung von níð erstrecken. Dies gilt umso mehr, als sexuelle Themen häufig in Form von Gerüchten diskutiert werden: »Gossip and sex are natural bedfellows«.⁷⁵⁹ Gerade das Fehlen von Tatsachenwissen ist dabei zentral für Gerüchte, die ihre narrative Kraft aus dem gemeinschaftlichen Daran-Glauben-Wollen eines Kollektivs ziehen.⁷⁶⁰ Die Verbreitungsform durch gezielte Initiierung von Gerede

 Keens 2016, S. 79. Auf die Verbindung zwischen Bettlerfiguren und Gerüchten geht Cochrane 2012 ein.  Keens 2016, S. 87.  Koschorke 2012, S. 35 – 36.

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über einen Absenten ist dabei laut Kress von zentraler Bedeutung für die Wirkmacht von Gerüchten.⁷⁶¹ Auch der von Kress postulierte Aspekt der Weiblichkeit entspricht nicht dem ganzen Bild, das sich in den Sagas präsentiert, wenn es um die Verbreitung von níð geht. Sobald wir nämlich den Fokus erweitern und uns nicht mehr nur auf das Geschlecht der Figuren konzentrieren, sondern auch auf den sozialen Status innerhalb der Gesellschaft, rückt schnell eine weitere spezielle Figurengruppe in den Isländersagas als zentrales Element bei der Bekanntmachung von níð ins Blickfeld. Die Rede ist von Landstreichern und Vagabunden, die hauptsächlich als Nebenfiguren auftauchen und dabei in der moralischen Bewertung nicht allzu gut wegkommen, wie Jamie Cochrane feststellt: Vagrants – gǫngumenn, einhleypingar, stafkarlar – are portrayed in an almost exclusively negative light in the sagas. They are depicted as scurrilous, mercenary, treacherous and manipulative, and rarely have social or kinship links of significance. For the saga narrator, however, they proved vital agents for moving saga plots along, escalating feuds and transferring information across the social and geographical landscape of Iceland, that was impassable for other saga characters.⁷⁶²

Die soziale Ungebundenheit von Landstreichern macht sie zu dankbaren plot devices, können sie doch von einem Erzähler gut dafür eingesetzt werden, scheinbar aus dem Nichts aufzutauchen und dann wieder zu verschwinden.⁷⁶³ Landstreicherfiguren können dazu dienen, Informationen innerhalb der erzählten Welt schnell zu verbreiten und die geschilderte Handlung ohne großen erzählerischen Mehraufwand voran zu treiben. Dabei spielt die teils drakonische Bestrafung von Landstreichern im altnordischen Recht für die Narration in den Isländersagas nur eine sehr untergeordnete Rolle. Im altnordischen Recht wurde unterschieden zwischen solchen Leuten, deren Wohnsitzlosigkeit durch äußere Umstände ausgelöst und somit legitimiert war, und solchen, bei denen dies nicht zutraf. Deren Landstreicherei wurde schlussendlich auf ómennska (wörtlich: ›Unmenschlichkeit‹) zurückgeführt, weswegen sie harte Sanktionen zu erwarten hatten. Da das altnordische und neuisländische Wort maðr sowohl ›Mann‹ als auch ›Mensch‹ bedeuten kann, ist zudem das Verständnis von ómennska als ›Unmännlichkeit‹ denkbar.⁷⁶⁴ Aus dieser Bandbreite an Übersetzungen geht noch stärker der subversive und gegen die Gesellschaft gerichtete Charakter der ómennska hervor – es handelte sich bei diesen Personen in der juristischen Be-

 Kress 2000, S. 192. Bestimmend für níð ist gerade die Beständigkeit und Hartnäckigkeit, mit der es auch in seiner verbalen Form Wirkung entfaltet. Dem Kress’schen Bild von »gossip« als einer in höchstem Maße von Weiblichkeit geprägter Form der gesellschaftlichen Interaktion kann der Formalismus von níð als einer Handlungsform zwischen Männern zumindest dann entgegengehalten werden, wenn Kress unter dem Begriff »gossip« Episoden bespricht, die níð zum Inhalt haben.  Cochrane 2012, S. 44.  Vgl. Cochrane 2012, S. 44.  Siehe dazu Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. ómennska. Cochrane gibt dem gegenüber in seinem Aufsatz ómennska mit »›unmanliness‹, ›sloth‹ or even ›inhumanity‹« wieder. Cochrane 2012, S. 45.

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trachtung der zeitgenössischen Gesetze tatsächlich um beinahe rechtslose Individuen. In den Isländersagas wird diese unterschiedliche rechtliche Situation jedoch kaum thematisiert und diskutiert, so dass »[t]he legal status of the vagrant was of no concern to the plot of the saga.«⁷⁶⁵ In ihrer Marginalität mag man sogleich ein enormes Potential hinsichtlich der Generierung und Verbreitung von níð erkennen: Wer bereits außerhalb der Gesellschaftsordnung steht, kann durch das Hantieren mit níð gar nicht weiter kontaminiert werden. Für die Konstruktion der meisten literarischen Landstreicherfiguren der Isländersagas steht allein deren narrative Funktion als Träger von Nachrichten und Gerüchten, mithin ein sozial destabilisierendes Handlungsprinzip, im Vordergrund. Durch die gezielte Anreicherung solcher Handlungsprinzipien mit individuellen Merkmalen und Hintergründen kommen üblicherweise während der Erzählung die eigentlichen Figuren zum Vorschein, wie sie von den Rezipierenden wahrgenommen werden. Es sei noch einmal auf Schulz hingewiesen, der den Entstehungsprozess literarischer Figuren wie folgt zusammenfasst: »Die Figuren ›entstehen‹ dadurch, daß diese sehr einfachen Handlungsprinzipien (etwa: Opposition, Hilfe etc.) mit komplexerer Bedeutung aufgeladen, so als ›thematische Rolle‹ wiederholt und dabei in handelnden Personen gebündelt werden.«⁷⁶⁶ Die Landstreicherfiguren der Isländersagas sind allerdings meistens gerade nicht mit komplexer Bedeutung aufgeladen. Aufgrund dieser Tatsache bleiben sie zumeist auf die ihnen innewohnenden Handlungsprinzipien beschränkt und können daher kaum als vollwertige Figuren erachtet werden. Diesen Befund stärken auch Cochranes Beobachtungen zum fehlenden sozialen Netz und zur beinahe alleinigen negativen Funktion als Katalysator der narrativen Handlung. Daher erscheint es nicht sinnvoll, die Landstreicher als einzelne Figuren im Rahmen der diesem Kapitel vorangehenden Figurenanalysen zu betrachten. Vielmehr bietet es sich an, sich diesen Figuren nicht individuell, sondern als Ausdruck einer homogenen Erzählabsicht im Gesamtcorpus anzunähern. Dieser Ansatz stützt sich auf die bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts geleistete Arbeit des russischen Folkloristen Vladimir Propp. In seiner erstmals 1928 erschienenen Abhandlung Morphologie des Märchens beschäftigt er sich mit den Beziehungen von wiederkehrenden Elementen aus russischen Volksmärchen untereinander. Ziel seiner Bestrebungen war es, mit dem Wunsch nach einer stringenten Methodik wie in den »exakten Wissenschaften«⁷⁶⁷ zu einer neuen Systematik der untersuchten Texte zu gelangen. Gegenstand seiner Betrachtungen sind daher, im Gegensatz zu vorangegangenen Ansätzen, nicht mehr die Figuren, sondern deren Handlungen und damit deren Funktion für den Plot der Märchen. Davon ausgehend lassen sich, so seine Annahme, sämtliche Märchen als eine Abfolge von 31 (abstrakt gehaltenen)

 Cochrane 2012, S. 47.  Schulz 2015, S. 16 – 17.  Propp 1972, S. 12.

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Funktionen beschreiben, die er im Einzelnen klassifiziert.⁷⁶⁸ Seine Arbeitsweise und die Ergebnisse seiner Untersuchung fasst der französische Semiotiker Algirdas Greimas wie folgt zusammen: Nachdem Propp das Volksmärchen als eine Ausfaltung seiner 31 Funktionen auf der zeitlichen Horizontale definiert hat, stellt er sich die Frage nach den Aktanten oder den dramatis personae, wie er sie nennt. Er hat eine funktionale Konzeption der Aktanten: die Personen werden nach ihm durch die ›Aktionsbereiche‹ definiert, an denen sie partizipieren, und diese Bereiche sind durch die Bündel von Funktionen konstituiert, die ihnen attribuiert werden. Die Invarianz, die man beobachten kann, indem man alle Märchen-Vorkommen des Korpus vergleicht, ist die der Aktionsbereiche, die den von Märchen zu Märchen variablen Personen, (die wir Akteure zu nennen vorziehen) attribuiert werden […] Daraus folgt, daß, während die Akteure innerhalb eines Märchen-Vorkommens eingesetzt werden können, die Aktanten, die Klassen von Akteuren sind, nur vom Korpus aller Märchen aus eingesetzt werden können: eine Artikulation von Akteuren konstituiert ein einzelnes Märchen; eine Struktur von Aktanten eine Gattung.⁷⁶⁹

Auf die Landstreicherfiguren der Isländersagas angewandt, stellen diese nach Greimasʼ Terminologie innerhalb des Corpus der untersuchten Texte einzelne »Akteure« dar, die in ihrer jeweiligen Funktion als Träger von Gerüchten und Spott in der Gesamtheit ein »Aktant« (der Isländersagas) sind. Die Funktion als Gerüchteträger lässt sie nach dieser Sichtweise als einen für das Gesamtcorpus der Isländersagas einheitlichen Aktanten erscheinen, was sich mit Cochranes genannten Beobachtungen deckt. Es ist jedoch zu bedenken, dass sich die Isländersagas als Gesamtcorpus nicht über Propps Erzählstrukturen abbilden lassen.⁷⁷⁰ Für eng umgrenzte thematische Teilbereiche bieten sich seine strukturellen Beobachtungen gleichwohl als sehr brauchbares und nützliches Beobachtungswerkzeug an. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, wie Landstreicherfiguren in einigen Isländersagas gezielt im Rahmen von níð-Episoden erzählerisch nutzbar gemacht werden und auf welche Weise ihr níð in der Narrationstechnik Niederschlag findet. Der Einsatz von Landstreichern als plot devices geht in den Isländersagas oft einher mit einer auffälligen Häufung von narrativen Eigenheiten, die das Erzählen maßgeblich beeinflussen. Die Frauen, die in der Njáls saga zu Gast auf Hlíðarendi sind und dort in Hallgerðrs Stube sitzen, sind farandkonur, also sozial ungebundene Umherreisende. Ihnen kommt bei der Verbreitung des níð eine wichtige Rolle zu, das der Skalde Sigmundr dort dichtet.⁷⁷¹ Ohne weitere Motivation innerhalb des Geschehens tauchen sie auf Hlíðarendi auf; sie sitzen zwischen den anderen Anwesenden in der dyngja, sie befeuern Hallgerðrs Abneigung gegen Njáll und sie tragen schließlich das níð nach

 Propp 1972, S. 31– 66.  Greimas 1971, S. 159.  Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 98. Für einige Þættir hat diesen Versuch Harris übernommen, vgl. Harris 1972. Noch etwas optimistischer in Bezug auf die Anwendbarkeit von Propps Theorie auf die Sagaliteratur äußerte sich Glauser 1989, S. 187– 196. Dort werden zudem Arbeiten aus der Altnordistik besprochen, die Propps Ideen vornehmlich auf Vorzeit- und Rittersagas anwenden.  Vgl. Cochrane 2012, S. 54.

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Bergþórshvoll weiter. Danach ist von ihnen nicht mehr die Rede. Durch den Erzähler wird die Verantwortung für die Übermittlung dieses níð auf dem Hof von Bergþórshvoll diesen Frauen zugewiesen: Direkt nach der Rezitation der Strophen, die an anderer Stelle besprochen werden,⁷⁷² kommentiert der Erzähler die Reaktion der Bettlerinnen wie folgt: Farandkonurnar tǫluðu sín í meðal, at þær myndi hafa laun af Bergþóru, ef þær segði henni orð þessi; þær fóru síðan ofan þangar ok sǫgðu Bergþóru á laun ófregit. ⁷⁷³ In der Gier nach einem Lohn für die Auskunft liefert der Erzähler hier gleich einen glaubhaften Beweggrund mit, der die Bettlerinnen nach Bergþórshvoll zurückkehren lässt, um dort das Wissen um Sigmundrs und Hallgerðrs Strophen zu verbreiten. Die Wiedergabe der Gerüchte im Geheimen (á laun) und ohne direktes Zitat unterstreicht erzählerisch deren Wirkung, indem die Zurodnung einer konkreten Formulierung zu einer konkreten Person unmöglich gemacht wird. Danach hetzt die erboste Bergþóra ihre Söhne dazu auf, Rache für diese Worte zu üben und die Fehdehandlung der Saga kann fortgesetzt werden. Es folgen mehrere Tötungen auf beiden Seiten, während Gunnarr und Njáll versuchen, im Konflikt zwischen ihren Frauen einen diplomatischen Konsens zu finden. Ohne das ansonsten nicht weiter erklärte und im Übrigen nicht erklärungsbedürftige Erscheinen der Bettlerinnen wäre diese Eskalation der Ereignisse erzählerisch nicht so einfach möglich. Von dieser Gruppe fahrender Frauen wird in der Saga ab diesem Zeitpunkt nicht mehr berichtet; sie hat ihre narrative Funktion erfüllt und der Erzähler muss sich ihrer nicht weiter bedienen.⁷⁷⁴ Ähnlich unvermittelt wie die Bettlerinnen in der Njáls saga taucht in der Svarfdœla saga inmitten der Streitigkeiten im Svarfaðrdalr nach der größeren Lücke des Textes ein Mann namens Þórðr fangari auf. Es wird nicht gesagt, woher er kommt und mit wem er verwandt ist – ihm wird nicht einmal ein Patronym zugestanden –, was ein deutliches Signal dafür ist, dass er als Landstreicher unterwegs ist: Sá maðr var á vist með Ljótólfi, er Þórðr fangari hét. Ekki hefir gerzt til tíðenda í dalnum, síðan Klaufi kom ok til þess er nú er komit sǫgunni, ok er Klaufi nú á ellifta vetr. Þat varð til nýlundu, at Þórðr fangari bauð Klaufa til glímu með ragmæli, ok var sá maðr sendr til Klaufa með rúnakefli, er HekluSkeggi hét, en Skeggi var vinr Klaufa. Hann tók við keflinu ok varðveitti. ⁷⁷⁵

 Vgl. Kap. 4.4.3.  Njáls saga, S. 114; »Die Bettlerinnen unterhielten sich darüber, dass sie wohl einen Lohn von Bergþóra bekommen könnten, wenn sie ihr diese Worte mitteilten; dann gingen sie dort hinunter [nach Bergþórshvoll] und erzählten es Bergþóra im Geheimen [= ohne Hallgerðrs Kenntnis] ungefragt.«  Diese Funktion der Bettlerinnen speziell für die Njáls saga wurde bereits in der Forschung zur Saga erwähnt, vgl. Einar Ól. Sveinsson 1972, S. 65.  Svarfdœla saga, S. 157; »Jener Mann war zu Besuch bei Ljótólfr, der Þórðr fangari hieß. Es ist im Tal nichts passiert, seit Klaufi angekommen war und wohin es nun in der Erzählung gekommen ist; und Klaufi ist nun zehn Jahre alt. Das geschah nun, dass Þórðr fangari mit einem ragmæli Klaufi zum Ringkampf aufforderte, und es wurde jener Mann mit einem Runenstäbchen zu Klaufi geschickt, der Heklu-Skeggi hieß, und Skeggi war ein Freund Klaufis. Er nahm das Stäbchen und verwahrte es.«

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Es kommt zum Duell zwischen Klaufi und Þórðr, in dem der Herausforderer stirbt. Eine Figureneinführung erhält Þórðr nicht. Das einzige Indiz für seine Charakterisierung zum Zeitpunkt seines Auftretens in der Handlung ist sein sprechender Beiname fangari, zu Deutsch etwa ›Ringer‹. Insgesamt wirkt diese Episode trotz des implizierten erzählerischen Hinweises darauf, dass sie erzählenswert ist,⁷⁷⁶ sehr gerafft und einige Informationen, die uns gegeben werden, sind nicht unmittelbar verständlich. Die Saga expliziert nicht, ob Þórðrs Handeln intrinsisch motiviert ist. Es ist aber denkbar, dass er von Ljótólfr im Gegenzug für Kost und Logis dazu angestachelt wurde. In der Folge wird es dem Empfänger Klaufi unmöglich, einem Kampf mit dem Urheber des níð ohne einen starken Ehrverlust zu entgehen. Schließlich dient die Handlung des Aufpassens auf das Stäbchen dazu, dem níð den Boden zu entziehen, auf dem es gedeihen kann, nämlich die Öffentlichkeit. Solange sich das Stäbchen in seinem Besitz befindet und Klaufi sich dem Kampf stellt, bleibt wegen der Absenz von Publizität kein Raum für die sozial vernichtende Wirkung des ragmæli. Und tatsächlich zeigt diese Strategie die erwünschte Wirkung, wie sich im Zwiegespräch von Klaufi und seinem Freund Þórsteinn herausstellt, das dann schließlich im Duell endet. Im weiteren Verlauf der Saga werden wir Zeugen von Klaufis zweifelhaftem Werdegang und seiner Entwicklung zu einer der problematischsten Figuren innerhalb der Isländersagas. Seine Charakterisierung in dieser Außenseiterrolle nimmt mit dieser Episode ihren Anfang.⁷⁷⁷ Die gesamte Episode würde ohne die Handlungsmotivierung durch Þórðr nicht mehr funktionieren, so dass wir in ihm letztlich ein wirksames Vehikel für die weitere Charakterisierung einer Hauptfigur der Saga und den Handlungsverlauf sehen müssen. In der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar können wir auf sehr prägnante Weise beobachten, wie das sozial destabilisierende und unkontrollierte Element der Landstreicherfiguren in den Sagas auf die Erzählebene durchschlägt. Wir erinnern uns: Þorsteinns negative Kontrastfigur und Antagonist Þórhaddr besticht den Landstreicher Grímkell, damit dieser in Westisland ein ragmæli gegenüber Þorsteinn in die Welt setzt.⁷⁷⁸ Sobald sich die beiden über die Details einig geworden sind und Grímkell den Auftrag erhalten hat, macht er sich an die Umsetzung:

 Dies lässt sich aus dem Kommentar ableiten, dass nichts passiert ist, seit Klaufi (als kleines Kind) nach Island gekommen ist. Der Erzähler setzt dann an genau diesem Punkt beinahe zehn Jahre später wieder ein und greift diese Episode als erzählenswert auf.  Der Werdegang Klaufis, für dessen Charakterisierung bereits früh erfahrenes níð ähnlich wichtig ist wie für Grettir, wird in Kap. 4.3.4 besprochen.  Zur zentralen Bedeutung dieser Szene für die Figurendarstellung Þórhaddrs vgl. Kap. 4.2.2.3. Cochrane bezeichnet das ragmæli in seiner Untersuchung als »slander«, was dessen Bedeutung im soziokulturellen Kontext der Sagas nicht gänzlich gerecht wird. Cochrane 2012, S. 57.

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Ok yfir þessa flugu gein Grímkell ok fór yfir landit vestr ok hrópaði Þorstein, ok fór síðan svá vestan yfir ragmælit. Þetta kom svá, at ragmælit fór nær í hvers manns hús, ok lǫgðu óvinir Þorsteins á hann óvirðing mikla hér fyrir, en vinir hans hǫrmuðu. ⁷⁷⁹

Aus sprachlicher und erzählerischer Sicht geschieht hier Bemerkenswertes, da sich die disruptive Wirkung des vom Landstreicher Grímkell in die Welt gesetzten ragmæli direkt in der Erzähltechnik spiegelt. Auf Grímkells Landstreichernatur wird im Rahmen eines Wortspiels angespielt, als er auf Þórhaddrs Angebot eingeht: [O]k yfir þessa flugu gein Grímkell heißt es über ihn.⁷⁸⁰ Das altnordische Wort fluga (›Fliege‹) meint in diesem Kontext einen Köder, ist aber gleichzeitig auch eine Anspielung auf Grímkells Eigenschaft als Landstreicher, (an. flugumaðr), kann aber auch im übertragenen Sinne als ›Assassine‹ verstanden werden.⁷⁸¹ Syntaktisch gesehen handelt es sich beim ersten Satz dieses Zitats um eine für den Sagastil grundsätzlich nicht außergewöhnliche parataktische Reihung, deren erster Teil ein eindeutig benanntes Subjekt enthält. Im Satz ok yfir þessa flugu gein Grímkell ist Grímkell das Subjekt, während es im letzten Satz sein in Umlauf gebrachtes ragmæli ist (ok fór síðan svá vestan yfir ragmælit. Der Mittelteil hingegen bezieht sich zwar augenscheinlich noch auf Grímkell, zeichnet sich aber durch eine grammatikalisch denkbare einsetzende Unschärfe in Bezug auf das Subjekt der dort verwendeten Verben hrópa und fara aus. Hält man sich nochmals gezielt vor Augen, dass es sich beim ragmæli als eine Unterart von níð um eine Form ritualisierter Gerüchte handelt, bedeutet die Verwendung des Verbs fara im letzten Satz parallel zur Schilderung von Grímkells Reise hier einen Anthropomorphismus, genauer gesagt eine Personifikation. Es wäre darüber hinaus denkbar, die beiden Teile mit Subjektellipse, wie sie auch das Deutsche in solchen Sätzen kennt (ok fór yfir landit vestr und ok hrópaði Þorstein), als vom ragmæli in der Funktion des zugehörigen Subjektes bestimmt zu verstehen. In jedem Fall ist es aber Subjekt des Teils ok fór síðan svá vestan yfir. Eindeutig dem ragmæli als Subjekt zugeordnet ist damit lediglich der letzte Teil in dieser parataktischen Reihung – die sich über den Verlauf des ganzen

 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 308; »Und nach dieser Fliege schnappte Grímkell, und [er/es] zog nach Westen durch das Land und [er/es] verleumdete Þorsteinn, und so zog von Westen her das ragmæli [über das Land]. Es geschah, dass das ragmæli in beinah jedes Mannes Haus hineinfuhr und die Feinde Þorsteins belegten ihn deswegen mit großer Schande, während seine Freunde es sehr betrauerten.« Die im Deutschen befremdlich wirkende Wortstellung im ersten Satz ist grob der syntaktischen Struktur des altnordischen Originals nachempfunden, da sie für die Analyse im Folgenden noch eine tragende Rolle spielen wird. Ich habe darauf verzichtet, die für das Altnordische nicht außergewöhnliche Subjektellipse gleichzeitig in der deutschen Übersetzung wiederzugeben, da dies die Verständlichkeit des Satzes stark beeinträchtigt hätte. Stattdessen werden für das Subjekt die zwei möglichen Versionen eines Pronomens in eckigen Klammern angeboten.  Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, 308; »Und nach dieser Fliege schnappte Grímkell.«  Auf diese Parallele und die Tatsache, dass sinngemäß in diesem Kontext das Wort agn ›Köder‹ erwartbar gewesen wäre, weist Jón Jóhannesson hin, vgl. Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, S. 308, Fn. 2. Es ist allerdings gerade in poetischen Texten auch die Variante von gína mit fluga überliefert, vgl. Sveinbjörn Egilsson (Hrsg.) 1931, s.v. fluga. Zur Bedeutung von flugumaðr als ›Assassine‹ vgl. Cleasby (Hrsg.) 1876, s.v. flugumaðr.

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Satzes andeutende Personifikation findet hier ihren definitiven Abschluss.⁷⁸² Unterstrichen wird diese Wirkung von der Endstellung des Subjektes, die zwar innerhalb der sehr freien altnordischen Syntax zugelassen, aber weniger üblich ist.⁷⁸³ Im folgenden Satz ist dann aus syntaktischer Sicht allein das ragmæli Subjekt; von Grímkell ist keine Rede mehr. Was kann dieses Nebeneinander von denkbar möglichen Lesarten nun für die handelnden Akteure in diesem und dem darauffolgenden Satz auf mikronarrativer Ebene bedeuten? Nachdem Grímkell das ragmæli in die Welt gesetzt hat, entgleitet ihm selbst augenscheinlich die Kontrolle darüber; es setzt sich wie von Þórhaddr intendiert eigenständig fort. Dabei entwickelt es eine Art Eigenleben und wird in diesem Zuge mithin selbst als handelndes Subjekt dargestellt. Somit erhebt der Erzähler an dieser Stelle das ragmæli in den Rang eines eigenständigen Agens.⁷⁸⁴ Die Konsequenz daraus wird bald ersichtlich: Zwischen Grímkell und dem ragmæli besteht ab dem Zeitpunkt, zu dem er es verbreitet, kein untrennbar enger Zusammenhang mehr, da beide unabhängig voneinander agieren. Sprachlich zeigt sich das in den unterschiedlichen Richtungen, die die beiden einschlagen, wenn man von einem Subjektwechsel genau in der Mitte der parataktischen Reihung ausgeht: Während Grímkell nach Westen geht, verbreitet sich das ragmæli kurz darauf von Westen her über das Land. Die Personifikation geht allerdings im folgenden Satz weiter und kippt anschließend geradezu ins Unheimliche, wenn davon berichtet wird, wie das ragmæli in jedes Haus hineinzieht, ganz so, als wäre es etwas Körperloses oder Flüssiges, dem Türen nichts entgegen zu setzen hätten.⁷⁸⁵ Dem stehen die Bewohner der Häuser

 Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Entscheidung zur Interpunktion in der Edition von Jón Jóhannesson hier den Blick auf die »unscharfe« Satzstruktur verstellt, legt das Komma vor dem letzten Satz doch nahe, dass dieser sich von den drei vorangehenden Sätzen so weit unterscheidet, dass mit ihm eine neue Sinneinheit beginnt.  Dass ein finites Verb wie hier in einem mit ok eingeleiteten Hauptsatz direkt nach diesem einleitenden ok steht, ist ein häufig beobachtetes Phänomen, vgl. mit weiterführenden Anmerkungen Faarlund 2008, S. 231, insbes. Fn. 6. Damit einher geht dann das Freibleiben der topikalisierenden Position vor dem finiten Verb (vgl. ibd.). Das Subjekt (ragmæli) steht in diesem hier betrachteten Fall gerade am Ende des Satzes, was die Uneindeutigkeit bekräftigt.  Fraglich ist dabei, ob wir in diesem Agens letzten Endes nicht eine Figur sehen könnten. Dies bedeutete, dass das ragmæli ein Akteur innerhalb der Diegese der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar wäre. Im oben vorgestellten Aktantenmodell von Greimas stünde dieser Akteur dann gleichberechtigt neben den anderen Akteuren dieser Aktantengruppe, da er innerhalb desselben Aktionsbereiches Wirkung entfaltete. Wie die Landstreicherfiguren füllte das ragmæli als eigenständiger und neben diesen Figuren gleichwertiger Akteur die Rolle der Verbreitung von Gerüchten und Informationen über einen größeren geografischen Raum aus. Hier konkret beträfe diese Informationsverbreitung das níð gegen Þorsteinn.  Den narrativen Zusammenhang zwischen der Gefährdung von Männlichkeit (wie hier durch níð) und Wasser sieht vor allem in der Laxdœla saga Helga Kress, wobei ihr Argument hauptsächlich assoziativer Natur ist. Sie stützt sie sich in ihrer Argumentation auf eine Assoziation von Wasser mit Weiblichkeit, die sich vor allem in der Laxdœla saga gezielt gegen männliche Dominanz richtet und diese destabilisiert. Sie bezieht sich sowohl auf das lebensweltliche ›reale‹ Wasser, das von Seefahrern

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machtlos gegenüber, wie wir ihren Reaktionen entnehmen können. Das níð zeigt sich demzufolge genau nicht als einfaches Gerede, das einer inhaltlichen Bewertung und Reflexion bedarf, sondern als Faktum, dem eine sofortige Wirkung für die Realität zukommt – wiederum ganz so, als wäre es tatsächlich eine reale Person, von der ein tätlicher Angriff ausginge. Dass Þorsteinns Feinde das níð zum Anlass für noch mehr Spott sehen, während seine Freunde – ohne ihn zu verteidigen – seine Existenz bedauern, zeigt den Wahrheitsgehalt, der diesen Schmähungen zuerkannt wurde. Die diegetische Gesellschaft, und nun bewegen wir uns wiederum auf einer makronarrativen Ebene, verkennt die tatsächlichen Ursprünge der Schmähungen, die, wie uns der Erzähler zuvor offengelegt hat, bei Þorsteinns Rivalen Þórhaddr liegen. Diesen Zusammenhang stellt Þorsteinn zwar hilflos fest, allerdings ist das níð zum Zeitpunkt seiner Kenntnisnahme bereits in der Welt: »By the time the rumour has spread back to Þorsteinn the damage has already been done, as so many people are aware of it.«⁷⁸⁶ Die angesprochene Gewitztheit Þórhaddrs, mit der er sich des Landstreichers Grímkell bedient hat, hat ihr Ziel nicht verfehlt und den maximal möglichen Schaden angerichtet. Sowohl Grímkell als auch das eigenständig agierende ragmæli können nun ohne weitere erzählerische Ausführungen oder logische Brüche die Handlung verlassen, da sie ihre einzige narrative Funktion für den Plot erfüllt haben. Sie sind ab dem Eintritt der Wirkmächtigkeit des níð für den Erzähler nicht mehr von Nutzen und damit »aus der Saga«. Die Figurenkonstellation spiegelt sich indes im Informationsmanagement des Erzählers wieder: Das Geläster innerhalb von Þórhaddrs Familie wird nicht weiter paraphrasiert, während erst das gezielte ragmæli, das Grímkell in die Welt setzen soll, als solches bezeichnet und inhaltlich konkretisiert wird. Þorsteinn selbst verbindet es zwar mit dem Urheber, aber nicht die breite Masse der Leute.⁷⁸⁷ Den Rezipierenden zeigt diese Art der Darstellung die Vermeidungshaltung von Þórhaddr, der selbst nicht im Kontext von níð öffentlich in Erscheinung treten möchte. Indem das Geläster der Familie nicht zitiert wird, markiert der Erzähler deutlich die Trennlinie zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre. Sehr verkürzt ist uns eine solche Überführung von níð aus dem engen familiären Bereich in den Bereich einer umfassenden diegetischen Öffentlichkeit bereits in der Króka-Refs saga begegnet. Im Gegensatz zur Þorsteins saga Síðu-Hallssonar bewerkstelligt diese das Informationsmanagement, ohne sich auf Landstreicherfiguren zu stützen. Das níð der Þorgilssöhne wird so lange im kleineren Kreis angefacht, bis es allgemeines Gerede wird. Im Gegensatz zur Þorsteins saga Síðu-Hallssonar wird der Inhalt des Geredes im Text sogar in direkter Rede wiedergegeben. Dabei entspricht die Ausgangskonstellation auf dem Hof in ihrem Aufbau dort ebenso dem Schema eines befahren wird, als auch auf das von ihr analog dazu beschriebene fließende weibliche Element im übertragenen Sinne, wenn sie schreibt: »Í íslenskum fornbókmenntum er vatn hættulegt körlum«; »In der älteren isländischen Literatur ist Wasser für Männer etwas Gefährliches«, Kress 2009, S. 31.  Cochrane 2012, S. 57.  Cochrane 2012, S. 57.

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verächtlichen Gesprächs des Vaters mit seinen Söhnen. Der Übergang in die Öffentlichskeitssphäre, der den weiteren Verlauf der Handlung prägt, wird in der Króka-Refs saga wie folgt wiedergegeben: Þeir færðu þetta hróp á vöxtu, ok svá ferr þetta í fjölmæli. ⁷⁸⁸ Die eigenmächtige Handlungsweise der Gerüchte, die in der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar so effektvoll ausgemalt wird, klingt in der Króka-Refs saga lediglich in der Tatsache an, dass sich das Verbum fara im zweiten Satz dieses Zitats nur auf hróp beziehen kann. Die übrigen Figuren, derer es für das Zustandekommen allgemeinen Geredes bedürfte, werden nicht im Text benannt. Es entspricht aber bereits der impliziten Logik des Textes, dass nicht allein Þorgils und seine beiden Söhne damit gemeint sind, wenn die Rede vom allgemeinen Geläster ist, sondern ebenfalls beispielsweise Landstreicher. Durch deren fehlende Erwähnung scheinen Þorgils und die Söhne den Rezipierenden unmittelbarer mit dem níð in Verbindung zu stehen, als dies in der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar in Bezug auf Þórhaddr der Fall ist. Begründen lässt sich das mit dem schematischen Aufbau der Króka-Refs saga, der darauf ausgerichtet ist, den Protagonisten in einem möglichst guten Licht darzustellen, was durch stark negative Kontrastfiguren effektiv umgesetzt werden kann.⁷⁸⁹ An Stellen wie dieser, die ganz ohne Erwähnung von Landstreichern auskommt, wird die sehr wackelige Bühne sichtbar, auf der Landstreicher in den Sagas auftreten; sie tun dies nämlich regelmäßig in ihrer bloßen Funktion als plot devices und treten kaum als eigenständige und individualisierte Figuren hervor, wie wir eingangs erläutert haben. Gemeinsam ist den in diesem Kapitel vorgestellten Landstreicherfiguren, dass sie alle níð entweder generieren oder verbreiten und so als wichtiges narratives Scharnier zwischen verschiedenen Handlungsorten und -abschnitten dienen. Relevante Informationen, deren Kenntnis durch weiter entfernt positionierte Figuren zur erzählerischen Motivierung der Handlung erforderlich ist, werden von ihnen ohne größeren Aufwand dorthin transportiert, wo sie benötigt werden. Hierbei ist es für die Erzähler der Sagas nachrangig, wie die Einbettung der Figuren selbst motiviert ist – ein extremes Beispiel hierfür ist das durch nichts in der Erzählung motivierte Auftauchen von Þórðr fangari in der Svarfdœla saga an einer Stelle, an der durch einen Erzählerkommentar explizit die Wichtigkeit der folgenden Ereignisse hervorgehoben wird. Hier wird am deutlichsten sichtbar, wie sehr die bloße Funktion der Landstreicher im Vordergrund steht. Bei Grímkell haben wir beobachtet, wie wenig es dem Erzähler der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar auf die konkrete Landstreicherfigur ankommt, wenn die thematische Rolle der Landstreicher als Aktant in der Erzählung ausagiert werden soll. Grímkell ist als Akteur in seiner Rolle nicht einmal so stabil, dass er seine einzige Funktion für den Plot selbstständig bis zum Ende hin ausfüllt. Vielmehr kann er geradezu beiläufig

 Króka-Refs saga, S. 135; »Sie brachten diese Schmähung zum Wachsen, und so ging sie in allgemeines Geschwätz über«.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 42, und Kap. 4.3.1 .

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zwischen zwei Sätzen verloren gehen, während das níð sowohl auf grammatikalischer als auch narrativer Ebene die Handlung übernimmt. Das intrinsische Motiv der Figuren für ihr Verhalten ist bereits in die Charakterisierung über ihren sozialen Status eingeschrieben: Sie sind für Geld oder zeitweilige Unterkunft als Gegenleistung dazu bereit, für andere Leute problematische Gefallen zu erledigen. Denn in beinahe allen besprochenen Fällen sind Landstreicher nicht die ursprünglichen Initiatoren des níð, das sie verbreiten, sondern lediglich ausführende Agenten für andere Figuren, auf deren Geheiß hin sie tätig werden. In diesem Sinne findet eine doppelte Instrumentalisierung der Landstreicherfiguren statt: Einerseits werden sie von anderen Figuren der Diegese für ihre Zwecke eingespannt, andererseits dienen sie auch dem Erzähler als dankbare plot devices für seine Erzählung. Die besprochenen Beispiele zeigen somit, um wieder auf den Ausgangspunkt unserer Betrachtung der Landstreicherfiguren zurück zu kommen, wie sehr die gelungene Erzählung über die Verbreitung von Gerüchten an einer durchorganisierten Inszenierung unter Einbeziehung ebendieser Figurengruppe hängt: »Slander in the sagas, where vagrants are concerned, does not happen haphazardly but is carefully orchestrated by key figures in saga society.«⁷⁹⁰ Diese Feststellung gilt umso mehr, wenn es sich beim Erzählten nicht um bloße Gerüchte oder um Geschwätz handelt, sondern um »Handfestes«, um die gezielte Planung der völligen sozialen Vernichtung eines unliebsamen Kontrahenten – um níð.

4.4.2 Täuschung und Stellvertreterhandlung Auf eine recht komplexe Art und Weise wird der im vorigen Kapitel erläuterte Funktionsmechanismus von Landstreicherfiguren in die Narration des Þorleifs þáttr jarlaskálds eingebettet und variiert. Das Beispiel des Þorleifs þáttr jarlaskálds zeugte bereits von einer Art mittelbarer Anwendung von níð: Der als guter Skalde geltende und (wie zu sehen war: dennoch) sehr positiv porträtierte Þorleifr setzt nicht selbst níð ein; vielmehr bedient er sich einer von ihm geschaffenen Kunstfigur namens Níðungr inn nákvæmi, die an seiner Stelle den Jarl mit níð belegt. Dabei sind das níð und sein Rezitationskontext durchaus eine nähere Betrachtung wert. Þorleifr verkleidet sich als stafkarl (›Stabkerl‹) und ändert begleitend zur Verkleidung sogar sein Verhalten, um dem Jarl unerkannt gegenüber zu treten. Damit schlüpft er in die Rolle einer Landstreicherfigur, zu deren vielen Erscheinungsformen auch die als stafkarlar bezeichneten Bettler gezählt werden können.⁷⁹¹ Þorleifr gibt seiner Figur Níðungr zwar eine Hintergrundgeschichte und ein Patronym, was diese Figur von den anderen besprochenen Landstreichern unterscheidet, dennoch sind sowohl der biographische Hin-

 Cochrane 2012, S. 58.  Vgl. Cochrane 2012, S. 44. Hier taucht neben anderen Bezeichnungen für Landstreicherfiguren der Begriff stafkarl auf.

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tergrund als auch das gewählte Patronym frei erfunden und dienen der Charakterisierung dieser Kunstfigur.⁷⁹² Für die Rezipierenden ist aber zu jedem Zeitpunkt klar, dass es sich bei der Figur Níðungr um den verkleideten Þorleifr handelt. Dennoch folgt die Art der Narration Þorleifrs Täuschung gegenüber dem Jarl, indem er ab dem Zeitpunkt seiner Verkleidung in den Kapiteln 4 und 5 des Þáttr wahlweise mit dem allgemeinen Wort (staf‐) karl (›(Stab‐)Mann‹, ›(‐)Kerl‹) oder seinem Pseudonym Níðungr bezeichnet wird.⁷⁹³ Erst nachdem er die Folgen von Þorleifrs Strophen beseitigt hat, erkennt der Jarl, dass er auf einen Trick hereingefallen ist: Þykkist hann nú vita, at þetta mun Þorleifr verit hafa. ⁷⁹⁴ Dies ist zudem die erste erneute Nennung von Þorleifrs tatsächlichem Namen nach der níð-Episode, wohingegen der Name Níðungr oder die Bezeichnung karl in Bezug auf Þorleifr von hier an bis zum Ende der Erzählung nicht mehr vorkommen. Der Erzähler bildet somit durch gezielte sprachliche und narrative Mittel die gestörte Identifizierung der Figur Þorleifr durch den Jarl ab, indem er die Wirkung des von Þorleifr geschaffenen Skalden Níðungr durch Übernahme des Namens oder die Verschleierung von Þorleifrs wahrer Identität mit dem Begriff karl hervorhebt. Sobald die entsprechenden Strophen rezitiert worden sind, fliegt die Scharade auf und der Jarl erkennt gedemütigt, dass er betrogen wurde. Da wir als Rezipierende außerhalb der Diegese während dieser Episode im Gegensatz zum Jarl durchgehend über die Täuschung Bescheid wissen, handelt es sich um eine für uns offensichtliche verzögerte Identifizierung, die nur das diegetische Verhältnis der Figuren Þorleifr und Hákon betrifft.⁷⁹⁵ Aus einer erzähltaktischen Sicht ist die Auflösung dieser Szene doppelt unproblematisch: Die durch Þorleifr dargestellte Figur Níðungr kann einerseits deswegen ohne erzählerische Brüche die Handlung verlassen, weil sie nur durch einen

 Vgl. hierzu Kap. 4.2.1.  Eine hinsichtlich der Narrationstechnik ähnliche Passage, in der sich die Handlung einer Figur während der Narration in ihrer gleichzeitigen begleitenden Beschreibung durch den Erzähler niederschlägt, begegnet uns in der Hervarar saga ok Heiðreks, einer Vorzeitsaga, in der sich die eponyme (als weiblich gekennzeichnete) Figur an einem Punkt der Erzählung dazu entschließt, männliche Kleidung zu tragen und den Männernamen Harvarðr anzunehmen. Hervǫrs dadurch bedingte Übertretung der Geschlechtergrenzen wird vom Erzähler aufgegriffen und in ähnlicher Weise in seine Narration eingebunden wie hier Þorleifrs Verkleidung als Bettler: »Furthermore, the saga narrator commences to refer to this character [Hervǫr-Hervarðr, Anm.] using a male name and masculine pronouns […]«, Mayburd 2014, S. 123. Diese Erzählpraxis wird laut Mayburd in allen Handschriften der Saga konsequent verfolgt, vgl. ibd., Fn. 4. Allgemein zur narrativen Funktion von Verkleidungen in den Isländersagas vgl. Sauckel 2014, S. 76 – 87.  Þorleifs þáttr Jarlaskálds, S. 223; »Er schien nun zu wissen, dass dies Þorleifr gewesen sein müsse.«  Der Begriff »offensichtliche verzögerte Identifizierung« ist hier in Anlehnung an Jannidis gewählt, der von »offenen« und »verdeckten verzögerten Identifizierungen« spricht. Für diese beiden Arten verzögerter Identifizierungen ist für ihn allerdings der Wissensstand des Modell-Lesers ausschlaggebend: Entweder ahnt er, dass er eine bisher nicht genannte Figur kennt oder er wird darüber im Unklaren gelassen. Intradiegetische Figurenverhältnisse sind hingegen nicht Teil dieser Unterscheidung, Jannidis 2004, S. 147– 149.

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Akt der Verkleidung überhaupt eingeführt wurde, und zum anderen deshalb, weil Níðungr als Landstreicherfigur mit der Rezitation des níð seine Rolle für die Erzählung erfüllt hat. Mit der Verkleidung, die nach erreichen des angestrebten Ziels wieder abgelegt wird, bedient Þorleifr ein bekanntes Muster, nach dem auch andere Protagonisten der Isländersagas handeln.⁷⁹⁶ Auch die Erzählung über das níð selbst ist in mehrfacher Hinsicht interessant, da es bereits vorab angekündigt wird. Im Gespräch mit König Sveinn von Dänemark spricht Þorleifr von einem Gedicht namens Konuvísur (›Frauenstrophen‹), das er mit Erlaubnis des Königs gerne dem Ladejarl Hákon vortragen würde: ›Ek hefi kveðit vísur nǫkkurar í vetr, er ek kalla Konuvísur, er ek hefi ort um Hákon jarl, því at jarl er kona kenndr í skáldsskap. Nú ógleðr mik þat, herra, ef ek fæ eigi orlof af yðr at fara til Noregs ok færa jarli kvæðit.‹ ⁷⁹⁷ Der genannte Titel Konuvísur könnte darauf anspielen, dass der zweite Namensteil Hákons an das altnordische Wort kona (›Frau‹) erinnert.⁷⁹⁸ Die mit dem Titel verbundene Anspielung auf Hákons unterstellte Weiblichkeit deutet stark auf ein níð-Gedicht hin.⁷⁹⁹ Dies ist für die im Altnordischen versierten Rezipierenden deutlich erkennbar, die an dieser Stelle die erklärte Absicht des Isländers durchschauen – ganz im Gegenzug zu König Sveinn, dem die Doppelbödigkeit von Þorleifrs Vortrag entgeht. Dies lässt ihn oberflächlich wirken und charakterisiert ihn als Freund der leichten Unterhaltung, der lediglich Interesse an einer schnellen Rückkehr des isländischen Dichters zeigt, aber intellektuell nicht imstande ist, die inhaltliche Tiefe von dessen Dichtkunst auszuloten.⁸⁰⁰ Nachdem in der Halle die Getränke aufgetischt worden sind, tritt der als Níðungr verkleidete Þorleifr vor den Jarl und bietet ihm an, ein Gedicht auf ihn vorzutragen. Der nichtsahnende und von Þorleifrs Verkleidung geblendete Hákon willigt ein.⁸⁰¹ Das Gedicht selbst wird im Sagatext nicht wiedergegeben, wohl aber erfahren wir die

 Vgl. Sauckel 2014, S. 85.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 219; »›Im Winter habe ich einige Strophen gedichtet, die ich Konuvísur nenne und über den Jarl Hákon gedichtet habe, weil Jarl in der Dichtkunst als Frau umschrieben wird [Anm: Þorleifrs Rechtfertigung ist, dass in der Skaldik ›Frau‹ eine kenning für ›Jarl‹ sei]. Nun betrübt es mich, Herr, das ich nicht Eure Erlaubnis bekomme, nach Norwegen zu reisen und dem Jarl das Gedicht vorzutragen.‹« Der Name Konuvísur ist problematisch, da er Finnur Jónsson zufolge ursprünglich in der Version Konurvísur (mit einem zusätzlichen r) überliefert ist. Hierzu schreibt Finnur Jónsson: »Jeg antager, at dette ord er en fejl for konar, der vel bör forklares som ›fyrstens‹, hvis det ikke igen er en fejl for [há]konar«, Finnur Jónsson 1894, S. 552. Bei dem Titel Konu(r)vísur und dem darin enthaltenen Wortspiel handle es sich zumindest um eine »illvillig kvasietymologi«, meint Almqvist 1965, S. 195.  Auf diese Tatsache und die Möglichkeit, dass es eine nicht mehr greifbare Tradition innerhalb der skaldischen Dichtung gegeben haben könnte, die Hákon effeminiert dargestellt hat, weist Jónas Kristjánsson hin – dies würde dann zu Þorleifrs zitierter Aussage gegenüber König Sveinn passen. Vgl. Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 219, Fn. 3. Almqvist spricht von Spuren einer lebendigen mündlichen Tradition, vgl. Almqvist 1965, S. 192. Kritisch gegenüber einer solchen Tradition äußert sich hingegen Sauckel, die auf das Fehlen von Belegen für diese Annahme hinweist, Sauckel 2017, S. 205.  Vgl. Noreen 1922, S. 45.  Vgl. zu dieser Beobachtung Sauckel 2017, S. 206.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 222.

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Reaktion darauf: Es heißt, Hákon sehe in dem Vortrag viel Lob über sich und seinen Sohn Eiríkr (ok þykkir jarli lof í hverri vísu ok finnr, at þar er getit ok í framaverka Eiríks, sonar hans).⁸⁰² Wir können davon ausgehen, dass diese Schilderung seiner Wahrnehmung hier mit einem doppelten Ziel gemeint ist: Weder der Jarl noch sein Gefolge kommen im Þáttr besonders gut weg – weder in den Strophen noch in der Erzählung über ihren Vortrag und die Zeit davor. Zu diesem Zeitpunkt der Erzählung hat der Jarl weder Þorleifrs Verkleidung durchschaut, noch seinen Trick, das Essen in einem mitgebrachten Beutel verschwinden zu lassen.⁸⁰³ Wenn uns nun mitgeteilt wird, dass diese Figur in ihrer offensichtlich gestörten Wahrnehmung nur Lobesworte zu hören vermeint und wir uns die Zweideutigkeit vor Augen halten, in der níð-Strophen oft abgefasst zu sein scheinen, müssen wir davon ausgehen, dass Þorleifrs Strophen alles enthalten können, nur eben kein eindeutiges Lob auf Hákon. Tatsächlich bleibt die Rezitation nicht folgenlos und der Jarl bekommt am eigenen Leib zu spüren, wie das Gedicht eine magische Wirkung entfaltet: En er á leið kvæðit, þá bregðr jarli nǫkkut undarliga við, at óværi ok kláði hleypr svá mikill um allan búkinn á honum ok einna mest um þjóin, at hann mátti hvergi kyrr þola, ok svá mikil býsn fylgdi þessum óværa, at hann lét hrífa sér með kǫmbum, þar sem þeim kom at; en þar sem þeim kom eigi at, lét hann taka strigadúk ok ríða á þrjá knúta ok draga tvá menn milli þjóanna á sér. ⁸⁰⁴

Diese Geschehnisse lassen Rückschlüsse auf den Inhalt der (nicht zitierten) Strophen zu. Dem Jarl in seiner gestörten Wahrnehmung erscheinen sie als Lob, obwohl sie níð darstellen, was sich nur mittelbar aus den Reaktionen auf das Gedicht ablesen lässt. Dass gerade sein Hintern juckt, verdeutlicht, dass er im Gedicht als argr dargestellt wird und ihm also unterstellt wird, er habe sich von einem anderen Mann dort penetrieren lassen. Weiter ausgemalt und ins Groteske gesteigert wird dieses Bild dadurch, dass er sich von seinen Gefolgsmännern zunächst mit Kämmen und dann mit einem Tuch genau dort kratzen lässt. Die Hinweise auf ergi-Unterstellungen sind in der Schilderung dieser Situation überpräsent, was den Rezipierenden erlaubt, auf den auslösenden Inhalt der Strophen zu schließen. Deren wahrer Charakter dämmert nun auch dem Jarl, der Þorleifr anherrscht, die Rezitation des Gedichtes zu beenden, da es ihm mehr níð als Lob zu sein scheine:

 Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 222; »Es erschien dem Jarl auch Lob in jeder Strophe zu sein und er fand, dass es darin auch um die ruhmreichen Taten seines Sohnes Eiríkr ging.«  Dies trifft auch für seinen Hofstaat zu: Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 222: sýndist ǫllum sem hann æti, en hann kastaði reyndar í hítinu; »Es schien allen, als würde er essen, aber er warf alles in den Beutel aus Tierhaut«.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 222; »Aber als das Gedicht dem Ende zuging, da erging es dem Jarl merkwürdig: Dass so starke Unruhe und Jucken seinen ganzen Rücken und vor allem seinen Hintern hinabjagten, dass er es nicht ruhig ertragen konnte. Und so viel Seltsames folgte dieser Unruhe, dass er sich mit Kämmen kratzen ließ, wo sie hinkamen; aber da, wo sie nicht hinkamen, ließ er ein grobes Tuch nehmen und drei Knoten hinein knüpfen und es zwei Männer ihm zwischen den Hinterbacken hindurch ziehen.«

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›Kann þinn heljarkarl ekki betr at kveða, því at mér þykkir þetta eigi síðr heita mega níð en lof, ok lát þú um batna, ella tekr þú gjǫld fyrir.‹ ⁸⁰⁵ Dass die Strophe, die Þorleifr dann dem Jarl vorträgt, zitiert wird, ist zwar sehr bemerkenswert, aber entgegen Noreens Auffassung nicht die einzige innerhalb des Corpus der Isländersagas, die in ihrem Überlieferungskontext explizit als níð bezeichnet wird.⁸⁰⁶ Anders als im Gespräch mit dem König wird diese Strophe allerdings nicht mehr als Bestandteil eines Gedichtes namens Konuvísur bezeichnet, sondern als Teil der sonst nicht überlieferten Þokuvísur (›Nebelstrophen‹): Karl […] hóf þá upp vísur, ok heita Þokuvísur ok standa í miðju Jarlsníði, ok er þetta upphaf at: Þoku dregr upp it ytra, él festit it vestra, mǫkkr mun náms, af nǫkkvi, naðrbings kominn hingat. ⁸⁰⁷

Zusammen mit dem später anschließenden Schlussteil kann man sich diese Þokuvísur als Mittelpartie des Jarlsníð mit dem Titel Konuvísur vorstellen.⁸⁰⁸ Inhaltlich lässt sich der Beginn dieser Þokuvísur kaum mit dem Begriff níð in Verbindung bringen.⁸⁰⁹ Eine gezielte Kränkung des Jarls ist in diesen Zeilen, die wohl eine Schilderung von Þorleifrs brennendem Schiff nach Hákons Überfall sind, nicht erkennbar, obwohl solche Kränkungen ansonsten das zentrale Element von níð darstellen. Die einzigen textlichen Hinweise darauf, dass es sich bei den aufgesagten Strophen ebenfalls um níð handelt, sind die dem Zitat voran gehende Bezeichnung als Bestandteil des Jarlsníð und die Geschehnisse im zeitlichen Umfeld der Rezitation. Diese Hinweise sind allerdings rein kontextueller Natur und lassen sich dem Strophenzitat selbst nicht entnehmen. Es ist auffällig und entspricht der bei níð-Episoden öfter auftretenden

 Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 222; »›Kannst du Mistkerl denn nichts Besseres aufsagen? Mir scheint das nämlich nicht weniger níð als Lob genannt werden zu können. Nun lass es besser werden oder lebe mit den Konsequenzen!‹«  Noreen konstatiert diese Tatsache allgemein für die altnordische Überlieferung, vgl. Noreen 1922, S. 48. Der Þorvalds þáttr víðfǫrla I enthält ebenfalls ein Strophenzitat, das in Kap. 4.4.6 besprochen wird. In diesem Rahmen sei noch auf die Strophe in der Grettis saga hingewiesen, in der Grettir die Seeleute für ihre kalten Finger schmäht, vgl. Kap. 4.3.4.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 222– 223; »Der Mann […] begann da mit den Strophen, die Nebelstrophen heißen und in der Mitte des Jarlsníð stehen, und das ist ihr Anfang: An der Küste zieht Nebel auf, ein Sturm braut sich im Westen zusammen; es ist wohl die (Rauch‐)Wolke der Entwendung des Natterbettes [ = Gold; Entwendung des Goldes = Diebstahl] von anderswo hierhergekommen.« Finnur Jónsson zieht die Wendung af nǫkkvi syntaktisch zum ersten Teilsatz der Strophe, wodurch es nach seiner Lesung heißen müsste »An der Küste zieht – nicht ohne Grund – Nebel auf«, vgl. Jarlsníð, S. 133.  Vgl. Almqvist 1965, S. 196.  Dies stellte schon Noreen fest und bemerkte gleichzeitig, dass es an der ergi-Anschuldigung fehle. Vgl. Noreen 1922, S. 45. Ergi wird in den Strophen allenfalls sehr vage angedeutet, da sie sich augenscheinlich auf den Diebstahl beziehen, dem Þorleifr zuvor zum Opfer gefallen ist. Da Diebstahl eine semantische Verbindung zu ergi aufweisen kann, wäre die Thematisierung dieses Diebstahls hier gleichbedeutend mit einer Thematisierung von ergi. Vgl. zu diesem Gedanken Hahn 2020, S. 51– 54.

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narrativen Unschärfe, dass das direkt als níð bezeichnete Strophenzitat lediglich den unverfänglichen Anfang eines Gedichtes darstellt.⁸¹⁰ Dass die darauffolgenden Strophen das níð stärker explizieren, wird ebenfalls in der Erzählung nahegelegt: En er hann hafði úti Þokuvísur, þá var myrkt í hǫllinni, ok er myrkt er orðit í hǫllinni, tekr hann aptr til Jarlsníðs, ok er hann kvað inn efsta ok síðasta þriðjung, þá var hvert járn á gangi, þat er í var hǫllinni, án manna vǫldum, ok varð þat margra manna bani. Jarl fell þá í óvit, en karl hvarf þá í brott at luktum dyrum ok óloknum lásum, en eptir af liðit kvæðit minnkaði myrkrit ok gerði bjart í hǫllinni. Jarl raknaði við ok fann, at honum hafði nær gengit níðit; sá þá ok vegsummerki, at af var rotnat skegg allt af jarli ok hárit ǫðrum megin reikar ok kom aldri upp síðan. Nú lætr jarl ræsta hǫllina, ok eru inir dauðu út bornir. Þykkist hann nú vita, at þetta mun Þorleifr verit hafa, en karl engi annarr. ⁸¹¹

Þorleifr wendet die Zauberkunst an, die sein Vater ihm in seiner Adoleszenz vermittelt hat. Den Strophen des Skalden werden hier folglich magische Wirkungen zugeschrieben, die vielen aus der Gefolgschaft des Jarls den Tod bringen.⁸¹² Auch die ergiVorwürfe werden weiter gesteigert, wie an der Atmosphäre und den Folgen erkennbar wird. Durch die Verdunkelung der Halle bekommt die Szene einen mystischen, geradezu verruchten Unterton, während die Rezitation des Dichters dem Ende zugeht. Nachdem er aus seiner Ohnmacht erwacht ist, stellt Hákon, wiederum das für die anwesenden Figuren und die Rezipierenden Offensichtliche bemerkend, fest, dass ihm das níð »nahe gegangen« ist, also erkennbare Spuren an ihm hinterlassen hat. Die fortschreitende Entmännlichung des Jarls drückt sich im Verlust des mit Virilität und Maskulinität verbundenen Haupt- und Körperhaares aus.⁸¹³ Darunter fällt für die mittelalterlichen Rezipierenden wohl noch deutlicher als für die modernen die Schambehaarung, die in direktem räumlichen Zusammenhang mit den Genitalien steht: Spätere Papierhandschriften der Saga spezifizieren nämlich, dass nicht nur Kopf- und Gesichtsbehaarung gemeint sind.⁸¹⁴ Im Gegensatz zum zuvor beschriebe Zu dieser narrativen Unschärfe vgl. Kap. 4.4.4.  Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 223; »Aber als er die Nebelstrophen beendet hatte, da war es dunkel in der Halle, und als es in der Halle dunkel geworden war, fuhr er mit dem Jarlsníð fort, und als er den dritten und letzten Teil sprach, da setzte sich jedes Schwert in der Halle ohne Zutun der Leute in Bewegung, und das bedeutete für viele Männer den Tod. Der Jarl wurde da bewusstlos, aber der Kerl [Þorleifr] verschwand bei verschlossenen Türen und mit ungeöffneten Schlössern. Aber nachdem das Gedicht vorbei war, verringerte sich die Dunkelheit und es wurde hell in der Halle. Der Jarl kam zu sich und bemerkte, dass das níð ihm nahe gegangen war; er sah da auch die Spuren des Geschehens, nämlich dass ihm der ganze Bart und alles Haupthaar am Scheitel ausgefallen war, und es wuchs nie wieder nach. Er glaubte nun zu wissen, dass dies Þorleifr gewesen sei und niemand anderes.«  Zum Aspekt des »Magischen« in Þorleifrs Strophen vgl. Tsitsiklis 2017, S. 366 – 373, demzufolge hier trotz der magisch aufgeladenen Darstellung der Geschehnisse um die Þokuvísur herum die eigentliche schädliche Wirkung des níð dessen beißender Spott ist. Als Argument hierfür führt er unter anderem an, dass die Bezugnahme auf die Þokuvísur innerhalb des Sneglu-Halla þáttr eindeutig im Kontext der sozialschädlichen Wirkung von níð-Dichtung geschieht, vgl. Tsitsiklis 2017, S. 372.  Vgl. die Besprechung des Auðunnar þáttr vestfirzka, dessen Hauptfigur ein ganz ähnliches Schicksal erleidet, in Kap. 4.1.2.  Vgl. dazu Falk 2005, S. 243.

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nen Juckreiz ist dieser Haarausfall von längerer Dauer, so dass Hákon noch über einen längeren Zeitraum hinweg davon gezeichnet ist, weil die mit dem níð verbundenen Anschuldigungen von ergi gleichsam seinem Körper eingeschrieben sind. So wie der Rauch des brennenden Schiffs in den Þokuvísur auf dem Wasser liegt, verschleiert die Art der Erzählung im Þorleifs þáttr jarlaskálds den direkten Blick auf die Ungeheuerlichkeit von Þorleifrs níð-Strophen. Es obliegt uns als Lesenden des Textes, aus den Hinweisen im Text auf den Inhalt der Strophen zu schließen. Das Wiederaufgreifen des Stellvertretermotivs in der Narration um Þorleifrs Tod verdient Beachtung. Wie der Skalde an seinem Hof bedient sich Jarl Hákon für die Vernichtung seines Gegners selbst einer stellvertretend handelnden Figur.⁸¹⁵ Der Skalde erschafft seinen Stellvertreter mit Worten und einer Verkleidung, während sein Gegenspieler sich dämonischer Kräfte bedient, um Þorleifr zu töten. Obwohl sich Þorleifr mit Hilfe seiner Kunstfigur Níðungr zunächst den Folgen seines Vortrags der Konuvísur entziehen kann, schafft er es schlussendlich nicht, sich der Dynamik seines níð zu entziehen und erliegt der dafür aus Hákons Sicht notwendig gewordenen Rache. Die durch das níð ins Wanken gebrachte soziale Ordnung ist in dieser Hinsicht wiederhergestellt und der Schaden gerächt. Gerade dieser von den beiden Figuren Þorleifr und Hákon genutzte Kniff bestätigt aufgrund der unterschiedlichen zugrundeliegenden Motive deren Etablierung als Kontrastfiguren im Text.⁸¹⁶ Gerade mit Blick auf das in diesem Buch untersuchte Gesamtcorpus zeugt der Þorleifs þáttr jarlaskálds eindrucksvoll von der schieren Macht, die der Dichtkunst von der Sagagesellschaft zugestanden wird. Die geäußerten und in der Erzählung nicht vollumfänglich präsenten Worte des Skalden wirken nämlich innerhalb und außerhalb des Textes fort.⁸¹⁷ Seine Dichtkunst wird auch nach seinem Tod weiter thematisiert: Dies geschieht im Text, wenn er seine Dichtkunst an den Schafhirten Hallbǫrn in

 Eine aus struktureller Sicht ähnliche Funktionalisierung einer »Stellvertreterfigur« zum Selbstschutz sieht McKinnell in der Figur Hervǫr-Hervarðr aus der Hervararkviða, einem Bestandteil der Hervarar saga ok Heiðreks. Zu deren Cross-Dressing äußert sich McKinnell wie folgt: »It is of course common in folktale for the heroine to adopt male clothing, and it may be seen as admirable when done out of love, as a means of escape, or in order to carry out vengeance. It is unlikely that Hervǫr has any of these reasons; her motive is probably assumed to be self-protection, since she is later addressed as vinr víkinga ›friend of Vikings‹ (st. 8,3), and presumably cannot afford to be recognised as a woman by her shipmates«, McKinnell 2014, S. 301. Kritisch zu dieser Lesung des Cross-Dressings für den Selbstschutz äußert sich Mayburd, sieht sie doch darin eine »uncritical assumption of female subordination«, Mayburd 2014, S. 126. Diese Lesung lasse außer Acht, dass es innerhalb der Narration äußere Umstände geben könnte, die dies ermöglichen, vgl. ibd. Angesichts der Gesamtkonzeption der Saganarration und ausgehend von der liminalen Wirkung von seiðr auf die Geschlechter seiner Anwender sei es daher naheliegender, in Hervǫrs Cross-Dressing eine (rituelle?) Vorbereitung auf die bevorstehende übernatürliche Begegnung auf Sámsey zu sehen, vgl. ibd., S. 146.  Auch in der komplizierten Gesamtkomposition der Flateyjarbók ist eine Kontrastierung feststellbar; diese betrifft das Verhältnis zwischen Hákon und seinem Nachfolger Óláfr Tryggvason, dessen Saga in der Flateyjarbók folgt. Vgl. dazu Würth 1991, S. 78 – 79.  Sauckel 2017, S. 209: »Die Erinnerung an Þorleifrs Schmähdichtung kann mit seinem Tod nicht ausgelöscht werden.«

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einer geradezu gespenstisch anmutenden Szene weitergibt, indem er ihm im Traum erscheint.⁸¹⁸ Darüber hinaus wird auch im Sneglu-Halla þáttr durch einen intertextuellen Bezug auf Þorleifrs Strophen die direkte Wiedergabe von níð vermieden, denn er äußert eine Drohung, die »is made indirectly, framed by Halliʼs (disingenuous) dream-description«.⁸¹⁹ Es genügt, dass Halli von einem Traum berichtet, in dem er selbst Þorleifr gewesen sei und sein Kontrahent Einarr der von ihm geschmähte Jarl: ›Ek þóttumk vera allr annarr maðr en ek em; þóttumk vera Þorleifr skáld, enn Einarr fluga þótti mér vera Hákon jarl, ok þóttumk ek níða hann, ok munða ek sumt í, er ek vaknaða‹. ⁸²⁰ Alleine der Verweis auf diese bekannte Szene genügt, dass der König die Rezitation augenblicklich unterbindet, um die Situation zu entschärfen. Dadurch wird Bezug auf Þorleifrs Strophen genommen, um eine weitere Handlung zu motivieren, ohne dass die Strophen selbst genannt werden müssen.⁸²¹ Diese Transgression, die aus der Diegese hinaus verweist, lässt auf intertextueller Ebene Þorleifr in einem anderen Text selbst zu einem Stellvertreter werden, den Halli nur anzitieren muss, um die Dinge nach seinem Willen zu beeinflussen.⁸²² Nach den Landstreicherfiguren als plot devices haben wir im Þorleifs þáttr jarlaskálds eine etwas spezialisiertere Form der narrativen Stellvertretung im Kontext einer níð-Episode erlebt, die sich wegen der Spiegelung im Handeln des Antagonisten in der textuellen Gesamtkomposition niederschlägt. Die Ambiguität des níð kommt darin zum Ausdruck, dass es für die Rezipierenden verschleiert dargestellt und auch innerhalb der Diegese zunächst nicht als solches erkannt wird. Noch weiter als der Þorleifs þáttr jarlaskálds geht beim Einsatz einer Stellvertreterfigur indes die Njáls saga, die im Folgenden in den Blickpunkt rückt. Hier dient der Stellvertreter nicht nur der Vermeidung eines níð, sondern die Sagagesellschaft wird in doppelter Hinsicht erschüttert: Durch das níð gegen ihre Hauptfigur und einen im selben Zug ausgeführten Angriff auf das intradiegetische Geschlechtergefüge.

4.4.3 Stritaðisk Njáll við at sitja – ›weibliches níð‹ im Rahmen einer hvǫt Das Konzept hvǫt, die gezielte Hetze zur Rache durch Frauen, war bislang außerhalb der Gattungseinteilungen noch nicht Schwerpunkt dieser Untersuchung. Dabei bietet

 Þorleifs þáttr jarlaskálds, S. 227– 229.  Abram 2015, S. 61. Spezifischer zum Erzählprinzip des Verweises auf eine nachgeoordnete Erzählebene im Kontext von níð vgl. Kap. 4.4.4.  Sneglu-Halla þáttr, S. 285; »›Ich schien ein ganz anderer Mann zu sein als ich bin. Ich schien der Skalde Þorleifr zu sein, und Einarr fluga schien mir der Jarl Hákon zu sein, und ich schien níð über ihn zu machen. Und an ein bisschen davon konnte ich mich erinnern, als ich erwachte.‹«  Vgl. zur Wirkung der nicht zitierten Strophen Abram 2015, S. 60 – 61.  Vgl. Genette 2010, S. 152. Der hier geschilderte Prozess lässt sich mit seinem Begriff der »narrativen Metalepsen« vereinbaren.

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es sich aus mehreren Gründen an, diesem Thema unter narrativen Gesichtspunkten Beachtung zu schenken: Inhaltlich ist die hvǫt dem níð, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt,⁸²³ in mancher Hinsicht ähnlich, wobei sie sich strukturell hauptsächlich hinsichtlich ihres Ziels von jenem unterscheidet. Für dieses Werk von Interesse sind die Schnittpunkte zwischen den beiden Konzepten etwa dann, wenn eine der handelnden Figuren im Rahmen ihrer hvǫt ausdrücklich die sozialen Dynamiken von níð aufnimmt, um effektiver das Ziel zu erreichen, einen getöteten Verwandten rächen zu lassen. Dass den Parallelen zwischen den beiden Konzepten erhöhter Wert zukommt, wenn es darum geht, gerade auch die geschlechtlichen Unterschiede narrativ nutzbar zu machen, ist bereits festgestellt worden und soll hier weiter ausgeführt werden.⁸²⁴ Nicht zuletzt Hellers Untersuchung zur Hetzerin in den Sagas hat Miller zu der Feststellung gebracht: »The goading woman is a commonplace in saga literature long recognized as such by literary critics«.⁸²⁵ Der zusätzliche Befund zur Häufigkeit dieses Motivs in den einzelnen Sagas, den Heller liefert, ist ebenfalls sehr aufschlussreich: Er stellt heraus, dass die Njáls saga mit ihrer auffälligen Häufung der Thematik einen beeindruckenden Anteil am Corpus der gesamten überlieferten hvǫt-Szenen innerhalb der Isländersagas halte.⁸²⁶ Es liegt daher nahe, sich für die Untersuchung des Aufgreifens von níð innerhalb der weiblichen Hetze auch schwerpunktmäßig diesem Text zuzuwenden. Hierfür sei auch nochmals an das typische Ablaufschema einer hvǫt erinnert, das nach den bislang vorliegenden Forschungsmeinungen und unter Berücksichtigung seiner Festlegung der geschlechtlichen Rollen aller Beteiligter wie folgt aussieht: hvǫt

Reaktion

Aw !!!Bm !!!!! Cm Der entscheidende schematische Unterschied zu níð ist die weibliche Besetzung der ersten Position bei einer hvǫt. Bei der Betrachtung des Þorsteinns þáttr stangarhǫggs zeichnete sich dem gegenüber ab, dass dort der alternde Vater diese Rolle an der ersten Position einnimmt.⁸²⁷ Bereits an dieser Episode wurde ersichtlich, dass das in weiten Teilen zutreffende Ablaufschema stellenweise durchlässig zu sein scheint, was das Geschlecht der betroffenen Figuren anbelangt. Im Nachgang zu dieser Beobachtung werden wir im Folgenden nochmals auf diese beiden Schemata zurückgreifen, um solche Durchlässigkeiten auch an Textstellen sichtbar zu machen, wo sie durch die erzählerische Darbietung verschleiert werden. Bei den Ereignissen handelt es sich um eine breit angelegte Inszenierung, die sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Erzählebene sorgfältig durchorchestriert ist. Dass eine Frau auf die als männlich be-

 Vgl. Kap 3.5.  Vgl. Hahn 2016, S. 146.Viele der Beobachtungen dieses Kapitels finden sich auch an anderer Stelle wieder, vgl. Thoma 2021 (in Vorbereitung).  Miller 1983, S. 181. Vgl. Heller 1958, S. 99.  Vgl. Heller 1958, S. 99.  Vgl. Kap. 4.1.8.

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griffene Interaktionsform níð zurückgreift, scheint nämlich mit einigem Aufwand verbunden zu sein. Damit ließe sich die Saga allerdings nicht so einfach in ein binäres Schema einteilen, wie es etwa Allen sieht, wenn er über deren Gestaltungsweise und Themen schreibt: In Njáls saga – a saga which as it goes along more and more clearly presents a dialectic between conserving and destroying forces – it is therefore at least appropriate that those forces which fall on the destroying side should, in general, line up with elements belonging to the female world and that those forces which fall on the masculine side are these which strive to maintain order.⁸²⁸

Der eponyme Held der Brennu-Njáls saga wird im Verlauf der Erzählung mehrmals zum Ziel von níð. In vielen Fällen steckt dahinter Hallgerðr, die Frau seines Freundes Gunnarr von Hlíðarendi, die Njálls Bartlosigkeit als bequemen Anlass nimmt, um ihn zu verspotten und gezielt seine Männlichkeit zu dekonstruieren. Während der langen Fehde zwischen den beiden Höfen kommt es zu der Szene, in der Hallgerðr anlässlich des Besuchs und des Tratsches einer Gruppe von umherziehenden Frauen im 44. Kapitel der Saga den anwesenden Skalden Sigmundr Lambason darum bittet, schmähende Strophen über Njáll zu dichten.⁸²⁹ Dies gibt uns nicht nur die Möglichkeit, gleich zwei Figuren auf ihre Charakterisierung hin zu untersuchen, sondern auch das Verhältnis zwischen níð und den Geschlechterrollen innerhalb der Njáls saga. Hallgerðr ist zu diesem Zeitpunkt in der Saga bereits längst als »Femme fatale«⁸³⁰ etabliert, die zwei Ehemänner auf dem Gewissen hat und den Lesenden als eine exzesshafte Figur gegenwärtig ist.⁸³¹ Den ersten Hinweis auf ihren schwierigen Charakter erhalten wir bereits ganz zu Beginn der Erzählung, als ihr Onkel Hrútr über die spielende Hallgerðr sagt, sie sei außerordentlich schön, er könne sich aber nicht erklären, wie ihre Diebesaugen in die Familie gekommen seien (›Œrit fǫgr er mær sjá, […] en hitt veit ek eigi, hvaðan þjófsaugu eru komin í ættir várar‹).⁸³² Mit dieser Bemerkung bringt er zum Ausdruck, dass sich in dem schönen kindlichen Körper etwas Monströses verbirgt – eine in den Sagas verbreitete Vorstellung, die dann meist auf Gestaltwandler wie etwa Werwölfe zutrifft, deren monströsen Eigenschaften auch in Menschenform aufgrund ihrer Augen erkannt werden können.⁸³³ Ebenso wird bereits hier im ersten Kapitel vorweggenommen, dass Hallgerðr später unter anderem auf Mittel des Diebstahls zurückgreifen wird, wobei die Njáls saga eine von nur zwei Sagas im Untersuchungscorpus der Isländersagas ist, in denen weiblicher Diebstahl the-

 Allen 1971, S. 147.  Vgl. dazu Kap. 4.2.2.1.  So Kress 2004, S. 288. Teichert bezeichnet sie in seiner Untersuchung zur Frau als Horrorgestalt in der altnordischen Literatur mit dem Wort »Vamp«: Teichert 2014, S. 189.  Vgl. Sayers 1994, S. 9.  Njáls saga, S. 7; »›Dieses Mädchen ist sehr schön […], aber das weiß ich nicht, woher diese Diebesaugen in unsere Familie gekommen sind.‹«  Vgl. zu dieser Vorstellung Teichert 2014, S. 174– 175. Das Schweigen vor Hrútrs Antwort trägt maßgeblich zu deren Wirkung bei, vgl. Einar Ól. Sveinsson 1971.

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matisiert wird.⁸³⁴ Immer wieder tritt sie als sehr selbstbestimmt und durch den bewussten Einsatz ihrer Attraktivität für ihre Zwecke auf. Dadurch wird sie als Frau von bemerkenswerter sexueller Wirkung auf Männer gezeichnet.⁸³⁵ Für Heusler wird sie damit zur »Unheilstifterin von Amts wegen«,⁸³⁶ wie Heller anmerkt und weiter ausführt.⁸³⁷ Zu dem so gezeichneten Bild dieser Figur trägt die häufige Beschreibung ihres Haares bei, das ihr bis über die Hüfte reicht und so ihre sowohl erotische als auch gefährliche Erscheinung unterstreicht.⁸³⁸ Borovsky sieht in ihrer Beschreibung als blandin ›von zweifelhaftem Charakter, unzuverlässig, falsch‹⁸³⁹ eine Charakterisierung, die auf ein Weiblichkeitsbild hindeutet, das wie die mythischen Riesinnen einer heroischen Vergangenheit angehöre. So sei es auch konsequent, dass sie später von ihrem Mann Gunnarr die Einhaltung alter Ideale einfordere. Innerhalb einer solchen Charakterisierung seien die Diebesaugen integraler Bestandteil.⁸⁴⁰ Nachdem diese Frau mit den Diebesaugen zwei ihrer Ehemänner gewaltsam losgeworden ist, steht ihre Ehe mit Gunnarr von Hlíðarendi an, dem engsten Freund des weisen Njáll. Dieser warnt seinen Freund vor der Ehe, was ein weiteres Zeichen an die Rezipierenden für die von ihr ausgehende Gefahr darstellt. Auf den Wunsch nach einer Hochzeit angesprochen, entgegnet Hrútr dem heiratswilligen Werber Gunnarr mit einem Katalog ihrer charakterlichen Mängel, wovon dieser sich im Ergebnis aber nicht in seinen Heiratsplänen abbringen lässt.⁸⁴¹ Hier lässt der Erzähler wieder eine Charakterisierung durch ihren Onkel vornehmen, der sich schon zu Beginn der Saga über ihre Diebesaugen geäußert hat. Tatsächlich kommt es nach der bald darauf stattfindenden Hochzeit bei einer Feier auf Bergþórshváll zu einem Streit unter den Frauen über die Sitzordnung. Dieser Streit scheint für Hallgerðr ausreichend zu sein, um Njálls Sippe lebenslang die Feindschaft zu schwören. Bergþóra brüskiert Hallgerðr mit der scharfen Aufforderung, der Frau ihres Sohnes Helgi Platz zu machen: ›Þú skalt þoka fyrir konu þessi‹. ⁸⁴² Sie setzt sich damit am Ende gegen Hallgerðrs Widerstand  Hahn 2016, S. 150 bzw. 145.  Dazu Dronke 1981, S. 17: »The demanding girl, early aware of the overwhelming effect of her unusual beauty, relies upon it to get her own way, from father and fosterfather alike.« und Kress 2004, S. 280; sie interpretiert die Figur dahingehend, dass Hallgerðr ihr langes offenes Haar als Zeichen von Promiskuität instrumentalisiere.  Heusler (Übers.) 1963, S. 12.  Vgl. Heller 1958, S. 103 – 104.  Vgl. Sayers 1994, S. 10 mit Verweis auf Jochens 1991c. Mit ihrem vollen seidenen Haar stellt Hallgerðr damit einen Gegensatz zu Njáll und seinen Söhnen dar, vgl. Kress 2004, S. 289. Anders als viele spätere Lesungen von Hallgerðr als einer frivolen Frauenfigur positioniert sich Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 128: »Much can be said against Hallgerður, but she is neither frivolous nor flirtatious.«  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. blanda.  Vgl. Borovsky 2001, S. 11.  Njáls saga, S. 86: Hrútr segir Gunnarri allt um skaplyndi Hallgerðar ófregit, ok þótti Gunnarri þat fyrst œrit mart, er áfátt var, en þar kom um síðir, at saman fell kaupmáli þeira; »Hrútr erzählte Gunnarr ungefragt von Hallgerðrs Wesen, und es schien Gunnarr zunächst sehr viel Tadelnswertes daran zu sein, aber es kam schließlich dazu, dass ihre Abmachung zustande kam.«  Njáls saga, S. 91; »›Du sollst für diese Frau weichen!‹«

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durch und bekommt ihren Willen. Hallgerðr lässt das nicht auf sich sitzen. Sobald Bergþóra mit dem Wasser zum Händewaschen zum Tisch kommt, entspinnt sich zwischen den beiden ein »Machtkampf um weibliche Ehre«,⁸⁴³ in dessen Verlauf harte Worte fallen: Hallgerðr tók hǫndina Bergþóru ok mælti: ›Ekki er þó kosta munr með ykkr Njáli: þú hefir kartnagl á hverjum fingri, en hann er skegglauss.‹ ›Satt er þat,‹ sagði Bergþóra, ›en hvárki okkart gefr þetta ǫðru at sǫk; en eigi var skegglauss Þorvaldr, bóndi þinn, ok rétt þú honom þó bana.‹ ⁸⁴⁴

Bei genauerem Hinsehen kann man hierin bereits angedeutetes níð erkennen, wenn Hallgerðr auf Njálls Bartlosigkeit anspielt, die in ihren Augen ein Kennzeichen von ergi ist. Allerdings verdient auch die Erwähnung von Bergþóras Fingernägeln Beachtung. Den im Mittelalter vorherrschenden sexualmoralischen Vorstellungen war die Vorstellung nicht fremd, sexuelles Übermaß an beschädigten Nägeln festmachen zu können: Kartneglurnar tíu á sennilega ekki að skilja einvörðungu sem móðgandi eða spottandi ummæli um stórfellt lýti, heldur sem ærumeiðingu eða níð, sem undan sviði – sem lýsingu á taumlausri léttuð Bergþóru.⁸⁴⁵

Beschädigte Nägel sind diesen Vorstellungen zufolge nicht allein als Ungepflegtheit oder Folge einer Erkrankung wie Psoriasis zu sehen, sondern – wie beispielsweise auch juckende Ohren – ein dem Körper eingeschriebenes Zeichen von Wollust.⁸⁴⁶ Demzufolge sind in diesem Wortgefecht zwischen Hallgerðr und Bergþóra die zentralen Themen des Konfliktes vorgezeichnet. Hallgerðrs Aussage ist nicht nur dahingehend zu verstehen, dass Bergþóras Fingernägel nicht »ladylike«⁸⁴⁷ sind, sondern sie

 Kress 2004, S. 284; das Motiv eines Streites um die weibliche Ehre, in dem später Beleidigungen mit sexuellem Inhalt fallen, findet sich auch in der Ljósvetninga saga. Vgl. dazu Kap. 4.3.1.3. Hinter diesem »Machtkampf« steckt selbstverständlich zu einem großen Teil die empfundene Wertigkeit der eigenen Ehe.  Njáls saga, S. 91; »Hallgerðr nahm Bergþóras Hand und sagte: ›Es besteht doch kein (wertiger) Unterschied zwischen dir und Njáll: Du hast einen kaputten Nagel [Anm.: zu dieser Übersetzung vgl. im Folgenden] an jedem Finger, und er ist bartlos.‹ ›Das stimmt‹, sagte Bergþóra, ›aber keiner von uns macht dies dem anderen zum Vorwurf; und dein Mann Þorvaldr war übrigens nicht bartlos, und dennoch hast du ihm den Tod gebracht.‹«  Matthiesen 1965, S. 128; »Die zehn beschädigten Nägel müssen möglicherweise nicht nur als beleidigendes oder spöttelndes Gerede über Nachlässigkeit verstanden werden, sondern eher als Ehrenkränkung oder níð, das darunter liegt – als Zeichen von Bergþóras zügellosen Verhaltens.«  Diese Vorstellungen, deren Wurzeln zum Teil bis in die Antike zurückreichen, finden sich noch bei Luther, vgl. Matthiesen 1965, S. 127. Isländische Heilbücher des 16. Jahrhunderts enthielten Beschreibungen von Arzneien, die gegen kartneglur helfen sollten, vgl. ibd., S. 128, wo sich weitere Beispiele für das Fortleben dieser Idee in Festlandskandinavien in der frühen Neuzeit finden.  Ármann Jakobsson 2007, S. 197.

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unterstellt hier gleichzeitig Njáll und seiner Frau, argr beziehungsweise rǫg zu sein.⁸⁴⁸ An Gunnarr richtet sie in diesem Zuge auch die Aufforderung, sich für Bergþóras Worte zu rächen, durch die sie ihre Ehre gekränkt sieht. Sie tut dies mit den typischen Mitteln einer hvǫt, indem sie seine Männlichkeit in Frage stellt: ›Fyrir lítit kemr mér […] at eiga þann mann, er vastkastr er á Íslandi, ef þú hefnir eigi þessa, Gunnarr.‹ ⁸⁴⁹ Dieser Appell an die Männlichkeit des Familienmitglieds ist eine durchaus übliche Aufforderung zum Handeln im Rahmen einer hvǫt. Hallgerðr wird jedoch bald darauf noch wesentlich konkreter: Als Gunnarr und Njáll sich auf einen finanziellen Vergleich in Form einer Wergeldzahlung für Njálls erschlagenen Knecht Atli einigen, lässt sie wenig Zweifel daran, dass sie eine andere Form der Konfliktlösung bevorzugt hätte: Hallgerðr mælti til Gunnars: ›Hefir þú goldit hundrað silfirs fyrir víg Atla ok gǫrt hann at frjálsum manni?‹ ›Frjáls var hann áðr,‹ segir Gunnarr, ›enda skal ek ekki gera at óbótamǫnnum heimamenn Njáls.‹ ›Jafnkomit mun á með ykkr,‹ segir Hallgerðr, ›er hvárrtveggi er blauðr.‹ ⁸⁵⁰

Ihr stößt demzufolge scheinbar hauptsächlich auf, dass Gunnarr die volle Mannbuße für Atli bezahlt und ihn damit quasi postum zum freien Mann aufwertet. Allerdings scheint sie die Regelung dieser Mordsache über die Zahlung einer Buße generell abzulehnen und eine in ihren Augen männliche Konfliktlösung zu bevorzugen, wohl in Form einer offenen Auseinandersetzung oder eines Kampfes zwischen den beiden Männern – darauf lässt jedenfalls ihre Charakterisierung der beiden als blauðir schließen. Für sie verhalten sich damit sowohl ihr Mann Gunnarr als auch dessen Freund Njáll unmännlich. Die fehlende Bereitschaft Njálls, den Mord an Atli über einen Kampf zu rächen – er regelt ihn stattdessen über ein Bußgeld –, dürfte hier für Hallgerðr jedoch schwerer wiegen als das Eingehen ihres Mannes auf die vorgeschlagene Einigung. Implizit ist auch hier eine Aufforderung zum Handeln im Sinne der hjón zu verstehen. Der anschwellende Konflikt zwischen den Höfen unterliegt einer Steigerung, wenn die soziale Stellung der Beteiligten mit Fortschreiten der Handlung höher wird, also zunächst Knechte, dann Verwandte der beiden Höfe getötet werden.⁸⁵¹ Vor dem Hintergrund dieser gegenseitigen Tötungen entfalten sich nun die nächsten Schritte in Hallgerðrs Plan, den sie gerade mit den beiden hvǫtSequenzen eingeläutet hat.

 Kress 2004, S. 284. Die Implikation von rǫg führt mit sich, dass ihr hier zusätzlich vorgeworfen wird, sie hätte die Hilfe eines anderen als ihres bartlosen Mannes benötigt, um ihre Söhne zu zeugen, vgl. Dronke 1981, S. 21.  Njáls saga, S. 91; »›Es bringt mir nichts […] den tüchtigsten Mann auf Island zu haben, wenn du das nicht rächst, Gunnarr.‹«  Njáls saga, S. 102; »Hallgerðr sagte zu Gunnarr: ›Hast du hundert Mark Silber für die Erschlagung Atlis gezahlt und ihn zum freien Mann gemacht?‹ ›Frei war er bereits zuvor‹, sagte Gunnarr, ›und ich werde aus Njálls Männern keine Verbrecher [wörtlicher: bußlose Männer] machen.‹ ›Ihr seid doch beide gleich‹, sagt Hallgerðr. ›Jeder von euch beiden ist blauðr.‹«  Vgl. Heller 1958, S. 105.

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Als der Skalde Sigmundr Lambason von einer seiner Handelsreisen nach Hlíðarendi zu Gunnarrs und Hallgerðrs Hof kommt, wird er von Gunnarr freundlich empfangen. Gleichzeitig erteilt Gunnarr ihm jedoch den Rat, er möge sich vor seiner Frau Hallgerðr in Acht nehmen: Gunnarr tók vel við þeim; var þar frændsemi mikil með þeim Sigmundi. Gunnarr bauð Sigmundi at vera þar um vetrinn; Sigmundr kvezk þat þiggja mundu, ef Skjǫldr væri þar, félagi hans. ›Svá er mér frá honum sagt,‹ sagði Gunnarr, ›at hann sé þér engi skapbœtir; en þú þarft hins heldr, at bœtt sé um með þér. Er hér ok vǫnd vistin. Vilda ek ráða yðr ráð, frændum mínum, at þér hlypið eigi upp við frameggjan Hallgerðar, konu minnar, því at hon tekr þat mart upp, er fjarri er mínum vilja.‹ ⁸⁵²

Es dauert nicht lange, bis Hallgerðr beginnt, Sigmundr für sich zu vereinnahmen und sich ihm gegenüber so zuvorkommend verhält, dass es bald schon Gerede darüber gibt (ok lǫgðu margir þat til orðs ok þóttusk eigi vita, hvat undir myndi búa).⁸⁵³ Die Saga berichtet im Anschluss davon, wie Sigmundr zusammen mit Skjǫldr und Gunnarrs Onkel Þráinn Sigfússon auf Hallgerðrs Wunsch hin dem Ziehvater von Njálls Söhnen, Þórðr Leysingjason, in einem Hinterhalt auflauert und ihn erschlägt.⁸⁵⁴ Aus dem Mund von Þráinn erfolgt die moralische Bewertung dieser Tat: ›Vér hǫfum illt verk unnit, ok munu synir Njáls illa kunna víginu, þá er þeir spyrja‹. ⁸⁵⁵ Gunnarr einigt sich mit Njáll im Anschluss an diesen Totschlag auf eine Wergeldzahlung für Þórðr, um die Freundschaft zwischen den beiden nicht zu gefährden. Bei seiner Rückkehr nach Hlíðarendi wendet er sich an Sigmundr. In Bezug auf dessen Figur findet in Gunnarrs Ansprache nun zusätzlich zu einer skaldentypischen Einführung⁸⁵⁶ eine indirekte Charakterisierung durch Gunnarr statt, der zu diesem Zeitpunkt längst als eine positive Instanz in der Erzählung etabliert ist und dessen Einschätzung die Sagalesenden insoweit Vertrauen schenken.⁸⁵⁷ Seine Reaktion auf die Erschlagung Þórðrs ist eindeutig: ›Ert þú mér ekki skaplíkr; þú ferr með spott ok háð, en þat er ekki mitt skap; kemr þú þér því vel við Hallgerði, at it eiguð meir skap saman.‹ ⁸⁵⁸  Njáls saga, S. 105 – 106; »Gunnarr nahm sie gut auf; es war da enge Verwandtschaft zwischen ihm und Sigmundr. Gunnarr bat Sigmundr, den Winter über zu bleiben; Sigmundr sagte da, er wolle das annehmen, wenn sein Geschäftspartner Skjǫldr auch bleiben könne. ›So wird mir von ihm gesagt‹, sagte Gunnarr, ›dass er einen schlechten Einfluss auf dich hat; aber du hättest es nötig, dass du dich besserst. Es ist hier auch ein schwieriger Besuch. Ich möchte euch den Rat geben, liebe Verwandte, dass ihr euch nicht von den Aufstachelungen meiner Frau Hallgerðr beeinflussen lasst, denn sie tut vieles, was nicht meinem Willen entspricht.‹«  Njáls saga, S. 106; »Und viele redeten darüber und schienen nicht zu wissen, was dahintersteckte.«  Njáls saga, S. 108 – 109.  Njáls saga, S. 109; » ›Übles haben wir getan, und die Njállssöhne werden den Totschlag übel aufnehmen, wenn sie davon erfahren.‹«  Vgl. zu diesen Einführungen das Kapitel 5.2.1.  Vgl. Lönnroth 2011, S. 95.  Njáls saga, S. 111; »›Du bist mir vom Wesen her nicht ähnlich; du gehst mit Spott und Hohn vor, und das ist nicht meine Art; du verstehst dich gut mit Hallgerðr, weil ihr mehr von eurer Art gemeinsam habt.‹«

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Wir wenden uns nun der Szene in Hallgerðrs Stube auf Hlíðarendi zu, sicherlich einem der erzählerischen Höhepunkte in der Njáls saga, und gleichzeitig ein Wendepunkt der Ereignisse, an dem Hallgerðr weiter geht als je zuvor. Die Ausgangslage vor dieser Szene ist denkbar aufgeheizt, als eine Gruppe von umherziehenden Frauen an den Hof kommt und zu Gast bei Hallgerðr bleibt. Von ihnen heißt es, sie seien geschwätzig und redeten bösartig daher (Þær váru málgar ok heldr orðillar).⁸⁵⁹ Wir erfahren, dass neben Hallgerðrs Tochter Þorgerðr auch viele weitere Frauen in Hallgerðrs Stube (dyngja) sitzen – und als einzige Männer an diesem weiblich konnotierten Ort⁸⁶⁰ Þráinn und Sigmundr: Sá atburðr varð, at farandkonur kómu til Hlíðarenda frá Bergþórshváli. Þær váru málgar ok heldr orðillar. Hallgerðr átti dyngju, ok sat hon þar optliga í; þar var þá Þorgerðr, dóttir hennar, ok Þráinn; þar var ok Sigmundr ok fjǫldi kvenna. Gunnarr var eigi þar né Kolskeggr. Farandkonur þessar gengu inn í dyngjuna; Hallgerðr heilsaði þeim ok lét gefa þeim rúm ok spurði at tíðendum, en þær kváðusk engi segja. Hallgerðr spurði, hvar þær hefði verit um nóttina. Þær sǫgðusk verit hafa at Bergþórshváli. ›Hvat hafðisk Njáll at?‹ segir hon. ›Stritaðisk hann við at sitja,‹sǫgðu þær. ›Hvat gerðu synir Njáls?‹ sagði hon; ›þeir þykkjask nú helzt menn.‹ ⁸⁶¹

Es folgt ein Dialog, in dem die verschiedenen Tätigkeiten der Söhne aufgelistet werden, die aufgrund ihres kriegerischen Charakters als männlich im Sinne der Sagagesellschaft aufgefasst werden können. So werden Äxte gewetzt und Speere und Schwerter sowie Schilde vorbereitet.⁸⁶² Zuletzt kommen sie auf die Hofwirtschaft selbst zu sprechen, und im Rahmen dessen auf die Domäne útan stokks, also den männlich konnotierten Tätigkeitsbereich außerhalb der Türschwelle. Dass die Bettlerinnen beobachtet haben, wie die Njállssöhne um die Felder herum gedüngt haben, weil ein Knecht meint, dadurch wüchsen die Felder besser, veranlasst Hallgerðr zu spöttischen Bemerkungen und einer Aufforderung an Sigmundr:

 Njáls saga, S. 112; »Sie waren geschwätzig und recht bösartig.«  Darauf weist Einar Ól. Sveinsson hin: »Dyngjur voru vinnustofur kvenna«, Njáls saga, S. 112, Fn. 1. Die explizite Betonung der Abwesenheit von Hallgerðrs Mann Gunnarr von diesem Ort unterstreicht Kress 2004, S. 289. Borovsky hebt hervor, dass in diesem Bereich die Handlungssphären umgekehrt sind: »These women performed in the more private space. In addition to the social- legal concept of official public space, with its center at the Althing, there was another spatial dimension with the farmstead as the center and the world outside as the periphery.«, Borovsky 2016, S. 15.  Njáls saga, S. 112; »Es geschah, dass Bettlerinnen von Bergþórshváll nach Hlíðarendi kamen. Sie waren geschwätzig und recht bösartig. Hallgerðr hatte eine Stube, und darin saß sie oft; da war auch Þorgerðr da, ihre Tochter, und Þráinn. Es war auch Sigmundr da und eine Schar Frauen.Weder Gunnarr noch Kolskeggr waren da. Die genannten Bettlerinnen gingen in die Stube hinein. Hallgerðr grüßte sie und fragte sie nach Neugikeiten, aber sie sagten von sich, dass sie keine zu berichten hätten. Hallgerðr fragte, wo sie in der Nacht gewesen seien. Sie sagten, dass sie auf Bergþórsváll gewesen seien. ›Was hat Njáll getan?‹, fragte Hallgerðr. ›Er hatte es schwer zu sitzen‹, sagten sie. ›Was haben die Söhne Njálls getan?‹, fragte Hallgerðr. ›Sie halten sich jetzt für ganze Männer.‹«  Njáls saga, S. 112.

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›[Njáll] ók eigi í skegg sér, at hann væri sem aðrir karlmenn, ok kǫllum hann nú karl inn skegglausa, en sonu hans taðskegglinga, ok kveð þú um nǫkkut, Sigmundr, ok lát oss njóta þess, er þú ert skáld.‹ Hann kvezk þess vera albúinn ok kvað þegar vísur þrjár eða fjórar, ok váru allar illar. ›Gersimi ert þú,‹ sagði Hallgerðr, ›hversu þú ert mér eptirlátr.‹ ⁸⁶³

Hallgerðr, die ihn nach den Erzählungen der Bettelfrauen dazu aufgefordert hat, goutiert Sigmundrs Handeln. In ihren Worten bestätigen sich nun Gunnarrs warnende Worte an Sigmundr, der durch diese Aussage und sein fremdbestimmtes Handeln wie Hallgerðrs folgsames Schoßhündchen wirkt: »In this context, Hallgerðr’s praise of Sigmundr as gersimi (›pet‹) stands out as deeply ironic.«⁸⁶⁴ Einar Ólafur Sveinsson bezeichnet ihre Äußerungen als »words that are like a kiss or caress«.⁸⁶⁵ Gestört wird die gelöste und ausgelassene Atmosphäre von Gunnarr, der die Strophen hört und just in diesem pikanten Moment die Szene betritt: [Þ]ǫgnuðu þá allir, en áðr hafði þar verit hlátr mikill. ⁸⁶⁶ Dieses kollektive Verstummen zeigt, dass sich die Anwesenden (und allen voran Hallgerðr und Sigmundr) sehr wohl darüber bewusst sind, dass hier in einem vermeintlich geschützten Raum Grenzen des sozial Akzeptablen überschritten wurden. Gunnarrs wütende Worte an Sigmundr unterstreichen diesen Eindruck – er schließt ihm gegenüber mit der Feststellung, die Strophen würden noch sein Untergang werden (›ok mun þetta vera þinn bani‹)⁸⁶⁷ und verbietet allen anderen, die Strophen zu wiederholen. Auf der Erzählebene passiert in Hallgerðs dyngja einiges, was einen näheren Blick wert ist. Das Tempo der Erzählung fährt an diesem Punkt rapide herunter. Die anwesenden Figuren und die Szene werden detailliert in einer Art und Weise beschrieben, die der narrativen Technik des »stagings« kurz vor einem erzählerischen Höhepunkt nach Anderssons Definition entspricht: There is a deceleration of pace, a magnifying of detail, and a dwelling on incidentals in order to focus the central event one last time and enhance its importance in relation to the rest of the story.⁸⁶⁸

 Njáls saga, S. 112– 113; »›[Njáll] hat sich nicht den Bart gedüngt, damit er wie andere Männer wäre. Lasst uns ihn jetzt den bartlosen Kerl nennen und seine Söhne die Mistbärte. Sag doch jetzt etwas dazu, Sigmundr, und lass uns einen Nutzen davon haben, dass du Skalde bist!‹ Er sagte, dazu wäre er bereit und sprach sofort drei oder vier Strophen, und sie waren alle bösartig. Hallgerðr sagte: ›Du bist ein Schatz, weil du mir so nach dem Mund redest!‹«  Lönnroth 2011, S. 96.  Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 74.  Njáls saga, S. 113; »Da verstummten sie alle, doch zuvor hatte es dort großes Gelächter gegeben.«  Njáls saga, S. 113; »›Und das wird dein Tod sein.‹«  Andersson 1967, S. 54. Auf den Umstand, dass diese Szene in Hlíðarendi mit ihrem Dialog zwischen Hallgerðr und den Bettlerinnen einer der Höhepunkte der Erzählung ist, weist unter anderem Lönnroth hin, 2011, S. 95. Anders als Lönnroth, der Anderssons »staging« vorrangig im unmittelbaren Vorfeld zur brenna als narrative Technik eingesetzt sieht (S. 97), halte ich bereits diese hier besprochene Stelle aus den oben genannten Gründen für ein gelungenes Beispiel dieser Erzähltechnik.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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In Relation zu den vermittelten Informationen ist die erzählte Zeit sehr kurz, und gerade in diesem Kontext ist es erstaunlich, dass der Inhalt der Strophen nicht genauer wiedergegeben wird; er bildet gleichsam einen erzählerischen blinden Fleck in einem ansonsten sehr elaboriert und farbenfroh gemalten Bild. Die fehlende Wiedergabe der Strophen steht in einem krassen Kontrast zur Akribie, mit der die Szene ansonsten geschildert wird. Der Bruch, den sie verursachen, wird nochmals in Gunnarrs Ausbruch und der Reaktion der anderen deutlich: »Gunnar succeeds in his silencing and cencorship to the extent that the poet’s verses are not given in the saga.«⁸⁶⁹ Für die bettelnden Frauen hingegen funktionieren seine Verbote nicht, da sie als farandkonur außerhalb der Gesellschaftsordnung der Saga verortet und daher nicht an ihre Regeln gebunden sind.⁸⁷⁰ Die Strophen selbst werden innerhalb der Saga ein zweites Mal thematisiert, als Gunnarr sie auf dem Althing vorträgt, um sie danach für immer verbieten zu lassen.⁸⁷¹ Wie Müller feststellt, sind hier Handlungs- und Erzählebene im Einklang, da wir auch an dieser Stelle die Strophen nicht zu Gesicht bekommen, obwohl sie innerhalb der Erzählebene rezitiert (und dann verboten) werden.⁸⁷² Damit hat gleichzeitig, ohne dass die Strophen je erwähnt worden wären, die Kenntnis über das níð eine gewaltige Öffentlichkeit erreicht. Von Hallgerðrs Stube aus ist es vor das Althing, in das Herz der isländischen Gesellschaft, getragen worden. Verantwortlich dafür war ausgerechnet ihr Mann, Njálls bester Freund Gunnarr. Sich nach dieser doppelten Verschleierung dem möglichen Inhalt der Strophen zu nähern, ist daher Sache der Rezipierenden, die ihren Kontext und die Szene kennen. Das betrifft hier das Gespräch zwischen den Bettlerinnen und Hallgerðr. Was als scheinbar lockerer Dialog beginnt, hat möglicherweise eine zweite Ebene, die überhaupt dazu führt, dass Hallgerðr den Skalden Sigmundr zum Dichten seiner Strophen auffordert. Einmal mehr bezieht sie sich explizit auf Njálls Bartlosigkeit – an dieser Stelle sind diese Bezüge längst eine Art ›running gag‹ innerhalb der Saga geworden – und nimmt die Äußerung des Knechtes, das Gras wachse besser, wenn man es mit Dung bedecke, zum Anlass für erneute Attacken auf Njáll. Sie spricht ihm seine Weisheit ab und behauptet, er hätte den Dung ja auch für sein Gesicht verwenden und damit seinen Bartwuchs anregen können. Was zuvor noch im Spott geäußert wurde, münzt Hallgerðr hier zum neuen Spitznamen für Njáll um: karl inn skegglausi (»der bartlose Kerl«). Spätestens an dieser Stelle setzt sie Njálls Merkmal bewusst zur Dekonstruktion von Njálls Männlichkeit ein, gingen ihr doch Äußerungen voraus, in

 Kress 2000, S. 198.  Vgl. Kress 2000, S. 198 und Kress 2004, S. 290, sowie Kap. 4.4.1, das sich mit diesen Figuren beschäftigt.  Njáls saga, S. 118.  Vgl. Müller 2001, S. 65 – 66. Ihr zufolge ist der Zweck dieser Verschränkung, dass die Hauptfigur Njáll vom Erzähler gegenüber den Spottversen in Schutz genommen werden soll. Einer eindeutig positiven Figurenzeichnung Njálls wurde bereits in Kap. 4.3.1.2 kritisch begegnet, so dass ein expliziter Schutz der Hauptfigur weniger Ziel dieser Erzählweise sein dürfte.Vielmehr dürfte die Übertretung von Geschlechtergrenzen im Mittelpunkt stehen, wie in diesem Kapitel argumentiert wird.

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denen sie Njáll im Rahmen der hvǫt gegen ihren Ehemann Gunnarr als unmännlich, als blauðr, bezeichnet deren nicht vorhandene Bereitschaft zur Fehde herausgestellt und zumindest letztere mit der Bartlosigkeit verknüpft hat. Den mit dieser fehlenden – oder besser: in ihren Augen fehlerhaften – Männlichkeit verbundenen Makel überträgt sie zugleich auf seine Söhne, denen sie den Spitznamen »Dungbärte« (taðskegglingar) gibt – sie zeigt damit, dass ein bartloser (in ihren Augen also: unmännlicher) Mann keine Söhne mit Bartwuchs haben kann. Die Njállssöhne müssen sich diesem Verständnis nach wie ihr Vater mit Dung beholfen haben, um diesem Umstand beigekommen zu sein.⁸⁷³ Es ist nicht verwunderlich, dass die an dieses Gespräch anschließenden Strophen mit Koprophagie in Verbindung gebracht werden, schließlich impliziert das Bild von Tierfäkalien als Düngemittel für den Bart, dass diese im Gesicht und auch um die Mundpartie herum aufgetragen werden.⁸⁷⁴ Doch der Beginn des Gesprächs zwischen Hallgerðr und den Bettlerinnen lässt Raum für eine weitere Bedeutungsebene, die inhaltlich und thematisch näher am Kern des níð-Diskurses liegt. Zuerst erkundigt sich Hallgerðr nach Njáll selbst (›Hvat hafðisk Njáll at?‹), worauf die Bettlerinnen mit ›[s]tritaðisk hann við at sitja‹ antworten. Dieser Satz steht etwas isoliert am Anfang der Eskalation in dieser Szene und kann je nach Lesart mehrdeutig wirken. Betrachtet man die Situation im Ganzen, ist gleich nach dieser Aussage die Rede von den Tätigkeiten der einzelnen Mitglieder im Haushalt: Njálls Söhne sind allesamt damit befasst, Waffen auszubessern und einer der Knechte bringt den Mist weg. Inmitten dieses geschäftigen Treibens hat Njáll Mühe oder Anstrengung damit, ruhig zu sitzen. Da das Verbum sitja nicht nur sitzen, sondern auch »sitzen bleiben« oder »stillsitzen« bedeuten kann,⁸⁷⁵ käme in dieser Lesung hier Njálls eigentliches Bedürfnis nach einer helfenden Tätigkeit zum Ausdruck, indem sie betont, wie schwer es im fällt, untätig zu bleiben, während um ihn herum alles in Bewegung ist. Bislang ist dieser Satz auch mit einer Betonung auf dieser sarkastsischen Aussagerichtung gelesen und übersetzt worden. Bereits Cleasby und Vigfusson übersetzen ihn mit »he strove hard to sit«.⁸⁷⁶ Auch für Dronke ist in Anbetracht der Sprecherinnen ersichtlich, dass sie eine ironische Bemerkung über seine Untätigkeit machen, um Hallgerðrs Abneigung gegen ihn weitere Nahrung zu geben: »Oh, Njáll was working hard at sitting«.⁸⁷⁷ Damit würden  Dabei steht besonders bei Skarpheðinn dessen Männlichkeit in der Figurencharakteristik im Vordergrund. Ein Einfallstor für ergi-Zuschreibungen ergibt sich allerdings durch die Abstammung von Njáll. Zu níð als genealogischem Erzählprinzip vgl. Kap. 4.4.4.  Vgl. Miller 2014, S. 105, und Sayers 1994, S. 15 – 16, sowie Louis-Jensen 1979, S. 107, der zufolge die Aufforderung zum Verzehr von Exkrementen zu den schlimmsten denkbaren Beleidigungen des isländischen Spätmittelalters bzw. der frühen Neuzeit gehört. Koprophagie ist ansonsten allerdings nicht überlieferter Bestandteil von níð.  Fritzner (Hrsg.) 1883 – 1896, s.v. sitja: »være i Ro paa et Sted eller i en vis Stillning uden at forlade samme eller flytte derfra, = sitja kyrr«.  Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. strita.  So Dronke 1981, S. 11.

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sie ihrer Gastgeberin genau nach dem Mund reden und ihr einen weiteren Grund geben, Njáll für seine »aged impotence« zu verspotten.⁸⁷⁸ In der letzten deutschen Übersetzung liegt der Fokus stärker auf der ironischen Kommentierung seiner Untätigkeit (»er hatte Mühe, stillzusitzen«).⁸⁷⁹ Er wäre also – je nach ansicht aufgrund seines Alters oder seiner unterstellten ergi – zur Untätigkeit im häuslichen Bereich verurteilt. Im Gesamtkontext der Szene und der folgenden Strophen scheint es aber auch denkbar, in diesem Satz eine stark sexuell konnotierte Anschuldigung der ergi zu lesen. Der Auslöser für Njálls Probleme beim Stillsitzen wäre in der gemeinsamen Unterstellung durch Hallgerðr und die Bettlerinnen nicht nur dessen Alter und Unvermögen, sondern die Tatsache, dass er sich zuvor penetrieren lassen habe. Die verwendete Mediopassivform des Verbums strita kann zudem den Eindruck erwecken, als bereitete das Sitzen Njáll Unbehagen oder gar Schmerzen. Solche Anspielungen auf den Hintern im Rahmen einer ergi-Anschuldigung haben wir vor allem in Bezug auf Guðmundr inn ríki sehen können,⁸⁸⁰ sie tauchen aber durchaus auch in anderen Kontexten auf.⁸⁸¹ Sie markieren jeweils den Aspekt von passiver sexueller Betätigung, der in den Gesetzen zum Thema níð in der Form einer Anschuldigung justiziabel ist, dass jemand sorðinn sei. Eine solche zusätzliche Bedeutungsebene in Hallgerðrs Unterredung mit den Bettlerinnen anzunehmen, wäre indes kein Widerspruch zu den bisher geäußerten Lesarten, sondern kann gleichberechtigt neben diesen stehen bleiben. Wie in der Sprache der skaldischen Dichtung eröffnen sprachliche Mehrdeutigkeiten und Ambiguitäten den Interpretationsspielraum für níð. Auch die Tatsache, dass als Njálls angeblicher Sexualpartner nur ihr eigener Mann Gunnarr in Frage käme, wäre in diesem Kontext nicht so schädlich, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Innerhalb der Diegese ist die Freundschaft der beiden ein bekanntes Thema, und Hallgerðr selbst hat die beiden bereits einmal bei einer Aufhetzung gemeinschaftlich bezichtigt, blauðr zu sein. Es ist nur folgerichtig, in einer anschließenden hvǫt-Sequenz die einmal geäußerten Vorwürfe zu steigern und zu intensivieren, um ihren Mann zum Handeln zu bewegen. Die geäußerten Beleidigungen machen nach Gunnarrs Ausbruch die Runde und erreichen kurz darauf auch Bergþórshvóll. Die Njállssöhne bereiten sich gleich nach Bekanntwerden der Beleidigungen darauf vor, Vergeltung für die Strophen zu suchen und es dauert nicht lang, bis sich Skarpheðinn und Sigmundr im Zweikampf gegenüberstehen. Skarpheðinn schlägt Sigmundr nach einigen schmähenden Sätzen den Kopf ab;⁸⁸² innerhalb der Narration steht Sigmundr keine schlagfertige Gegenrede zu,

 Dronke 1981, S. 12.  Wetzig (Übers.) 2011, S. 539. Bei Heusler klingt dieser Sarkasmus überdeutlich an, wenn er mit »›Er saß nach Kräften dabei!‹« übersetzt, Heusler (Übers.) 1963, S. 107.  Vgl. Kap. 4.3.1.3.  Vgl. Kap. 4.3.3 und die Ausführungen zu den Schandhieben in Kap. 4.1.9.  Zur Begrüßung macht er einen Kommentar bezüglich dessen farbenfrohem Gewand, das als litklæði bezeichnet wird, vgl. Ármann Jakobsson 2007, S. 193. Zum damit bezeichneten Gewand selbst

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seine einzige Replik auf Skarpheðinns Spott ist ›Þat er illa þá‹. ⁸⁸³ Dies sind auch gleichzeitig seine letzten Worte. Ein ehrenhafter Tod für eine Sagafigur sieht anders aus. Wenn man sich zusätzlich noch vor Augen hält, dass er zuvor als Skalde seine Kunstfertigkeit mit Worten unter Beweis gestellt hat und nun nicht einmal in der Lage zu sein scheint, eine schlagfertige Erwiderung auf eine Demütigung zu bringen, spricht dies sehr für eine gezielt abwertende Darstellung durch den Erzähler. Zusätzlich sprechen auch die Ereignisse nach Sigmundrs Tod eine deutliche Sprache. Sobald die Neuigkeiten zu Njáll gelangen, merkt er an, dass in dieser Causa so schnell kein juristisches Nachspiel zu erwarten sei.⁸⁸⁴ Hallgerðrs Einsatz von níð ist Teil einer sehr komplexen hvǫt-Inszenierung, die innerhalb des Textes proleptisch bereits während der Feier auf Hlíðarendi angedeutet wird, als Hallgerðr mit Njálls Bartlosigkeit das spätere Zentrum ihres Spotts gegen Njáll anspricht. Auf ihre Entgegnung beginnt sie Gunnarr aufzuhetzen, um Rache für die provozierte Aussage zu nehmen. Die Gesamtstruktur ihrer hvǫt ist sehr ausgefeilt, erstreckt sich über mehrere Episoden der Saga und gipfelt in dem Essensdiebstahl, der auf ihren Mann zurückfällt. Innerhalb der Saga wird das Motiv einer hvǫt auch später unter Einbeziehung von níð in der sehr eindringlichen Erzählung von Flosis Aufhetzung durch Hildigunnr erneut durchgespielt. Diese Episode, die von Clover als Musterbeispiel einer klassischen hvǫt gelesen wurde,⁸⁸⁵ führt letzten Endes als eine der Hauptursachen zur Njálsbrenna, dem Tod Njálls und Bergþóras in den Flammen. Sie spielt zu einem Zeitpunkt, als Hildigunnr ihren Verwandten Flosi dazu bewegen will, Rache für ihren ermordeten Mann Hǫskuldr zu nehmen.⁸⁸⁶ Sie inszeniert eine mehrstufige hvǫt, in deren steigernden Aufbau sie die Elemente einer Witwentrauer mit verbalen Vorwürfen eng miteinander verbindet. Nachdem sie ihn begrüßt und ihm Essen aufgetischt hat, lässt sie ihn ein zerrissenes Tuch zum Händewaschen benutzen, das er wütend von sich wirft. Nach diesem Ausbruch betritt sie erneut den Raum und beginnt mit ihrer äußerst eindrucksvoll geschilderten hvǫt: Þá kom Hildigunnr í stofuna ok gekk fyrir Flosa ok greiddi hárit frá augum sér ok grét. Flosi mælti: ›Skapþungt er þér nú, frændkona, er þú grætr, en þó er þat vel, at þú grætr góðan mann.‹ ›Hvert eptirmæli skal ek nú af þér hafa eða liðveizlu?‹segir hon. Flosi mælti: ›Sœkja mun ek mál þitt til fullra laga eða veita til þeira sætta, er góðir menn sjá, at vér sém vel sœmðir af í alla staði.‹ Hon mælti: ›Hefna mundi Hǫskuldr þín, ef hann ætti eptir þik at mæla.‹ Flosi svaraði: ›Eigi skortir þik grimmleik,

äußert sich Valtýr Guðmundsson 1893, S. 197: »Ordet ›litklæði‹, som i sagaerne kun findes brugt på Island og sandsynligvis kun er blevet brugt her, betyder kunstig farvede klæder i modsætning til de klæder, der har uldens naturlige farve«. Während des Kampfes äußert Skarpheðinn erneut explizit verächtliche Worte gegenüber seinem Gegner, Njáls saga, S. 116: ›Lauztú mér nú, […] en þó skaltú í móðurætt falla, áðr vit skiljum‹; »›Du bückst dich gerade vor mir, […] und doch wirst du noch auf Mutter Erde fallen, bevor wir uns trennen.‹« Zu diesen wohl sexuell gemeinten Schmähworten vgl. Ármann Jakobsson 2007, S. 193, Fn. 10.  Njáls saga, S. 116 – 117; »›Das ist schlecht‹«.  Njáls saga, S. 117.  Clover 1986.  Detaillierter zur Vorgeschichte vgl. Kap. 4.3.2.

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ok sét er, hvat þú vill.‹ Hildigunnr mælti: ›Minna hafði misgǫrt Arnórr Ǫrnólfsson ór Forsárskógum við Þórð Freysgoða, fǫður þinn, ok vágu brœðr þínir hann á Skaptafellsþingi, Kolbeinn ok Egill.‹ Hildigunnr gekk þá fram í skála ok lauk upp kistu sinni; tók hon þá upp skikkjuna, er Flosi hafði gefit Hǫskuldi, ok í þeiri hafði Hǫskuldr veginn verit, ok hafði hon þar varðveitt í blóðit allt. Hon gekk þá innar í stofuna með skikkjuna. Hon gekk þegjandi at Flosa. Þá var Flosi mettr ok fram borit af borðinu. Hildigunnr lagði þá yfir Flosa skikkjuna; dunði þá blóðit um hann allan. Hon mælti þá: ›Þessa skikkju gaft þú, Flosi, Hǫskuldi, ok gef ek þér nú aptr. Var hann ok í þessi veginn. Skýt ek því til guðs ok góðra manna, at ek sœri þik fyrir alla krapta Krists þíns ok fyrir manndóm ok karlmennsku þína, at þú hefnir allra sára þeira, er hann hafði á sér dauðum, eða heit hvers manns níðingr ella.‹ ⁸⁸⁷

Erst diese letzten Worte bewirken ein Umschwenken bei Flosi. Wichtig ist die Feststellung, dass die Inaussichtstellung des Status als níðingr auf die Zukunft gerichtet und für den Fall gemeint ist, dass Flosi nicht nach Hildigunnrs Willen und für die Verteidigung der Familienehre handelt, die nach ihrem Empfinden geschädigt ist. Anders scheint dies Allen aufzufassen, der Flosis Handlungspflicht erkennt, denn er sei »called níðingr to his face in the presece of his men«.⁸⁸⁸ Hildigunnr nennt ihn aber gerade noch nicht so, denn sie verknüpft die Zuschreibung níðingr explizit mit dem (noch nicht eingetretenen) Abweichen Flosis von ihren Forderungen.⁸⁸⁹ Dieser Unterschied ist gewaltig, denn aus ihm erwächst überhaupt Flosis Entscheidungsmöglichkeit, an diesem Zeitpunkt noch für die Familie einzutreten: Der Inaussichtstellung kommt somit eine Warnfunktion innerhalb der hvǫt zu, denn sie markiert, was Flosi zu verlieren hat. Und nach den sozialen Regeln der Sagagesellschaft hat er alles zu verlieren.

 Njáls saga, S. 290 – 291; »Da kam Hildigunnr in die Stube und ging zu Flosi, strich sich die Haare vor den Augen beiseite und weinte. Flosi sagte: ›Du bist nun betrübt,Verwandte, da du weinst; aber das ist doch gut, da du einen guten Mann beweinst.‹ ›Was für eine Anteilnahme oder Hilfeleistung werde ich nun von dir erhalten?‹, fragte sie. Flosi sagte: ›Ich werde deine Klage bis zum Äußersten führen oder einen Vergleich erzielen, den gute Männer so sehen werden, dass wir durchwegs gut weggekommen sind.‹ Sie sagte: ›Hǫskuldr würde dich rächen, wenn er für dich die Totschlagsklage führen müsste.‹ Flosi antwortete: ›An Grausamkeit fehlt es dir nicht: es wurde deutlich, was du willst.‹ Hildigunnr sagte: ›Arnórr Ǫrnólfsson aus Forsársskógar hat deinem Vater, dem Freyrgoden Þórðr, weniger übel mitgespielt, und doch haben deine Brüder Kolbeinn und Egill ihn am Skaptafellsþing erschlagen.‹ Hildigunnr ging da in die Halle [nebenan] und öffnete ihre Truhe. Sie nahm einen Umhang heraus, den Flosi dem Hǫskuldr gegeben hatte, und in dem Hǫskuldr erschlagen worden war. Sie hatte ihn mit all dem Blut darauf aufbewahrt. Sie ging dann mit dem Umhang in die Stube zurück. Schweigend trat sie Flosi gegenüber. Flosi hatte da fertig gegessen und der Tisch war schon abgeräumt. Hildigunnr legte da den Umhang über Flosi; da stürzte das ganze Blut auf ihn herab. Dann sagte sie: ›Diesen Umhang hast du, Flosi, Hǫskuldr gegeben, und jetzt gebe ich ihn dir zurück. Darin ist er auch erschlagen worden. Ich nehme Gott und gute Männer als Zeugen, dass ich dich bei aller Kraft deines Herrn Christus und wegen deiner Tapferkeit und Männlichkeit beschwöre, dass du diese Wunden rächst, die er sich im Tod zugezogen hat; sonst sei jedes Mannes níðingr!‹«  Allen 1971, S 170.  Frauman bezeichnet Hildigunnrs Aussage als »threat« und identifiziert sie somit ebenfalls gerade nicht als Beleidigung, Frauman 2020, S. 278.

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Schematisch lässt sich Hallgerðrs hvǫt nicht ganz so einfach mit der eingangs genannten Struktur abbilden, nach der auch Hildigunnrs Aufhetzung in großen Teilen funktioniert.⁸⁹⁰ Es ist daher notwendig, das Schema etwas zu erweitern, um den diffizilen und mehrere Kapitel umspannenden Aufbau ihrer Hetze in den Blick zu bekommen:

Abbildung 3: Hallgerðrs hvǫt (eigene Darstellung)

Innerhalb des zuvor erläuterten Schemas ersetzen die vier einzelnen Pfeile dieser Abbildung den Pfeil, der das Verhältnis zwischen Hetzerin und dem Aufgehetzten beschreibt. Aus erzählerischer Sicht wird, wie daraus hervor geht, ein gewaltiger Aufwand betrieben, um ihr weibliches níð im Rahmen der Aufhetzung zu plausibilisieren und in der Saga zu verankern. Bereits im ersten Kapitel des Textes werden durch Hallgerðrs Charakterisierung einige Dinge vorweggenommen, die im späteren Handlungsverlauf eine Rolle spielen werden: Sie ist eine sehr komplexe und schwierige Figur, der Rezipierende ohne Weiteres zutrauen werden, auch auf verschlungenen Pfaden zu agieren. Dies beginnt mit den ersten beiden Ehen, die im Desaster enden, und wirft seinen Schatten auf die Schließung ihrer dritten Ehe mit Gunnarr. Nach einem Streit wirft sie Bergþóra und Njáll geschlechtliche Devianz vor; zwar tut sie dies mit drastischen Worten, aber da die Beleidigung gegenüber Bergþóra im Vordergrund steht, wird diese Schmähung wohl auch von den anderen Figuren noch nicht als níð aufgefasst. Wenn überhaupt, ist es hier ein verbal sehr geschickt verpacktes níð. Die Worte, die sie an ihren neuvermählten Mann Gunnarr richtet, sind indes der erste Schritt einer elaborierten und sich in der Intensität steigernden hvǫt, die sich über mehr als zehn Kapitel der Saga hinzieht. Da ihr Mann nicht darauf reagiert und auch die folgende Totschlagssache nicht in ihrem Sinne – mit einer Rachehandlung – handhabt, steigert sie anlässlich dieser Tatsache ihre Unmännlichkeitsvorwürfe gegen ihren Mann, indem sie ihn und seinen Freund Njáll als blauðir bezeichnet. Zu einem Höhepunkt kommt ihre verbale hvǫt, als die Bettlerinnen – ein reines plot device – nach Hlíðarendi ziehen und ihr nach dem Mund reden. Sie zieht den Skalden Sigmundr in ihre dyngja hinein, lässt ihn damit

 Diese Tatsache spiegelt sich auch in Fraumans Bemerkung wider, der zufolge es in der Natur von hvǫt-Sequenzen liegt, dass sie »complicate an active-against-passive conception of power«, Frauman 2020, S. 286.

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gleichsam in eine weibliche Sphäre übertreten, und stiftet ihn danach an, níð aufzusagen. In seiner Hörigkeit ihr gegenüber kommt er dieser Aufforderung nach. Die Verse des nie in direkter Rede sprechenden Skalden werden in doppelter Konsequenz nicht wiedergegeben; erstens, weil seine einzigen – und letzten – Worte der Szene vorbehalten sind, in der er seinen Tod findet, und zweitens, weil der Erzähler der Njáls saga damit einer allgemeinen Tendenz innerhalb der Isländersagas zu folgen scheint. Die Wirkung der Verse kann somit nur dem Kontext entnommen werden. Am Rande des blinden Flecks, der durch diese Darstellungsweise entsteht, sitzt Hallgerðr selbst und zieht die Fäden. Es ist anzunehmen, dass sie durch dieses níð eine Rachehandlung aus Bergþórshvóll bezweckt, auf die ihr Mann dann wiederum reagieren müsste.⁸⁹¹ Die Konsequenzen aus dem níð muss, der inneren sozialen Logik der Sagagesellschaft folgend, Sigmundr tragen, der von Njálls Sohn Skarpheðinn erschlagen wird – nicht, ohne seinerseits nochmals sexualisierten Schmähungen ausgesetzt zu sein. Diese Szene dient zusätzlich der begrifflichen Auflösung dessen, was Sigmundr auf Hallgerðrs Geheiß hin über Njáll gedichtet hat. Der Erzählfluss erstarrt nach der ausführlichen Schilderung des Kampfes zwischen Skarpheðinn und Sigmundr kurz in einem pointierten Bild: Skarpheðinn, siegreich, hält den abgetrennten Kopf des Dichters dem Schaftreiber von Hlíðarendi entgegen und lässt diesen spöttelnd bei Hallgerðr nachfragen, ob dies der Kopf sei, der das níð über seine Familie gesprochen habe (bað hann fœra Hallgerði ok kvað hana kenna mundu, hvárt þat hǫfuð hefði kveðit níð um þá).⁸⁹² In dieser Szene führt die Saga uns die gesamte soziale Dynamik von níð in nur einer geradezu filmisch wirkenden Einstellung schlaglichtartig vor Augen: Níð verlangt nach Sühne durch Blutvergießen. Die letzte Stufe der hvǫt stellt, wie Hahn überzeugend argumentiert, der Diebstahl dar, den Hallgerðr begeht, und der wie mittelbar eingesetztes níð einer semantischen Sphäre des Heimlichen angehört.⁸⁹³ Die hvǫt gliedert sich damit in zwei Teile, von denen der erste verbal ist und in Sigmundrs níð kulminiert. Als dieses nicht den von Hallgerðr gewünschten Effekt provoziert, ein neues Aufflammen der Fehde zwischen den Höfen und ein Tätigwerden ihres Mannes in ihrem Sinne, greift sie zu Mitteln der Tat. Diese zweite Stufe mündet in der dritten Ohrfeige, die Hallgerðr von einem Ehemann bekommt – es wird die letzte sein. Auf die Rezipierenden hat die Erzählweise der einzelnen Stationen von Hallgerðrs hvǫt zwei Effekte.Wenn sie Sigmundr in ihre weibliche Sphäre zieht und ihn dort dazu bringt, als ihr »männlicher Stellvertreter« níð zu produzieren, wird dies auf der Ebene der Erzählung durch die Ellipse des eigentlich Erzählten kenntlich gemacht: Die Strophen, obgleich sie einen unmittelbaren Effekt auf die übrigen Figuren haben und den weiteren Fortgang der Handlung motivieren, werden nicht greifbar. Gleichzeitig  Vgl. das folgende Kap. 4.4.4.  Njáls saga, S. 117; »Er bat, ihn zu Hallgerðr zu bringen und sagte, sie solle untersuchen, ob dies der Kopf sei, der níð über sie [pl., d. h. über Njáll und seine Söhne] gesprochen habe.«  Vgl. dazu Hahn 2020, S. 51– 54.

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geschieht durch die Figuren- und Handlungskonstellation aber auch innerhalb der Diegese Ungeheuerliches. Durch Hallgerðrs Handlungsweise, die den Rahmen der gezogenen Grenzen der weiblichen Geschlechterrolle bei weitem überschreitet, und die genannte Darstellungsweise wird kaschiert, was hinter der oft als zentrales Thema genannten Männerfreundschaft zwischen Njáll und Gunnarr passiert. Dem gegenüber steht das Wirken der Frauen, das vor allem an Hallgerðrs Beispiel deutlich wird. Dass durch sie grundlegende Geschlechternormen der Sagagesellschaft in Frage gestellt werden, ist eine Beobachtung, die sich manch neuzeitlichem Betrachter entziehen kann.⁸⁹⁴

4.4.4 Das, was (nicht) erzählt wird. Narrative Unschärfen und Leerstellen im Umfeld von níð Ein Umstand dürfte im Verlauf der bisherigen Untersuchung zutage getreten sein, der den inhaltlichen Kern dieses nun folgenden Kapitels in besonderem Maße betrifft: Oft ist in den Texten des Corpus die Rede von níðvísur, wenn sich im direkten erzählerischen Kontext kein Beleg im Sinne eines Zitats solcher Strophen findet. Die einzige Stelle, an der eine Strophe explizit als níð bezeichnet und tatsächlich wiedergegeben wird, nämlich im Þorleifs þáttr jarlaskálds,⁸⁹⁵ lässt Zweifel daran aufkommen, inwiefern das Strophenzitat eine auf unterstellte Unmännlichkeit gerichtete Schmähung enthalten soll. Eine Hintertür lässt sich der Erzähler des Þáttr an dieser Stelle jedoch offen, indem er die unverfängliche Strophe als Anfang (upphaf) des gesamten »níðZyklus« bezeichnet. Es ist also angesichts der Präsentation denkbar, dass die markigen Inhalte in den späteren und nicht zitierten Strophen zu finden gewesen wären. Noch distanzierter und mittelbarer ist der Zugang zu Strophen, den uns die Grettis saga eröffnet: Nach einem eher harmlos wirkenden Zweizeiler, den Grettir mutmaßlich zusammen mit anderen Strophen aufsagt, folgt eine Strophe, die schon von den handelnden Figuren selbst als zweideutig deklariert wird und die den ergi-Bezug mindestens so schleierhaft erscheinen lässt wie Þorleifrs Þokuvísur. ⁸⁹⁶ Mit Blick auf andere Texte fällt dann auf, dass sich die Existenz von níðvísur (oder níð in einer anderen Form) bisweilen nur aus ihrem narrativen Kontext und den Reaktionen der Figuren ableiten lässt: Sigmundrs Strophen in der Njáls saga, die so viel Anlass zu Spekulationen über ihren Inhalt geben, die Strophen des nur kurz auftauchenden und

 Dies geht etwa Heusler so, der Hallgerðrs Rolle gegenüber der Thematisierung der Freundschaft von Gunnar und Njáll eher als nachgeordnet betrachtet, vgl. Heusler (Übers.) 1963, S. 13. Andersson 2006, S. 202, sieht hingegen die Fragen nach der zusammenbrechenden Genretradition der Isländersagas im Vordergrund, an der Hallgerðrs grenzüberschreitendes Verhalten einen erheblichen Anteil hat.  Besprochen in Kap. 4.4.2. In Kap. 4.4.6 wird der Þorvalds þáttr víðfǫrla behandelt, der – aus seinen ganz eigenen guten Gründen – von diesem erzählerischen Prinzip abweicht.  Vgl. Kap. 4.4.2.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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schon bald getöteten Skalden Kali im Halldórs þáttr I – ihnen ist eines gemeinsam: Obgleich sie nicht in der Erzählung abgebildet werden, besitzen sie auf eine merkwürdige Weise Präsenz und Wirkungsmacht für die handelnden Figuren. Auf ähnliche Weise funktioniert das Sprechen über ergi und níð bereits auf der lexikalischen Ebene. Die auffallende Häufigkeit von Metathesen bei Wörtern, die sich diesem Kontext zuordnen lassen, haben wir bereits thematisiert.⁸⁹⁷ Ähnlich wie die lexikalische funktioniert in einigen Texten des Corpus auch die narrative Ebene. Es scheint, als schlage hier das große níð innewohnende Tabu von der Ebene des Erzählten auf die Ebene des Erzählers durch: Das, was erzählt wird, wird demnach nicht immer vom Erzähler direkt dargestellt, sondern es nimmt auf der Ebene des Erzählten nur durch die geschilderten Umstände oder durch eine nachgeordnete Darstellungsweise eine mittelbare und schemenhaft-vage Gestalt an. Man könnte sagen: In diesen Texten wirft das níð durch eine elliptische Erzähltechnik seinen Schatten auf die Erzählung.

4.4.4.1 Gísla saga Dieses Bild lässt sich anhand der kürzeren und gemeinhin als M-Fassung bezeichneten Fassung der Gísla saga verdeutlichen, die diese Erzählmechanik bereits an ihrem Anfang sehr plastisch illustriert.⁸⁹⁸ Hier wird über ein skulpturales níð berichtet, das gar nicht als realer Gegenstand in der Handlung auftaucht, sondern nur als verbale Beschreibung einer solchen Darstellung. Dennoch entfaltet es eine wichtige Wirkung für den Plot.Vorbereitet wird diese Episode durch einige andere Episoden, in denen der thematische Rahmen der Saga gesetzt wird: »The first five chapters of the saga, the time preceding the aborted bloodbrotherhood, establishes the themes of the saga and the character and motives of Gisli’s family.«⁸⁹⁹ Dazu gehört in besonderem Maße, dass die Angst der einzelnen Figuren vor (zugeschriebener) Unmännlichkeit und damit einhergehend dem Ehrverlust der gesamten Familie thematisiert wird.⁹⁰⁰ Dies geschieht zum ersten Mal, als ein Berserker namens Bjǫrn inn blakki in die Handlung eingeführt wird. Seine Einführung ist in S- und M-Fassung unterschiedlich lang, jedoch sind beide in der negativen Bewertung seiner Figur einig.⁹⁰¹ Er setzt

 Vgl. Kap. 2.1.1.  Im Allgemeinen wird hinsichtlich der Gísla saga in der Forschung zwischen der kürzeren M- (oder E‐)Fassung und der längeren S- (oder Y‐)Fassung unterschieden, die in der Edition von Íslenzk fornrit abgedruckt sind. Die etwa 30 existierenden Handschriften lassen sich nicht nur diesen beiden Fassungen, sondern auch einer dritten fragmentarischen Fassung zuordnen, die hier jedoch nicht vertieft behandelt wird, vgl. dazu ausführlicher Lethbridge 2010, S. 126 – 128.  Campbell 1986, S. 242.  Andersson stellt hierzu fest: »The pattern is repeated and escalated in the following generation«, Andersson 2006, S. 79.  Gísla saga, S. 4 oben (M-Fassung), bzw. S. 5 – 6 unten (S-Version), vgl. zu den unterschiedlichen Einführungen Meulengracht Sørensen 1983, S. 46 – 47. Sofern Meulengracht Sørensen sich auf die Version M bezieht, meint er die in der Edition von Íslenzk fornrit oben abgedruckte kürzere Fassung der Saga.

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gleich an diese Einleitung anschließend eine Geste der Dominanz gegenüber Ari, dem Bruder des eponymen Helden der Saga. Indem er dessen Frau Ingibjǫrg und sein Land oder wahlweise ein Duell fordert, begehrt der Berserker Bjǫrn eine Neuordnung der lokalen männlichen Rangordnung.⁹⁰² Die kürzere Fassung bringt diese Forderung schnell auf den Punkt: Bjǫrn gerir Ara tvá kosti, hvárt hann vill heldr berjask við hann í hólmi þeim, er þar liggr í Súrnadal ok heitir Stokkahólmr, eða vill hann selja honum í hendr konu sína. ⁹⁰³ Ari bleibt durch diese Aufforderung kein Entscheidungsspielraum, da die Regeln, nach denen männliche Hierarchien in der Sagagesellschaft verhandelt werden, unerbittlich sind. Beide Optionen, die ihm der körperlich offensichtlich überlegene Berserker eröffnet, münden zwangsläufig darin, dass seine männliche Ehre angetastet wird: »If he had yielded to Bjǫrn, he could justly be called argr, and this emerges indirectly from his answer«.⁹⁰⁴ Seine Entscheidung fällt nämlich dahingehend aus, at hann vill heldr berjask en hvárttveggi yrði at skǫmm, hann ok kona hans. ⁹⁰⁵ Aus dieser Entscheidung spricht Resignation vor den auferlegten Spielregeln und es kommt kurz darauf tatsächlich dazu, dass Ari, wie von ihm wohl befürchtet, im Zweikampf mit Bjǫrn stirbt. Die Verteidigung der familiären Ehre obliegt danach seinen lebenden Brüdern Þorbjǫrn und Gísli, die es schlussendlich schaffen, mit einem magischen Schwert den Berserker zu überwinden.⁹⁰⁶ Die Verhandlung von Männlichkeit als Thema für den Anfang der Saga ist durch die Darstellung dieser Ereignisse jedoch präsent gesetzt. Hinzu kommt, dass in der längeren Fassung durch eine zusätzliche Bemerkung noch direkt auf den ergi-Diskurs Bezug genommen wird.⁹⁰⁷ Þorbjǫrn heiratet im Anschluss Þóra Rauðsdóttir und tritt das Erbe seines Vaters an, dessen Hof er übernimmt und bewirtschaftet.⁹⁰⁸ Die Saga berichtet von vier Kindern: Ihre Söhne sind Þorkell, Ari und Gísli, nach dem die Saga benannt ist. Die Tochter Þórdís zieht bald das Interesse eines Mannes vom benachbarten Hof auf sich,

 Gísla saga, S. 6 – 7 unten (S- Fassung).  Gísla saga, S. 4 oben (M-Fassung); »Bjǫrn gab Ari zwei Möglichkeiten: Entweder solle er sich mit ihm in jenem Holm schlagen, der im Súrnadalr liegt und Stokkahólmr heißt, oder er solle ihm seine Frau zur Braut geben.«  Meulengracht Sørensen 1983, S. 47.  Gísla saga, S. 4 oben (M-Fassung); »dass er lieber kämpfen wolle, doch beides würde ihm und seiner Frau zur Schande gereichen.«  Gísla saga, S. 5 oben (M- Fassung), bzw. S. 7– 8 unten (S- Fassung).  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 47. Auf dem Weg zum Duell mit dem Berserker fragt Gíslis Bruder Þorbjǫrn ihn, wer von den beiden Brüdern kämpfen und wer zuhause ein Kalb schlachten solle. Gísli erklärt sich daraufhin sofort zum Kampf bereit, was der Erzähler mit [e]igi kaus hann argr it indælla kommentiert: Gísla saga, S. 10 unten (S-Fassung); »Er war nicht argr und wählte den bequemen Weg«. Der Zusatz argr wurde in der Handschrift später durch Unterstreichung getilgt, vgl. Gísla saga, S. 10, Fn. 2.  Gísla saga, S. 6 oben (M-Fassung); in der S-Fassung heißt seine Frau Ísgerðr, Gísla saga, S. 14 unten.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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was den Eltern sehr missfällt.⁹⁰⁹ In der M-Fassung der Saga wird er bald darauf von den Brüdern getötet, um das für die Familie ehrenrührige Gerede der Leute zu unterbinden.⁹¹⁰ Hingegen schließt sich in der S-Fassung an das Missfallen der Eltern eine längere Sequenz an, in der zum wiederholten Male im Text das Augenmerk auf männliche Selbstansprüche bei der Verteidigung der Familienehre gelegt wird. Im Gespräch mit seinen Söhnen macht Þorbjǫrn klar, dass seiner Erwartung nach nun Taten gefragt sind: ›Ek sé,‹ kvað Þorbjǫrn, ›at miklu er þetta meir á lopt komit en nú stoði at drepa því niðr. Nú þykki mér hitt miklu sannara, at þit brœðr munið vera óhlutvandir, enda mun lítil karlmennska með ykkr.‹ ⁹¹¹ Dieser Unmännlichkeitsvorwurf Þorbjǫrns – den wir wohl als hvǫt auffassen müssen –⁹¹² bewegt Gísli dazu, das Gespräch mit dem Werber um seine Schwester zu suchen, um dessen Zusammenkünfte mit ihr abzustellen. Das Ergebnis, eine verlängerte zeitliche Distanz zwischen Kolbeinns Besuchen, entspricht nicht den Erwartungen des verärgerten Vaters. Nach einiger Zeit ergreift er daher abermals das Wort und fährt seinen Sohn mit einer Tirade an: Þá tekr Þorbjǫrn til orða: ›Eigi hefir þér í hald komit bónríkit þitt. Er þat bæði, at meylig hefir orðit tiltekjan þín, enda ætla ek tvísýni á, með hváru yðr skal heldr telja bræðr, sonum eða dœtrum. Nú er þat mikit at vita á gamalaldri at eiga þá sonu, er eigi þykkir meiri karlmennska yfir en þar sé konur aðrar, ok eru þit ólíkir þeim brœðrum mínum, Gísla eða Ara.‹ ⁹¹³

Indem er einen Vergleich zwischen Bjǫrns Forderung gegenüber dem Bruder Ari und Kolbeinns Werbung um Þórdís aufstellt, greift er thematisch den Kampf der vorherigen Generation gegen den Berserker auf. Zwar hat dieser im Tod eines der beteiligten Brüder geendet, aber Þorbjǫrns Ansicht nach hat dieser sich im Gegensatz zu seinem Sohn männlich verhalten. Aus dem Vergleich, den er zwischen der gegenwärtigen Situation und der Vergangenheit mit seinem verstorbenen Bruder und der Rache des anderen überlebenden Bruders aufstellt, geht sein Sohn nicht ohne Ehrverlust hervor: »[I]f a man like Gísli shrinks from fighting, then this is no man, but an effeminate argr person, as is unequivocally expressed three times over in Þorbjǫrn’s frýja.«⁹¹⁴

 Es handelt sich um einen Mann namens Bárðr, Gísla saga, S. 7 oben (M-Fassung), bzw. Kolbeinn, Gísla saga, S. 20 unten (S-Fassung), der sie umwirbt.  Gísla saga, S. 9 – 10 oben (M-Fassung).  Gísla saga, S. 20 unten (S-Fassung); »Þorbjǫrn sagte: ›Ich sehe, dass das jetzt weithin zu bekannt geworden ist, und jetzt hilft es [nur], sie zu beenden. Jetzt scheint es mir nur richtig, dass ihr Brüder gewissenhaft sein müsst, oder es ist wenig Mannhaftigkeit in euch.‹«  Vgl. die Geschlechterrollenverteilung bei diesem Konzept in Kap. 3.5.  Gísla saga, S. 24 unten (S-Fassung); »Da ergriff Þorbjǫrn das Wort: ›Dein Versprechen hat dir nichts genutzt! Nicht nur, dass dein Vorhaben mädchenhaft geworden ist, sondern ich habe auch Zweifel daran, ob ich euch Brüder eher für Söhne oder Töchter halten soll. Nun ist es im hohen Alter viel [= belastend] zu wissen, dass man Söhne hat, die weniger mannhaft scheinen, als es manche Frauen wären, und ihr seid meinen Brüdern Gísli und Ari unähnlich.‹«  Meulengracht Sørensen 1983, S. 49. Die hier geschilderte Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn und die Charakterisierung des Vaters als Hetzer findet sich in der E-Fassung der Saga nicht.

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Die Parallele zwischen den Akteuren der beiden Generationen, die Þorbjǫrn eröffnet hat, entfaltet ihre Wirkung auch auf seinen Sohn. Denn nun sieht sich Gísli wie zuvor sein Onkel Ari in eine Situation gebracht, in der seine Männlichkeit derart in Frage gestellt wurde, dass ihm als Handlungsoption nur eine physische Auseinandersetzung bleibt. Diese Andeutung eines sich wiederholenden Schemas in beiden Episoden läutet einen kurzen Spannungsbogen ein, der gleich im Anschluss aufgelöst wird: Im Gegensatz zu seinem Onkel schafft es Gísli, den Kontrahenten im Zweikampf zu bezwingen.⁹¹⁵ Dabei bleibt es aufgrund der Darstellung der Ereignisse für die Figur des Gísli wie auch für die Rezipierenden fraglich, ob das vom Vater eingeforderte Männlichkeitsbild tatsächlich Kolbeinns Erschlagung rechtfertigen kann.⁹¹⁶ Zum Ausdruck kommt dies im sich abkühlenden Verhätnis zwischen den Brüdern: Alldri varð síðan jafnblítt með þeim brœðrum. ⁹¹⁷ Die Erzählung über einen gewaltsamen Tod, dessen Umstände Zweifel aufkommen lassen, ist jedoch ein zentrales Motiv für die Saga. Im späteren Verlauf der Handlung ist es der Mord an Vésteinn, der in der MFassung durch die erzählerische Darbietung nicht restlos aufzuklären ist.⁹¹⁸ Dieses Motiv eines Mordes unter dubiosen Umständen wird gleich zu Beginn der Saga im kontextuellen Rahmen isländischer Männlichkeitsbilder eingeführt.⁹¹⁹ Durch die in beiden Fassungen von Anfang an vertretene Darstellung von Unmännlichkeit ist die Rezipierendenaufmerksamkeit für dieses Thema bereits stark erhöht, als es in der M-Fassung zu der eingangs angesprochenen Szene kommt, in der zu Mitteln des níð gegriffen wird. Da in der M-Fassung die Episode mit der väterlichen Hetze fehlt, ist der Handlungsablauf hier ein anderer: Nach der Erschlagung des Werbers Bárðr lässt sich Gíslis Bruder Þorkell in der Nähe von Hólmgǫngu-Skeggi, einem Verwandten des von Gísli erschlagenen Bárðr, nieder. Es wird gesagt, dass er ihn – trotz seiner Familienbande – zur Rache aufstachelt⁹²⁰ und gleichzeitig dazu auffordert, um seine Schwester Þórdís zu werben. Er stellt sich mit dieser Reaktion auf Bárðrs Erschlagung durch Gísli gegen die eigene Familie und gibt zu erkennen, dass er

 Gísla saga, S. 25 unten (S-Fassung).  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 49 – 50, der von einem »moral dilemma« (S. 50) spricht.  Gísla saga, S. 8 oben (M-Fassung); »Es wurde danach nie wieder so herzlich zwischen den Brüdern.«  Vgl. dazu Lethbridge 2010, S. 135, mit einer Auflistung von bereits geäußerten Interpretationsansätzen in Fn. 25. Während die S-Version den Mord durch ihren narrativen Aufbau Þorgrímr zuschreibt, zeugt die kürzere Version von dem Verlangen, diesen Mord aufzuklären, da in der dortigen Leithandschrift in einer rubrizierten Überschrift deutlich gemacht wird, dass sie ebenfalls Þorgrímr als Vésteinns Mörder identifiziert, vgl. Lethbridge 2010, S. 135– 136.  Für die generelle Annahme einer sehr frühen Anlage von späteren Ereignissen in der Saga spricht die Beinwunde, die sich Hólmgǫngu-Skeggi im Kampf mit Gísli zuzieht. Eine spätere Verwundung erinnert an diese Szene zu Beginn der Saga. Daher kann diese erste Verwundung im zweiten Kapitel als proleptisch zur späteren Verletzung ihres Protagonisten aufgefasst werden, die kurz vor dessen Tod erfolgt, vgl. Campbell 1986, S. 245.  Gísla saga, S. 8 oben (M-Fassung): Hann eggjar mjǫk Skeggja at hefna Bárðar; »Er hetzt Skeggi sehr dazu auf, Bárðr zu rächen.«

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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das Handeln seines Bruders für falsch hält. Þorkell begibt sich gemeinsam mit Skeggi zum väterlichen Hof von Þorbjǫrn, wo Skeggis Gesuch abgewiesen wird.⁹²¹ Es taucht stattdessen eine neue Figur namens Kolbjǫrn auf, dem nachgesagt wird, dass er ein Verhältnis mit Þórdís habe, was Skeggi missfällt. Er fordert ihn zum Duell auf, wobei Kolbjǫrn Unterstützung von Gísli erhält. Gísli deutet bereits früh in einem Gespräch mit Kolbjǫrn an, dass es ein Fehler wäre, wenn dieser sich gegen ein Duell entscheiden würde, sagt ihm aber dennoch die Vertretung zu: ›[O]k þótt þú verðir allr at skǫmm, þá skal ek nú þó fara.‹ ⁹²² Dabei ist er sich wohl selbst nicht im Klaren, dass die angesprochene Schande von den Gegnern auch dazu instrumentalisiert werden könnte, auf ihn selbst abzufärben. Skeggi und Þorkell warten am Austragungsort des geplanten Duells auf den Kontrahenten Kolbjǫrn. Da dieser nach drei Tagen immer noch nicht auftaucht, entschließen sie sich zu drastischen Maßnahmen, um auf seine Absenz zu reagieren: Skeggi kom til hólmsins ok segir upp hólmgǫngulǫg ok hasla vǫll Kolbirni ok sér eigi hann þar kominn né þann, er gangi á hólmi fyrir hann. Refr hét maðr, er var smiðr Skeggja. Hann bað, at Refr skyldi gera mannlíkan eptir Gísla ok Kolbirni, – ›ok skal annarr standa aptar en annarr, ok skal níð þat standa ávallt, þeim til háðungar.‹ Nú heyrði Gísli í skóginn ok svarar: ›Annat munu húskarlar þínir vinna þarfara, ok máttu hér þann sjá, er þorir at berjask við þik.‹ ⁹²³

Beschrieben ist eine Statue, die zwei Männer hintereinander darstellen soll. Da sie hintereinanderstehen und es heißt, dass es sich um ein níð handelt, das ihnen immer zur Schande gereichen soll, ist die beschriebene Figur eindeutig dahingehend zu verstehen, dass die Abgebildeten beim Analverkehr dargestellt werden.⁹²⁴ Zum Ausdruck kommen soll damit wohl die enge Verbindung zwischen dem nunmehr der ergi bezichtigten Kolbjǫrn und Gísli, der ihm seinen Schutz zugesagt hat. Aufgrund der Beschreibung wird deutlich, dass Gíslis Ruf nach Ansicht von Kolbjǫrns Kontrahenten dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird, dass er einen Mann verteidigt, den sie für argr erachten. Dass es sich um eine Darstellung von »phallischer Aggression« und damit eine Machtgeste Gíslis gegenüber Kolbjǫrn handeln soll, wie es etwa Ström und in Anlehnung an ihn auch Meulengracht Sørensen vertreten, erscheint im gegebenen

 Gísla saga, S. 8 – 9 oben (M-Fassung).  Gísla saga, S. 9 oben (M-Fassung); »›Und auch wenn du dir damit viel Schande auflädst, werde ich nun dennoch gehen.‹«  Gísla saga, S. 10 oben (M-Fassung); »Skeggi kam zum Kampfplatz und sagte die Kampfregeln auf und steckte das Kampffeld für Kolbjǫrn ab. Und er sah, dass weder er [Kolbjǫrn] selbst noch jemand anderes gekommen war, der für ihn in den Kampf gehen sollte. Refr hieß ein Mann, er war Skeggis Schmied. Er bat darum, dass Refr eine Statue nach Gísli und Kolbjǫrn machen solle. ›Und einer soll hinter dem anderen stehen, und dieses níð soll ihnen immer zum Hohn bestehen bleiben!‹ Das hörte nun Gísli im Wald und er antwortete: ›Deine Knechte müssen wohl eher auf andere Weise gewinnen, aber hier kannst du jemanden sehen, der es wagt, mit dir zu kämpfen.‹«  Dies wurde schon so beschrieben und interpretiert, vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 51– 53.

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Kontext unglaubwürdig.⁹²⁵ Für die zweite Generation von Gíslis Familie kommt in dieser Statue der Konflikt zwischen richtigem Verhalten und dem gesellschaftlichen Männlichkeitsbild erneut zum Tragen. Diesmal ist es Skeggi, von dem diese Bedrohung ausgeht: »Skeggi is a new version of the berserk Bjǫrn the pale.«⁹²⁶ Interessant ist die Beobachtung, dass zu diesem Zeitpunkt der Saga für den Erzähler und mittelbar auch für die Figuren nicht die Notwendigkeit besteht, ein tatsächlich vorhandenes níð darzustellen; stattdessen eröffnet das Gespräch zwischen Skeggi und seinem Schmied Refr eine weitere Ebene innerhalb der Erzählung. Das Gespräch über das geplante níð gehört derselben Erzählwelt an wie die beiden Figuren, das geplante selbst níð ebenso, weshalb sich diese Szene nach Genette dem erzählerischen Ebenen-Beziehungstyp intradiegetisch-homodiegetisch zuordnen lässt.⁹²⁷ Die Existenz des níð selbst wird allerdings allein auf diese zusätzliche Ebene innerhalb des gemeinsamen Gesprächs beschränkt, einer der sonstigen Handlung untergeordneten Ebene, von der aus es aber direkte Wirkung von der Erzähl- auf die Handlungsebene der Saga entfalten kann. Diese Wirkung drückt sich noch in derselben Szene durch die erzählerische Motivierung der Auseinandersetzung auf dem Kampfplatz aus. Doch Skeggis níð zieht noch weitere Konsequenzen nach sich. Im Kampf mit Gísli verliert er zwar einen Fuß, aber nicht das Leben.⁹²⁸ Der im Vorausgehenden gesetzte thematische Fokus auf Männlichkeit und familiäre Ehre macht die Zuspitzung zu diesem erzählerischen Höhepunkt hin erst möglich. Indem dieses Thema durch typische erzählerische Prinzipien der Isländersagas, Paralellismen zwischen den Erlebnissen verschiedener Generationen und frequentatives Erzählen, bei den Rezipierenden stets aktuell gehalten wird, erschließt sich ihm sofort, weshalb ein Mitglied der im Mittelpunkt der genannten Diskurse stehenden Familie auf ein níð reagiert, das noch gar nicht physischer Bestandteil seiner Erzählwelt geworden ist. Níð besitzt, wie bereits ausgeführt, einen formalen Anspruch, der sich entweder in einer strikt formgebundenen Sprache oder der skulpturalen Darstellung niederschlägt. Dieser Form scheint das Gespräch über das geplante níð noch nicht zu entsprechen, zumindest kann sich Gísli sicher sein, dass nach seiner

 Ström 1974, Meulengracht Sørensen 1983, S. 52. Dass diese Deutung im Kontext paradox erscheint, stellt Ström fest, vgl. Ström 1974, S. 14. Er übersieht allerdings die »kontaminierende« Wirkung von níð, wenn er zuvor davon ausgeht, dass »Gísli could not reasonably be blamed for Kolbjörn’s deliberate absence« (ibd.). Seine Schlussfolgerung ist daher, dass es sich bei dem Satz, demzufolge durch das níð beide Männer einen Ehrverlust erleiden sollen, um eine spätere Hinzufügung handeln müsse. Wenn man sich aber vor Augen hält, dass der Umgang mit einem Mann, der der ergi bezichtigt wird, innerhalb der Sagagesellschaft ebenfalls ehrenrührig sein muss, besteht kein Grund für einen solchen »korrigierenden Eingriff« in die Textüberlieferung.  Meulengracht Sørensen 1983, S. 52.  Vgl. Genette 2010, S. 161. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass ein Erzähler zweiter Stufe (nichts anderes ist Skeggi innerhalb der Gísla saga in Bezug auf den Erzähler der Saga selbst) von einer Sache berichtet, die sich in derselben Erzählwelt abspielt, der er angehört.  Gísla saga, S. 11 oben (M-Fassung).

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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Konfrontation mit Skeggi anlässlich dieses Gesprächs keine Skulptur in der Welt ist, die von seiner vermeintlichen Schande zeugt.⁹²⁹ Auch dürften seine Kontrahenten nach der Auseinandersetzung ihre Planungen nicht weiter verbreiten; die Öffentlichkeit, derer níð bedarf, ist somit in Gíslis Fall so weit eingeschränkt, dass von Skeggis und Refrs Gespräch keine Gefahr für ihn ausgeht. Die so elaboriert inszenierte Erzählung eines níð, das es nie schafft, in der Diegese physische Gestalt anzunehmen, ist integraler Bestandteil beim Entwurf eines dichten Plots, der im weiteren Verlauf der Sagahandlung in logischer Konsequenz schrittweise zur Ächtung der Hauptfigur führt: »Die Konflikte in der Gísla saga, deren Ursachen […] teils auf vorangegangene Generationen […] zurückgehen, sind eng miteinander verknüpft, klar umrissen und führen unerbittlich zu Gíslis Ächtung.«⁹³⁰ Es sind aber nicht die Konflikte selbst, die im Mittelpunkt stehen.Vielmehr geht es um die Familie, die in den Sog dieser Konflikte gerät, die ihren Anfang in der hier dargestellten thematischen Abwärtsspirale um Männlichkeitsideale und níð nehmen, und schlussendlich aufgerieben wird. Andersson hebt diesen thematischen Schwerpunkt im Vergleich zu anderen Isländersagas hervor, wenn er in Bezug auf die Gísla saga feststellt: »From start to finish the saga narrates not a feud but the disintegration of a familiy.«⁹³¹

4.4.4.2 Bjarnar saga Hítdœlakappa Eine besonders interessante Darstellung von níð bietet die Bjarnar saga Hítdœlakappa. Sie wandelt die Technik der Informationssteuerung ab, die wir eben in der Gísla saga gesehen haben. Denn auch hier verschiebt sich níð auf eine weitere Ebene innerhalb der Erzählung und wird dadurch mittelbarer. Dabei zehrt diese Darstellung von einer Besonderheit der Bjarnar saga in Hinblick auf ihre Hauptfigur, die sich durch Grenzgänge auszeichnet. Das wird vor allem daran deutlich, dass der eponyme Bjǫrn sich hinsichtlich physischen Gewaltausbrüchen mit Tötungsabsicht stets am Rande der Legalität bewegt, während sein Kontrahent Þórðr durchaus nicht vor Mordanschlägen zurückschreckt.⁹³² Diese Bewegung entlang einer Grenze wird auch in den gegenseitigen Anschuldigungen zwischen Bjǫrn und Þórðr deutlich, die wir im Folgen nachvollziehen wollen, und innerhalb derer eine Eskalation in Richtung níð feststellbar wird. Initialer Auslöser der Konflikte ist wie bei den anderen Skaldensagas eine Dreieckskonstellation zwischen Bjǫrn, Þórðr und Oddný. Vor einer Reise ins Ausland nimmt Bjǫrn nach einigen nicht weiter erwähnten kleineren Streitigkeiten Þórðr das

 Die Wichtigkeit von Aspekten der Form wird in der Bjarnar saga Hítdœlakappa deutlich, die im Folgenden behandelt wird. Sie zeugt von einer komplementären Form von níð, in der Bild und Sprache eine kompositorische Einheit bilden und in dieser Einheit erst juristisch verfolgt werden.  Vésteinn Ólason 2011, S. 80.  Andersson 2006, S. 82.  Den Hinweis auf diese strukturelle Eigenschaft des Textes verdanke ich Roland Scheel.

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Versprechen ab, bis zur Hochzeit auf seine Verlobte Oddný aufzupassen.⁹³³ Þórðr bricht jedoch dieses Versprechen und heiratet Oddný, wodurch der schwelende Konflikt zwischen den beiden eskaliert. Die einzelnen Eskalationsstufen dieses Konfliktes sind vielschichtig und umfassen verbale Attacken, die eine gegenseitige Unterstellung von sexueller Maßlosigkeit, Geiz, Betrügen bei Geschäften und dergleichen mehr beinhalten, ohne jeweils wohl die Schwelle zu níð zu überschreiten.⁹³⁴ In der Folge wird beiden Kontrahenten auf dem Thing verboten, in Hörweite des anderen eine Strophe über ihn aufzusagen: [O]k þess beiddisk Bjǫrn í lǫgréttu, at hvárr þeira, sem kvæði nǫkkut í heyrn ǫðrum, at sá skyldi óheilagr falla. ⁹³⁵ Einen Wendepunkt innerhalb der Anschuldigungen, die die beiden untereinander austauschen, markiert dann eine Skulptur, die auf Þórðrs Grundstück gefunden wird. Die Szene um das geschilderte níð spielt sich wie Sigmundrs Strophen in der Njáls saga im Rahmen eines »stagings« ab,⁹³⁶ als eine ähnliche Figur wie die gefunden wird, die in der Gísla saga thematisiert wird. Die Umstände und vor allem die Figur selbst werden sehr detailliert beschrieben und es wird auch nicht auf eine Wiedergabe der öffentlichen Meinung verzichtet: Þess er nú við getit, at hlutr sá fannsk í hafnarmarki Þórðar, er þvígit vinveittligra þótti; þat váru karlar tveir, ok hafði annarr hǫtt blán á hǫfði; þeir stóðu lútir, ok horfði annar eptir ǫðrum. Þat þótti illr fundr, ok mæltu menn, at hvárskis hlutr væri góðr, þeira er þar stóðu, ok enn verri þess, er fyrir stóð. ⁹³⁷

Trotz vieler Hinweise auf verbale Schmähungen ist dieser hier beschriebene Gegenstand die einzige Stelle, an der eine physisch manifeste Schmähung konkret mit dem Begriff níð bezeichnet wird.⁹³⁸ Es handelt sich ganz offensichtlich um skulpturales níð, also tréníð, das die vorgeworfene Schandhaftigkeit des Verkehrs zwischen zwei Männern hervorhebt; zudem wird deutlich gesagt, dass diese Situation demjenigen

 Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 111– 113.  Eine ausführliche und kommentierte tabellarische Übersicht dieser gegenseitigen Vorwürfe und der sozialen und juristischen Konsequenzen daraus findet sich bei Finlay 1991, S. 166 – 167.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 154; »Und Bjǫrn forderte sich das vor der gesetzgebenden Kammer ein, dass jeder von beiden, wenn er etwas in Hörweite des anderen aufsagen sollte, getötet werden können solle, ohne dass dafür eine Buße entrichtet werden müsse.«  Vgl. zu diesem Begriff von Andersson Kap. 4.4.3.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 154– 155; »Davon wird nun berichtet, dass ein Gegenstand auf Þórðrs Grund gefunden wurde, der keineswegs von Freundschaft zu zeugen schien: Das waren zwei Männer, von denen einer einen blauen Hut auf dem Kopf hatte. Sie standen vornübergebeugt, und der eine schaute dem anderen nach. Das schien ein übler Fund zu sein, und die Leute sprachen darüber, dass dieses Ding für keinen von beiden gut wäre, die dort standen, aber es wäre doch für den schlechter, der vorne stand.« Zum Vergleich zur Njáls saga siehe oben, Kap. 4.4.3.  Vgl. Finlay 1991, S. 160. Nachdem Bjǫrn anlässlich der Statue eine Strophe dichtet, wird er um níðreising ok vísu beim Thing angeklagt, Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 155; »wegen Errichtung eines níð und einer Strophe«. Einzelne zitierte Strophen werden im Þorleifs þáttr jarlaskálds und im Þorvalds þáttr víðfǫrla I expressis verbis als níð bezeichnet.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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mehr zur Schande gereicht, der vor dem anderen steht (ok enn verri þess, er fyrir stóð). Das bezieht sich auf Þórðr, auf dessen Grundstück dieses níð gefunden wurde, der durch den vorderen der beiden Männer in der Skulptur dargestellt und der so – wie Kolbjǫrn in der Gísla saga – der ergi bezichtigt wird. Dass einer der beiden einen blauen Hut trägt, der Assoziationen an Óðinn weckt, »a god charged with homosexual behavior«,⁹³⁹ intensiviert den erhobenen Vorwurf. Preben Meulengracht-Sørensen und Folke Ström vermuteten, dass der hintere der Beiden Bjǫrn sein könnte.⁹⁴⁰ Ihm käme also wiederum innerhalb des Konzeptes von phallischer Aggression eine Rolle als Aggressor zu, der durch die sexuelle Dominierung eines anderen Mannes Macht über diesen ausübt.⁹⁴¹ Diese These hat allerdings eine Schwäche: »[I]t does not succeed in explaining away the disapproval directed at both depicted figures«,⁹⁴² bezogen auf die öffentliche Meinung, auf die in der Wendung at hvárskis hlutr væri góðr, þeira er þar stóðu abgestellt wird. Es ist also auf Grund der wie beiläufig erwähnten öffentlichen Meinung, beide der Dargestellten hätten Schande auf sich geladen, kaum wahrscheinlich, dass Bjǫrn tatsächlich Teil der hier geschilderten Szene ist. Viel eher steht ausschließlich die Darstellung Þórðrs als Penetrierter und die damit verbundene Schande im Mittelpunkt. Eine narrative Unschärfe ergibt sich jedoch hier nicht nur beim níð an sich, sondern bei der erzählten Kenntnis über dessen Urheber.⁹⁴³ Wie etwa die Njáls saga besitzt also auch die Bjarnar saga innerhalb einer vergleichsweise detailreich geschilderten Szene einen narrativen blinden Fleck, der sich an einer anderen Stelle des Szenenbildes befindet. Wer Urheber der so detailliert geschilderten Skulptur ist, die so wenig Spielraum für wohlwollende Interpretationen lässt, wird vom Erzähler durch diese Präsentationsweise offengelassen. Anlässlich der Skulptur dichtet Bjǫrn noch eine Strophe, die Bezug darauf nimmt und auch nur Þórðr namentlich erwähnt: Standa stýrilundar staðar – – –; glíkr es geira sœkir gunnsterkr at því verki;

 Gade 1986, S. 134.  Vgl. Ström 1974, S. 14 und Meulengracht Sørensen 1983, S. 57; letzterer widerruft hier in Anlehung an Folke Ström seine in der dänischen Fassung dieses Werkes vertretene Position, Bjǫrn könne auf gar keinen Fall der Hintere der beiden Dargestellten sein: »Denne tolkning synes imidlertid udelukket af sagaens egen kommentar til figuren«, Meulengracht Sørensen, 1980, S. 70.  Vgl. Finlay 1991, S. 170, Finlay 2020, S. 181 und Ström 1974, S. 14– 15.  Finlay 1991, S. 170.  Mit dieser erzählerischen Präsentation wird nur unzureichend der ansonsten kaum aufzulösende Widerspruch verdeckt, dass Bjǫrn sich wohl selbst nicht in einer für ihn schandhaften Weise gemeinsam mit dem Geschmähten darstellen und die gravierenden juristischen Folgen in Kauf nehmen würde. Für Finlay ist daher das Konzept der phallischen Aggression ein sehr zweischneidiges, setzt es doch implizit auch einen Aggressor voraus, der im Falle der Bjarnar saga Hítdœlakappa ebenfalls explizit bildhaft mit dargestellt ist – die Wirkung des níð bedroht also auch seinen Anwender, vgl. Finlay 2020, S. 181– 182.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

stendr af stála lundi styrr Þórrøði fyrri. ⁹⁴⁴

Der erste Teil der Strophe mit der Kriegerkenning geira sœkir (»Erlanger der Speere« = Krieger), die eventuell phallische Anspielungen enthalten,⁹⁴⁵ ließe sich noch mit der These in Einklang bringen, dass hier ein Aggressor seinen Rivalen durch einen demütigenden sexuellen Akt entehrt. Diese Lesart aufrecht zu erhalten wird aber mit der zweiten Hälfte der Strophe schwierig gemacht. Hier wird nämlich ebenfalls beiden der Beteiligten auf Grund ihrer Beteiligung eine negative Reputation zugeschrieben: »the last two lines, by expressing direct comparison, implicate both participants in some degree of disgrace«,⁹⁴⁶ denn Bjǫrn gibt die im Zusammenhang mit dem Fund der Skulptur geäußerte Meinung der Leute erneut wieder, dass vor allem der vorderen Figur Schande entsteht, die er eindeutig mit Þórðr identifiziert (stendr af stála lundi/ styrr Þórrøði fyrri). Es gibt also tatsächlich kaum Grund zu der Annahme, Bjǫrn würde sich selbst freiwillig in einer unrühmlichen Szene darstellen, wenn diese Darstellung ihm selbst zur Schande gereichte. Vielmehr lenkt die erzählerische Komposition der Szene die Aufmerksamkeit geschickt weg von der Skulptur und den Fragen nach ihrer Urheberschaft (die die Sagagesellschaft im Übrigen vor dem Thing klar an Bjǫrn verweist). Durch die Rezitation der Strophe wird das durch die Skulptur thematisierte níð auf eine nachgelagerte Ebene transferiert, wobei die Strophe aber ihrerseits vom Text selbst nicht als níð bezeichnet wird. Die Aufstellung der Skulptur mit anschließender Dichtung einer Schmähstrophe ist ein extremer Akt der Feindseligkeit, da Bjǫrn beide Arten von níð vereint und die Gesetze bei uns mitunter den Eindruck erwecken, dass es eine Vorstellung von ›kumulativem níð‹ gab.⁹⁴⁷ Entsprechend lautet die öffentliche Anklage gegen Bjǫrn fyrir níðreising ok vísu, ⁹⁴⁸ wobei die Strophe noch einmal getrennt von der Skulptur er-

 Bjarnar saga Hítdœlakappa, Str. 20, S. 155; »Zwei Steuerbäume [=Männer] der Stätte stehen […] gleich ist der Erlanger der Speere [=Krieger, gemeint sein dürfte wie im nachfolgenden Satz Þórðr], kampfstark, diesem Werk; Unfrieden vom Baum der Eisen [=Krieger, ggf. Bjǫrn] entsteht zuerst dem Þórðr.« Auch in dieser Strophe nennt sich Bjǫrn nicht explizit selbst, sondern allenfalls durch die Kenning stála lundr [Baum der Eisen].  Vgl. Sveinbjörn Egilsson (Hrsg.) 1931, s.v. geirr, und Finlay 1991, S. 170.  Finlay 1991, S. 170.  Vor diesem Hintergrund erscheint an späterer Stelle die relative gering ausfallende Bestrafung für Bjǫrn im Vergleich zu Þórðr merkwürdig, denn dieser muss das fünffache an Kompensation für seine vorausgehenden – vergleichsweise harmlosen – Strophen bezahlen wie Bjǫrn.Vielleicht waren die von Þórðr geäußerten Strophen in der ursprünglichen Überlieferung zahlreicher als im überlieferten Text, was diesen Unterschied in der Bestrafung erklären könnte, vgl. Finlay 1991, S. 168 f; es ist ebenso denkbar, dass es sich bei der Bestrafung um ein stilistisches Mittel handelt, um Þórðrs Strophe zusätzliches Gewicht zu verleihen und die Beleidigungen der beiden gegeneinander aufzuwiegen: »The heavy penalty imposed on Þórðr […] may represent an attempt to redress the balance«, Finlay 1991, S. 175 – 176.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 156; »für das Aufstellen von níð und eine Strophe«.

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wähnt wird, obwohl sie inhaltlich schwer davon zu trennen ist.⁹⁴⁹ Sie wird aber gerade nicht direkt als níð bezeichnet, dies geschieht im Text explizit nur in Bezug auf die Skulptur. Nach diesen verbalen Angriffen auf Þórðr kommt es zwar wieder zum weiteren Austausch von Beleidigungen zwischen den beiden, aber keine davon erreicht mehr die Ausmaße von Bjǫrns níð. Einzig dessen Gedicht Grámgaflím (›Graubauchspottvers‹) enthält noch sexuell konnotierte Anspielungen, die allerdings nicht so explizit sind wie die in der Skulptur und der dazu gehörigen Strophe. Rezitiert wird es im Gespräch zwischen zwei Knechten, die sich darüber unterhalten, wer von den Kontrahenten mehr Schmähungen über seinen Gegner gedichtet hätte. Dass Bjǫrn es in der Saga nicht selbst vorträgt, ist wiederum ein Zeichen für die narrative Distanz zum Dargestellten, und möglicherweise auch ein Eingreifen des Erzählers, der das Strophenzitat auf diese Weise nur mittelbar aus Bjǫrns Mund kommen lässt.⁹⁵⁰ Zwar deutet die Bezeichnung darauf hin, dass es sich hier nicht um níð handelt,⁹⁵¹ dennoch lohnt die nähere Betrachtung von Bjǫrns Wortwahl. Zunächst berichtet er, Þórðrs Mutter hätte einst einen Spaziergang am Strand gemacht und dabei einen angespülten vergammelten Fisch gegessen, der als »Graubauch« bezeichnet wird.⁹⁵² Daraufhin wäre sie mit ihm schwanger geworden: Óx bruðar kviðr/ frá brjósti niðr. ⁹⁵³ In der letzten Strophe kulminiert dieses Gedicht in einer Gleichsetzung Þórðrs mit einer Ziege, die sich in das Schema der sexuellen Beleidigungen zwischen den beiden reiht: Sveinn kom í ljós, sagt hafði drós auðar gildi, at hon ala vildi; henni þótti sá hundbítr, þars lá, jafnsnjallr sem geit, es í augu leit. ⁹⁵⁴

In der Aussage, der neugeborene Þórðr hätte auf seine Mutter so tapfer wie eine Ziege (jafnsnjallr sem geit) gewirkt, steckt eine mehr oder weniger versteckte sexuelle Schmähung, die offenkundig wird, wenn man sich den Hinweis von Johan Fritzner vergegenwärtigt, dass es die Phrase ragr sem geit (argr wie eine Ziege) gibt.⁹⁵⁵ Damit

 Finlay 1991, S. 160.  Auf diese Mittelbarkeit weist Finlay hin, die schreibt: »[N]either poem is recited by the poet to whom it is attributed«, Finlay 2001, S. 29.  Finlay 1991, S. 171, und Kap. 4.4.4.2.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, Str. 26, S. 169.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, Str. 26, S. 169; »Es wuchs der Bauch der Frau unterhalb der Brust«.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, Str. 28, S. 169; »Ein Junge kam auf die Welt, das Mädchen hatte eine Goldzahlung versprochen, und dass sie ihn aufziehen wollte; ihr schien er ein Hundebiss [=lästig] zu sein, dort wo er lag, genauso tapfer wie eine Ziege, als sie ihm in die Augen sah.«  Vgl. Finlay 1991, S. 172 und Fritzner (Hrsg.) 1883 – 1896, s.v. argr.

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handelt es sich bei Bjǫrns flím tatsächlich um ein Spottgedicht, das seinem Kontrahenten durch die übertragene Gleichsetzung mit einem weiblichen Tier erneut ergi unterstellt, wenn auch deutlich versteckter als im zuvor aufgestellten níð und der dazu gehörigen Strophe.⁹⁵⁶ Der Beleidigte reagiert mit einem Gedicht, das Kolluvísur genannt wird, allerdings nicht in der Saga überliefert ist und wieder von einem Knecht aus zweiter Hand zitiert wird – möglicherweise enthielten diese vísur in Anspielung auf eine zuvor schon vorgebrachte Strophe Vorwürfe, Bjǫrn hätte sexuellen Verkehr mit einer Kuh gehabt.⁹⁵⁷ Allerdings bringt die Rezitation der Kolluvísur demjenigen der beiden Knechte, der sie aufsagt, den Tod: Bjǫrn hat ihrem Gespräch gelauscht und tötet ihn, obwohl es nur ihm und Þórðr untersagt ist, Schmähungen für den anderen hörbar vorzubringen.⁹⁵⁸ In der Folge prallen die Kontrahenten zwar immer wieder aufeinander und es kommt zu Handgreiflichkeiten, Verletzungen und einem missglückten Mordanschlag auf Bjǫrn, dennoch bringt keine der Begegnungen eine Beilegung des Konfliktes mit sich. Es ist Þorsteinn Kuggason, dessen Unterstützung Bjǫrn zuvor gewonnen hat, der auf eine endgültige Einigung zwischen den Beiden dräingt und schließlich auch Þórðr davon überzeugen kann, den Schiedsspruch zu übernehmen.⁹⁵⁹ Der Verlauf der Schlichtung scheint von allen Beteiligten zunächst durchaus positiv bewertet zu werden, bis Þórðr die Forderung vorbringt, dass beide noch einmal alle Spottstrophen vortragen sollen, die sie auf den anderen gedichtet haben: ›[V]il ek nú, at vit kveðim allt þat er hvárr okkar hefir ort um annan‹. ⁹⁶⁰ Er setzt sich damit gegen einigen Widerstand durch und es kommt zu einem quantitativen Vergleich der Dichtungen beider, wie es

 Die (implizierte) Gleichsetzung eines Kontrahenten mit einem weiblichen Tier ist in den norwegischen Gesetzen ebenfalls strafbar, genau wie die Unterstellung, jemand wäre übernatürlichen Ursprungs, wie es hier bei der Zeugung durch den Verzehr eines Fisches der Fall ist, vgl. Finlay 1991, S. 171– 172. Später führt Finlay aus, dass es sich bei diesem Gedicht aufgrund der ›tierischen Genealogie‹ um ýki handele, das sie als speziellere Form von níð abgrenzt. So erkläre sich ihr zufolge die Position des Gedichts, das nach dem tréníð in der Saga auftaucht, als Fortsetzung der damit begonnenen Eskalation, vgl. Finlay 2001, S. 38. Die Tatsache, dassvon diesem Gedicht nur ein Teil zitiert wird, lässt darauf schließen, dass möglicherweise noch derbere Anspielungen folgen, vgl. ibd.  Vgl. Finlay 1991, S. 173; die Kolluvísur finden auch im Sneglu-Halla þáttr Erwähnung, wo sie allerdings Halli zugeschrieben werden und es von ihnen heißt, sie seien von sehr zweifelhaftem Inhalt, Sneglu-Halla þáttr, S. 276: ›Því […] at lítil kvæðismynd myndi á því þykkja, ef þetta skal heyra, ok lítt mun því verða á lopt haldit.‹; »›Denn […] es wird wie ein schlechtes Stück Dichtung wirken, wenn es gehört werden wird, und es wird deshalb kaum in Ehren gehalten werden.‹« Eine Aussage, ob die Kolluvísur möglicherweise eine Anspielung darauf enthalten hätten, dass Bjǫrn von einer Kuh abstamme, ist zwar nicht möglich; eine solche Anspielung wäre in Reaktion auf das Grámagaflím allerdings logisch und würde sich in das Schema der wechselseitigen Beleidigungen fügen, vgl. Finlay 2001, S. 40.  Vgl. Finlay 1991, S. 166.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 188.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 188; »›Ich möchte, dass wir jetzt alles aufsagen, was jeder von uns über den anderen gedichtet hat.‹«

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schon im Gespräch der beiden Knechte der Fall war: »The issue is the number of verses rather than the degree of offence in their content.«⁹⁶¹ Aus dieser Aufzählung der einzelnen Strophen geht Bjǫrn als vorläufiger Sieger hervor, da er eine Strophe mehr als sein Gegenspieler gedichtet hat. Diesen Rückstand möchte Þórðr mit der Neudichtung einer Strophe wettmachen, bekommt aber mit dem Satz ›ok lát eigi ákveðin orð í vera‹ die Auflage, beleidigende Worte weg zu lassen.⁹⁶² Es ist zwar fragwürdig, welchen Nutzen er sich von einer unverfänglichen Strophe auf Bjǫrn verspricht, aber es scheint für ihn eine Frage der Ehre zu sein, gleich viel gedichtet zu haben wie dieser.⁹⁶³ Dennoch reicht diese eine Strophe aus, um den Friedensschluss platzen zu lassen, denn Bjǫrn reagiert seinerseits mit einer neuen Strophe und die Verhandlungen werden für beendet erklärt.⁹⁶⁴ Bald darauf findet der Konflikt endgültig ein Ende, als Þórðr mit einigen Helfern Bjǫrn auf dessen Hof überfällt und tötet. Dass er ihm vor dem Todesstreich die Hinterbacken abschlägt,⁹⁶⁵ ist als letzte Demütigung des Feindes zu verstehen, der ihn mehrmals der ergi bezichtigt hat.⁹⁶⁶ Durch diese spezielle Verletzung, einen von Þórðr als klækishǫgg bezeichneten klámhǫgg, schreibt Þórðr dem Körper seines sterbenden Feindes ebenfalls ergi ein.⁹⁶⁷ Diese Tötung zieht aber keine weiteren Tötungen mehr als Konsequenz nach sich: Þorsteinn Kuggason, mit dem Bjǫrn vereinbart hatte, dass der Überlebende von beiden im Falle einer Erschlagung des anderen die Aufnahme eines Verfahrens anstrengen solle,⁹⁶⁸ entscheidet sich für eine friedliche Einigung durch Mannbuße und Ächtung der Totschläger. Trotz der Unzufriedenheit von Þórðr und seinen Leuten fügt sich schlussendlich jeder dem Urteil und es heißt, die Sache käme zu einem ruhigen Ende: Tekr nú þaðan af at kyrrask um málin. ⁹⁶⁹ Die Beleidigungen – vor allem solche in der Form des sexuell aufgeladenen níð – dienen in der Saga sehr lange als »currency of the feud in the same way as killings or physical attacks […] in other sagas«.⁹⁷⁰ Das wird beispielsweise deutlich, wenn die Männlichkeit der beiden Kontrahenten mehrmals nicht von ihrem Geschick im Kampf

 Finlay 1991, S. 175.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 189; »›Aber lass keine überspitzten Wörter darin sein.‹«  »[A]pparently levelling the numbers was considered sufficient to satisfy honour«, Finlay 1991, S. 175; auch das Gespräch zwischen den Knechten zeigt, dass aus ihrer Sicht die Ehre unmittelbar mit der quantitativen dichterischen Produktivität zusammenhängt. Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 169: Nú segir húskarlinn, at honum þótti Þórðr illt af fá, bæði um kveðskap ok annat; »Nun sagte der Knecht, ihm scheine es, als käme Þórðr schlecht dabei weg, sowohl in Bezug auf die Dichtkunst als auch sonst.«  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 190.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 203: Þórðr hjó til Bjarnar, ok beit af honum þjóhnappana; »Þórðr hieb nach Bjǫrn, und er schnitt ihm die Hinterbacken ab.«  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 68.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 202, vgl. Kap. 4.1.9.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 191.  Bjarnar saga Hítdœlakappa, S. 211; »Es begann von da an, ruhig um diese Sache zu werden.«  Finlay 1991, S. 158.

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oder ihrem Mut⁹⁷¹ abhängig gemacht, sondern in direkten Zusammenhang mit ihrer dichterischen Produktivität gebracht wird. Verbalinjurien und narrativ gezielt gegeneinander abgewogene Beleidigungen⁹⁷² ersetzen also in gewisser Weise sehr lange die eigentlich zu einer Fehde gehörende physische Gewalt – diese wird erst ganz am Ende das bevorzugte Mittel der Fehde, als nach dem gescheiterten Friedensschluss kein Ausweg mehr aus dem Konflikt erreichbar erscheint. Während die beiden Kontrahenten in ihrem Kampf um die von beiden umworbene Frau lange ohne eine Lösung des Konfliktes einander umkreisen, dreht sich auch die Erzählung ihrer Geschichte oft und lange um das Thema níð, bevor es expliziert wird. Selbst im Moment seiner Explikation wird es jedoch sofort einer narrativen Unschärfe unterworfen, indem der Ersteller der schmähenden Figur nicht vom Erzähler benannt und ihr Inhalt sogleich auf die untergeordnete narrative Ebene einer Strophe verlagert wird. Sie wird ihrerseits zwar nicht als níð bezeichnet, aber im gleichen Zuge wie die Skulptur gerichtlich geahndet. Das in einem gewissen Maße »originalere« níð aber, die Skulptur, deren Urheber nie genannt wird, wird gleichzeitig Zweifeln an der Herkunft unterworfen, da die Rezipierenden nicht letztgültig sicher sein können, ob Bjǫrn tatsächlich eine Figur aufstellen würde, die auch seiner eigenen Reputation schadete. So kann níð einen Wendepunkt in einem Konflikt darstellen, der lange Zeit ohne Ergebnis hin und her wogt, indem es thematisch in die Erzählung dieses Konfliktes verwoben wird und gleichzeitig in der Art seiner Darstellung ebenso unscharf ist wie der Verlauf der Auseinandersetzung.

4.4.4.3 Fóstbrœðra saga Die handlungssteuernde Mechanik eines nicht direkt fassbaren níð macht sich noch ein weiterer Text zu Eigen, wenn es um die Rechtfertigung der Handlungsweisen einer seiner Hauptfiguren geht. Die Fóstbrœðra saga erzählt in großen Teilen die Geschichte von Þormóðr Kolbrúnarskáld, der sich auf einem Rachefeldzug in Grönland befindet, weil er den getöteten Schwurbruder rächen möchte. Mehrere Kapitel der Saga widmen sich ausführlich diesem Rachefeldzug und der Blutspur, die Þormóðr dabei quer durch Grönland hinter sich herzieht. Dabei macht sich der Text die Eigenschaften dieses liminalen Ortes zunutze, der bereits eine dankbare Folie für die Episoden über Þorgils in der Flóamanna saga und die Króka-Refs saga bildete.⁹⁷³ Beide hatten eine Beschäftigung mit den Themen ergi und níð zum Thema, was angesichts von Grönlands narrativen Eigenschaften nicht weiter verwundert:

 Tatsächlich gibt es in der Saga sogar mehrere Anzeichen dafür, dass Þórðr eher feige und »more, ultimately, as a victim than as a practicioner of níð« dargestellt wird, Finlay 1991, S. 176. Damit personifiziert er in gewisser Weise die auf beiden Seiten geäußerten Vorwürfe und gibt dem Text so einen satirischen Unterton, vgl. Finlay 1991, S. 177.  Finlay 1991, S. 177.  Besprochen in Kap. 4.1.6 und 4.3.1. Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 88.

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As a geographically and culturally liminal setting, it also provides fertile ground for the uncanny and supernatural, as evident in the Vínland sagas, and a context within which Icelandic anxieties about marginality and isolation could be sublimated.⁹⁷⁴

So ist es naheliegend, dass auch der Erzähler der Fóstbrœðra saga Grönland zum Ort ungeheuerlicher Vorgänge erhebt, die aufgrund seiner Lage in der kulturellen Peripherie schwer nachprüfbar sind, und integriert diesen Ort in die erzählerisch lückenhafte Darstellungstechnik eines níð. Nach der Rückkehr zu König Óláfr Haraldsson fragt dieser ihn nach seinen Taten in Grönland. Þormóðr brüstet sich mit der Erschlagung vieler Männer, was in einem kritischen Gespräch zwischen den beiden über Þormóðrs Motive mündet: Ólafr konungr mælti: ›Framar hefir þú þá gǫrt um vígin á Grœnlandi en fiskimaðrinn kallar aflausan vera fiskinnar, því at hann kallask leysa sik, ef hann dregr fisk fyrir sik, en annan fyrir skip sitt, þriðja fyrir ǫngul, fjórða fyrir vað. Nú hefir þú framar gǫrt, eða hví draptu svá marga menn?‹ Þormóðr svaraði: ›Illr þótti mér jafnaðr þeira vera við mik, því at þeir jǫfnuðu mér til merar, tǫlðu mik svá vera með mǫnnum sem meri með hestum.‹ Konungr mælti: ›Várkunn var þat, at þér mislíkaði þeira umrœða; hefir þú ok stórt at gǫrt.‹ ⁹⁷⁵

Ólafrs erste Reaktion ist zunächst sperrig und wirft Fragen auf. Miller sieht in Þormóðrs Aufenthalt in Grönland eine Maßlosigkeit bei der Rache, auf die der König hier mit einer elaborierten Metapher vom Fischer reagiert: »Thus we have king Olaf resorting to an extended metaphor to make the same point to […] Thormod who had taken an overly energetic revenge for his foster-brother.«⁹⁷⁶ Wenn Þormóðr hier über verbales níð mit dem Inhalt spricht, dass er mit einer Stute verglichen wurde, die sich einem Hengst sexuell unterwirft, wird die Maßlosigkeit deutlich, von der Miller spricht. Tatsächlich gab es nur eine Episode während seines Aufenthalts in Grönland, in der níð eine Rolle gespielt hätte. Dort hat er sich selbst mit seinen Strophen zumindest im Dunstkreis von níð bewegt, um den sterbenden Falgeirr zu schmähen.⁹⁷⁷

 Grove 2009, S. 34.  Fóstbrœðra saga, S. 259; »König Ólafr sagte: ›Du hast mit deinen Tötungen in Grönland mehr getan als das, was der Fischer den ›Ausgleich der Fischerei‹ nennt, denn einen nimmt er, sagt er, nach dem Fang für sich, den zweiten für sein Schiff, den dritten für den Haken, den vierten für eine seichte Stelle. Nun hast du mehr getan. Warum hast du so viele Männer getötet?‹ Þormóðr antwortete: ›Mir schien schlecht, was für Vergleiche sie mit mir anstellten, denn sie verglichen mich mit einer Stute. Sie sagten, ich sei so mit Männern, wie eine Stute mit Hengsten.‹ Der König sprach: ›Es war entschuldbar, dass dir dieses Gerede von ihnen missfiel. Du hast Großes daran vollbracht.‹«  Miller 1990, S. 203.  Als Falgeirr nach einem Schiffbruch in seinem Sichtfeld ertrinkt, spricht Þormóðr eine Strophe, die keinen Zweifel daran lässt, dass Falgeirr mit ihr noch im Tod geschmäht werden soll, und die Kock 1923 – 1944, §709, ohne vertiefte Besprechung als »[u]ndarligt« bezeichnet. Die Strophe in der Fóstbrœðra saga, S. 241– 242, lautet: Skoptak enn, þás uppi / undarligt á sundi / – hrókr dó heimskr við klæki – / hans razaklof ganði; / alla leitk á Ulli / eggveðrs hugar gleggum / – setti gaurr ok glotti – / goðfjón – við mér sjónir; »Ich bewegte mich noch vor und zurück, während seine Arschritze seltsam glotzte, als er schwamm; unrühmlich starb der Dummkopf. Ich sah in dem feigen Ullr des Kampfes [=

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Die Präsentation der vorangegangenen Ereignisse durch den Erzähler lässt die Rezipierenden nicht ernsthaft daran glauben, dass Þormóðr in Grönland tatsächlich Opfer von níð geworden ist.⁹⁷⁸ Im Gegenteil: Das einzige níð, um das es in Grönland gegangen sein könnte, war sein eigenes. Diese Beobachtung ist nicht neu, so schreibt Grove unter Bezugnahme auf Sørensen: »The claim does not correspond with the details of the preceding chapters, indicating that the theme of sexual insult has been deliberately suppressed in surviving texts of the saga«.⁹⁷⁹ Seine Schlussfolgerung, dass ein ursprünglicher sexueller Inhalt im Laufe der Zeit entfernt worden sei, überzeugt aus narratologischer Sicht allerdings nicht: Vielmehr erscheint aufgrund der Gesamtschau der Saga ein Bezug zu níð von Þormóðr als nachvollziehbare Rechtfertigung für seinen Rachefeldzug ex nihilo hergestellt worden zu sein. Dementsprechend ist das Fehlen der expliziten Schilderung einer solchen níð-Episode in Grönland gerade fester Bestandteil der Erzählung, der die Funktion von níð für erzählerische Zwecke nutzt. Dafür sprechen hier vor allem zwei Gründe: Grönland als der liminale Schauplatz der angeblichen Schmähungen und die anderen Episoden aus Isländersagas, in denen níð lediglich »anerzählt« wird. Es kann auf diese Weise eine Rolle spielen, ohne im Detail dargestellt werden zu müssen. So kann die Geschichte eines gerissenen Isländers präsentiert werden, der gezielt behauptet, ein Opfer von níð geworden zu sein und sich dabei auf einen Ort bezieht, der sich aufgrund seiner li-

Krieger] den ganzen Hass Gottes. Der Tölpel sah mich an und grinste.« Bei skopa kann es sich um eine alternative Schreibung von skeypa ›verspotten‹ handeln, Cleasby (Hrsg.) 1874, s.v. skopa. Die Bedeutung wäre dann, dass Falgeirr noch während des Spotts ertrinken würde, Þórmóðr also nicht einmal den Aufwand erbringen müsste, ihn aktiv herauszufordern. Auch die Art und Weise, wie er im Wasser treibend geschildert wird, ist alles andere als rühmlich: »The physical inversion is the buttocks rising out of the water first; it is not his mouth gasping for air, but his anus«, Keens 2016, S. 202. Meulengracht Sørensen übersetzt die Strophe folgendermaßen: »I was still moving back and forth when the stupid fellow died ignominiously while he was swimming (or: with his arms and legs in a position like a swimmer). His arse gaped strangely. I saw all the hatred of the gods (or: what causes the hatred of the gods) on the cowardly warrior. The gross fellow fixed his eyes upon me and grinned.«, Meulengracht Sørensen 2000, S. 83. Er führt ergänzend dazu an, dass es sich hier dem Kontext nach kaum um níð handele und der Autor dies nicht so gesehen habe, als er die Strophe in diesen Kontext überführt habe. Diese Feststellung ist unabhängig von ihrem eher spekulativen Charakter mit Blick auf den Inhalt der Strophe grundsätzlich nachvollziehbar. In erzählkompositorischer Hinsicht interessant an der Verwendung gerade dieser Strophe ist, dass sie zu einer kontrastiven Charakterisierung von Þormóðr eingesetzt wird: Als er ein Kapitel später selbst kentert, gibt diese Tatsache den Beteiligten Anlass zur Spekulation, ob er ertrunken sein könnte. Im Gegensatz zu Falgeirr, der hier in einer ähnlichen Lage ist, entgeht Þórmóðr aber dem nassen Tod, weil er es ans Ufer schafft, Fóstbrœðra saga, S. 249. Für Meulengracht Sørensens Deutungsvorschlag spricht überdies, dass Þormóðr auch außerhalb des Untersuchungscorpus zu drastischer Sprache neigt. So ist an seine Strophe über den herumgereichten Pferdephallus im Vǫlsa þáttr zu denken, vgl. Vǫlsa þáttr, S. 277. Seinen Umgang in Bezug auf Frauen, der ebenfalls einige nicht überlieferte und mutmaßlich sehr derbe Strophen umfasst, untersucht Keens 2016, S. 148 – 156. Für die Hilfe bei der Übersetzung der Strophe und die hilfreichen Anmerkungen danke ich Alex Wilson.  Vgl. Keens 2016, S. 200.  Grove 2009, S. 36.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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minalen Situierung einer Überprüfbarkeit entzieht. Die fehlende Überprüfbarkeit betrifft die Rezipierenden genauso wie oftmals auch das intradiegetische Figurenverhältnis. Der Umstand, dass über níð erzählt und im selben Moment in dessen Umfeld eine Leerstelle gesetzt wird, charakterisiert viele Episoden in den Sagas und er zeigt, dass auch hier eine bewusste erzählerische Entscheidung vorliegen kann und nicht etwa das Ergebnis eines fortlaufenden ›Zensurprozesses‹ während der textuellen Überlieferung. Es ist vielmehr so, dass Þormóðrs offensichtliche Lüge für die Rezipierenden gerade den ›Witz‹ des Textes ausmacht. Dies trifft umso mehr zu, als es sich hier bei der betreffenden und nach Grove anzunehmenden Szene abermals um eine zentrale Szene drehte, die, folgte man Þormóðrs Behauptung, das Geschehen rechtfertigte. Eine solche Szene haben wir in der sorgfältig orchestrierten níð-Episode während Refrs Aufenthalt in Grönland bereits gesehen.⁹⁸⁰ Mit Blick auf die erzählerische Nachvollziehbarkeit stellt Grove daher noch auf die Darstellung in der KrókaRefs saga bezogen fest: »There are no such indications of expurgation in the text of Króka-Refs saga«.⁹⁸¹ Dabei verkennt er jedoch, dass die gezielte Auslassung von níð ebenso ein festes Erzählprinzip in den Sagas ist und wie in diesem Beispiel der Aufmerksamkeitssteuerung der Rezipierenden dienen kann. Das Tabu ist also nicht wie von Grove angenommen ursächlich für die hier entstehende Leerstelle, sondern kann genauso gut bestimmend für deren narrative Wirkung sein. Þormóðr benutzt ganz gezielt die bekannte und mit níð einhergehende Verpflichtung zur notwendigen Außerkraftsetzung durch Gewalt, um durch seine Antwort an den König moralische Nachfragen im Voraus zu verhindern. Ob Þormóðr aber den König mit dieser Geschichte vom fingierten níð tatsächlich vollständig überzeugen kann, bleibt trotz des geäußerten Verständnisses für seine Lage offen. Dies liegt nicht zuletzt an dessen christlichem Glauben, der eine Ablehnung der als heidnisch wahrgenommenen Praxis um níð impliziert.⁹⁸² Wahrscheinlicher ist aufgrund der verwendeten Metapher vom Fischer ohnehin, dass Óláfr um Þormóðrs ursprüngliches Rachemotiv bestens Bescheid weiß. Þormóðr stellt mit seiner Aussage die Erschlagung seines Bruders auf dieselbe Stufe wie die erlittene Schmähung durch níð. Dass es an dieser Stelle erwähnt wird, dient der Schaffung einer schnellen und für alle Rezipierende nachvollziehbaren Rechtfertigung, um das Gespräch mit Óláfr nicht in eine Richtung abgleiten zu lassen, in der dieser möglicherweise juristische Sanktionen für Þormórðrs Tötungen in Betracht ziehen müsste. Gleichzeitig kann unter Bezugnahme auf Grönland das bekannte Bild vom scharfsinnigen Isländer zu Besuch beim König bekräftigt werden, ohne jedoch den König bloßzustellen.

 Vgl. Kap. 4.3.1.  Grove 2009, S. 36.  Als Beispiel für diese Beobachtung s. den Þorvalds þáttr víðfǫrla I in Kap. 4.4.6.

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4 Ergi und níð in den Íslendingasǫgur und –þættir

4.4.5 Wie der Vater, so der Sohn? Níð als genealogisches Problem und strukturelles Element Genealogien sind von außerordentlicher Wichtigkeit für das Verständnis der Figuren in den Isländersagas und ihr Selbstverständnis innerhalb der erzählten Welt. Das ist alleine schon deshalb der Fall, weil das Individuum im mittelalterlichen Erzählen verglichen mit dem modernen Erzählen gegenüber dem Kollektiv, das es vertritt, stärker zurück tritt.⁹⁸³ Insoweit trägt die Genealogie stark zur Schematisierung der Sagagesellschaft bei, zur Einteilung des gewaltigen Figureninventars in Gruppen, Familien und Höfe, denen sich die Individuen zuordnen lassen. Selbst wenn dieser Effekt in den Isländersagas weniger stark ausgeprägt ist als in der kontinentaleuropäischen Literatur, insbesondere der höfischen, so wurde doch die immanente Wichtigkeit von Familie und Abstammung für den Einzelnen festgestellt.⁹⁸⁴ Mit dem kollektiven Ehrgefühl – oder helgi – der Familie steht und fällt der soziale Status des Einzelnen. Wir haben gerade am Beispiel der Njáls saga bereits beobachten können, dass die Möglichkeit besteht, durch níð eine Familie gerade an diesem Punkt empfindlich und nachhaltig zu treffen. Indem Hallgerðr ihre Schmähungen nicht nur gegen Njáll richtet, sondern mit dem Begriff taðskegglingar bewusst dessen Söhne miteinbezieht, hat das níð, zu dem sie den Skalden Sigmundr anstiftet, Nachwirkungen auf die Folgegeneration des Betroffenen. Ármann Jakobsson stellt fest, diese Szene zeige deutlich, dass die Unmännlichkeit Njálls sich auch auf die nächste Generation überträgt: »[T]here are several ways to be unmanly: 1. to be beardless; 2. to be the bearded son of a beardless man«.⁹⁸⁵ Besonders Njálls Sohn Skarpheðinn scheint davon insoweit betroffen zu sein, als dass er das níð gegen seinen Vater in Teilen ›erbt‹: So wird ihm auch von anderen Figuren stellenweise Unmännlichkeit zugeschrieben, etwa bei Gunnarr Lambasons Unterstellung, er habe im Rauch der brenna geweint.⁹⁸⁶ Dabei gibt seine Figur selbst keinen Anlass für ergi-Zuschreibungen. Der Angriffspunkt ist einzig und allein, dass er einen Vater hat, dem wiederholt ergi vorgeworfen wird. Hier wird ersichtlich, dass sich níð, einmal in die Welt gesetzt, zu einem genealogischen Problem für die Betroffenen und damit einem Störfaktor für ihren sozialen Status auswachsen kann. Auch die Berichte über Guðmundr und seinen Sohn Eyjólfr in der Ljósvetninga saga legen eine solche Wahrnehmung nahe, in der der Sohn dem Vater in charakterlicher Sicht nachkommt. Auf der Erzählebene drückt sich dies in der parallelen Struktur des Textes aus, der sich in einen Guðmundr- und einen

 Vgl. zu den extremen Formen, die diese Vorstellung vom »Sippenkörper« vor allem in der höfischen Literatur annimmt, Schulz 2015, S. 97– 98.  Vgl. dazu Meulengracht Sørensen 1993, S. 214, der die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Geschlechtern und Mitgliedern einer Familie in Hinblick auf die Außenwirkung beschreibt.  Ármann Jakobsson 2007, S. 193.  Njáls saga, S. 333.

4.4 Sprechen über das Unsagbare: Vom níð erzählen

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Eyjólfr-Teil zerlegen lässt, die hinsichtlich ihres Aufbaus einander stark ähneln und der Verächtlichmachung beider Figuren dienen.⁹⁸⁷ Über diese Einzelbeobachtungen hinaus kann eine derart kontaminierte genealogische Verbindung, sofern sie einmal identifiziert wurde, beim Textverständnis von fragmentarisch überlieferten Sagas wie der Svarfdœla saga helfen. In der Folge eröffnen diese Beobachtungen neue Perspektiven in der Beurteilung dieses vielgeschmähten Textes, der von einer großen Lakune in den Haupthandschriften in zwei wenig zusammenhängend erscheinende Teile gespalten wird.⁹⁸⁸ Einen Ansatz, mit solchen problematischen Texten umzugehen, liefert Joanne Shortt Butler, indem sie dafür plädiert, Lücken und Leerstellen in einem Text als unabdingbare narrative Bestandteile des Textes zu sehen und somit die Texte in ihrer überlieferten Form für sich sprechen zu lassen.⁹⁸⁹ In dieser Betrachtungsweise sind Lakunen in den Handschriften keine störenden Fremdkörper im narrativen Gefüge, sondern ihrerseits ein selbstständiges narratives Element, das mithin Funktionsträger sein kann. Genette selbst, dessen Untersuchung sich auf moderne Texte bezieht, hat für den Typus Lücken, wie sie durch Lakunen in den Handschriften entstehen können, keine terminologische Beschreibung. Ihrem Wesen nach entsprechen sie in ihrer unmarkierten Unterbrechung der »narrativen Kontinuität« weitestgehend seinen so genannten »impliziten Ellipsen«, die er als »völlig stumm« bezeichnet.⁹⁹⁰ Der englische

 Vgl. dazu Kap. 4.3.3 mit den dortigen Literaturverweisen, insbesondere auf Vésteinn Ólason 2011 und Magerøy 1991.  Die beiden Haupthandschriften sind AM 161 fol., ungefähr Mitte des 17. Jahrunderts, und AM 445c 4to, die aus dem 15. Jahrhundert stammt und nur aus einem Pergamentblatt besteht. Die erste Handschrift hat eine sehr große und mehrere kleine Lakunen. Der Inhalt scheint bereits früh verloren gegangen zu sein, da er in späteren Abschriften nicht erhalten ist. Später wurde mit erklärenden Zusätzen versucht, diese Lücken inhaltlich zu füllen, selbst wenn diese Versuche wenig überzeugend sind. In der Edition der Reihe Íslenzk fornrit finden diese späteren Ergänzungen sich auf den Seiten 209 – 211. Es wirkt, als hätte Kritik an der Svarfdœla saga innerhalb der Forschung über lange Zeit zum guten Ton gehört, wurde dieser Text doch beinahe von jedem Blickwinkel aus als schlecht und minderwertig kritisiert. Konrad Maurer bezeichnete sie als »völlig unzuverlässig« in Hinblick auf nachvollziehbare Ortsbeschreibungen, Maurer 1874, S. 13. Guðbrandur Vigfússon ließ ebenfalls kaum ein gutes Haar an ihr, wenn er ihr unterstellte, sie sei »the coarsest and the worst of the Islendinga Sagas, told in a rough confused way, seldom rising to a higher level«, Guðbrandur Vigfússon 1878, S. lv, und Finnur Jónsson bescheinigt ihr, dass sie »lider af ikke uvæsentlige mangler«, Finnur Jónsson 1884, S. 135. Theodore Andersson schloss sie bei seiner strukturalistischen Untersuchung der Isländersagas wegen ihrer strukturellen Mängel gleich von Beginn an aus dem Untersuchungscorpus aus, Andersson 1967, S. vi. Auch Jan de Vries klingt wenig wertschätzend, wenn er feststellt, dass die Saga zeige, »wie schnell die Prosakunst der Isländersaga einer neueren Geschmacksrichtung zum Opfer gefallen ist«, de Vries 1999, II, S. 418, und die Beschreibung »heavy and awkward«, Boyer 1993, S. 626, für die Themenwahl im zweiten Teil scheint kaum schmeichelhaft. Erst in jüngerer Zeit gibt es vereinzelt Versuche, diesem Text auf einer neutraleren Basis zu begegnen, etwa bei Heinemann 1997,Waugh 1998, oder jüngst Merkelbach 2019 bzw. 2020.  Shortt Butler 2020. An dieser Stelle gebührt Joanne Shortt Butler mein Dank dafür, dass sie mir ihren Aufsatz bereits vor seiner Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.  Genette 2010, S. 68.

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Literaturwissenschaftler H. Porter Abbot nennt (vor allem bewusst gesetzte) Lücken einen »active part of the narrative experience«, da sie »open on a vast arena of virtual events that are never realized but rather exist like a kind of dark, weightless energy, hidden under the words and images that actualize a story«.⁹⁹¹ Diese Eigenschaft von Lücken als narratives nutzbares Element überträgt Shortt Butler nunmehr auf Lakunen, die ihrem Wesen nach keine bewusste stilistische Entscheidung einer textschaffenden Instanz darstellen. Shortt Butler betrachtet im Schwerpunkt die Heiðarvíga saga unter diesem Blickwinkel, einen weiteren Text, dessen Überlieferungslage sehr fragmentarisch ist. Auf einer rein literaturwissenschaftlichen Basis zieht sie folgende Schlüsse: We cannot treat the absences in a text like Heiðarvíga saga as deliberate, stylistic choices. However, by better understanding what deliberate, permanent gaps do to readers of literature […] we might approach Heiðarvíga saga and other damaged texts in a way that should allow us to come to terms with the presence of gaps. That is, to appreciate that they are as much part of the surviving saga as the text that has been preserved, and by acknowledging this, to get more from our reading of what remains, rather than being intimidated or frustrated by what has been lost.⁹⁹²

Auch für die Svarfœla saga verspricht eine solche Haltung Erfolg. In Verbindung mit einer Strukturbetrachtung, die sich auf das Motiv níð und die genealogischen Aspekte konzentriert, lässt sich die große Lakune gewinnbringend in die Textanalyse mit einbeziehen und ein schematischer Zusammenhang zwischen den beiden von ihr getrennten Erzählteilen erkennen. Komplementär zu den Betrachtungen der Figur Þorsteinns in Kap. 4.2.2.4 wenden wir uns hier seinen Gegnern und ihrem Nachkommen zu. Während andere Sagas eher zurückhaltend damit sind, ihre Figuren im Rahmen einer genealogischen Exposition und im weiteren Verlauf der Geschehnisse explizit als Berserker zu bezeichnen, finden sich in der Svarfdœla saga bei genauem Hinsehen Hinweise auf eine ganze Berserkerfamilie, die sich über die Lakune hinweg rekonstruieren lässt.⁹⁹³ Es ist aufgrund der handelnden Figuren und der Art und Weise ihrer Darstellung absolut »reasonable to assume that there is a streak of berserkism running in the family«.⁹⁹⁴ Allerdings drängen sich die Verwandtschaftsverhältnisse aufgrund der jeweiligen Figurenexpositionen nicht als vordergründiges Thema auf, sondern werden erst nach und nach sichtbar und geradezu beiläufig von den Figuren selbst oder vom Erzähler erwähnt. Mit dem Wissen um die Verwandtschaftsverhältnisse vor Augen ist besonders auffällig, dass alle der vom »Berserkergen« betroffenen Figuren (Ljótr inn bleiki, Moldi und Klaufi) im Laufe der Ereignisse Ziel von níð werden. Dabei ist die Tatsache, dass zwischen Berserkern und níð ein Zusammenhang besteht, an sich nicht verwunderlich: »it is part of the motive that the tyranny of the berserk is primarily of a sexual    

Abbot 2015, S. 104. Shortt Butler 2020, S. 150 – 151. Vgl. hierzu Merkelbach 2019, S. 107– 108. Merkelbach 2019, S. 108.

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kind. In this aspect the berserk motive is related to the motive of níð.«⁹⁹⁵ Im Folgenden wird daher zu zeigen sein, inwieweit diese Verbindung für die Figurendarstellung und –entwicklung in der Saga Bedeutung entfaltet und auch, dass eine Korrelation zwischen der Intensität des angewendeten níð und der Ausprägung des Berserkertums besteht. Von Þorsteinns erstem Kontrahenten Ljótr inn bleiki, auf den er in Schweden trifft, heißt es, dass er von großem Wuchs sei und ihm nachgesagt werde, dass ihn kein Schwert verwunden könne.⁹⁹⁶ Eine direkte Zuschreibung von Berserkereigenschaften, die über diese Nachricht vom Hörensagen hinausgeht, gibt es im Text allerdings nicht.⁹⁹⁷ Als der lange währende Kampf zwischen den Parteien zum Erliegen zu kommen droht, schafft es Þorsteinn durch die Androhung des níðingsorð, seinen Kontrahenten zur Fortsetzung zu drängen und besiegt ihn schlussendlich.⁹⁹⁸ Nach der Beerdigung seines Bruders, der bei den Kämpfen umkommt, wird Þorsteinn vom Jarl Herrǫðr im Rahmen der Trauerfeier eingeladen, über den Winter zu bleiben. Bald darauf erfährt er von einem Mann namens Moldi: ›Maðr heitir Moldi; hann er víkingr eða hálfberserkr, ef svá vill kalla‹. ⁹⁹⁹ Zusammen mit seinen Leuten stifte er um die Weihnachtszeit herum Unfrieden. Auf Þorsteinns Nachfrage teilt ihm sein Gesprächspartner mit, dass der Jarl seine Tochter demjenigen zur Frau geben wolle, der Moldi beseitigen könne, da er selbst zu alt für dieses Unterfangen sei.¹⁰⁰⁰ Þorsteinn willigt ein, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Moldi wird bei seinem ersten Auftritt in der Saga, als die Feuer am Hof des Jarls Herrǫðr die Nacht des schwedischen Winters erhellen, geradezu theatralisch anmutend beschrieben: Atfangadag jóla drífa flokkarnir at bænum. Jarl lét autt tólf manna rúm utar frá ǫndvegi. Gleði var mikill í hǫllinni. En þá er eldarnir váru sem bjartastir, var jarli sagt, at Moldi riði at hǫllinni ok menn hans; en er þeir kómu, stigu þeir af baki, gengu síðan inn í hǫllina tólf saman ok óðu þegar eldana ok bitu í skjaldarrendr. ¹⁰⁰¹

 Meulengracht Sørensen 1983, S. 46.  Svarfdœla saga, S. 135: ›Ljótr er mikill maðr vexti, vænn at áliti, en segja sumir menn, at hann bíti eigi vápn‹; »›Ljótr ist ein Mann, der groß von Wuchs und schön anzusehen ist, aber manche Menschen sagen, dass keine Waffe ihn beiße.‹«  Vgl. hierzu Merkelbach 2019, S. 107– 108.  Vgl. Kap. 4.2.2.4.  Svarfdœla saga, S. 142: »›Ein Mann heißt Moldi. Er ist ein Wikinger oder Halbberserker, wenn man ihn so nennen möchte.‹«  Svarfdœla saga, S. 142– 143.  Svarfdœla saga, S. 143; »Am Vortag zu Weihnachten kamen Menschengruppen in die Stadt. Der Jarl ließ für zwölf Männer Platz in der Nähe des Hochsitzes frei. In der Halle war sehr gute Stimmung. Aber als die Feuer am hellsten brannten, wurde dem Jarl gesagt, dass Moldi und seine Männer zur Halle ritten. Und als sie angekommen waren, stiegen sie von den Pferderücken, gingen dann zu zwölft in die Halle und durchschritten die Flammen und bissen in die Schildränder.«

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Der Erzähler lässt durch die hier abgerufenen Bilder wenig Zweifel daran, dass Moldi ein Berserker ist, zeichnet er sich doch durch die mit literarischen Berserkerfiguren in Verbindung stehenden Erkennungsmerkmale wie den Gang durch das Feuer und den Biss in den Schildrand aus. Damit steht diese Szene ein wenig im Widerspruch zur ersten Beschreibung Moldis, in der es noch abschwächend hieß, er sei ein »Halbberserker«. Nachdem Þorsteinn auch Moldi mit Mitteln des níð in eine Auseinandersetzung zieht, die er stellvertretend für den Jarl führt, treten bald darauf die Verwandtschaftsverhältnisse für die Rezipierenden erkennbar hervor. Dass Ljótr und Moldi Brüder sind, wird nämlich erst zu diesem Zeitpunkt in der Erzählung enthüllt, als Moldi im Duell mit Þorsteinn dessen Schwert wiedererkennt: Þorsteinn seldi honum sverðit, en hann tók við ok brá því; hann mælti: ›Hversu komstu at sverði Ljóts ins bleika, bróður míns?‹ ¹⁰⁰² Es ist anzunehmen, dass Þorsteinn seinen Gegner zusätzlich zur Überraschung durch die Nachricht vom Tod des Bruders weiter demoralisieren und verspotten möchte. Dafür spricht, dass das Duell zwischen den beiden überhaupt erst durch dessen angedrohten Einsatz von níð initiiert wurde. Sonst war allerdings an keiner Stelle im Text bislang die Rede von dieser Verwandtschaft und es gab keine Hinweise darauf.¹⁰⁰³ Somit wirkt diese Episode narrativ ›schlecht vorbereitet‹, selbst wenn sie mit der verwandtschaftlichen Beziehung einen zentralen Hinweis zur strukturellen Gliederung der Saga enthält. Für uns als Rezipierende ist das nämlich eine an diesem Punkt unerwartete weitere Information über die diegetischen Figurenverhältnisse, während der Erzähler uns mit der Schilderung des Gesprächs nahelegt, dass Þorsteinn selbst die ganze Zeit über von der Verwandtschaft wusste. Das können wir aus seiner geschilderten Reaktion auf Moldis Verwunderung ersehen, denn er behauptet, der Bruder habe Moldi noch im Sterben seine Grüße ausrichten lassen.¹⁰⁰⁴ Dieses innerdiegetische Wissen kann aber erst durch Þorsteinns Worte das Wissen der Rezipierenden werden. Der Kampf zwischen den beiden ist wegen einer kleineren Lakune in den Haupthandschriften nicht überliefert, aber wir können davon ausgehen, dass Moldi unterliegt und stirbt.¹⁰⁰⁵ Die Handlung um Þorsteinn Þorgnýsson bricht bald darauf wegen der großen Lakune ab. Sobald die Erzählung neu einsetzt, haben sich Schauplätze und Figuren geändert. Doch entgegen dem weit verbreiteten und eingangs skizzierten Bild in der altnordistischen Forschung sind die zwei Teile der Saga bei näherem Hinsehen nicht so unzusammenhängend, wie es zunächst scheint. Einzelne Figuren und ihre Konflikte sind ebenfalls von Schweden und Norwegen nach Island gelangt, wie beispielsweise Klaufi, der am erhaltenen Beginn des zweiten Sa-

 Svarfdœla saga, S. 147; »Þorsteinn zeigte ihm das Schwert, und er nahm es entgegen und zog es aus der Scheide; er sagte: ›Wie kommst du an das Schwert Ljótrs des Bleichen, meines Bruders?‹«  Zu dieser Konstellation passt die Feststellung, dass Berserker in den Sagas für gewöhnlich nicht mit ihren Patronymen vorgestellt werden, vgl. Merkelbach 2019, S. 108.  Svarfdœla saga, S. 147: ›Ljótr sendi þér kveðju á deyjanda degi hans‹; »›Ljótr sandte dir an seinem Todestag seine Grüße‹«.  Svarfdœla saga, S. 147, Fn. 2.

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gateils Þorsteinn als fokussierte Figur ablöst. Zugleich ist Klaufi auch Abkömmling der Berserkerfamilie, zu denen die beiden Antagonisten des ersten Teils gehörten. Somit hat nach der Lakune der narrative Fokus von den Gegnern der Berserkerfamilie auf eines ihrer Mitglieder gewechselt. Die verwandtschaftliche Anbindung von Klaufi an diese Berserkerdynastie geschieht dabei ebenfalls beiläufig und ist nicht zuletzt wegen der schwierigen Textüberlieferung nicht sofort erkennbar. Nach der großen Lakune tritt im zweiten Handlungsabschnitt in Norwegen Þórarna, die Schwester von Þorsteinn svǫrfuðr, auf den Isländer Gríss zu und bittet ihn darum, die beiden Kinder Klaufi und Sigríðr zu ihrem Onkel nach Island zu bringen. Auf die Frage nach dem Kindsvater antwortet sie: ›Ek var hertekin af Snækolli Ljótssyni, ok hann á bǫrn þessi við mér; síðan rak hann mik frá sér nauðga.‹ ¹⁰⁰⁶ Aufgrund der Lakune ist nicht völlig sicher, welcher Ljótr hier gemeint ist, aber vieles spricht für Ljótr inn bleiki, der von Þorsteinn Þorgnýsson in Schweden getötet wurde, so dass »it is reasonable to assume that they [Ljótr inn bleiki and Snækollr Ljótsson] are father and son.«¹⁰⁰⁷ In dieser als gewaltvoll geschilderten Zeugung und dem Zurücklassen der Mutter mit den Kindern zeigt sich die angesprochene sexuell stark übergriffige Komponente des Berserkertums, für die bei der Charakterisierung von Ljótr und Moldi kein Raum war. Im Gegensatz zur Familie des Skalden Egill Skallagrímsson, die ebenfalls von Berserkerzügen durchdrungen ist, ohne explizit so genannt zu werden, scheint in Klaufis Familie die Veranlagung zum Berserker von Generation zu Generation stärker zu werden.¹⁰⁰⁸ In diesem Kontext muss man Heinemanns Beobachtung sehen, der meint, dass »[t]he saga seems to throw up its hands at this point, asking the reader what can be expected from such bloodlines.«¹⁰⁰⁹ Tatsächlich ist die Zugehörigkeit von Ljótr, Moldi und Klaufi zur selben Familie nicht das einzige verbindende Element zwischen den dreien, was die Saga bald darauf verdeutlicht. Wie die beiden Familienmitglieder vor ihm wird auch der junge Klaufi bald Ziel von níð. Durch einen Erzählerkommentar, mit dem eine zehnjährige Pause in der Handlung überbrückt wird, wird darauf hingewiesen, dass die gesamte Sequenz im Gegensatz zu den nicht erwähnten Ereignissen der vorangegangenen Dekade berichtenswert ist. Von einer Landstreicherfigur, die allein als plot device dient, erhält er eine Aufforderung zum Duell, die mit einem ragmæli verknüpft ist.¹⁰¹⁰ Insgesamt ist die Szene schwer zu deuten, da die inhaltliche Verbindung zwischen dem ragmæli und dem überreichten Stäbchen sehr vage ist. Für Finnur Jónsson etwa ist das Verständnis

 Svarfdœla saga, S. 154; »›Ich wurde von Snækollr Ljótsson entführt und er hat diese Kinder mit mir; später hat er mich gewaltsam davongejagt.‹«  Merkelbach 2019, S. 108. Laut dem Bericht der Landnámabók hat die Tochter von Þorsteinn svarfaðr, Guðrún, die beiden Kinder Klaufi und Gróa mit dem Wikinger Hafþórr, vgl. Svarfdœla saga, S. 154, Fn. 5. Auch Gríss ist dort namentlich genannt, vgl. Landnámabók, S. 252.  Vgl. Merkelbach 2019, S. 107– 108.  Heinemann 1997, S. 241.  Vgl. Kap. 4.4.1.

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der Bedeutung des Runenstäbchens im Kontext sehr problematisch: »Hvad det ›rúnakefli‹ skal betyde, som […] siges at være blevet sendt til Klaufi for hans brydekamp med Þórðr fangari, er ikke ret klart af sagaen selv«.¹⁰¹¹ Soweit er anführt, dass die Saga für sich genommen die Lesenden über die Bedeutung des Stäbchens im Unklaren lässt, ist diese Einschätzung sicherlich gerechtfertigt. Von seinem Deutungsvorschlag des Stäbchens als Schutzzauber für Klaufi im bevorstehenden Kampf wirkt er jedoch selbst nicht sonderlich überzeugt.¹⁰¹² Erkennt man das Stäbchen jedoch als eine Form von tréníð, ergibt die Szene mehr Sinn: Das ragmæli, in Runen auf dem Stäbchen eingeritzt, wird von Skeggi, der trotz der nicht näher erläuterten Freundschaft zu Klaufi als Bote für Þórðr fungiert, überbracht. Das Stäbchen selbst muss man sich hinsichtlich seiner Gestalt und des Inhalts möglicherweise ähnlich vorstellen wie das bereits erwähnte Runenstäbchen A322 aus Oslo.¹⁰¹³ Für eine solche Deutung spricht, dass ein tréníð in Form eines ragmæli auch später noch einmal in der Saga vorkommt, als Karl inn rauði sein Versprechen von der Hochzeit auf Grund einlöst, bei der Klaufi selbst anwesend ist: Karl brá þá sverði ok setti í dyrastafinn ok nefndi sér vátta ok heimilaði ragmæli á Ljótólf goða, er hann vildi eigi út ganga, ok fylldi svá orð sín, er hann hafði talat á Grund. ¹⁰¹⁴ Darüber hinaus dürfte das stärkste Argument für ein solches Verständnis sein, dass innerhalb der Diegese Runenstäbchen als Kommunikationsmittel für die norwegische Familie bereits zuvor etabliert wurden: Erst durch die Botschaft auf einem Stäbchen erkennt Þorsteinn svǫrfuðr die Verwandtschaft zu den beiden Kindern Klaufi und Sigríðr, die Gríss aus Norwegen mitbringt.¹⁰¹⁵ Insoweit dürfte es nicht verwundern, wenn Klaufi später ebenfalls ein solches Stäbchen überreicht würde. Unabhängig von der Frage nach der konkreten Gestalt und dem Verhältnis zwischen ragmæli und kefli geht aus dem Text hervor, dass hier zum dritten Mal ein Mitglied dieser Berserkerfamilie zur Zielscheibe von níð wird. Eine erzählerische Intensivierung findet sich neben der Frequenz des Motivs eines Berserkers, der Opfer von níð wird, in der zusätzlichen Parallelität der Schilderung eines väterlichen Rats: Der Þorsteinn des ersten Teils erhält von seinem Vater Þorgnýr den Hinweis nach Schweden zu gehen und Ljótr herauszufordern. Klaufi wiederum bespricht sich nach dem Erhalt des Stäbchens (oder des ragmæli) mit Þorsteinn svǫrfuðr, der für ihn die Rolle des Vaters einnimmt. In diesem Gespräch geht es um den Umgang mit den er-

 Finnur Jónsson 1884, S. 136. Almqvist deutet es zumindest als eine mit der Duellaufforderung verbundene Drohung, im Falle eines Fernbleibens als ragr bezeichnet zu werden, vgl. Almqvist 1965, S. 97, Fn. 27. Formal entspricht eine solche Deutung ebenfalls níð.  Finnur Jónsson 1884, S. 136.  Vgl. Kap. 2.2.3.1.  Svarfdœla saga, S. 168; »Karl zog da das Schwert, stieß es in den Türstock und benannte Zeugen. Er bedachte den Goden Ljótólfr mit einem ragmæli, weil dieser nicht hinausgehen wollte, und so hielt er sein Wort, das er auf Grund gegeben hatte.«  Svarfdœla saga, S. 155.

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hobenen Vorwürfen. Beide Ratschläge drehen sich um Ehrgewinn bzw. -erhalt, und im Kontext von beiden Ratschlägen spielt níð eine Rolle.

Abbildung 4: Narratives Strukturschema der Svarfdœla saga vor und nach der großen Lakune der Haupthandschriften. In der Mitte: Berserkerfamilie, Opferfiguren von níð. Pfeile: Zielrichtungen von níð. Dunkelgrau ausgefüllte Rechtecke: Fokussierte Figuren (eigene Darstellung)

Durch die in diesem Kapitel beschriebene genealogische Verflechtung ergibt sich eine Struktur aus Erzählelementen, die in Teilen invertiert dargestellt und abgewandelt werden. Dazu gehört vor allem der Vorgriff auf künftige Ereignisse durch das frequentielle Erzählen von Episoden, die einander strukturell ähnlich sind. Den übrigen Isländersagas, die im Vergleich zur Svarfdœla saga als ›klassisch‹ bezeichnet werden, sind solche Erzählmuster nicht fremd, sondern sie werden im Gegenteil als charakteristisch für dieses Genre gesehen; das betrifft etwa Andersson, der für diese Art proleptischen Erzählens den Begriff »foreshadowing« wählt.¹⁰¹⁶ Auch im vorliegenden Buch wurden diese Muster bereits mehrfach im Zusammenhang mit níð identifiziert. Ironischerweise hat Andersson zu Beginn seiner Untersuchung gerade die Svarfdœla saga von seinem Untersuchungscorpus ausgeschlossen, weil sie aufgrund ihres Überlieferungszustandes keine strukturellen Analysen zulasse.¹⁰¹⁷ In der gemeinsamen Betrachtung mit der Lakune in den Haupthandschriften ergibt sich dadurch wie im Fall der eingangs erwähnten Heiðarvíga saga ein vollständigeres Bild der Saga. Die beiden Teile vor und nach der Lakune lassen sich trotz ihrer stilistischen Unterschiede in inhaltlicher und struktureller Hinsicht verbinden. In kompositorischer Sicht dienen sie der proleptischen Ankündigung der Fehdehandlungen und der Plausibilisierung von Klaufis problematischer Figurenentwicklung, die wir in an anderer Stelle besprechen.¹⁰¹⁸ Diese wird durch den Wechsel des narrativen Fokus zum Ausdruck gebracht, der von der Erzählebene aus auf die Rezipierenden den Eindruck erweckt, näher an das Geschehen um diese Figur heranzutreten.

 Vgl. Andersson 1967, S. 49 – 54.  Andersson 1967, S. vi.  Kap. 4.3.4.

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Die große Lakune der überlieferten Handschriften liegt im Fall der Svarfdœla saga glücklicherweise gerade nicht so, dass sie den Blick auf diese strukturellen Zusammenhänge zwischen dem ersten und zweiten Teil verstellt. Ihre Einbeziehung in die textuelle Untersuchung als eigenständiges narratives Funktionselement kann somit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Struktur dieses oft kritisierten Textes leisten.

4.4.6 Níð in der Auseinandersetzung mit dem Anderen Nahezu alle bislang besprochenen Textstellen hatten in Bezug auf die Figurenkonstellationen eine große Gemeinsamkeit. Die betroffenen Figuren auf beiden Seiten der Schmähungen waren unabhängig von ihrem konkreten sozialen Status der isländischen Gesellschaft zugehörig. Das Statusgefälle, sofern eines vorhanden oder auszumachen war, verlief in diesen Auseinandersetzungen entlang der Zielrichtung des níð relativ gesehen von ›unten‹ nach ›oben‹.¹⁰¹⁹ Prominentestes Beispiel hierfür sind die Erzählungen über Schmähungen gegen Guðmundr inn ríki, die gerade nicht vor seiner herausragenden sozialen Stellung Halt machen. Ganz im Gegenteil scheint das soziale Gefälle zusätzlich als Katalysator zu dienen, um ihn zum níðingr zu stilisieren. Dadurch werden Statusunterschiede invertiert und es ergibt sich eine Möglichkeit für sozial Rangniedrigere, Kritik an ihrem Herrschenden zu üben, der meistens einer einfacheren isländischen Bevölkerung ähnlich entfremdet erscheint wie ein ausländischer Herrscher. Den Konflikt mit ausländischer und speziell englischer Königsherrschaft haben wir bereits in der Egils saga bezeugt, wo diese Auseinandersetzung ebenfalls entlang des Motivs níð inszeniert wurde.¹⁰²⁰ Von solchen bereits getätigten und sehr figurenbezogenen Beobachtungen ausgehend wollen wir uns in diesem Kapitel daher der Frage widmen, wie die Isländersagas von níð narrativen Gebrauch machen, wenn das Verhältnis zwischen einem Isländer und einem äußeren Einfluss verhandelt wird. Dazu wollen wir den Blickwinkel von Statusfragen und solchen von kulturellen Zugehörigkeiten vergrößern und hin zu einem allgemeineren Fokus auf die Auseinandersetzung zwischen dem Eigenen und dem Anderen verändern. Die Texte, anhand derer wir diesen Prozess beobachten, gehören allesamt zu der Gruppe der Þættir, im Einzelnen sind dies Sneglu-Halla þáttr, Hreiðars þáttr heimska und Þorvalds þáttr víðfǫrla I. ¹⁰²¹ Den ersten beiden ist in Hinsicht auf ihre narrative Struktur gemein,

 Im Beispiel der Njáls saga war die Infragestellung des ansonsten als recht ebenbürtig beschriebenen sozialen Status zwischen Njáll und Gunnarr Hauptauslöser für Hallgerðrs níð, was sich zu Beginn ihrer hvǫt in der Ansprache von Gunnarr als dem stärksten Mann Islands ausdrückt, vgl. Kap. 4.4.3.  Vgl. Kap. 4.2.2.5.  Zur Gattungsproblematik vgl. die Hinweise in Kap. 1.3, Fn. 64.

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dass ihre zentralen Szenen an einem ausländischen Königshof stattfinden.¹⁰²² Derartig gestaltete Erzählungen nutzen das auch in den Isländersagas geläufige Reisemotiv,¹⁰²³ um die in der kulturellen Peripherie gemachten Ehrgewinne ins heimische Zentrum zu überführen und dort davon zu profitieren. Zur Funktion des Reisemotivs speziell im Fall von Sigmundr in der Færeyinga saga formuliert Schmidt: Ein Protagonist, in diesem Fall Sigmundr, wird einer initialen Bewährungssequenz unterzogen, während der er seine Tauglichkeit unter Beweis stellen und den Ruhm und die Ehre erringen kann, um sie zu Hause, im Innenraum der Färöer, zu seinem Vorteil in soziales Prestige umzumünzen.¹⁰²⁴

Dabei bedingen Auslandsreisen zwangsläufig Begegnung mit anderen Kulturräumen. Tzvetan Todorov geht von drei Ebenen aus, auf denen ein Alteritätsdiskurs bei einer solchen Begegnung stattfinden kann.¹⁰²⁵ In seiner Terminologie sind dies eine axiologische, eine praxeologische und eine epistemologische. Die erste bedeutet eine Auseinandersetzung mit dem Werturteil über den Anderen, wohingegen die zweite Ebene Fragen von Annäherung und Distanz und die dritte von Kenntnis und Unkenntnis berührt.¹⁰²⁶ Solche Alteritätsdiskurse sind innerhalb der Sagaliteratur indes nicht auf ›Reiseliteratur‹ beschränkt, wenn sie sich schon deshalb sehr als Substrat dafür anbietet, weil sie beinahe immer Kontakte mit einem aliud thematisiert.¹⁰²⁷ So sind Fragen von Annäherung, Entfremdung und Versöhnung für Harris ein zentrales Element aller Þættir, die eine Begegnung zwischen Isländer und König beinhalten.¹⁰²⁸ Im Sneglu-Halla þáttr bewegen sich der Isländer und der Norwegerkönig auf eine für die Rezipierenden recht humoristische Weise entlang der ersten beiden von Todorov definierten Ebenen aufeinander zu und voneinander weg.¹⁰²⁹ Das Geschehen wird von mehreren spotthaften Dialogen begleitet, die wir als sennur auffassen können, und die sich über mehrere Kapitel zwischen dem isländischen Skalden Halli und

 Vgl. Harris 1972, S. 3. Sie gehören demnach zu Harrisʼ postulierter Unterkategorie »king and Icelander«, während der Þorvalds þáttr víðfǫrla I den Bekehrungserzählungen zuzuordnen ist, vgl. Ashman Rowe/Harris 2005, S. 463.  Vgl. dazu Meulengracht Sørensen 1993, S. 224– 226.  Schmidt 2018, S. 125.  Todorov 1985, S. 221.  Todorov 1985, S. 221. Seinen Ausführungen zufolge sieht er nur die epistemologische Ebene als Skala, wobei er hierfür keine Gründe angibt. Es spricht nichts dagegen, auch die anderen Ebenen als skalierbar anzusehen, was im Folgenden vorausgesetzt wird.  Vgl. etwa Bauer 2018, die Todorovs Modell auf die Eiríks saga víðfǫrla überträgt und deren erzählerischen Umgang mit der thematisierten Interaktion mit dem Anderen in Gestalt der christlichen Welt untersucht. Todorovs eigener Anwendungsfall ist die Begegnung zwischen den spanischen Kolonialisten und der amerikanischen Urbevölkerung.  Vgl. Harris 1972.  Den Aspekt von Humor sieht Bartusik im Zentrum dieser Erzählung, vgl. Bartusik 2016.

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dem König entspinnen.¹⁰³⁰ Dass es sich bei der Interaktion trotz der teils drastischen Sprache nicht um níð handelt, wird daran ersichtlich, dass sie entsprechend dem senna-Charakter dialoghaft aufgebaut ist und zudem keine physische Rache als Konsequenz nach sich zieht. Auch die Gesamthandlung legt nahe, dass Halli am Königshof die Rolle eines ›Hofnarren‹ einnimmt,¹⁰³¹ demzufolge sind seine Äußerungen wiederum auf einer narrativen zweiten Ebene zwischen der Handlungsebene und níð eingezogen.¹⁰³² Der Þáttr soll hier als Beispiel dafür dienen, wie die Bildsprache und das Formelinventar von níð eingesetzt werden, um die Begegnung mit dem Anderen in Form des ausländischen Herrschers zu thematisieren. Zu einer ersten Begegnung zwischen Halli und dem König kommt es, als das Schiff in nach Norwegen gelangt und dort dem verkleideten König auf seinem Schiff entgegen segelt. Auf die Frage, woher er komme, antwortet Halli, sie hätten bei Agðanes genächtigt: ›[L]águm í nótt við Agðanes‹. ¹⁰³³ Daraufhin entspinnt sich ein Schlagabtausch zwischen dem immer noch verkleideten König und dem Skalden: Þessi maðr spurði, er reyndar var Haraldr konungr Sigurðarson: ›Sarð hann yðr eigi Agði?‹ ›Eigi enna,‹ segir Halli. Konungrinn brosti at ok mælti: ›Er nǫkkur til ráðs um, at hann muni enn síðar meir veita yðr þessa þjónustu?‹ ›Ekki,‹ sagði hann Halli, ›ok bar þó einn hlutr þar mest til þess, er vér fórum enga skǫmm af honum.‹ ›Hvat var þat?‹ segir konungr. Halli vissi gǫrla, við hvern hann talaði. ›Þat, herra,‹ segir hann, ›ef yðr forvitnar at vita, at hann Agði beið at þessu oss tignari manna ok vætti yðvar þangat í kveld, ok mun hann þá gjalda af hǫndum þessa skuld ótæpt.‹ ›Þú munt vera orðhákr mikill,‹ segir konungr. ¹⁰³⁴

 Anders sieht dies etwa Tirosh, der der Interpretation als níð durchaus nicht abgeneigt ist, vgl. Tirosh 2017, S. 3. Andere beziehen den Begriff senna explizit auf den Streit zwischen Halli und Þjóðólfr, vgl. Gurevich 2009, Abram 2015, S. 57. Implizit gibt Abram aber zu erkennen, dass er in den Rededuellen zwischen Halli und dem König kein níð sieht, wenn er anlässlich der Auseinandersetzung zwischen Halli und Einarr fluga sagt, dass »accusations of níð are too heinous to be made ironically«, Abram 2015, S. 61. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass im Umgang mit dem König kein níð zu sehen ist – auch nicht auf einer ironisierten oder sekundären Ebene.  Als solcher ist auch ein als historisch anzunehmender Halli in Snorris Skáldatal gelistet, vgl. Abram 2015, S. 41, Fn. 3.  Vgl. zu den narrativen Ebenen Kap. 4.4.4. Dem gegenüber sieht Bartusik in der Thematisierung von níð im Sneglu-Halla þáttr eine ironisierende Distanz, die in Norwegen zu diesem Brauch aufgebaut werde, vgl. Bartusik 2016, S. 129.  Sneglu-Halla þáttr, S. 265; »›Über Nacht lagen wir bei Agðanes‹« [wörtlich: »Agðis Landzunge«]  Sneglu-Halla þáttr, S. 265; »Dieser Mann, der in Wirklichkeit König Haraldr Sigurðarson war, fragte: ›Hat euch Agði nicht gefickt?‹ ›Noch nicht‹, entgegnete Halli. Der König grinste und sagte: ›Ist etwas dahingehend geplant, dass er euch diesen Dienst später noch erweisen wird?‹ ›Nein‹, sagte Halli, ›und eine Sache hat am meisten dazu beigetragen, dass wir keine Schande durch ihn erfahren haben.‹ ›Was war das?‹, fragte der König. Halli wusste genau, mit wem er da sprach. ›Das, Herr‹, sagte er, ›war, wenn es Euch verlangt, das zu wissen, dass Agði dafür auf edlere Männer wartete und Euch dort heute Abend erwartet. Dann wird er diese Schuld reichlich und vollständig bezahlen.‹ ›Du bist wohl ein rücksichtsloser Mensch‹, sagte der König.«

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Eindeutig geht Halli aus dem Gespräch als der schlagfertigere der beiden hervor; das Grinsen des Königs deutet darauf hin, dass er sich zunächst auf der sicheren Seite fühlt, weil er Halli mit seiner sehr derb formulierten Frage in Bedrängnis gebracht hat. Seine zweite Frage stellt er wohl mit der Absicht, Halli weiter zu demütigen, indem er ihn dazu bringen will, selbst zuzugeben, dass er argr sei. Doch dieser hat seine Antwort bewusst so formuliert, dass sie eine Nachfrage herausfordert, wie sich an seiner weiteren Gesprächsführung zeigt. Er weist den Vorwurf der ergi nicht nur zurück, er verkehrt ihn sogar ins Gegenteil und richtet ihn gegen den König, der daraufhin nicht umhinkommt, seine Niederlage einzugestehen und von dannen zu ziehen. Hier ist bereits der erste Hinweis darauf, dass der Fähigkeit des Isländers, das letzte Wort zu behalten, ein großer Stellenwert eingeräumt wird.¹⁰³⁵ Es kommt im Folgenden jedoch nicht zu einer Eskalation, sondern der König scheint Halli die Worte nachzusehen und lädt ihn ein, Zeit bei ihm zu verbringen.¹⁰³⁶ Damit bewegen sich die beiden auf der praxeologischen Ebene aufeinander zu; das Andere, Isländische, wird am norwegischen Königshof geduldet und in der Form einer Hofnarrengestalt integriert. Ermöglicht wird dies durch den für beide Seiten erkennbare Charakter der Interaktion, die eine Abfolge von sennur darstellt. Der Þáttr erzählt im Folgenden von einigen Streitgesprächen mit anderen Hofmitgliedern, die Halli stets zu seinen Gunsten und seinem materiellen Vorteil zu wenden vermag.¹⁰³⁷ Der Höhepunkt dieser Abfolge von einem Schlagabtausch nach dem anderen ist aber eine Szene kurz vor Ende der Erzählung, in der Halli länger eine wertvolle Axt betrachtet, die der König trägt. Als Halli auf die Frage, ob sie ihm gefalle, positiv antwortet, veranlasst das den König zu fragen: ›Villtu láta serðask til øxarinnar?‹ ¹⁰³⁸ Darauf antwortet Halli mit ›Eigi […], en várkunn þykki mér yðr, at þér vilið svá selja sem þér keyptuð.‹ ¹⁰³⁹ Der König meint anschließend, er habe die Axt geschenkt bekommen und werde sie Halli daher ebenfalls geschenkt überlassen. Er hat aber gar keine andere Wahl als so zu handeln: »The insinuation is, of course, that if the king insisted on his condition, it could be suspected that he had obtained the axe in a similar way«.¹⁰⁴⁰ Haraldr könnte Halli also nur zu dem Preis unterstellen, argr zu sein, dass er selbst ebenfalls als argr gelten würde. Auch hier ist nach dem Gespräch nicht mehr die Rede von diesem Vorfall, was neben der Struktur des Gesprächs das Vorliegen einer senna anzeigt. Durchgehend bewegen sich die beiden Gesprächspartner an Todorovs axiologischer Ebene entlang, die durch das Verlangen bestimmt ist, sich als frei von ergi erweisen und sich damit verbal über den anderen erheben zu können. Halli erscheint uns dabei gerade wegen

 Vgl. Abrams 2015, S. 42.  Sneglu-Halla þáttr, S. 266.  Vgl. dazu die Besprechung der Szene, in der er Einarr fluga mit Verweis auf den Þorleifs þáttr jarlaskálds ein níð androht, am Ende von Kap. 4.4.2.  Sneglu-Halla þáttr, S. 294; »›Willst du dich für die Axt ficken lassen?‹«  Sneglu-Halla þáttr, S. 294; »›Nein, […] aber es scheint mir entschuldbar für Euch, dass Ihr sie so verkaufen wollt, wie Ihr sie erhalten habt.‹«  Meulengracht Sørensen 1983, S. 27.

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seiner derben Sprache als positive Figur, die in diesem Hin und Her durch die Bildsprache von níð die Oberhand behält: »Anyone can be courteous. But not everyone can be court skalds.«¹⁰⁴¹ Schlagfertigkeit und der dafür notwendige geschickte Umgang mit Sprache sind Fähigkeiten, die speziell den isländischen Skalden gegenüber dem norwegischen König auszeichnen und so den Unterschied zwischen beiden begründen. Der Hreiðars þáttr heimska, in dem es während einer solchen Begegnung zu níð kommt, ist eine kurze Geschichte über die Begegnung zwischen einem Isländer und König Haraldr harðráði, die zuerst in der Morkinskinna (GKS 1009 fol.) mit einer Version des Sneglu-Halla þáttr überliefert ist und damit etwa auf das Jahr 1275 datiert, wobei sie möglicherweise schon um 1220 verfasst wurde.¹⁰⁴² In dieser Geschichte wird für die Auseinandersetzung eines Isländers mit der ausländischen (Königs‐)Herrschaft ebenfalls die Bildsprache von níð als Motiv gewählt und in einer für die Isländersagas untypischen Figurenkonstellation dargeboten. Dabei werden die Protagonisten in die Auseinandersetzung zwischen König Haraldr und König Magnúss gezogen. Für Harris ist dieser Text ein Beispiel für eine parodistisch dargebotene Versöhnungsszene, da die Versöhnung auf einen zweiten König ausgelagert ist.¹⁰⁴³ Die eponyme Figur Hreiðarr weist bei ihrer Vorstellung die Züge eines Menschen mit geistiger Beeinträchtigung auf, über die sich im Text lustig gemacht wird. Zu Beginn des Þáttrs, als sein Bruder Þórðr vorgestellt wird, heißt es über Hreiðarr: Hann var ljótr maðr ok varla sjálfbjargi fyrir vits sǫkum. ¹⁰⁴⁴ Auf einer Auslandsreise in Norwegen vor dem Besuch beim König Haraldr bleibt Hreiðarr zurück und wird von der anwesenden Menge hin und her geschubst, was zu diesem Bild passt.¹⁰⁴⁵ Nach und nach erweist er sich aber als gewitzter und berechnender Mensch, der entgegen der Figurenvorstellung durchaus in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen und sich am Ende als erfolgreicher Siedler in Nordisland niederlässt.¹⁰⁴⁶ Nachdem er im Laufe der Handlung Silber und ein wenig Gold organisiert hat, um eine Probe seines handwerklichen Könnens zu geben, kommt es zu einem Eklat: Hreiðarr gengr inn í stofuna ok fyrir konung ok kveðr hann ok mælti: ›Herra, tak af mér reiðina, því at ek em þér vel felldr fyrir margs sakar at gera þat, er þú vill gera láta, þó at eigi sé allrífligt, í mannraunum eða því, er við berr, ok mun ek þess ólatr, er þú vill mik til hafa sendan. Hér er nú gripr,

 Tirosh 2017, S. 19.  Faulkes 2011, S. 10.  Vgl. Harris 1972, S. 18.  Hreiðars þáttr heimska, S. 247; »Er war ein hässlicher Mann und wegen seines Verstandes kaum imstande, sich selbst zu helfen.‹«  Hreiðars þáttr heimska, S. 249.  Dazu Faulkes 2011, S. 83, En. 1/116, der in der Geschichte – wohl ironisch gemeinte – Ankläge an die Legenden um die heilende Kraft der Berührung von Königen sieht: »In Hreiðars þáttr the implication is that by contact with the king Hreiðarr will be cured of his mental retardment and become a gæfumaðr, much as the touch of a king’s hand was believed to be able to cure certain physical illnesses.«

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er ek vil gefa þér.‹ Setr á borðit fyrir hann. En þat var svín, gǫrt af silfri ok gyllt. Þá mælti konungr, er hann leit á svínit: ›Þú ert hagr svá, at trautt hefi ek sét jafnvel smíðat með því móti, sem er.‹ Nú ferr þat með manna hǫndum. Segir konungr, at hann mun taka sættir af honum, – ›ok er gott at senda þik til stórvirkja; þú ert maðr sterkr ok ófælinn, at því er ek hygg.‹ Nú kemr svínit aptr fyrir konung. Tekr hann þá upp ok hyggr at smíðinni enn vandligar ok sér þá, at spenar eru á ok þat var gyltr, fleygir þegar í brott ok sér, at til háðs var gǫrt, ok mælti: ›Hafi þik allan troll. Standi menn upp ok drepi hann.‹ ¹⁰⁴⁷

Dass Hreiðarrs Handarbeit so schlecht beim Beschenkten ankommt, hat vor allem zwei Gründe, von denen jeder für sich nachvollziehbar ist. Zum einen brauchen Rezipierende das Wissen, dass Haraldr der Sohn von Sigurðr sýr (»Sau«) Hálfdanarson ist.¹⁰⁴⁸ In der Fertigung eines Figürchens, das an diesen Spitznamen erinnert, ist eine Verächtlichmachung des Königs erkennbar. Teil des Wirkungsmechanismus dieser Schmähung, und das ist der zweite Grund, ist die Tatsache, dass weibliche Tiere mit dem níð-Komplex assoziiert sind. Indem Hreiðarr dem König die Figur gibt, wird dieser für alle, die den Spitznamen seines Vaters kennen, damit gleichgesetzt und geschmäht. Dieser Effekt verstärkt sich durch die Tatsache, dass die Figur erst durch viele Hände geht, bevor sie der König wieder an sich nimmt und dann erst erkennt, worum es sich dabei handelt. Es ist davon auszugehen, dass die Menge sich sowohl des Spitznamens als auch der Intention der Statue bewusst ist, was mit zur Erklärung der Reaktion des Königs beiträgt. Zu diesem Zeitpunkt ist er in Form der Figur, mit der er gleichgesetzt wird, jedoch im wörtlichen wie im übertragenen Sinne bereits durch viele Hände gegangen. Ein prägnantes Beispiel dafür, wie die negativen Konnotationen einer Sau in Bezug auf das Männlichkeits- und Statusempfinden den Ausgang einer vermeintlich unverfänglichen Szene bestimmen können, lesen wir im ersten Kapitel der Valla-Ljóts saga. Halli Sigurðsson wird von seiner Mutter zu Torfi geschickt, um dort für sie eine Sau zu holen: Halli mælti þá til Torfa: ›Móðir mín sendi mik hingat til þín, at þú sendir henni grís nǫkkurn at gera af snæðing konum sínum.‹ Hann leit ekki til hans ok mælti þó: ›Þat má ek gera; taktu hann sjálfr, ok starfa at honum.‹ Halli mælti: ›Ekki er þat formannligt at ganga í saur at gyltu gamalli ókunnum

 Hreiðars þáttr heimska, S. 258 – 259; »Hreiðarr ging in die Stube und vor den König. Er grüßte ihn und sagte: ›Herr, nimm deinen Zorn von mir, denn ich bin aus vielen Gründen gut dazu geeignet, das zu tun, was du tun lassen möchtest, auch wenn es nicht allzu gut ist in Hinblick auf die Gefahren oder das, was es mit sich bringt. Aber ich werde das willig tun, wozu du mich schickst. Hier ist eine Kostbarkeit, die ich dir geben möchte.‹ Er stellte sie vor ihm auf den Tisch. Es war ein Schwein, aus Silber und Gold gefertigt. Der König sprach, als er das Schwein erblickte: ›Du bist so geschickt, dass ich kaum schon etwas gesehen habe, was so gut geschmiedet wäre wie dieses es ist.‹ Nun ging es durch die Hände der Männer. Der König sagte, dass er einen Ausgleich von ihm annehmen werde, ›und es ist gut, dich an große Taten zu lassen. Du bist ein starker und unerschrockener Mann, soweit ich es beurteilen kann.‹ Nun kam das Schwein zurück zum König. Er nahm es hoch und betrachtete das Schmiedewerk noch genauer. Da sah er, dass es Zitzen hatte und eine Sau war. Er warf sie sogleich fort und merkte, dass sie zur Verhöhnung gemacht war, und rief: ›Die Trolle sollen dich holen! Männer, steht auf und tötet ihn!‹«  Vgl. Karras 1993, S. 266 und Faulkes 2011, S. 5.

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mǫnnum.‹ Torfi svaraði: ›Hvat mælir ofrhuginn?‹ ›Svá mun ek ok ekki hætta til býsnanna, ok send þangat hvern, [er] þú vill.‹ Torfi mælti: ›Eigi ætla ek þik þykkjask jafnsnjallan gyltunni.‹ Halli svarar svá: ›Betra væri þetta ómælt; ekki jafna ek snilli okkari gyltu saman, ok má þetta frýjuorð kallask.‹ Hann hljóp at durunum ok snaraði inn, ok þegar hjó hann af henni ranann, tók grísinn ok gekk út. Torfi mælti: ›Hafðu nú yfir þangat grísinn ok fœr henni.‹ Halli svaraði engu ok ríðr brott ok heim á leið. En skógr var um heraðit. Hann steig þá af baki hesti sínum, ok sitr hann nú í skóginum, þar til er hann sá mann ríða í blári kápu yfir ána, ok þar kennir hann Torfa. Hann sprettr upp ok hleypr at honum ok hjó hann banahǫgg. ¹⁰⁴⁹

Genau betrachtet, spricht erst Halli von einer Sau (an. gylta), da Torfi noch allgemein von einem Schwein spricht (das männliche Pronomen hann in seiner ersten Antwort bezieht sich auf gríss, m., ›Schwein‹).¹⁰⁵⁰ Torfi provoziert ihn daraufhin durch eine verbale Gleichsetzung mit einer Sau, was einen ergi-Vorwurf bedeutet, da Halli sowohl hinsichtlich seines Status als auch seiner Männlichkeit herabgesetzt wird.¹⁰⁵¹ In der Konsequenz tötet Halli dann den Verursacher des Streits, den er selbst angezettelt hat, um straflos den Gesichtsverlust wieder ausgleichen zu können. So explizit wie in diesem Beispiel ist die Gleichsetzung mit einer Sau im Hreiðars þáttr zwar nicht ausgesprochen, allerdings kann sie wegen des erwähnten Beinamens implizit durch die figürliche Darstellung einer Sau unterbleiben. Durch die sich erst im Laufe der Erzählung ›bessernde‹ geistige Beeinträchtigung des Protagonisten wird nahegelegt, dass es sich bei der Figur eher nicht um ein Versehen handelt. Sollte es Hreiðarrs Absicht sein, den König zu schmähen, wäre er neben Þorleifr ein weiteres Beispiel für den gezielten Einsatz einer Scharade für eine níð-Episode.¹⁰⁵² Der Kontext, der Wutausbruch des Königs, lässt unabhängig von dieser Frage darauf schließen, dass im Verständnis des Hofstaates der norwegische Herrscher durch den Isländer stark abgewertet wird. Diese Abwertung, wenn ihre Intention auch nicht restlos deutlich wird, liegt wegen der sozialen Richtung von ›unten‹ nach ›oben‹ auf der  Valla-Ljóts saga, S. 235; »Halli sagte da zu Torfi: ›Meine Mutter schickt mich hierher zu dir, damit du ihr ein Schwein schickst, um daraus ein Mahl für ihre Frauen zu machen.‹ Er sah ihn nicht an und sagte: ›Das kann ich tun. Nimm es dir selbst und mach dir damit die Mühe.‹ Halli sagte: ›Das ist nicht besonders standesgemäß, einer alten Sau wegen vor unbekannten Männern durch den Schlamm zu kriechen.‹ Torfi antwortete: ›Was spricht die Unerschrockenheit da?‹ ›Diese Ungewöhnlichkeiten werde ich nicht wagen! Schicke, wen auch immer du willst.‹ Torfi sagte: ›Ich glaube nicht, dass du so tapfer bist wie eine Sau.‹ Halli antwortete da: ›Das wäre besser unausgesprochen [geblieben]. Ich vergleiche meine Tapferkeit nicht mit der einer Sau. Das kann man als Beleidigung auffassen.‹ Er lief zur Tür, schlüpfte hinein, hackte der Sau sofort die Schnauze ab, nahm [eine andere] mit und ging hinaus. Torfi sagte: ›Nimm das Schwein jetzt mit dorthin und gib es ihr [=deiner Mutter].‹ Halli sagte nichts und ritt heimwärts fort. Das Gebiet war bewaldet. Er stieg da vom Pferderücken und setzte sich in den Wald, bis er einen Mann mit einer blauen Kapuze über den Fluss reiten sah und in ihm Torfi erkannte. Er sprang auf, lief zu ihm und versetzte ihm den Todesstoß.«  Baetke (Hrsg.) 2008, s.v. gríss.  Vgl. Andersson/Miller 1989, S. 258, Fn. 221, und S. 240, Fn. 203, die darauf hinweisen, dass auch in der Ljósvetninga saga gegenüber Guðmundrs Sohn Eyjólfr ein Statusdiskurs eröffnet wird, als er sich mit Gefährten aufmacht, um Vorräte zu beschaffen.  Vgl. Kap. 4.4.2.

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Todorov’schen axiologischen Ebene der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Abermals wird eine solche Abwertung mit der Bildsprache des níð umgesetzt, und sie bringt die entsprechenden Folgen mit sich. Vor den Konsequenzen kann sich Hreiðarr allerdings in Sicherheit bringen, indem er zu König Magnúss flieht, der ihm am Ende eine Insel in Nordisland in der Nähe des Svarfaðardalrs zuweist, auf der Hreiðarr sein Alter in Frieden verbringen kann.¹⁰⁵³ Wie Halli gelingt es Hreiðarr durch sein befremdlich wirkendes und auffallendes Auftreten, sich einem norwegischen Herrscher als überlegen zu erweisen und sich als gewitzter Isländer zu behaupten. Jenseits der narrativen Funktion von ergi und níð in beiden Texten wäre dann vor allem der SnegluHalla þáttr als aktiver Versuch zu sehen, kollektive kulturelle Identität anhand des isländischen Skalden zu schaffen,¹⁰⁵⁴ die erst in der bewussten Kontrastierung zur norwegischen Herrschaft Konturen annimmt. Der Þorvalds þáttr víðfǫrla I erzählt von den Reisen des namengebenden Isländers Þorvaldr Koðránsson. Es verschlägt ihn zusammen mit dem auch in anderen Quellen wie der Kristni saga erwähnten deutschen Missionar Friðrekr für fünf Jahre in sein Heimatland, bevor dieses offiziell den christlichen Glauben annimmt. Diese anzunehmende Chronologie stellt unter anderem der isländische Historiker Ari Þorgilsson in seiner Íslendingabók her, in der er schreibt, dass Friðrekrs Aufenthalt in Island noch vor der Christianisierung per Thingbeschluss stattfand.¹⁰⁵⁵ Þorvaldrs cognomen »der Weitgereiste« leitet sich von dessen missionarischer Tätigkeit her, in deren späterem Verlauf er noch einige Länder wie Norwegen, Russland und die heutige Türkei bereist. Der Text berichtet von den Auseinandersetzungen der alteingesessenen heidnischen Bevölkerung mit dem von außen dazu kommenden christlichen Glauben, die zunächst nach den internen Regeln der isländischen Gesellschaft geführt werden. Zwar münden ihre Attacken letzten Endes in den kurzfristig gewünschten Erfolg, nämlich dem Abzug der Missionare aus Island, dennoch ist der Verlauf der Eskalation einen genaueren Blick wert. Einige der ansässigen Isländer nehmen auf die Bestrebungen der beiden Missionare hin den neuen Glauben an; allerdings gibt es viel Feindseligkeit, die unter anderem zu zwei Versuchen führt, eine neu errichtete Kirche anzuzünden. Den ersten unternimmt ein Mann namens Klaufi, den zweiten Þorvaldrs eigener Bruder Arngeirr. Beide Versuche scheitern an der Intervention Gottes, der sein Haus zu verteidigen weiß.¹⁰⁵⁶ Es heißt, dass die Heiden in der Folge von derartigen Versuchen  Hreiðars þáttr heimska, S. 260.  Vgl. in Bezug auf die überlieferte Fassung in der Morkinskinna und deren historischen Kontext Tirosh 2017, S. 18.  Íslendingabók, S. 18. Zum Zeitraum ihrer Reise heißt es in der Kristini saga, S. 4: Þeir […] kómu til Íslands sumar þat er landit hafði byggt verit vetra ok sjau vetr »Sie […] kamen in dem Sommer nach Island, in dem das Land seit 107 Wintern besiedelt war«. Der Zeitraum ihres Aufenthalts fällt damit wohl auf die Jahre 981 bis 986, vgl. zur historischen Einordnung Jochens 1991b, S. 305 – 306. Die Njáls saga berichtet ebenfalls von Missionaren, so wird dort Þangbrandr als argr goðvargr (»arger Gottes-Wolf«, wobei vargr als Beschimpfung Geächtete meint) beschimpft, vgl. Njáls saga, S. 260 – 262, Zitat: S. 262, sowie Grønlie 2004, S. 467– 468. Grønlie deutet diese Passage der Njáls saga als níð.  Þorvalds þáttr víðfǫrla I, S. 76 – 78.

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ablassen, allerdings tun sich für sie schnell neue Wege auf, den Missionaren zu schaden. Vertiefte Aufmerksamkeit verdient die an die versuchten Kirchenbrände anschließende Episode im sechsten Kapitel, die davon berichtet, wie die Anfeindungen der feindseligen Heiden schließlich in níð kulminieren, und zeigt, wie wenig Einfluss dieses auf den Bischof hat. Nachdem die beiden im Sommer auf dem Althing den christlichen Glauben zu verbreiten versucht haben, ergreift der Isländer Heðinn die Initiative: Heðinn mælti mart illt við Þorvald og guðlastaði mjǫk í móti heilagri trú. Ok svá gat hann með sinni illgirnð um talit fyrir fólkinu at engi maðr lagði trúnað á þat er Þorvaldr hafði sagt, heldr tók þaðan af svá mjǫk at vaxa illviljafull ofsókn ok hatr heiðingja við þá byskup ok Þorvald at þeir gáfu skáldum fé til at yrkja níð um þá. Þar er þetta í: Hefir bǫrn borit byskup níu. þeira er allra Þorvaldr faðir. Fyrir þat drap Þorvaldr tvá þá er ort hǫfðu kvæðit. En byskup þolði allar meingørðir með hinni mestu hógværi. En er Þorvaldr hafði drepit skáldin fór hann til byskups at segja honum hvat hann hafði gǫrt. Byskup sat inni ok sá á bók. Ok áðr Þorvaldr gekk inn kómu tveir blóðdropar á bókina fyrir biskup. Skilði byskup þegar at þat var nǫkkur vísbending. En er Þorvaldr kom inn til hans mælti biskup: ›Annathvárt hefir þú framit manndráp ella hefir þú þat í hug þér.‹ Þorvaldr sagði þá hvat hann hafði gǫrt. Byskup mælti: ›Hví fórt þú svá með?‹ Þorvaldr svaraði: ›Ek þolða eigi at þeir kǫlluðu okkr raga.‹ Byskup mælti: ›Þat var lítil þolraun þó at þeir lygi þat at þú ættir bǫrn, en þú hefir fœrt orð þeira á verra veg, því at vel mætta ek bera bǫrn þín ef þú ættir nǫkkur. Eigi skyldi kristinn maðr sjálfr leita at hefna sín, þó at hann væri hatrliga smáðr, heldr þola fyrir Guðs sakir brigzli ok meingørðir.‹ ¹⁰⁵⁷

 Þorvalds þáttr víðfǫrla I, S. 79 – 81; »Heðinn sprach sehr schlecht über Þorvaldr und war sehr blasphemisch gegenüber dem christlichen Glauben. Und er schaffte es mit seiner Missgunst so vor den Leuten zu sprechen, dass niemand dem Glauben schenkte, was Þorvaldr gesagt hatte. Vielmehr begannen da missgünstige Verfolgungen und Hass der Heiden gegen den Bischof und Þorvaldr so sehr zu wachsen, dass sie Skalden Geld dafür gaben, níð über sie zu dichten. Darin [=im níð] ist dies enthalten: ›Der Bischof hat neun Kinder geboren, ihrer aller Vater ist Þorvaldr.‹ Deswegen tötete Þorvaldr zwei von denen, die dieses Gedicht gemacht hatten, aber der Bischof ertrug all diese Gemeinheiten mit der größten Gemütsruhe. Aber als Þorvaldr die Skalden getötet hatte, begab er sich zum Bischof, um ihm davon zu berichten, was er getan hatte. Der Bischof saß drinnen bei der Lektüre. Und bevor Þorvaldr hineinging, fielen zwei Blutstropfen auf das Buch vor dem Bischof. Da erkannte der Bischof sogleich, dass das ein Vorzeichen war. Und als Þorvaldr hinein zu ihm kam, sprach der Bischof: ›Entweder hast du einen Totschlag ausgeführt, oder du hast es noch vor.‹ Þorvaldr sagte da, was er getan hatte. Der Bischof sprach: ›Warum hast du so gehandelt?‹ Þorvaldr antwortete: ›Ich ertrug nicht, dass sie uns ragr genannt haben.‹ Der Bischof sagte: ›Das war eine kleine Geduldsprobe, obwohl sie das erlogen haben, dass du Kinder hättest; aber du hast ihre Worte auf schlimme Weise ausgelegt, da ich durchaus deine Kinder tragen würde, wenn du welche hättest. Ein Christ sollte nicht selbst danach trachten, sich zu rächen, auch wenn er auf hasserfüllte Weise geschmäht wurde, sondern er sollte lieber Gott zu Ehren Schimpf und Schande ertragen.‹«

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Diese Stelle ist die einzige in den untersuchten Textbeispielen, an der innerhalb der Prosa vor einem Strophenzitat ein direkter Bezug zu níð hergestellt wird, dem man angesichts des klaren Stropheninhalts gedanklich gut folgen kann. Eine Erklärung für diesen Effekt werden wir im Rahmen der folgenden Analyse herausarbeiten können. Dennoch kann auch diese ungewohnt offene Zurschaustellung der Strophe nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erzählung hier einen blinden Fleck generiert, bleibt uns doch die Information über die Identität der beiden Skalden vorenthalten.¹⁰⁵⁸ Zwar werden sie kurz nach ihrer indirekten Einführung in den Text getötet, aber das bei den Lesenden entstandene Bild bleibt zumindest hinsichtlich der beiden Dichter unvollständig und wird in der Folge mehr zu einem flüchtigen Blick auf die Umstände des Geschehens. Der Hauptfokus wird vom Erzähler auf die zitierte Strophe gelenkt. Almqvist hat an dieser Stelle ebenfalls eine Unschärfe wahrgenommen und dazu erstaunt konstatiert, es könne »synas anmärkningsvärt, att þáttr’en inte redan från början nämner detta [Anm.: den Umstand, dass genau zwei Dichter die Strophe gedichtet haben] utan i stället först allmänt ordar om ›skalder‹.«¹⁰⁵⁹ Die zitierte Strophe ist inhaltlich einigen Strophen aus Liedern der Edda auffallend ähnlich, namentlich Helgakviða Hundingsbana I und Lokasenna. ¹⁰⁶⁰ Diese auf den ersten Blick so explizite Strophe wird in den folgenden Schilderungen dazu eingesetzt, bei den Rezipierenden einen Eindruck von genau derjenigen Ambiguität zu erzeugen, die der Schmähdichtung so eigen ist. Dass der Bischof nicht auf die Schmähungen eingeht, dient der deutlichen Schilderung des Kontrasts zwischen heidnischer und christlicher Mentalität.¹⁰⁶¹ Für den Heiden Þorvaldr enthält die

 Zu den narrativen Unschärfen beim Erzählen über níð vgl. Kap. 4.4.4.  Almqvist 1974, S. 39. Er bezieht sich hier auf den Umstand, dass eine Lesung denkbar wäre, nach der viele Skalden an den Strophen beteiligt waren, aber Þorvaldr nur zwei von den Verantwortlichen erschlägt. Beide der hier vorgestellten Interpretationen lassen jedoch eine narrative Leerstelle entstehen.  Vgl. Grønlie 2004, S. 466. Eine Besprechung der eddischen Gedichte findet sich bei Almqvist 1974, S. 34– 35.  Hiltmann sieht darin den Ausdruck eines Verfasserwillens, níð als heidnische Traditionslinie zu etablieren, schränkt diese Aussage aber zugleich ein: »Dabei sollte betont werden, dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass der vermeintliche Brauch des níð und die mit ihm assoziierten Konsequenzen tatsächlich auf pagane Ursprünge zurückzuführen sind. Das tradierte altnordische Quellenmaterial, das diesbezügliche Informationen enthält, datiert in das Hoch- und Spätmittelalter. Daher ist zu vermuten, dass die textimmanenten Vorstellungen über derartige soziale Praktiken und Gewohnheiten weniger als Erinnerung an heidnische Gewohnheiten einer vorchristlichen Vergangenheit, sondern eher als Ausdruck einer zeitgenössischen, christlich geprägten Mentalität zu verstehen sind«, Hiltmann 2011, S. 301, Fn. 717. In den anderen von ihm benannten Beispielen, der Gísla saga und der Bjarnar saga Hítdœlakappa, die bereits besprochen wurden, ist im Gegensatz zum Þorvalds þáttr víðfǫrla I – wie in den anderen vorgestellten Texten – keine erzählerische Exposition vorhanden, innerhalb derer heidnische und christliche Vorstellungswelten einander gegenüber gestellt werden sollen. Vor diesem Hintergrund scheint es tatsächlich fragwürdig, dem Þorvalds þáttr víðfǫrla I gleichsam als exklusives Merkmal und in Abgrenzung zu anderen Texten die Schaffung einer heid-

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Strophe eine Schmähung, die gegen ihn und Friðrekr gerichtet ist, seine Worte sind ›þeir kǫlluðu okkr raga‹, womit er erkennen lässt, dass beide gleichermaßen betroffen sind. Ein moralischer Unterschied zwischen der aktiven und der passiven Rolle beim gleichgeschlechtlichen Verkehr, wie ihn etwa die Beobachter in der Bjarnar saga Hítdœlakappa herstellen, wird in seinen Augen nicht gemacht. Bandlien zufolge lässt sich diese Beobachtung vor dem mythologischen Hintergrund verstehen, in dem die Zahl neun für Grenzüberschreitung und Liminalität steht – Kinder, die unter diesen Vorzeichen gezeugt werden, müssten daher Monstrositäten sein.¹⁰⁶² Übertragen auf den Kontext des Þáttr würde dies bedeuten, »that the monstrous offspring are the new Christians, the bishop is positioned in liminal position in respect of both social and gendered identity, while Þorvaldr has a monstrous character.«¹⁰⁶³ Die Unterstellung, ein Mann habe Kinder bekommen, entspricht zudem dem Tatbestand von ýki aus den Gesetzestexten.¹⁰⁶⁴ Der Erzähler von Þorvaldrs Geschichte stützt entgegen der Auffassung von Þorvaldr die christliche Sicht auf das Geschehen, der zufolge Aussagen im Rahmen von níð als das enttarnt werden, was sie mutmaßlich in den meisten Fällen sein dürften: Friðrekr spricht explizit davon, dass die Dichter mit den Aussagen in ihrem Gedicht lögen (›þeir lygi‹). Da die Lüge in der christlichen Anschauung sündhaft ist, entzieht diese Sicht der Dinge dem níð seinen sozialen Boden. In Friðrekrs Augen kommt es daher nicht auf die (in heidnischem Umfeld gewachsene) gesellschaftliche Mechanik an, sondern rein auf den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen; unter diesen Kriterien muss das níð der anonymen Dichter an ihm scheitern. Die Thematisierung eines kulturellen Unterschieds zwischen Isländern und Nicht-Isländern ist hier freilich nicht einmalig vertreten. Im Þorleifs þáttr jarlaskálds haben wir schon erlebt, wie ein ausländischer Herrscher am Verständnis von níð scheitert. Es gibt darüber hinaus einen anderen, sprachlichen Grund, der Friðrekrs zum Ausdruck gebrachtes Unverständnis plausibel macht und ebenfalls in seiner Herkunft zu suchen ist. Almqvist zufolge kann diese Szene des Þorvalds þáttr víðfǫrla auf einem Missverständnis beruhen, das den noch ausbaufähigen Sprachkenntnissen des ausländischen Missionars geschuldet sein könnte: »Eftersom bera normalt motsvarar ›tragen‹, har då en tysk lätt kunnat missförstå ett idiomatiskt yttryck som bera bǫrn.«¹⁰⁶⁵ Diese Interpretation setzt bei den Rezipierenden nicht zwingend die Kenntnis über die Eigenheiten des Deutschen voraus – das im Übrigen ebenfalls lautlich wie etymologisch ähnliche Wörter wie »gebären« kennt –, vielmehr genügt hierfür schon die reine Information, dass ein Ausländer mit isländischer Dichtung

nischen Traditionslinie um níð zu unterstellen; anderswo besteht schlicht die Notwendigkeit einer solchen expliziten Positionierung durch den Erzähler nicht.  Bandlien 2005, S. 147.  Bandlien 2005, S. 148. Er schränkt gleichzeitig ein, dass diese Interpretation vage ist, da nur eine Strophe des Gedichtes überliefert ist.  Vgl. Grønlie 2004, S. 466, und Kap. 2.2.2.  Almqvist 1974, S. 37.

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konfrontiert ist. In solcher Weise äußern sich sowohl der Þáttr als auch die Kristni saga, die dem Missionar beide mangelnde Isländischkenntnisse bescheinigen, wobei die Thematisierung von mangelnder Sprachkenntnis einiger Ausländer keine für die isländische Literatur untypische Erscheinung sind.¹⁰⁶⁶ Darüber hinaus zeigt Friðrekrs Aussage als Reaktion auf die Strophe ein alternatives Verständnis, das von der Intention hinter der Strophe deutlich abweicht: Für ihn geht es in der Strophe darum, dass er Þorvaldrs hypothetische Kinder tatsächlich tragen und nicht austragen würde.¹⁰⁶⁷ Almqvist wehrt sich gegen die von ihm angeführten Forschungsmeinungen mit dem Interpretationsansatz, dass mit dem Wort faðir in der Strophe sowohl ein Vater als auch ein Taufpate gemeint sein kann: Niddikter är visserligen ofta dubbeldottnade, men att tro att skalderna på detta sätt skulle ha inlagt symboliska betydelser i traditionellt givna fraser, vore enligt mitt förmenande att tillskriva dem en uppfinningsförmåga och vitsighet utöver det troligas gräns. En klar boskillnad mellan biskopens tolkning av strofen och dess verkliga, avsiktliga innebörd bör under alla omständigheter göras.¹⁰⁶⁸

Es erscheint entgegen Almqvists Ausführungen durchaus möglich, Friðrekrs Äußerung dahingehend auszulegen, dass er – bewusst oder unbewusst – eine zweite Ebene auf die Folie der überlieferten Strophe projiziert. Dass die von einer solchen Interpretation angenommene Doppelbödigkeit der Strophen so nicht von den historischen Skalden intendiert war, die sie gedichtet haben, spricht nicht gegen die grundsätzliche narrative Möglichkeit, eben diese Doppelbödigkeit durch die erzählerische Einbettung der Strophen herzustellen. Wenn Friðrekr einen anderen Inhalt als Þorvaldr annimmt, erzeugt dies eine Mehrdeutigkeit, die zum einen mit der Natur von níð korreliert, und zum anderen dazu dient, heidnische und christliche Vorstellungswelt plastisch voneinander abzugrenzen: Beide Seiten interpretieren die Strophe vor ihrem sozialen und religiösen Hintergrund. Für den erst später zum Christentum konvertierten Isländer Þorvaldr steht in der Strophe die Ehrenrührigkeit des níð-Diskurses im Vordergrund: »Das Ehrverständnis des jungen Christen scheint aber nach wie vor auf den vermeintlich ›heidnischen Gesetzen‹ (heið[in] lög) seines Heimatlandes basiert zu haben.«¹⁰⁶⁹ Der Ausländer Friðrekr dagegen erkennt in der Strophe nur eine Lüge, die schon aufgrund seiner christlichen Identität nicht bei ihm verfängt, jedenfalls aber wegen des christlichen Weltbilds nicht mit Gewalt beantwortet werden darf.¹⁰⁷⁰

 Vgl. Almqvist 1974, S. 37.  Das fehlende Verständnis des Bischofs für die beleidigende Ebene des níð wird durch die Bereitschaft zum Tragen der Kinder erzählerisch auf die Spitze getrieben: »This is a neat inversion of the general perception of the ambiguity of níð, that a shameful imputation might lurk behind an apparently innocent formulation«, Finlay 2020, S. 170.  Almqvist 1974, S. 38. Grønlie lässt diese Frage offen, vgl. Grønlie 2004, S. 473.  Hiltmann 2011, S. 302.  Vgl. Meulengracht Sørensen 1983, S. 55.

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Die verschiedenen Interpretationsebenen der Figuren erklären schließlich den Bedarf an der erwähnten ungewöhnlichen Offenheit bei der Darstellung von níðStrophen. Der Erzähler wählt für seine pointierte Darstellung des zunächst scheiternden Christianisierungsprozesses in Island die Folie dieses speziell isländischen Konzepts. So wird bei den Rezipierenden gleichsam der Effekt von zwei Figuren erzeugt, die auf denselben Gegenstand blicken, dabei aber unterschiedliche Brillen aufhaben. Sie nehmen zwar dasselbe wahr, interpretieren es aber jede auf ihre Weise. Um diese kontrastive Art der Darstellung zu ermöglichen, ist es jedoch notwendig, den Rezipierenden ein Bild dessen zu vermitteln, womit die Figuren sich konfrontiert sehen. Ein Strophenzitat, das die Erzähler anderer Texte eher zu vermeiden versuchen, ist hier unbedingte textimmanente Notwendigkeit, um die Unterschiede zwischen den Isländern und dem Anderen hervorzuheben. Beim genaueren Hinsehen tritt aber im Umfeld dieser Strophe eine narrative Unschärfe auf, die die Identität ihrer Dichter betrifft. Die thematisierte kulturelle Alterität wird indes anhand der dritten von Todorovs Achsen abgehandelt, die Fragen nach Kenntnis und Unkenntnis zum Inhalt hat. Die volle interpretatorische Reichweite der zitierten Strophe hängt damit zuletzt an den vielfältigen lexikalischen Mehrdeutigkeiten, die níð in den Isländersagas so gefährlich machen.

4.4.7 Narrative Aspekte beim Erzählen über níð: Mittelbarkeit und Schemabildung Zwei zentrale narrative Funktionsmechanismen sind in den voranstehenden Betrachtungen zutage getreten, die innerhalb der Isländersagas häufig das Erzählen über níð prägen und als vermittelnde Prinzipien zwischen Handlungs- und Erzählebene fungieren. Für die abschließende Betrachtung und Auswertung dieses Teils wollen wir diese mit den Oberbegriffen ›Mittelbarkeit‹ und ›Schemabildung‹ bezeichnen, unter die sich viele der gemachten Beobachtungen subsumieren lassen. Dabei ist nicht immer vollständig abzugrenzen, ob sich ein einzelnes Element innerhalb dieser Oberbegriffe allein auf die Ebene der histoire oder die des discours bezieht. Sie stehen vielmehr in so enger Wechselwirkung miteinander, dass eine Ebene mitunter die andere prägt. ›Mittelbarkeit‹ meint dabei, dass eine Tendenz besteht, ein thematisiertes níð auf eine andere Ebene zu verweisen. Dabei kann es sich innerhalb der Diegese um Stellvertreterfiguren handeln, wofür Landstreicher das prägnanteste Beispiel sind. Dies ist besonders dann der Fall, wenn níð nicht als Mittel einer direkten Konfrontation gewählt wird, sondern auf Umwegen, etwa weil die einsetzende Figur als besonders negativ gezeichnet werden soll, oder wegen ihres Geschlechts selbst nicht dazu in der Lage ist. In der narrativen Darstellung kommt dieses Prinzip dann zum Tragen, wenn níð nicht direkt dargestellt, sondern aus dem unmittelbaren Umfeld der erzählten Episode heraus ableitbar wird. Dies tritt ein, wenn das tatsächliche Vorhandensein zwar angesprochen, das níð selbst aber nicht gezeigt wird. Zwar beeinflusst ein solches indirekt angeführtes níð den Plot, indem es meist einen oder mehrere folgende Handlungsabschnitte motiviert, es tritt jedoch selbst nicht als etwas ›Gezeigtes‹ an die Oberfläche der Erzählebene.

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Der Þorleifs þáttr jarlaskálds und der Sneglu-Halla þáttr illustrieren anschaulich, dass diese Art der Erzähltechnik nicht einmal vor den Grenzen des Textes Halt machen muss. Vielmehr kann ein metaleptischer Verweis auf einen anderen Text im intertextuellen Gefüge der Isländersagas ihrerseits den Effekt der Mittelbarkeit erzeugen. In der Genette’schen Terminologie entspricht ein solches Erzählmuster dem Begriff der narrativen Distanz, und es berührt die auf aristotelische Zeiten zurückreichenden Fragestellungen nach dem Verhältnis zwischen den Modi showing und telling. ¹⁰⁷¹ Die Permeabilität von Handlungs- und Erzählebene wird am Beispiel der Njáls saga deutlich, wenn Hallgerðr den Skalden Sigmundr zur Dichtung von Strophen antreibt. Ihre Herangehensweise, níð mittelbar einzusetzen, wird vom Erzähler in der zweifachen Vermeidung eines Strophenzitats gespiegelt, obwohl Sigmundrs Strophen innerhalb der Erzählung zweimal zitiert werden. Mit ›Schemabildung‹ sind dagegen jene Prozesse zur Komplexitätsreduktion gemeint, welche die Figurenkonstellationen oder die Erzählung selbst organisieren und strukturieren. Von den Rezipierenden können sie so als vollständige Summe ihrer Einzelteile, als ganze Texte, wahrgenommen werden, ohne dass sie diesen durch ihren Detailreichtum zu überwältigen drohen.¹⁰⁷² So werden die komplexen Konstellationen und Geschichten narrativen Mustern unterworfen, die durch das Angebot von Strukturen ihre Zugänglichkeit drastisch steigern. In Bezug auf die Figuren ist dieser Prozess dann wirksam, wenn Genealogien etabliert werden, die erwarten lassen, dass auch die Nachkommen einer vorgestellten Figur zum Ziel von níð werden. Ein Schema kann weniger weit reichen, wenn ihm nur einzelne Figuren unterworfen sind. Guðmundr inn ríki etwa ist neben dem durch die parallele Erzählweise der C-Fassung der Ljósvetninga saga angelegten genealogischen Aspekt zunächst alleiniges Subjekt einer solchen schematischen Reihung.¹⁰⁷³ Schemabildung kann durch mehrere Texte entstehen, wenn man das Beispiel der vorgestellten Þættir im Gesamten betrachtet, die im intertextuellen Geflecht einer »Gattung«¹⁰⁷⁴ der fortgesetzten Abgrenzung zwischen der eigenen und einer fremden Identität dienen. Dies geschieht durch eine wiederholte Auseinandersetzung mit dem Anderen in den unterschiedlichen Texten entweder im Rahmen eines Statusdiskurses oder die im kollektiven Bewusstsein verankerten Konflikte mit christlichen Missionaren. Am Beispiel des Þorvalds þáttr víðfǫrla I haben wir darüber hinaus beobachtet, wie der Prozess einer solchen Schemabildung in der Konfrontation mit den Missionaren das Durchbrechen des Prinzips der Mittelbarkeit erforderlich machen kann.¹⁰⁷⁵

 Genette 2010, S. 199 – 201. Dabei sei ihm zufolge das wortgleiche Zitat einer Äußerung nicht mit showing (also der aristotelischen mimesis) gleichzusetzen, sondern es sei vielmehr auf den Detailgrad der Wiedergabe zu achten. Diese Wiedergabe entfällt aber in vielen genannten Beispielen vollständig.  Vgl. Koschorke 2012, S. 29 – 30.  Vgl. dazu Kap. 4.3.3.  Vgl. zur Problematisierung des Gattungsbegriffes in Bezug auf die Þættir nochmals Kap. 1.3, Fn. 64.  Vgl. Kap. 4.4.6.

5 Die Funktion und Bedeutung von ergi und níð in den Isländersagas Ergi und níð sind zwei der wirkungsreichsten literarischen Motive innerhalb der Isländersagas. Den Erzählern der Texte stehen damit zwei hocheffiziente Konzepte zur Konturierung von Figuren und Konflikten zur Verfügung. In den Augen der Gesellschaft als argr zu gelten, ist für die Männer innerhalb der Diegese einer Saga das schlimmste vorstellbare Szenario. Nicht zuletzt daraus erklärt sich die enorme soziale Wirkmacht von níð, das mithin zur Verhaltenskontrolle und -lenkung gegen andere eingesetzt werden kann. Damit liefert es einen großen Beitrag zur Identitätsbildung sowohl im Inneren als auch nach außen hin. Zudem bedingt die Furcht vor einem so unaussprechlichen Zustand einige Besonderheiten in der Erzählstrategie. Im Rahmen der Figurenzeichnungen kann je nach erzählstrategischer Absicht níð über Aufstieg oder Fall einer Figur innerhalb der Diegese bestimmen. Grundsätzlich wird die Befähigung zu níð kritisch gesehen, was die Nennung dieser Eigenschaft im Rahmen von Figureneinführungen ausschließlich bei den negativen Merkmalsbündeln belegt. Maßgebend für eine positive Wertung der Figuren ist dahingegen neben der eigenen Konfliktbereitschaft und Fähigkeit zur physischen Auseinandersetzung die Herstellung zumindest einer eingeschränkten Öffentlichkeit beim Einsatz von níð. Eine strukturelle Parallele zu diesem Erfordernis findet sich in den norwegischen und vor allem isländischen Gesetzestexten, die das Strafmaß für níð nach quantitativen Kriterien bemessen, was den Umfang der Strophen wie den Grad an Öffentlichkeit betrifft. Wer sich jedoch schon der sozial wie rechtlich geforderten Zuordnung entzieht, etwa weil er über Stellvertreterfiguren níð verbreiten lässt, handelt nicht nur feige und heimlich, sondern er stellt sich damit gegen die Rechtsordnung selbst. So lässt es sich erklären, dass die Bewertung von Figuren negativ ausfällt, die sich im Dunstkreis der mittelbaren Anwendung bewegen. Dem gegenüber können Figuren von der sozialen Dynamik des níð profitieren, die es durch dessen offenen Einsatz und ihre physische, bisweilen dichterische Überlegenheit schaffen, sich damit über andere zu erheben und zu beweisen. Es kommt zudem vor, wie im Fall Finnbogis, dass die Erzählinstanzen aktiv die Ereignisse um eine níð-Episode herum derart strukturierieren, dass sich bei gleichem Figureninventar und gleicher Zielrichtung des níð in zwei Texten völlig unterschiedliche Bewertungen des Anwenders ergeben können. Finnbogi ist dabei nur eine von mehreren Figuren, deren historisches Vorbild bekannt dafür gewesen zu sein scheint, dass es níð ausgesetzt oder von vornherein als níðingr im kollektiven Gedächtnis verankert war. Zu diesen Figuren zählen darüber hinaus die ausländischen Missionare, einige Herrscher wie der Jarl Hákon und schließlich einer der mächtigsten Männer Islands, Guðmundr inn ríki. Dennoch schrecken die Erzähler der Isländersagas trotz ihrer grundsätzlichen Sympathie gerade auch für Ächterfiguren davor zurück, einem níðingr die Position als meist fokussierte Figur einzuräumen. Zwar liegt die Vermutung aufgrund mancher Umstände in den Sagas bei einigen Figuren nahe, etwa wenn Refr aus der Króka-Refs https://doi.org/10.1515/9783110754230-007

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saga den Beinamen inn ragi erhält, oder wenn Njáll in seiner Saga fortgesetzt von Hallgerðr geschmäht wird. Allerdings haben sich im Untersuchungsteil zu diesen Figuren abgestufte Charakterisierungen gezeigt, die verdeutlichen, dass der níðingr trotz seiner impliziten Allgegenwart nicht zur Hauptfigur einer Isländersaga taugt. Im ersten Beispiel diente das cognomen zusammen mit einer durch ansonsten untypische Fokalisierungswechsel elaboriert ausgestalteten Szene dazu, der Hauptfigur eine Möglichkeit zur Bewährung zu geben. Refr kann den Status als níðingr nicht nur abwenden, sondern die im Raum stehenden Vorwürfe ins Gegenteil verkehren. Deutlich diffiziler ist der Befund für Njáll. Der Erzähler der Njáls saga liefert zwar von Anfang an einige Anhaltspunkte dafür, Njáll als zwielichtige Gestalt zu verstehen, die nicht nur in der sozialen Wahrnehmung durch Aspekte von ergi charakterisiert wird, sondern für ihren eigenen Vorteil zu vielen moralisch fragwürdigen Handlungen bereit ist. Eindeutige Urteile und Schuldzuweisungen werden jedoch dadurch erschwert, dass in Schlüsselszenen wie der Thingverhandlung vor der brenna die Handlungsmotive der einzelnen Figuren einander überlappen. Die sich daraus ergebende mehrfache erzählerische Plausibilisierung und Motivierung des zentralen Ereignisses der Saga erzeugt auf Rezipierendenseite sowohl Ratlosigkeit als auch tiefe Faszination für die Geschichte. Innerhalb der Njáls saga spielt die erzählerische Invertierung von Geschlechterrollen bei der Bezugnahme auf níð eine zentrale und in anderen Texten nicht in dieser Deutlichkeit vorhandene Rolle. In den Augen von Gunnarr – beeinflusst von seiner Frau Hallgerðr –, Flosi, Skarpheðinn und möglicherweise auch Njáll selbst sind die eigene Männlichkeit und der soziale Status in ständiger Bedrohung. Die drastische wie konsequente Erzählweise, mit der die Saga uns von dieser Ausgangssituation zu einem Haufen rauchender Asche führt, dürfte maßgeblich zu ihrem Weltruhm beigetragen haben. Guðmundr hingegen ist zumindest hinsichtlich seines sozialen Status völlig frei von Bedenken. Seine Männlichkeit hingegen wird sowohl in der C-Version der Ljósvetninga saga wie auch in manchen Texten des übrigen Corpus so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass er auf literarischer Ebene tatsächlich zum níðingr stilisiert wird. Neben einer fortlaufenden Schematisierung, während derer andere Figuren ihn wieder und wieder mit Milch und damit einem Aspekt von ergi assoziieren, wird er vom Erzähler als untragbar gezeichnet. Konsequenzen für ihn hat diese níð-Agenda hingegen kaum: Er stellt zwar als níðingr die Hauptfigur eines Textes, allerdings zeigt er gleichzeitig die Grenzen der Interdependenz von sozialem Status und Männlichkeit auf. Seine anerkannte Macht können weder die diegetischen Figuren noch der Erzähler in ihrer gemeinsamen Agenda gegen ihn dekonstruieren. Erst diese umfassende Macht ihrer Hauptfigur gibt der Erzählung überhaupt die notwendige Stabilität, um das nach den Regeln der Isländersagas ansonsten unzulässige Zusammentreffen von narrativem Fokus und der Eigenschaft als níðingr in ein und derselben Figur auszuhalten. Auch diese »Stabilität« ist indes nur relativ zu verstehen, handelt es sich doch bei der Überlieferungssituation der Ljósvetninga saga um eine der volatilsten innerhalb der untersuchten Textgattung.

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Beim Einsatz von níð als erzählerisches Prinzip scheint sich häufig die gezeigte Tabuisierung der Unmännlichkeitskonzepte von der lexikalischen auf der narrativen Ebene fortzusetzen. So lässt es sich erklären, dass nicht nur die altnordische Benennung des konstituierenden Unmännlichkeitskonzeptes ergi und einer ganzen Reihe von damit einhergehenden Wörtern einer Metathese unterliegen, sondern auch das Erzählen über die Ausprägungen dieser Unmännlichkeit innerhalb der Isländersagas oftmals in den Sog dieses Tabus gerät und davon gleichsam beeinflusst wird. Die Darstellung von níð-Episoden ist daher auf Handlungs- und Erzählebene vor allem durch zwei Strategien bestimmt, die wir als ›Mittelbarkeit‹ und ›Schemabildung‹ identifiziert haben. Eine häufige Beobachtung ist die Mittelbarkeit, mit der níð-Anwender auf der Handlungsebene vorgehen: Nicht sie selbst werden tätig, sondern von ihnen beauftragte Figuren, die meistens nach der Erfüllung ihrer plotspezifischen Funktion ohne größeren narrativen Aufwand verschwinden können. Episoden, in denen níð beschrieben wird, sind häufig sehr dicht erzählt und weisen einen hohen Detailgrad auf. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Inhalt des Erzählten, des níð, oft nur indirekt oder auf eine andere Ebene verlagert dargestellt wird. Dies geschieht analog zu den im Verborgenen agierenden Figuren, die sich eines Helfers bedienen und sich nicht selbst in die unmittelbare Nähe der so ehrenrührigen wie sozialschädlichen Anschuldigungen begeben. Schemabildung kann neben der fortgesetzten Charakterisierung von Figuren und Genealogien den Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Fremden oder sozial Höherrangigen meinen. So bestimmt dieser Prozess oft auch, wie offen oder verschleiert níð dargestellt wird, und steht in einem proportionalen Verhältnis zu dieser Darstellungsweise. Steht die Abgrenzung zum Externen im Zentrum des Erzählten, wird níð, wie wir am Beispiel der besprochenen Þættir gesehen haben, meist expliziter dargestellt als in Szenen, die in Island spielen. Am besten zu beobachten ist der Effekt von Schemabildung in den Schilderungen über Guðmundr inn ríki und in den Þættir, die das Verhältnis zwischen Isländern und ausländischen Herrschern oder Missionaren thematisieren. Es scheint unter Miteinbeziehung der älteren Quellen drei zentrale Faktoren zu geben, aus denen sich das enorme Wirkungspotential von níð als literarischem Motiv speist. Angesichts der vielen gezeigten Belege muss davon ausgegangen werden, dass in den germanischsprachigen Kulturräumen eine sehr intensive Auseinandersetzung mit Konzepten wie Männlichkeit, Ehre und sozialer Status herrschte, die untereinander innerhalb dieses Diskurses kaum im heutigen Sinne voneinander abgrenzbar waren. Eine anzunehmende und spezifisch nordische Weiterentwicklung dieses Bündels von Konzepten führte dazu, dass der altnordische Begriff der ergi noch eine verschärfte Konturierung mit stärkerem Bezug zur Sexualität erhielt. Dazu gesellt sich die Praxis um die níðstengr, die in Gesetzbüchern und Texten wie der Egils saga aufscheint. Ebenfalls älter als die Sagas ist die in ihnen etablierte Fehdekultur, die noch lange nach der Christianisierung Islands im kollektiven Gedächtnis der Menschen erhalten blieb und ohne die die Isländersagas nicht denkbar wären. Diese drei Elemente, die zum Teil noch aus ältester Zeit in die Gegenwart der Sagaschreiber

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hineinragten, stellten einen fruchtbaren Boden für den Entwurf einer literarischen Gesellschaft mit einer Obsession für ihre strikten Männlichkeitsideale dar. Mit ergi und níð als allgegenwärtige Korrektive zur eigenen und fremden Verhaltenslenkung legen die Sagas so ihr ganz eigenes Zeugnis ab von der Wirkmacht der Angst als unmännlich zu gelten. Die Allgegenwart von ergi und níð und ihre hochgradig situations- und funktionssensible narrative Inszenierung lassen ein tieferes Verständnis der Isländersagas ohne Auseinandersetzung mit den von ihnen vorausgesetzten Unmännlichkeitskonzepten undenkbar erscheinen. Jenseits der Isländersagas ist bemerkenswert, dass sich der einzige aus der Geschichte heraus körperlich greifbare Nachweis von níð, das im Rahmen der älteren Quellen besprochene Runenstäbchen A322 aus Oslo, ebenfalls mit diesen beiden erarbeiteten narrativen Kriterien beschreiben lässt. Dort ist die Rede von einer Inschrift auf einer Kirchenbank, die auf dem Stäbchen zwar inhaltlich wiederholt wird, aber in dieser mittelbaren Form nicht identisch mit der originalen Inschrift ist. Stattdessen verweist die erneute Wiedergabe des Inhalts auf ein bereits etabliertes (oder im Moment des Abfassens noch zu etablierendes) Schema. Archäologisch ist die erwähnte Kirche zwar nachweisbar, allerdings nicht die auf dem Stäbchen erwähnte Inschrift. Aus narrativer Sicht besitzt die Inschrift des Stäbchens jedoch drei zeitlich voneinander abhängige Handlungsebenen: 1. der Dialog, der die Rahmenebene darstellt, 2. das Anbringen der Inschrift, 3. die Episode mit Óli. Ein Schema wird so für uns nicht in Gänze sichtbar – wir können beispielsweise nicht sagen, ob das Stäbchen und die behauptete Inschrift auf der Bank nicht nur zwei Bestandteile einer viel größeren Reihung sind. Diese zwei Nennungen, von denen die zweite als Metalepse aus der Diegese herausragt, stellen allerdings die minimalen Voraussetzungen dar, um von einem Schema ausgehen zu können: Das zweimalige Vorkommen der Schmähungen in einer aufeinander bezogenen Reihung lässt für sich genommen nämlich bereits auf ein Schema schließen, das auf den erwähnten Óli appliziert wird. Ziel dieses Schemas ist es, jenen Óli als níðingr zu markieren und diese Markierung durch das dem Schema zugrunde liegende Narrativ vom unmännlichen Mann zu fixieren. Die narrativen Mechaniken sind dabei genau diejenigen, mit denen auch die Erzähler in den Sagas agieren.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die unterschiedlichen formalen Ausprägungen von níð (eigene Darstellung) 54 Abbildung 2: Frequenz im Erzählen über Guðmundr, thematische Vernüpfung von Milch und ergi (eigene Darstellung) 191 Abbildung 3: Hallgerðrs hvǫt (eigene Darstellung) 254 Abbildung 4: Narratives Strukturschema der Svarfdœla saga (eigene Darstellung) 281

https://doi.org/10.1515/9783110754230-008

Abkürzungsverzeichnis 4to ae. afr. ags. ahd. AM an. BGB dän. dt. En. engl. f. Fn. fol. GKS got. ibd. isl. Kap. Lbs. m. mhd. n. Chr. n. S. s.v. StGB v. Chr. vgl.

quarto altenglisch altfriesisch angelsächsisch althochdeutsch Handschrift der Arnamagnæanischen Sammlung altnordisch Bürgerliches Gesetzbuch dänisch deutsch Endnote englisch feminin Fußnote folio Handschrift der Gammel kongelig Samling gotisch ibidem isländisch Kapitel Handschrift des Landsbókasafn maskulin mittelhochdeutsch nach Christus neutrum Seite sub voce Strafgesetzbuch vor Christus vergleiche

https://doi.org/10.1515/9783110754230-009

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Quellenindex Auðunnar þáttr vestfirzka Beowulf 13, 26 f., 35, 197 Birgitta-Autograph B 2 Bjarnar saga Hítdœlakappa 109, 263–269, 291 f.

4, 10, 77, 161, 238

4, 45, 65, 67, 95,

Hœnsa-Þóris saga 4, 57 Hrafnkels saga Freysgoða 4, 72 Hreiðars þáttr heimska 4, 282, 286–289 Íslendingabók Jarlsníð

DR 357 28 DR 358 28 DR 359 28 DR 360 28 Droplaugarsona saga

4, 38, 51 f., 199

Egils saga 4, 33, 56, 61, 71, 73–75, 85 f., 91 f., 115 f., 135–139, 173, 178, 180, 282, 299 Erec 27 f. Eyrbyggja saga 4, 51, 98, 104 Finnboga saga 4, 87–89, 140 f., 144–146, 149, 219 Fljótsdœla saga 4, 52 Flóamanna saga 62, 89 f., 92, 270 Fóstbrœðra saga 4, 101, 103, 209 f., 270–273 Frostaþingsbók 42, 198 Germania 22 f., 35 Gesta Danorum 46 f. Gísla saga 4, 45, 63, 104 f., 257–265, 291 Grágás 40, 42–44, 50, 76, 102, 104, 120 Grettis saga 4, 12, 16, 79, 83 f., 87, 91 f., 104, 106, 117, 193, 197, 200–210, 221 f., 237, 256 Grímnismál 38 Gulaþingslǫg 39–42, 47, 50 f., 123, 172 Gunnlaugs saga 4, 109–111 Gylfaginning 38, 151 Hákonarbók 42, 44 Halldórs þáttr Snorrasonar I 4, 122, 257 Hallfreðar saga 4, 109, 111 f. Hárbarðsljóð 66 f. Hauksbók 32, 101 Hávarðar saga Ísfirðings 4, 73, 86 Heiðarvíga saga 4, 69, 276, 281 Hildebrandslied 27 f., 35 Historia Francorum 50 Historia Langobardorum 25 f., 35 https://doi.org/10.1515/9783110754230-011

39, 55 f., 78, 289

237 f.

Kjalnesinga saga 4, 80 Konungsbók II 43 f., 93 Kormáks saga 4, 102, 109, 112 f. Kristni saga 289, 293 Króka-Refs saga 4, 71, 85, 154–159, 219–221, 231 f., 270, 273, 297 f. Landnámabók 55, 140 f., 162, 214, 279 Laxdœla saga 4, 30, 38, 56, 63, 80 f., 83, 93– 97, 230 Leges Alamannorum 25 f. Lex Salica 24 f., 35 Ljósvetninga saga 4, 92, 95, 153, 180–194, 196, 220 f., 223, 244, 274, 288, 295, 298 Lokasenna 29 f., 32, 35, 66, 291 Melabók 141 Mírmanns saga

123

Nibelungenlied 37 Njáls saga 4, 14, 66 f., 70, 78–83, 86, 95, 98, 106, 115, 120 f., 129, 137, 159–173, 175– 178, 180, 187, 193 f., 198 f., 214, 217, 221 f., 226 f., 240–249, 252 f., 255, 257, 264 f., 274, 282, 289, 295, 298 Ǫlkofra þáttr 4, 187, 194–196 Óláfs saga helga 34 Ólavur hin heilagi 34 Orkneyinga saga 77 Physiologus

122

Rockingham Pleas

47, 51

Sigrgarðs saga ok Valbrands 123 Sneglu-Halla þáttr 4, 59, 238, 240, 268, 282– 286, 289, 295 Staðarhólsbók 40, 43, 102

320

Quellenindex

Stúfs þáttr 4, 30 Svarfdœla saga 4, 48, 117, 130–134, 159, 165, 197 f., 211–213, 215 f., 218, 221, 227, 232, 275–282 Þorgríms þáttr Hallasonar 4, 67, 90 f., 209 Þorleifs þáttr jarlaskálds 4, 38, 114 f., 149– 152, 207, 233, 235–240, 256, 264, 285, 292, 295 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar 4, 51, 124– 130, 146, 159, 228–232 Þorsteins þáttr stangarhǫggs 4, 70, 98–100

Þorvalds þáttr víðfǫrla I 50, 237, 264, 273, 282 f., 289–292, 295 Þorvarðar þáttr krákunefs 4 Valla-Ljóts saga 4, 287 f. Vápnfirðinga saga 4, 102 f., 193 Vatnsdœla saga 146 Vatnsdœla saga 4, 47, 104, 135, 141–144, 146, 148 f., 193, 219 Víga-Glúms saga 4, 103, 105 f. Víglundar saga 4, 72 Vǫlsa þáttr 272 Ynglinga saga

91, 104